This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that 's often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the file s We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't off er guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at|http : //books . google . com/
über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google -Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen.
■«ÄS
•J-.' .'
MEPICAL 6C1KIOOL
Mitteilungen
aus den
Grenzgebieten der Medizin
und Chirurgie.
Herausgegeben von
0. TOB Angrerer (Mfinchen), B. Bardenheuer (Köln), K* Ton BerfriiiAiiii (Berlin),
Am Bier (Bonn), P. Ton Bmns (Tabingen). H. Cnrsehmami (Leipzig), Y. Czemy
(Heiddberff), iu Ton Eiselflbeiv (Wien), W. Ihrb (Heidelberg), C. FOrstner (BtraAburg),
C. Oarrft fKönigsberg), Th. Koeher (Bern), W. Orte (Berlin), F. Kraus (Berlin),
R. ü. Krknlein (ZOrich), H. Kttmmell (Hamburg), W. Ton Leube (Wüizbnrg),
E. Ton Leyden (Berlin^ L. liehtheim (KGnigabenOi 0. Madelung (Strafiburg),
J. Ton MUdiliei Breslau), 0. Minkowski (Köln a. Bk), B. Nannyn (Strafibnrg^
H. Kothnagel (Wien), H. Qnineke (Kiel), L. Behn (Frankfurt a. M.), B. Biedel (Jena),
BL Sahli (Bern), K. Sohoenbom (WOrzburg), Fr. 8ehnltse (Bonn), £. Sonnenbarg
(Berlin), R. Stintiing (Jena), A. Ton Strflmpeil (BresUu), A. WlOfler (PragV
Redigiert von
J. Ton Mikulicz, B. Natuiyn,
Breslau.
Strasburg.
Dreizehnter Band.
Mit 4 Tafeln, 44 Abbfldungen, 1 graphisohen Beilage, 37 Kurven und
3 Kurvenbeilagen im Texte.
Jena,
Verlag von Gustav Fischer.
1904.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
I • • •
I • • •
• • •
• # • •• •••
Inhalt.
L Heft.
S«ttc
L PosFiCKy E., üeber neue Aufgaben des pathologisch-ana-
tomischen Unterrichtes an der Hand holoptischer Betrach-
tungsweise, zugleich ein Beitrag zur Pneumaskos-Lehre.
(Hierzu Tafel I) 1
n. Madblüng, 0., Ueber postoperative Pfropfung von Echino-
kokkencysten. (Hierzu Tafel 11) 21
m. Cribobbn, T. L. vok, Ueber Schädigungen des Herzens
durch eine bestimmte Art von indirekter Gewalt (Zusammen-
knickung des Rumpfes über seine Vorderfiäche) .... 28
IV. Orobbr, J., Ein Fall von Eopftetanus (E. Bosb). (Mit
1 Abbildung im Texte) 40
V. Ehbbt, H., Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach
Ischias. (Mit 8 Abbildungen im Texte) 53
VI. Koch, J. A., Ueber tropische Leberabscesse. (Mit 1 Abbil-
dung im Texte) 81
n. Heft
VII. Bjbknbr, Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
(Mit 24 Abbildungen im Texte und 1 graphischen Tabelle) 113
VUL MiYAKB, H., Beiträge zur Kenntnis des Bothriocepbalus ligu-
loides. (Mit 2 Abbildungen im Texte) 145
IX. MiTAKB, H., Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis
infectiosa. (Hierzu Tafel III) 155
X. Wyss, Otto, Ueber einen neuen anaeroben pathogenen
Bacillus. Beitrag zur Aetiologie der akuten Osteomyelitis.
(Hierzu Tafel IV und 1 Kurve im Texte) 199
XI. Bbhr, Max, Ein Fall von Tuberkulose des Wurmfortsatzes. 224
XTT. Fbdbrmünn, A., Ueber Perityphlitis, mit besonderer Berück-
sichtigung der Leukocytose. Zweite Mitteilung: Begrenzte
eiterige Peritonitis. (Mit 19 Kurven im Texte) .... 230
XUL Ehrhardt, 0., Experimentelle Beiträge zur Nierendekapsu-
lation 281
13213
tV Inhalt
Sdte
nL Heft.
Xiy. Prbi8S, P., Hyperglobulie and Milztamor 287
XV. Lbknandbr, K. G., Meine Erfahmngen über Appendicitis 803
XVI. Kaposi, Hbrmakn, Hat die Gelatine einen Einfluß auf die
Blutgerinnung? £[ritische u. experimentelle Untersuchungen 373
XVn. Saübrbbügh, Die Pathologie des offenen Pneumothorax und
die Grundlagen meines Verfahrens zu seiner Ausschaltung.
(Mit 9 Abbildungen und 12 Kurven im Texte und 2 Kurven-
beilagen) 399
XVUL Bbaxtbr, L., Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen mit u
Hilfe des Ueberdruckverfahrens. (Mit 2 Abbildungen im '"-'^
Texte) . . . 483 ;^]
IV. und V. Heft [Silll
XIX. Gbbhardt, D., Ueber die diagnostische und therapeutische
Bedeutung der Lumbalpunktion 501
XX. Baybr, Josbf, Ueber die primäre Tuberkulose der Milz . 523
XXI. ENaBLHAKDT, G., Neuo Gesichtspunkte in der Beurteilung
der Aethernarkose 542
XXTT. GoBBBL, Carl, Ueber idiopathischen, protrahierten Pria-
pismus 578
XXIII. Bloch, Arthur, Lymphogene und h&matogene Eiterungen F]
bei Pneumonie. (Mit 1 Kurvenbeilage) 601 ;^^._
XXIV. CoHN, Max, Erfahrungen über Serumbehandlung der Diph-
therie. (Mit 5 Kurven im Texte) 616
XXV. MoszKOwicz, Ludwig, Totale Ausschaltung des Dickdarmes ^ '^
bei Colitis ulcerosa 659 * ii
XXVI. JuLiusBBRQ, Fritz, Ueber „Tuberkulide^ und disseminierte [k
Hauttuberkulosen 671
XXVII. MiYAKB, H., Experimentelle Studien zur Steigerung der
Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion ... 719
XXVni. LossBN, J., Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkom- "
plexes 753 n
XXIX. Stich, Büdolf, Ueber Massen blutungen aus gesunden und
kranken Nieren 781
XXX. Nbissbr, Ernst, und Pollack, Kürt, Die Hirnpunktion.
Probepunktion und Punktion des Gehirnes und seiner
Häute durch den intakten Schädel. (Mit 2 Abbildungen
im Texte) . . • 807
XXXI. TiBGBL, Max, Ueber peptische Geschwüre des Jejunums
nach Gastroenterostomie 897
o^-
'S)<.
Kachdruck verboten.
L
Ueber neue Aufgaben
des pathologisch-anatomischen Unterrichtes
an der Hand holoptischer Betrachtungsweise,
zugleich ein Beitrag zur Pneumaskos-Lehre^.
Von
E. Fonflck-Breslau.
(Hierzu Tafel I.)
Fürchten Sie nicht, sehr geehrte Herren, daß mich das angekündigte
Thema dazu verleiten werde, eine Frage zu behandeln, die irgendwelche
noch so bedeutungsvolle Einzelheiten des herrschenden Obduktionsmodus
zum Gegenstande hat, also etwa Dinge, die mit der Technik unserer
Sektionsweise zusammenhängen.
Denn einmal würde weder dieser Ort, noch der gegenwärtige Augen-
blick zweckmäßig gewählt sein, um auf die Tagesordnung eine Frage zu
bringen, die wahrhaft förderlich doch nur behandelt werden kann gestützt
auf unmittelbare Anschauung.
Sodann aber fehlt es uns ja für das bei unseren Obduktionen ein-
zuschlagende Vorgehen durchaus nicht an einem Wegweiser, der mit
Recht allgemeinste Anerkennung genießt. Besitzen wir doch in dem
^Regulativ** unseres hochverehrten Meisters Rudolf Virchow eine
Richtschnur, die sich in jahrzehntelanger Uebung bewährt hat und die keiner
von uns allen zu missen, in ihren wesentlichen Punkten gewiß auch nicht
zu bessern vermag.
Das, worauf ich mir heute erlauben möchte, Ihr Augenmerk zu
lenken, hat also nichts gemein mit dem nächsten — diagnostischen —
Zwecke jeder Sektion, d. h. dem Bestreben, zuvörderst die Todes-
ursache irgendwelchen Patienten klarzustellen, weiterhin dessen gesamten
Krankheitszustand aufzudecken.
Da wir bei Erfüllung dieser Aufgabe in erster Linie das praktische
Bedürfnis zu befriedigen haben, genügt es da nicht vollauf, dem durch das
1) Nach einem am 22. Sept. 1903 auf der 6. Tagung der Deutschen
Pathologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrage.
Mitteil. a. d. OrenzffeUeten d. Medizin n. ChirarKie. XIII. Bd 1
2 E. Ponfick,
Regulativ vorgeschriebenen Wege zu folgen? Denn natürlich bleibt uns
ja, auch wenn wir ihn im großen und ganzen innehalten, stets die Frei-
heit gewahrt, diejenigen Abweichungen, d. h. Ausnahmen von der all-
gemeinen Regel zu machen, welche eine das Individuelle jedes Einzel-
falles berücksichtigende Kritik ratsam erscheinen lassen mag.
Somit brauche ich Sie wohl nicht erst zu versichern, sehr geehrte
Herren, daß sich meine Gedanken und Vorschläge heute in durchaus
anderer Richtung bewegen, daß sie weit hinausstreben über jenes Ziel
einer, ich möchte sagen, kasuistischen Rubrizierung. Weit entfernt also,
sich mit der Technik als solcher zu befassen, zielen sie lediglich darauf
ab, ein neues Prinzip postmortaler Betrachtungsweise einzuführen.
Hierbei werde ich freilich — dessen bin ich mir von vornherein nur
zu wohl bewußt — nicht umhin können, insofern auf Ihre Nachsicht zu
rechnen, als ich Ihnen heute weder über neue histologische Methoden,
noch Befunde zu berichten habe, über keine zu geistvollen Theorien
hinüberleitenden Ergebnisse zellularer Forschung.
Allein dürfen wir uns denn wirklich rühmen, den mit bloßem Auge
erfaßbaren Stoff schon in seinem ganzen vielseitigen Zusammenhange
erfaßt zu haben? Ist er vor allem in derjenigen Richtung erschöpfend
und zugleich nutzbringend verwertet, welche für den werdenden Arzt,
vollends aber den inmitten des Berufes stehenden die Hauptsache bleibt?
Ich meine im Sinne eines Einblickes nicht nur in den Sitz der Krankheit
an und für sich, sondern zugleich in die Fülle örtlicher Wechsel-
beziehungen, welche sie einleitet, aller der Folgewirkungen, die sie auf
die anstoßenden Organe ausübt?
In der Tat, je eindringlicher ich bemüht gewesen bin, von meinem
Standpunkte als Lehrer aus die modernen Errungenschaften der klinischen,
besonders aber der chirurgischen Diagnostik zu verfolgen, je mehr ich
mich bestrebt habe, die vor wenigen Jahrzehnten kaum noch geahnte
Vielseitigkeit der operativen Eingriffe und Maßnahmen zurückwirken zu
lassen auf das Tun und Lassen am Sektionstische, um so klarer
ward ich mir bewußt, daß wir neueBahnen zu beschreiten
haben, wenn anders wir fortfahren wollen, die Klinik in
einer ihren heutigen Aufgaben entsprechenden Weise zu
unterstützen. Denn mehr als je zuvor drängt das praktische Be-
dürfnis der modernen Medizin darauf hin, über das erste Ziel der
Diagnostik, die Erkenntnis des zunächst erkrankten Organes, hinaus
Einsicht zu gewinnen in dessen mannigfache Beziehungen zu
den Nachbarteilen.
Die immer engere Verknüpfung medizinischen und chirurgischen
üntersuchens, das vielfache Ineinandergreifen innerlicher und operativer
Therapie, wie sie heute gegenüber einem von Tag zu Tage sich erwei-
ternden Kreise von Krankheiten geübt wird, sie können sich nicht aus-
reichend gefördert fühlen, solange eben der pathologisch-anatomische
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 3
Unterricht an der Leiche, wie die ihm dienenden LehV'bücher nnd Bildwerke,
ihr hauptsächliches Augenmerk darauf richten, den einzelnen jeweils
betroffenen Körperteil in hellstes licht zu rücken.
Jene Verbindung medizinisch-chirurgischer Diagnostik führt vielmehr
mit innerer Notwendigkeit zu dem Verlangen, sämtliche innerhalb
einer Region, ja einer ganzen Kör per höhle eingetretenen
Lageveränderungen mit Einem Blicke zu überschauen.
Wie bekannt, bringt es nun aber das herrschende Sektionsverfahren
gleichwie selbstverständlich mit sich, daß diese Dislokationen dem Be-
schauer durchaus nicht als etwas Einheitliches entgegentreten. Gemäß
der lokalistischen Auffassungsweise aller „Krankheit**, wie sie uns als
natürliche Beaküon gegen humorale Einseitigkeit, die Uebertreibungen
der Dyskrasienlehre heute allzu sehr erfüllt, verkörpert sie sich viel-
mehr fast immer in einzelnen Organen: in Erkrankungsherden also, die
das Messer des Obdnzenten unbarmherzig aus ihrer Umgebung zu lösen
gewußt, die es von den ihnen sei es nun räumlich, sei es funktionell
näcbststefaenden nur allzu gründlich gesondert hat.
Dem in der Sache Bewanderten allerdings mag es in manchen Fällen
nicht so schwer werden, diese disjectamembra einigermaßen wieder zu
sammeln, sie mittelst eines geistigen Bandes rasch genug miteinander zu
verknüpfen. Anderen minder Kundigen mag es wenigstens an der Hand
eines pathogenetisch geschulten Führers gelingen, den inneren Zusammen*
hang der Dinge zutreffend zu entwickeln, ihn zu rekonstruieren. Allein
selbst ein solcher mit dem Gegenstande Vertrauter wird die Trennung
des räumlichen Nebeneinander, wie sie die uns geläufige Zerreißung des
topographischen Konnexes unvermeidlich macht, oft genug als einen ernsten
Uebelstand empfinden. Da sie nämlich eine lückenlose Einsicht in den
natürlichen Zusammenhang von Teilen verhindert, die doch aufeinander
angewiesen sind, so kann es garnicht fehlen, daß sie schon dem Erfah-
renen den Ueberblick erschwert. In ganz unverhältnismäßigem Grade
aber muß die von jener teils assoziierenden, teils kombinierenden Geistes-
tätigkeit unzertrennliche Anstrengung wachsen für den Anfänger. Denn
ans naheliegenden Gründen erfüllt gerade diesen der dringende Wunsch,
die Krankheit innerhalb des wenngleich stark verschobenen Rahmens
jenes topographischen Ensembles erfassen und sich einprägen zu dürfen,
dessen einzelne Züge er jüngst erst mit so heißem Bemühen erlernt und
eben noch für unverrückbar gehalten hat.
Wie ich bereitwillig zugebe, aber zugleich mit allem Nachdruck be-
tone, sind es also in erster Linie didaktische Erwägungen, die meines
Erachtens nicht etwa eine Verbesserung der geltenden Methode fordern,
wohl aber eine weittragende Ergänzung. Indessen — wie wir später
hören werden — keineswegs nur eine solche. Vielmehr ist der neue
Erkenntnisweg, erst einmal mit zielbewußter Folgerichtigkeit beschritten,
sogar fähig, uns über gewisse, gerade vom praktischen Standpunkte aus,
1*
4 E. Ponfick,
sehr bedeutsame Seiten desTatbestandesselber Aufschlüsse zu ge-
währen, die eben, weil durchaus neu und unerwartet, doppelt belehrend sind.
Der eine wie der andere Gesichtspunkt nun veranlaßt mich, neben
der alltäglich zu übenden Sektionsmethode, unabhängig von ihr,
eine andere anzuwenden, die, wenn ich mich nicht täusche, keines-
wegs bloß für den Unterricht des Anfängers neue Bahnen eröffnet, son-
dern die sich auch in hohem Maße förderlich erweisen wird für die
topographische Schulung sowohl des Diagnostikers, wie des künftigen
Operateurs.
I.
Das Mittel, welches ich zur Erreichung solchen Zieles empfehle, be-
steht in denkbar strengster Schonung der Beschaffenheit, vor allem aber
des räumlichen Nebeneinander und des Zusammenhanges sämtlicher Or-
gane einer bestimmten Körpergegend. Es gilt, die verschiedenen Leibes-
höhlen, sogar die umfangreichste, das Abdomen, in einer Weise zu er-
schließen, daß sie im Gegensatze zu dem Verfahren einer sezierenden,
richtiger eigentlich dissezierenden Obduktionsart als Ganzes bloß-
gelegt werden. Im Gegensatze also zu jenem Modus, den man als „me-
toptischen" ^) bezeichnen könnte, macht der von mir befürwortete
„holoptische'' 2) alle Teile, und zwar in unversehrtem Verbände, den
Blicken zugänglich.
Jedem von uns leuchtet es sofort ein, daß sich ein solches Ziel an
der Leiche nicht ohne weiteres erreichen läßt. Offenbar muß vielmehr
voraufgegangen sein deren Erstarrung auf dem Wege künst-
lichen Gefrierens.
In der Tat, sobald die Kälte auf das Innerste des Körpers ein-
dringlich genug gewirkt hat, gelingt es mit Leichtigkeit, in Verhältnisse
einen zuverlässigen Einblick zu gewinnen, die wir bis dahin immer nur
bruchstückweise zu sehen bekommen habend Jetzt hingegen gelangen
sie, so ausgedehnt wir die zu beschauenden Flächen auch zu gestalten
vermögen, in so unverfälschter Naturwahrheit und zugleich so
plastisch zur Anschauung, wie das eben einzig die Natur selber, wenn
nur unversehrt gelassen, zu leisten fähig ist.
In welch geringem Maße die nur fälschlich als „unberührt" zu
bezeichnenden Situsbilder, wie sie uns die übliche Sektionsmethode
von Brust- oder Bauchhöhle liefern mag, berechtigt seien, auf die gleiche Zu-
verlässigkeit Anspruch zu machen, das bedarf wohl kaum der näheren Dar-
legung. Was für Lage Verschiebungen bringt z. B. allein schon der Druck
der äußeren Luft hervor, sobald diese beim ersten Schnitte, der
1) Weil die einzelnen Organe nach-, d. h. hintereinander vor Augen
gerückt werden.
2) Weil die einzelnen Organe in ungestörtem Zusammenhange, d. h. „als
Ganzes", vor Augen gerückt werden.
üeber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 5
das Cavum thoracis oder abdoroinis eröffnet, in den bis dahin luftleeren
serösen Sack eingebrochen ist. üebt sie jetzt doch auf eine ganze Reihe
von Organen eiüe ungewohnte Kompression aus, die gerade zu den für
die allgemeine Raumverteilung maßgebendsten gehören. Kein Zweifel
sonach, daß jeder Brustsitus unter ihrem den ursprünglichen Zustand
fälschenden, mindestens verwischenden Einflüsse steht.
Das gilt auch dann, wenn das die Krankheit bedingende Moment
etwa ein intravitaler Austritt von Luft in das Cavum pleurae ge-
wesen sein sollte, also bereits vorher noch so grelle Dislokationen nach
sich gezogen hätte. Das Beispiel des Pneumothorax dürfte deshalb
trefflich geeignet sein, um als Muster dafür zu dienen, wie ungenügend,
ja irreführend unser gegenwärtiges Vorgehen sei, wie große Vorteile für
naturwahre Wiedergabe hingegen dasjenige Verfahren biete, welches ich
vorschlage.
In der Tat ist es, schon soweit das genannte fremde Medium, Luft,
ins Spiel kommt, eine physikalische Unmöglichkeit, mittelst der jetzt
ausschließlich geübten Methode jemals ein wirklich getreues Bild zu
erhalten von den wechselseitigen Beziehungen der Brust- oder Bauch-
organe. Noch weniger wird es aber — es sei denn auf Teile einer
Minute — gelingen, die Lage der Teile dann zu fixieren, wenn sich zu der
Luftansammlung im Pleuraräume etwa bereits der Erguß irgend welcher
Flüssigkeit gesellt hätte. Denn durch welche Macht sollte* diese, mag
sie nun seröser oder eitriger Natur sein, wohl verhindert werden, in eben
dem Augenblicke abzufließen, da das Cavum thoracis mittelst der Weg-
nahme des Sternums eröffnet wird? Vereinigt sich jetzt doch der Effekt
des plötzlichen Wegfalles der übermäßigen, bis dahin innerhalb der Brust
herrschenden Spannung mit den Erschütterungen, welche dessen Wand
sowohl wie Inhalt bei jener Manipulation erleiden, um das Exsudat zu-
erst überlaufen, dann in einem allmählich sich verlangsamenden Tempo
abströmen zu lassen. So kann es denn nicht ausbleiben, daß sich der
staunende Zuschauer alsbald nach Beginn der Sektion durchaus anderen
Lungen- und Herzgrenzen gegenüber sieht, als diejenigen gewesen sind,
welche er in der Klinik perkutiert hat oder die ihm in das übliche Schema
eingezeichnet worden sind.
Jedenfalls in dieser Richtung ganz ähnlich wie die Luft verhalten
sich alle anderen Ansammlungen, denen wir in einer der drei Höhlen
des Thorax jemals begegnen, mag nun der raumbeengende Faktor
Serum, Eiter, Blut sein oder gar irgendwelcher bösartigen Neubildung
angehören.
Wenden wir uns nunmehr dem Abdomen zu. Wenngleich in diesem
die Tatsache einer Ansammlung von Luft bloß unter besonderen Um-
standen einen so erdrückenden Einfluß auf die Nachbarorgane ausübt,
oder gar das Leben gefährdet, wie im Brustraum e, so ist sie doch auch
hier von größester Tragweite. Seltsamerweise besitzen wir aber noch
6 E. Ponfick,
nicht einmal einen allgemein angenommenen Namen für einen Befund,
der sowohl im Hinblick auf sein Grundleiden, als auch die Folgewir-
kungen so bedeutsam ist, der sich überdies während des Lebens mittels
so charakteristischer Kennzeichen feststellen läßt. Um ihn also in einem
kurzen Worte zusammenfassen zu können, möchte ich vorschlagen, ihn
als „Pneumaskos^ zu bezeichnen.
Hinsichtlich der Bauchhöhle machen wir nun die Wahrnehmung, daß
die fraglichen abnormen Medien, falls eines, vielleicht gleichzeitig mehrere,
in sie ergossen werden, auf die davon betroffenen Organe zwar in mannig-
facher Hinsicht ähnlich wirken, wie die in den Brustraum geratenden.
Allein unstreitig üben sie im Abdomen einen geringeren Einfluß auf die
Funktionsfähigkeit der von ihnen verlagerten oder gefährdeten Eingeweide
aus, als es innerhalb des Thorax zu geschehen pflegt
Diese Tatsache ist nicht allzu schwer verständlich, sobald man nur
die Verschiedenheiten beider Körperhöhlen in Erwägung zieht. Offenbar
sind letztere teils in der Einheitlichkeit des Bauchraumes gegenüber der
im Brustraum herrschenden Dreiteilung begründet, teils in der Konstruktion
seiner Wandungen. Teils endlich liegen sie in den Bewegungs-Mechanismen,
mittelst deren sein Inhalt in Ruhe wie Tätigkeit versetzt wird.
Was zunächst die raumbeengenden Faktoren gasförmiger Natur
betrifft, so haben sie es ihrem geringeren spezifischen Gewichte zu ver-
danken, daß sie im allgemeinen alsbald in die Oberbauchgegend hinauf-
steigen. Im speziellen freilich wird die Luft, je nach der Körperhaltung,
welche der Patient in demjenigen Augenblicke gerade einnimmt, wo ein
Durchbruch von Magen oder Darm zu „Pneumaskos" führt, einen sehr un-
gleichartigen Platz einnehmen. Ist der Kranke nämlich stehend oder gehend
von dem Ereignisse überrascht worden, so gelangt sie zunächst nur bis
zur unteren Fläche der Leber, sei es nun zwischen 1. Lappen und Magen,
sei es zwischen unterer Fläche des r. und Kolon transversum. Erst
weiterhin dringt sie zwischen konvexe Fläche der Leber und Zwerchfell
empor, während sie hierher von vornherein nur gerät, falls besonders
günstige Umstände obwalten.
Hat ihn die Perforation hingegen während der Bettruhe betroffen,
so wird die Luft, nach der vorderen Bauchwand hinaufstrebend, die
Nabelgegend erreichen. Es leuchtet ein, daß sich beide Lokalisationen
sehr wohl miteinander kombinieren können, immer nämlich dann, wenn
ein zuerst noch aufrechter Kranker demnächst in horizontale Bettlage
gebracht worden ist, indeß spät genug, um die an ersterem Punkte an-
gehäufte Luft bereits durch Verklebungen umfangen und festgehalten
werden zu lassen.
Die Ursache davon nun, daß die durch die ausgetretene Luft er-
zeugten Verlagerungen im Bauche weit mannigfaltiger sind, als die im
Brustraume zu beobachtenden, liegt einerseits in der größeren Aus-
dehnung, andererseits der komplizierteren Gestaltung, welche das Abdomen
lieber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 7
besitzt, infolge der Vielheit und höchst ungleichartigen Konfiguration der
fallenden Eingeweide. Demgemäß vermag man auch den Ort, wo wir
sie jedesmal zu erwarten hätten, weit weniger vorauszusehen.
Was sodann die flüssigen Ausschwitzungen anlangt, so ähnelt dem
Verhalten von Luft das von Eiter und Blut in bedeutendem Maße, bis
zu einem gewissen Grade sogar das von hydropischem Transsudate: und
zwar in derjenigen absteigenden Reihenfolge, in der sie soeben aufge-
zählt sind. Denn dank dem dichten Nebeneinander so zahlreicher und ihre
Lage so vielfach ändernder Organe, wie sie sich im Epi- und Meso-
gastrium, von der Peristaltik aufs wecfaselvoUste bewegt, zusammen-
drängen, reduziert sich hier das Cavum abdominis auf schmale, nur recht
unvollkommen miteinander kommunizierende Spalträume. Es ist klar,
daß dieser Umstand ebensowohl Liegenbleiben des ergossenen Mediums
fördern muß, wie dessen baldige Abgrenzung dadurch, daß hier die Serosa-
flächen, weil von vornherein eng zusammenstoßend, unverhältnismäßig
leicht Verklebungen eingehen.
Hiermit hängt denn auch die bekannte Erfahrung zusammen, daß
die jeweiligen Ursachen, obwohl doch in Brust- wie in Bauchhöhle
die nämlichen, in letzterer einmal geneigter sind, mehrere, ja vielfältige
Krankheitsherde zu erzeugen, sodann aber ungleich häufiger zur „Ab-
sackung des Exsudates"^ Anlaß zu geben. Die erste der genannten
Erscheinungen erklärt sich mühelos, sobald wir uns nur die Vorgänge
etwas näher vergegenwärtigen, die hierbei im Spiele sind. Entweder kann
sich nämlich die Lage des die Quelle der Ausschwitzung bildenden Ein-
geweides inzwischen verschoben haben. Oder — falls das nicht geschehen,
letzteres vielmehr am alten Flecke geblieben sein sollte — kann es sich
nur zu schnell ereignen, daß ein Nachschub von Luft, Blut oder Eiter
die immer noch losen Pseudomembranen in plötzlichem Anpralle sprengt
und den genannten Medien dadurch neue Bahnen eröffnet, neue Nischen
und Winkel zugänglich macht Indem sich der hiermit geschilderte Vor-
gang sei es in längeren, sei es in kürzeren Intervallen mehrmals wieder-
holt, kann die Bauchhöhle zuletzt eine fast unübersehbare Fülle abge-
sackter Herde enthalten. Allein obwohl die einzelnen scheinbar von ein-
ander unabhängig sind, mindestens mit bloßem Auge sich irgendwelche
Kommunikation zwischen ihnen nicht entdecken läßt, verdanken sie nichts-
destoweniger ihre Entstehung alle der gleichen Ursache.
Welches sind nun aber die Mittel und Wege, mittelst
deren es uns bei Anwendung der üblichen Sektions-
methode gelingen kann, dem Lernenden solche intra-
abdominalen Ansammlungen topographisch exakt oder
gar in plastischer Verkörperung zur Anschauung zu
bringen?
Die größte Tragweite wohnt dieser Frage hier unstreitig inne für die
gasförmigen Medien. Denn es bedarf gewiß keiner näheren Dar-
8 E. Ponfick,
legung, daß und warum die Schwierigkeiten, welche deren postmortaler
Erkennung^) entgegenstehen, weitaus die erheblichsten sind. Unter den-
jenigen Mitteln nun, die man bisher gewohnt war, zu deren „Nachweise''
zu benutzen, ist meines Erachtens keines danach angetan, ihr Vorhan-
densein auf direktem Wege darzutun. Ist es doch leider unaus-
führbar, diejenige Manipulation, deren man sich zur Feststellung im
Bereiche der Brusthöhle angesammelter Luft zu bedienen pflegt, indem
man sie nämlich in eine zwischen die Thoraxwand und deren Weichteil-
decken gegossene Wasserschicht entweichen läßt, auf das Abdomen zu
übertragen. Infolgedessen sind wir hier gezwungen, auf das so über-
zeugende Kriterium des Emporsteigens von Gasblasen auf jenen Flüssig-
keitsspiegel Verzicht zu leisten.
Für den mangelnden Erfolg der Inspektion bietet nun zwar das
Geruchsorgan einen gewissen Ersatz: freilich auch dieses nur dann,
wenn die Aufmerksamkeit des Untersuchers gerade in dem maßgebenden
Augenblicke darauf gerichtet ist. Allerdings erhebt sich da sofort die
Frage, inwieweit die tatsächlich doch so oft vorliegende Möglichkeit sich
ausschließen lasse, daß an dem in Rede stehenden Sinneseindrucke irgend
ein anderer Faktor schuld sei. Als ein solcher kommt häufig genug ein
Eiter in Betracht, der bald mehr, bald weniger deutlich fäkulente Bei-
mischungen enthält, auf alle Fälle aber das dicht daneben befindliche
Eonvolut der Darmschlingen.
Was indes für jeden, der zugleich dem Bedürfhisse des Unterrichts
Rechnung zu tragen hat,- noch schwerer wiegt als diese Fehlerquellen,
das ist der Umstand, daß sich bei dem üblichen Vorgehen die Anwesen-
heit jener Luft anderen überhaupt niemals objektiv demonstrieren läßt.
Offenbar bleibt demnach gar [nichts anderes übrig, als sich auf die
indirekten Merkmale zu stützen, die in der Tat, falls nur die Bedin-
gungen einigermaßen günstig, kaum minder schlagend sind. Außer stände
also, die Luft an und für sich selber wahrzunehmen, müssen wir uns
darauf beschränken, ihre Anwesenheit aus den Wirkungen zu erschließen,
die sie ihrerseits hervorgebracht hat.
Unter diesen nenne ich in erster Linie die Kompressions-Spuren,
welche der gewaltige Druck, den sie vermöge ihrer oft so hohen Span-
nung auszuüben fähig ist, auf der Oberfläche der verschiedensten Ein-
geweide hinterlassen kann. Am charakteristischsten geben sie sich an der
Leber kund in Gestalt oft sehr umfangreicher, bald tellerähnlicher Mulden,
bald flacher Gruben, wie wir ihnen am ausgeprägtesten an deren konvexer
Fläche begegnen. Indes auch an der Milz und falls das Auge nur hin-
1) Da natürlich dasselbe für die heute gewiß nicht so seltenen Fälle
gilt, wo sie dem prüfenden Auge schon während des Lebens, im Ver-
laufe einer Laparotomie, begegnen, so besitzen die folgenden Be-
rn erkungen zugleich für den operierenden Chirurgen unmittelbarste
Nutz anwend ung.
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 9
reichend geübt ist, sogar am Darme liefern sie uns wertvolle Anhalts-
punkte. Muß man sonach bereitwillig zugeben, daß uns einer oder mehrere
der soeben namhaft gemachten Befunde zu einem positiven Urteile ver-
helfen können, so darf man andererseits doch nicht vergessen, daß wir
auch im besten Falle außer stände bleiben, über die Menge der jeweils
angesammelten Luft mehr als eine annähernde Vorstellung zu ge-
winnen.
In zweiter Linie weise ich auf die Austrocknung hin, wie sie
wenigstens in den ersten Stunden nach Eintritt der Perforation aufs
charakteristischste wahrzunehmen ist. Nach dieser Frist tritt sie allerdings
gewöhnlich dadurch in den Hintergrund, daß die endzündliche Reaktion,
welche ja im Bereiche der angehauchten Serosa nicht lange auf sich
warten läßt, einen mächtigen Exsudatstrom in Gang bringt. So wird
denn die eben noch so matt aussehende, weil gleichsam ausgedörrte
Serosa mehr und mehr von Flüssigkeit benetzt. Und zwar pflegt letztere
schon infolge der pathogenen Beschaffenheit der Luft selber, nicht selten
zugleich vermöge der Beimengung von Partikeln des Darminhaltes rasch
genug eiterigen Charakter anzunehmen. Unter solchen Umständen sieht
man die ursprünglich glanzlos trockene Fläche des Bauchfelles jetzt um-
gekehrt von reichlichem Exsudate bespült, das überdies nicht selten fäku-
lente Beschaffenheit zeigt.
Wie sich aus den vorstehenden Darlegungen ergibt, kann also die-
jenige Zeit, während welcher die Innenfläche des Bauchraumes vermöge ihrer
Trockenheit ein für Luftaustritt pathogenetisches Aussehen gewährt, nur
eine recht kurze sein. Letzteres verschwindet aber viel zu schnell wieder,
als daß es danach angetan wäre, uns einen durchschlagenden, d. h.
in sämtlichen Stadien brauchbaren Anhalt zu liefern für einen so lang
dauernden Zustand, wie es das Vorhandensein von Luft innerhalb der
Bauchhöhle doch sein kann.
Unstreitig sind somit die Lücken unserer Einsicht in einen Befund,
der für das Gesamturteil über die Krankheit, ja den tödlichen Ausgang
unter allen Umständen bedeutsam, oft genug entscheidend ist, bis heute
ungemein große und empfindliche gewesen. Je mehr wir uns dessen
aber bewußt werden, um so willkommener muß eine Methode erscheinen,
welche uns befähigt, nicht nur die Tatsache der Luftansammlung selber
zweifelfrei festzustellen, sondern zugleich die wechselvollen Lageverschie-
bungen in unanfechtbarer Naturtreue zu fixieren, zu welchen sie in
jedem Einzelfalle geführt hat.
Diesem wissenschaftlichen Erfordernisse vermag nun lediglich eine
Betrachtungsweise, eben die holoptische, von Grund aus zu genügen.
Gelingt es doch mit ihrer Hilfe, d. h. der sie gewährleistenden Gefrier-
methode, sämtliche ins Spiel kommenden Medien, sogar das am schwersten
faßbare unter ihnen: die Luft, an diejenige Stelle festzubannen, die sie
während des Lebens eingenommen haben.
10 E. Ponfick,
Als Beispiel hiefür kann, soweit es sich um die Brusthöhle handelt,
sowohl die erste als die letzte Tafel meines topographischen Atlas
der medizinisch-chirurgischen Diagnostik^) dienen, hinsicht-
lich der Bauchhöhle Tafel IX.
Prüfen wir, um für jedes Cavum nur ein Muster zu wählen, für diesmal
bloß Tafel I *). Sie zeigt uns die Verlagerungen, wie sie ein 1 i n k s s e i t i g e r
Pneumothorax zu wege bringt. Jeder Beschauer erkennt sofort, daß
es bei noch so vorsichtigem Eröffnen des Thorax, schon hinsichtlich der in
diesem enthaltenen Organe, ganz unmöglich sein würde, den während
des Lebens bestandenen Situs auch nur so lange festzuhalten, wie es die
sei es selbst flüchtige Anfertigung einer Farbenskizze erfordern würde.
Noch viel weniger würde es danach aber gelingen, zugleich eine ent-
sprechende Vorstellung zu gewinnen von dem tiefgreifenden Einflüsse,
den die Luftansammlung auf die benachbarten Bauchorgane ausübt.
Denn sobald sich die Wirkung der Außenluft geltend macht, verwischen
sich eben auch die Grenzen des Zwerchfells und damit die derjenigen
epigastrischen Eingeweide, welche sich mit ihm berühren.
Wenn hingegen nicht bloß jede EröflFnung des Thorax unterbleibt,
sondern die ganze Leiche überhaupt unberührt gelassen, nur möglichst
hohen Kältegraden ausgesetzt wird, dann sind wir sicher, den Situs beider
Körperhöhlen im Status quo ante mortem zu bewahren.
Als diejenige Schnittrichtung, welche, sobald der richtige Augenblick
gekommen, danach angetan ist, uns den umfassendsten Einblick in die
Gesamt-Topographie zu verschaffen, läßt sich im allgemeinen die fron-
tale bezeichnen. Deshalb bin ich freilich weit davon entfernt, die Be-
lehrung gering anzuschlagen, welche uns unter dafür günstigen Situs-
bedingungen der Gebrauch sagittaler, ja selbst horizontaler Ebenen zu
gewähren vermag.
Auch zum Zwecke der Lösung des uns jetzt beschäftigenden Problems,
nämlich die einem linksseitigen Pneumothorax folgenden
Dislokationen kennen zu lernen, habe ich den Weg gewählt, eine
frontale Ebene aufzuschließen und zwar derart, daß der Betrachtende
im Stande sei, in medias res hineinzuschauen, ohne daß die Lunge selber
auch nur berührt würde.
Da erblicken wir denn den linken Lungenflügel als eine welke bläuliche
Masse, wie sie, dorsalwärts tief hinabgesunken, den Hintergrund eines
auf weit mehr als das Doppelte vergrößerten Pleuraraumes einnimmt
Neben einem gewaltigen Quantum Luft enthält dieser eine geringe Menge
klarer gelber Flüssigkeit, das erste Produkt einer Ausschwitzung, mit der
1) 30 Tafeln mit Text, in 5 Lief. Jena (Gustav Fischer) 1899—1904.
2) Die in gewissem Sinne umgekehrten Verschiebungen, welche die
einen rechtsseitigen (Pyo-)Pneumothorax darstellende Tafel XXX ver-
körpert, dürften bei umsichtiger Vergleich ung mit Tafel I unschwer ver-
ständlich werden.
Mitt. a. d, Grenzgebieten der Medizin u. Chirurgie Bd. XIII.
Tafel
Pbnßdt
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Uebe
iie Sero?
üfiie ihr
D'xh zu
"JeffDUi
±1 Rii
irlt öliei
LET die
#er F(
ieiieswe!
ire: and
Im]
ii'i ihrer
tt Weht
ri;>t
t^ r. Li
ii-iiie.
^■:>te zu
'>;:eüijt(
:?rzhO
'^i^'-ene
^^He bi
'^^a so
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 11
die Serosa erst seit wenigen Stunden begonnen hat. An der Vorder-
fläche ihres Oberlappens aber trägt die Lunge die Quelle dieser, wie aller
noch zu schildernden Anomalien: eine allerdings recht unscheinbare
Oeffnung in dem pleuralen üeberzuge. Während nun ihr
linker Rand der Thoraxwand erstaunlich fern bleibt, reicht der rechte
weit über die Mittellinie hinaus. So deckt denn jetzt die Lunge nicht
nur die Wirbelsäule in querer Kichtung völlig zu, sondern auch den
größten Teil von Aorta und Oesophagus, die sich in treppenartig abge-
stufter Folge an erstere anschließen. Dagegen reicht sie nach abwärts
keineswegs tief genug, um nicht ein ansehnliches Stück des Rückgrates
frei und in seiner vollen Breite sichtbar zu lassen.
Im Hinblicke auf neuere chirurgisch-anatomische Untersuchungen,
auf welche gestützt sich die moderne Oesophagoskopie entwickelt
und ihrerseits wiederum fördernd auf jene zurückgewirkt hat, sei daneben
die leicht S-förmige Doppelkrümmung der Speiseröhre hervorgehoben.
Unstreitig am packendsten ist aber das Verhalten des Herzens und
der r. Lunge. Denn jenes beginnt nicht nur, genau wie bei Dextro-
kardie, erst jenseits der r. ParaSternallinie, um sich samt der aufs
engste zusammengepreßten r. Lunge mit dem schmalen Restraume der
r. Thoraxhälfte zu begnügen. Sondern die seitens des Pneumothorax
ausgeübte Druckwirkung bekundet sich überdies in der Engheit der
Herzhöhlen und des einzigen Gefäßstammes, den die gewählte Fron-
talebene aufgeschlossen hat, der Aorta ascendens. Erstere sind auf
ein so knappes Maß reduziert, daß man die Hindernisse durchaus begreift,
welche bei solchen Patienten nicht bloß die Atmung, sondern auch die
Zirkulation zu überwinden hat. Die Aorta vollends ist dergestalt ein-
gezwängt zwischen den Ventriculus dexter und den ungemein ver-
schmächtigten Lobus superior pulmonis, sie stellt auf dem Durchschnitte
einen so schmalen, säbelscheidenähnlichen Spalt dar, daß man jetzt nur
allzugut begreift, wie ein derart verengtes Rohr zuletzt die Fähigkeit
eingebüßt hatte, die Speisung eines so weiten GefiLßgebietes aufrecht zu
erhalten wie des großen Kreislaufes.
Was schließlich die Bauchorgane anlangt, so sei, in Erinnerung
an die Verschiebung der Speiseröhre nach rechts, zuvörderst darauf hin-
gewiesen, daß die Cardia bis zur r. Parasternal-Linie hinübergewandert
ist und daß der Fundus des Magens Trichtergestalt angenommen
bat. Beide Erscheinungen, besonders die letztere, hängen damit zu-
sammen, daß das Zwerchfell in wahrhaft verblüffendem Grade nach ab-
wärts gedrängt ist und nun den Arcus costalis in weitem, nach unten
konvexem Bogen überflügelt. Da somit der Unterschied zwischen den
beiden Hälften des Diaphragmas nicht weniger als vier Interkostalräume
beträgt, ist ein Hypochondrium links überhaupt nicht mehr vorhanden.
Es leuchtet ein, daß hiervon ebensowenig die Milz unberührt hat
bleiben können. In der Tat ist der weite Recessus, welcher sie sonst
12 E. Ponfick,
birgt, in einen ganz schmalen, nach 1. und oben sich verzweigenden
Spaltraum umgewandelt. Dieser bietet kaum Platz genug, um das zwischen
Zwerchfell und Magenwand eingezwängte und dadurch zu einem dünnen
Lappen ausgezogene Organ eben aufzunehmen.
Allein selbst gegenüber dem rechten Hypochondrium und einer
so massigen Drüse, wie der Leber, macht sich der gewaltige Druck
geltend, welcher im 1. Pleuraräume herrscht. Indem nämlich ihr Breiten-
durchmesser von dem gegen den 1. Lappen andrängenden Diaphragma
bedeutend vermindert worden ist, hat sie eine sehr sinnfällige Mißstaltung
erfahren müssen, die sich in außerordentlichem, offenbar ausgleichsweise
entstandenem Ueberwiegen des Längsdurchmessers bekundet. Im Ein-
klänge mit dieser raschen ümmodellierung der Leber selber sind auch
ihre topographischen Adnexe, die Gallenblase und sogar das Duo-
denum, weder von einer Aenderung ihrer Lage noch Form verschont
geblieben. (Demonstration.)
Wenden wir uns nunmehr der Tafel IX zu, wo Grund und Quelle
aller abdominalen Verlagerungen von vornherein im Gebiete der Bauch-
höhle zu suchen ist.
Die Perforation, welche hier am Magen erfolgt ist, hat die
Topographie des Epi- und Mesogastriums zwar ebenfalls verändert, indes
natürlich nicht erst sekundär, sondern von Anbeginn. Allein wenngleich
die durch diese Abbildung verkörperten Verhältnisse eines ^Pneumaskos"
durchaus nicht allzuselten wiederkehren dürften, so haben sie doch in
der Literatur bis heute eine ungleich weniger prägnante und einheitliche
Schilderung erfahren, als die des Pneumothorax. Somit würden sie ohne
nähere Erläuterung wohl auch nur einer kleinen Zahl versländlich sein.
Auf einem durch die Oberbauchgegend gelegten Horizontal-
schnitte gewährt uns diese Tafel einen Ueberblick über das ganze Ab-
domen eines 30-jährigen Mannes, der schon seit 10 Monaten an einem
(doppelten) Ulcus rotundum ventriculi gelitten hat. Am Christ-
abend hatte er sich nun, obwohl mehrfach gewarnt, durch allzu reich-
lichen Genuß von Pfefferkuchen eine übermäßige Ausdehnung des Magens
zu schulden kommen lassen. Bereits um Mitternacht erfolgte plötzlich
ein Bersten des längst morschen Grundes eines an der vorderen Magen-
wand sitzenden Geschwüres. Hieran schloß sich alsbald außer einem, wie
später die Sektion lehrte, sehr reichlichen Austritte von Luft, eine serös-
fibrinöse Entzündung des gesamten Bauchfelles, an welcher er noch im
Laufe des zweiten Feiertages, also nach einem im ganzen nur 40-stündigen
Krankenlager, zu Grunde ging.
Das wirklich neue, jedenfalls das bei weitem interessanteste Moment
dieses Bildes liegt nun darin, daß es uns nicht bloß den erstaunlichen
Umfang und die eigentümliche Gestalt einer solchen Luftansammlung
veranschaulicht, sondern auch die von ihr ausgegangenen Folgewirkungen.
Was ersteren Punkt betrifft, so beläuft sich ihr Durchmesser in der Breite
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 13
auf beinahe 24 cm, in der Höhe auf 11—12, in der Tiefe auf 3 — 4 cm. Was
sodann ihre Form anlangt, so entspricht diese einer Linse, die zwar (den
Patienten stehend gedacht) der Hauptsache nach aufrecht gestellt ist, deren
Längsachse jedoch eine leichte Abweichung nach oben und hinten besitzt.
Und zwar wird die Konvexität der vorderen Fläche dieses linsenförmigen
Luftraumes durch den unteren Teil des Thorax, beziehungsweise der
Bauchdecken gebildet, die hintere, allerdings schwächer konvexe Begren-
zung dagegen von dem (gefrorenen) peritonitischen Fluidum. Besondere
Beachtung verdient noch der Umstand, daß er durch das in fast sagittaler
Richtung nach hinten ziehende Ligamentum Suspensorium hepatis in zwei
nicht ganz gleiche Hälften geteilt wird (Demonstration).
Fassen wir nun die Folge Wirkungen ins Auge, welche jene Luft-
ansammlung bedingt hat, so müssen wir da zweierlei Einflüsse unter-
scheiden : einmal denjenigen, welche die ins Abdomen gelangten Magengase
in ihrem eigensten Bereiche ausgeübt haben, sodann aber die mittelbaren.
Was zunächst die direkten anlangt, so wirken sie einerseits auf
den Spannungsgrad der vorderen Bauchwand und des Zwerchfelles,
andererseits auf die gewohnte Durchfeuchtung der abdominalen Fläche
des Diaphragmas. Jene Steigerung des innerhalb des Epi- und Meso-
gastriums herrschenden Druckes äußert sich darin, daß sämtliche Weich-
teile, insbesondere das Stratum musculare der beiden Wände, die den
gewaltigen Luftraum umgrenzen, stark vorgewölbt sind. Der Effekt
der natürlichen Trockenheit der Luft hingegen verrät sich dadurch, daß
das Bauchfell, am deutlichsten derUeberzug des Diaphragmas, wie aus'-
gedörrt aussieht und deshalb seine rote Färbung mit einer bräun-
lichen vertauscht hat.
Die übrigen Folgen, welche wir, weil sie bloß in die Ferne wirken,
als mittelbare unterschieden haben, äußern sich in massenhafter Aus-
schwitzung einer serös-eitrigen Flüssigkeit in dem ganzen
Reste der Bauchhöhle. Die gewählte Schnittebene ist nun zugleich aus-
nehmend geeignet, uns die räumlichen Beziehungen zwischen der Luft und
diesem Ergüsse vor Augen zu rücken. Sie macht uns aber auch klar,
wie das nur erst leicht getrübte Fluidum die einzelnen Eingeweide, indem
es sie rings umflutet, allmählich aus der ursprünglichen Lage entfernt
und sogar die gewohnten Verbindungen zwischen dicht aneinander-
stoßenden Nachbarorganen immer mehr gelockert hat Im Einklänge hiermit
kann es uns nicht wunder nehmen, daß so viel Luft und Flüssigkeit
im Verein dazu geführt hat, sämtliche Baucheingeweide bis zu einem
kaum glaublichen Maße zusammenzudrücken. So sind denn Hohlkanäle, wie
Parenchyme, sowohl die Rohre des Magens und des Darmkanals, als
auch die solide Substanz der Drüsen (Leber u. a.), die wir im Exsudate
teils schweben, teils schwimmen sehen, allenthalben von ihm umfangen
und schwer beeinträchtigt (Demonstration).
An die hiermit geschilderten Beispiele möchte ich kurz noch einige
14 E. Ponfick,
anreihen, die danach angetan sind, uns über die Art Aufschluß zu ge-
währen, wie sich intraabdominale, lediglich aus Flüssigkeiten
bestehende Ansammlungen auf die einzelnen Regionen zu ver-
teilen pflegen. Die in holoptischem Sinne gewonnenen Schauflächen,
welche uns das klarmachen sollen, sind um so belehrender, als sie
mehrere, durchaus verschiedene Richtungsebenen wiedergeben, also bestens
dazu dienen können, sich wechselseitig zu ergänzen.
So eröffnet uns Tafel III auf einem medianen Sa gittal schnitte einen
Einblick in die Weise, wie sich ein ascitisches Fluidum ausbreitet, das
neuerlich, infolge wiederholter interkurrenter Entzündungen, eine immer
unverkennbarere Trübung erfahren hat. Sie zeigt uns, in welch ungleichem
Maße es die einzelnen Regionen des Abdomens erfüllt (Demonstration).
Einen weiteren Beitrag zu der aufgeworfenen Frage liefert Tafel IV,
welche, wie Sie sehen, ein durch Leb er c irrhose bedingtes, daher zu-
gleich ikterisches Transsudat wiedergibt. Mittelst der frontalen Schau-
fläche, welche auf ihr dargestellt ist, erfahren wir, daß dessen Hauptanteil
die Fossae iliacae, sowie die seitlichen Partien des Bauchraumes beher-
bergen von der Regio meso- und epigastrica an bis tief in die Hypo-
chondrien hinein; daß außerdem aber nur noch ein einigermaßen selb-
ständiger Bezirk eine bedeutendere Ansammlung umschließt, nämlich:
die Bursa omentalis.
unverhältnismäßig sparsam ist es dagegen zwischen den Darmschlingen
und innerhalb der Beckenhöhle. Sehen wir also ab von dem Netzbeutel,
so sitzt es überwiegend an der Peripherie des Abdominalsackes, indem
es, einer Eugelschale vergleichbar, den zentralen Knäuel der Darmschlingen
rings umspült, bis zu einem gewissen Grade aber auch Milz und Leber
umfangen hält. (Demonstration.)
Eine weitere, gewiß beachtenswerte Vervollständigung gewährt hiezu
Tafel XX Vn, indem sie uns, diesmal auf einer Horizontal ebene, die
staunenswerte Geräumigkeit vor Augen führt, welche eben diese Bursa
omentalis unter dem Einflüsse eines allgemeinen, hier durch Miliartuber-
kulose des Bauchfelles und fettige Entartung des Myokards hervorge-
rufenen Ascites erfahren kann. Vielleicht noch überzeugender kommt
uns da zum Bewußtsein, wie gewaltige Flüssigkeitsmengen dieser retro-
gastrische Behälter im Notfalle aufzunehmen und — trotz Punktion —
zurückzuhalten fähig ist.
Diesem Gedankengange folgend, wenden wir unser Augenmerk un-
willkürlich der Tafel XXV zu. Ist doch die umfangreiche Fläche der
medianen Sa gittal ebene, die sie verkörpert, ersichtlich dazu berufen,
Lage und Beziehungen eines Haematoms der Bursa omentalis
zu erläutern. Schon bei flüchtigem Betrachten läßt uns dieses Bild die
ganze Tragweite ermessen, welche einem wie immer gearteten Ergüsse
in jenem Recessus innewohnt, dem sein naher Zusammenhang mit Magen,
Pankreas und Leber hohe chirurgische Bedeutung verleiht.
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 15
Ebenso ist offenbar nur ein an der gefrorenen Leiche ausgeführter
Sagittalschnitt, und zwar gerade ein lateral von der Wirbel-
säule gelegter, im stände, uns die Verbreitungs weise der Aktinomy-
k o s e zu veranschaulichen, zu zeigen, wie sie alle Schichten des Rumpfes
durchwandert, um nach langen Monaten an entlegener Stelle hervorzu-
brechen (Tafel XXI). In einem Ensemble, wie es sich für die chirurgische
Therapie kaum fSrderlicher wünschen läßt, lehrt uns dieses Bild, wie sich
der schleichende Prozeß aktinomykotischer Eiterung aus der Tiefe des
Körpers immer mehr emporwühlt, wie er eine der sich ihm entgegen-
stellenden Schranken nach der anderen sei es umgeht, sei es überwindet,
um schließlich in mancherlei Minengängen an der Außenfläche des
Rumpfes aufzutauchen (Demonstration).
Von topographischem Lehrinteresse für den jungen Diagnostiker ist
unstreitig auch Taf. XXII, die eine dem untersten Bereiche des Thorax
angehörende Horizontal ebene verkörpert Erinnert sie uns doch
daran, daß es im unteren Bereiche der Brust ein bestimmtes, in der
ISngsrichtung des Körpers allerdings ziemlich beschränktes Niveau gibt,
wo die drei großen serösen Säcke, welche hier zusammenstoßen: Gavum
pericardii, pleurae et abdominis, alle in einer und der nämlichen
Ebene gelegen sind. Zunächst allerdings wirkt dieses Bild insofern ver-
blüffend, als es uns nicht nur deren Nebeneinander vor Augen rückt, sondern
zugleich ihr höchst wechselvolles Ineinandergreifen. Gerade der Blick
hierauf bringt uns aber von neuem aufs schlagendste zum Bewußtsein,
wie unerläßlich es sei, dem dissezierenden, d. h. auseinanderreißenden
Vorgehen am Leichentische, wie es der bei unserer Obduktionsmethode
zu erreichende Nächstzweck nun einmal unvermeidlich macht, ein
Gegengewicht zu schaffen durch systematische Pflege
holoptischer Betrachtungsweise.
IL
Allein die holoptische Methode besitzt ja, wie ich eingangs
bereits erklärt habe, außer der Fähigkeit, einen zuverlässigen Einblick
in das während des Lebens herrschende Nebeneinander zu gewähren,
den weiteren Vorzug, uns mit neuen Einzelbefunden bekannt
zu machen.
Wie mich dünkt, macht man sich nämlich nicht genügend klar, daß
das übliche Sektionsverfahren — seinem ganzen Wesen nach nur be-
greiflich — stets versagt, sobald es sich darum handelt, gewisse labilere
Veränderungen festzuhalten. Tatsächlich ist es indes nur allzu natür-
lich, daß sich manche, besonders der vergänglicheren Anomalien, nach
dem Tode rasch genug verwischen können. Zieht man das gebührend
in Rechnung, so hat die Entdeckung durchaus nichts Ueberraschendes,
daß uns die oder jene von den Veränderungen bis heute entweder über-
haupt entgangen oder mindestens, daß es strittig geblieben ist, in wie-
16 E. Ponfick,
weit sie dem intra vitam vorhanden gewesenen Zustande wirklich ent-
spreche.
Demgegenüber ist der Gefrierprozeß durchaus geeignet, einmal auch
solche Gestaltungen zu fixieren, die einem sei es nun an sich eigenartigen,
deshalb weder gewohnten, noch erwarteten Zustande entspringen, sei es
einem bloß für kurze Zeit dauernden: etwa einer augenblicklichen
Muskelkontraktion, einer nur zeitweisen Dehnung irgendwelchen Rohres
oder Behälters und Aehnlichem.
In dem nämb'chen Sinne vermag die Methode gegenüber solchen Pro-
dukten zu wirken, die unter den üblichen Umständen, d. h. bei mittlerer
Zimmertemperatur, fortfließen würden, die sich also zerteilen, ja vielleicht
ganz verschwinden können. Hierzu gehören diejenigen Exsudate, Extra-
vasate u. a., die sich nicht in geschlossene Höhlen oder solide Parenchyme
ergossen haben, sondern in natürliche Kanäle.
Indem der Gefrierprozeß die ersteren in ihre — sei es gleich nur
zeitweise — Lage festbannt, die letzteren an den Ort ihrer ursprüng-
lichen Entstehung, verhilft er uns dazu, bald neue Tatsachen festzu-
stellen, bald solche über jeden Zweifel zu erheben, die bis dahin ange-
fochten gewesen sind.
Mit Rücksicht auf die Kürze der mir zugemessenen Zeit will ich
mich auch hier darauf beschränken, sehr geehrte Herren, Ihnen einige
wenige Beispiele vorzuführen.
Zunächst möchte ich anknüpfen an die Ihnen schon bekannte Taf. IX,
weil eben sie danach angetan ist, uns auf einem Bilde jene beiden
Seiten der holoptischen Methode vereint zum Bewußtsein zu bringen.
Denn sie veranschaulicht uns nicht bloß die Art, wie sich teils die Raum-
verteilung, teils das Kaliber der Baucheingeweide umwandelt unter dem
Einflüsse des gewaltigen Druckes, den ein massenhaftes Exsudat ausübt.
Sondern sie rückt uns zugleich mit einer in gleicher Schärfe noch nie-
mals dargestellten, ja auch nur geschauten Körperlichkeit sowohl den
gewaltigen Umfang wie die eigenartige Form jener subphreuischen Luft-
ansammlung klar vor Augen.
Als zweites Beispiel nenne ich Taf. XV, die auf frontaler Fläche den
Rumpfsitus eines 28jährigen, an Insufficienz und Stenose der
Mitralis leidenden Mannes wiedergibt Diejenige Erscheinung, wegen
deren sie in erster Linie unsere Aufmerksamkeit verdient, gehört aller-
dings nicht dem Herzen an, sondern dem Respirations-Apparate. Sie ist
es zugleich, welche uns das freilich sehr unerwartete Substrat liefert
für die Todesursache. Wenigstens hoffe ich, daß den Gründen, mit denen
ich die gegen diese Ansicht zu erhebenden Einwände zu widerlegen ge-
denke, auch Sie beipflichten werden.
Der größeste Teil des rechten Unterlappens ist nämlich Sitz einer
frischen hämorrhagischen Infarzierung. Diese hat lange ge-
nug, jedenfalls schon einige Tage bestanden, um infolge der Mitbeteiligung
TJeber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 17
der Serosa zum Ergüsse eines bereits ziemlich bedeutenden serös-fibri-
nösen Exsudates in den Pleuraraum zu führen. Den Urheber dieser
ganzen Erscheinungsreihe, einen ansehnlichen Embolus, sehen wir in den
Hauptast des angeschoppten Unterlappens eingekeilt.
Im Hinblick auf mancherlei anderweitige Erfahrungen könnte es
nun wohl scheinen, als ob durch das immerhin schwere Primärleiden,
jenes Vitium cordis, in Verbindung mit einer so ernsten Komplikation
wie der von Pleuritis begleiteten Verdichtung der Lunge, der Tod hin-
reichend erklärt sei.
So sehr wir nun auch unter gewöhnlichen Verhältnissen bereit sein
mochten, uns mit einer Deutung zu begnügen, die auf den ersten Blick
alle epikritischen Ansprüche befriedigt, so erachte ich mich im vor-
liegenden Falle heute doch nicht mehr für berechtigt, sehr geehrte Herren,
Sie damit abzuspeisen.
Nahe dem oberen Rande des Bildes nämlich begegnet unser Auge
einem auffallenden Befunde. Vielleicht wird er zwar auf den einen oder
anderen von Ihnen zuerst gar nicht einmal besonderen Eindruck machen.
Allein je eindringender Sie ihn würdigen, desto größere Tragweite werden
gewiß auch Sie nicht umhin können, ihm beizumessen. Hier erblicken
wir nämlich das weitgeöflfnete Lumen der Trachea, welche, schräg ge-
troffen, nach hinten und unten zieht. Sie ist prall gespannt und enthält
ein so massiges schwarzrotes Gerinnsel, daß sie vollständig davon ver-
stopft, daß ihre Lichtung also ganz verschwunden ist. (De-
monstration.)
Hiernach läßt es sich nicht länger bezweifeln, daß der Kranke wäh-
rend eines Anfalles schwerster Hämorrhagie in die Atem-
wege erstickt ist.
Angesichts solcher Erkenntnis erhebt sich nun gebieterisch die Frage:
^Würde es bei dem üblichen Sektionsverfahren wohl jemals möglich ge-
wesen sein, einen derartigen Befund zu erhalten? Würde es dabei vol-
lends möglich gewesen sein, dessen Beweiskraft hinreichend zu gewähr-
leisten, um so weitgehende Schlüsse daraus zu ziehen, wie er es
tatsächlich verdient?"
Denn nichts Geringeres läßt sich ja, auf ihn gestützt, heute behaupten,
als daß ein hämorrhagischer Infarkt der Lunge vermöge
der zuweilen erstaunlichen Blutmengen, die dabei in die
Verzweigungen des Bronchialbaumes geraten, durchaus
fähig sei, einen großen Zufuhrweg der Atmung, ja das
Hauptrohr selber ganz und gar abzusperren.
Unstreitig bietet diese neu gewonnene Einsicht für uns alle, und
zugleich für den Gerichtsarzt, ein nicht geringes Interesse dar. Rückt
sie doch jedem eine neue, dem hämorrhagischen Infarkte innewohnende
Gefahr vor Augen : eine Folgewirkung, die ihm mit gleicher Zuverlässig-
. a. d. OrMiftbtotaa d. Slodlsin n. Chirnrgi«. 2m. Bd. 2
18 K Ponfick,
keit, wie ich sie für die bei dem fraglichen Patienten ergossene Blut-
menge habe dartun können, noch nirgends zugeschrieben worden ist.
Nicht minder bedeutsame Belehrung bringt sie aber, wenn ich mich
nicht täusche, dem Kliniker. Gewährt sie ihm doch Aufschluß über den
Ursprung so manchen einigermaßen rätselhaft gebliebenen Todesfalles
Herzkranker, mancher heftigen Dyspnoe, die unter erstickungsähnlichen
Symptomen verblüffend schnell eine letale Wendung genommen.
Endlich und wahrlich nicht am letzten gibt der geschilderte Befund
den Gedanken des allgemeinen Pathologen ungeahnte Nahrung. Denn
wer hätte wohl glauben können, daß eine doch nur auf diape de tisch em
Wege entstandene Extravasation hinreichend beträchtliche Blutmengen in
Fluß zu bringen vermöge, um ein so weites Rohr, wie die Trachea
eines Erwachsenen, unrettbar zu verlegen!
Freilich wissen wir ja von anderen, der gleichen Quelle entsprin-
genden Hämorrhagien — ich erinnere bloß an die im Gefolge von
Lebercirrhose in Magen und Darmkanal auftretenden — , einen wie be-
drohlichen Umfang sie erreichen können. Allein deshalb ist es sicherlich
von nicht geringerem Wertö, nunmehr darüber vollste Gewißheit zu be-
sitzen, daß keineswegs nur die auf Rhexis beruhenden Pneumorrhagien
der Phthisiker lebensgefährlich, sondern daß auch Herzkranke davon
bedroht sind, einer diesmal lediglich durch Diapedese bedingten Lungen-
blutung zu erliegen.
Das dritte Beispiel endlich, auf das ich Ihre Aufmerksamkeit lenken
will, ist ein durch gewaltige Blutansammlung ungemein aus-
gedehnterMagen. Teils infolge eines so abnormen Inhaltes, teils infolge
des Druckes, den das die Bursa omentalis füllende Transsudat auf das ge-
nannte Organ von hinten ausübt, sehen wir es aufs dichteste an die vor-
dere Bauchwand angedrängt, während sich zwischen diese und die seit-
lichen Eingeweide eine breite Schicht ascitischen Fluidums schiebt.
Außer jenem hämorrhagischen Inhalte fällt uns nun an dem so
dilatierten Behälter alsbald eine abnorme Konfiguration auf^ die
ich mich weder selber erinnern kann, ohne irgendwelche organische Ver-
änderung seiner Wandung jemals angetroffen zu haben, noch von
anderen geschildert weiß. Er besitzt nämlich annähernd die Gestalt
einesWinkelmaßes. Soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, ver-
läugnet aber der Magen sein schlauchähnliches Aussehen auch bei noch so
bedeutenden Ausweitungen insofern nicht, als die elliptische Grundform,
so sehr sie sich dabei ins Breite und Plumpe verändern mag, im großen
und ganzen dennoch bewahrt bleibt.
Im Gegensatze dazu bemerken wir hier, wie der blutgefüllte Sack
etwa in der Ebene der r. ParaSternallinie die frontale Richtung plötzlich
verläßt, welche er im Einklänge mit der normalen Lageweise bis dahin
innegehalten. In fast genau rechtem Winkel umbiegend, vertauscht er
die letztere vielmehr mit einer rein sagittalen, wie sie sogar die Pars
horizontalis duodeni superior noch eine Strecke weit fortsetzt.
Ueber neue Aufgaben des pathologisch-anatomischen Unterrichtes. 19
Offenbar im Zusammenhange mit einer so au^lligen Deviation
seiner Längsachse steht eine andere, nicht minder ungewöhnliche
Erscheinung. Ich meine die deutliche Sonderung des Magens
in zwei allerdings recht ungleiche Hälften; ein Verhalten,
für das irgendwelche allgemeine Anhaltspunkte physiologischer Art wohl
kaum gegeben sind. Indes auch unter pathologischen Bedingungen, noch
so hohen Graden einer überdies habituell gewordenen Dilatation ist bis
jetzt wenigstens nichts davon bekannt geworden, daß sich zwischen Fundus
und Pars pylorica eine so stark vorspringende Leiste beobachten lasse,
um den Sack dadurch in zwei bis zu einem gewissen Grade selbständige
Abteilungen geschieden zu sehen. (Demonstration.)
Unwillkürlich fühlt man sich hierdurch an die bekannte Tatsache
erinnert, daß Fundus und Pförtnerteil, die sich ja bei manchen Tieren
auf eine schon äußerlich bemerkbare Weise gegeneinander abheben, beim
Menschen nicht nur vermöge ihrer mikroskopischen Struktur wesentlich
voneinander verschieden sind, sondern daß auch funktionell jedem von
Urnen eine eigene Rolle zufällt. Angesichts der auffallenden Verdickung,
welche im Bereiche der Pars pylorica — und lediglich in dieser — die
Muscularis erkennen läßt, drängt sich überdies die Frage auf, inwieweit
etwa auch sie an der Sonderstellung des Pförtners mitbeteiligt sei.
Wie immer die Entscheidung über diese physiologische Seite der
Frage künftig auch fallen mag, unter allen Umständen haben wir es hier
abermals mit einem Befunde zu tun, den uns ersichtlich einzig und allein
das holoptische Verfahren zu erheben befähigt hat.
FreiUch ist es keineswegs bloß ein neuer und unerwarteter Zuwachs
unserer Kenntnisse, den wir ihr damit verdanken. Wertvoller macht ihn
zweifellos der Umstand, daß er in direktem Widerspruche steht mit allen
unseren bisherigen Anschauungen über mögliche abnorme Konfigurationen
des Magens. Ist er somit danach angetan, den Pathologen eine Fülle
neuer Fragen aufwerfen zu lassen, so ist er kaum minder geeignet, bei
dem Physiologen manch fruchtbaren Gedanken anzuregen. Gewährt er
diesem doch verstärkte Unterlagen für eine innere Sonderung der
beiden zwar zu einer morphologischen Einheit verbundenen, indes vermöge
ihres feineren Baues, wie der gelieferten Sekretionsprodukte durchaus
eigenartigen Bestandteile.
Ob es sich hierbei um eine häufiger vorkommende Erscheinung
handele, oder ob für den ungewöhnlichen Befund lediglich die Anwesen-
heit einer ausnahlnsweise beträchtlichen Blutmenge innerhalb des Cavum
ventriculi verantwortlich zu machen sei, darüber wird sich erst dann
Klarheit gewinnen lassen, wenn eine umfassendere Anwendung der holop-
tischen Methode dazu geführt hat, in der gleichen Richtung weitere Tat-
sachen zu sammeln.
2*
20 E. Ponfick, Ueber neue Aufgaben etc.
Fassen wir zum Schlüsse dieses zweiten Kapitels die Befunde zu-
sammen, über welche ich an der Hand der sie verkörpernden Abbildungen
soeben berichtet habe, so stimmen sie, so sehr sie sonst auch vonein-
ander verschieden sind, doch in einem sehr wesentlichen Punkte überein.
Allesamt bereichern sie nämlich unser Wissen durch eine
neue und überraschende Erfahrung. Allesamt beweisen sie also,
daß das holoptische Vorgehen neben den Diensten, die es vermöge
topographischer Veranschaulichung der Diagnostik leistet, zugleich ein
Mittel ist, um durch Aufdeckung ungeahnter Einzeltatsachen den Ein-
blick in pathologisches Geschehen fort und fort zu erweitern.
Nachdruck verboten.
IL
lieber postoperative Pfropfung von Echino-
kokkencysten^).
Von
O. Madelung in Straßburg i. E.
(Hierzu Tafel 11.)
Seit ich von Rostock nach Straßburg übergesiedelt bin, habe ich
selten Gelegenheit gehabt, mich mit Echinokokkenkrankheit praktisch
zu beschäftigen.
Einiges Neue habe ich aber doch gelernt, und eine Beobachtung,
die ich machte und im nachfolgenden mitteilen will, hat prinzipielle
Bedeutung.
Im November 1900 hatte ich bei einem 31-jähr. Manne einen von
der Leberkonkavität ausgehenden Hydatidensack nach einzeitiger Me-
thode operiert. Die Einstellung der Geschwulst in die Bauchwand-
wunde war etwas schwierig: im übrigen bot die Operation nichts Be-
sonderes dar. Auch die Heilung erfolgte in der gewöhnlichen Weise.
Als P. Anfang Februar 1901, 9 Wochen nach der Operation, aus der
Klinik entlassen wurde, war die Wunde bis auf eine ganz kleine (1 cm
lange und kaum ^/^ cm tiefe) granulierende Stelle verheilt.
Wir bekamen ihn erst Ende 1902 (also ca. 2 Jahre post operationem)
wieder zu sehen, als er Hilfe suchte wegen der Folgezustände einer
im Sommer erlittenen Kopfverletzung. Die von der Laparotomie her-
rührende Narbe hatte die Beschaffenheit, welche das Bild zeigt. P.
behauptete, daß der größere, im lateralen Teile der Narbe bestehende
Knoten schon 3 Wochen nach seiner Entlassung aus der Klinik zu
bemerken gewesen, dann langsam gewachsen sei. Die Bauchtiarbe
1) Ueber denselben Gegenstand habe ich in der Sitzung des Straßburger
Naturwissenschaftlich - medizinischen Vereins am 13. Febr. 1903 imd in
der chimrgischen Abteilung der 75. Versammlung Deutscher Naturforscher
und Aerzte in Cassel 1908 vorgetragen.
22 0. Madelung,
schien an. Eingeweiden nicht fixiert Die Leber war nicht vergrößert,
üeberhaupt war im Leibe nichts Abnormes nachzuweisen. Der Mann
war von allen früheren Beschwerden frei, durchaus arbeitsfähig.
Es war sofort klar, daß an zwei voneinander getrennten Stellen
in der Bauchwandnarbe Echinokokkencysten sich entwickelt hatten.
Ich entfernte dieselben mit Wegnahme von Teilen der sie deckenden
Narbe. Die Bauchhöhle brauchte nicht eröffnet zu werden. Die Blasen
enthielten zahlreiche Tochterblasen, Scolices, wasserklare Flüssigkeit.
Zweifellos waren die Parasiten in voll lebensfähigem Zustande.
Die Wunden heilten p. I. i. Bis jetzt — P. wurde am 20. Okt.
1903, also 1 Jahr nach der Rezidivoperation, zuletzt untersucht —
hat sich weder in der Narbe noch im Leibe die Entwickelung neuer
Cysten erkennen lassen.
Meiner Ansicht nach ist nur eine Deutung für diese Beobachtung
möglich. Bei der Operation, oder in der unmittelbar derselben
folgenden Zeit sind kleinste Echinokokkenkeime zwischen die Schichten
der Bauchwandwunde gekommen, aufgepfropft worden. Sie haben
hier alle Bedingungen für ihre Weiterentwickelung gefunden.
Etwas Aehnliches habe ich selbst niemals gesehen. Ich habe Ö4mal
Echinokokkencysten der Leber und 21mal solche anderer Körperteile zu
operieren gehabt.
Langenbugh, der für sein bekanntes Buch die Eckinokokken-
kasuistik bis zum Jahre 1894 sorgfältigst durchgearbeitet hat, erwähnt
solches Vorkommnis auch nicht.
Ich fand dann aber bei Durchsicht der neueren Literatur, daß ganz
gleiche Beobachtungen auch von anderen gemacht worden sind. Aus
dem Jahre 1892 stammt eine betreffende Mitteilung, die Billroth in
einer Sitzung der Gesellschaft der Aerzte in Wien gemacht hat. In
Sitzungen der Socio t6 de Chirurgie de Paris in den Jahren 1899 und
1900 und der Soci6t6 anatomique im Jahre 1900 haben mehrere fran-
zösische Chirurgen ähnliche Erlebnisse erzählt.
Billboth^) hatte bei einer Frau einen Echinococcus „in gewöhnlicher
Weise" operiert, l^j^ Jahre nachher kam sie wieder mit einer hühnerei-
großen Geschwulst in der Narbe. Nach dem Hautschnitte sprang eine
Echinococcusblase heraus. „Hier wollte es also der Zufall", sagt Billroth,
„daß bei der ersten Operation ein Kopf gerade in der Haut zurück-
gehalten wurde."
Courtier 2). Im Oktober 1891 wird ein vereiterter Echinococcus des
Thorax operiert Die Mutterblase wird erst nach 2 Monaten ausgestoßen.
Sehr starke Eiterung dauert noch weitere 3 Monate an. Im Juni 1892,
also Yi Jahre p. op., macht C. Operation nach Esthlandbr. Nach Haut-
1) Wien. klin. Wochenschr., 1892, No. 21, p. 314.
2) Joum. de M^d. de Bordeaux, 1893, p. 285, ref. bei F. Devä, De
TEchinococcose secondaire. Th^se de Paris, 1901.
Ueber postoperative Pfropfung von Echinokokkencysten. 23
schnitt in der Gegend der alten Wunde finden sich am Rande derselben
in den Muskeln 3 kleine Cysten.
RouTiBR^). 1895 hatte Hartmann im Hospital Bichat bei einem
Manne, der einige 30 Jahre alt war, 2 Echinokokkencysten operiert. Eine
saß an der oberen, die andere an der unteren Fläche der Leber. Sie
waren voll von kleinen Hydatiden.
1897 mußte Hartmann von neuem operieren, da Hydatidencysten sich
in der Bauchwand gebildet hatten (formant de petites tumeurs au niveau
de la cicatrice). Als Routibr den Mann 1898 im Hospital Necker sah,
war die Narbe durch 2 runde, nvißgroße Cysten erhoben. 1899 wurde
eine 4. Operation nötig. Eine beträchtliche Anzahl von Hydatiden, in
Trauben form angeordnet, lag im subkutanen Zellgewebe. Bei der Aus-
lösung derselben fand sich dann auch noch zwischen der unteren Fläche
der Leber und dem Halse der Gallenblase eine htihnereigroße Cyste.
QüÄNU*) operierte 1898 mit Incision und Drainage bei einer 25-jähr.
Frau eine Echinococcuscyste, die von der Unterfläche der Leber ausging.
Sie enthielt 6 1 Flüssigkeit. Die vollständige Vernarbung erforderte 5 Monate.
18 Monate nach der Operation bemerkte Fat. eine kleine Kugel am
unteren Ende des Hautschnittes. Dieselbe vergrößerte sich. Ein halbes Jahr
später hatte sie die Größe eines kleinen Taubeneies erreicht, war beweglich
gegen die tieferen Teile, nur von Haut und Narbe gedeckt. Bei der
!Excision wurde festgestellt, daß sie sich im subkutanen Fettgewebe ent-
wickelt hatte, ohne irgend einen Stiel nach der Tiefe.
PoTHBRAT*) sah — nach Operation (par marsupialisation) einer sehr
großen Cyste — bei einem 8- jähr. Kinde unter der Narbe eine Blase so groß
wie eine Nuß. Er entfernte dieselbe durch einen Einschnitt.
TüFFiBR*) operierte 1890 (par marsupialisation) bei einem jungen
Mädchen eine große Lebercyste. 2 Monate nach der Heilung der Ope-
rationswunde kam die Pat. wieder mit einer Echinococcuscyste, die sub-
kutan in der Narbe saß. Dieselbe — sie enthielt wasserklare Flüssigkeit
— wurde ausgeschnitten.
Pbtit, J. *) QufeNU operierte (9. Juni 1898) bei einer Frau einen
Milzechinococcus. Die Pat. kam 2 Jahre nach der Operation wieder. Sie
hatte seit einem halben Jahre die Entstehung einer Geschwulst in der
Narbe bemerkt. Dieselbe hatte die Größe eines großen Hühnereies, bestand
aus zwei voneinander getrennten Cysten, war, wie sich bei der Operation
zeigte, vollständig im subkutanen Zellgewebe gelagert. Beide Cysten ent-
liielten wasserklare Flüssigkeit, größere und kleinere Tochterblasen.
Alle Beobachter (mit Ausnahme von Potherat) sind davon über-
zeugt gewesen — in der Sitzung der Pariser chirurgischen Gesellschaft
vom 21. März 1900 ist dies mit besonderem Nachdrucke ausgesprochen
worden — daß die sekundären Echinokokkencysten durch Pfropfung
bei und nach der Operation entstanden sind.
1) Bull, et Mem. de la Soc. de Chir. de Paris, T. 25, 1899, p. 716.
2) u. 3) u. 4) Ball, et M6m. de la 8oc. de Chir. de Paris, T. 26, 1900,
p. 314.
6) Bull, de M6m. de la Soc. anatom. de Paris, 1900, p. 713.
24 0. Madelang,
Die Falle sind in merkwürdiger Weise übereinstimmend.
In gleicher Weise entwickeln sich im unmittelbaren Anschluß an
Operationen von Leber-, von Milz- und Pleuraechinococcus, unter und
in der Nachbarschaft der Operationsnarben die Cysten. Schon nach 3 Mo-
naten (Madelung), nach 6 (Petit), nach 18 Monaten (QufiNu) werden
dieselben den Patienten selbst bemerkbar. Alle kommen — zu Nuß-,
Taubenei-, Hühnereigröße entwickelt — 1—2 Jahre nach der ersten
Operation zur ärztlichen Kenntnis. Sie sind im subkutanen Zell- und
Fettgewebe, in den Muskeln gelagert, sind ohne jeden Zusammenhang
mit dem Eingeweide, in dem bei der ersten Operation der Echinococcus
gefunden wurde.
Nur in dem Falle Roütiers wird bei der Operation außer den
in der Narbe gelegenen Cysten noch an anderer Stelle ein Rezidiv ge-
funden. Es erscheint nicht zweifelhaft, daß die zwischen Gallenblasen-
hals und Leber gelegenen Cyste gleichfals einer postoperativen Pfropfung
ihre Entstehung verdankte.
Soweit aus den Berichten zu sehen, war in allen Fällen der primäre
Echinococcus durch Einschnitt und Annähen nach einzeitiger Methode
operiert worden, die Ausheilung in langsamer Weise und bei monate-
langer Eiterung der Wunde zu stände gekommen. Die letztere hatte
also nicht gehindert, daß Echinokokkenkeime, die in die Wunde ge-
kommen waren, lebensfähig blieben und einheilten.
Ja selbst Keime, die aus einem vor der Operation vereiterten Echino-
coccus stammten, — Dfivfi hebt die Wichtigkeit dieser Beobachtung
mit Recht besonders hervor — sind aufgepfropft worden.
Ebensowenig haben die bei den in den letzten 10 Jahren operierten
Fällen sicher immer verwendeten Antiseptika die Keime abgetötet.
Die Bildung der beschriebenen postoperativen Pfropfungsrezidive
ist an sich immer ein für den Patienten harmloses Ereignis gewesen.
Ihre Auslösung war leicht. Nur in dem Falle von Roütier waren
mehrere Operationen nötig. Nur in demselben Falle fanden sich neben
den Echinokokken in der Narbe solche, die intraperitonealer Infektion
bei der primären Operation ihre Entstehung verdanken konnten.
Alle betreffenden Kranken sind, soweit man nach den Publi-
kationen urteilen kann, nach Beseitigung der Narbenrezidive dauernd
geheilt geblieben.
Ich sagte im Eingange, daß die Beobachtungen von postoperativen
Pfropfungen prinzipielle Bedeutung hätten.
Wir sehen seit einem Jahrzehnt alle Chirurgen, die sich mit Echino-
kokkenoperationen an Baucheingeweiden zu beschäftigen hatten, bestrebt,
neue Methoden zu erfinden, die schnelle Heilung der angelegten
Wunden ermöglichen.
Diese Neuerungen streben an — wenn man absieht von den nur
für seltenste Ausnahmefälle benutzbaren Resektionen der Leberteile, in
Mut. a d Gmugebietai d Medizäi u Oünuyie Bd. XJIf.
j'iäQe.^jr.3.
Ve.': J (l.lLStaV r
Taf.II.
■>ffe
'A
Liüi Anst.v .-j. Arndt Jena
Ueber postoperative Pfropfung von Echinokokkencysten. 25
denen die Cyste liegt — entweder die Abtötung des Parasiten durch
Injektion von parasitiziden Flüssigkeiten (Baggei^li, Franke u. a.), oder
die in einem Operationsakte durchzuführende vollständige Ausräumung
des Inhaltes der Cystenkapsel mit nachfolgender Vernähung der letzteren
und Versenkung des Organes, in welchem die Echinokokkenbildung
stattgefunden hatte, in die Bauchhöhle (Billroth, Posadas-Bobrow,
Delbet).
Daß diese neuen Methoden sehr rasch, oft in wenigen Tagen Heilung
herbeiführen können, daß dieselben direkt das Leben der Patienten
nicht in größerer Weise gefährden, ist genügend bewiesen. Aber sie
alle bringen, darüber kann kein Zweifel sein, in sehr viel höherem
Grade als die alten Methoden die Gefahr mit sich, daß Cysteninhalt,
d. h. daß Echinokokkenkeime in die Bauchhöhle gelangen, die dort sich
ansiedeln können.
An Warnungen, bei jeder Operation eines intraperitoneal gelegenen
Echinococcus diese Gefahr an erster Stelle zu berücksichtigen, hat es
seit mehr als einem Jahrhundert nicht gefehlt. Für diejenigen, denen
die zahlreichen klinischen Erfahrungen [Folgen der Spontanrupturen,
der Probepunktionen u. s. w.] ^ nicht genügten, wurden unanfechtbare
Beweise für die Möglichkeit der Entstehung von multiplen (meist jeder
Therapie unzugänglichen) Echinokokken der Bauchhöhle nach Impfung
geliefert durch die Ergebnisse der in den letzten 10 Jahren gemachten
Tierexperimente.
Dieselben haben gezeigt, daß „die Blasen des multiplen Echino-
coccus sich nicht nur aus herausgefallenen Tochterblasen der primären
Echinokokkencysten, sondern auch aus ihren Brutkapseln und Scolices
entwickeln** (Alexinsky ; Bestätigung durch Riemann und Dfivfi), mit
anderen Worten, daß auch das Eindringen von Cystenflüssigkeit, die
für das unbewaShete Auge geformte Massen nicht zu enthalten scheint,
in hohem Grade die Gefahr der „Keimzerstreuung^ in der Bauchhöhle
mit sich bringt.
Zu allen diesen Warnungen gesellen sich nun noch die in neuester
Zeit gemachten Beobachtungen von Aufpfropfungen von Echino-
kokkencysten in Operationsnarben.
F. D6v6 - Rouen, der, wie ich im vorstehenden schon mehrfach
hervorhob, sich mit dem Thema der sekundären Echinococcose in ein-
gehendster Weise beschäftigte, hat, um die Gefahren der operativen Keim-
zerstreuung zu beseitigen, beachtenswerte Vorschläge gemacht^).
1) In vortrefflicher Weise hat in seiner oben erwähnten Arbeit Dävä
die Kasuistik der sekundären Echinococcose zusammengestellt.
2) Dfevfe, oben erwähnte Th6se von 1891, weiter: Des greffes hyda-
tiques postopÄratives, Rev. de Chir., T. 22, 1902, p. 534. — De Taction
parasiticide du sublim^ et du formol sur les germes hydatiques, Compt.
rend. des sdances de la Soc. de Biologie, 17. May 1902 et 17. Janv. 1903.
26 0. Madelung,
Dävä empfiehlt an, jedem wegen Echinokokken in der Bauchhöhle
unternommenen Eingriff Maßnahmen vorangehen zu lassen, die die
Abtötung des Parasiten bewirken. Dieselben sollen in folgendem
bestehen :
Nachdem die Cyste freigelegt ist und die benachbarten Gewebe ge-
nügend gedeckt sind, soll (mit dem PoTAiKSchen oder DisüLAFOYSchen
Apparate [1]) durch Punktion die Cyste von ihrem Inhalte entleert werden.
Jeder Druck auf die Cyste ist hierbei zu vermeiden. Es soll dann (2) in
die Höhle eine der entleerten Flüssigkeit fast gleiche Menge einer para-
sitiziden Flüssigkeit injiziert werden. Dieselbe bleibt einige Zeit in der
Cyste; dann (3) wird sie entleert. Nun erst soll die Ausräumung des
Parasitensackes und die (4) Versorgung der Cystenkapsel nach irgend
einer für den Fall passenden Methode folgen.
Dtvt hat durch zahlreiche Tierexperimente für diesen seinen Vorschlag
Grundlagen zu schaffen gesucht, und glaubt damit festgestellt zu haben,
daß „die Injektion einer Lösung von Sublimat von 1 : 1000 oder von
Formol von 1 : 100, die während 5 Minuten im Zusammenhange mit der
inneren Oberfläche der Cyste gelassen wird, genügt, die Lebensfähigkeit
der Echinokokkenkeime zu zerstören. ^^
Wie DiiVB aber selbst bemerkt, ist — wohlgemerkt — dieser Erfolg nur
zu erwarten in Fällen der „univesikulären Varietät", d. h. dann, „wenn
die parasitäre Geschwulst aus einer intakten Mutterblase besteht, die die
ganze Kapsel einnimmt
Däv6 nimmt an, daß diese Fälle die häufigsten seien. Nach meinen
Operationserfahrungen muß ich dem widersprechen. Ich fand in Leber,
Milz, Nieren nur in Ausnahmefkllen univesikuläre Cysten.
Bei der „forme complexe", „wenn eine Anhäufung von Tochterblasen
der verschiedensten Größe zusammengebacken inmitten von gelatinösem
Detritus vorhanden", ist die Entleerung durch Punktion oft genug voll-
ständig unmöglich, immer ungenügend. Demnach erscheint auch die In-
jektion von parasitizider Flüssigkeit unstatthaft.
Im Juli 1903 hat Qujönu ^) von 3 Operationen berichtet, bei denen er
das eben beschriebene D6v£sche Verfahren zur Anwendung brachte. 2mal
handelte es sich um univesikuläre, Imal um multivesikuläre Leberechino-
kokken. Verwendet wurde Formollösung (1 : 100, Menge 300—350 ccm,
5 Minuten in der Cyste gelassen).
Dävä, der bei der ersten Operation zugegen war, untersuchte die bei
dieser (nach der versuchten Abtötung) entleerten parasitären Teile auf
ihre Lebensfähigkeit mittelst des Tierexperimentes. 8 subkutane Injektionen
bei 4 Kaninchen ergaben negatives Resultat.
Wenn man weiß, daß derselbe Experimentator bei seinen früheren
Impfungen mit nicht- sterilisiertem Materiale (u. a. bei 11 subkutanen
Impfungen) immer (d'une fa9on constante) die Bildung von cystischen
Tumoren erzielt hat, so ist dieses Resultat gewiß in hohem Grade ein
Zeugnis für den Wert des D^vÄsohen Verfahrens.
In einem dritten Operationsfalle hatte Quänu einen multivesikulären
Echinococcus zu bebandeln. Immerhin ließen sich 620 g klarer Flüssigkeit
entleeren und 300 g Formol . injizieren. Bei der später vorgenommenen
Ausräumung fanden sich Hunderte von Blasen. Qu^nu ließ den Inhalt
von zwei derselben chemisch daraufhin untersuchen, ob das Formol
durch die Wand diffundiert sei. Es ließ sich solches nachweisen.
1) Bull, et M6m. de la Soc. de Chir., T. 29, 1903, p. 719.
üeber postoperative Pfropfung von Echinokokkencysten. 27
Ob mit diesem chemischen Befunde wirklich der Beweis geliefert ist,
daß alle Keime der multivesikulären Cysten abgetötet worden sind, wird
man bezweifeln können, im besonderen wenn man sich daran erinnert,
daß Lebedbff und Andrejew bei ihren Tierexperimenten mit Erfolg
Cysten in die Bauchhöhle einpflanzen konnten, die vorher mit Karbol-
lösung (2,5 : 100) gewaschen, und andere, die außerdem sogar 3 Tage
lang in 50-proz. Alkohol aufbewahrt waren, daß Dbvä aus 2 — 3 Minuten
lang mit Formol (Y^) behandelten Scolices nach subkutaner Einimpfung
polycystische Tumoren entstehen sah. Die Widerstandsfähigkeit der Echino-
kokkenkeime (im besonderen der mikroskopischen Elemente) gegen Gifte
ist sehr viel größer, als man früher annehmen konnte.
Aber, abgesehen davon, der Gedanke, der den) D^väschen Verfahren
zu Grunde liegt, ist zweifellos richtig, und zweifellos sind weitere Versuche
in derselben Richtung dringend notwendig. Der Wunsch, zu diesen an-
zuregen, bestimmte mich, über die in Deutschland anscheinend bisher
nicht beachteten Veröffentlichungen Dl:vi:s zu referieren.
Aus der medizinischen Poliklinik der Universität Leipzig.
Nachdrack verboten.
III.
Ueber Schädigungen des Herzens durch eine
bestimmte Art von indirekter Gewalt
(Zusammenknickung des Rumpfes über seine
Yorderfläche).
Von
Privatdozent Dr. T. L. TOn Criegem,
ehemaligem Assistenten der Poliklinik.
Die moderne Form der Lebensfürsorge durch Versicherungen pri-
vater und öffentlicher Natur hat es mit sich gebracht, daß die trauma-
tische Entstehung innerer Krankheiten in viel höherem Maße Gegenstand
des ärztlichen Interesses geworden ist als früher. Zugleich stehen heute
auch sonst die Erkrankungen des Herzens im Mittelpunkte einer leb-
haften Diskussion. So ist es nicht zu verwundern, daß die traumatische
Entstehung von Herzkrankheiten bereits viel studiert und literarisch
eingehend gewürdigt ist. Daher bedarf ein kasuistischer Beitrag auf
diesem Gebiete einer besonderen Motivierung, wenn er nicht überflüssig
erscheinen soll. Für die vorliegende kleine Arbeit glaube ich dieselbe
in der Art des Traumas suchen zu dürfen, welches ein indirektes ist
und in einem ganz bestimmten Sinne wirkt, nämlich durch Zusammen-
knickung des Rumpfes über seine Vorderfläche.
Die Literatur beschäftigt sich ganz überwiegend mit den Wirkungen
des direkten Traumas. Wesentlich drei Arten lassen sich hierunter
unterscheiden: die Verwundungen (einschließlich des Eindringens von
Fremdkörpern von außen her), die rein örtlichen Traumen durch stumpfe
Gewalt und die Kompressionen des Thorax. Alle drei sind in ihren
Wirkungen sehr ähnlich : Die letzte Abart unter ihnen, die Kompression
des Thorax, leitet in gewisser Weise zum indirekten Trauma hinüber,
und so läßt es sich auch für unser Thema nicht vollständig umgehen,
wenigstens ganz kurz die Folgen der direkten Gewalteinwirkung zu er-
wähnen, um sie vergleichen zu können.
Das örtliche Trauma durch stumpfe Gewalt bildet die Hauptmenge
der Kasuistik. Selbstverständlich, denn solche Fälle sind sehr häufig.
T. L. von Criegern, Ueber Schädigungen des Herzens etc. 29
Leider ist es nicht immer leicht, genau den Beweis zu führen, daß das
Trauma nun auch wirklich die beschädigte Stelle erreicht hat, z. B. die
klinisch erkennbare Aorteninsufficienz, oder auch, wenn der Fall zur
Obduktion kam, die anatomisch nachweisbare Kontinuitätstrennung der
Klappe bewirkt hat. Die Fälle bleiben in der Regel lange am Leben,
und man muß sich schließlich meist begnügen, zu sagen: der Stoß kann
die Klappe abgerissen, oder er kann eine gewisse Menge Parenchym
zertrümmert und dadurch die schrumpfende Narbe erzeugt haben, oder
was für eine Folge sonst vorliegt. Umgekehrt pflegen die Kompres-
sionen des Thorax, welche das Herz schädigen, meist rasch zum Tode
zu führen: und es ist nachher nicht zu sagen, was aus der frischen
Ruptur der Klappe geworden wäre, wenn das Leben länger angedauert
hätte. Ungleich besser lassen sich die Fälle von Verwundungen des
Herzens übersehen : man kann hier stets mit Sicherheit sagen : dort-
hin ist die Waffe gedrungen, hat diese oder jene Verletzung gesetzt.
Es macht dann keine Schwierigkeiten, weiter zu analysieren: infolge
der primären Verstümmelung findet nun diese oder jene Behinderung
der Herztätigkeit statt, und wir sehen daher die gegenwärtige sekundäre
Folge des Traumas. Ein Fall von Verwundung des Herzens wird sich
daher am besten als Vergleichsmuster aus der Gruppe der direkten
Traumen eignen.
Die Seltenheit einschlägiger Beobachtungen mag es entschuldigen,
wenn ich mich dazu eines Falles bediene, den Riethüs in der Deutschen
Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 67, p. 414 bereits veröffentlicht hat, da
ich denselben lange Zeit mit zu beobachten Gelegenheit hatte.
Ein 19-jähr. Kaufmann hatte sich am 27. Juni 1901 mit einem Revolver
von 6 mm Kaliber mitten in die Brust geschossen. Die Kugel war ins
Herz eingedrungen und dort eingeheilt. Man konnte ihren Schatten, nach-
dem die Wunde verheilt und der Kranke wieder ambulant geworden war,
deutlich von allen Seiten im Schatten des Herzens auf dem fluorescierenden
Schirme (und RöNTOBN-Photogramm) erkennen. Die Kugel war isochron
mit der Herzaktion beweglich und machte unter bestimmten Bedingungen
Schleuderbewegungen, schien also mindestens teilweise frei beweglich zu
sein. Bezüglich der genaueren Lokalisierung in einer der Herzhöhlen
sprach die Röntgenuntersuchung selbst mehr für den rechten Vorhof, der
klinische Verlauf des Falles mehr flir den rechten Ventrikel. Uns inter-
essieren hier die Folgen der Verletzung für das Herz. Die primären
Folgen der Verwundung zeigten sich im wesentlichen in schwerem Kollaps
mit subnormaler Temperatur. Die Anwesenheit eines Fremdkörpers im
Herzen machte sich zunächst auffallenderweise durch keine der sonst gewöhn-
lichen primären Erscheinungen (Irregularität des Pulses) geltend, sondern
erst später, etwa von der 3. Woche ab, vielleicht infolge einer Wanderung
des Projektiles. Aber sie gingen vorüber und vom 8. Monat ab waren
bis zum Schlüsse meiner Beobachtung (Anfang 1903) nur mehr allgemeine
Beschwerden übrig : subjektive Empfindungen (Herzklopfen), leichte Ermüd-
barkeit und Atemnot mit leichter Cyanose und starker Pulsfrequenz bei An-
strengungen, sowie neurasthenische Erscheinungen. Alles zusammen deutet
30 T. L. von Criegern,
indessen darauf hin, daß das Herz zur Zeit unter ungünstigen Bedingungen
mit erheblicher Anstrengung arbeitet, und diese zwecklose Vermehrung
der Arbeitsleistung, welche in der unaufhörlichen Bewegung der Kugel
besteht, ist als die sekundäre Folge der Verletzung zu betrachten. Es
wird abzuwarten sein, ob schlielSlich ein vorzeitiges Erlahmen der Herz-
kraft eintritt, wie es wohl wahrscheinlich ist. (Wegen weiterer Einzel-
heiten vgl. die Abhandlung von Riethus.)
Schneller als eine theoretische Auseinandersetzung läßt uns die Re-
kapitulation eines solchen Falles die Bedeutung des direkten Traumas für
das Herz erkennen : als primäre Folgen der Gewebszertrümmerung Kollaps
mit Absinken der Temperatur; in anderen Fällen, bei unverschließbarer
Perforation nach dem Herzbeutel, Hämoperikardium oder, bei Reizung
des Endothels, Pulsstörungen u. s. f. Als sekundäre Folge ist die nach-
bleibende zu hohe Anforderung an die Arbeitskraft des Herzens zu
würdigen: sei es, daß eine Klappenzerreißung zur Ventilstörung führt,
sei es, daß ein eingeheilter Fremdkörper, eine schwer dehnbare Narbe
zu ihrer Bewegung für den Haushalt des Körpers zwecklose Arbeit
verlangen, stets ist die Mehrforderung von Arbeit der Kernpunkt Wir
werden sehen, ob die Schädigungen des Herzens durch die oben skizzierte
indirekte Gewalt, zu denen wir nun übergehen, sich gleichfalls in dieses
Schema einfügen lassen.
An die Spitze von ihnen möchte ich den folgenden stellen.
Eine 23-jähr. Schneidersfrau ist schon seit längerer Zeit der medizi-
nischen üniversitätspoliklinik bekannt, da sie an einem gut kompensierten
Mitralfehler (InsufEcienz und Stenose) infolge eines früher überstandenen
Gelenkrheumatismus leidet. In Behandlung hat sie nicht gestanden, sondern
am 27. Sept. 1898 ist sie nur gelegentlich einmal zur Konsultation ge-
kommen und dabei ist denn der Herzfehler aufgefunden worden. (Genauere
Angaben sind im einzelnen nicht notiert worden.) Am 2. Okt 1900 kommt
sie unter Unterstützung ihrer Schwester geführt zur Sprechstunde (den Weg
hat sie im Wagen zurücklegen müssen) mit folgender Angabe : Vor 5 Tagen
habe sie abends auf dem Tische gesessen, als ihr Mann ins Zimmer ge-
kommen sei und überraschend die herabhängenden Füße ergriffen und
ihr „über den Kopf geworfen" habe. Sie sei dabei abgeglitten, auf den
Bücken gefallen und habe sich überschlagen, wobei der Ehemann noch
durch Zusammendrücken des Rumpfes von der Beckengegend her nach-
geholfen habe. Sofort habe sie einen starken Schmerz in der Oberbauch-
gegend empfanden, starke Atemnot bekommen und sei zu schwach gewesen,
sich allein wieder aufzurichten. Das habe sich bis jetzt noch nicht wieder
gegeben, sondern sie sei noch nicht f^hig, ihren Haushalt zu versorgen,
die Atemnot bestehe noch, auch der Schmerz, wiewohl dieser geringer
geworden sei. Aber seither spüre sie starkes Herzklopfen, welches die
ganze linke Brusthälfte erschüttere, und ihre Gesichtsfarbe sei bläulich
geworden.
Der Status ergab eine gracile Frau von mittlerem Ernährungszustände,
Gesichtsfarbe blaß-cyanotisch, besonders die peripheren Teile blau gefUrbt.
(Kleine linksseitige Struma.) Die relative Herzdämpfung begann an der
dritten Bippe, überschritt die linke Mammillarlinie um einen Centimeter,
Ueber Schädigungen des Herzens etc. 31
während sie von der rechten noch um ebensoviel entfernt blieb. Die
ortodiagraphische Untersuchung bestätigte diese Grenzen (13 + 15 cm).
Zugleich fanden sich die diaskopischen Kennzeichen der allgemeinen Er-
weiterung des Herzens: starke Erweiterung beider Vorhöfe, geringere der
Ventrikel. Der 2. Pulmonalton war accentuiert; ein systolisches Geräusch
fand sich an allen Ostien, ein präsystolisches nur an der Spitze. Deut-
licher, wenn auch geringer herzsystolischer, zentrifugaler Venenpuls. Im
ganzen Bereich der Dämpfung ist die Herzaktion sieht- und fühlbar, auch
darüber hinaus wird die Brustwand noch erschüttert, in der Gegend der
Herzspitze ist der Herzstoß hebend. Der Puls in den fühlbaren Arterien
ist klein und frequent (um 100 herum); keine Oedeme! Die Leber war
groß und derb, der Urin hochgestellt, eiweißfrei.
Der Zustand wird aufgefaßt als eine akute Dilatation des Herzens:
dafür kamen in Betracht: die Vergrößerung des Herzens ; der („MARTiussche")
Gegensatz zwischen dem verstärkten Stoß des vergrößerten Herzens und
dem kleinen Puls in den peripheren Arterien, endlich das charakteristische
Röntgenbild. Dementsprechend wurde die Kranke behandelt mit absoluter
Bettruhe, Bedeckung der Herzgegend mit einer Eisblase, und innerlicher
Verabreichung von Digitalis. Es erfolgte Rekonvaleszenz, und am 23. Okt.
1900 findet sich verzeichnet: Herzdämpfung verkleinert, beginnt im 3.
Interstitium, reicht nach links bis zur Mammillarlinie, nach rechts noch
nicht ganz bis zum rechten Thorakalrand (orthodiagraphisch freilich noch
darüber hinaus : 9 : 10 cm). Der 2. Pulmonalton ist accentuiert, nur an
der Spitze besteht noch ein systolisches Geräusch (ein präsystolisches ist
nicht deutlich), Venenpuls besteht nicht mehr, der Puls in der Radialis ist
voll und kräftig, 88. Auf diesem Status bleibt die Patientin nun auch
weiter bestehen, nachdem sie allmählich wieder aufgestanden und ihrem
Berufe nachgegangen ist. (Zuletzt kontrolliert am 16. Nov. 1900.) Die
Röntgenuntersuchung hatte am 2. Okt. die Zeichen der allgemeinen
Dilatation ergaben : Erweiterung des Ventrikelanteiles und beider Vorhöfe,
jetzt zeigte sie im wesentlichen nur die Erweiterung des linken Vorhofes
(das diaskopische Kennzeichen länger bestehender Mitralfehler).
Den nächsten Fall, der diesem in vielen Punkten ähnelt, hatte ich
schon früher beobachtet.
Eine 51 -jähr. Weißnäherin stand in gelegentlicher Behandlung der
Distriktspoliklinik wegen leichten Lungenemphysems (untere Lungengrenze
am 11. Dorsal Wirbel, vorn an der 7. Bippe, überall Vesikulärathmen mit
verlängertem Exspirium) und hysterischen Beschwerden. Diese hatte ihre
Ursache in häuslichem Unfrieden, da der Mann ein starker Trinker und
Herumtreiber war. Am 21. Eebruar 1899 bat sie um ärztlichen Besuch:
am Abend vorher war es wieder zum Streite mit ihrem Mann gekommen,
und dieser hatte ihr ihre Nähmaschine mit einem Beil zerschlagen. Beim
Versuch, ihn daran zu hindern, hatte sie mit ihm gerungen, war aber
überwältigt und an den Schultern zu Boden gedrückt worden, bis ihre
Kräfte nachgelassen hatten. Seither hatte sie Atemnot bereits beim Um-
hergehen im Zimmer, große Mattigkeit, Druck und Beklemmung auf der
Brusi.
Status : Mäßig genährte Frau mit den oben bereits angeführten Zeichen
an Lungenemphysem und geringer Arteriosklerose. Einige Kontusionen
am Körper. Inkarnat bleich, Akrocyanose. Schon bei Bewegung im Zimmer
Dyspnoe. Die Herzdämpfung begann im 3. Literstitium und reichte vom
32 T. L. von Criegern,
rechten Stern alrand bis 1 Finger breit außerhalb der linken Mammillar-
linie. Der Herzstoß war stark verbreitert und es bestand epigastrische
Pulsation. Die Herztöne waren rein. Der Puls war klein und weich,
dabei frequent. Mitunter setzte ein Schlag an der Eadialis aus, dem
dann ein kurzer Ton am Herzen entsprach. Manchmal fiel auch eine
Eeihe kleiner sehr frequenter Pulse ein, die dann meist nicht an der
Peripherie zu fühlen waren. Körperliche Bewegung vermehrte die Irre-
gularität der Herztätigkeit wesentlich.
Der Zustand wurde als eine akute Herzerweiterung aufgefaßt und
mit absoluter Bettruhe, Eisbeutel auf die Herzgegend und Digitalisdarrei-
chung behandelt. Mitte März stand die Kranke — auf eigene Verant-
wortung — auf: damals war die Herzdämpfung verkleinert, nach rechte
überschritt sie noch etwas den linken Sternalrand, nach links reichte sie
nur mehr bis zur Mammillarlinie. Die Herztöne waren rein, der Puls war
von annähernd normaler Frequenz, mittlerer Füllung und setzte noch immer
ab und zu einmal aus. Der Herzstoß war auf umschriebener Stelle im
5. Interstitium links 1 cm breit einwärts der linken Mammillarlinie zu
fühlen, nicht zu sehen, epigastrische Pulsation bestand noch immer. In
der folgenden Zeit besuchte die Kranke die Disti'iktspoliklinik nur höchst
unregelmäßig, noch immer myokarditische Symptome aufweisend.
Am 13. Aug. 1900 kam sie wieder wegen einer stärkeren Störung.
Status: Mäßig genährt. Arteriosklerose stärker. Mäßige Dyspnoe in der
Ruhe, stärkere bei Anstrengungen. Hautfarbe leicht cyanotisch, vielleicht
auch etwas ikterisch. Knöchelödeme. Lungenbefuud wie früher. Herzstoß
sehr verbreitert. Herzdämpfung beginnt im 3. Interstitium, erreicht fast
den rechten Sternalrand und überschreitet die linke Mammillarlinie um
reichlich eine Fingerbreite. Herztöne rein. Puls mäßig gefüllt, altemans,
deliciens und intermittens. Leberrand derb, stumpf, 2 Finger breit unter
dem Hippenbogen. Im Urin findet man jetzt Eiweiß und Cylinder. Die
Kranke bleibt zunächst bis April 1901 in Behandlung der Distriktspoli-
klinik (Herr Dr. Uhlmann): Das Befinden ist wechselnd, die Stauungs-
erscheinungen nehmen ab und wieder zu, am Herzen erfolgt keine wesent-
liche Veränderung.
Nur ganz anhangsweise möchte ich hier anfügen , daß eine 33-
jähr. Schmiedsfrau vom 13. Nov. 1900 bis 12. Jan. 1901 in Behand-
lung der med. Univ.-Poliklinik stand wegen Symptomen, die trotz des
jugendlichen Alters der Eranken sehr ftlr Myocarditis sprachen. (Am
Herzen weder auskultatorisch noch perkussorisch ein besonderer Befund,
aber starke Irregularität der Herztätigkeit.) Dieselbe behauptete, daß ihr
Leiden vor 12 Jahren plötzlich entstanden sei, nachdem sie von ihrem
Manne im Streite mit großer Gewalt 3mal zu Boden gedrückt worden sei.
Damals habe sie einen heftigen Schmerz in der linken Seite empfunden
und wegen großer Schwäche und Atemnot längere Zeit das Bett hüten
müssen'.
Sehen wir ab von diesem letzten Falle als im Anfangsstadium nicht
selbst beobachtet und daher zu wenig sicher, so haben wir 2 Fälle, in
denen sich an eine Gewalteinwirkung eine akute Dilatation des Herzens
anschließt. Dabei ist beide Male die Art der Einwirkung die gleiche:
mit ziemlicher Heftigkeit wird der Rumpf von oben nach unten zu-
sammengedrückt und über seine vordere Fläche gebogen, er erfährt
also eine „Stauchung"^. Dabei besteht kein Zeichen eines direkten
Ueber Schädigaogen des Herzens etc. 33
Tranmas auf die Herzgegend. Anscheinend sind die primären Folgen
desselben die gleichen, nämlich der Eintritt einer akuten Herzdilatation ;
verschieden erweisen sich aber die sekundären Folgen. Im ersten Falle
geht die Herzerweiterung wieder zurtlck; scheinbar ohne dauernden
Schaden tritt der Status quo ante wieder ein ; im zweiten dagegen läßt
sich von jetzt ab der Symptomenkomplex der Myocarditis erkennen.
(Kann man den Angaben des dritten Falles trauen, so hätte man in
diesem die gleiche spätere Folge vor sich wie im zweiten.)
Es entsteht die Frage, ob man die anscheinend primäre Folge wohl
dem Trauma als solchem zutrauen kann. Fernwirkungen eines Traumas
sind in der Lehre von den Verletzungen nichts Ungewöhnliches. In
allen typischen Fällen ist leicht, sich das mechanische Mittel klar zu
machen, welches die Gewalt überträgt, z. B. einen starren Hebel,
eine inkompressible Flüssigkeitsschicht u. a. m. Solche Ueberträger
von Kraft kann man sich auch im Rumpfe konstruieren. So kommen
bekanntlich z. B. nach Fall aus beträchtlicher Höhe durch Fernwirkung
Läsionen (speziell Rupturen) innerer Organe, u. a. auch Rupturen des
Herzens, vor. Auch die traumatischen Schädigungen des Herzens nach
Kompressionen des Brustkorbes werden auf diese Weise erklärt. Trotz-
dem ist es höchst unwahrscheinlich, daß dieser Erklärungsmodus für
unsere Fälle zulässig ist, obwohl auch eine gewisse Kompression des
Brustkorbes offenbar stattgefunden hat. Denn in diesen ist die schein-
bare Primärwirkung des Traumas eine Erweiterung des Herzens, während
es sich in jenen um eine eigentliche Läsion, meist eine Ruptur handelt.
Für eine solche fanden wir aber keinen Anhaltspunkt. Ueberdies sollte
man doch nach einer Kompression eher eine Verkleinerung als eine
Erweiterung des geschädigten Organes erwarten. Weiterhin ist doch
die Art der einwirkenden Gewalt sehr verschieden. Beim Fall aus
grofier Höhe ist die Gewalt viel größer und wirkt viel geschwinder ein,
bei der schweren Kompression des Thorax, z. B. durch Verschüttungen,
ist der Endeffekt viel sicherer, als in unseren Fällen, in denen das
attackierte Individuum gegenarbeiten konnte, und infolge des langsamen
Ansteigens des Druckes auf seinen Höhepunkt die Innenteile auch Zeit
zum Ausweichen gehabt hätten. Es ist also nötig, nach einer anderen
Erklärung für die scheinbare Primärwirkung zu suchen.
Wenn man jemandes Thorax unter den hier angeführten Umständen
zusammendrückt, so findet man stets, daß es bei den Abwehrbewegungen
zu irrationeller Respiration kommt. Und zwar füllt der Betreffende
den Thorax zunächst möglichst mit Luft, um dem Ausgedrücktwerden
entgegenzuarbeiten, und um die Atemnot zu vermindern, da ihm
durch den Druck die gleichmäßige Respiration erschwert ist. Anderer-
seits aber kontrahiert er die Bauchmuskeln krampfhaft, um dem em-
pfindlichen Drucke auf die Vorderfläche des Bauches zu entgehen, er
3flttaO. a. d. OreniffeUeton d. Madlztn a. Chirurgie. 21 U. Bd. 3
34 T. L. von Criegern,
macht also eine Muskelanspannung, die zu einer forcierten Exspiration
gehört, und arbeitet damit eigentlich seiner Aufblähung des Thorax, als
einer forcierten Inspiration entgegen. Wenn nun auch aus äußeren
Gründen unmöglich ist, einen derartigen Versuch, den oben beschriebenen
kasuistischen Bedingungen entsprechend, anzustellen, und ihn dann etwa
im Röntgenbilde zu beobachten, so kann man doch statt dessen sich
mit der Anstellung des VALSALVAschen Versuches begnügen. Man läßt
also jemanden möglichst tief einatmen, dann die Glottis schließen und
die Ausatmungsbewegung in forcierter Weise machen. Statt des Glottis-
schlusses, der vielen Leuten nicht gelingt, kann man auch Mund und
Nase schließen; bei den oben geschilderten Abwehrbewegungen bei
Druck auf den Thorax kommt es bei den meisten Leuten zum Luft-
abschluß durch Hebung des Zungengrundes, unter diesen umständen
sieht man nun bekanntlich auf dem fluoreszierenden Schirme den Vor-
hofsteil des Herzens anschwellen. Dabei kann es bleiben, oder es kann
sich dann auch der Ventrikelteil verändern, indem zunächst die diasto-
lische Vergrößerung des Schattens erheblicher ausfällt, während die
systolische Verkleinerung noch auf genau dasselbe Maß zurückgeht, wie
vorher (Uebergang in den starken Aktionstypus). Das gilt aber nur
für die gesunden Herzen kräftiger Personen. Bei weniger leistungs-
fähigen Herzen kommt es oft nicht zur Ausbildung genügend kräftiger
Systolen, um die vorigen Grenzen wieder zu erreichen. Man beobachtet
dann eine während des ganzen Versuches dauernde Vergrößerung des
Herzschattens, welche aber nach dem Einstellen desselben sofort wieder
verschwindet Man kann dies als eine Vorstufe einer Herzerweiterung
betrachten. Personen mit sehr geschwächten Herzen, z. B. Herzfehler-
kranke im Stadium der Dekompensation, vertragen den Versuch über-
haupt nicht, sondern es kommt zu den bekannten üblen Zufällen, vor-
übergehendem Aussetzen der Herztätigkeit, Ohnmächten u. dgl. Aus
diesem Grunde ist es unmöglich, ihn bei solchen anzustellen ; man muß
beim ersten Anzeichen des Nichtertragens abbrechen. Also können wir
zusammenfassen, daß unser Versuch ein Vorstadium der Herzerweiterung
erzielen kann, daß es aber von der Leistungsfähigkeit des Herzens ab-
hängt, inwieweit er dasselbe erreicht, daß er für ein gesundes Herz
bedeutungslos ist, von einem schwer geschädigten aber überhaupt nicht
ertragen wird. Wir können noch weiter gehen : man beobachtet ferner,
daß es für herzgesunde kräftige Leute recht schwierig ist, den Versuch
erfolgreich anzustellen, und dies gewöhnlich einer gewissen Einübung
bedarf. Dagegen beobachtet man die typischen Erscheinungen oft schon
nach mangelhafter Ausführung bei empfindlichen, kranken Herzen.
Wenden wir vorstehendes auf unsere beiden Fälle an, so finden
wir die Elemente des VALSALVASchen Versuches in den äußeren zu-
fälligen Umständen jedes einzelnen wieder. Forcierte Einatmung und
Ueber Schädigungen des Herzens etc. 35
Anhaltung des Atems, und gegenwirkende exspirationsbefördernde Mo-
mente, Anspannung der Bauchmuskeln, Druck auf den Thorax. Dennoch
haben wir Grund, den Eintritt jenes Vorstadiums der Herzerweiterung
auch bei ihnen anzunehmen. Aber wir sehen sofort, daß es viel voraus-
setzen heißt, wollte man bei diesen ungeregelten Abwehrbewegungen
auf eine saubere Ausführung des Glottisschlusses rechnen, wenn wir
auch oft den gleichwertigen Ersatz durch Hebung des Zungengrundes
haben werden. Indessen ist dieselbe nicht nötig: unter der Voraus-
setzung eines geschwächten Herzens, unter welcher der VALSALVAsche
Versuch überhaupt erst wichtigere Folgen hat, ist auch der unvoll-
ständig ausgeführte zumeist schon wirksam. Auf die Erfüllung dieser
Voraussetzung ist in unseren Fällen zunächst zu achten. Das Bestehen
einer Schädigung des Herzens schon vor dem Unfälle liegt bei der
ersten Frau mit dem allerdings von vorn herein gut kompensierten
Herzfehler klar zu Tage.
Die andere Frau wies vor der Katastrophe keine Zeichen einelr
Herzerkrankung auf. Dagegen war sie anderweitig krank, sie wurde
wegen Arteriosklerose und Emphysem behandelt. Oft genug findet sich
nun bei diesen Krankheiten Myocarditis als dritte im Bunde, auch wenn
auf das Bestehen derselben keine besonderen Symptome hinweisen.
Während der Beobachtung nach der akuten Dilatation des Herzens
fanden sich dann noch Symptome einer chronischen Nephritis, welche
Erkrankung ja auch in die gleiche Gruppe gehört. Also ist jedenfalls
der Verdacht gerechtfertigt, daß das Herz auch schon vor der Ein-
wirkung des Traumas nicht intakt gewesen ist Schwieriger liegt die
Beurteilung in dem anhangsweise noch erwähnten dritten Falle, in dem
die Beobachtung so unvollständig war. Leider ließ sich nicht einmal
aus den schließlich selbst beobachteten Symptomen entscheiden, was
für eine Krankheit nun überhaupt später vorlag. Wenn auch vieles
fOr eine Myocarditis sprach, so konnten doch auch alle Symptome
lediglich nervöser Natur sein. Er hat wegen dieser Unklarheiten aus
der Betrachtung auszuscheiden; nur die Aehnlichkeit seiner Anamnese
mit der Symptomatik des zweiten Falles rechtfertigt, daß er überhaupt
erwähnt wurde. Es ist wohl kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß
gerade solche vieldeutige Symptome gerne auch nach akuten Dilatationen
vorher gesunder Herzen zurückbleiben (vergl. Krehl in Nothnagel,
Bd. 15, 1, p. 235).
Aus dieser Betrachtung ergibt sich, daß es keineswegs angeht, die
erste Folge des indirekten Traumas in unseren Fällen, die Herz-
erweiterung, mit der Primär wirhung der fortgeleiteten Gewalt bei ge-
wissen Kontusionen und Kompressionen des Thorax parallel zu stellen.
Ganz im Gegenteil ! Nicht das Trauma als solches ist wirksam, sondern
die Steigerung des Blutdruckes zunächst im Vorhofanteil des Herzens
3*
36 T. L. von Criegern.
durch die allseitige Kompression der Atmungsluft. Diese ist aber der
Effekt der Gregenarbeit des betreffenden Individuums! Es ist sogar
fast sicher, daß bei völlig widerstandslosem Erdulden der Mißhandlung
es überhaupt zu keiner Schädigung des Herzens gekommen wäre. Und
nun finden wir noch andere Momente wirksam: die ungewohnt ener-
gische Muskelanspannung bei der Gegenwehr, welche den Blutdruck
steigert, und die hochgradige psychische Erregung, im ersten Falle
wohl zum Teil sexueller Natur, zum Teil auch Schreck, im zweiten
lediglich zorniger Affekt, die gleichfalls den Blutdruck steigert, und,,
was noch schlimmer ist, die Warnung vor Ueberanstrengung des Herzens
durch abnorme Sensationen am Herzen übersehen läßt. So müssen
wir unsere Fälle demnach in Parallele stellen zu denen von akuter
Dilatation des Herzens durch Ueberanstrengung. Sie bilden ein Gegen-
stück zu ihnen, in welchem nicht die muskuläre Ueberanstrengung durch
arterielle Blutdrucksteigerung direkt wirkt, sondern die Kompression
der Luft im Thorax durch Behinderung des venösen Abflusses.
Wenn ein solcher Fall zur Begutachtung käme infoge zu erhebender
Entschädigungsansprüche aus einem Versicherungsvertrage, so würde
selbstverständlich gleichwohl dem Antragsteller stattzugeben sein. Es
war, wie ich hier noch bemerken möchte, für den Beobachter sehr an-
genehm, daß es sich niemals um solche Verhältnisse handelte. So
fielen die sattsam bekannten Uebertreibungen des Rentenanspruches
weg, welche gemeinhin die wirklich vorhandenen Beschwerden noch
unter einer Fülle hysterischer Zutaten bis zur Unauffindbarkeit ver-
stecken.
Diese Erweiterung des Herzens durch die allseitige Kompression
der eingeatmeten Luft kennzeichnet der Beginn des Blutdruckanstieges
im Vorhofsanteile und in der rechten Herzhälfte. Sollten sich einmal
Zeichen einer gewissen Lokalisation der Schädigung im Herzen selbst
finden, also vorzugsweises Befallensein eines gewissen Abschnittes an
der Erweiterung, oder Komplikation etwa mit der Läsion einer Klappe,
so würden wir dieselbe dementsprechend am Vorhofsteile resp. an der
rechten Herzhälfte zu erwarten haben. Dagegen wird ein Freibleiben
der linken Herzkammer und der Aorta charakteristisch sein, da man
sich leicht davon überzeugen kann, daß auch im VALSALVAschen Ver-
suche die Tätigkeit der linken Kammer und die Konfiguration der Aorta,
wie u. a. die Kontrolle am fluoreszierenden Schirm erweist, ungestört
bleiben. Würde man nun etwa beobachten, daß nach der Einwirkung
eines Traumas, welches sich dem in unseren vorerwähnten Fällen ver
gleichen läßt, jemand etwa eine Herzerweiterung und eine vorwiegende
Schädigung des linken Herzens oder der Aorta davongetragen hätte,
so wäre das eine Aufforderung, die Erklärung hier von einem anderem
Mechanismus zu fordern, als dem der Kompression der Atmungsluft
lieber Schädigungen des Herzens etc. 37
So konnte z. B. die direkte Fortleitung des Stoßes wesentlich mehr in
Betracht kommen: Wir erinnern uns, daß traumatische Klappenzer-
reißungen ganz besonders häufig das Ostium arteriosum sinistrum be-
treffen. Auch Zerreißungen und Dehnungen der Gefäßwand der Aorta
selbst sind gar nicht so selten traumatischen Ursprunges. Ganz be-
sonders aber werden wir dem Einflüsse einer etwa gleichzeitigen Muskel-
anstrengung nachgehen müssen; denn seit den Arbeiten Thomas und
seiner Schüler ist die Exponierung der Aorta thoracica gegen allgemeine
Erhöhung des Blutdruckes und die Bedeutung dieses Umstandes für
die Pathologie derselben vielfach gewürdigt. Daß aber eine solche
Ueberlegung sehr wohl gegebenen Falles praktisches Interesse haben
kann, mag der Auszug einer Krankengeschichte zeigen, den ich hier
folgen lasse.
Ein 29-jähr. Bahnarbeiter versuchte am 10. März 1902 einen bela-
denen Güterwagen beim Rangieren mittels eines schweren Brecheisens auf-
zuhalten. Das ist eigentlich nicht die Aufgabe eines einzelnen Mannes,
aber unser Fat. traute sich das zu, und er sah, wie er selbst schildert,
das Eisen fest in der Faust, den Atem angehalten, alle Muskeln ge-
spannt, dem Anpralle des Wagens entgegen. Indessen hatte der Wagen
zu viel Fahrt, und trotz der Aufbietung seiner letzten Kräfte wurde dem
Arbeiter das Brecheisen aus den Händen gerissen. Er bekam dabei einen
heftigen Ruck durch den ganzen Körper, es wurden ihm Arme und Schultern
nach abwärts gezogen und der Rumpf energisch über die Vorderfläche
gebeugt. Vollständig zu Falle kam er nicht, wohl aber in gebückte
Haltung, die Knie eingeknickt, die Hände den Boden berührend, aus der
er sich nur mühsam und mit Unterstützung wieder aufrichten konnte,
denn „es versetzte ihm den Atem", er bekam Hustenreiz und das Gefühl,
als ob etwas hinter dem Brustbein nach oben dränge, dazu Herzklopfen
und tiefsitzenden Schmerz hinter dem Brustbein. Er hielt sieh zunächst
nach dem Unfälle 10 Tage lang ruhig zu Hause, ohne einen Arzt zuzu-
ziehen, versuchte dann die Arbeit wieder aufzunehmen, konnte das aber
nicht durchführen, da er durch Herzklopfen, tiefsitzenden Schmerz und
das Gefühl, als ob etwas hinter dem Sternum nach oben drängte, an jeder
Anstrengung gehindert wurde. Am 25. März suchte er deshalb einen
Arzt auf, der ihn mit der Diagnose einer Herzerweiterung an die Poli-
klinik verwies. Es fand sich ein kräftig gebauter Mann von gutem Er-
nährungszustande, an dessen peripheren Arterien Erweiterung und Schlän-
gelung auffielen. Der Puls war frequent, ca. 120 in der Ruhe, stieg aber
schon nach leichten Anstrengungen bis gegen 160, trotz guter Füllung
der Arterien nicht groß. Der Herzstoß war verbreitert, reichte noch etwas
außerhalb der linken Mamillarlinie. Die Größe des Herzens (Röntgen-
untersuchung) war normal, die Aktion schwach, die Töne rein. Der Aorten-
bogen war normal konfiguriert, aber breiter als normal. Sonst nichts Auf-
fallendes. Im Verlaufe der Behandlung, die sich bis zum Frühjahre 1903
erstreckte, bekam der zweite Ton an der Aorta allmählich klingenden
Charakter, dazu kam eine geringe Dämpfung rechts oben neben dem
Sternum und die Verbreiterung des Aorten Schattens im Röntgenbilde blieb
die alte. Die Neigung zu erhöhter Pulsfrequenz, besonders bei Anstren-
38 T. L. von Criegern,
gangen, blieb bestehen nnd mitunter trat Irregalarität des Pulses auf.
Es hatte sich also schließlich eine deutliche Sklerose des Aortenbogens
ausgebildet.
Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Fall für den ersten Anblick
viele Berührungspunkte mit denen unseres Themas aufweist. Die cha-
rakteristische Knickung des Rumpfes über seine Vorderfläche ist vor-
handen; sie erfolgte zwar nicht durch Druck, sondern durch Zug, in-
dessen kann dies in mechanischer Hinsicht wohl einerlei sein. Das
Anhalten des Atems gab dieser Kranke sogar noch spontan an. Auch
die komplizierende körperliche Anstrengung war vorhanden: aber sie
beherrschte doch ungleich mehr die anderen Momente, als in den erst-
besprochenen Fällen. Wenn auch der Kranke ein sehr muskelkräftiger
Mann und als solcher bekannt war, so muß doch sogar für einen solchen
eine außergewöhnliche Anstrengung vorgelegen haben. Denn es handelt
sich bei dem Aufhalten des Wagens durch einen einzelnen Mann um
ein Bravourstück, und der Ausgang erwies, daß er seine Kräfte über-
schätzt hatte. Leider fehlt die genaue ärztliche Beobachtung aus der
Zeit unmittelbar nach dem Unfälle. Es ist wohl möglich, daß eine
akute Herzerweiterung bestanden hat; jedenfalls lag eine solche am
25. März nicht mehr vor. Der Verdacht, der von anderer Seite aus-
gesprochen wurde, hat sich wohl auf die täuschende Verbreiterung des
Herzstoßes bezogen. Dagegen fand sich noch eine Erweiterung des
Aortenbogens : und die subjektiven Empfindungen unmittelbar nach der
Katastrophe, welche der Kranke angab, lassen darauf schließen, daß sie
bei dieser Gelegenheit entstanden ist. So kann dieselbe, und das halte
ich für das Wahrscheinlichere, die einzige Folge gewesen sein. Offenbar
wird bei einer solchen Druckwirkung der schwächere Teil zuerst nach-
geben: die Aorta, wenn Arteriosklerose besteht, das Herz, wenn die
Aorta aushält und das Herz geschwächt ist. Nun fanden sich aber
Zeichen peripherer Arteriosklerose schon bei der ersten Untersuchung
am 25. März, die doch gewiß nicht erst nach dem Unfälle entstanden
war, also widerspricht dies unserer Meinung nicht. Die im späteren
Verlaufe beobachtete Zunahme der Symptome der Erkrankung des
Aortenbogens könnte durchaus im Sinne der Lehren der TnoMAschen
Schule über die Lokalisation der arteriosklerotischen Prozesse gedacht
werden.
Alles in allem zusammengefaßt, kann ich den letzten Fall also nicht
als ein Beispiel unseres Themas, sondern als ein solches für die Schä-
digung des Herzens, oder richtiger der Aorta, durch üeberanstrengung
ansehen. Trotzdem schien mir seine kurze Mitteilung hier zweckmäßig,
da er zeigt, wie nahe die beiden Vorgänge nebeneinanderliegen können.
Wenn man sich nun auch von einem Zusammenhange einer Schädigung
des arteriellen Teiles des linken Herzens durch die Kompression der
lieber Schädigucgen des Herzens etc. 39
Atmungsluft zunächst keine Rechenschaft geben kann, so kann man
doch daraufhin in der Medizin niemals die Unmöglichkeit behaupten.
Jedenfalls wäre die Mitteilung eines beweiskräftigen Falles dieser Art
eines großen Interesses gewiß, und nicht weniger die Aufklärung des
Zusammenhanges.
Die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Fälle entstammen dem
Materiale der medizinischen Universitätspoliklinik in Leipzig; ich
spreche auch an dieser Stelle dem hochverehrten Leiter derselben,
Herrn 6eh.-Rat Prof. Dr. F. A. Hoffmann, meinen verbindlichsten
Dank aus fOr die Ueberlassung derselben und die Nachprüfung der
Befunde.
Aus der medizinischen Universitätsklinik in Jena.
Direktor: Geh. Med.-Rat. R. Stintzing.
Nachdruck verboten.
IV.
Ein Fall von Kopftetanus (E. Rose).
Von
Privatdozent Dr. J. Gkrober,
Assistent der Klinik.
(Hierzu 1 Abbildung im Texte.)
Beim experimentell erzeugten Tetanus am Tiere ist es die
Regel, daß an derjenigen Körpergegend, an der die TetanusbazUlen in
das Gewebe eingeführt worden sind, die Erscheinungen des Starrkrampfes
zuerst auftreten. Erfolgte z. B. die Infektion an einer Hinterextremität,
so werden an dieser die ersten Muskelkrämpfe beobachtet. H. Meter
hat auf Grund seiner Untersuchungen angenommen, daß das Tetanus-
toxin in der Nervensubstanz selbst, nicht auf dem Wege der Blut- oder
Lymphbahnen, im Körper zentralwärts wandert und sich weiter aus-
breitet, vor allem das Gehirn und das Rückenmark selbst erreicht.
Bei dem mittelst natürlicher Infektion entstandenen Wund-
starrkrämpfe des Menschen ist der Verlauf ein anderer. Auch hier
wandert das Gift in den Nerven zu den motorischen Ganglienzellen.
Aber einerlei, wo die Eintrittspforte der Bazillen gelegen ist, aller-
meistens tritt zuerst, soweit wir klinisch beobachten können, der Krampf
der Masseteren auf, dem dann Schluckbeschwerden, Risus sardonicus,
und, je nach dem Verlauf verschieden, sich langsamer oder schneller
die bekannten anderen Erscheinungen der Muskelstarre und Krampf-
anfälle anschließen. Auch wenn z. B. die Infektion am Beine erfolgte,
so tritt nicht, wie im Experimente, hier der erste Krampfanfall auf,
sondern die Krankheit nimmt regelmäßig den geschilderten ganz anders-
artigen Verlauf. Wie der motorische Ast des N. trigeminus, der die
Masseteren versorgt, dazu kommt, der erste Nerv zu sein, der von dem
Gifte befallen oder doch beeinflußt wird, ist noch nicht bekannt, und
keine seiner anatomischen und physiologischen Eigenschaften dürfte
geeignet sein, einen Anhaltepunkt dafür zu geben.
Wir wissen nicht, ob bei künstlicher Infektion am Menschen eine
J. Grober, Ein Fall von Kopftetanus (E. Rose). 41
dem Tierversuche gleichende Entwickelung der Änfangsphänomene beob-
achtet wird. Die wenigen traurigen Fälle von Laboratoriumsinfektionen
sind nicht beschrieben worden.
Nur eine Ausnahme von der Regel gibt es; wir kennen eine Art
von Tetanusfällen am Menschen, bei der zuerst Nerven im Gebiete der
lokalen Eingangspforte die Erscheinungen der Starrkrämpfe zeigen, und,
freilich sich häufig ihnen bei der raschen Ausbreitung des Prozesses
superponierend, erst dann die anderen Neryengebiete ergriffen werden.
Das ist der sogenannte Eopftetanus, der zuerst von E. Rose eingehend
beschrieben wurde, ein verhältnismäßig seltenes Leiden, von dem bisher
überhaupt erst gegen 8U Fälle bekannt geworden sind, von denen etwa
20 geheilt wurden.
Der Kopftetanus entsteht, soweit wir wissen, nur nach Verletzungen
im Gesichte und am Kopfe, die mit Tetanuskeimen infiziert wurden. In
der RosEschen Zusammenstellung betreffen die meisten der Verletzungen
die Stirn, die Augengegend, die Nase und Wangen, aber auch kariöse
Zähne, Kieferfrakturen und Wunden am Schädeldache werden als Ein-
gangspforten bei dieser Abart des Wundstarrkrampfes angeführt. Das
Ursprungsgebiet beschränkt sich also nicht etwa auf die Ausbreitungs-
zone eines bestimmten Nerven, wie man früher vielfach annahm. Nach
einer meist verhältnismäßig langen Inkubation — länger als bei anderen
Tetanusfällen — treten die ersten Erscheinungen an den Schlundmuskeln
auf, die in wirkliche Schlingkrämpfe verfallen ; dann erst folgen, durch-
aus, zunächst wenigstens, in den Hintergrund tretend, Starre der
Masseteren und der Muskeln des oberen Teiles des Rumpfes, der Arme,
des Bauches und Rückens, und schließlich der Beine. Wegen der sehr
häufig ganz im Vordergrunde aller klinischen Erscheinungen stehenden
Schlingkrämpfe sind in früherer Zeit Verwechselungen mit der Wut
häufig vorgekommen und von E. Rose in zahlreichen Fällen aufgedeckt
worden. Nach ihnen nannte er die von ihm zuerst beschriebene Er-
krankung Tetanus hydrophobicus, später hydrophobicoides, um immer
noch vorkommende Verwechselungen zu verhüten.
Abgesehen von der großen Heftigkeit der Schlingkrämpfe kann das
vollendete Krankheitsbild durchaus einem anderen traumatischen Tetanus
entsprechen *) ; in den meisten Fällen unterscheidet sich aber der Kopf-
1) Nur ein Fall, von Adrian publiziert, bietet ähnliche Verhältnisse
einer lokalen Wirkung des Tetanustoxins. Es handelte sich um einen
sogenannten idiopathischen Tetanus, bei dem, ohne daß es möglich war,
eine Wunde als Eingangspforte nachzuweisen , bestimmte regionär zu-
sammengehörige Muskelgruppen von der tetanischen Starre befallen waren.
Einen weiteren außergewöhnlichen Fall hat Prbobrashbnski beschrieben.
Xach einer Verletzung am unteren linken Augenlid stellte sich neben den
anderen Erscheinangen des Tetanus auch ein Krampf im Gebiete beider
Xn. faciales ein. Die Autopsie ergab keinen Anhaltepunkt dafür, daß Pr.
diesen Fall als Tetanus bulbaris bezeichnen darf.
42 J. Grober,
tetanus insofern wesentlich von den anderen Fällen von Tetanus trau-
maticus, als bei den letzteren nur in außerordentlich spärlicher Zahl —
wenn man von den Endstadien des Krankheitsverlaufes absieht — Läh-
mungserscheinungen auftreten^), die Reizungssymptome dagegen das
ganze Bild beherrschen, wogegen bei ersterem aber gerade die Lähmung
eines Nerven, des Facialis der verletzten Seite, freilich keine für den
Verlauf wesentliche, aber stark in die Augen fallende Erscheinung dar-
stellt, welche dem Kopftetanus seinen heute gebräuchlichsten Namen
Tetanus facialis gegeben hat
Aus dem Tierexperimente wissen wir (A. Knorr), daß der Tetanus-
bazillus sowohl ein die Erregbarkeit der motorischen Ganglienzellen
steigerndes und ein dieselbe abschwächendes Toxin, ein Krampf- und
ein Lähmunsgift produziert; das letztere kommt aber bei dem Wund-
starrkrämpfe des Menschen mit natürlicher Infektion für gewöhnlich
nicht oder erst als Causa mortis (Zwerchfellslähmung) zur Geltung. Es
müssen besondere Ursachen vorhanden sein, die die frühere Manifestation
desselben beim Kopftetanus bedingen und sie gerade in einem der In-
fektionsstelle stets nahe gelegenen Nerven auftreten lassen.
Wir beobachteten folgenden Fall von Kopftetanus:
Ein 46-jähr. Gerbereiarbeiter L. V. aus N. wurde mit „Krämpfen"
in die Klinik gebracht. Aus der Anamnese war von Wichtigkeit, daß er
aus gesimder Familie stamme, verheiratet sei und mehrere ebenfalls gesunde
Kinder habe. Er selbst gab an, auÜer den Kinderkrankheiten und einer
Lungen- und Rippenfellentzündung von seinem 17. — 44. Jahre an epi-
leptischen Krämpfen gelitten zu haben, die seit 2 Jahren ausgesetzt,
nun aber wieder begonnen hätten. Das Bewußtsein habe er
dabei nie ganz verloren, habe sich aber setzen müssen um nicht zu fallen,
es sei ihm schwindelig geworden und es habe ihn „geschüttelt^^, die Krämpfe
seien früher in den Armen und Beinen zu bemerken gewesen; jetzt „säßen
sie im Hals.^ Potus und spezifische Infektion werden negiert
Seine weiteren Klagen, daß er schlecht schlucken und den Mund
nicht ordentlich aufmachen könne, lenkte unsere Aufmerksamkeit sofort
auf diese Symptome des Tetanus traumaticus.* Auf Befragen gab er an,
daß er am 31. Dez. 1902 abends vor seiner Haustür habe fegen wollen,
dabei sei er ausgeglitten und mit der linken Stirnseite auf eine Kante
des Schwellensteines gefallen, an der sich nach seiner Angabe keine
Erde befunden hat. Eine kleine, gegen 2 cm lange Rißwunde, die geblutet
habe, sei entstanden ; er habe sie mit frischem Wasser ausgewaschen und
sofort mit Heftpflaster zugeklebt. Die Wunde hat etwas geeitert, sie
heilte langsam, einen Arzt hatte er aber deswegen nicht zugezogen. Am
16. Jan. früh konnte er die Kiefer beim Essen schlecht bewegen, am
17. Jan mußte er sich das Brot mit dem Finger in den Mund schieben,
am 18. Jan. konnte er feste Bissen überhaupt nicht mehr einführen und
sie auch nicht mehr schlucken. Seitdem hat er anfallsweise Krämpfe an-
1) Die vielfach behaupteten Augenmuskellähmungen hat E. Rose auf
ihren wirklichen Wert zurückgeführt.
Ein Fall von Kopftetanas (E. Boss). 43
geblich im ganzen Körper, die er aber auf genaueres Befragen in den
Kinnbacken, im Schlund, im Rücken und auf der Brust lokalisiert. Arme
und Beine könne er frei bewegen. Er glaubt, seine Krankheit entspreche
einem neuen Auftreten der früheren epileptischen Krämpfe, ebenso seine
Umgebung. Am 19. Jan. abends wurde er in die Klinik gebracht.
Die Untersuchung des ziemlich großen und kräftigen Mannes ergab
zunächst, daß die inneren Organe gesund waren.
Auf der linken Stirnseite befand sich eine kleine, halbgeschlossene,
teilweise mit Borken bedeckte, teilweise in Vemarbung begriffene Wunde.
Unter der Borke befand sich nur wenig Eiter, der keine Tetanusbazillen,
nur einige spärliche Staphylokokken enthielt. Mäuse, damit subkutan in-
fiziert, zeigten weder Erscheinungen von Tetanus noch von Sepsis. Auch
die Granulationen am Orunde der Bißwunde waren irei von Tetanus-
bazillen. Die Wunde wurde stark antiseptisch behandelt und ebenso
verbunden.
An der Haut des ganzen Körpers fand beständig eine sehr lebhafte
Schweißsekretion statt, so daß die Plüssigkeitstropfen auf der Haut hingen
und die Bettwäsche durchnäßten; darüber hatte der Kranke auch schon
zu Hause geklagt.
Die Seusibilität war vollkommen normal ^), die Reflexe nicht gesteigert,
nur bezüglich der Motilität fanden sich Abweichungen von der Norm.
Von den Muskeln des Körpers waren nur die Bauchmuskeln beiderseits
nicht ganz zu entspannen und der linke M. pectoralis war leicht kontra-
hiert, fühlte sich fest an, härter wie der rechte, und konnte nur weniger
wie dieser bewegt werden. Die Brustmuskeln, die Arm- und Beinmus-
kulatur, die äußeren Nacken- und Halsmuskeln waren alle weich, dabei
frei und leicht beweglich, ebenso die des Rückens, wenigstens bei der
Untersuchung am ersten Tage seines klinischen Aufenthaltes. Er lag im
Bette mit der ganzen Länge des Rückens bequem auf. Die Masseteren
aber waren fest kontrahiert, fehlten sich bretthart an und ließen den
Kiefern nur so geringen Spielraum, daß die Zahnreihen höchstens Vs ^^
voneinander entfernt werden konnten. Die Muskelwülste an beiden Seiten
des Mundes waren so fest, daß man darauf den tympanitischen Ton der
Mundhöhle perkutieren konnte.
Schluckversuche mit Flüssigkeiten zeigten, daß es dem Kranken schwer
wurde, diese in und durch die Speiseröhre zu bringen, festere Bissen von
breiiger Konsistenz brachte er mit erheblichen Beschwerden, feste Brocken
überhaupt nicht herunter. Auch diese Erscheinungen sollten an Intensität
in den letzten Tagen erheblich gewechselt haben. Jeder Schluckversuch
mit festen Speisen rief einen an den Bewegungen der äußeren Halsmuskeln
und an dem Hinauftreten von Zungenbein und Kehlkopf leicht erkenn-
baren, einige Minuten andauernden Schlingkrampf hervor, bei dem die
Atmung nicht beeinflußt wurde. Bei flüssigerer Kost traten manchmal
Anfalle von ähnlicher Art, aber geringerer Stärke, auf.
Bei der Untersuchung der Masseterenkontraktion und bei den Sprech-
bewegungen der Lippen war eine leichte, maskenartige Ruhe der linken
Oesichtshälfte auch trotz des bestehenden Risus sardonicus auf-
1) Wir haben auf die von E. Rosb hervorgehobene Anästhesie im
Gebiete der beiden sensiblen Aeste des Quintus geachtet, sie aber nicht
gefunden.
44 J. Grober,
gefallen. Die nähere Prüfung ergab, daß eine deutliche Parese des linken
Facialis vorhanden war, von der der Kranke nichts wußte. Stirnkrausen
konnte links nicht so gut ausgeführt werden wie rechts, ebenso war der
Augenschluß links mangelhafter. Beim Nasenrümpfen blieb die
linke Gesichtshälfte fast ganz glatt, rechts zeigte sich die gewöhnliche
Falte. Der Mund stand etwas schief, und zwar hing der linke Mund-
winkel leicht herab. Auch beim Zähnefletschen zeigte sich eine
kleine, aber deutliche Differenz zu Ungunsten der linken Seite; deutlicher
wurde die Parese, wenn dem Kranken aufgegeben wurde, den Mund nach
einer Seite zu verziehen, zu pfeifen oder zu lachen. Einen Einblick in
die Mundhöhle zu gewinnen, um die Bewegungen anderer Muskeln zu
beobachten, gelang uns wegen des bestehenden Trismus nicht. Der Kranke
konnte uns ebensowenig wie seine Angehörigen sagen, wann die Lähmung
des linken Facialis eingetreten sei, da sie sie nicht bemerkt hatten.
Die elektrische Untersuchung ergab auf der rechten und
linken Seite am Facialis keine Abweichung von der Norm.
Die Nacht — der Kranke war am Abend in die Klinik gekommen —
verbrachte er leidlich. Am nächsten Morgen früh wurde ihm auf der
linken Seite unter die Brusthaut 100 A.-E. des BEHRiNGschen Tetanus-
serums eingespritzt. Dasselbe war aus dem Trockenserum, das wir jeder-
zeit vorrätig halten, steril hergestellt worden. An diesem Morgen wurde
an ihm bei der klinischen Vorstellung genau der gleiche Befund auf-
genommen, wie am vorhergehenden Abend, auch im Laufe des Tages
änderte sich sein Befinden weder subjektiv noch objektiv.
Am 21. Jan., dem folgenden Tage, fand sich eine neue Erscheinung:
der rechte Muse, pectoralis war fest angespannt, ebenso hatte die Starre
der Bauchmuskeln, insbesondere des M. rectus abdominis zugenommen.
Auch an diesem Tage wurden, diesmal auf die rechte Seite, wieder 100 A.-E.
injiziert. Da bei dem Verbandwechsel die Wunde nur wenig fortschrei-
tende Granulationen zeigte, und außerdem in einer Ecke derselben sich
Eiter angesammelt hatte, der durch einen schwer zu sondierenden feinen
Kanal aus der Tiefe kam, schlugen wir dem Kranken die Excision der
Wunde vor. Wir wurden dabei von der Ueberlegung geleitet, daß bei
der langsamen Ausbreitung des Prozesses bisher nur wenig Tetanusgift
zur Abgabe und Bindung an das Nervensystem gelangt zu sein schien,
daß eine weitere Produktion desselben seitens versteckt liegender Bazillen
aber durchaus wahrscheinlich und gefährlich sei. Der Kranke, dem der
Ernst seiner Lage woh*l zum Bewußtsein gekommen war, ging auf unseren
Vorschlag ein. Herr Privatdozent Dr. GBOHfi von der chirurgischen Klinik
hatte die Liebenswürdigkeit, die Operation sofort in ScHLKicnscher lokaler
Narkose auszuführen; ihm verdanken wir auch die Mitteilung, daß in dem
gehärteten und geschnittenen excidierten Gewebestück sich nirgends Tetanus-
bazillen fanden.
Noch am Abend dieses Tages bekam der Kranke plötzlich einen hef-
tigen Krampfanfall. Die Kontraktion aller bisher ergriifenen Muskeln
nahm währenddessen erheblich zu; neu beteiligten sich auch die Muskeln
des Rückens an dem Vorgange, so daß ein deutlicher Opisthotonus zu
Stande kam. Die Kiefer konnten während dieses beinahe ^/g Stunde dau-
ernden Anfalles kaum um 1 — 2 mm geöffnet werden. Die Haut war durch
heftigen Schweißausbruch stark benetzt. Die Schlingkrämpfe traten stärker
auf, auch schon beim Schlucken von Flüssigkeiten. Die Muskeln des
Ein Fall von Kopftetanas (EX Rose),
45
Kopfes, außer den Masseteren, die der Arme und der Beine waren frei,
auch die Zwerchfellsatmung ging ohne Störung von Statten. Eine Ver-
schlimmerung der Symptome der linken Facialislähmung konnte während
des Anfalles nicht beobachtet werden. Die elektrische Untersuchung ergab,
wie vorher, auch jetzt beiderseits normale Verhältnisse. Der Kranke erhielt
'Ruhe durch Morphin und Chloralhydrat.
Am 22. Jan. erreichten die Symptome des Wundstarrkrampfes ihren
Höhepunkt, die Krampfanfälle wiederholten sich etwa alle Stunden, dauerten
jedesmal Y^ Stunde, so daß es notwendig wurde, dem Kranken öfter
Morphin zu geben. Die Anfälle unterschieden sich in ihren Eigenschaften
nicht von dem des vorigen Tages, nur waren jetzt auch alle Bauch-
muskeln bretthart gespannt, nicht minder die gesamte Hücli;enmuskulatur
und ebenso schien es, als ob neben den großen Muskeln, die vom Schulter-
und Beckengürtel zu den entsprechenden Gliedern führten, auch die am
zentralsten gelegenen Muskeln des Oberarmes und Oberschenkels an der
Kontraktur beteiligt wären. In den Anfällen war die Atmung erheblich
erschwert, anscheinend beteiligten sich auch die Zwischenrippenmuskeln
und das Zwerchfell teilweise an dem Starrkrämpfe und die auxiliären
Atemmuskeln wurden mit in Anspruch genommen. Die Bauchpresse funk-
tionierte mangelhaft, so daß für Stuhl- und Blasenentleerung gesorgt werden
mnßte.
An diesem Tage wurde die beigefügte Photographie aufgenommen;
dabei war dem Kranken aufgegeben worden, die Augen mit aller Kraft
46 X Grober,
zu schließen. Die Abbildung zeigt deutlich, daß nur die rechte Seite an
der aufgegebenen mimischen Bewegung teilnimmt. Alle Falten an der
Nasenwurzel gehen von rechts unten nach links oben; die kleinen Falten
am geschlossenen Lid fehlen links ; die Nasolabialfalte ist. links verstrichen
und der untere Teil der Nase durch die Kontraktion der rechtsseitigen
Muskeln nach dieser Seite hinübergezogen. Das linke obere Augenlid
erscheint infolge der Lymphstauung durch Operation und Verband etwas
geschwollen.
Am 23. Jan. war der Zustand der gleiche, nur glaubten wir fest-
stellen zu können, daß der rechte M. pectoralis erheblich weicher als am
vorhergehenden Tage anzufühlen war. Die elektrische Untersuchung ergab
wieder normale Verhältnisse auf beiden Seiten. Die Ej-ampfan&lle traten
nicht ganz so häufig, aber mit der gleichen Stärke auf, wie am vorigen
Tage. Die Nahrung bestand nur aus flüssigen und breiigen Stoffen, die
der Kranke durch eine günstig gelegene Zahnlücke aufnehmen konnte.
Festere Speisen lösten sofort einen Schlingkrampf auß, der meist in einen
Krampfanfall des ganzen Körpers überging. Auch bei der Au&ahme von
Flüssigkeiten geschah dies einige Male. Während der großen Krampf-
anfälle konnte er überhaupt nichts zu sich nehmen, es schien sogar, als
wenn einige Male der Anblick von Speise und Getränk genügte, einen
Elrampf der Schlundmuskulatur hervorzurufen. Auf die Gefahr des Ver-
schluckens aufmerksam gemacht, bemühte der Kranke sich, dies zu ver-
meiden, wie er überhaupt durch sein verständnisvolles Entgegenkommen
die Behandlung und die Krankenpflege sehr erleichterte.
Die Temperatur hatte während der vorigen Tage nur einmal nach
der Operation im Rektum die Höhe von 38,3 ^ en*eicht ; sie war und blieb
sonst stets normal.
In den nächsten Tagen wurden die Starrkrämpfe allmählich seltener
und schwächer, sie dauerten nicht mehr so lange und waren nicht mehr
von so heftigen Schweißen begleitet wie vorher. Die Kontrakturen der
einzelnen Muskeln lösten sich gleichfalls in den folgenden Tagen, und
zwar wurden zuerst die Atembewegungen wieder &ei; es folgten die Muskeln
der Oberarme und Oberschenkel, sodann die des Rückens und des Bauches.
Am längsten blieben die Kontrakturen bestehen im linken M. pectoralis
und in den beiden Masseteren. Hier konnten wir beobachten, wie von
Tag zu Tag die Entfernung der beiden Zahnreihen bei Oeifnung des
Mundes zunahm, jedoch so, daß dieser Zustand im Laufe eines Tages sich
manchmal erheblich veränderte; er gab an, er könne Flüssigkeit ganz
gut aus dem Becher trinken, ein anderes Mal gelänge es ihm nur mit
dem Strohhaljae, den er während des Höhestadiums der Erkrankung zu
benutzen gelernt hatte. Die Wülste der Kiefermuskeln waren als harte
Masse noch in den ersten Tagen des Februar (3. Febr.) deutlich wahrzu-
nehmen. So lange dauerte es auch, bis die Speisenaufnahme wieder voll-
ständig normal geworden war, d. h. bis er im stände war, auch wieder
feste Speisen zu genießen, ohne daß dadurch Krämpfe der Schlundmus-
kulatur hervorgerufen wurden. Ebenso wurden die letzten Krampfanfälle,
die zum Schluß meist mehrere Male in der Nacht auftraten und etwa
^/j Stunde dauerten, um diese Zeit beobachtet. Dieselben betrafen be-
sonders die Nackenmuskulatnr und die Masseteren, einzeln auch die Rücken-
muskeln. Die noch ein wenig kontrahierten und starr gebliebenen Muskeln
wurden allmählich weicher und konnten gut innerviert werden.
Ein Fall von Kopftetanus (E. Rose). 47
Die Heilung der Excisionswunde auf der linken Stirnseite machte
sehr gute Fortschritte, so daß am 10. Febr. eine Transplantation vom
linken Oberschenkel auf den Defekt — gleichfalls von Herrn Dr. Orohä —
vorgenommen werden konnte, die ein kosmetisch nach Lage der umstände
vortreffliches Brcsultat lieferte. Ein leichtes Oedem des linken Oberlids
blieb noch einige Zeit bestehen, verschwand dann aber.
Nicht ganz so glatt wie die Genesung von den Symptomen des Tetanus
ging die Besserung der Facialislähmung vor sich. Wie wir bereits gesehen
haben, ergaben die ersten Prüfungen der elektrischen Erregbarkeit normale
Werte ftlr beide Seiten bezüglich des Nervus facialis und der von ihm
versorgten Muskeln. In der Folge wurden die wiederholten Untersuchungen
etwas durch den Verband erschwert. Am 25. Jan. konnte zum ersten
Male und von da ab beständig eine geringe Herabsetzung der galvanischen
und faradischen Erregbarkeit vom Nerven her auf der linken Seite fest-
gestellt werden; eine Stromstärke, die rechts deutliche Zuckungen hervorrief,
bewirkte dies links noch nicht. Die vom N. facialis versorgten Muskeln
verhielten sich insofern verschieden, als die elektrische Prüfung für die-
jenigen der linken Seite eine geringe Herabsetzung, keine Erhöhung der
Erregbarkeit für beide Stromarten ergab; nur im oberen Teile wurde bei
direkter galvanischer Reizung der Muskeln wenige Male eine Erhöhung
des Wertes der AnSZ gegenüber der £aSZ beobachtet; träge Zuckungen
traten nicht auf und auch eine erhöhte Erregbarkeit der Muskeln für me-
chanische Reize konnte nicht festgestellt werden.
Der sonst bei Facialislähmungen fast regelmäßig beobachtete Lagoph-
thalmus konnte in unserem Falle nur in geringem Grade beobachtet werden
(vgL die Abbildung)^ wenn er nicht durch das Lidödem vorgetäuscht wurde.
Epiphora war nicht vorhanden.
Störungen seitens des Gehörs sowohl betreffs des N. acusticus wie
des N. tensoris tympani fehlten.
Ebenso blieb der Kranke verschont von den bei schwereren Facialis-
lähmungen von Hitzig zuerst beobachteten unangenehmen Symptomen er-
höhter Reflezerregbarkeit ; Kontrakturen, Zuckungen und Mitbewegungen
traten nicht ein. Die gewöhnlichen Reflexbewegungen seitens des Facialis
blieben, wie sich von selbst versteht, auf der linken Seite im Anfange aus,
traten jedoch im Verlaufe der Besserung allmählich wieder auf.
Des Trismus wegen waren wir längere Zeit hindurch nicht in der
Lage, die Prüfung derjenigen Symptome vorzunehmen, die, wegen der
Abgabe von kleinen Aesten des Facialis an andere Nerven und Organe,
eine Diagnose des Sitzes der Lähmung ermöglichen. Sobald es möglich
war, mit künstlicher Beleuchtung das Innnre der Mundhöhle dem Auge
zugänglich zu machen, stellten wir fest, daß das Gaumensegel auf beiden
Seiten gleichmäßig innerviert wurde, daß sowohl der Tastsinn der Zunge
wie die Geschmacksempfindung in keiner Weise gestört Waren, und daß
keine einseitige Speichel Verminderung vorhanden war. Dieses letztere
Symptom, das der Kranke selbst hätte beobachten können, wurde von
ihm auch während der schweren Tetanuserscheinungen nicht bemerkt.
Bezüglich des Sitzes der Facialisläsion läßt sich aus den vorher-
gehenden Beobachtungen schließen, daß derselbe unterhalb des Foramen
stylo-mastoideum gelegen sein müsse. Gegen eine cerebrale oder supra-
nnkleäre Lähmung sprach einmal die elektrische Untersuchung, dann
48 J. Grober,
aber auch die Erfahrungstatsache, daß bei cerebralen Facialislähmungen
der Stirnteil meist nicht mitergriflFen ist. Und das war hier gerade
in stärkerem Maße der Fall. Allerdings darf nicht vergessen werden,
daß sowohl durch die ursprüngliche Rißwunde wie durch die später
folgende Excision ein Teil der Stimfacialisfasern zerstört sein können,
womit die stärkere Lähmung erklärt sein würde. Andererseits handelt
es sich dabei nur um eine Vermutung und nur um wenige Fasern.
Auf alle Fälle können wir den Sitz der Lähmung sehr weit peripher,
unterhalb der Austrittstelle des Nerven aus dem Schädel, verlegen.
Rose, C. Brunner und Bernhardt haben bei den wenigen Fällen
von Tetanus facialis, die bisher eingehender in neurologischer Hinsicht
untersucht worden sind, ebenso wie wir in unserem Falle, keine
Geschmacks- und Gehörstörungen beobachtet, auch Sekretionsverände-
rungen und Gaumensegellähmung wurden von ihnen nicht bemerkt.
Aber Rose verzeichnet einen Fall von Kopftetanus, bei dem auch der
N. auricularis posterior gelähmt war, bei einem Manne, der im stände
war, die Ohren willkürlich zu bewegen, und Romberg sah einen Fall
mit Lähmung des N. stylohyoideus (Abweichen der Zungenspitze). Mit
diesen Beobachtungen wird der Sitz der Facialislähmung immer mehr
eingeengt und auf eine ganz bestimmte Stelle festgelegt. Zwischen
dem Punkte, wo der N. facialis die Chorda tympani abgibt, und der
Abgangsstelle des N. auricularis posterior, also zwischen dem letzten
nicht gelähmten und dem ersten gelähmten Zweige, passiert der Haupt-
stamm das Foramen stylo-mastoideum, nachdem er den FALLOPischen
Kanal durchlaufen hat.
Die Entstehung einer Lähmung beim Tetanus hat mancherlei Er-
klärungen gefunden. Das Auftreten eines lähmenden Toxins neben
dem Krampfgifte ist bereits hervorgehoben worden; man hat ange-
nommen, daß das erstere beim Kopftetanus besonders früh gerade am
Facialis einsetze und hat anatomische Gründe für diese Anschauung
ins Feld geführt (Kürze des Nerven, oberflächliche Lage). An anderen
Nerven ist ja gleichfalls das lähmende Prinzip wirksam beobachtet
worden, aber erst, nachdem Krämpfe vorausgegangen waren (Zwerch-
fell). Von einem voraufgegangenen Krämpfe ist aber bei echten Fällen
von Tetanus facialis nie etwas beobachtet worden.
Deshalb erscheint die Erklärung von E. Rose plausibler, der ganz
von den spezifischen Eigenschaften des Tetanusgiftes absieht und eine
Drucklähmung für wahrscheinlich hält. Er sah oft — und andere
üntersucher haben das bestätigt — an den Nerven von Menschen, die
an Wundstarrkrampf gestorben waren, Verdickungen, die in größeren
oder geringeren Abständen an den einzelnen Strängen wie kleine Rosen-
kranzperlen saßen. Vielleicht sind diese Verdickungen mit der Gegen-
wart des Tetanustoxins in der Nervensubstanz selbst in Verbindung
Ein Fall von Kopftetanus (E. Bosb). 49
zu bringen. Die Annahme Roses geht nun dahin, daß solche Ver-
dickungen auch am Facialis aufträten, obgleich sie bei den bisher
sezierten Fällen von Kopftenus, bei denen allerdings nur 2 oder 3mal
darauf gefahndet worden ist, nicht gefunden worden sind. Im engen
FALLOPischen Kanäle würde so der verdickte Nerv gedrückt werden
und deshalb die Lähmung als eine Druckwirkung aufzufassen sein.
Andere haben geglaubt, daü durch den Druck des verdickten Nerven
im Kanal das im Nerven wandernde Gift zurückgehalten werde und in
dem abgeschlossenen Nerventeil sich der lähmende Anteil des Giftes
früher bemerkbar machte, als wenn demselben noch die weiten Gebiete
des gesamten Nervensystemes offen ständen.
Jedenfalls kann man den Ort der Läsion nirgends anders hinver-
legen, als an die Austrittsstelle des VII. Nerven aus dem For. stylo-
mastoideum; sicher liegt er nicht, wie Bernhardt noch mit in Frage
zog, im Facialiskeme.
Bezüglich der Form der Lähmung hat schon Bernhardt aus einer
kleinen Kasuistik den Satz aufgestellt, daß die Facialislähmung bei
Kopftetanus nicht der schweren Form angehöre; er entnahm aus den
wenigen Fällen, von denen er Kenntnis hatte, daß beim Ueberstehen
des Wundstarrkrampfes fast stets die Lähmung auch ohne Behandlung
in einigen Wochen heilt. Aber unter den 10 Fällen dieses Autors ist
nur bei dreien eine elektrische Untersuchung gemacht worden, in zweien
davon war sie unvollständig. Rose stellte im Jahre 1897, 72 bekannt
gewordene Fälle von Kopftetanus zusammen, aber auch unter dieser
größeren Anzahl ist nur 5mal, soweit ich sehen kann, die elektrische
Erregbarkeit geprüft worden (ein Fall ist beiden Autoren gemeinsam).
Bei den 7 neurologisch untersuchten Facialislähmungen fanden sich also
6mal normale Verhältnisse, nur in dem von Bernhardt und Rose
gemeinsam beobachteten Falle wurden im Muse, frontalis träge Zuckungen
beobachtet, 12 Tage nach der Verwundung und 7 Tage nach Beginn
des Tetanus und (wahrscheinlich auch) der Facialislähmung. Da aber
dem Kranken eine Dermoidgeschwulst oberhalb des linken Arcus supra-
orbitalis exstirpiert war — die Eingangspforte des Tetanus — so lag
es auch für Bernhardt nahe genug, anzunehmen, daß bei der kleinen
Operation ein Facialisast verletzt und damit die Leitung zwischen Nerven-
stamm und Muskel zerstört wurde, was jedenfalls die träge Zuckung
erklären würde. Bei unserem Falle haben wir gesehen, daß nur eine
Andeutung der Entartungsreaktion in dem Anschwellen der AnSZ gegen
die KSZ vorhanden war und sich alsbald in kurzer Zeit verlor; eine
leichte Herabsetzung der Erregbarkeit auf der gelähmten Seite blieb
dagegen längere Zeit, und zwar insbesondere für den galvanischen Strom,
vom Nerven aus bestehen.
Die Lähmung der linksseitigen Gesichtsmuskeln hatte sich bei dem
lOttdl. a. d. Grenzgebieten d. Medlxln a. ChJrurrie. XIII. Bd 4
50 J. Grober,
Kranken auch bei seiner Entlassung, die 38 Tage nach dem Auftreten
der ersten Tetanussymptome, 4 Wochen nach seiner Aufnahme erfolgen
konnte, noch nicht völlig gehoben. Insbesondere im oberen Teile des
Facialis fand sich noch eine deutliche Parese, Stirnrunzeln wurde links
erheblich schlechter als rechts ausgeführt, das Lid konnte schlechter
gehoben und nur mit Anstrengung ganz geöffnet werden, während die
unteren Facialisäste gut funktionierten. Vi Jahre nach seiner Ent-
lassung war spontan auch der letzte Rest der ehemaligen FaciaUs-
lähmung verschwunden, ebenso wie die Kontraktion der Masseteren
sich verloren hatte, so daß der Mund nach Belieben weit geö&et werden
konnte.
Daß es sich bei den mit Facialislähmungen verbundenen Tetanus-
fällen auch einmal um leichtere Formen dieser Krankheit handeln kann,
hebt Bernhardt in den Schlußsätzen seines Aufsatzes hervor. In
unserem Falle wies schon die lange Dauer der Inkubationszeit (16 Tage)
auf einen voraussichtlich milderen Verlauf hin. Der Kopftetanus unter-
scheidet sich von anderen Fällen von Wundstarrkrampf nur dadurch,
daß er bei besonderem Sitz der Infektionspforte außer den gewöhn-
lichen Symptomen K r ä m p f e in den nahe der Eingangswunde gelegenen
Schlundmuskeln (Schlingkrämpfe) und eine Lähmung eines durch
seine topographischen Beziehungen besonders ausgezeichneten Nerven
hervorruft
Sieht man den Facialistetanus als einen im Wesen nicht ver-
änderten Wundstarrkrampf an, so muß die Art der Behandlung in
beiden Fällen zunächst die gleiche sein. Man könnte daran denken,
in den späteren Stadien, wenn die Muskelstarre abgelaufen ist, den
elektrischen Strom therapeutisch zu verwenden, aber dies ist bei keinem
der am Leben gebliebenen Kranken, die in der Literatur beschrieben
sind, soweit ich sehen kann, geschehen. Bei allen ist die Facialis-
lähmung spontan geheilt: ein weiterer Beweis, daß es sich jedesmal
um die leichte Form der Lähmung gehandelt hat. Die gute Prognose
von Lähmungen nach anderen Infektionskrankheiten ist bekannt.
Auch beim Kopftetanus stehen die Erscheinungen der Muskelstarr-
krämpfe, die infizierte Wunde und die von hier aus ihr Toxin dem
Körper mitteilenden Tetanusbacillen im Vordergrunde der Aufmerksam-
keit bezüglich der Behandlung. Wir haben deshalb nach Erkennung
des Krankheitsbildes und seines progressiven Charakters nicht gezögert,
dem Kranken die auch jetzt noch — nach ^/4 Jahren — leicht ent-
stellende Exstirpation der Wunde vorzuschlagen, haben verhältnismäßig
rasch hintereinander größere Mengen des BEHRiNOschen Tetanusserums
angewendet, dem wir einen Teil des günstigen Erfolges zuzuschreiben
geneigt sind. Die geringen Gaben Chloralhydrat und Morphin waren
nur Teile einer symptomatischen Therapie.
Ein Fall yon Kopftetanus (E. Rosb).
51
Unsere Erfahrungen mit dem (bisher käuflichen — - siehe
Behrings neueste Publikation über diesen Gegenstand) Tetanusserum
sind derartig gewesen, daß wir es soviel und sobald als möglich
anzuwenden streben. Die folgende Tabelle, in der die Tetanusfälle
unserer Klinik aus den letzten 5 Jahren zusammengestellt sind, die
ich zum Teil selbst mitbeobachtet habe, gibt unsere Erfahrungen in
Kürze wieder.
No.
I
Alter
Jahre
Verletzung
Wund-
behand-
lung
Tage
Serom-
mengen
Bemerkungen
1
1899
2
1899
3
1899
4
1900
5
1901
6
1901
7
1902
8
1902
9
1902
10
1903
11
1903
12
1903
13
1903
16
18
11
13
4
45
25
25
iTage
46
23
26
18
an d. Schult
erfror. Füße
keine
am Fuße
am Kopfe?
am Finger
erfror. Füße
an der Hand
Nabel?
an der 8tirn
an der Hand
am Beine
am Beine
keine
Amputat.
keine
keine
keine
Amputat.
Amputat.
keine
keine
Ezcision
Antisept
Verband
Exdsion
Amputat.
2 t
keines
IVöOO
2X250, 1X125
keines
3X100
100 4-200
1^
100
100
Moribund eingelief.
Serumexanth. Geh.
Geheilt
Geheilt
Tetanus neonatorum
Der hier beechiebene
Fall, geheilt
Mit Sepsis kombin.
Die Beziehung zwischen der Dauer der Inkubation und dem Ausgange
des Falles tritt deutlich hervor; im übrigen zeigen unsere TetanusfSlle
eine durch die gegebenen Zahlen genügend charakterisierte Verschieden-
heit der Virulenz der Bacillen bezüglich der Disposition der Kranken.
Einen Einfluß der Antitoxinbehandlung auf den Verlauf der Facialis-
lähmung hat man bei den wenigen Fällen, die seit dem Erscheinen
des Mittels im Handel beobachtet sind, nicht gesehen ; eine Vergleichung
ist deshalb nicht möglich. Die Entstehung der Facialisparalyse durch
Druck, wie sie der unzweifelhaft erfahrenste Kenner der Krankheit,
Rose, annimmt, schlösse ja auch eine Beeinflussung aus. Nicht viel
anders wäre es, wenn es sich um eine durch das Gift verursachte Ver-
änderung am Nerven handelte, da das Tetanusantitoxin, wie aus den
Untersuchungen Knorrs bekannt ist, die Bindung des Toxins an das
lebende Protoplasma nicht mehr lösen, sondern nur noch ungebundenes
Toxin neutralisieren kann.
4*
52 J. Grober, Ein Fall von Kopftetanus (E. Robb).
Literatur.
1) Adrian, üeber einen eigentümlichen Fall von Tetanus. Mitteil. a. d.
Qrenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 6, 1901, Heft 4/6.
2) Bbhking, E. y., Zur antitoxiscben Tetannstherapie. Dtsoh. med. Wochen-
schrift, 1903, No. 35.
3) Bernhardt, M., Ein Beitrag zur Lehre vom Kopftetanus. Zeitschr. f.
klin. Med., Bd. 7, 1884, p. 410.
4) Brunnbr, C, Neuropathologische Mitteilungen. Berl. klin. Wochenschr.,
1886, p. 101.
5) Hitzig, E., üeber die Auffassung einiger Anomalien der Muskel-
innervation. Arch. f. Psychiatrie, Bd. 3, p. 601.
6) Knorr, A., Das Tetanusgift und seine Beziehungen zum Organismus.
Münch. med. Wochenschr., 1898, No. 11 u. 12, und Habilitationschrifb
Marburg, 1898.
7) Mbybr, H., und Eansoh, Fr., Untersuchungen über den Tetanus. Arch.
f. experiment. Patholog. u. Pharmak., Bd. 49, Heft 6.
8) Prbobrashbnski, Ein Fall von Tetanus bulbaris mit Autopsie. Medi-
cinskoje Obosrenje, 1901, August.
9) BrOMBBRO, Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen. 3. AufL,
Bd. 1, 1867.
10) RosB, E., üeber den Starrkrampf. Pitha-Billroths Handbuch der
allgemeinen und speziellen Chirurgie. Erlangen 1870.
11) — Der Starrkrampf beim Menschen. Dtsch. Chir., Vm, Stuttgart 1897.
Nachdruck verboten.
V.
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose
nach Ischias.
Von
Dr. H. ElLret,
Privatdozent für innere Medizin an der Universität Straßbarg.
(Hierzu dr Abbildungen im Texte.)
In einer früheren Arbeit^) habe ich den Versuch gemacht, sicher-
zustellen, daß die Entstehung der bei und nach Ischias so häufig auf-
tretenden Skoliose auf eine eigentümliche Stellung des erkrankten Beines,
die sich schon bei den bettlägerigen Patienten gleich in den ersten
Tagen der Krankheit einstellt, zurückzuführen ist Da diese Stellung
des erkrankten Beines, wie anatomische Untersuchungen lehrten, den
Nervus ischiadicus von Druck und Zug entlastet, ist sie zweckmäßig
als Selbsthilfestellung zu bezeichnen. Sie besteht im wesentlichen in
Abduktion, Flexion im Hüftgelenk und Rotation des Beines nach außen.
Dazu gesellt sich noch eine leichte Flexion im Kniegelenk^). Steht
der Ischiaskranke auf, so wird diese Beinstellung beibehalten. Um bei
der bestehenden Abduktion des erkrankten Beines ein Gehen zu er-
möglichen, muß das Becken auf der erkrankten Seite gesenkt werden.
In dieser sekundären Beckensenkung ist die Ursache der seitlichen Ver-
biegung der Wirbelsäule zu suchen. Um die Rotation des kranken
Beines nach außen zu verdecken und zu kompensieren, wird das Becken
im entgegengesetzten Sinne gedreht, der Oberkörper wiederum wird
durch eine Drehung in der Wirbelsäule (im entgegengesetzten Sinne
der Beckendrehung) nach vorn gerichtet. Darin finden wir die Er-
klärung der schon längst gemachten Beobachtung, daß die Beckenquer-
1) H. Ehret, Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. Mitteil.
a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 4, 1899.
2) Die ftlr das Verständnis dieser Arbeit zum Teil wichtigen Einzel-
heiten sind im Original nachzusehen.
54 H. Ehret,
achse und die Querachse des Rumpfes in Schulterhöhe bei Skoliose
nach Ischias gelegentlich nicht in einer Ebene liegen. Die Flexion des
Beines im Hüftgelenk endlich erfordert eine größere Neigung des Beckens
nach vom, welche Neigung des Beckens ihrerseits, da der Rumpf auf-
gerichtet werden muß, eine Verstärkung der physiologischen Lordose
der Lendenwirbelsäule darstellt, welche bei Skoliose nach Ischias, so-
wohl in stehender wie in liegender Stellung des Kranken nie fehlt.
Durch die ängstliche Innehaltung dieser Setbsthilfstellung des Beines
gegenüber dem Becken werden beim Gehen, Stehen, Sichaufrichten
u. s. w. Eigentümlichkeiten bedingt, auf die an dieser Stelle nicht näher
eingegangen werden kann.
In den vergangenen 5 Jahren hatte ich Gelegenheit, sowohl in der
hiesigen medizinischen Klinik wie in der Privatpraxis, ganz besonders
aber bei der Begutachtung von Unfallverletzten zahlreiche Fälle von
Ischias zu untersuchen und zu beobachten. Im folgenden gebe ich
das Ergebnis der auf diese Weise gewonnenen neuen Erfahrungen,
welche die früher entworfene Lehre von cler Skoliose nach Ischias er-
gänzen und ausbauen.
Nach unserer Auffassung, wie sie aus der vorausgeschickten Zu-
sammenfassung entnommen werden kann, ist die Skoliose nach Ischias
eine rein statisch-mechanische Verbiegung der Wirbelsäule. Sie entsteht
aus Veränderung der Stellung des erkrankten Beines, welche Stellung
im wesentlichen eine Höhenlageveränderung des Beckens auf einer
Seite zur Folge hat. Der Hauptfaktor der seitlichen Verbiegung der
Wirbelsäule ist eine Senkung des Beckens auf der erkrankten Seite^
also dieselbe Erscheinung, die z. B. bei traumatischer Verkürzung eines
Beines die nachfolgende Skoliose verursacht: einseitiger Beckentiefstand.
Die Erkrankung des Nervus ischiadicus selbst hat mit der Skoliose nur
insofern etwas zu tun, als durch diese Erkrankung die Abduktion des
Beines, d. h. die beim Gehen einer Verkürzung gleichkommende Stellung
des Beines bedingt wird. Bei Schmerzen im Ischiadicusgebiete muß
jedoch die uns beschäftigende Beckensenkung die Eigentümlichkeit haben,
daß sie nicht ausgeglichen werden kann, z. B. durch höhere Schuh-
sohlen oder durch Schuheinlagen, wie dies bei Beckensenkungen infolge
von wirklicher Beinverkürzung der Fall ist. Eine derartige künstliche
Verlängerung der an Ischias erkrankten Stütze des Körpers würde,
falls sie die Beckensenkung beeinflussen sollte und könnte, notwendiger-
weise auch eine Veränderung des Abduktionswinkels im verkleinernden
Sinne bedeuten, also die Stellung des Beines, welche durch die Er-
krankung des N. ischiadicus bedingt ist, in einem der Selbsthilfe ent-
gegengerichteten Sinne beeinflussen. Dieser unerwünschten Wirkung
entgeht der Ischiaskranke in der Regel dadurch, daß er die etwa durch
Erhöhung der Schuhsohle bedingte künstliche Verlängerung des Beines
durch weitere Flexion des Knies illusorisch macht. Auf diese Weise
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 55
ist das Versagen derartiger gegen die Skoliose nach Ischias gerichteter
therapeutischer Maßnahmen zu erklären, welche ich in mehreren
Fällen beginnender Skoliose gesehen habe ^). Solange der N. ischiadicus
noch Sitz, wenn auch nur geringer Schmerzhaftigkeit ist, kann durch
künstliche Verlängerung des befallenen Beines eine günstige Beein-
flussung der Skoliose in der Begel weder erwartet noch tatsächlich
erzielt werden. Sind dagegen die Prozesse, die im N. ischiadicus ge-
spielt haben, abgelaufen, so daß von der eigentlichen Ischias nichts
mehr zurückbleibt, so können vorhandene, von der Ischias ausgelöste
Skoliosen, wie wir sehen werden, unter Umständen sehr wohl durch
höhere Schuheinlagen u. s. w. beeinflußt werden. Auf keinen Fall darf
aber, und deshalb sind diese Dinge an dieser Stelle zu erwähnen, das
Fehlschlagen der künstlichen Verlängerung des kranken Beines in das
Feld geführt werden gegen die Annahme einer rein mechanischen Ent-
stehung der Skoliose nach Ischias. Besondere Verhältnisse
machen jede Verlängerung illusorisch. Für die statisch-
mechanische Entstehung der Skoliose spricht ihre Beeinflußbarkeit durch
künstliche Verlängerung des Beines, sobald diese besonderen Verhält-
nisse, d. h. die die Beinstellung bedingende Schmerzhaftigkeit im N.
ischiadicus, geschwunden sind.
Zur weiteren Stütze dafür, daß die Erkrankung des N. ischiadicus
an und für sich nichts mit der Entstehung der Skoliose zu tun hat,
daß dieselbe vielmehr als eine statische, wie sie z. B. bei Verkürzung
eines Beines auftritt, aufgefaßt werden muß, kann ich zwei eigenartige
Fälle anführen.
Fall L F. M., 46 J. alt, landwirtschaftb'cher Arbeiter, hatte sich
angeblich durch einen Unfall eine heftige Ischias zugezogen. Dieselbe
war als Unfallsfolge anerkannt worden. Für die erwerbsbeeinträchtigenden
Folgen dieser Ischias bezog Fat 1 Jahr nach dem Unfälle, als er zum
ersten Male von mir untersucht und begutachtet werden sollte, noch eine
30-proz. Bronte.
Der Befund bei der damaligen Untersuchung war folgender:
Ausgesprochenes Ischiasphänomen links, lebhafbe Druckpunkte am
unteren Bande des linken Olutaeus maximus und in der Mitte des Ober-
schenkels hinten; linkes Bein etwas nach außen gedreht, deutlich ab-
duziert. Von Flexion im Hüftgelenk nichts Sicheres wahrzunehmen. Leichte
Flexion im Kniegelenk. Die Glutäalfalte steht links 1^2 cm tiefer als
rechts; desgleichen der linke Darmbeinkamm. Geringe, aber deutliche
Skoliose; der Verlauf derselben ist nur bei Abtastung der Wirbelsäule
sicherzustellen. Die Konkavität im Dorsolumbalteile ist nach links ge-
richtet.
Derselbe Patient wurde mir nach weiteren 9 Monaten zu einer
erneuten Untersuchung zugeschickt. Kurz nach der ersten Untersuchung
durch mich hatte der an linksseitiger Ischias leidende Kranke einen
1) Vergl. die therapeutischen Bemerkungen am Schlüsse dieser Arbeit.
56 H. Ehret,
zweiten Unfall erlitten und einen ebenfalls linksseitigen Unterschenkelbruch
davongetragen. Letzterer war angeblich gut geheilt. (Dieser zweite Unfall
war, da er im Wirtshause passiert war, kein rentenpflichtiger 1)
Schon beim Gehen des angekleideten Pat. fUUt diesmal eine erheb-
liche Verbiegung der Wirbelsäule auf. Die linke Schulter steht etwas höher
als die rechte. Pat. geht im übrigen mit Hilfe eines Stockes ziemlich
flott. Er hat bis zur Bahn, bei schlechten Wegen, eine Strecke von 6 km
zurückgelegt. Die genauere Untersuchung ergibt, daß das Ischiasphänomen
und die Druckpunkte, wenn auch in geringerer Intensität, noch deutlich
vorhanden sind. Desgleichen ist die Dotation des linken Beines nach
außen noch vorhanden, jedoch nicht stärker geworden. Dagegen UM auf,
daß der Darmbeinkamm links erheblich tiefer steht, als rechts. Es zeigt
sich ferner, daß die Abduktion des linken Beines im Hüftgelenk starker
geworden ist. Die Wirbelsäule zeigt eine hochgradige, schon weit-
hin sichtbare Verkrümmung, deren Konkavität im Dorsolumbalteile
nach rechts gerichtet ist Von dem Senkel, der mit der Spitze über der Mitte
des ersten Sakralwirbels steht, entfernt sich die Wirbelsäule, vom Processus
spinosus an gemessen, um 4^/2 cm. Das linke Bein ist um 2^^2^l^ cm
verkürzt, welche Verkürzung lediglich auf den Untersc)ienkel entfallt
In diesem Falle haben wir es im wesentlichen mit folgenden Ver-
hältnissen zu tun: Durch die an und für sich nicht bedeutende Ver-
kürzung eines Beines infolge einer Fraktur des Unterschenkels, welche
Verkürzung (es handelt sich um 2 cm), in der Regel, eine erhebliche
Skoliose kaum macht, wird bei einem Menschen, der an Ischias des-
selben Beines gelitten hat, vielleicht noch jetzt leidet, eine ganz mächtige
Skoliose hervorgebracht, wie ich sie bei derartigen Fällen von Ischias
noch nicht gesehen habe. Dieses Vorkommnis zu erklären, dürfte nach
dem oben Gesagten nicht allzu schwer fallen. Eine Verkürzung des
erkrankten Beines, Verkürzung, die in unserem Falle durch den Unter-
schenkelbruch bewerkstelligt wurde, muß dem Ischiaskranken, wenn
unsere Auffassung von den Verhältnissen stimmt, erwünscht sein, da
sie den erkrankten N. ischiadicus unter noch günstigere Zug- und
Druckverhältnisse bringt. Diese Annahme findet in folgender Ueber-
legung eine Stütze; der einseitigen Beckensenkung, bei beiderseits
gleicher Beinlänge, oder in anderen Worten, der für den erkrankten
Ischiadicus günstigen und angestrebten Abduktionsstellnng des kranken
Beines sind gewisse Schranken gezogen. Während der Gang bei nur
leicht gebeugtem Knie Schwierigkeiten größerer Art nicht bietet, ist
derselbe bei stärker gebeugtem Knie mit großer Ermüdung verbunden.
Auf die Dauer kann ein Mensch mit stärker gebeugtem Knie, sofern
dasselbe nicht fixiert ist, nicht gehen. Der Organismus sträubt sich
beim Gehen, von wegen der damit verbundenen Ermüdung, eine zu
starke Flexion des Knies beizubehalten. Eine derart starke Beugung
des Knies ist aber, bei beiderseits gleicher Beinlänge, zu einer erheb-
lichen Senkung des Beckens auf einer Seite, d. h. zur Beibehaltung
einer starken Abduktionsstellung des Beines unerläßlich. Darum wird
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 57
auch die beim bettlägerigen Ischiaskranken stark ausgesprochene Ab-
duktionsstellung beim Gehen und Stehen eine gewisse Einschränkung
erfahren. Diese Beobachtung, Verkleinerung der Abduktion, kann bei
der größten Mehrzahl von Ischiaskranken mit stark ausgesprochener
Selbsthilfestellung gemacht werden, wenn sie von der liegenden Stellung
fOr längere Zeit in die stehende übergehen; mit anderen Worten, es
wird in der Norm die Skoliose eine geringere, als nach der Beinstellung
zu erwarten gewesen wäre. In unserem Falle wurde nun, auch beim
Gehen, eine stärkere Abduktionsstellung ermöglicht, ohne stärkere Flexion
des Knies, lediglich durch die Verkürzung des Unterschenkels. Die Ver-
kürzung des erkrankten Beines ist dem Ischiaskranken willkommen, da
dieselbe es ihm ermöglicht, mit stärker abduziertem Beine zu gehen.
Es muß somit, die Verkürzung des an Ischias erkrankten Beines der
Skoliose Gelegenheit geben, sich in ihrem vollen Umfange zu etablieren.
Wir können in diesem Falle auch von einer Addition der Faktoren
sprechen. Zu der Verkürzung des Beines durch die Ischiasabduktions-
stellnng gesellt sich eine weitere Verkürzung durch Bruch des Unter-
schenkels. Es spricht die Tatsache, daß sich diese Faktoren einfach
addieren, d. h. daß die Skoliose nach Ischias sich mit der Skoliose
nach Verkürzung des Beines einfach summiert, ohne daß nach der einen
oder anderen Richtung eine Modifikation der entstehenden Skoliose zu
beobachten wäre, mit großer Wahrscheinlichkeit für ihre Gleichwertig-
keit. Es darf wohl daraus geschlossen werden, daß die Skoliose bei
und nach Ischias und die Skoliose bei Verkürzung des Beines durch
Bruch, im großen und ganzen auf die gleiche Weise zu stände kommt.
Für diese Annahme spricht, im Verein mit dem eben beschriebenen,
ein 2. Fall. Derselbe bildet eine Ergänzung und zugleich ein Gegen-
stück zu dem vorhergehenden. Er dürfte schon wegen der Seltenheit
der zusammengetroffenen Faktoren, besonders aber wegen seiner, man
kann sagen therapeutischen, Konsequenzen bemerkenswert sein.
Fall H. In demselben handelt es sich um einen 28-jähr. Herrn, der
schon seit 6 Jahren, infolge von ünterschenkelbruch, eine Verkürzung des
linken Beines mit entsprechender Skoliose hatte. Die Verkürzung betrug
4 cm, dabei bestand, wie der Hausarzt des Pat mir mitteilte, eine deut-
hche Skoliose. Nähere Angaben über die Art der Skoliose sind nicht zu
erhalten. Dieser Pat erkrankte, wahrscheinlich infolge von Erkältung
(Pat litt außerdem an chronischer Gicht), an heftiger rechtsseitiger Ischias.
Die Schmerzen erstreckten sich in den ersten Wochen sowohl auf die
hintere wie auch auf die vordere Seite des Schenkels. Im Bette zeigte
Pat die ausgesprochene Ischiaslage mit Selbsthilfestellung des Beines
(Abduktion, Flexion und Rotation nach außen). Nach 8 Mon. sah ich den
Kranken wieder. Es hatte sehr lange gedauert, ehe er aufstehen konnte.
Die Gehversuche selbst waren sehr lange Zeit wegen Schmerzen erfolglos
geblieben, so daß Pat. sich fast 3 Monate lang einer Krücke bedient
hat Damals konnte er wieder gehen, und klagte nur noch zeitweise
über Schmerzen. Noch deutliches Ischiasphänomen, keine sicheren Druck-
58 .H. Ehret,
punkte; beträchtliche Abmagerung des rechten Beines, leichte Flexion in
demselben Kniegelenk. Beide Darmbeinkämme stehen gleich hoch, von
einer Verbiegung der Wirbelsäule ist nichts mehr nach-
zuweisen. Auch in der Folge, es sind jetzt 2 Jahre verstrichen, ist
von einer Verbiegung der Wirbelsäule nichts mehr aufgetreten.
Während in dem ersten Falle eine nach Ischias entstandene Skoliose
durch hinzutretende Verkürzung desselben Beines infolge von Bruch
des Unterschenkels erheblich verschlimmert wird, haben wir hier die
etwas eigentümliche Tatsache vor uns, daß eine infolge von Beinver-
kürzung schon lange bestehende Skoliose durch eine das andere Bein
befallende Ischias einfach zum Verschwinden gebracht wird. Zum Ver-
ständnis dieses Vorganges ist folgendes zu bedenken. Es steht außer
Zweifel, daß Patient vor der Ischias eine Skoliose hatte, auch ohne
Bestätigung durch den Arzt wäre dies als sicher zu betrachten gewesen,
da eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule bei einer Beinverkürzung
von 4 cm nicht auszubleiben pflegt, lieber die spezielle Form der-
selben sind dagegen Angaben nicht vorhanden; erfahrungsgemäß ist
jedoch anzunehmen, daß die Konkavität der bestehenden Skoliose im
unteren Teile der Wirbelsäule auch in unserem Falle nach der anderen
unverkürzten Seite gerichtet gewesen sein muß. Da das linke Bein
das verkürzte war, mußte der Patient eine Skoliose haben, die ihre
Konkavität im unteren Teile der Wirbelsäule nach rechts öShete. In
anderen Worten: Unter Festhaltung der Linksseitigkeit der Er-
krankung mußte Patient eine Skoliose haben, die als heterolog zu
bezeichnen war.
Falls die hinzutretende Ischias des rechten Beines eine Skoliose
gemacht hätte (es hat sich um eine reine Ischias, also lediglich um
schmerzhafte Prozesse im Beine gehandelt), so würde diese Skoliose,
entsprechend der Regel mit Bezug auf die rechte Seite, eine hete-
rologe gewesen sein. Die bei unserem Patienten durch die Ischias
bedingte Skoliose hätte also eine der Skoliose infolge des Unter-
schenkelbruches entgegengesetzte Form haben müssen. Hatte
der Patient vor der Ischias eine mit Bezug auf links heterologe Skoliose,
so mußte das rechte Bein dauernd in entsprechender Adduktionsstellung
sich befunden haben. Die hinzutretende rechtsseitige Erkrankung, die
sowohl im N. ischiadicus selbst wie auch im N. cruralis spielte, mußte,
besonders wegen der Schmerzhaftigkeit in letzterem Nerv, bei dem
Patienten das Bestreben unterhalten, das rechte Bein aus der für die
Entspannung der Nerven ungünstigen Adduktionsstellung herauszu-
bringen und letztere womöglich in die für die Entspannung der Nerven
günstigere Abduktionsstellung umzuwandeln. Als Erfolg dieses Be-
strebens muß die Tatsache gelten, daß die Beckenkante, welche früher
rechts höher stand, später in gleicher Höhe stand, wie die linke. Dies
kam folgendermaßen: Während das Becken links, infolge der Beinver-
Weitere Beiträge zar Lehre der Skoliose nach Ischias. 59
kürzung, vor der Ischias tiefer stand als rechts, senkte sich infolge
der Ischias, von wegen des Bestrebens, das aus der Adduktionsstellong
herausgebrachte Bein auf den Boden zu bringen, das Becken auch auf
der anderen rechten Seite. Dieses Tiefertreten des Beckens auf der
rechten Seite wurde ausgeglichen und zur gleichen Zeit ermöglicht
durch die festgestellte leichte Flexion im Knie, deren zweiter Zweck
die Entspannung des Nervus ischiadicus war.
Das Verschwinden der Skoliose, welche infolge der linksseitigen
Beinverkürzung aufgetreten war, ist somit einfach als eine Kompen-
sation durch die infolge der Veränderung der Stellung des rechten
Beines benötigte Biegung der Wirbelsäule im entgegengesetzten Sinne
zu erklären. Eine einfachere Deutung für den eigentümlichen Vorgang
ist meines Erachtens nicht zu geben. Wenn aber eine Skoliose infolge
von Beinverkürzung und eine Skoliose infolge von Ischias sich einmal
summieren (Fall I), ein andermal kompensieren (Fall II), so muß der
Mechanismus ihrer Entstehung im Prinzip der gleiche sein. Es wäre
schlechterdings nicht denkbar, daß eine Skoliose infolge von Beinver-
kürzung durch eine Skoliose nach Ischias einfach aufgehoben würde,
wenn letztere z. B., wie dies früher angenommen wurde, aus dem Be-
streben hervorginge, das Rückenmark oder die Wurzeln von Druck zu
entlasten ; träfe dies zu, so hätte die Skoliose wirklich zu stände kommen
müssen, um eine Entlastung herbeizuführen. Oder wenn die Skoliose
nach Ischias lediglich Ausdruck des Bestrebens wäre, die erkrankte
Körperhälft« vom Körpergewichte zu entlasten. Daß dies nicht der Fall
ist, lehren übrigens auch die Beobachtungen unserer ersten Arbeit.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich betonen, daß eine kompensierte
Skoliose, d. h. eine solche, die im unteren Teile, z. B. nach rechts,
konkav, in ihrem oberen Teile nach links konkav ist, nicht im stände
ist eine Stütze des Körpers zu entlasten. Entlasten kann nur eine
Verbiegung der Wirbelsäule, die nicht kompensiert ist, also eine ein-
fache nach rechts oder nach links konkave Biegung der gesamten
Wirbelsäule. Eine derartige einmalige Verbiegung der gesamten Wirbel-
säule ist jedoch unter den Skoliosen nach Ischias eine sehr große
Seltenheit Falls sie vorkommt, ist ihre Entstehung ganz besonderen
Verhältnissen, auf die wir weiter unten eingehen werden, zuzuschreiben.
Mit diesen beiden Fällen ist meines Erachtens ein weiterer Beweis
dafür erbracht daß wir in der nach Ischias so häufigen heterologen
Skoliose lediglich die Folge der in der ersten Arbeit beschriebenen
einer Verkürzung des erkrankten Beines gleichkommenden Stellung des
erkrankten Beines zu erblicken haben.
In der schon mehrfach erwähnten Arbeit wurde hervorgehoben,
daß die bei und nach Ischias gelegentlich vorkommenden homologen
Skoliosen im ganzen doch nur als Ausnahmen, jedenfalls als Selten-
heiten zu bezeichnen sind. Falls die Skoliose nach Ischias rein statisch-
60 H. Ehret,
mechanische Ursachen hat, und darauf geht meine Behauptung hinaus,
müßte man a priori meinen, daß diese homologen Skoliosen gerade aus
der der gewöhnlichen Beinstellung (Abduktion, Flexion, Rotation nach
außen) entgegengesetzten Stellung hervorgehen. Es ist jedoch nicht
ohne weiteres ersichtlich, wie die Adduktion, d. h. die auf diese Weise
abgeleitete Entstehungsursache der der homologen Skoliose mit unserer
Auffassung der Selbsthilfestellung und der durch dieselbe bedingten
Entstehungsweise der Skoliose bei und nach Ischias überhaupt in Ein-
klang zu bringen wären. Seither habe ich einige Fälle, im ganzen
sind es 4, von homologer Skoliose gesehen, unter welchen ich haupt-
sächlich 2 hervorheben möchte, da dieselben für die Entstehungsweisen
der homologen Skoliosen und für ihr Verhältnis zu der Selbsthilfe-
stellung des Beines sehr lehrreich sind. Außerdem sind von Rumpf ^)
homologe Skoliosen bei schmerzhaften Prozessen im Plexus lumbalis
publiziert worden, auf die ich kurz zurückkommen werde.
In dem einen der erwähnten von mir beobachteten Fälle handelte
es sich neben Schmerzhaftigkeit im linken Nervus ischiadicus noch um
starke Schmerzen im gleichseitigen Lendengebiete.
Fall III. Es waren ausgesprochene Druckpunkte zu beiden Seiten
der Wirbelsäule nachzuweisen. Gegenüber den Schmerzen im Gebiete des
Plexus lumbalis standen, nach den Angaben des Pat, die eigentlichen
Ischiasschmerzen im Hintergrunde; im ganzen wurde, und zwar besonders
im Anfange der Krankheit, viel mehr über die Schmerzen in der Lenden-
gegend geklagt. Es bestand jedoch deutliches Ischiasphänomen und zu-
weilen über das ganze Bein ausstrahlende Schmerzen, so daß an der
Diagnose Ischias nicht zu zweifeln war. Der 38-jähr. Kranke zeigte
schon sehr früh eine ausgesprochene homologe Skoliose, welche homologe
Skoliose in der Folge auch bestehen blieb'). Trotz dieser homologen
Skoliose hatte jedoch der Pat die bei Ischias als gewöhnlich zu bezeich-
nende Bein- und Beckenstellung: Abduktion, Flexion, Eotation nach außen,
Tieferstehen des Beckens und der Glutäalfalte auf der kranken Seite.
Diese bei Ischias üblichen Stellungsanomalien waren zweifellos sicher-
zustellen. Sie mußten jedoch im Verhältnis zu dem hohen Grade der
Skoliose nach den sonst von mir gemachten Erfahrungen als auffallend
gering bezeichnet werden.
Die Deutung dieses Falles, in welchem trotz der Stellung des
Beines und des Beckens die in der Regel zur Bildung einer hetero-
logen Skoliose führt und nach unserer Auffasssung führen muß, eine
homologe Skoliose zu stände kam, ist schon im Anschluß an die
in der zweiten Anmerkung erwähnten ähnlichen Beobachtung von mir
1) Dtsch. med. Wochenschr., 1903, V.-B. 147.
2) In meiner ersten Arbeit findet sich ein ähnlicher Fall, der jedoch,
zum Unterschiede von dem jetzt beschriebenen, nur im Anfange eine homo-
loge Skoliose zeigte, welche homologe Skoliose in der Folge in die ge-
wöhnliche heterologe überging.
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 61
versucht worden. Der eben beschriebene Fall, welcher dauernd eine
homologe Skoliose behielt, kann die damals in Bezug auf die vorüber-
gehende homologe Skoliose ausgesprochene Ansicht nur bekräftigen:
Erstreckt sich die schmerzhafte Erkrankung nicht nur auf den Plexus
sacralis und den aus demselben hervorgehenden Nerven, dessen vor-
nehmster der N. ischiadicus ist, sondern durch die Verbindungsbrücke
zum Plexus lumbaüs, als solche ist der Truncus lumbo-sacralis aufzu-
fassen, noch auf den Plexus lumbalis, so können infolgedessen schmerz-
hafte Empfindungen — wie sie im wesentlichen den sogenannten Lum-
bago ausmachen — unter anderem auch im Musculus quadratus lum-
borum, im Musculus transversus abdominis und im M. obliquus internus,
welche von diesem Plexus aus versorgt werden, bestehen. Ist eine
solche Mitbeteiligung des Plexus
lumbalis vorhanden, wie dies in
unserem Falle in hohem Maße
zutraf, so wird eine Entspannung
der eben genannten Muskeln an- \ ^ ^ ^ ^^PP*
gestrebt werden, da eine der-
artige Entspannung ebenfalls ent-
spannend auf die die Muskeln / \r Flankenabstand
versorgenden und durchsetzenden
Nerven wirkt. Die Entspannung
dieser Muskeln ist aber gleich- " ^ ^ Beekinfuerachs^
bedeutend mit der Verkleinerung YigA. Heterologe Skoliose bei r. Ischias.
des sogenannten Flankenabstan- Schematisch, von hinten gesehen,
des auf der betroffenen Seite*).
Wie wir aus der Kenntnis der normalen heterologen Skoliose wissen, hat
dieselbe, besonders wenn der Patient anfängt zu gehen, eine Vergröße-
rung dieses Flankenabstandes zur Folge. Das Becken auf der erkrankten
Seite steht tiefer, der untere Rippensaum dagegen infolge der kompen-
satorisch geradestrebenden Wirbelsäule höher (Fig. 1). Daß diese Ver-
größerung des Flankenabstandes behindert werden muß, wenn die Aeste
der bei der Vergrößerung desselben in Spannung zu versetzenden Muskeln
befallen sind, ja die Schmerzen in diesen Muskeln im Vordergrunde des
Krankheitsbildes stehen, ist nicht weiter wunderbar. Auf diese Weise sind
die Fälle zu erklären, in welchen, bei sonst typischer Beinstellung und
Beckenstellung, die Vergrößerung des Flankenabstandes ausbleibt, oder
statt der Vergrößerung, wie dies in unserem Falle zu beobachten war,
eine Verkleinerung des Flankenabstandes eintritt. Ich habe bis jetzt
keine Verkleinerung des Flankenabstandes auf der kranken Seite ge-
sehen, ohne daß das Ausbreitungsgebiet des Plexus lumbalis mitbefallen
gewesen wäre.
1) Unter Flankenabstand ist die Entfernung vom oberen Rande der
Darmbeinschaufel bis zu den untersten Rippen zu verstehen.
62 H. Ehret,
Das Ausbleiben der Vergrößerung oder die Verkleinerung des
Flankenabstandes kann, besonders bei Beckentiefstand, nur bewerkstelligt
werden durch eine Biegung der Wirbelsäule, welche Biegung, zur Er-
reichung dieses Zweckes, ihre Konkavität im unteren Teile nach der
erkrankten Seite öffnen muß. Anfangs hing unser Patient mit dem
ganzen Oberkörper nach der kranken linken Seite über. Später richtete
sich jedoch der Oberkörper auf. Die sekundäre kompensatorische Gerade-
richtung des oberen Rumpfteiles geschah jedoch in diesem Falle viel
weiter oben, als es bei der typischen heterologen Skoliose zu geschehen
pflegt, nämlich in der Mitte des Brustteiles der Wirbelsäule (Fig. 2 u. 3).
Fig. 3.
Fig. 2.
HrRippe j ^ MrRippe
Beekenqaerachse *" .* Beckenqiierttehi&
Fig. 2. Verkleinerung des Flankenabstandes bei beginnender homologer Skoliose
(Ischias und Erkrankung aes Plexus lumbalis.)
Fig. 3. Verkleinerung des Flankenabstandes bei ausgebildeter homologer Skoliose
mit der gewöhnlichen typischen Beckenstellung (Ischias und Erkrankung des Plexus
lumbalis rechts).
In diesem Falle bestand somit eine homologe Skoliose bei Ischias,
hervorgegangen aus der sonst die heterologe Skoliose verursachenden
Bein- und Beckenstellung. Die Ursache der Entstehung der homologen
Skoliose finden wir in der Mitbeteiligung des Plexus lumbalis und zwar
hauptsächlich in der schmerzhaften Erkrankung der die Muskeln der
Bauchwand versorgenden Aeste, welcher Umstand die zur Bildung der
gewöhnlichen heterologischen Skoliose notwendige Vergrößerung des
Flankenabstandes verhinderte.
Eine ganz andere Art von homologer Skoliose zeigte ein anderer,
der einzige derartige von mir beobachtete Fall. In der älteren Literatur
sind Fälle zu finden, aus deren Beschreibungen mit Sicherheit zu ent-
nehmen ist, daß statt Abduktion des kranken Beines Adduktion des-
selben, statt Senkung des Beckens auf der erkrankten Seite Hochstand
desselben bestanden hat. Daß diese Bein- und Beckenstellung eine
homologe Skoliose zur Folge haben muß, ist ohne weiteres klar. Da-
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 63
gegen stand die Möglichkeit dieser Bein- und Beckenstellung selbst
mit den von mir abgeleiteten Grundsätzen der Selbsthilfestellung des
Beines bei Ischias in einem gewissen Widerspruche, da die anatomi-
schen Untersuchungen gezeigt haben, daß die Entspannung des Nervus
ischiadicus, welche bei Ädduktion des Beines auftritt, unverhältnismäßig
geringer ist als diejenige, welche durch Abduktion erreicht wird. Der
Entstehungsmodus dieser seltenen Beinstellung scheint mir durch diesen
zweiten Fall klargestellt zu werden.
Fall IV. In demselben handelt es sich ebenfalls nicht um eine reine
Ischias; vielmehr bestanden von vornherein sehr lebhafte Schmerzen im
Gebiete des Plexus lumbalis. Ich sah die d4-jähr. unverheiratete Kranke
erst, als sie nicht mehr bettlägerig war, ungefähr in der 15. Woche nach
Beginn der Erkrankung. Der behandelnde Arzt berichtete, daß der sehr
heftige Prozeß mit voller Intensität plötzlich, d. h. innerhalb 2 — 3 Stunden,
ohne nachweisbare Ursache begonnen hatte, und zwar mit Schmerzen in
der Lendengegend, besonders aber mit sehr heftigen ziehenden Schmerzen
im Bauche, welche bis in den rechten Oberschenkel ausstrahlten, dessen
vordere Fläche sie ganz einnahmen. In der ersten Nacht bestand der
Verdacht einer Gallensteinerkrankung oder einer Bauchfellentzündung. Als
diese großen Schmerzen, die 3 Wochen anhielten und die Pat. unbeweglich
in das Bett zwangen, geringer geworden waren, traten Klagen über Schmerzen
in dem Beine der erkrankten Seite hervor. Schon in den ersten Tagen
war dem Arzte eine intensive Beugestellung des linken Knies aufgefallen,
welche Stellung die Pat. durch Kissen stützen ließ. Die Beugung war
derart stark, daß die Kranke Tag und Nacht, mit aufgerichtetem Kjiie,
den Unterschenkel auf der ganzen Fußsohle ruhen ließ. Streckungsversuche,
d, h. Versuche, das Bein auf die Unterlage hinzulegen, die im Anfange
vom Arzte versucht wurden, mußten bald wegen heftiger Schmerzen, die
sie auslösten, unterbleiben. Als ich die Pat. sah, fiel zunächst eine
mächtige Verstärkung der physiologischen Lordose im Lendenteile der
Wirbelsäule auf, außerdem war der Fuß der erkrankten Seite stark nach
außen gerichtet Das Becken der erkrankten Seite stand beim Gehen vor.
Nebstdem bestand eine deutliche homologe Skoliose mit Hochstand des
Beckens auf der erkrankten Seite. Entsprechend diesem Hochstande, ließ
sich eine geringe, aber deutliche Ädduktion des erkrankten Beines fest-
stellen. Am auffallendsten war, im Verhältnis zu anderen ähnlichen
Fällen^ die Verstärkung der physiologischen Lordose und die Drehung des
Beines nach außen. Diese Verstärkung der physiologischen Lordose ver-
schwand beim Sitzen der Pat. nicht nur vollständig, sondern schlug in
eine leichte Kyphose um, sobald die Pat. auf der Tischplatte oder dem
Erdboden aus liegender in sitzende Stellung übergingt). Sie mußte auf-
gefaßt werden als die kompensatorische Folge der starken Beugung im
Hüftgelenk, welche Beugung sich dann auch ohne weiteres demon-
strieren ließ.
In Verfolgung der Ursachen, welche die abnorm starke Flexion im
Hüftgelenk und die Rotation nach außen bedingen konnten, zeigten ana-
tomische Betrachtungen, daß eine derartige Stellung Beugung mit Drehung
1) VergL die hierher gehörenden Betrachtungen der ersten Arbeit.
64 H. Ehret,
nach außen bei gleichzeitiger, wenn auch geringer Adduktion, vor allem
eine mächtige Entspannung des Musculus psoas herbeiführt. Dieser
M. psoas wird aber von den Nerven des Plexus lumbalus nicht nur ver-
sorgt, sondern auch durchsetzt. Die heftigen Schmerzen im Bauche, die
hinabzogen bis in den Oberschenkel und die zuerst spontan, später bei
jedem Versuche, das Bein gerade auf die Unterlage zu bringen, auf-
traten, weisen direkt auf die Mitbeteiligung dieses Muskels hin.
Als ich die Fat. sah, zeigte sie auch in liegender Stellung noch eine
leichte Flexion des Knies. Diese Flexion konnte schmerzlos ausgeglichen
werden durch entsprechende Hebung des Fußes und des Unterschenkels.
Auch dauernde Streckung des Kniegelenkes durch Unterstützung des Unter-
schenkels mit Kissen lösten keine Beschwerden aus. Dagegen stellte
sich bei dem Versuche, die Streckung des Beines durch Aufdrücken des
Knies auf die Unterlage zu erzielen, heraus, daß die Streckung schmerz-
haft war, femer, daß sie nur durch entsprechende Mitbewegung des Beckens
in dem untersten Teile der Wirbelsäule ermöglicht wurde. Eine Ver-
stärkung der Beugung des Knies war ebenfalls schmerzhaft, jedoch sehr
viel weniger, als der zuletzt beschriebene Streckungsversuch. Eine Mit-
bewegung des Beckens war dabei nicht festzustellen.
In diesem Falle ist meines Erachtens die homologe Skoliose anzu-
sprechen als eine spezielle Folge der Schmerzhaftigkeit der den Musculus
psoas versorgenden und durchsetzenden Nerven. In der Erkrankung
dieser Nerven finden zunächst die Schmerzen im Bauche eine Erklärung.
Desgleichen stimmt mit derselben überein die Entspannung des Musculus
psoas, d. h. das Bestreben, diesen Muskel durch stärkere Flexion und
Rotation den Beines nach außen, verbunden mit geringer Adduktion,
zu schonen. Bei dem Vorwiegen und dem zeitlichen Vorangehen der
Lumbagoschmerzen gegenüber den Schmerzen im Nervus ischiadicus
ist es ohne weiteres erklärlich, daß die durch diese Lumbago-psoas-
Schmerzen bedingte Stellung vorgewogen hat auf Kosten der bei reiner
Ischias typischen Beinstellung. Während beide Stellungen, d. h. die
gewöhnliche Selbsthilfestellung bei Ischias und die speziell durch die
Erkrankung der Psoasnerven bedingte Stellung in Rotation und Flexion
übereinstimmen, unterscheiden sich dieselben dadurch, daß erstere eine
Abduktion, letztere eine Adduktion bedingt. Die Tatsache, daß die
Flexion und die Rotation so stark ausgeprägt waren gegenüber der
nur geringen Adduktion, dürfte dadurch zu erklären sein, daß erstere
sowohl infolge der Erkrankung des Plexus lumbalis, wie derjenigen des
Nervus ischiadicus angestrebt wurden. Die bestehende nur geringe
Adduktion dagegen wurde lediglich hervorgebracht durch das Ueber-
wiegen der schmerzhaften Prozesse im Plexus lumbalis über diejenigen
im Nervus ischiadicus. Die Adduktionsstellung mußte im vorliegenden
Falle außerdem noch bekämpft werden durch die schmerzhaften Pro-
zesse im Nervus ischiadicus anticus, die sicher mitgespielt haben (aus-
strahlende Schmerzen auch auf die Vorderseite des Oberschenkels 1).
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 65
Es ist nämlich die Abduktion zur Entspannung des Nervus cruralis
die günstigste Beinstellung. Es müssen somit gleichzeitige schmerz-
hafte Prozesse im Nervus cruralis und im Musculus psoas in ihrer
Wirkung auf die Beinstellung, was die Adduktion bezw. Abduktion
anbetrifft, sich bekämpfen.
Die in unseren beiden Fällen beobachteten homologen Skoliosen
sind das Produkt einer Mitbeteiligung des Plexus lumbalis bei gleich-
zeitiger Ischias, oder sie sind auch das Zeichen des Ueberwiegens der
schmerzhaften Prozesse im Plexus lumbalis über die eigentlichen Ischias-
schmerzen. In dem ersteren Falle haben wir bei typischer Bein- und
Beckenstellung eine abnorme Beeinflussung der Rumpfstellung. Im
zweiten Falle wird die Beinstellung in einem Punkte (Abduktion) voll-
ständig verändert, in zwei anderen (Flexion und Rotation) accentuiert
Dadurch wird in der typischen Bein-Becken Stellung bei sonst gleich-
bleibenden Merkmalen statt Abduktion des Beines Adduktion desselben,
und folglich statt Tiefstand Hochstand des Beckens bewirkt.
Wir haben in einem Falle homologe Skoliose trotz der gewöhnlichen
in der Regel zur heterologen Skoliose führenden Beinstellung, im anderen
homologe Skoliose, verursacht durch eine Modifikation der typischen
Beinstellung. Und so kommen wir zur Einsicht, daß, während die
heterologe Skoliose nach Ischias eine regelmäßige typische Gestalt
hat, mit sich gleichbleibenden Merkmalen, die gelegentlich zu beobach-
tenden homologen Skoliosen keine einheitliche Form darstellen, viel-
mehr in ihrer Gestaltung von Fall zu Fall wechseln. Sie sind das
Produkt von besonderen Verhältnissen, welche die typische heterologe
Skoliose beeinflussen und mehr oder weniger modifizieren, welche Ver-
hältnisse hauptsächlich in der Mitbeteiligung des Plexus lumbalis oder
in dem Ueberwiegen der Erkrankung desselben zu suchen sind. Weitere
Beobachtungen müssen lehren, ob diese Erklärung für alle Fälle von
homologer Skoliose zutriflft. Die schon erwähnten, von Rümpf publi-
zierten Fälle sprechen jedenfalls für ihre Richtigkeit. In denselben
handelt es sich zum Teil um reine Erkrankungen im Gebiete des Plexus
lumbalis, also ohne Mitbeteiligung des Nervus ischiadicus. In diesen
letzteren Fällen bestand nun eine deutliche, ja starke Verbiegung der
Wirbelsäule, welche als homologe Skoliose anzusprechen ist. Es geht
daraus hervor, daß schmerzhafte Prozesse im Gebiete des Plexus lum-
balis im Stande sind, an und für sich Verbiegungen der Wirbelsäule zu
verursachen; und zwar kommen diese Verbiegungen, wie nach unseren
Ausführungen zu schließen ist, durch die Beeinflussung des Flanken-
abstandes zu Stande. Es kann somit das Bestehen derartiger Schmerzen
neben Ischias nicht ohne Einfluß sein auf die durch die Ischias selbst
verursachte Verbiegung der Wirbelsäule. Dieser Einfluß wird im großen
und ganzen immer darauf hinausgehen, die Skoliose, wenn möglich, zu
einer homologen zu machen.
IfStUO. a. d. QnaxgtMttm d. Madlstn o. Chirnrgie. JLIU. Bd. 5
66 H. Ehret,
Um vollständig zu sein, müssen wir noch eine andere, allerdings
außerordentlich seltene Form der Skoliose, die bei oder nach Ischias
gelegentlich beobachtet worden ist, erwähnen: Die sogenannte alter-
nierende Skoliose, d. h. eine Verbiegung der Wirbelsäule, die bald
heterologe, bald homologe Gestaltung zeigt. Und zwar zeichnen sich
die bis jetzt beschriebenen drei oder vier Fälle alternierender Skoliose
dadurch aus, daß die Inhaber dieselben willkürlich verändern konnten.
In den beschriebenen Fällen dieser Art hat es sich durchweg um spe-
ziell geschulte Menschen, Akrobaten, Zirkusreiter, Schlangenmenschen
u. s. w. gehandelt. In den vorhandenen Beschreibungen fehlen Angaben«
die einen Schluß auf die Stellung des Beckens erlauben. Ging mit
der Veränderung der Skoliose auch eine Veränderung der Beckenstellung
Hand in Hand? Diese für die Kenntnis der Vorgänge notwendig zu
beantwortende Frage ist aus dem vorhandenen Material nicht zu lösen.
Einen derartigen Fall willkürlich veränderter Skoliose nach
Ischias habe ich in den letzten Jahren nicht gesehen. Dagegen hatte
ich Gelegenheit einen etwas anders gearteten Fall zu beobachten, der
zweifellos in diese Kategorie einzureihen ist, obgleich bei demselben
von einer Willkürlichkeit des Umschlages von einer Form der Skoliose
in die andere nicht gesprochen werden kann. Die betreffende Kranke
zeigte in der Regel eine heterologe, dazwischen gelegentlich eine homo-
loge Form der Skoliose, ohne daß jedoch die Kranke selbst im stände
gewesen wäre, bestimmend auf die Form der Skoliose mit einzuwirken.
Der Umschlag selbst von einer Form in die andere konnte nicht be-
obachtet werden; es liegt jedoch Grund zur Annahme vor, daß derselbe
sich'} nicht ruckweise, sondern allmählich in einer gewissen Spanne Zeit
vollzog. Daß aus einer zunächst homologen Skoliose in der Folge
eine heterologe werden kann, habe ich schon früher erwähnt. Dabei
handelt es sich doch nur um einen einmaligen Umschlag aus einer
vorübergehenden zu einer Dauerform. Der FaU alternierender Skoliose
verhielt sich folgendermaßen:
Fall V. M. V., 38-jähr. Frau, zwei Geburten. Pat. wurde zunächst
von einer heftigen Ischias befallen, welche sehr lange Zeit anhielt. Ich
sah die Kranke ungefähr 1 1 Monate nach Beginn der rechtsseitigen Ischias-
erkrankung, als dieselbe schon 6 Monate nicht mehr bettlägerig war.
Damals bestand eine ausgesprochene, heterologe Skoliose mit allen üblichen
Erscheinungen: Beckentiefstand, Drehung des Fu^es nach aulSen, Ver-
stärkung der physiologischen Lordose im Lendenteil, Vergrößerung des
Flankenabstandes und Tiefstand der Glutäalfalte auf der kranken Seite.
Diese Pat. wurde 18 Monate nach Beginn der Ischias, als sie sich von
derselben genesen betrachtete, durch neue Schmerzen befallen, diesmal
ausschließlich im Ausbreitungsgebiet des Plexus lumbalis. Pat. lag über
6 Wochen an diesem Lumbago zu Bett. Ich sah sie ungefähr 3 Monate
nach Beginn dieser letzteren Erkrankung zum zweitenmal. Von der
Ischias wollte sie damals Beschwerden nicht mehr haben. Die Untersuch-
ung ergab nun eine ausgesprochene homologe Skoliose mit deutlichem
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 67
Beckenhochstand und Verkleinerung des Flankenabstandes auf der kranken
Seite. Das rechte Bein war mindestens eben so stark, wenn nicht stärker
nach außen gedreht als früher. In der Folge habe ich die Fat. noch
wiederholt gesehen und bei ihr zweimal eine heterologe Form der Skoliose
mit den typischen zuerst aufgezählten Eigenschaften feststellen können,
dreimal eine homologe Form derselben, mit den zuletzt erwähnten Eigen-
tümlichkeiten. Die Fat. klagte mit großer Regelmäßigkeit, wenn die
homologe Skoliose zu finden war, vorwiegend über Schmerzen in der
Lienden- und Gesäßgegend; bestand die heterologe Skoliose, so bezogen
sich die Klagen hauptsächlich auf das rechte Bein. Konstant in dem
Wechsel war nur die Drehung des Beines nach außen.
Nach den voraufgegangenen Ausführungen bedarf der Mechanismus
dieser unzweifelhaft als alternierende [Skoliose zu bezeichnender Ver-
krümmung der Wirbelsäule nur einer kurzen Besprechung. Die sub-
jektiven Erscheinungen krankhafter Vorgänge im nervösen Apparat
überhaupt, in den peripheren Nerven insbesondere, sind bekanntlich
sehr großen Intensitätsschwankungen unterworfen, deren Ursachen wir
zum TeU noch gar nicht, zum Teil recht unvollkommen übersehen
(Aufregung, Zorn, Witterungseinflüsse, Feuchtigkeitsgehalt der Luft,
Gewitter u. s. w.). So standen bei unserer Patientin, ohne daß die
Ursachen des Wechsels nachgewiesen werden konnten, bald die Schmerzen
im Gebiet des Plexus lumbalis, bald die richtigen Ischiasschmerzen im
Vordergrund, und je nachdem die einen oder die anderen überwogen,
wurde bald die homologe Skoliose (Plexusschmerzen) bald die heterologe
Skoliose (Ischiasschmerzen) beobachtet. Dieser Wechsel hatte seine
Ursache in der Beeinflussung in der Bein- und Beckenstellung, folglich
auch der Wirbelsäulestellung (die Patientin war dauernd auf) durch die
vorherrschenden Schmerzen, Beeinflussung, wie wir sie gelegentlich als
dauernde, bei ähnlichen Vorgängen beobachtet haben (siehe oben). Ver-
schwinden die Plexusschmerzen, oder treten sie gegenüber den Ischias-
beschwerden in den Hintergrund, so hatten wir die reine typische Bein-,
Becken- und Wirbelsäulestellung der Ischias. Daß in diesem Falle
nicht wie in anderen eine dauernde Mittelstellung hervorgebracht wurde,
ist jedenfalls dem Umstände zuzuschreiben, daß die Erkrankung die
beiden Gebiete getrennt, in zwei weit auseinanderliegenden Zeitab-
schnitten befallen hat.
Es ist anzunehmen, daß der Uebergang einer homologen Skoliose
in eine heterologe, wie wir ihn als einmaligen früher kennen gelernt
haben, und der jetzt beschriebene wiederholte Wechsel zwischen beiden
Stellungen richtige alternierende Skoliosen sind, und als Vorstufen auf-
gefaßt werden müssen zu den so seltenen willkürlich veränderlichen
Fällen. Im Prinzip dürften bei allen die Erscheinungen dieselben sein.
Es wird mehr Uebungssache und Schulung des damit Behafteten sein,
aus einem Fall, wie er eben beschrieben wurde, eine willkürlich alter-
nierende Form zu machen. Ist der Krankheitsprozeß in beiden Ge-
5*
68 H, Ehret,
bieten abgeklungen, so wird der Kranke, wenn er sich beizeiten darauf
einübt und seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, bald die eine,
bald die andere Form der Skoliose vorzaubem können.
Fassen wir an dieser Stelle einmal die bis jetzt beobachteten Merk-
male der Skoliose bei Ischias zusammen, die sich zwanglos mit dem von
mir gelehrten Mechanismus ihrer Entstehung erklären lassen, so sind
aufzuzählen: Abduktion des kranken Beines, Flexion im Hüftgelenk,
Flexion im Kniegelenk, Rotation nach außen, Tiefstand des Beckens,
Verstärkung der physiologischen Lordose, Drehung der Wirbelsäule um
ihre Längsachse, abnorm starke Ausbildung eines jeden einzelnen dieser
Merkmale in dem einen oder anderen Fall, Beckentiefstand, Adduktion
des Beines, Vergrößerung des Flankenabstandes, Verkleinerung des
Flankenabstandes, Tieferstehen der Glutäalfalte, Höherstehen derselben,
heterologe, homologe, alternierende Skoliose. Es bleibt nur eine einzige
in seltensten Fällen angegebene Erscheinung, die bis jetzt mit unserer
Erklärung der Skoliose nicht in Einklang zu bringen ist; es ist dies
die Rotation des Beines nach innen, die in dem einen oder anderen in
der Literatur sich findenden Fall bestanden haben soll. Ich selbst habe
auch unter den ziemlich zahlreichen Fällen der letzten Jahre eine Ro-
tation nach innen nie beobachten können. Aus diesem Grunde will ich
mit einem Urteil über das tatsächliche Vorkommen dieser Stellung und
ihre etwaige Vortäuschung durch Drehung in der Wirbelsäule sowie
ihre eventuelle Erklärung zurückhalten.
Nach dem Voraufgegangenen ist eine Mitbeteiligung des Plexus
lumbalis bei der Beurteilung der Sachlage in dem einzelnen Fall von
großer Bedeutung. So leicht diese Mitbeteiligung gelegentlich schon
in den angegebenen Schmerzen und Beschwerden zu erkennen ist, so
schwer kann unter Umständen die Entscheidung der Frage, ob das
Ausbreitungsgebiet des Plexus lumbalis zum Teil miterkrankt ist oder
nicht, sich gestalten. Es liegen hier genau dieselben Verhältnisse vor,
wie für die Ischias: unter Umständen ist es nicht leicht, das Bestehen
einer Ischias festzustellen. In derartigen Fällen ist uns das Ischias-
phänomen ein willkommenes Hilfsmittel. Dieses Ischiasphänomen be-
steht im wesentlichen darin, daß die Hebung des Unterschenkels, voraus-
gesetzt, daß der Kranke mit gebeugtem Knie im Bette liegt, bis in die
Verlängerung des stark flektierten Oberschenkels, Schmerzen auslöst.
Haben wir schmerzhafte Prozesse, die die Lenden- und Gesäßgegend
einnehmen und liegt solchen Prozessen keine Ischias, sondern eine Er-
krankung des Plexus lumbalis zu Grunde, so bleibt die Schmerzäußerung
bei Hebung des Unterschenkels bis in die Verlängerung des flektierten
Oberschenkels aus. Dagegen ist ein Versuch, das Bein durch Durch-
drücken des Kniees in seiner ganzen Länge auf die Unterlage zu brnigen,
schmerzhaft.
Ist zugleich Ischias und Erkrankung des Plexus lumbalis vorhanden,
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 69
SO ist die Prüfung nicht zu gebrauchen, da dieses Durchdrücken auch bei
Ischias Schmerzen verursacht. Um die Mitbeteiligung des Plexus lum-
balis bei gleichzeitiger Ischias in zweifelhaften Fällen festzustellen, ist
es empfehlenswert, (den Kranken auf die gesunde Seite zu legen, das
Knie der erkrankten Seite zu flektieren und dann zu versuchen, den
Oberschenkel im Hüftgelenk zu strecken. Es pflegt dieses in gewissen
Fällen hauptsächlich wenn die Nerven des Psoas erkrankt sind, Schmerzen
auszulösen, die nicht selten in den Bauch verlegt werden. Eine andere
Methode, die besonders bei nicht bettlägerigen Patienten mit mehr un-
bestimmten Schmerzen Anwendung finden kann, ist folgende: Dem
Kranken wird aufgegeben, den Rumpf nach der gesunden Seite möglichst
stark seitwärts zu neigen, was beim Gesunden gleichbedeutend ist mit
einer Vergrößerung des Flankenabstandes auf der entgegengesetzten
Seite. Sind nun auf dieser entgegengesetzten Seite schmerzhafte Pro-
zesse im Musculus quadratus lumborum, im Musculus transversus ab-
dominis, im Musculus obliquus internus vorhanden, so wird in der
Regel bei dieser Bewegung der Fuß auf der erkrankten Seite vom Erd-
boden gehoben. Diese Hebung des Fußes ist als Ausdruck des Be-
strebens aufzufassen, einer Vergrößerung des Flankenabstaudes auf der
kranken Seite durch die gleichzeitig stattfindende Hebung des Beckens
vorzubeugen.
Schließlich müssen wir noch derjenigen Fälle von Ischias gedenken,
die eine Skoliose überhaupt nicht verursachen. Obwohl die Skoliose
eine häufige Folgeerscheinung der Ischias ist, tritt sie jedoch keines-
wegs immer auf. Es muß betont werden, daß die Skoliose tatsächlich
seltener fehlt als wohl angenommen wird, häufig sind die Erscheinungen
der Skoliose aber so gering, daß sie keine Beachtung finden. In anderen
Fällen besteht eine Verbiegung der Wirbelsäule nur vorrübergehend, und
wird mit dem Aufhören der Schmerzen recht bald wieder ganz ausge-
glichen. Die Fälle, in denen eine ausgesprochene Ischias ohne jeden Ein-
fluß auf die Wirbelsäule bleibt, sind entschieden in der Minderzahl. Da-
gegen gehört das Auftreten hochgradiger Skoliose nach Ischias entschieden
nicht zu den Seltenheiten. Es ist nicht leicht, ein nur annähernd zuver-
lässiges Urteil über die Häufigkeit der Skoliose überhaupt, der hochgra-
digen Skoliose insbesondere abzugeben. Ich schätze nach den von mir ge-
machten Erfahrungen, daß auf 100 Fälle von Ischias ca. 70—80 eine Ver-
biegung der Wirbelsäule zeigen, und daß es sich in der Hälfte von diesen
Fällen um eine nicht zu übersehende Skoliose handelt. Die Beobachtung
hat mir gezeigt, daß das Zustandekommen der Skoliose sowie der Grad
ihrer Ausbildung keineswegs ohne weiteres abhängt von der Intensität
der Schmerzen. Es gibt sehr heftige Ischiasfälle, die auf die Wirbel-
säule einen weit geringeren Einfluß ausüben als minder heftige. la
letzteren handelt es sich, das sei hier vorweg genommen, mehr um
subchronische bis chronische Erkrankung. Während in Fällen außer-
70 H. Ehret,
ordentlicher Schmerzhaftigkeit, die, solange sie besteht, beständige Bett-
ruhe erheischt, meiner Erfahrung nach, eine nennenswerte Verbiegung
der Wirbelsäule in der Folge eher ausbleibt, tritt nicht selten eine sehr
hochgradige auf in Ischiasfällen, in denen die Kranken eigentlich nie
zu dauernder Bettruhe gezwungen sind und die mit weit geringerer
Schmerzhaftigkeit verlaufen. Diese aus der Beobachtung hervorgegangene
Regel scheint mir mit folgendem zusammenzuhängen: Zunächst ist
es nicht gleichgültig, welche Partie des Nervus ischiadicus der Sitz der
Schmerzen ist In der Regel läßt sich sagen, daß für das Zustande-
kommen oder NichtZustandekommen der Skoliose die Mitbeteiligung des
eigentlichen Nervenstammes ausschlaggebend ist. Fehlt die Erkrankung
des Nervenstames, und spielt sich der schmerzhafte Prozeß lediglich in
den peripheren Aesten ab, so kann trotz größter Schmerzhaftigkeit die
Verbiegung der Wirbelsäule ausbleiben; andererseits kann bei Er-
krankung des Nervenstammes, auch bei ganz geringen Schmerzen, eine
Verbiegung der Wirbelsäule auftreten. Es ist diese Abhängigkeit der
Skoliose von der Lokalisation der Erkrankung eigentlich selbstverständ-
lich, denn die primäre Ursache der Skoliose ist die Selbsthilfestellung
des erkrankten Beines, und diese wirkt hauptsächlich entspannend auf
den Nervenstamm, während ihr entspannender Einfluß auf die peripheren
Aeste nur gering ist. Diese Selbsthilfestellung, also die Ursache
der Skoliose, wird darum stärker ausfallen in den Fällen, wo der
Nervenstamm selbst der Sitz der Erkrankung ist. Schließlich ist die
Möglichkeit gegeben, daß trotz der Erkrankung des Nervenstammes die
Selbsthilfestellung und die Skoliose vollständig ausbleiben. Nämlich,
wenn daneben eine Schmerzhaftigkeit in den peripheren Aesten und
ihrem Ausbreitungsgebiet in solcher Intensität vorhanden ist, daß die
aktive Beteiligung der Muskel und die passive Inanspruchnahme der
Fascien, Bänder u. s. w., welche die Einnahme und Einhaltung der
Selbsthilfestellung erheischt, von wegen der Schmerzhaftigkeit unmöglich
gemacht wird. Es können unter Umständen die geringen Zerrungen
und Bewegungen, die zur Einnahme der Selbsthilfestellung nötig sind,
derartige Schmerzen auslösen, daß sie das Bein einfach lahmlegen. In
derartigen Fällen wird die Skoliose entweder nur sehr wenig angedeutet
sein, oder ganz ausbleiben. Ferner mag die Art der Erkrankung selbst
für das Zustandekommen oder NichtZustandekommen der Skoliose nicht
gleichgültig sein. Ueber die anatomisch-pathologischen Befunde der
Ischias ist verhältnismäßig nur wenig bekannt. Wahrscheinlich ist es
jedoch, um nur ein Beispiel anzuführen, daß Krankheitsprozesse, welche
Infiltration und Schwellungen des Nerven machen, eine größere Ent-
spannung des Nerven wünschenswert machen als Fälle, in denen der
Nerv selbst nicht verändert ist. Es ist jedenfalls das gelegentliche
Ausbleiben der Skoliose auch nach heftigster Ischias leicht zu erklären.
Dieses gelegentliche Ausbleiben der Skoliose, gerade bei heftigsten
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 71
Fällen von Ischias, steht mit der Annahme der Entstehung der Skoliose
überhaupt im Einklang. Wo es nicht zur Skoliose kommt, fehlt von
vornherein auch die stark ausgesprochene Beinstellung. Fälle, bei denen
es ohne ausgeprägte Beinstellung zur Skoliose gekommen wäre, habe
ich nicht gesehen. Auf weitere Momente, die das Zustandekommen,
bezw. das NichtZustandekommen der Skoliose begünstigen, werden wir
weiter unten zu sprechen kommen.
Fassen wir das Ergebnis unserer Betrachtungen zusammen, so
kommen wir zu folgenden Schlüssen: 1) Die typische Skoliose nach
Ischias, d. h. die durch die Ischias als solche bedingte Skoliose ist die
sogenannte heterologe Skoliose. 2) Diese Skoliose hat ihre Ursache in
rein statisch-mechanischen Ursachen. Sie geht hervor aus der eigen-
tümlichen, im wesentlichen einer Verkürzung des erkrankten Beines
gleichkommenden, früher beschriebenen Selbsthilfestellung desselben.
3) Andere Formen der Skoliose (homologe, alternierende Form) werden
durch besondere Verhältnisse bedingt, die mit der eigentlichen Ischias
nichts zu tun haben, die aber die primäre Stellung des Beines oder
die sekundäre Stellung des Beckens in dem einen oder anderen Punkt
beeinflussen.
Therapeutische Bemerkungen. Es ist nicht meine Absicht,
an dieser Stelle die Therapie der Ischias überhaupt zu besprechen.
Die gegen die Ischias empfohlenen Mittel sind außerordentlich zahlreich.
Es ist entschieden nicht ganz leicht, etwas zu erwähnen, was nicht em-
pfohlen wäre. Am Schlüsse habe ich die wichtigsten Arbeiten der
letzten fünf Jahre über dies Thema zusammengestellt. Ihr Inhalt inter-
essiert uns hier doch nur, soweit er die Verhütung und die Therapie
der Skoliose betrifft. In dieser Beziehung allerdings sind die Bemer-
kungen und Angaben in der Literatur außerordentlich spärlich. Die
Verhütung und die Therapie der Skoliose wird jedoch, wie wir sehen
werden, nicht durchweg vollständig getrennt zu behandeln sein von der
Therapie der Ischias selbst In einzelnen Punkten wird die Verhütung
und die Behandlung der Skoliose einerseits mit der Behandlung der
Ischias selbst übereinstimmen. Die Therapie und Verhütung der Skoliose
kann hier jedoch auch nur behandelt werden, soweit dieselbe sich aus
unserer Annalune der Entstehung der Skoliose ergeben. In folgendem
unterscheiden wir : a) Therapie der Skoliose soweit sie mit unserer An-
nahme der Entstehung der Skoliose in Zusammenhang steht, b) Die
Therapie der Iscliias, soweit dieselbe mit den unter a) unterzubringenden
Maßnahmen zusammenfallt.
Zunächst zur Verhütung und Therapie der Skoliose. Vorausschicken
will ich, daß mit der Bezeichnung Skoliose hier und im folgenden
die typische heterologe Skoliose gemeint ist; für die Abweichungen von
dieser nach Ischias typischen Skoliose ergeben sich gewisse Modifika-
72 H. Ehret,
tionen der einzuschlagenden Therapie, auf die ich hier nicht näher ein-
gehen will, und die sich zum Teil von selbst ergeben.
Für die Therapie wichtig ist die genauere Kenntnis derjenigen Mo-
mente, welche die Bildung einer Skoliose bei der Ischias begünstigen, bezw.
vereiteln. Diese Momente lernten wir wenigstens zum Teil schon kennen,
als wir die Regeln für die Häufigkeit des Vorkommens der Skoliose
ableiteten. Allerdings sind wir, da in der Literatur über die Momente,
die die Bildung der Skoliose nach Ischias begünstigen oder vereiteln,
nichts zu finden ist, lediglich auf persönliche Erfahrungen angewiesen.
Bis jetzt verfüge ich ungefähr über 105 Fälle von Ischias. Es muß
jedoch die Beobachtung weit größerer Reihen noch zeigen, ob die An-
sicht, die ich nur aus diesen Fällen über die hierher gehörenden Fragen
gebildet habe, die richtige ist. Daß die heftigsten Ischiasfalle nicht
auch die hochgradigsten Skoliosen machen, habe ich schon erwähnt.
Außerdem ist es außerordentlich selten, daß eine akut einsetzende,
akut verlaufende und zu Ende gehende Ischias eine erhebliche Skoliose
bedingt, auch wenn die Schmerzen während der Erkrankung noch so
heftig sind. In fünf Fällen heftigster akuter Ischias meiner Beobach-
tung, die zum Teil während des Krankenlagers eine ausge-
sprochene Selbsthilfestellung des erkrankten Beines zeigten, kam es
nicht zur Entwickelung einer Skoliose. In einem sechsten ähnUchen
Fall dagegen kam eine stark entwickelte Skoliose zu stände. Während
die ersten fünf Ischiaskranken während der ganzen Dauer der Erkran-
kung im Bette blieben, stand dieser letzte Patient nach vierwöchent-
licher Dauer der Krankheit dringender Geschäfte halber auf und blieb außer
Bett ; während die Heilung der Ischias in den ersten fünf Fällen ziem-
lich rasch vor sich ging, nahm das letztere eine mehr chronische Form
an und hielt, allerdings in ganz mäßiger Intensität, monatelang an. In
der Literatur habe ich nur einen Fall gefunden, in welchem sich bei
heftigster akut verlaufender Ischias eine bedeutende Skoliose entwickelt
hat. Viel häufiger als bei akuten Fällen, ist die Skoliose bei chronisch
verlaufender Ischias, oder bei solchen, die nach akutem Anfang einen
subchronischen oder chronischen Verlauf annehmen. Die hochgradigste
Skoliose, die ich überhaupt gesehen habe, betraf einen Patienten, der
nie zu Bett gelegen hatte. Diese durch die Erfahrung gelehrte Regel
über das Vorkommen der Skoliose ist mit unserer Annahme der Ent-
stehung der Skoliose sehr wohl in Einklang zu bringen, und wird durch
sie erst verständlich. Die Entstehungsweise der Skoliose gibt uns in
der Tat die Erklärung für die Beobachtung, daß aklite, wenn auch
heftigste Ischias nicht so häufig zur Skoliose führt als minder heftige,
aber chronische: Fälle. Als erstes haben wir die Beinstellung, die
sogenannte Selbsthilfestellung; sie ist das eigentlich Primäre. In zweiter
Linie erst kommen, durch erstere bedingt, die Veränderung der Becken-
stellung, welche Veränderung der Beckenstellung endlich die Verkrüm-
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 73
mung der Wirbelsäule hervorbringt. Geht also die Beinstellung zurück,
so kommt es auch nicht zu den Konsequenzen, d. h. zu den Verände-
rungen der Beckenstellung und der Verkrümmung der Wirbelsäule.
Diese durch Kompensation hervorgebrachte Verkrümmung der Wirbel-
säule ist eben wegen ihrer Entstehungsursache hauptsächlich an die
aufrechte Körperstellung gebunden. Theoretisch sollte sich die Ver-
biegung der Wirbelsäule erst einleiten (vergl. Skoliose bei traumatischer
Beinverkürzung), wenn der Patient anfängt aufzustehen, und damit eine
Kompensation der Bein- und Beckenstellung nötig wird. Dieses trifft
jedoch tatsächlich nicht vollständig zu. Eine Verbiegung der Wirbel-
säule tritt gelegentlich schon im Bett auf, wenn die Kranken noch gar
nicht aufgestanden sind. Es hängt dieses Auftreten der Verbiegung
der Wirbelsäule im Bett, die jedoch immer in gewissen geringeren
Grenzen bleibt, mit folgenden Umständen zusammen: Die Selbsthilfe-
stellung des Beines ist an und für sich mit gewissen Beschwerden und
Unbequemlichkeiten für den Kranken verknüpft. Der Patient muß die
Selbsthilfestellung, solange sie nicht kompensiert ist, ängstlich einhalten;
beobachtet er diese Stellung nicht, und fällt er aus derselben heraus,
wie dies z. B. gelegentlich im Schlafe geschieht, so werden oft sehr
lebhafte Schmerzen ausgelöst ; andererseits ist die offene unkompensierte
Selbsthilfestellung des Beines höchst unbequem, da infolge der Flexion
des Kniees die Bettdecke in die Höhe gehoben wird und sich anderer-
seits infolge der Abduktion des doch schließlich in die Mitte des
Bettes gelangenden erkrankten Beines die Körperlage sehr unbequem
gestaltet In diesen Nebenumständen haben wir wohl die Ursache da-
für zu suchen, daß der Kranke bestrebt ist, die Selbsthilfestellung des
Beines recht frühzeitig zu kompensieren, und zwar derart, daß die
Einzelheiten der Selbsthilfestellung in manchen Fällen fast vollständig
verdeckt werden. Das Becken senkt sich auf der kranken Seite, durch
eine Biegung der Wirbelsäule wird der Oberkörper in die Mitte des
Bettes gebracht. Jedenfalls haben wir schon bei länger dauernder
Bettlage, wenn nicht eine voll ausgebildete, so doch eine angedeutete
Verkrümmung der Wirbelsäule. Obgleich die ausgesprochen bleibende
Skoliose vor allen Dingen ein Produkt ist des Aufstehens und Auf-
bleibens des Patienten, kann nicht geleugnet werden, daß bei lange
dauernder Bettlage, auch schon während des Krankenlagers, und zwar
besonders bei Nachlassen der Schmerzhaftigkeit eine Verbiegung der
Wirbelsäule sich ausbildet: Die kompensierte Selbsthilfestellung ist in
allen Punkten für den Kranken bequemer.
Demnach müssen diejenigen Fälle, die einen raschen Verlauf zeigen,
so heftig sie auch sind, falls sie nicht in subchronischen oder chro-
nischen Zustand übergehen, für das NichtZustandekommen der Skoliose
die günstigste Prognose geben; wenn diese Kranken aufstehen, wenn
also der Hauptfaktor für das Zustandekommen der Skoliose bei be-
74 H. Ehret,
stehender Selbsthilfestellung in Kraft tritt, ist letztere, wegen des Ver-
schwindens der Schmerzen, kaum noch vorhanden. Dagegen geben die
schlechteren Aussichten diejenigen Fälle, die chronisch verlaufen und
ein Aufstehen des Patienten wegen geringerer Schmerzhaftigkeit dauernd
ermöglichen. Es stimmen somit die theoretischen Erwägungen voll-
ständig mit den tatsächlichen Beobachtungen überein. Demnach wären
die Verhütungsmaßregeln, die wir gegen das Zustandekommen der Skoliose
zu ergreifen hätten, folgende:
a) Einmal müssen wir das schädigende Moment, nämlich das Auf-
sein des Patienten, hinausschieben, bis die Schmerzen, und mit ihnen
die Selbsthilfestellung, wenn möglich ganz verschwunden sind. Je früher
wir den Patienten bei noch vorhandenen Schmerzen gestatten aufzu-
stehen und aufzubleiben, um so mehr setzen wir sie der Gefahr einer
erheblichen Verbiegung der Wirbelsäule aus. Es empfiehlt sich deshalb,
die Ischiaskranken, wenn nur irgend möglich, bis zum Ablauf der Er-
krankung in horizontaler Lage zu lassen. Aeußerer Umstände halber
wird dieses jedoch nur in den seltensten Fällen durchzuführen sein.
Muß und will der Kranke aufstehen, ehe wir es aus jenen Gründen
für angezeigt halten, so können wir ihm das Aufsein unter Verminde-
rung der Skoliosengefahr ermöglichen, indem wir ihn an Krücken gehen
lassen. Auf diese Weise gewinnt der Körper neue Stützpunkte, die
oberhalb der Beckenanomalie einsetzen, so daß letztere, in stehender
Stellung, eine geringere Wirkung auf die Wirbelsäule ausübt. Der
Gebrauch der Krücken ist für jeden ernsteren Ischiasfall, für den Anfang
des Aufstehens um so dringender zu empfehlen, als erfahrungsgemäß
gerade bei den ersten Gehversuchen, die die schmerzhaftesten sind,
dem Drange zur schlechten Körperhaltung nachgegeben wird«
b) Unser zweites Bestreben, und dieses ist in der Praxis am besten
durchzuführen, muß dahin gehen, die schon im Bette sich einleitende
Kompensation der Selbsthilfestellung des Beines durch Becken- und
Wirbelsäuleveränderung unmöglich zu machen. Da das Einhalten der
offenkundigen Selbsthilfestellung, wie wir gesehen haben, den Patienten
Beschwerden verursacht und ihm unter Umständen das Liegen sehr
unbequem macht, was die Hauptursache der frühzeitig auftretenden
Kompensation im Bette ist, müssen wir darauf hinausgehen, diese Haupt-
ursache zu beseitigen und den Kranken von der Unbequemlichkeit und
der Sorge dieser Selbsthilfestellung zu befreien. Dieser Zweck wird
erreicht durch das Anlegen eines festen Verbandes um das befallene
Bein, unter strengster Innehaltung, ja sogar unter einer gewissen Ueber-
treibung der vorhandenen oder mangelhaft entwickelten Selbsthilfe-
stellung des Beines. Diese Fixierung der Beinstellung in der noch
offenkundigen nicht kompensierten Selbsthilfestellung entbindet nicht
nur den Kranken von der ängstlichen Anstrengung der Innehaltung
derselben, sie verhindert auch zum großen Teil das spätere Zustande-
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 75
kommen der Kompensation durch Becken- und Wirbelveränderung; und
zwar hauptsächlich dadurch, daß das Knie in der stärkeren Flexions-
stellung fixiert ist. Ist die ängstliche Sorge des Patienten für die Inne-
haltung der Selbsthilfestellung geschwunden, so ist die Neigung zur Kom-
pensation eine geringere; die Fixierung des Knies in der initialen
übertriebenen Flexion genügt, um ihr Zustandekommen zu verhindern.
In denjenigen Fällen, bei denen das Bein infolge eingetretener Kom-
pensation durch das Becken und die Wirbelsäule in anscheinend nor-
maler Lage im Bette liegt, muß bei oder vor Anlegung des Verbandes
diese Kompensation rückgängig gemacht werden. Es geschieht dies in
der Regel am besten dadurch, daß man den Versuch macht, das kranke
Bein zu abduzieren, nach außen zu drehen und im Hüftgelenk zu beugen.
Dieser Versuch, es bleibt bei schmerzhaften Fällen immer beim Versuch,
da eine Veränderung der Beinstellung gegenüber dem Becken nicht
auftritt, genügt in der Regel, um die kompensatorischen Stellungsano-
nialien des Beckens und der Wirbelsäule wieder rückgängig und die
Selbsthilfestellung wieder offenkundig zu machen : Becken- und Wirbel-
säule folgen der Bewegung, und so wird auf diese Weise eine weitere
Flexion, Abduktion und Rotation vereitelt.
Bei der Anlegung des festen Verbandes kommt es, soll der Verband
ertragen werden und die gewollte Wirkung haben, sehr darauf an, daß
das kranke Bein mit entsprechend flektiertem Knie festgelegt wird. Es
ist dies die Hauptsache, da bei mangelhafter Flexion die Kompensation
nicht nur nicht verhindert, sondern geradezu befördert wird. Oft liegen
die Kranken im Bett, ohne daß eine erheblichere Flexion des Knies,
geringe Beugung ist immer vorhanden, zu sehen wäre. Es rührt dies
daher, daß eine geringe Beugung im Kniegelenk zur Entspannung des
Nervus ischiadicus notwendig ist, während bei Bettlage die stärkeren
Grade der Beugung im Kniegelenk bedingt werden durch die Flexion
im Hüftgelenk. Es wird jedoch diese stärkere Beugung im Knie zum
Teil aus den schon erwähnten Gründen dem Kranken bald unangenehm,
da er in dieser Stellung größeren schmerzhaften Bewegungen ausgesetzt
ist. Jedenfalls verkleinert er die Flexion im Kniegelenk bei gleich-
bleibender Beugung im Hüftgelenk durch Verstärkung der physio-
logischen Lordose im Lendenteil der Wirbelsäule: Die stärkere Flexion
im Knie wird dadurch entbehrlich gemacht, daß sich das Becken nach
vorn neigt, was in liegender Stellung eine Verstärkung der physio-
logischen Lordose bedingen muß. Ischiaskranke, die mit nur unbe-
deutend flektiertem Knie im Bette liegen, zeigen in der Regel eine
sehr starke Wölbung im Lendenteile der Wirbelsäule; es gelingt, die
Hand, ja sogar die Faust an dieser Stelle, ohne die Kranken zu be-
rühren, unter dieselben zu schieben. Es muß deshalb bei Anlegung
des Verbandes immer mit besonderer Sorgfalt auf eine vorhandene
Verstärkung der physiologischen Lordose geachtet werden; wo sie vor-
76 H. Ehret,
banden ist, muß sie, bei und während der Anlegung des Verbandes,
beseitigt werden. Es ist dies leicht zu bewerkstelligen. Dazu bedarf
es nur des Versuches, das Kniegelenk zu flektieren. Eine stärkere
Flexion im Kniegelenk würde eine stärkere Beugung im Hüftgelenk be-
dingen. Dieser stärkeren Beugung, die wie jede Veränderung der
Selbsthilfestellung schmerzhaft wäre, entgeht der Kranke dadurch, daß
er die Bewegungen im unteren Teile der Wirbelsäule ausführt, indem
er das Becken samt Oberschenkel aufrichtet. Auf diese Weise wird
die physiologische Lordose nicht nur bis zur Norm abgeflacht, sondern
sie schlägt in manchen Fällen und unter gewissen Umständen in das
Gegenteil, in eine flache Kyphose um (vergl. Fig. 1, 6 u. 8 der ersten
Arbeit). In einem Wort: Der Verband muß das Bein in der primären
offenkundigen, nicht kompensierten Selbsthilfestellung fixieren ; nur wenn
das gelingt, ist Aussicht vorhanden, daß die Skoliose verhütet wird.
Bis jetzt habe ich den festen Verband unter diesen Gesichtspunkten
in 14 Fällen angewendet, und in keinem dieser Fälle habe ich eine
hochgradigere, schon durch die Kleidung sichtbare Skoliose gesehen.
In Fällen, in welchen die Selbsthilfestellung nur gering ist (es muß
jedoch erst festgestellt werden, ob dieselbe nicht infolge von Kompen-
sation nur gering scheint), kann man sich mit Sandsäcken, Spreukissen
u. s. w. behelfen, dabei ist jedoch täglich darauf zu achten, daß es
nicht zu einer Kompensation der, wenn auch noch so geringen, Selbst-
hilfestellung kommt: Die Lage des Kranken ist richtig, wenn man auf
den ersten Blick Abduktion, Flexion und Rotation nach außen sieht.
Wegen der Schwierigkeiten, die die Kontrolle des Grades dieser Stellungs-
anamalien bietet, rate ich jedoch entschieden, auch in diesen Fällen,
besonders wenn es sich um chronische Formen handelt, den Verband
anzuwenden.
Was nun den Verband und die Anlegung desselben betrifft, so
wäre folgendes zu bemerken: Es hat sich mir der Wasserglasverband
als der zweckmäßigste erwiesen. Der Verband muß das ganze Bein
von den Zehen bis hoch hinauf an den Oberschenkel, in seltenen Fällen
auch die Hüfte, umfassen. Zunächst kommt auf die Haut eine mög-
lichst faltenlos angelegte Flanellbinde; besser eignet sich noch, weil in
manchen Fällen auch die kleinste Falte schmerzhaft empfunden wird,
eine Trikotbinde, da sie sich besser anschmiegt. Die Zehen werden
vorher durch Wattepolster voneinander getrennt. Nach Anlegung der
Flanell- oder Trikotbinde werden die vorspringenden Teile (Malleolen,
Kondylen) mit etwas Watte gepolstert. Nun wird eine ziemlich breite
Gambricbinde um das ganze Bein gelegt und auf diese werden die
reichlich mit Wasserglas getränkten Gazebinden gewickelt. Der Verband
kann durch Einlagen von Schusterspähnen verstärkt werden, so daß
eine dünnere Schicht von Wasserglas genügt, um die erforderliche Steifig-
keit, die möglichst groß sein muß, zu erhalten. Jedoch ist dies bei
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 77
der oft überaus großen Empfindlichkeit der Patienten etwas gewagt, da
nicht selten in der Gegend der Schusterspähne über Schmerzen geklagt
wird. Ist der Verband angelegt, so ist die Hauptsache, die Stellung
des Beines noch einmal zu kontrollieren, wenn nötig zu berichtigen,
und durch Kissen, die mit Papier bedeckt werden können, genau in
derselben zu erhalten, bis der Verband getrocknet ist. So einfach die
Anlegung dieses Verbandes klingt, so erheischt er doch bei akuter
Ischias eine gewisse Geschicklichkeit, da die geringsten Bewegungen
und Berührung oft mit heftigsten Schmerzen verbunden sind. Es
empfiehlt sich deshalb, ein paar Minuten vor Anlegung des Verbandes
derartigen Kranken eine größere Morphiumdosis, etwa 2 cg, subkutan
zu verabreichen. Dadurch wird in den meisten Fällen die Empfindlich-
keit etwas gemildert.
Der Verband bleibt, je nach den Umständen und dem Fall, mindes-
tens 10 Tage, selten länger wie 3 Wochen liegen ; sobald die schmerz-
haften Prozesse sich vermindert haben oder ganz geschwunden sind,
wird die Wasserglashülse unter teilweiser Opferung der Cambricbinde,
aber unter Schonung der Flanellbinde, an der Außenseite des Beines in
gerader Linie aufgeschnitten. Es gelingt dann durch diesen Schnitt den
ganzen Verband, der nun eine brauchbare Hülse von der Form des
Beines darstellt, zu entfernen. Anfänglich wird der Verband nur 1 — 2
Stunden täglich, allmählich längere Zeit entfernt. In der übrigen Zeit,
besonders des Nachts, wird die Hülse wieder angelegt und mit einer
Binde festgelegt. Der das erkrankte Bein in unkompensierter Selbst-
hilfestellung fixierende Verband hat zunächst den Zweck und den Erfolg,
daß er die Skoliose vollständig verhütet oder in geringen Grenzen hält
Zu diesem Zweck kann ich ihn eindringlichst empfehlen. Außerdem hat
er jedoch noch einen anderen, in vielen Fällen für den Kranken selbst
viel wichtigeren Erfolg, nämlich denjenigen, sehr stark beruhigend auf
die Schmerzen zu wirken. Diese schmerzberuhigende Wirkung hängt
wohl von folgenden Verhältnissen* ab; erstens einmal wirkt die absolute
Rnhigstellung des Beines (auch während des Schlafes) günstig. Dieser
Punkt ist von Bedeutung, da bei geringster unwillkürlicher Bewegung die
Schmerzen sehr steigen: der Kranke braucht nicht mehr so ängstlich
auf sein krankes Bein zu achten, er kann gelegentlich einschlafen, ohne
durch heftigste Schmerzen aus dem Schlaf geschreckt zu werden. Außer-
dem hält aber der Verband, sofern er gut angelegt ist, das Bein in der
initialen stark ausgeprägten Selbsthilfestellung fest, so daß der Kranke
in derselben nicht in dem Maße nachläßt, in welchem die Schmerzen
verschwinden; es ist darum die Entspannung eine reichliche. Es gibt
nun eine besondere Kategorie von Ischiasfällen, in welchen die Anlegung
des Verbandes wirklich überraschenden Erfolg hat, so daß die Kranken
die Tage und Nächte die heftigsten Schmerzen empfinden, wie auf einen
Schlag durch den Verband erlöst werden. Es sind dies solche Fälle,
78 H. Ehret,
in welchen die Ischias mit heftigsten Schmerzen auch in den peripheren
und periphersten Aesten, sowie in ihrem Ausbreitungsgebiet einsetzt.
Die heftigsten Schmerzen im Bein legen dasselbe gleichsam krampfhaft
lahm, aus Furcht durch Bewegung die Schmerzen zu verstärken. Sie
hindern jedenfalls, wie wir gesehen haben, das Zustandekommen der
Selbsthilfestellung. Dieses Hindernis, welches an und für sich fQr die
Verhütung der Skoliose nicht ungünstig ist, ist aber andererseits für
die Schmerzen von üblen Folgen, da dadurch dem erkrankten Nerven-
stamm die notwendige Schonung, d. h. Entspannung nicht zuteil wird.
Legt man derartige Fälle, was unter Morphiumwirkung geschehen muß,
unter Herstellung der fehlenden oder mangelnden Selbsthilfestellung in
den festen Verband, so erlebt man, nach Anlegung des Verbandes, ge-
wöhnlich eine plötzliche und dauernde Beseitigung der Schmerzen.
Diese Fälle eignen sich zu dieser Behandlung umsomehr, als sie, was
die Skoliose anbelangt, auch eine günstige Prognose geben: die künst-
lich hervorgebrachte Beinstellung hat kaum Neigung, sich zu kompen-
sieren. Nach Schwund der Schmerzen kehrt, nach dauernder Entfernung
des Verbandes, das Bein bald in die normale Stellung zurück. Insofern
ist also das beste Mittel gegen die Skoliose in manchen Fällen auch
das beste Mittel gegen die Ischias selbst.
Die eigentliche Behandlung einer bestehenden Skoliose bietet wenig
erfreuliches. Ich will hier nur die Anwendung von künstlichen Ver-
längerungen des Beines (Schuheinlagen u. s. w.) kurz besprechen. Der-
artige Maßnahmen geben, wie gesagt, wenigstens solange die Schmerzen
bestehen, keine günstigen Resultate. Die Ursachen dieses Fehlschlagens
sind schon im Eingang klar gelegt worden. Nur zwei Punkte möchte
ich besonders betonen : 1) Hat man es mit einer alten Skoliose zu tun,
die von einer, erst nach langer Dauer ganz geschwundenen Ischias
zurückgeblieben ist, so kann man dieselbe zweifellos günstig beein-
flussen durch andauernde Erhöhung der Schuhsohle auf der erkrankten
Seite. Dabei ist es jedoch nötig, gleicH eine ziemlich beträchtliche Dicke
zu wählen. In einem Fall habe ich mit einer Einlage von 3 cm inner-
halb 18 Monaten eine ziemlich erhebliche Skoliose verschwinden sehen,
die von einer Ischias zurückgeblieben war, welche 4V2 Jahre gedauert
hat. 2) Unter Umständen können wir durch Erhöhung der Fußsohle
auf der gesunden Seite dem Kranken das Gehen erleichtern, der trotz
unseres Rates, nicht bis zur vollständigen Beseitigung der Schmerzen
im Bett aushalten kann. Die Erhöhung der Schuhsohle auf der gesunden
Seite erleichtert dem Kranken die Abduktion des kranken Beines. Da-
durch, und das gibt die Kontraindikation dafür ab, wird jedoch die
Neigung zur Skoliosenbildung vergrößert, so daß dieses für den Kranken
momentan sehr willkommene Hilfsmittel in der Folge unangenehme
Erscheinungen machen kann.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich, daß die Behandlung der
Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias. 79
Skoliose bei und nach Ischias hauptsächlich eine prophylaktische ist.
In dieser Beziehung können wir jedoch durch den festen Verband,
welcher nach den oben dargelegten Gesichtspunkten angelegt ist, ent-
schieden viel erreichen. Auch für die Behandlung der Ischias selbst
leistet dieser Verband in vielen Fällen willkommenes, in manchen
ausgezeichnetes.
Literatur.
1) Allbn, f. H., Galvanisme in the treatment of sciatica. Therap. Öaz.,
Detroit, Vol. 16, 1900, p. 368—369.
2) Ariemzo, G., La luce elettrica bleu nella cura dell nevralg. Ann. di
elett. med., Napoli 1903, p. 67—74.
8) Bayliss, R. A., The application of hydrochloric acid in sciatica. Brit.
med. Joum., London 1898, p. 1550.
4) BucsLLi, N., 8al alcuni metodi speciali di cura della nevralgia sciatica.
Clin. med. ital, Milano 1898, p. 649—656.
5) — n methodo elettroterapico nell. nevrag. sciatica. Ebenda, 1898, p. 720.
6) Bailby, G. L., Sciatica. Cincin. Lancet Clinic, 1903, p. 527—531.
7) BocRO, Le iniezioni snttocutan. d'acido fenico nell cura dell nevralg.
Snppl. al. Policlin., Roma 1901, T. 7, p. 628.
8) Carri^rb, G., et Vanvbrts, J., Sur un cas de sciatique gu^ri par une in-
jection intra-rachidienne de cocame. Nord Med., Lille 1901, p. 139 — 140.
9) Capuccio, La scoliose sciatique ou signe de Vangetti. Gaz. hebd. de
Paris 1902, p. 1225—1228.
10) Capblli, L., Contribato alla deformit. del tronco nella sciatica. Arch.
di ortop., Milano 1898, T. 18, p. 177—181.
11) Capitax, Le traitement 61ectrique des n^vralgies. Med. mod., Paris
1900, p. 403, 413 u. 414.
12) Castro, Gonzalez J., Tratamiento de la neuralg. sciatica porla cauteri-
zacion del helix. Rev. di med. y cirurg. prat., Madrid 1898, p. 498 — 502.
13) Dennu, La scoliose dite sciatique. Rev. d'orthop., T. ö, 1899.
14) D^^jBRiKB, Traitement de la sciatique chronique. Journ. de med. intern.^
Paris 1901, p. 824—825.
15) Da Costa (J. M.), The treatment of sciatic neuritis. Med. Fortnightly^
St. Louis 1899, p. 103.
16) Deidbshbihbr, G., Ueber Resultate der Behandlung der chronischen
Ischias durch blutige Dehnung des Nervus ischiadicus. Inaug.-Diss.
Straßburg, 1900.
17) DxxBOis, Traitement des n^vralgies rebelles par les courants Continus
k intensitö ^lev^e. Bull. Soc. m6d. de Reims, 1898, p. 225—228.
18) — Deux cas de növralgie du sciatique et de ses branches d'origine
grippale. Joum. de Neurologie, Bruxelles 1900, T. 5, p. 131—135.
19) Durand, N6vralgie sciatique gu^rie par le gaüacol Chloroform^ satur^
d'orthoforme. Union med. de Nord-Est, Reims 1900, p. 131 u. 132.
20) DicKSON, H., Le traitement ^lectrique de la sciatique. Bull. off. Soo.
franp. d'Electrother., Paris 1900, p. 62 u. 63.
21) Dbbuck, 0., Even geval van abnormal Ischias. Med. Weekblatt^
Amsterdam 1898—1899, p. 221.
22) EuLBNBURO, A., Zur Pathologie und Therapie der Neuralgien. Berl.
klin. Wochenschr., 1898, p. 721—725.
80 H. Ehret, Weitere Beiträge zur Lehre der Skoliose nach Ischias.
23) Eljasz Radzikowbki, S., Behandlung der Ischias durch innere Ver-
abreichung von Salzsäure. Przegl. lek., Krakow 1898, p. 549 u. 565.
24) Eichhorst, H., Ueber Neuralgien. Dtsch. klin. Wochenschr., Wien u.
Berlin 1901, Bd. 6, Abt. 2.
25) Ehret, Zur Begutachtung der erwerbsbeeinträchtigenden Folgen der
Ischias. Monatsber. f. Unfall, Bd. 7, 2, 1900, p. 37.
26) EsfiTiK, F., Traitement mecanique de la sciatique. Joum. de Med.,
Paris 1900, T. 23, p. 16—18.
27) GiBBES, J. M., Treatment of sciatica. Australas. Med. Gaz., Sydney
1898, p. 62.
28) Ghetti, A., Una nuova cura del sciatic. Gaz. de osp. Milano, 1900,
T. 21, p. 1195-1196.
29) Hirschkorn. J., Zur Behandlung der Ischias. Gentralbl. f. d. ges.
Ther., Wien 1898, p. 513—524.
30) — Ischias gonorrhoica. Verhandig. d. dtsch. dermatolog. Gesellsch.,
6. Kongr., Wien (Braumüller) 1899, p. 466.
31) Krafft, f.. Zur Ischiasbehandlung. Therap. Monatsh., Berlin 1903.
32) Laporte, Charles, Du traitement de la sciatique et en particulier de
son traitement par les injections de cocaine intra- et extradurales.
Paris (L. Berger) 1901, p. 623.
33) Munter, L., Du traitement de la sciatique par le massage. Gaz. med.
de Liege, 1897—1898, p. 384—386.
34) Marie, P., Crouzon, 0., Quelques r^sultats du traitement des n^vralgies
par des injections sous-cutan6es d'air athmosph^rique. Bull, et m6m.
de la soc. m^d. de hop. de Paris, 1902, p. 1085 et 1088.
35) Miglibwitsch, A., Vingt cas de nevralgie sciatique, traitös par Fölon-
gatiou, les mouvements combin^s etc. Rev. de kin^sic, 1903, p. 108 — 112.
36) Marie, P., et Guillain, G., Sur le traitement de la sciatique par in-
ject] on intra-arachnoidiennes de doses minimes de cocaine. Soc. M6d.
des höp. de Paris, T. 18, 1901, p. 328.
37) Marty, A., Du traitement de la sciatique rebelle par le hersage. Tribun,
m^d., Paris 1898, T. 30, p. 446—449.
38) Mesnard, L., Sciatique et dilatation de Testomac. Ann. de la policlin.
de Bordeaux, 1897—1898, p. 663—665.
89) Pulli (F.), L'iniezione alla Bier nella sciatica. Riforma med., Roma
1901, p. 519.
40) Pommbbol, Sciatique chronique gu^rie par une piqure de vipere. Gaz.
des höp., Paris 1900, T. 73, p. 876.
41) Parascandolo, C., La cura chirurgica della nevralgia. Arch. med.,
Napoli 1900, T. 2, p. 941—943.
42) Pj^rez - Valdes, R., Tratamiento de la sciatica par las inyeccions de
glicero-fosfatos alculinos. Rev. de mid. y cirurg. prat., Madrid 1898,
p. 689—694.
43) Renault, C, Du traitement de la sciatique par une m6thode 61ectrique.
Journ. de m^d., Paris 1898, T. 10, p. 253.
44) SuBVE, Some thing about the nature and treatment of sciatica. St. Paul
med, Journ., Vol. 2, 1900, p. 540—546.
46) Stanowski, Der Wert der Elektrizität bei der Behandlung der Ischias.
Dtsch. med. Wochenschr., Bd. 24, 1898, 1.
46) ToMMASOLi, F., Della sciatica e me divers, terapic. Raccoglitore med.
Fort., 1900, p. 169—175.
Nachdruck yerbotoi.
VL
lieber tropische Leberabscesse.
Von
Dn J. A. Eooh,
Klinik Soerabaia (Java).
(Hierzu 1 Abbildung im Texte.)
Das Thema ^Leberabsceß^ wurde in den letzten 15 Jahren bereits
so vielfach behandelt, daß man mit der einschlägigen Literatur eine
kleine Bibliothek füllen könnte. Das klassische Werk von Langen-
buch (34) und von Sachs (59), das anziehend geschriebene Buch von
Patric Manson (47), sowie das von Scheube (61) und die sorgfältige
Abhandlung von Smit (63) geben über dieses Thema eine vortreffliche
Uebersicht während kleinere Beiträge meiner holländischen Landsleute
Pel (48), Maasland (41), Smit (63), Peters (49), Pruis (50) und
van Dyk (10) noch auf eine Anzahl interessanter Einzelheiten und
Komplikationen hinweisen.
Wenn ich es wage, dieses Thema nochmals zu behandeln, so findet
dies seinen Grund in der großen praktischen Bedeutung der Sache.
Wie viele Niederländer gehen noch jährlich an Leberabsceß zu Grunde,
ein&ch darum, weil sie nicht frühzeitig genug ärztliche Hilfe in An-
spruch nehmen I Wie viele sterben eines plötzlichen, rätselhaften Todes,
vrährend ein schleichender Leberabsceß mit Perforation die geheimnis-
volle Ursache war ! Wie leicht hätten die meisten von ihnen durch eine
einfache Operation gerettet werden können! Neben Cholera, Dysenterie
und Malaria sind es denn auch die Leberabscesse, die der Tropenfurcht
der Niederländer heute noch immer zu Grunde liegen und verursachen,
daß ein Land, so groß wie halb Europa, noch weniger Holländer be-
herrbergt, als eine unserer Provinzialstädte. Und doch hat gerade der
Arzt bei Leberabsceß ein so äußerst dankbares Arbeitsfeld. Während
ohne operative Hilfe die Mortalität mit 80 Proz. (Rouis) oder 76 Proz.
[Castro (9)J angegeben wird, kann sie durch eine einfache Operation
Mitten, a. d, GremceWeten d. Medizin n. Chlnircie. 2IIL Bd. Q
82 J. A. Koch,
leicht auf 20—14 Proz. eingeschränkt werden. Von 16 Patienten, die
in der Klinik zu Soerabaia von mir operiert wurden, genasen 14 1).
Wenn man nun bedenkt, daß die 2 Patienten, bei denen die Operation
keinen Erfolg hatte, auch vor der Operation schon so schwach waren,
daß an eine Heilung auf Grund der Krankengeschichte nicht mehr
gedacht werden konnte^), dann folgt daraus die erfreuliche Tatsache,
daß alle Kranken mit Leberabsceß, die rechtzeitig ope-
riert wurden, genasen.
Es sei mir nun gestattet, die einzelnen Phasen des so kompli-
zierten Krankheitsbildes etwas näher zu besprechen, während am Schluß
die Krankengeschichten wiedergegeben werden sollen. Allererst etwas
über die Aetiologie.
Pyämische Leberabscesse, eiterige Echinococcuscysten, Abscesse nach
Entzündung des Processus vermiformis u. s. w. bleiben außer Besprechung,
so daß wir uns allein auf die tropischen Leberabscesse beschränken.
Manson definiert sie als eine Suppuration der Leber, die speziell in
warmen Klimaten vorkommt, bei männlichen Europäern am häufigsten
und meistens in Verbindung mit Dysenterie. Diese Auffassung
ist richtig. Nur muß dann unter Dysenterie die Amöbendysenterie
verstanden werden, die besonders häufig in den Tropen vorkommt Die
Dysenterie kommt, wenn wir darunter den bekannten Symptomenkomplex
verstehen : häufiger Abgang vom Schleim, Blut und Eiter mit Tenesmus,
in beinahe allen Klimaten vor, außer in den arktischen, sie ist durchaus
aber keine einheitliche Krankheit. Im Gegenteil, unter dem Namen
Dysenterie werden ganz verschiedene Krankheitsbilder durcheinander
geworfen, die nichts miteinander gemein haben. In den gemäßigten
und kälteren Zonen kommt die durch den Bacillus dysenteriae
Shioa verursachte Dysenterie vor, die meistens epidemisch verläuft
(epid. Dysenterie). Auch endemisch tritt in diesen Gegenden Dysenterie
auf (Asyldysenterie), bei der als ursächlicher Erreger eine Varietät des
Bacillus von Shioa gefunden wurde [Spronck (64)]. Im Rectum und
Kolon findet man hierbei flache Geschwüre, deren Ränder nicht unter-
miniert sind, also eine krupös-diphtheritische Entzündung.
In den Tropen kommt die durch die Amoeba dysenteriae
LÖSCH verursachte Dysenterie vor. Diese Amöbendysenterie sucht ihre
1) In Wirklichkeit war die Anzahl der von mir operierten Kranken
mit Leberabsceß größer, nämlich 21, doch wurde von 5 Patienten die Kranken-
geschichte nicht aufgezeichnet. . Auch mein Freund Dr. Kobfobd, mit dem
ich stets zusammenarbeitete, operierte eine gleiche Anzahl Patienten mit dem-
selben Erfolge, so daß unsere gesamte Erfahrung sich in den Jahren 1896
— 1902 auf ungefähr 42 Pat. erstreckte, von denen 87 Yg Proz. genasen.
2) Der eine Patient hatte bereits vor der Operation einen Durchbruch
des Abscesses in die Lunge mit Lungengangrän (Pat. 4), und der andere
bereits eine Perforationsperitonitis (Pat. 5).
Ueber tropische Leberabscesse. 83
Opfer mehr zerstreut auf, besonders in den feuchten, warmen Ge-
genden. Sie zeigt eine besondere Neigung zu Rezidiven und Exacer-
bationen, wodurch ein chronischer und schleichender Verlauf entsteht.
Die Entzündung des Kolon ist hier nicht eine krupös-diphtheritische,
sondern eine phlegmonöse. In der Submucosa entwickelt sich ein
Exsudat, das durch die Mucosa durchbricht und dann ein Geschwür
mit stark unterminierten Rändern hinterläßt. Untersucht man die De-
jektionen dieser Patienten, dann findet man sehr viele Amöben. Diese
Dysenterieamöben von Lösch sind 3— 5mal größer als die gewöhnlichen,
unschuldigen Amoebae coli, die auch bei vielen gesunden Personen ge-
fanden werden. Sie sind viel zahlreicher und beweglicher als Amoeba
coli und können in allen Schichten der Darmwand vorkommen, be-
sonders in der Nähe der Ulcera. In den Dysenterieamöben liegen oft
rote Blutkörperchen.
Gerade nach dieser Amöbendysenterie sieht man sehr oft Leber-
abscesse entstehen, was nach der epidemischen Dysenterie in den ge-
mäßigten Zonen nicht der Fall ist.
Es lag also auf der Hand, auch bei Leberabscessen nach Amöben
zu suchen. Die Resultate dieser Untersuchungen waren sehr ver-
schieden. Einige fanden Amöben im Eiter, andere nicht, aber wohl in
der Absceßwand, im umliegenden Lebergewebe, oder in den Leber-
kapillaren (Lafleur). Wieder andere fanden im Eiter nur Staphylo-
kokken, Streptokokken, Diplokokken, Bacterium coli commune u. s. w.
und keine Amöben. In einigen alten großen Abscessen war der Eiter
selbst steril.
Als sicher können wir vorläufig annehmen, daß ziemlich oft Amöben
in tropischen Leberabscessen gefunden werden. Vermutlich sind diese
mit den Dysenterieamöben identisch. Da in allen Schichten der Darm-
wand die Amöben gefunden werden, ist es verständlich, daß sie durch
die Bahnen der Vena portae in die Leber gelangen können.
Auf welche Weise die Amöben nun eigentlich den Leberabsceß
zur Entwickelung kommen lassen, ist nicht recht klar. Einige meinten,
daß die Amöbe selbst die Ursache der Eiterbildung sei. Ihre Beweg-
lichkeit und die Eigenschaft, auch in das gesunde Lebergewebe einzu-
dringen, sollen das schnelle Wachstum des Abscesses erklären. Andere
waren der Meinung, daß die Amöben Staphylokokken, Streptokokken
und andere pyogene Bakterien mit sich führen und so nur als Träger
der Eiterbildner dienten. Gelöst ist diese Frage noch nicht.
AufEallend ist es nun, daß, während allgemein die Amöbendysenterie
als Ursache der Leberabscesse angenommen wird, einige diesen Zu-
sammenhang auf das bestimmteste verneinen. Als Grund hierfür muß
wohl angenommen werden, daß, wovon ich mich selbst habe überzeugen
können, auch in den tropischen Ländern die Dysenterie so äußerst
verschieden verläuft. Zunächst ist an die Möglichkeit zu denken, daß
6*
84 J. A. Koch,
die epidemische und endemische Dysenterie der gemäßigten Zonen auch
in den Tropen vorkommt. So sah ich selbst wiederholt viele Patienten,
auch Kinder, an epi- oder endemischer Dysenterie erkranken, die wieder
in sehr kurzer Zeit oder ohne Behandlung genasen, ohne jemals wieder
Rezidive zu bekommen. Wenn solche Patienten keinen Leberabsceß
bekamen, so ist das nicht auffällig; vermutlich handelte es sich in diesen
Fällen gar nicht um eine Amöbendysenterie.
Auffallend ist es ferner, daß auch die zu hartnäckigen Rezidiven
Anlaß gebenden leichten Formen der Amöbendysenterie in der Regel
nicht als solche erkannt werden^). Bei den leichteren Formen der
Amöbendysenterie klagt der Patient wohl über etwas dünnen Stuhlgang,
aber er hält dies für gewöhnliche Diarrhöe. Wohl geht er 4 — ömal
täglich zu Stuhl, dieser ist aber nicht so besonders dünn und der ganze
Zustand schwächt den Patienten nur wenig. Nach 5—6 Tagen lassen
überdies die Leibschmerzen nach und der Patient beunruhigt sich nicht
weiter. Wohnt Patient in der Nähe eines Arztes, so wird er vielleicht
um Rat fragen, wenn die Diarrhöe bereits 14 Tage gedauert hat.
Wohnt er dagegen abgelegen, so läßt er die Sache einfach gehen, und,
wenn er früher an Obstipation litt, dann ist er vielleicht selbst erfreut,
daß der Stuhlgang so bequem von statten geht. Untersucht man in
solchen Fällen die Dejektionen genauer, dann findet man auch im chro-
nischen Stadium noch deutlich Schleim und Blutstreifchen, wovon ich
mich wiederholt überzeugen konnte.
Zur Sektion kommen diese Formen von leichter katarrhalischer
Dysenterie nicht. Wenn hier auch nicht die ausgebreiteten submukösen
Phlegmonen und fistulösen Gänge der ulcerösen und gangränösen
Dysenterie entwickelt sind, so kommen doch kleine erbsengroße Darm-
geschwüre auf den Falten der Mucosa auch hier vor, ja, aus der Sektion
mancher an Leberabsceß Gestorbenen ergibt sich, daß noch tiefe alte
Ulcera vorhanden sein können, während bereits seit langer Zeit der
Stuhlgang vollständig normal geworden war. Stellt man einem derartigen
Patienten einige Monate später die Frage, ob er jemals an Dysenterie
gelitten hat, dann wird dies bestimmt verneint. „Diarrhöe, ja, die hätte
er wohl einige Wochen lang gehabt, aber nicht besonders dünn und
ohne daß sie ihn besonders schwächte. Blut wäre nie im Stuhlgang
gewesen, wohl ab und zu etwas Schleim." Obwohl diese Patienten also
Wochen- oder monatelang an Amöbendysenterie gelitten haben, die eine
so starke Neigung zu Rezidiven hat, rechnen sie sich selbst am aller-
wenigsten unter die Dysenteriekranken.
Hierin liegt meines Erachtens dann auch der Grund, warum noch ein-
zelne amerikanische und englische Aerzte in den Tropen die Dysenterie nicht
1) Es müßte in allen derartigen Fällen eine mikroskopische Unter-
suchung der Dejektionen stattfinden.
üeber tropische Leberabscesse. 85
als Ursache von Leberabscessen anerkennen wollen. Auf der einen
Seite ist nicht jede dysenterische Affektion eine Amöbendysent^rie, auf
der anderen Seite werden die leichten Formen dieser meistens übersehen.
Ich hatte das Glück, daß meine 16 Patienten, über die weiter
unten näher berichtet werden soll, alle den gebildeten Ständen angehörige
Personen waren, so daß sie alle über ihre Vergangenheit' und ihre Be-
schwerden richtige und scharfe Angaben machen konnten. Von den
16 Patienten erklärten 13 Dysenterie gehabt zu haben und 6 waren
auch bei der Operation noch nicht ganz genesen. Die 3 übrigen hatten
„Dickdarm- oder Mastdarmkatarrh'' während mehrerer Wochen oder
Monate gehabt. Ich erachte mich denn auch zu der Schlußfolgerung
berechtigt, daß bei allen 16 Patienten dem Leberabsceß
Amöbendysenterie vorangegangen war.
Eine weitere schwierige Frage in der Aetiologie des Leberabscesses
ist die, weshalb unter den europäischen Bewohnern die Männer so oft,
die Frauen und Kinder so selten hieran erkranken, während es eben-
ÜEÜIs auffällig ist, daß männliche Europäer viel empfänglicher sind als
männliche Inländer. Die Antwort, die Langenbuch ^) auf beide
Fragen gibt, ist die, daß die europäischen Männer eine unzweckmäßige und
unmäßige Lebensweise führen. Manson, Scheube und andere schlössen
sich dieser Erklärung an und nehmen auch eine unmäßige Lebensweise
der männlichen Europäer als die prädisponierende Ursache für Leber-
abceß nach Amöbendysenterie an. Wie sehr nun auch diese hygienische
Lebensweise sonst verurteilt werden muß und wie schnell auch der
Alkohol in den Tropen einerseits das Muskel- und Nervensystem
schwächt und andererseits Leberhypertrophie verursacht, einen Ein-
fluß auf die Entstehung von Leberabsceß konnte ich nicht
feststellen.
Meine 16 Patienten lebten alle sehr mäßig, ja einzelne genossen
niemals Alkohol. Auch bei den anderen hier nicht besprochenen Pa-
tienten war dies der Fall. Ich glaube darum auch nicht, daß in der
Lebensweise die Ursache gelegen ist, weshalb europäische Männer so
viel öfter Leberabsceß erwerben als europäische Frauen und Kinder.
Die Ursache ist vielleicht eine ganz andere: Der ganze Verdauungs-
1) Sehr treffend sagt Lanobnbüch: Ein reich mit Speisen und Qe-
tr&Dken versehener Tisch ersetzt vielen Männern in den Tropen, was ihnen
sonst an Vergnügungen abgeht Scharfe und gepfefferte Gewürze regen
dabei den Appetit an, der wegen der Wärme und des Mangels an Körper-
bewegung sonst fehlen würde. Auf diese Weise wird doch viel gegessen
and scharfe alkoholische Getränke müssen dann den durch die scharfen
Speisen entstandenen Durst wieder löschen. Fügt man hier noch einen
viel zu reichlichen Gebrauch an Kaffee und Tee und einen großen Miß-
brauch mit Abführmitteln hinzu, dann muß jedermann sich wohl verwundern
über den großen Strom schädlicher Stoffe, die die Leber täglich passieren.
86 J. A. Koch,
apparat funktioniert bei Männern, Frauen und Kindern nicht ganz gleich.
Jeder Arzt sieht täglich, daß lästige Obstipatio alvi bei Frauen viel mehr
vorkommt als bei Männern. Diarrhöe und Dysenterie sah ich in Indien
mehr bei Männern als bei Frauen. Kinderdysenterie verlief in anderer
Weise und gutartiger als bei Männern und wurde dann auch häufig —
obgleich frequente dünne Stühle, mit Blut und Schleim gemengt, ab-
gingen — einfach als Kinderproctitis bezeichnet. Da nun die Leber
ein wichtiger Teil des großen Verdauungsapparates ist, so kann es nicht
verwundern, daß diese in Uebereinstimmung hiermit bei Männern viel
häufiger krank wird. Wenn wir weiter bedenken, daß besonders Ruhe
und horizontale Lage kräftige Faktoren für eine schnelle und bleibende
Heilung der Dysenterie sind, und wie gerade Ruhe von den europäischen
Männern beinahe niemals in genügender Weise gepflegt wird, dann
finden wir hierin schließlich eine genügende Erklärung der rätselhaften
Tatsache, daß es ganz besonders die männlichen Europäer sind, die
an Leberabsceß leiden.
Warum männliche Europäer soviel öfter Leberabsceß erwerben als
männliche Inländer? Ich möchte darauf antworten, daß dies mit einer
angeborenen Disposition zusammenhängt, also seinen Grund in einem
Rassenunterschied hat, ebenso wie in Europa Kaukasier und Israeliten
für verschiedene Krankheiten nicht gleich empfänglich sind. Warum
erkranken in Indien mehr Holländer an Denguefieber und Rubeolae als
Javanen? Warum verläuft Syphilis beim Inländer, auch ohne jede
Therapie, dennoch meistens verhältnismäßig leicht? Warum heilen
bei der braunen Rasse die gonorrhoischen Entzündungen so leicht spon-
tan und haben die javanischen Frauen so selten gefährliche Salpingo-
oophoritis? Das alles ist eine Rasseneigentümlichkeit; sie besitzen eben
gegen diese Krankheiten ein größeres Widerstandsvermögen.
Ebenso nun sind die Inländer weniger empfänglich für Leberabscesse
nach Amöbendysenterie; ihre Leber wird weniger leicht infiziert. Eine
Eigenschaft, die sie ihrer Rasse verdanken und nicht ihrer einfacheren
Lebensweise.
Wir wollen jetzt einen Augenblick die Diagnose und den Verlauf
der Leberabscesse ins Auge fassen. Es gibt nur wenige Krankheiten,
bei denen die Sjrmptome mehr wechseln. Des klaren Verständnisses
halber wollen wir erst eine einfache kurze Krankheitsgeschichte eines
meiner Patienten folgen lassen, um danach einzelne Symptome noch
etwas ausführlicher zu besprechen.
Herr v. L, 28 Jahre, Beamter an einer Zuckerfabrik in Kediri, hatte
seit 8 Wochen schmerzhafte Beschwerden in der Magengegend, ab und zu
mit üebelkeit verbunden. Er tat aber seine gewöhnliche Arbeit, mußte
Geschäfte halber in Soerabaia sein und kam zufllllig in meine Sprech-
stunde, um ein Mittelchen gegen seine Magenbeschwerden zu erfragen. In
den letzten Wochen war er auffallend mager geworden. Von Fieber
Ueber tropische Leberabscesse. 87
wußte er nichts. Vor einem Jahre hatte er in geringem Maße Dysenterie,
die niemals vollkommen geheilt war.
Der früher fröhliche kräftige junge Mann fühlt sich in den letzten
Wochen stark niedergeschlagen. (Als ich ihm sagte, daß er einen Leberabsceß
habe, lachte er mich erst herzlich aus.)
Status praesens: Die Gesichtsfarbe ist blaß und etwas gelb. Die
Lippen sind blaß. Puls 90, Temperatur abends 38 ^
Bei der Untersuchung zeigt sich die Leber vergrößert Nach oben
reicht sie in der Papillarlinie bis zur sechsten Rippe, nach unten besteht
eine ballonförmige Hervorwölbung unter dem rechten M. rectus abdominis,
die bis auf 5 cm an den Nabel heranreicht. Obschon die Haut hier nicht
verdickt und normal beweglich ist, hat der Tumor doch einen so harten
scharfen Eand, daß man meinen könnte, denselben noch innerhalb der
Bauchwand selbst zu fühlen. Der Perkussionston ist hier gedämpft und
die Stelle ist spontan und bei Druck schmerzhaft. Bei tiefer Lsspiration
senkt sich die obere Lebergrenze ly^ Pinger breit, die untere kaum 1 cm.
Harn wird nur in geringen Mengen abgeschieden, ist dunkel, ohne
Eiweiß und enthält Spuren Gallenfarbstoff. Faeces, dreimal pro die, ent-
halten Schleim, Blutstreifchen und etwas Eiter.
Diagnose: Leberabsceß an der unteren Vorderfläche, ziemlich klein,
vermutlich verwachsen mit der vorderen Bauchwand. Dysenterie.
Operation am 5. März 1900. Schiefer Schnitt unter und parallel mit
dem Rippenbogen. Beim Durchschneiden des M. rectus mit seiner Scheide
zeigt sich das präperitoneale Fettgewebe unter dem Muse rectus etwas
ödematös. Seitwärts wird die Laoision nicht weiter vergrößert und nur
in der Mitte wird vorsichtig Schicht für Schicht in die Tiefe eingedrungen.
Das präperitoneale Fettgewebe ist dabei mehr und mehr infiltriert, „kuchen-
artig^ und blutreich. Noch tiefer gehend, kann man Peritoneum und
Leber nicht mehr voneinander unterscheiden, und plötzlich kommt Eiter
hervor. Die kleine Oeffnung wird nun sehr vorsichtig erweitert, um ohne
Gefahr die zirkumskripten Adhäsionen nicht zu überschreiten. Bei der
Digitaluntersuchung zeigt sich die Absceflhöhle etwas mehr als apfelgroß
and dicht beim Magen gelegen. Ein Drain und ein Gazestreifen werden
in die Höhle gebracht.
Nach 2 Tagen wird der Drain entfernt und nur tamponiert. Nach
10 Tagen ist die gut granulierende Leberöffnung geschlossen. Unter
Jodofonnlavement heilt auch die Dysenterie schnell. Nach 18 Tagen ver-
läßt Patient geheilt die Klinik.
Das soeben beschriebene Krankheitsbild ist viel einfacher als
wir es in der Kegel antreffen. Doch sei es gestattet, an diesem Bei-
spiele einige Symptome etwas ausführlicher zu besprechen,
Geringes Fieber haben die Patienten meistens täglich, z. B.
abends 38 ^ doch ist es ihnen selbst unbekannt. Einige haben vor-
übergehend auch hohes Fieber, zwischen 39^ und 40 ^ besonders nach
stärkerer Körperbewegung am Tage, vor allem nach einer Reise ^). Die
1) Nicht selten sieht man auch beim Beginn der Absceßbildung
hohes Fieber auftreten, bis zu 39,8 ö, während später, wenn der Eiterherd
bereits eine gewisse Größe erreicht hat, hektisches Fieber bis 38,2^
(Abendtemperatur) in den Vordergrund tritt
88 J. A. Koch,
Temperaturkurve schwankt stark und paßt dadurch in kein anderes
Erankheitsbild hinein.
Zu Unrecht wird oft an Malaria gedacht, selbst so weit, daß Malaria
als ätiologisches Moment angenommen! wird. Schüttelfröste, womit der
Fieberanfall oft bei Leberabscessen eingeleitet wird, geben um so leichter
zu diesem Irrtume Veranlassung. Eine gewissenhafte Untersuchung
nach Plasmodien wird im allgemeinen diese Verwechselung verhüten
und hat mir persönlich oftmals gute Dienste erwiesen. Außerdem wird
man stets fehlgehen, eine Lebervergrößerung der Malaria zuzuschreiben,
wenn nicht gleichzeitig eine beträchtliche Milzvergrößerung vorhanden ist
Abmagerung, viel schneller entwickelt als mit dem geringen
Fieber in Uebereinstimmung steht, fehlt niemals. Man achte also be-
sonders auf das sogenannte „unerklärliche Abmagern^.
Viele Patienten bekommen einige Wochen vor der Entwickelung
des Abscesses Hepatitis mit heftigen Schmerzen. Andere haben nur
ein Gefühl von Schwere und Vollsein in der Lebergegend, Schmerz
ist aber im allgemeinen eine nur wenig in den Vordergrund tretende Er-
scheinung. Oft muß man eindringlich nach etwaigen Schmerzen fragen.
Selten werden sie dann als Früherscheinung vermißt. Heftiger Schmerz
kommt nur selten vor. Wenn sehr konstant dieselbe Stelle in der
Lebergegend als schmerzhaft angegeben vdrd, dann befindet sich hier
vermutlich ein oberflächlicher Absceß. Wenn bei tief gelegenen Abscessen
Schmerz vorkommt, ist derselbe meist diffus und die schmerzhaften
Stellen wechseln stark. Tiefe Inspiration, Husten, Gähnen, Erbrechen
oder Schütteln des Oberköjpers verursachen oft Schmerzen oder ver-
stärken dieselben.
Schulter schmerzen kommen ungefähr in 15 Proz. der Fälle
vor, am Schulterblatt, Acromion, Clavicula, Nacken oder Arm. Irradieren
des N. phrenicus auf den vierten Cervinalnerven wird als Ursache an-
gegeben.
Tussis hepatica kommt ziemlich oft vor. Ich sah sie ungefähr
bei der Hälfte meiner Patienten. Für die lokale Diagnose hat sie
keinen Wert. In vielen Fällen sah ich sehr heftiges Husten, während
doch der Absceß so weit wie möglich von der Lunge entfernt war^.
Langenbuch (34) faßt es als eine Reflexerscheinung des Nerv, phre-
nicus auf.
Es ist selbstredend, daß das Husten eine gründliche Untersuchung
der Lungen erfordert. Findet man Pleuritis, Rhonchi in der Nähe der
1) So gebrauchte Patient No. 2 (Dr. 0.) bereits seit langer Zeit Pulvis
Doveri, um den sehr lästigen Hustenreiz zu verhindern, besonders nachts.
An anderer Stelle war denn auch die Diagnose auf einen Absceß unter
dem Diaphragma gestellt. Später ergab sich jedoch, daß der Leberabsceß
gegen Magen und Kolon zu entwickelt war.
Ueber tropische I^eberabscesse. 89
LoBgenlebergrenze , KompressionserscheinungeD der Lunge oder eine
lokaJe Hervorwölbung des Diaphragma nach oben, dann werden
diese Erscheinungen gewiß ihren Wert behalten. Sie weisen auf eine
zu erwartende Perforation des Leberabscesses nach der Lunge. Aber
der Hustenreiz allein, selbst sehr heftiges Husten, beweist durchaus
nicht, daß der Absceß in der Nähe des Diaphragma gelegen ist.
Inspektion: Sehr auffallend ist die gelbblasse Gesichtsfarbe der
Patienten. Diese hält die Mitte zwischen der fahlblassen Farbe der
Krebskranken im letzten Stadium und der gelben Farbe der ikterischen
Patienten. Die Conjunctiva ist blaßgelb und wachsartig. Der Gresichts-
aasdruck zeigt das Bild eines Schwerkranken.
Sehr oft fiel mir der Gang des Patienten auf. Bei vielen
Kranken stellte ich dadurch unwillkürlich bereits bei ihrem Hereintreten
die Diagnose, obgleich der Absceß noch im Anfangsstadium war und
der Kranke selbst niemals an einen Leberabsceß gedacht hätte. Es ist,
als ob die Patienten mit ihrem Leberabsceß unter dem Arm laufen.
Aenßerst vorsichtig und mit kleinen Schritten kommen sie herein.
Ober- und Unterarm gegen die Lebergegend gedrückt. Dabei laufen
sie etwas vornüber und vollständig schief, mit deutlicher Dorsalskoliose
konvex nach links, um die Muskeln an der rechten Rumpfseite dadurch
zu entspannen. Beim Niederlegen sieht man etwas Aehnliches, wenn auch
weniger konstant Bittet man den Patienten, sich auf eine Ruhebank
zu legen, dann setzt er sich erst vorsichtig hin. Dann dreht er lang-
sam die Leberseite nach unten und hält seinen Körper beim Niederlegen
so steif wie einen Stock. Fordert man ihn auf, sich auf die linke
Seite zu legen, dann dreht er sich erst vollständig nach rechts, richtet
sich dann langsam und schwerfällig auf oder bittet selbst um Hilfe.
Wenn der Patient für Schmerzen weniger emfindlich ist, dann ist
auch diese eigentümliche steife Haltung des Körpers beim Gehen und
Niederlegen weniger prägnant. Selten sah ich diese Erscheinung
ganz fehlen^).
Auch die Atmung ist, wenn Schmerzen oder Hustenreiz besteht,
oberflächlich und schnell. In den meisten schweren Fällen wurde
hierdurch auch die Sprache skandiert (Patient No. 15).
Verdauungsstörungen sind stets vorhanden. Besonders
während der Tage, an denen Fieber und Schmerz den Patienten plagen,
ist der Appetit vollständig verschwunden. Abscesse an der Unterfläche
der Leber geben die stärksten Magensymptome, ja sie können selbst
durch Druck auf den Pylorus unstillbares Erbrechen verursachen (Patient
No. 1 und 2). Besonders Abscesse des Lob. Spiegelii und des Lob.
qnadratns sind in dieser Beziehung bekannt. Durch Verschluß des
1) Andere Prozesse in dieser Gegend, die bei Druck Schmerzen ver-
ursachen, werden natürlich dieselbe Erscheinung zeigen.
90 J. A* Koch,
Ductus choledochus oder hepaticus können sie auch starken Ikterus
verursachen (Patient No. 5).
Diarrhöe kommt oft vor und läßt stets frühere Dysenterie vermuten.
Palpation und Perkussion lehren uns die Lebergrenze
kennen :
1) Vergrößerung der ganzen Leber findet man bei jedem
Leberabsceß. Sowohl nach unten wie nach oben ist die Leber vergrößert,
manchmal auch nach links.
2) Vergrößerung nach oben ist besonders im Beginn der
Absceßbildung am meisten auffallend. Die Ursache ist nach meiner
Meinung die Schmerzhaft igkeit. Das Zwerchfell kontrahiert sich
nicht mehr kräftig und steigt dadurch 1— IV« Finger breit.
3) Vergrößerung nach unten tritt besonders später, bei der
stetigen Vergrößerung der Leber, mehr in den Vordergrund.
Wo eine scharf umschriebene Hervorwölbung der Leber beobachtet
wird, an der oberen oder unteren Grenze, darf ein Absceß an dieser
Stelle vermutet werden.
Meiner Meinung nach werden diese Verhältnisse in den Lehrbüchern
zu einfach angegeben — bei einem Absceß am oberen Rande: zirkum-
skripte Hervorwölbung des Diaphragma nach oben — bei einem Absceß
am unteren Rande: umschriebene Wölbung des ünterrandes. Dies
findet man in der Tat bei Abscessen, die unmittelbar unter der
Leberoberfläche liegen oder unter der Leberkapsel. Wenn aber noch
eine dünne Leberlage (1— 1 V2 cm) den Absceß bedeckt, dann sieht man
sowohl bei hoch wie bei niedrig gelegenen Abscessen, außer der oben-
genannten geringen Diaphragmasteigung (1—1 V« Finger breit) nur
den unteren Leberrand sich senken und zwar in dem Maße
stärker, als der Absceß größer wird. Während also ein außer-
gewöhnlicher Hochstand des Diaphragma (4. oder 3. Rippe) bestimmt
andeutet, daß der Absceß unmittelbar unter demselben lokalisiert ist,
beweist eine besonders niedrige Lebergrenze durchaus noch nicht, daß
auch der Absceß in der Nähe der unteren Grenze gelegen ist. Er kann
selbst auch dann im oberen Teile der Leber liegen.
In der Literatur werden diese Verhältnisse nicht beschrieben. Es
kann sein, daß die folgende Erklärung die richtige ist:
Wenn ein Absceß die obere Leberkapsel untergräbt, mit dem Zwerch-
fell verwächst oder dieses entzündlich infiltriert, werden die angrenzenden
Muskelfasern des Diaphragma, sowohl infolge einer serösen Imbibition,
als auch infolge einer reflektorischen Paralyse erschlaffen. Eine hernien-
artige Hervorwölbung des Diaphragma nach der Lunge hin wird an-
deuten, wo ein Absceß nach der Brusthöhle hin versucht durchzubrechen.
Wo aber der Abstand zwischen Absceß und Diaphragma größer wird,
so daß dieses nicht entzündlich affiziert wird, da sieht man das Dia-
phragma nicht weiter als die obengenannten P/^ Fingerbreite nach
üeber tropische Leberabscesse. 91
oben steigen, jedoch wohl die untere Lebergrenze sich immer weiter
senken.
Die Leber befindet sich, wenn der Patient auf dem Rücken liegte
in einem gewissen Gleichgewicht zwischen dem positiven abdominalen
Druck von unten und der Spannung des Diaphragma von oben. Wenn
nun die Leber durch einen Absceß an Umfang zunimmt, dann wird
sich zu allererst, um Schmerzen zu vermeiden, das Diaphragma nicht
mehr kräftig zusammenziehen.
Wenn nun der Absceß immer größer wird, wird auch die Leber
fortwährend an Umfang zunehmen und versuchen, sich sowohl nach
unten als auch nach oben auszudehnen. Eine geringe Ausdehnung des
Zwerchfells wird jedoch schon bald eine nicht unbedeutende Spannungs-
vermehrung mit sich bringen, die schon bald nicht mehr tiberschritten
werden kann.
Ganz anders aber verhält sich die Sache nach der Bauchhöhle hin.
Hier lassen sich die Intestina immer mehr verdrängen. Wohl wölbt
und spannt sich der Bauch ein wenig, aber stets bleibt noch Raum für
eine weitere Ausdehnung übrig. Aus diesem Grunde ist auch bei
großen Abscessen die Verschiebung nach unten am meisten auffallend.
Aus diesem Grunde besteht aber auch die wichtige Regel, daß im all-
gemeinen die Lebervergrößerung nach unten keine Bedeutung für die
Lokalisation des Leberabscesses hat. Wenn man, weil die untere Leber-
grenze so niedrig steht, einen Absceß an der Unterfläche diagnostiziert,
wird man sehr oft fruchtlos operieren ^). Wo keine umschriebene Wöl-
bung nach unten vorhanden ist, da sei man vorsichtig.
Für die weitere Lokalisierung des Abscesses ist ein mäßiger Druck
mit den Fingerspitzen ein sehr verläßliches Hilfsmittel. Die ganze
Lebergegend mit allen Interkostalräumen wird methodisch palpiert. Ein
deutlicher und konstant schmerzhafter Druckpunkt zeigt hierbei meistens
die Stelle an, wo ein Absceß in nicht allzu großer Tiefe gelegen ist.
Das Ende der falschen Rippen und eine kleine Stelle unter dem
Proc. ensiformis sind normal bereits ziemlich empfindlich, womit man
rechnen muß.
Hat man über die Lokalisation eine bestimmte Vermutung, dann
wünscht man die Frage zu entscheiden, ob Adhäsionen zwischen
den Peritoneal- oder den Pleurablättern bestehen oder nicht. Wo die
1) Viele Beispiele hierfür sind in der Literatur vorhanden. Man
legte durch Laparotomie die enorm vergrößerte Leber frei, doch ein Absceß
wurde nicht gefunden. Bei der Sektion ergab sich einige Tage später,
da£ der Absceß ein wenig höher lag, als an der Stelle, wo man gesucht
hatte. — Bei unseren 16 Patienten zeigten No. 6, 9, 12 eine Hervorwölbung
von 4 oder 5 Fingerbreiten unter dem Rippenbogen. Bei No. 9 und 12
wurde jedoch der Absceß mitten in der Leber gefunden, und bei No. 6
selbst hoch unter dem Diaphragma.
92 J. A. Koch,
Leber bei tiefer Atmung sich frei hebt und senkt, wo die Lebergrenzen
bei Rücken- und Seitenlage und ebenso bei vertikaler und liegender
Haltung einen bedeutenden Unterschied zeigen (Pel), da bestehen
sicher keine Adhäsionen. Aber man hüte sich vor der Schlußfolgerung,
daß da, wo die Lebergrenzen vollständig unbeweglich sind, sowohl bei
Lageveränderung als auch bei Atmung sicher Adhäsionen bestehen.
Denn wenn die Atmung infolge Schmerzhaftigkeit oberflächlich ist, dann
sieht man sehr oft wegen dieser oberflächlichen Atmung keine beweg-
lichen Lungen-Lebergrenzen, während, wenn der Patient für die Ope-
ration in Narkose gebracht ist, die Leber sich plötzlich wieder auf- und
abbewegt, so daß unsere Vermutung von Adhäsionen sich als irrig
erweist. Diese Schmerzhaftigkeit führt so oft zu einer scheinbaren
Unbeweglichkeit, daß man vorsichtshalber nur dann, wenn deutlich
Entzündungserscheinungen an der Bauch- oder Brustwand vorhanden
sind, das Bestehen von Adhäsionen mit Sicherheit annehmen darf. Man
verwechsle indessen ein geringes Oedem nicht mit Entzündungserschei-
nungen. Sehr oft sah ich ein solches Oedem, ohne daß Adhäsionen
bestanden (Patient No. 6),
Als bestes und letztes Hilfsmittel für die lokale Diagnose haben
wir endlich die Probepunktion. Wie schlecht dieses Verfahren auch
in der Chirurgie angeschrieben steht, bei der Behandlung der Leber-
abscesse können wir es nicht entbehren. Doch muß man bei dessen
Anwendung vorsichtig sein.
Allererst werden oft bei der Probepunktion zu lange Nadeln ge-
braucht ScHEUBE (61) rät, Nadeln von 10—15 cm Länge zu ver-
wenden, doch sicher mit dem Zweck, dieselben eventuell auch in ihrer
vollen Länge einzustechen! Das ist nun sicherlich gefährlich. Arteria
und Vena hepatica laufen dabei Gefahr, ja, auch die Vena cava ist nicht
mehr sicher. Die von mir verwendete Nadel war nicht länger als 7 cm,
die Dicke 2 mm, und die Spritze enthielt 10 ccm. Wenn man übrigens
auch in einer Tiefe von 10—12 cm Eiter fände, dann wäre es doch
gut, eine andere Stelle aufzusuchen, wo sich der Eiter mehr der Ober-
fläche nähert. Die Schwierigkeiten, einen Absceß in so großer Tiefe
genügend zu eröffnen, sind nicht klein und die Aussicht auf eine
günstige Heilwirkung wird geringer, je länger und komplizierter der
Zugang ist.
Viele Probepunktionen dicht beieinander sind ebenfalls zu ver-
urteilen, weil, wenn an einer bestimmten Stelle kein Eiter gefunden
wird, die Aussicht, unmittelbar daneben Eiter zu finden, sicherlich klein
ist, Ueberdies läßt es sich verstehen, daß bei verschiedenen Probe-
punktionen hintereinander unwillkürlich die Vorsicht geringer wird und
vielleicht die Gefahr einer Blutung zunimmt. Diese Gefahren werden
um so größer, je mehr man sich dem Hilus nähert. Hier liegen die
größeren Gefäße. Eine Probepunktion unter dem Rippenbogen ist des-
üeber tropisdie Leberabsoesse. 93
halb abzuraten. Eine kleine Probelaparotomie ist dann viel zweck-
mäßiger ^).
Eine weit größere Gefahr als die der Blutung ist bei der Probepunk-
tion die Möglichkeit einer Infektion. Nachdem die Nadel zurückge-
zogen ist, schließt sich der Stichkanal nur da, wo der Absceß ziemlich
tief gelegen ist. Ist dies nicht der Fall und liegt der Eiterherd ober-
flächlich, dann fließt noch ziemlich viel dünner Eiter nach außen. Leber-
eiter ist ja ein Gemisch, aus dicken Flocken und viel seröser Flüssig-
keit bestehend. In den meisten Fällen wird ein derartiges Ausfließen
nicht bemerkt Der Patient hatte vor der Punktion Schmerzen in der
Lebergegend und Fieber, und nach der Punktion wurde dies nicht
anders. Ueberdies wird am folgenden Tage operiert und nach der
Spaltung des Diaphragma fließt die wenige Flüssigkeit, die sich zwischen
ZwerchfeU und Leber angehäuft hat, nach außen, ohne daß man in der
tiefen, blutenden Wunde viel davon bemerkt. Wenn man sich jedoch
die Mühe nimmt, nach exakter Blutstillung genau die Punktionsöfliiung
zu besichtigen, dann sieht man aus ihr beinahe immer noch eine trübe
Flüssigkeit tröpfeln (Patient No. 9).
Viel schlimmer wird die Sache, wenn die Probepunktion durch die
Bauchhöhle hindurch, also unter dem Rippenbogen geschah. Wenn hier
ein Absceß oberflächlich gelegen ist, z. B. unter der GLissoNschen Kapsel,
dann spritzt, wie man während der Laparotomie beobachten kann, der
Eiter nach dem Einstich öfter in einem feinen Strahl nach außen.
Wäre die Probepunktion ins Blinde hinein gemacht, dann würde infolge
davon vielleicht eine Peritonitis entstanden sein [Patient No. 5*)].
Durch verschiedene Mittel kann man diese Gefahren
verhüten:
a) Vor allem darf man niemals eine Probepunktion unter dem
Rippenbogen machen. Besteht genügende Wahrscheinlichkeit für einen
Absceß nahe der Bauchhöhle, dann mache man eine Probelaparotomie.
b) Weiter ist zu verurteilen, was in englischen Lehrbüchern geraten
1) Ein Patient, bei dem man Probepunktion gemacht hatte, starb bereits
1 Stunde später an Verblutung in die Bauchhöhle (Maasland und van
DER ScHEXB [41]). Smits (63) Sah, wie bei der Operation die Stichkanälchen
beim Berühren aufs neue zu bluten anfingen, obgleich die Probepunktion
bereits einige Tage vorher gemacht war. Brtant sah Tod durch Ver-
blutung, weil ein Zweig der Vena portae angestochen war.
2) Bruno Leick (6) machte eine Probepunktion bei einem kleinen
Abceß an der Unterfläche der Leber. Am folgenden Tage fand er einen
kleinen Absceß zwischen Peritoneum und Leber, verursacht durch Eiter,
der aus dem Stichkanal geflossen war. Der ursprüngliche Absceß lag
2 cm unter der Leberoberfläche und war kindskopfgroß. Sbndler sab
nach einer ezplorativen Punktion zirkumskripte Pentonitis folgen. Rushton
Parker (58) machte bei einem Patienten mit Leberabsceß die Punktion. Nach
24 Stunden bestand floride Peritonitis, woran Pat bald starb.
94 J. A. Ktch,
wird (Manson), den Patienten zuerst zu narkotisieren und dann eine
große Anzahl Probepunktionen zu machen. Wenn ungefähr 3 Probe-
punktionen an sorgfältig gewählten Stellen keinen Eiter feststellen,
dann findet man ihn auch nicht bei einem Dutzend Einstichen. AUge-
meine Narkose ist meines Erachtens hierbei unerlaubt oder man muß
die Absicht haben und auch dazu im stände sein, augenblicklich die
Operation folgen zu lassen. Eine zweite Narkose ist doch bei solchen
schwachen Patienten nicht gleichgültig. Wohl wird man ohne Narkose
in der Anzahl der Probepunktionen beschränkt sein, doch auf die wün-
schenswerte Sparsamkeit mit der Probepunktion wurde schon oben hin-
gewiesen. Man verrichte diese nur dann, wenn schon andere dia-
gnostische Hilfsmittel den Absceß mit Wahrscheinlichkeit lokalisiert
haben.
In Fällen, in denen die Probepunktion wider Erwarten negativ aus-
fällt, warte man einige Tage. Die meisten Leberabscesse vergrößern
sich schnell und meistens kann man in kurzer Zeit die Lokalisation
des Abscesses feststellen. Eine später wiederholte Probepunktion fällt
oft positiv aus (Patient No. 8 und 12).
c) Wenn man Eiter findet, wird es gut sein — um eine Infektion
zu verhüten — auch die Spannung in der Absceßhöhle zu vermindern.
Je nachdem man einen kleinen oder großen Absceß erwartet, saugt
man direkt mit der Probespritze 15 — 50 g aus. Der Eiter kommt hier-
durch unter geringere Spannung, wodurch die Möglichkeit des Heraus-
laufens aus dem Stichkanal kleiner wird.
d) Noch besser ist es, die Nadel einfach sitzen zu lassen und schnell
zu operieren. Man schließt dann vorläufig die Nadel mit einem kleinen
Propfen. Mit einiger Vorsicht lassen sich um die Nadel herum ganz
gut Pleura- und Peritonealblätter aneinandernähen. Man sorge nur
dafür, daß die zwischen der Incision gelegenen Weichteile genau ge-
spalten werden.
Schließlich, und dies möge als Hauptsache noch einmal nachdrücklich
gesagt sein, ist es wünschenswert, daß die Operation unmittel-
bar auf die Probepunktion folgt. Man muß sich zur Probe-
punktion erst dann entschließen, nachdem man sein Instrumentarium
für die Operation vollständig in Ordnung gebracht hat
Operation: Nach einer positiven Probepunktion folgt also un-
mittelbar die Operation.
Zwar können einzelne Patienten nach Perforation des Abscesses
in Lunge, Darm oder Magen sich erholen, doch weitaus die meisten
sterben auch dann noch. Spontane Perforation durch die Haut ist
noch ungünstiger, weil dann die Perforation in der Regel durch sehr
lange Gänge stattfindet, welche ein ungenügendes Abfließen des Eiters
verursachen und leicht zu einer sekundären Infektion Veranlassung
geben. Wer also einen Kranken mit suppurativer Hepatitis retten will,
Ueber tropische Leberabscesse. 95
freue sich darüber, Eiter gefunden zu haben, und operiere so frühzeitig
wie nur möglich. Jeder Tag Wartens läßt viel verlieren.
Mit Recht verurteilt Langen buch (34) das Operieren durch Punktion
und auch die Schnellmethode von Little.
Nachstehend beschreibe ich die von mir angewandte Methode,
welche nur in wenigen Einzelheiten von der am meisten gebräuchlichen
Methode abweicht.
Wenn der Absceß im Bereich der Bauchhöhle geöffnet werden soll,
incidiert man an derjenigen Stelle, wo die Leberwölbung am stärksten
hervortritt, durch einen mit dem Bippenbogen parallelen Schnitt Faure(I)
rät, in longitudinaler Richtung zu incidieren. Es ist aber wünschenswert,
da, wo Adhäsionen bestehen, innerhalb derselben zu bleiben und das er-
reicht man viel sicherer, wenn man den Schnitt dem Leberrand parallel
macht. Sind Adhäsionen vorhanden, dann sorge man dafür, in der Tiefe
innerhalb derselben zu bleiben. Bestehen solche nicht, dann lege man die
Leber einfach bloß und untersucht auf Fluktuation. Dann löst man das
Peritoneum parietale von den beiden Wundrändem und näht dasselbe an
die Leber fest, so daß die fluktuierende Stelle sichtbar bleibt. Diese Naht
reißt nicht, da das losgelöste parietale Blatt jetzt leicht die großen At-
mungsbewegungen der Leber mitmachen kann. Dann incidiert man den
Absceß. Ein kurzes dickes und ein langes dünneres Drainrohr werden nun
in die Absceßhöhle eingebracht, an der Haut festgenäht und da kurz ab-
geschnitten. Eine Anzahl drainierender Gazestreifen umgeben weiter die
Röhren. Verband.
Muß durch eine Rippenresektion der Absceß geöffnet werden,
dann denke man zu allererst daran, daß nach der Operation der Patient
am liebsten gerade auf dem Rücken liegt. Je mehr also die Oeffnung
nach hinten angelegt wird, je besser wird der Absceß sich vollkommen
entleeren. Wird die Oeffnung aus anderen Gründen doch mehr nach vorne
angelegt, dann bringt man den Pat am besten während der Nachbehandlung
auf eine Wassermatratze in rechter Seitenlage.
An tief gelegenen Stellen kann man durch Rippenresektion die Leber
erreichen, ohne daß man durch die Pleura behindert wird. Bleibt man
dicht beim Rippenbogen, dann brauchen nur Peritonealnähte angelegt zu
werden.
Operiert man höher, dann trifft man in erster Linie auf die Pleura.
Sehr vorsichtig wird ein Rippen^stück (6 — 8 cm) weggenommen, wobei man
dafür sorgt, daß die Pleura costalis nicht einreißt. Den Wundrändern
entlang werden nun überall Pleura costalis und Pleura diaphragmatica
durch eine fortlaufende Naht aneinander fixiert. Das umsäumte Stück
doppelter Pleura wird dann weggenommen und die Naht hier und da noch
gesichert Dies alles geht leicht von statten, weil die Pleura durch die
darunter liegende Leber gegen die Brustwand angedrückt wird. Danach
legt man durch eine genügend große Licision des Zwerchfelles die Leber
frei. Trotzdem man versucht, diese Oeffnung groß anzulegen, wird man
schließlich immer enttäuscht, so daß ein Palpieren der Leber fast unmöglich
ist. Soviel wie möglich versucht man jedoch, die Stichöffnung von der
Probepunktion her zu finden und diese innerhalb der Lebemähte zu
fassen. Wenn man die Nadel hat sitzen lassen, dann erleichtert dies die
Sache sehr.
96 J. A. Koch,
Das Aneinandernähen der Leberkapsel und des Diaphragma ist nicht
leicht. Bei den kräftigen Atmungsbewegangen schiebt sich immer wieder
ein anderer Teil der Leber vor die kleine Oeffnung and eine einzelne an-
gelegte Naht würde beim Knüpfen direkt reißen. Hauptsache ist eine
möglichst große Oeffhung im Diaphragma. Weiter gebraucht man sehr
kleine krumme Nadeln mit weicher Seide. Erst legt man eine Anzahl von
Nähten an, läßt dann die Leber durch Anspannung dieser Nähte sich
fixieren und knüpft sie erst dann. Die eine Naht stützt dann die andere.
Ein Nadelhalter ist hierbei weniger erwünscht; er hält die Nadel zu fest
und verursacht dadurch bei den Atmungsbewegungen eine kleine Biß-
wunde in der Leber. Eine PBANsche oder anatomische Pinzette ist zweck-
mäßiger, weil die Nadel schneller losgelassen werden kann.
KoGHiGB (28) reserziert bei dieser Operation lieber zwei Eippen.
Dies erleichtert sicherlich die Technik in hohem Maße. Doch gelang es
mir immer auch mit der Wegnahme von nur einer B.ippe(l).
Wer nun den angelegten Lebernähten nicht volles Vertrauen ent-
gegenbringt, kann auch tamponieren und am folgenden Tage incidieren.
Das ist dann schmerzlos und Narkose ist überflüssig.
Eigentümlich ist es, daß, während ich bereits in 24 Stunden sehr ge-
nügende Adhäsionen entstehen sah, Langenbugh hierfür 7 Tage nötig er-
achtet (34) und Smits 6—7 Tage (63). Ja auch nach dieser Zeit sah Smits
noch das Omentum in die Wunde prolabieren, wohl ein Beweis, daß die
Adhäsionen noch ungenügend waren.
Die Ursache liegt allein in einer weniger richtigen Technik, die
folgendermaßen beschrieben wird: Das peritoneale Blatt des Peritoneums
wird durchtrennt und mit fortlaufenden Catgutsuturen an die Hautwund-
ränder genäht. Jetzt wird die Wunde durch einen langen sterilen Jodo-
formstreifen ausgestopft und dann dieser Tampon in seiner Lage durch
eine die Hautränder über ihm fixierende Sutur befestigt
Diese Methode führt nicht zu dem gewünschten Erfolge. Wenn man
zwei Peritonealblätter verwachsen lassen will, müssen diese so innig wie
möglich aneinanderliegen bleiben. Aber dies geschieht gerade nicht, wenn
man das peritoneale Blatt an die Haut näht und es ektropioniert und
danach die Leber durch einen übergenähten Gazetampon etwas nach innen
drückt. Auf diese Weise werden beide serösen Blätter voneinander ent-
fernt und die Verklebung gehindert. Auch glaube ich mit Eecht einen
Einwurf gegen das Uebemähen der Wund fläche mit Haut zu erheben,
denn feuchte sterile Jodofoimgaze übt sehr wenig Beiz auf das Peritoneum
aus. Das erhellt daraus, daß, wo bei einer Laparotomie ein Stück nasser
Oaze in der Bauchhöhle vergessen wurde, diese nach einigen Tagen noch
vollständig frei lag. Soll die Gaze die oberflächlichen Epithelzellen zer-
stören und dadurch Adhäsionen verursachen, dann muß die Gaze trocken
oder beinahe trocken sein und anstatt die Wunde dicht zu nähen, mui^
sie gerade weit offen bleiben.
In Ueberein Stimmung mit der obigen Behauptung suchte ich darum
immer so sorgfältig wie nur möglich das parietale Peritonealblatt an die
Leber zu befestigen. Wo die angelegte Lebernaht nicht genügende Sicher-
heit gab, um in einem Tempo zu operieren (Pat. 6) da wurde ein kleines
Stückchen Gaze, mit einem Draht versehen, auf die Leber gelegt. Hier-
auf folgten viele gerade Gazestreifen, die parallel zueinander senkrecht
auf der Leberoberfläche stehen und als fingerdicke Drains die Flüssigkeit
direkt in den großen äußeren Verband saugen. Tatsächlich sah man hier-
bei, obgleich der äußere Verband trocken blieb, denselben doch über eine
Ueber tropische Leberabscesse. 97
große Strecke gelb gefärbt, als Beweis, wie viel Feuchtigkeit aus der
Oberfläche verdampft war. Entfernte man nun nach 24 oder 48 Stunden
die Oaze, dann waren nicht allein solide Adhäsionen vorhanden, sondern
Leber, Diaphragma und Pleura waren durch einen fibrinösen Belag nicht
mehr voneinander zu unterscheiden« Einige Erkennungsnähte in der Wunde
zeigten die Stelle, wo man inzidieren mußte.
Einen sehr praktischen Bat gab unlängst in Indien Kollege Pruys:
In schwierigen Fällen, wo man mit schlechter Assistenz operiert, so daß
das Annähen der Leber nicht gelingt, kann man einfach aus dem freige-
legten Absceß den Eiter mit einem Troikart entfernen. Dann wird die
kleine Wunde mit viel Gaze tamponiert und nach ein oder zwei Tagen
reichlich inzidiert und drainiert Praktisch wird man auf diese Weise
sicher manchen Patienten retten können. Diese Methode darf jedoch nur
da in Anwendung kommen, wo ungenügende Assistenz dazu zwingt Man
kann wohl damit anfangen, den Absceß zu entleeren, aber leer bleiben wird
er nicht Aus der Oeffnung wird also später wieder Eiter fließen. Wenn
nun die Troikartöffiiung genau mitten in der Wunde bliebe, dann wäre
hierbei keine Oefahr. Das ist aber nicht der Fall. Wenn die Leber
nach Entleerung des Abscesses ansehnlich im Umfang abnimmt, schiebt
sie sich beinahe immer nach oben, gewöhnlich nach einigen Stunden um
1 — 2 Fingerbreiten. Inkongruenz ist hiervon die Folge. Diese sekundäre
Inkongurenz macht sicher die Methode weniger vollkommen. Doch be-
weisen die Besnltate von Pruts, daß sie praktisch bei ungenügender Assistenz
sehr brauchbar sein kann.
Hat man endlich die Leber genügend festgeheftet, und dadurch die
Bauchhöhle sicher abgeschlossen, dann wird der Absceß geöffnet.
Bei sehr oberflächlichen Abscessen incidiert man einfach^). Liegt
der Absceß tiefer, dann ist die gebräuchliche Methode, daß man mit
dem Paquelin bis in den Absceß brennt Die Erfahrung hat mich je-
doch gelehrt, daß hierbei die Blutung ziemlich stark sein kann. Der
Paquelin brennt oft ein Loch in eine große Vene und unter dem Schorf
entsteht eine difFusse Blutung, die sehr schwer zu stillen ist. Um
diese Unannehmlichkeiten zu verhüten, habe ich folgendermaßen operiert :
Bei tiefgelegenen Abscessen wird neben der Probenadel nur die Leber-
kapsel eingeschnitten in einer Länge von 1 — 2 cm. Eine stumpf ab-
geschliffene Hohlsonde gleitet nun längs der Nadel in den Absceß.
Die Nadel wird entfernt, eine stumpfe Kornzange gleitet nach innen
und erweitert den Zugang so weit, daß bequem ein Finger hineingebracht
werden kann. Die Blutung ist hierbei auffallend gering, selbst wo die
stumpfe Zange einige Centimeter nach innen geschoben wurde. Schein-
bar weichen die Gefäße leicht zur Seite ^). Weiter Drainage wie oben.
1) In einigen Fällen kann der Absceß so unmittelbar unter der Leber-
kapsel liegen, daß ein Aneinandemähen von Hepar und Diaphragma nicht
möglich ist, ohne direkt mit der Nadel in den Absceß zu stechen. Hier
ist es besser, erst mit einer PoTAiNschen Nadel den Absceß zu entleeren
und darnach den schlaffen Sack mit Diaphragma oder Wunde durch Naht
zu vereinigen.
2) In seltenen Fällen wird ein sehr alter Absceß von einer festen
Mitteü. a. d. Oranxfebteten d. Medizin a. Chirargie. XIIL Bd. 7
98 J. A. Koch,
Von MoNOD ^) und Faüre *) wird ein ähnlicher Rat gegeben : Nach-
dem eine Probenadel in der Wunde die Stelle des Abscesses markiert
hat, bohrt man einfach mit dem Finger durch das mürbe Lebergewebe
bis in den AbsceB. Faüre konnte so in einem Falle den ganzen Zeige-
finger bis auf 10 cm Tiefe in die Leber bohren, ohne daß eine ernstliche
Blutung eintrat.
Endlich kommen noch Leberabscesse vor, zu niedrig, um sie durch
eine Rippenresektion zu erreichen, zu hoch für den abdominalen Weg.
Hier reseziert man nun ein Stück des Rippenbogens nach der Methode
von Lannelongue. Der Hautschnitt wird hierbei parallel und 2 cm
über den Rippenbogen gemacht. Die Rippenknorpel der 8., 9. und 10.
Rippe werden weggenommen, was ziemliche Blutung verursacht. Die
Pleurahöhle bleibt hierbei geschlossen. Das Aneinandernähen des Bauch-
felles und der Leber ist ziemlich einfach. Der Zugang zum Leberabscefi
ist hierbei sehr bequem.
Es sei mir gestattet, jetzt die Krankengeschichten in Kürze folgen
zu lassen.
Zuerst zwei Patienten, bei denen sich der Absceß unter dem
Rippenbogen befand und die nach einfacher Incision leicht genasen:
2. Abscessus hepatis lobidextri. Verwachsung mit der
Bauchwand. Incision. Geheilt.
Dr. d. 0., 40 Jahre, bekam vor 8 Wochen Schmerzen in der Magen-
gegend, begleitet von Üebelkeit und geringem Fieber. Beim Erbrechen
wurde der Schmerz in der Magen- und Lebergegend selbst unerträglicL
Dabei bekam er heftige Hustenanftlle, wogegen er Pulv. Doveri gebrauchte.
Die behandelnden Kollegen diagnostizierten einen Leberabsceß. Ein
Aufenthalt in bergischer Gegend hatte hierauf keinen günstigen EinfluE.
Er kam nach Soerabaia, wo ich diese Diagnose bestätigen mußte. Vor
IY3 Jahren erwarb Pat. eine Dysenterie und noch ein ganzes Jahr später
litt er an Scbleimabgang, was erst in Holland vollkommen heilte.
Status praesens: Pat. ist blaß und sieht ermüdet aus. Puls 106,
Atmung 28, Husten und Erbrechen sehr schmerzhaft Die Leber reicht
in der Papillarlinie oben bis zur sechsten Rippe, unten bis lYs Pinger-
breite unter den Rippenbogen. In der Gegend der Gallenblase befindet
sich eine kuppeiförmige Wölbung, die bis 3 Fingerbreiten nach unten
reicht. Diese Stelle ist bei Druck etwas empfindlich, während spontan
mehr Schmerzen in der Seite angegeben werden. Bei der Atmung bewegt
sich dieser runde Tumor nicht und macht den Eindruck, als ob er noch
in der Bauchwand selbst säße. Die Haut tiher ihm ist etwas weniger
beweglich als an anderen Stellen. Diagnose: Absceß im rechten Lobus,
mit der Bauchwand verwachsen.
Operation: Februar 1901. Eine Probepunktion wird nicht gemacht.
An der gewölbten Stelle wird inzidiert, parallel mit den Rippenbogen.
fihriösen Kapsel umgeben, die alsdann der Zange einen unangenehmen
Widerstand entgegensetzt (Patient No. 9).
1) MoNOD et Vanverts, Technique op^ratoire, T. 2, p. 416.
2) Faübb, Trait^ de Chirurgie, lb Dbntu et Dblbbt, T. 8. p. 231.
Ueber tropische Leberabscesse. 99
Der Muse, rectas iat ödematös. Unter ihm fdhrt ein aasgebreitetes ent»
zündliches Infiltrat von präperitonealem Fettgewebe in einen ^4 ^ ^^^*
tenden Abscefi. Tamponade mit einigen dicken Gazestreifen, dazwischen
zentral ein kurzes Drainrohr.
Nach 8 Wochen vollkommen geheilt.
Merkwürdig ist bei diesem Fall, daß Patient s o heftig hustete, daß
an anderer Stelle bereits ein Absceß unter dem Diaphragma vermutet
wurde. Doch lag derselbe vollständig im untersten Teil der Leber.
Günstig war auch der Verlauf im folgenden Fall:
3. Abscessus lobi dextri hepatis. Verwachsung mitder
Bauchwand. Incision. Geheilt.
Herr A., 35 Jahre, fühlt seit 3 Wochen stechende Schmerzen unter
dem rechten Eippenbogen, die nach dem Rücken ausstrahlen. Ein Span-
nungsgefühl hatte er schon seit 2 Monaten. Seit 4 Monaten hatte er ab
und zu etwas Fieber. Er tat aber stets seine gewohnte Arbeit. Vor
3 Jahren hatte er Dysenterie, die Monate dauerte und dann heilte.
Status praesens: Fat. ist stark abgemagert. Die Haut ist gelb-
blaß, ebenso die Konjunktiven. Rechter Rippenbogen und Hypochondrium
sind deutlich vorgewölbt. Die Lungen-Lebergrenze findet man in der rechten
Mamillarlinie bis an die 6. Rippe; sie ist bei der Atmung unbeweglich.
Nach unten reicht die Leber handbreit unter den Rippenbogen. An der
Stelle, wo normal die Gallenblase liegt, ist die Haut hyperämisch, die
Hautfalte dicker, weniger beweglich und bei Druck schmerzhaft» Auch
klagt Pat. hier über Schmerzen, wenn man in der rechten Lendengegend
drückt. Diagnose: Absceß im unteren Teil des rechten Lobus, mit der
Banchwand stark verwachsen.
Operation: Einfache Incision des Abscesses, der 600 ccm Eiter
enthält Drainage. Verband. Nach 3 Wochen ist Fat geheilt.
Im Gegensatz zu den ersten drei einfachen Fällen, konnten die beiden
folgenden Patienten durch operative Hilfe leider nicht mehr gerettet
werden.
4. Abcessus hepatis lobi dextri. Abscessus subphre-
nicus. Perforatio diaphragmatis. Gangraena pulmonis.
Gestorben.
Herr C, 25 Jahre, kam am 1. Februar 1897 in sehr traurigem Zu-
stand in die Klinik. Seit 3 Wochen hatte er fortwährend hohes Fieber,
morgens 37,6 ^, abends 39,7 ® Dabei hatte er Schmerzen unter dem rechten
Rippenbogen, die nach der Schulter ausstrahlten. Vor 4 Monaten bekam,
er zuerst leichtes Fieber, das nicht aufhörte und allmählich an Stärke
zunahm. Vor 3 Monaten bekam er blutige Diarrhöe, die nach einigen
Wochen unter Jodoformlavements heilte. Auch hatte er am Ende des
Jahres 1895 Dysenterie, der sich nach einem Monate Schmerzen in der
Lebergegend anschlössen. Damals erfolgte vollkommene Heilung.
Status praesens: Pat ist stark abgemagert und sehr schwach.
Das Gesicht fieberhaft gerötet. Die Lippen sind jedoch blaß und cya-
notisch. Atmung 50, Puls 136, sehr klein. Wegen der starken Dyspnoe
ist die Sprache skandiert. Nach jedem zweiten Wort macht Pat. eine kleine
Pause, um eben zu atmen. Er hustet fortwährend, wobei mit vieler Mühe
ein etwas bräunlicher, unangenehm riechender Schleim » ausgehustet- t^^ird.
7*
100 J. A. Koch,
Bei der Inspektion ftllt auf, daß die ganze rechte Thorazhälfbe stark er-
weitert ist, besonders der rechte Bippenbogen und das rechte Hjrpochon-
drium. An der hinteren Seite ist diese Ausdehnung geringer. Bei der
Atmung steht die rechte Hälfte vollständig still. Der Leberrand reicht
bei der Falpation bis 3 Fingerbreiten unter den Rippenbogen. Diese
Qegend ist nach vorne gewölbt, bei Druck schmerzhaft und zeigt tiefe
Fluktuation. Die Hautfalte ist hier dicker als links. Bei der Perkussion
findet man vorne absolute Dämpfung, von 3 Fingerbreiten unter dem
rechten Eippenbogen bis an die 2. Kippe. Diese Grenze ist bei der At-
mung unbeweglich. Hinten reicht die Dämpfung bis an die 8. Rippe.
Atmungsgeräusche und Stimmfremitus fehlen auf der gedämpften Stelle
überall. Die Temperatur ist morgens 38,7^, abends 39,7®. Der wenige
Harn enthält etwas Eiweiß und viel Urobilin. Diagnose: Enorm großer
Leberabsceß des rechten Lobus. Perforation durch das Diaphragma in die
rechte Lunge.
Operation: am 2. Febr. Auf der fluktuierenden Stelle unter dem
Rippenbogen wird eingeschnitten. Durch die infiltrierte Bauchwand er-
reicht man einen enormen Absceß, der oben bis an die 2. Rippe reicht.
Zwei Liter Eiter fließen nach außen. Das Diaphragma kann von dieser
Oeffnung aus mit dem Finger nicht erreicht werden und die Perforation
nach der Lunge ebenfalls nicht. Der Absceß erstreckt sich in und über
die Oberfläche aus, Drainage, Verband.
Nach der Operation trat während 4 Tagen einige Besserung ein. Die
Abendtemperatur betrag 37,6 <>. Dann stieg sie bis 39,3®. Das Aus-
husten stinkenden Sputums hielt an. Es wurde deutlich, daß die Lungen-
gangrän bald ein trauriges Ende herbeiführen würde. Trotz der großen
Schwäche des Pat. wird dennoch beschlossen, zur Rettung von neuem
einzugreifen. 10. Febr. In der Papillarlinie werden deshalb von der
6. und 7. Rippe 8 cm reseziert. Die starre, weit geöffnete Absceßhöhle
zeigt sehr wenig Neigung, sich zu verkleinern. Das Diaphragma steht jetzt
in der Höhe der 5. Rippe. Man sieht hierin eine Oeffnung von der Größe
eines halben Pfennigs, mit grauen Rändern, aus welcher unter zischendem
Geräusch Luft und mißfarbiger Eiter zu Tage tritt Diese Oefliiung wird
bis auf 4^2 cm erweitert. Darüber flndet man in der Lunge eine apfel-
große Höhle mit missfarbenen nekrotischen Wänden. Nach dem Media-
stinum hin kann eine dicke Sonde noch 3 cm weiter hinaufgeschoben
werden. Alsdann werden mit steriler und Dermatolgaze die gangränöse
Höhle in der Lunge und der Absceß in der Leber tamponiert und dieser
Verband täglich erneuert. Obwohl der Husten geringer wird und die
Expektoration aufhört, während die Temperatur abends nicht höher steigt
als 37,6^, bleibt der Appetit schlecht und schwinden die Kräfte immer
mehr. Endlich nach 3 Wochen geht Pat. an zunehmender Erschöpfung
zu Grunde.
In diesem Falle wäre es vielleicht besser gewesen, direkt mit der
Wegnahme der 6. und 7. Rippe zu beginnen und auch die Lungen-
gangrän direkt offen zu legen. Obwohl Patient auch dann vermutlich
zu schwach gewesen wäre, um geheilt werden zu können, wäre doch
die Aussicht auf Heilung hierdurch etwas größer geworden.
Der andere Fall, der auch nicht mehr gerettet werden konnte, war
der f0lgjfend.er * : . . • • .. ^
üeber tropische Leberabscesse. 101
5. Abscessus lobi Spigelii sub Capsula Glissoni. Peri-
tonitis e causa perforationis. Gestorben.
Herr W., 43 Jahre, bekam heftige Schmerzanfklle in der Magengegend
mit Erbrechen nnd danach Ikterus, so daß an eine Cholelithiasis gedacht
wurde. Während der Ikterus zunahm, wurden auch die Magenschmerzen
heftiger und das Erbrechen nahm bis lOmal am Tage zu. Dabei fieberte
Fat. abends bis 38,3 ^. 8 Wochen vorher hatte er Diarrhöe mit schleimigem
und blutigem Abgang.
Status praesens: Fat ist sehr kräftig gebaut. Der Puls ist
schwacL Es besteht starker Ikterus. Auch der Harn enthält viel Gallen-
farbstoffe. Die Leber reicht in der Fapillarlinie bis an den Oberraud der
6. Rippe, unten bis 1 Fingerbreit unter dem Eippenbogen. In der Gegend
der Gallenblase fühlt man bei tiefem Eindrücken einen Widerstand, der
bis halbwegs zum Nabel reicht. Diagnose: Absceß an der Unterfläche
der Leber in der Nähe der Wirbelsäule. Durch Druck auf den Ductus
choledochus entstand Ikterus, durch Druck auf den Pylorus Erbrechen.
Gefahr der Perforationsperitonitis.
Sofort wurde eine Operation angeraten. Die Familie wünschte
aber zuerst inländische Medikamente zu geben. Als nach 2 Tagen der
Zustand schlimmer geworden war, wurde die Operation beschlossen.
Gesicht und Extremitäten sind jetzt etwas cyanotisch, Hände und Füße
kalt Puls 140, filiform. Erbrechen 20mal am Tage. Diagnose Peritonitis.
Beim Oe&en der Bauchhöhle findet man die Intestina hyperämisch und
mit einem leichten fibrinösen Belag bedeckt Nachdem diese zur Seite
geschoben sind, kommt ein sehr schlaffer, kokosnußgroßer Sack zum Vor-
schein, der an der unteren Fläche der Leber sitzt und sich bis an die
Wirbelsäule erstreckt. Nachdem zum Schutze erst eine Gazekompresse
untergeschoben ist, wird mit dem Aspirator von Potain der Eiter entfernt.
Der schlaffe Sack wird in der Wunde festgenäht und drainiert Verband.
Der weitere Verlauf war leider, wie zu erwarten war, ungünstig. Die all-
gemeine Peritonitis hatte sich bereits zu stark entwickelt und nach 3 Tagen
trat der Tod ein.
In den beiden obigen Fällen waren bereits so schwere Kompli-
kationen eingetreten (Lungengangrän und allgemeine Peritonitis), daß
auch eine Operation keinen Erfolg mehr hatte.
Bei allen folgenden 11 Patienten trat jedoch glücklicherweise Heilung
ein. Zuerst kommen 7 Fälle mit einfacher Rippenresektion.
6. Abscessus lobi deztri hepatis sub diaphragmate.
Resectio costae. Geheilt
General 8., 63 Jahre, ging vor einem Monat nach Djocja wegen täg-
hchen Fiebers von 39 — 39,7 ® abends. Hier ging die Temperatur bis 38,3
herunter. Die Leber war vergröÜert und schmerzhaft, auch die rechte
Schulter schmerzte. Fat. hustet etwas. Länger als 1 Jahr lang litt Fat.
an schleimigem und blutigem Abgang. Dr. U in Djocja diagnostizierte einen
Leberabsceß und schickte Fat in die Klinik zu Soerabaia.
Status praesens (durch Dr. U. . bereits festgestellt): Die Leber
reichte in der Mamillarlinie oben bis an die 5. Eippe. Diese Grenze
war deutlich kuppeiförmig nach oben (Radius 10 cm). Nach unten
reichte die Leber mit einem schlaffen Rande noch 2 Finger breit
unter den Eippenbogen. Bei Inspiration senkte sich die obere Grenze
102 J. A, Koch,
nicht merkbar, die untere 2 Finger breit. Ein schmerzhafter Druck-
punkt fand sich in der vorderen Axillarlinie, unter der 10. Rippe.
Wegen der sehr scharfen weichen Lebergrenze kann sich jedoch hier
unmöglich ein Absceß befinden. Die obere Dämpfungslinie ist dagegen so
auffallend kuppelformig, daß das Vorhandensein von Flüssigkeit unter iht
sehr wahrscheinlich ist. In dem 7. Interkostalraume, zwischen der Axillar-
und Mamillarlinie, wird eine Probepunktion gemacht Erst in einer Tiefe
von 7 cm erreicht man Eiter, wovon 40 com entfernt werden. Wird die
Nadel 1 cm zurückgezogen, dann ist man schon außerhalb des Abscesses.
Diagnose: Abscefi hoch in der Leberkuppel gelegen und weit von der
Brustwand entfernt
Operation: Die 8. Rippe wird in der Axillarlinie in einer Ausdehnung
von 6 cm reseziert Die Pleurablätter werden vernäht und das Diaphragma
gespalten. Die sehr bewegliche Leber (Aethernarkose) ist normal gef^bt,
die Konsistenz ist nicht verändert und in der Tiefe erkennt man
die Punktionsö£fnung, aus der kein Eiter fließt. Leberkapsel und Dia-
phragma werden vereinigt Bei den starken Atmungsbewegungen wird
jedoch diese Naht bedenklich angespannt, so daß aus Vorsicht lieber vor-
läuiig tamponiert wird. Nach 2 Tagen wird die Wunde mit 50-proz.
Cocain befeuchtet. Die Verwachsung ist so befriedigend, daß man zwischen
den 4 langen Erkennungsnähten suchen muß, um die Stelle zu finden,
wo inzidiert werden muß. In einer Tiefe von 4 cm unter der Leber-
kapsel findet die Probenadel Eiter. Die Kapsel wird inzidiert und Hohl-
sonde und Komzange dringen in den Absceß. Dieser enthält ly^ 1. Die
obere Grenze liegt hoch in der Kuppel des Diaphragma verborgen. Hinten
reicht der Absceß bis an die Wirbelsäule und hier liegt er sehr nahe an
den Rippen. Hier hätte man denn auch sehr leicht den Absceß öffnen
können. Drainage. Tamponade. Verband. Der Wundverlauf war sehr
günstig. Schnell erholte sich der erschöpfte Pat. und nach 5 Wochen
war er geheilt. Eine kleine granulierende Wunde war 14 Tage später
an Bord eiues Dampfers geschlossen.
Dieser Patient war der einzige, bei dem die Operation in zwei
Zeiten ausgeführt wurde.
Einfach war der folgende Fall:
7. Abscessus lobi dextri hepatis. Resectio costae.
Geheilt
Kontrolleur v. R., 37 Jahre, bekam im Jahre 1899 Mastdärmen tzttndung
und Fieber, einige Wochen lang. Im November 1900 kehrte das Fieber
wieder, abends 39. Chinin und Bergklima halfen nicht. Das Fieber ging
zwar auf eine Abendtemperatur von 38,3 ^ herunter, hielt jedoch bis April
1901 an, zu welcher Zeit die Lebergegend noch schmerzhaft war und
auch Schmerzen in der Schulter eintraten. Pat. konsultierte Dr. db W.
in Malang, der sofort einen Leberabsceß konstatierte und Pat nach
Soerabaia wies.
Status praesens: Pat ist korpulent, wiegt 98 kg. Die Leber
ist nach oben und nach unten vergrößert. Die Lungen-Lebergrenze steht
in der Mamillarlinie an dem oberen Rande der 6. Rippe. Die untere
Orenze fühlt man 4 Finger breit unter dem Rippenbogen. Bei tiefer In-
spiration senken sich beide Grenzen nur IV2 Co-
operation: Durch Probepunktion wird im 7. Interkostalraume der
vorderen Axülarlinie Eiter gefunden. Die 8. Rippe wird hier reseziert.
Ueber tropische Leberabscesse. 103
Nachdem die beiden Pleurablätter vereinigt sind, zeigt sich das Diaphragma
beim Durchschneiden auffallend blutreich. Es ist durch Adhäsionen mit
der Leber verklebt. Der Absceß kann also einfach eröffnet werden. Nach
6 Wochen verließ Fat. geheilt die Klinik. Ein granulierendes kurzes
£anälchen war 10 Tage später geschlossen.
8. Abscessus lobi dextri hepatis. Resectio costae.
Herr L., 82 Jahre, Flötist, bekam Mitte November 1899 jeden Abend
Fieber bis 38,5 und 39,0 und gleichzeitig Schmerzen in der Lebergegend.
Die Leber reichte in der Mamillarlinie oben bis zur 6. Eippe, unten bei-
nahe bis zu Nabelhöhe. Vor einem halben Jahre hatte Fat. Abgang von
Schleim und Blut Am 4. Dez. wurde die Diagnose auf Leberabsceß ge-
stellt. Eine Frobepunktion ergab jedoch ein negatives Resultat, vermutlich
weil der Absceß an der unteren Fläche der Leber gelegen war. Inzwischen
bleibt der allgemeine Zustand merkwürdig gut, obschon die Temperatur
38,2 — 38,3 abends beträgt. Am 15. Dez. wird über dem Rippenknorpel
der 8. Rippe durch Frobepunktion Eiter gefunden.
Operation: Resektion der 8. Rippe. Diaphragma und Leber sind
verwachsen und ein ^j^ 1 groHer Absceß wird gefunden, in der Hauptsache
längs der Unterseite der Leber gelegen. Nach 4 Wochen ist Fat. geheilt.
Bei dem folgenden Patienten war der Leberabsceß vermutlich bereits
1 Jahr alt.
9. Abscessus hepatis centralis lobi dextri. Resectio
costae. Geheilt.
Herr K., 45 Jahre, Kaufmann in Soerabaia, war bereits 20 Jahre in
Indien. Vor 4 Jahren bekam er Dysenterie, worauf zahllose Rezidive
folgten. Vor einem Jahre ging er nach Europa, scheinbar gesund. Doch
ließ er sich vorher noch in der Klinik untersuchen. Hier wurde eine
stark vergrößerte Leber gefunden, so daß Fat. mit Rücksicht auf seine
Vergangenheit auf die Gefahr eines später auftretenden Abscesses auf-
merksam gemacht wurde. Bereits 2 Monate nach seiner Ankunft in Deutsch-
land bekam er Schmerzen in der Magen- und Lebergegend. Er wurde
hintereinander in verschiedenen Universitätskliniken aufgenommen. Immer
wurde Gallensteinkolik diagnostiziert, und stets war dann der Rat, ^ch
einer Gallenblasenoperation zu unterwerfen, für den Fat, der sehr „messer-
schen" war, ein Grund, die Klinik zu verlassen. Auch eine Kur in
Karlsbad und in einer Kaltwasserheilanstalt brachten keine Besserung.
Schließlich nach einem Jahre fühlte sich Fat. so krank und litt er so an
Schmerzen, daß er voll Heimweh nach seinem „Indien" zurückverlangte,
wo er sich niemals so elend gefühlt hatte wie in Europa ! Er kehrte nach Java
snrück. Leider schien das indische Klima auch nicht zu helfen. Er ging
darauf in das Bergklima Malang, wo Dr. db Waard sofort einen Leber-
absceß entdeckte und ihn in die Klinik sandte.
Status praesens: Fat. macht trotz seines kräftigen Körperbaues
und gut entwickelten Fanniculus adiposus den Eindruck eines Kranken.
In den letzten Monaten hat er 25 Ffund an Körpergewicht abgenommen.
Seit 14 Tagen ist die Temperatur morgens 37,3, abends 38,3. Die Leber
und die rechte Schulter sind spontan etwas empfindlich. Ein schmerz-
hafter Druckpunkt wird nicht angegeben. In der Mamillarlinie reicht die
Leber von dem oberen Rande der 6. Rippe bis 8 cm unter den Rippen-
bogen.
Operation: Eine Frobepunktion in der Mamillarlinie oberhalb des
104 J« A. Koohy
Knorpels der 8. Rippe ergibt Eiter in einer Tiefe von 7 cm. Von der
8. Rippe wird also ein Stück und auch der benachbarte Knorpel wegge-
genommen. Beim Dnrchschneiden des Periostes an der hinteren Seite ent-
deckt man ein wenig trübe, pamlente Flüssigkeit Weiter kommt eine
sehr bewegliche Fettmasse zum Vorschein, die dem Omentum merkwürdig
ähnelt Nach ihrer Entfernung sieht man das gestreifte Diaphragma und
die Punktionsöffhung, aus der deutlich dünner Eiter fließt Nach Ver-
einigung der Pleurablätter wird das gespaltene Diaphragma an die Leber
genäht. Aus der Leberöffhung fließt stets Flüssigkeit ^). In diese Punktions-
öffnung wird nun aufs Neue die Nadel eingestochen. Es wird aber, auch
in verschiedenen Richtungen suchend, kein Eiter gefunden. Wohl fühlt
man, mit der Nadel vorsichtig sondierend, auf 4 cm einen festen Wider-
stand, der den Eindruck eines ziemlich harten und großen Fremdkörpers
macht Die Nadel wird dann mit einiger ELraft gegen diesen rätselhaften
Körper angedrückt Plötzlich gleitet sie nach innen und wird Eiter ge-
funden. Nach Incision der Kapsel folgen Hohlsonde, Komzange und
Finger, wobei ohne nennenswerte Blutung 4 cm Lebergewebe vorsichtig
durchbohrt werden. Bei der Palpation ist es auffallend, daß die 800 com
große Höhle mitten in der Leber gelegen, besonders harte Wände hat
Festes Bindegewebe scheidet die alte Eiterhöhle von dem übrigen Leber-
gewebe ab. Tamponade. Drainage. Nach 4 Wochen verläßt Pat kräftig
und gesund die Klinik.
Günstig verlief auch der folgende Fall:
10. Abscessus lobi deztri hepatis. Resectio costae.
Qeheilt
Herr B., 32 Jahre, Beamter der Staatseisenbahn in Djocja, litt vor
einem Jahre 6 Monate lang an Dysenterie. Vor 6 Wochen bekam er
Fieber und 3 Wochen später Leberschmerzen und Anschwellung der Leber.
Diese reichte oben in der Mamillarlinie bis an die 6. Rippe, unten einen
Finger breit unter den Rippenbogen. Ein schmerzhafter Druckpunkt befand
sich mitten zwischen der vorderen und hinteren Azillarlinie im 10. Inter-
kostalraume, wo eine Probepunktion auch Eiter zu Tage fördert Die
10. Rippe wird darauf reseziert Man bleibt hier außerhalb der Pleura-
höhle. Diaphragma und Leber sind verklebt Ein Absceß von dem Lihalte
eines Liters kommt zum Vorscheine, er ist ziemlich platt und liegt an
der Unterseite der Leber. Die obere Grenze wird durch die sehr unregel-
mäßig ausge&essene Leber gebildet, die untere Grenze ist glatt, dtlnn
1) Wenn man bedenkt, daß die Probepunktionsnadel erst eine
Viertelstunde vorher entfernt war, dann war doch in dieser kurzen Zeit
ziemlich viel Eiter nach außen geflossen. Dies kann uns nicht so be-
sonders verwundern. Bei der Probepunktion eines Echinococcus hepatis
geschieht dasselbe, wenn auch die Spannung der Flüssigkeit hier etwas
größer ist (Körtb [32]). Wer mit einem Troikart Ascitesflüssigkeit ent-
leert, sieht oft noch tagelang Flüssigkeit abfließen, und doch kann dieser
Kanal bei korpulenten Personen sicher 8 cm lang sein. Auch Lebereiter,
meistens eine wasserdünne, schokoladenfarbige Flüssigkeit, worin festere
Flocken schweben, kann sehr leicht aus einer feinen Stichöffnung aus-
fließen. In unserem Falle war der Absceß 4 cm unter der Leberkapsel
gelegen, und doch floß noch nach einer Viertelstunde deutlich Eiter nach
außen.
Ueber tropische Leberabscesse. 105
und beweglich und besteht nur aus der Leberkapsel. Hier bestand also
eine drohende Perforation nach der Bauchhöhle hin. Tamponade. Drainage.
Nach 3 Wochen ist Pat. geheilt
Der folgende Patient wurde noch in alter Weise mit dem Troikart
behandelt.
11. Abscessus lobi dextri hepatis. Besectio costae.
Geheilt
Herr 8., 22 Jahre, Beamter an einer Zuckerfabrik in Mitteljava,
soll seit einigen Jahren an Malaria leiden. Vor einem Jahre hatte er
einige Wochen lang Abgang von Schleim und Blut. Vor 6 Wochen bekam
er wieder Fieber, abends 38,4 und außerdem Schmerzen in der Leber-
gegend. Die Leber wurde im ganzen größer, hatte einen schmerzhaften
Druckpunkt. Der Arzt des Pat. stach hier einen Troikart ein, der k demeure
liegen blieb. Während zweier Tage lief viel Eiter ab und Pat. fühlte
sich wirklich besser. Nach 2 Tagen stieg das Fieber an, jetzt bis 39,7
und 39,8, also höher, als es früher je gewesen war. Der Troikart wurde
entfernt und Pat. kam nach Soerabaia.
Status praesens: Dezember 1898. Pat, ein kräftig gebauter
junger Mann, ist abgemagert und kurzatmig. Er läuft sehr steif. Zwischen
der 8. und 9. Kippe in der vorderen Axillarlinie befindet sich eine Stich-
öfiTnung, aus welcher Lebereiter fließt. Die Nachbarschaft dieser Oeifnung
ist bedeutend geschwollen, vermutlich weil nach der Entfernung des
Troikarts der Eiter teilweise nach außen, teilweise in das subkutane Binde-
gewebe lief. Die Lebergrenzen befinden sich in der Mamillarlinie oben an
der 6. Rippe, unten 2 Finger breit unter dem Kippenbogen. Diagnose:
Leberabsceß des rechten Lobus, der durch den Troikart wohl getroffen,
aber ungenügend drainiert war, wodurch eine Sekundärinfektion durch den
restierenden Eiters eintrat.
Operation: Von der gefundenen Stichöffnung aus wird Schicht für
Schicht incidiert, wobei das umliegende Gewebe sich deutlich mit Eiter
durchtränkt erweist. Nach Resektion der 9. Rippe sieht man, daß Pleura,
Diaphragma und Leber fest miteinander verwachsen sind. Incision. Der
Absceß ist 700 ccm groß. Drainage. Verband. Nach 3 Wochen geheilt.
Eine eigentümliche Kombination mit „Pseudorheumatismus infec-
tiosus** kam vielleicht im folgenden Falle vor.
12. Abscessus lobi dextri hepatis. Res e c ti o c o s t a e.
Geheilt
Herr S., 35 Jahre, Kaufmann in Soerabaia, verließ im Oktober 1901
die warme Stadt, obwohl er vollkommen gesund war, und ging nach Tosari,
Hier bekam er nach 14 Tagen Diarrhöe, die 6 Wochen anhielt und später
ab und zu hartnäckig zurückkehrte. Ln Dezember bekam er eine akute
Gelenkentzündung beider Füße mit Exsudat und in geringerem Maße auch
beider Kniegelenke. Die Abendtemperatur war damals 39 C. So kam
er nach Soerabaia zurück. Nach einiger Zeit verschwanden langsam die
Gelenkanschwellungen und das Fieber [Salicyn)]. Pat. wurde wieder
1) Diese Gelenkschwellungen im Anschluß an dysenterische Diarrhöe
(auch in Soerabaia war noch deutlich Schleim in den Dejektionen) bei
einem Patienten, der früher nie an Rheumatismus articularis acutus ge-
litten hatte, lassen vermuten, daß hier ein sogenannter Pseudorheumatismus
106 J. A, Koch,
vollkommen gesund. Mitte Januar 1902 stellte sich wieder Fieber ein,
Abendtemperatur 38; die Füße waren jetzt nicht schmerzhaft, die Milz
nicht vergrößert, die Leber wohl etwas vergrößent, aber nicht schmerzhaft.
Chinin und Salicyl hatten keinen Erfolg. Anfangs Februar wurde das
Fieber höher, abends 88,8, und Fat begann zu husten. An einzelnen
Abenden hatte er Schmerzen in der Lebergegend, wodurch er nachts
nicht schlafen konnte. Die Leber ist jetzt deutlich vergrößert. Während
sie oben in der Mamillarlinie bis an die 6. Rippe reicht, fühlt man sie
unten 2 Finger breit unter dem Bippenbogen hervortreten. Im 9. Inter-
kostalraume der vorderen Axillarlinie findet man bei der Untersuchung
konstant einen schmerzhaften Druckpunkt. Eine Probepunktion ergibt
hier jedoch ein negatives Besultat. Nach 5 Tagen wird an derselben Stelle
eine zweite Probepunktion gemacht Jetzt wird Eiter gefunden und direkt
zur Operation übergegangen: Die 9. Rippe wird in der vorderen Axillar-
linie reseziert, wobei die Probenadel der Vorsicht halber sitzen bleibt
Nach Aneinandernähen der Pleura- und der Peritonealblätter kommt ein Y^ ^
großer Absceß zum Vorschein, 2 cm unter der Kapsel und mitten in der
Leber gelegen. Tamponade, Drainage. Der Wundverlauf war gut und
nach 4 Wochen ging Pat. gesund nach Hause.
Die 4 Patienten, die jetzt noch übrig bleiben, zeigten alle schwere
Komplikationen, die ihr Leben in unmittelbare Gefahr brachten. Doch
konnten alle durch operative Hilfe noch gerettet werden.
Zu allererst ein Patient mit Perforation des Abscesses längs Vorder-
und Unterrand der Leber.
13. Abscessus lobi dextri hepatis. Abscessus subphre-^
nicus e causa perforationis circumscriptae. Besectio
costae. Geheilt.
Herr K., 28 Jahre, Ingenieur, litt in Indien viele Jahre an Malaria-
fieber und Dysenterie. Seit einigen Monaten waren Leber und Milz deut-
lich geschwollen, so daß er eiligst nach Holland abreisen sollte. Am Abend
vor seiner Abreise, machte ich eine Probepunktion im 8. Interkostalraum
der rechten Papillarlinie und fand Eiter, worauf am folgenden Tage die
Operation erfolgte.
Status praesens: 6. April 1898. Patient ist sehr abgemagert
die Augenhöhlen sind eingefallen. Pat geht mit steifer Haltung, etwas
nach rechts übergebogen. Doch ist er nicht ängstlich und gibt an, keine
Schmerzen zu haben. Die Lebergegend ist augenfällig hervorgewölbt
Nach oben reicht die Leber in der Mamillarlinie bis an die 5. Rippe, nach
unten bis 2 fingerbreit unter den Rippenbogen. Hier ist Druck auf die
Bauch wand sehr schmerzhaft. Der Puls, 120, ist klein. Die Temperatur
beträgt 37,5. Die Haut ist mit kaltem Schweiß bedeckt Der konzen-
trierte Harn enthält GallenfarbstoflPe. Die Milz ist vergrößert.
Von der 9. Rippe wird der knorpelige Teil entfernt. Diaphragma
und Properitonealfettgewebe werden gespalten. Unter dem dünnen Peri-
toneum findet man einen großen, platten Absceß, zwischen Leber und
Diaphragma, aus welchem gelbgrauer Eiter fließt. Die obere Grenze
dieser Höhle kann mit dem Finger nicht erreicht werden, unten fühlt man
anein andergeklebte Darmschlingen. Nachdem von der 9. Rippe noch 4 cm
infectiosus bestanden haben kann. Hraült (7) erachtet dies bei einzelnen
Pällen von Dysenterie als pathognomonisch zueinander gehörend.
Ueber tropische Leberabscesse. 107
weggenommen sind, kann man die Leber in genügender Ausdehnung übersehen
imd palpieren. Man fühlt nun auf der Leber eine guldeugroBe, weiche
Stelle, die bei genauerer Untersuchung im Zentrum eine kleine OefFnung
zeigt, durch welche eine feine Sonde hindurchgeführt werden kann.
Nach Erweiterung dieser OefFnung kommt ein ziemlich tiefer Leberabscefl
zum Vorschein, der sich nach oben und hinten ausdehnt. Der Inhalt ist
schokoladenfarbig. Leberabsceß und subphrenische Eiterhöhle werden beide
getrennt drainiert und tamponiert. Der Wundverlauf war sehr günstig
and nach 5 Wochen fuhr Fat. geheilt nach Europa ab. Bereits aus Padang
schrieb er, daß sein erster Walzer an Bord ihm gut bekommen wilre^).
Der einzige Fall eines multiplen Leberabscesses ist der folgende:
14. Abscessus hepatis duplex lobi dextri. Beide Abs-
cesse geöffnet. Geheilt.
Hauptmann B., 44 Jahre, wurde 6 Wochen vorher wegen Leberabsceß
an seinem Wohnplatz operiert. Operation und Wundverlauf günstig, nur
das Fieber, das vor der Operation bis 39 stieg, blieb auch nachher un-
verändert bestehen. Nach 6 Wochen war Pat. außerordentlich geschwächt
und kam gänzlich erschöpft in Soerabaia an. Die Untersuchung ergab,
daß die gut granulierende Wunde auch in der Tiefe gut aussah. Eine
dicke Drainageröhre führte nach dem darunter gelegenen, apfelgroßen
Leberabsceß, der gut und genügend geöffnet war. Erst bei sehr sorg-
fältiger Untersuchung mit einer langen biegsamen Sonde ergab sich, daß
die Sonde, die überall gegen die Wand der apfelgroßen Höhle stieß, an
einer Stelle 15 cm lang in der Tiefe verschwand. Da einige Wochen
vorher bei dem Pat. eine Perforation des Abscesses in den Darm vermutet
wurde, wurde erst diese Möglichkeit erwogen. Die Sonde führte aber
nicht nach unten, sondern im Gegenteil nach oben und innen. Ueberdies
stammte die rotbraune Flüssigkeit, die aus dem Anus floß, von einer noch
nicht geheilten Dysenteria necrotica her. Da außerdem die Menge Eiter,
die aus dem Absceß herauskam, viel größer war, wie man aus der ge-
fundenen apfelgroßen Höhle erklären konnte, mußte wohl ein kommuni-
zierender zweiter Absceß angenommen werden.
Operation: Ueber der bestehenden Leberwunde wurde zwischen Ma-
millar- und Axillarlinie ein 7 cm großes Stück der 8. Rippe reseziert, das
nach dem Verlauf der Sonde den zweiten Absceß bedecken mußte. Pleura-
und Peritonealblätter waren überall verwachsen, so daß man leicht zu dem
zweiten Absceß bequemen Zugang erhielt. Drainage. Tamponade. Der
weitere Wund verlauf war sehr günstig. Auch die Dysenterie heilte unter
1) Die erste Frage ist hier, ob auch durch die Probepunktion 12
Standen vor der Operation die subphrenische Perforation verursacht sein
konnte? Doch das ist nicht möglich. Bei der Probepunktion sahen wir,
daß gelbgrauer Eiter gefunden wurde, während der eigentliche Leberabsceß
schokoledenfarbigen Eiter enthielt. Außerdem konnte man nur Eiter an?
saugen, solange die Nadel ziemlich an der Oberfläche blieb. Daß die
Oeffnung gerade im Zentrum der erweichten Stelle gefunden wurde, ist
auch ein Beweis, daß diese spontan zu stände kam. Als sicher dürfen wir
annehmen, daß durch die Probepunktion allein der subphrenische Absceß ge-
funden und angestochen wurde. Durch Zerfall des Lebergewebes war der
Lebereiter schokoladenfarbig ; für den subphrenischen Absceß bestand diese
Ursache zur Färbung nicht, daher war dieser Eiter gelbgrau.
108
J. A. Koch,
Jodoformbehandlnng schnell. Pat, der seit Wochen zu schwach war, um
sich selbst umdrehen zu können, überraschte bereits nach 15 Tagen seine
Frau, indem er aufrechtstehend Mücken in seinem Klamboe fing. Nach
6 Wochen ging er vollkommen geheilt nach Hause. Er wurde dick und
kräftig und ging täglich auf die Jagd. Leider bekam er nach Jahresfrist
in Magelang Dysenterie, woran er starb.
Konnten wir hier von einer vollkommenen Heilung sprechen, da die
Dysenterie, die 1 Jahr später wieder zum Ausbruch kam, als eine zufäl-
lige Komplikation betrachtet werden kann, so war das Resultat im fol-
genden Fall weniger vollkommen, wenn auch anfangs das unmittelbare Resul-
tat sehr gut schien. Es war der größte Leberabsceß, den ich jemals
gesehen habe, ungefähr 6 Liter groß, wobei scheinbar der halbe Unter-
leib des Pat. mit Eiter gefüllt war.
15. Abscessus lobi dextri et
sinistri hepatis. P erforatio re-
troperiton ealis. Resectio Cos-
ta e. Geheilt
Januar 1898. Pastor H., 80 Jahre,
wurde 3 Monate vorher von seinem
Arzt, der eine Probepunktion bei ihm
gemacht hatte, wegen Leberabsceß in
die Klinik zu Soerabaia geschickt. Auf
der Reise jedoch erhielt er von einem
anderen Arzt den Rat, lieber nach den
Bergen von Ngadiwono zu gehen, welchen
Rat Pat. natürlich gerne befolgte. In
Ngadiwono war aber damals kein Arzt
und hier wurde Pat. je länger, je
schwächer. Im höchsten Maße erschöpft,
ging Pat. endlich in das Krankenhaus
von Dr. v. G. in Malang, wo sofort ein
riesiger Leberabsceß mit retroperitone-
aler Perforation diagnostiziert wurde.
Abreise nach Soerabaia. Ein Jahr vor-
her hatte Pat. etwas Dysenterie.
Status praesens: Pat. ist äußerst abgemagert. Puls 120 und
schwach. Atmung 45, Dyspnoe. Sprache skandiert. Er hustet. Tempe-
ratur abends 39,5, morgens 38. Haut kalt und feucht. Die ganze rechte
Hälfte des Rumpfes ist stark hervorgewölbt, sowohl Brust wie Bauch
(s. Fig.) und bei der Atmung unbeweglich. Die Leberdämpfung reicht
vorne bis an die 2. Rippe, in der Achsel bis an den 3. Interkostalraum
und hinten bis an den Angulus scapulae. Medran reicht die Dämpfung
bis über das Stemum. Unten fühlt man den Leberrand noch 3 Finger
breit unter dem Rippenbogen. Am Bauch fühlt man in der Nierengegend
einen großen kugelförmigen Tumor. Dieser reicht median bis an den
Nabel, unten bis zur Leistenfalte und oben bis an die Leber. Das
Kolon liegt vor demselben und nach der Nierengegend wölbt sich
die fluktuierende Geschwulst ebenfalls stark hervor. In der Seite ist
die Hautfalte überall etwas dicker. Diagnose: Riesig großer Leber-
absceß, der beinahe den halben Thorax füllt. Nach hinten ist der Absceß
in die Nierengegend perforiert. Das lose, maschige retroperitoneale Ge-
webe ist hier zu einer großen, mit Eiter geftlllten Höhle umgebildet, so
Ueber tropische Leberabscesse. 109
daÜ das Bild auffallend dem einer großen Hydronephrose gleicht. Wegen
der starken Dyspnoe besteht zu allererst eine Indikation für die OefPnung
des Leberabscesses.
Operation: Nachdem die 8. Eippe in der Axillarlinie in einer Aus-
dehnung von 9 cm weggenommen ist, wird durch das infiltrierte Gewebe
der enorme Leberabsceß bequem geöffnet. Circa 6 Liter Eiter fließen
nun langsam nach außen. Wirklich ergibt sich bei der Untersuchung,
daß die Höhle beinahe den halben Thorax einnimmt, und zwar oben
bis zur 2. Rippe, median bis zum Sternum und unten bis 3 Finger breit
unter den Rippenbogen (s. Fig.). Man bekommt den Eindruck, als ob
von der Leber nichts weiter übrig geblieben wäre als die Kapsel. In dieser
Höhle fühlt man endlich nach einigem Suchen hinten unten eine OefPnung,
die die Fingerspitze passieren läßt. Diese Oeffiiung führt nach dem großen
retroperitonealen Absceß, der jetzt langsam leerläuft. Bei dem stark er-
schöpften Fat. jetzt noch eine Gegenöffnung in der Nierengegend zu machen,
wird als zu eingreifend verworfen. Es wird beschlossen, erst einige Tage
abzuwarten. Drainage. Tamponade.
Nachbehandlung. Während zweier Tage nach der Operation ging
alles nach Wunsch und betrug die Abendtemperatur 37,7. Am 8. und 4.
Tage stieg die Temperatur abends wieder auf 39,2 und 39,6. Der Fat
hatte ein schlechtes Aussehen. Beim Verbandwechsel ergab sich, daß eine
bedeutende Eiterretention hinter der Gaze aufgetreten war, mit sekun-
därer Infektion, denn der Eiter stank wenigstens. In der Folge wurde
3mal am Tage der Verband gewechselt und Imal mit gekochtem Salicyl-
wasser irrigiert. Fat. lag ausschließlich auf der rechten Seite auf einer
Wassermatraze, mit erhöhtem Becken, so daß auch der Bauchabsceß voll-
ständig leerlaufen konnte. 4 Tage lang blieb die Abendtemperatui* noch
auf 38,3. Darauf sank sie per lysin zur Norm. Der Appetit kam lang-
sam zurück und die Körperkräfte nahmen zu. Der abdominale Tumor
war verschwunden. Durch den positiven Bauchdruok und die geneigte
Lage schien aller Eiter aus der niedrig gelegenen Oeffnung entfernt zu
werden, so daß eine Incision in der Nierengegend nicht mehr notwendig
war. Der weitere Wundverlauf war sehr günstig. Die große Höhle im
Thorax verkleinerte sich merkwürdig schnell und in Uebereinstimmung
hiermit dilatierte sich die komprimierte rechte Lunge wieder ausgiebig.
Nach 6 Wochen war die Wunde geheilt. Am Bauche konnte man nichts
Abnormales mehr finden und die Lungengrenze reichte in der MamiUarlinie
bis zur 7. Kippe. EineLeberdämpfungbestandjedochso gut wie
nicht. Fat. sah blühend und gesund aus und verließ die Klinik. Einige
Monate lang lebte Fat sehr vorsichtig und befand sich gut. Dann wünschte
er wieder fleißig zu arbeiten, war aber dazu nicht im stände. So blieb er
noch 2 Jahre kränkelnd in Indien und blieb auch nach seiner Bückkehr
in Holland schwach. Ich sah den Fat. nicht mehr, vermute aber, daß
durch den enormen Verlust an Lebergewebe der Stoffwechsel und die
Zirkulation allein bei einem sehr ruhigen Leben noch regelmäßig vor sich
gehen können.
Viel Schwierigkeiten gab der folgende Fall:
16. Abscessus subphrenicus e causa perforationis abs-
cessus hepatis. Fistulae hepatis lobi dextri. Multiple
Operation. Resectio Lannelongue. Geheilt.
Herr S., 39 Jahre, Makler, kam im März 1901 in die Klinik mit
110 J. A. Koch,
Anzeichen von Leberabsoeß. Er läuft steif und gebückt. Die Leber
reichte in der Mamillarlinie oben bis an die 6. Rippe, unten bis 1 Finger
breit unter den [Rippenbogen und war difPus schmerzhaft. Mager war
Pat. nicht. Sein Körpergewicht hatte aber in 3 Monaten um 20 kg ab-
genommen. Seit einem halben Jahre bestand ein Dickdarmkatarrh.
Eine Probepunktion im 8. Interkostalraum ergab Eiter. Die 8. Rippe
wurde hierauf in der Axillarlinie reseziert. Pleurablätter und Diaphragma
waren verklebt und nach ihrer Spaltung fand man einen tellergroßen,
platten Absceß zwischen Leber und Diaphragma. Also ein subphrenischer
Absceß. Oewissenhaft wurde nun soweit wie möglich die Leberoberfläche
untersucht. Man fand aber nichts Besonderes an ihr. Nirgends bestand
ein Anzeichen an der Leber, von welcher Stelle aus der subphrenische
Absceß sich hätte entwickeln können. Es wurde also nicht ins Blinde
hinein eine weitere Rippenresektion ausgeführt, sondern lieber vorläufig
abgewartet.
Nach der Operation genas Pat. schnell und sah gesund aus. Man
hätte an eine vollkommene Heilung denken können, wenn nicht vom sub-
phrenischen Absceß ein Fistelgang übriggeblieben wäre, aus dem täglich
ein Fingerhut voll Eiter herauskam. Dieser Gang lief von der Seite bis
an den Processus ensiformis. Hier wurde also eine Gegenöifnung gemacht.
Das hatte aber wenig Erfolg und die Eiterabscheidung blieb unverändert
bestehen. Es war klar, daß die Leber breit freigelegt werden mußte, um
den Sitz des Eiters zu finden. Zu diesem Zweck wurde nach Lankblongue
dem Rippenbogen entlang incidiert. Von der 10., 9., 8. und 7. Rippe
wurde hintereinander der Knorpel weggenommen. Die Blutung war dabei
ziemlich stark und wurde sorgftltig gestillt. Die Leber war tiberall, so-
wohl mit dem Diaphragma als auch mit dem Peritoneum verwachsen, so
daß die Bauchhöhle geschlossen bleiben konnte. Nach Zurückziehen der
Wundränder lag die Leber über eine große Strecke frei in der Wunde.
Sorgftlltig folgte man nun dem Fistelgang, bis man die Stelle fand, wo er
in die Leber mündete. Hier wurde die Leber mit Hilfe einer Hohlsonde
inzidiert, wodurch einige Umstechungen notwendig wurden. Zwei ver-
schiedene Fistelgänge wurden nun in der Leber gefunden. Der eine lief
in medianer Richtung erst horizontal, um dann in die Tiefe zu dringen.
Er war 6 cm lang. Der andere Gang, 5 cm lang, lief nach unten und
blieb oberfiächlich. Dieser letztere wurde bis zu seinem Ende hin ge-
spalten. Tamponade mit Jodoformgaze. Von der tiefergehenden 6 cm
langen Fistel wurde mit Schere und Messer so viel gespalten, bis die
I Blutung alles unsichtbar machte ^). Tamponade. Weiter wurde die Fistel
bei jedem Verbandwechsel von der ofi*en tamponierten Wunde aus täglich
i 1 cm weiter gespalten, so daß nach 4 Tagen der ganze Gang in eine
trichterförmige Wunde umgewandelt war. Während in beiden großen Leber*
wunden der Jodoformgazetampon täglich gewechselt wurde, folgte eine
günstige und, was die Leberfisteln anging, auch vollständige Heilung.
Einige Enttäuschung gab das Nekrotischwerden eines Rippenstückes. Alle
blosgelegten Rippen heilten ohne Störung, nur die proximale Schnittfläche
der 7. Rippe wurde oberflächlich nekrotisch und Patient ging mit einer
1) Vielleicht hätte hier das PAQUBLiNsche Messer mit Vorteil gebraucht
werden können. Das Unangenehme hierbei ist, daß eine eventuelle Blutunng
unter dem Schorfe sehr diffus stattfindet, so daß man nicht mehr sehen
kann, wo die Umstechung erfolgen soll.
Ueber tropische Leberabscesse. 111
kleinen Fistel nach Hansa Spontane Heilung trat jedoch nicht ein. Es
entwickelte sich nach einigen Monaten eine progrediente Periostitis und
Osteomyelitis, die schließlich bis an das Stemum reichte. Von der 7. Rippe
mußte nun ein 6 cm langes Stück aus der kleinen entstandenen Knochen-
lade entfernt werden, bevor endlich eine vollkommene Heilung erfolgte.
Auch bei den 4 zuletzt beschriebenen Patienten konnte also das
schwer bedrohte Leben noch gerettet werden.
Literatur.
1) Adamidi (Cairo), Sem. möd., 1900, p. 80. — 2) Auerbach, Dtsch.
med. Wochenschr., 1898, p. 75. Batb, Lancet, 1901, Sept. 21. — 3) Bbbgbr,
Sem. m6d., 1897, p. 262. — 4) Bbrgmann, Mikulicz, Brüns, Handbuch der
prakt. Chir., Bd. 3. — 5) Boinbt, Sem. m^d., 1901, p. 8; ebenda 1898,
p. 167. — 6) Bruno Lbick, Dtsch. med. Wochenschr., 1898, p. 313. —
7) Brault, ref. Tijdschr. voor Geneesk. voor Ned. Ind., Dl. 39, blz. 267.
— 8) Cadbt bb Gassicourt, Sem. m^d., 1899, p. 319; Cantub, Brit. med.
Journ., 1901, Sept. 14—9) Castro, Les absces du foie des pays chauds
et leur traitement chirurgical, Paris 1870. — 10) van Dijk, Tijdschr. voor
Geneesk. vor Ned. Ind., Dl. 32 ; Dbpontainb, Gaz. des Höp., 1888, No. 74
—98; Dick, Brit. med. Journ., 1901, March 9, p. 676. — 11) Ewald,
Sem. m6d., 1897, p. 71; MüncL med. Wochenschr., 1897, p. 21; Berl. klin.
Wochenschr., 1897, p. 169. — 12) Eykman en van der Schbbr, Geneesk.
Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 32 en 33; Jaarverslag Labor. Weltevreden.
— 13) Faroanbl, Centralbl. f. Chir., 1889, p. 602. — 14) Elbxnbr, Centralbh
f. Chir., 1897, p. 1301. — 15) Fontan, Centralbl. f. Chir., 1899, p. 306;
Sem. m^d., 1900, p. 80; ebenda, 1898, p. 397. — 16) Geil, Geneesk.
Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 32, blz. 687. — 17) Gärard-Marchant, Sem.
med., 1898, p. 67. — 18) Gbssner, Centralbl. f. Chir., 1900, p. 704;
GiuuNi, Münoh. med. Wochenschr., 1901, No. 11. — 19) Giordano, Centralbl.
f. Chir., 1900, p. 1279; Sem. m^d., 1900, p. 272. — 20) de Haan, Ned.
Tijdschr. voor Geneesk., 1893, II, blz. 205, De leer der protozoeninfectie.
— 21) Halb White, Lancet, 1894, March, p. 789; Hobpfb, Münch. med.
Wochenschr., 1901, No. 29. — 22) Hache (Beyrouth), Centralbl. f. Chir.,
1900, p. 1878; Sem. m^d., 1900, p. 80. — 23) Huberts von Assenraad,
Geneesk. Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 32, blz. 885. — 24) Jacobs, Geneesk.
Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 32, blz. 731. — 25) Johnston, Centralbl. f.
Chir., 1889, p. 399. — 26) Kartulis, Zur operativen Behandlung der
Leberabscesse, Dtsch. med. Wochenschr., 1886, No. 26; Virchows Arch.,
Bd. 118, 1889, p. 97. — 27) von Kahldbn, Münch. med. Wochenschr.,
1896, p. 136. — 28) Kocher, Chirurgische Operationslehre. — 29) Welsch
et NiMiER, Bull, de l'acad. de m^d. de Paris, 1900, Mars 6; Sem. m6d.,
1900, p. 80. — 30) VAN Kerckhoff, Geneesk. Tijdschr. voor Ned. Ind.,
Dl. 39, blz. 352. — 31) König, Spezielle Chirurgie. — 32) Körte, Berl.
klin. Wochenschr., 1892, No. 32; Bruns' Beitr. z. klin. Chir., 1899, 23,
p.272. — 33) Kruse, Dtsch. med. Wochenschr., 1900, No. 40. — 34) Langbn-
buch, Chirurgie der Leber und Gallenblase, I, Dtsch. Chir., Bergmann u.
Bruns, Liefrg. 46c. — 35) lb Dbntu et Dblbbrt, Traitö de Chirurgie. —
112 J. A. Koch, üeber tropische Xieberabscesse.
36) Lapourcadb, Sem. m^d., 1898, p. 8. — 37) Lbjars, Chir. d'ürgence,
p. 504. — 38) LiPSTBiN, Dtsch. Zeitschr. f. Chir., 1899, Bd. 52, p. 162.
— 39) LoisoN, Sem. mM., 1898, p. 120; Centralbl. f. Chir., 1899, p. 504;
Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1900, II, hlz. 732. — 40) Lucas Championni^rb,
Sem. m6d., 1900, p. 30. — 41) Maasland, Geneesk. Tijdschr. voor Ned.
Ind., Dl. 39, blz. 275. — 42) Mannbk, Wien. klin. Wochenschr., 1896,
p. 129, 153. — 43) Malbot, Centralbl. f. Chir., 1900, p. 574. — 44) Maclbod,
Lancet, 1895, Oct. 26, p. 1037; Brit med. Journ., 1900, Sept. 1. —
45) Marcus, Geneesk. Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 33, blz. 73. — 46) Monod
et Vanvbrts, Trait^ de technique op^ratoire, T. 2, p. 416. — 47) Mansok
(Patric), Tropical diseases. — 48) Pbl, Berl. klin Wochenschr., 1890,
No. 34, p. 765; Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1900, I, blz. 879. —
49) Pbtbrs, Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1896, I, blz. 966. — 50) Pruys,
Geneesk. Tijdschr. voor Ned. Ind., Dl. 41, Afl. 5, Leverabsces. — 51 Pbyrot
et RoGBR, Centralbl. f. Chir,, 1897, p. 711, ref. — 52) Potbjbnko, Centralbl.
f. Chir., 1899, p. 682. — 53) Pothärat, Sem. m6d., 1898, p. 60. —
64)'Rbndu, Sem. möd., 1897, p, 262. — 56) Richblot, Sem. m6d., 1898,
p. 8. —^56) RisPAL, Sem. m6d., 1898, p. 86. — 57) Robert, Sem. m^d.,
1898, p. 120. — 58) RusTHON Parkbr, Brit. med. Journ., 1897, p. 1577.
— 59) Sachs, Operative Behandlung der Leberabscesse, Langbnbbcks Arch.,
Bd. 19, p. 235. — 60) van der Schbbr, Ned. Tijdschr. voor Geneesk.,
1900, I, blz. 72. — 61) Scheubb, Die Krankheiten der warmen Länder.
— 62) Simon Plbxnbb, Dtsch. med. Wochenschr., 1898, p. 8. — 63) Smits,
Zur Chirurgie des Leberabscesses, Langenbbcks Arch., Bd. 61. — 63a) Smits,
Tijdschr. voor Geneesk. voor Ned. Ind., Dl. 33, Afl. 1. — 64) Spronck,
Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1902, No. 18, Nov. — 65) Stichbr, Dtsch.
med. Wochenschr., 1898, p. 8. — 66) Strbtton, Lancet, 1894, Oct, p. 797.
— 67) Swain, Centralbl. f. Chir., 1899, p. 318. — 68) Trevbs, System of
Surgery. — 69) Vbrmby, Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1890, 1, No. 13. —
70) Walter Boyd (Grenada), British med. Journal, 1897, p. 470. —
71) Walthbr, Centralbl. f. Chir., 1899, p. 48; ebenda, 1897, p. 663; Sem.
m^d., 1898, p. 67. — 72) Warning, Brit. med. Journ., 1898, p. 673. —
73) WiJNHOPP, Ned. Tijdschr. voor Geneesk., 1888, No. 2"; Watts, Brit.
med. Jöurn., 1901, June 29, p. 1618, — 74) Wijsman en Grippbling, Berl.
klin. Wochenschr., 1894, No. 13, p. 323. — 75) Zancarol, Traitement
chirurgical des absc^s du foie des pays chauds.
FrommaDOfche Bnchdraektral (Hermann Fohle) in Jena. *— 2642
Aus der chirurgischen Klinik und dem pathologischen Institute
der Kgl. Universität Breslau.
Nachdruck yerboteiu
YIL
Die Lymphdrüsenmetastasen
beim Magenkrebs.
Von
Dr. Rennery
Volontärassistenten der Klinik.
(Hierzu 24 Abbildungen im Texte und 1 graphische Tabelle.)
Die Untersuchungen, welche Lengemann (1) über „die Erkran-
kungen der regionären Lymphdrüsen beim Krebs der Pars pylorica des
Magens^ anstellte, erstreckten sich seinem Materiale gemäß nur auf die
bei Magenresektion mit entfernten Drüsen. Für die Entscheidung der
Frage, wie weit die regionären Drüsen mit erkrankt zu sein pflegen,
erschien daher eine Untersuchung möglichst aller regionärer Lymph-
drüsen in solchen Fällen von Magenkrebs, welche zur Autopsie kamen,
unumgänglich notwendig. Auf Anregung von Herrn Geh.-Rat Prof.
Dr. TON Mikulicz übernahm ich diesen Teil der Untersuchung, welche
mir durch die liebenswürdige Ueberlassung des Materiales von Herrn
Geh.-Rat Prof. Dr. Ponpiok ermöglicht wurde. Es sei mir gestattet,
Herrn Prof. Ponfice an dieser Stelle meinen ergebensten Dank dafür
aaszusprechen.
Das von Lengemann auf das Garcinom der Pars pylorica be-
schränkte Arbeitsgebiet erweiterte ich auf Krebse aller Teile des
Magens, um überhaupt die bis dahin nicht sehr vollständigen Unter-
suchungen über die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs der not-
wendigen Ergänzung zu unterziehen. Zu diesem Zwecke schien es
auch angebracht, nicht nur resezierte Fälle zu untersuchen, sondern
auch nicht operierte, und solche, bei denen nur die Gastroenterostomie
vorgenommen werden konnte. Endlich zog ich allmählich nicht nur
die regionären Drüsen erster und zweiter Etappe [Cun^o (2)J in den
Kreis meiner Untersuchungen, sondern auch solche, die mit dem Lymph-
system des Magens keinen direkten Zusammenhang mehr haben.
Dadurch wuchs die Zahl der in den einzelnen Fällen zu unter-
lOtteU. a. d. GraBzgableten d. Mediiin o. Chinuvie. ZIU. Bd« 8
114
Benner,
suchenden Drüsen außerordentlich, und ich mußte mich infolgedessen
mit einer verhältnismäßig kleinen Anzähl von Fällen begnügen. Es
kamen im Laufe der IV2 Beobachtungsjahre 15 Fälle zur Autopsie.
Bei der Bearbeitung ergab sich eine Reihe neuer Gesichtspunkte
und Fragen, die zum Teil erst durch Untersuchung einer viel größeren
Anzahl von Fällen exakt beantwortet werden können. Ich habe mein
Hauptaugenmerk nur auf folgende Fragen gerichtet:
1.^) Läßt der makroskopische Befund einen unbedingten Schluß auf
etwaige carcinomatöse Infektion einer Drüse zu?
2.^) Besteht ein Zusammenhang zwischen Sitz des Tumors und
Sitz der erkrankten Drüsen, und ist danach Gun£os (2) Forderung ge-
rechtfertigt, alle der erkrankten Partie zukommenden Drüsen erster
Ordnung zu entfernen?
3.^) Kommt die Metastasierung der Lymphdrüsen in der Regel
embolisch oder durch kontinuierliches Wachstum zu stände?
4) Fanden sich in resezierten Fällen bei der Autopsie noch Drüsen-
metastasen?
Das Material bestand, wie schon erwähnt, aus den bei der Autopsie
gewonnenen Lymphdrüsen. Nur in einem Falle (VI), welcher erst nach
Abschluß der LENOEMANNschen Arbeit zur Operation kam, habe ich zur
Vervollständigung auch die bei der Operation gewonnenen Drüsen mit-
untersucht.
üeber die Topographie der
regionären Lymphdrüsen muß ich
auf die erschöpfende Darstellung
Lengemanns (1) hinweisen. Zur
raschen Orientierung sei aus ihr
die Fig. 1, und aus CuNfios (2)
Arbeit die Fig. 2 gegeben.
Auch meine Untersuchungen
können keinen Anspruch auf Voll-
ständigkeit erheben. In einigen
Fällen verbot das Sammlungs-
interesse eine Zerstörung inten-
siver Verwachsungen, durch wel-
che allein manche Drüsengruppe
erst zugänglich geworden wäre.
Manchmal waren auch die topo-
graphischen Verhältnisse durch
Verwachsungen , carcinomatöse
Fig. 1. Die ersten regionären Lymph-
drüsen des Magens (nach Staub). Die schraf-
fierten Drüsen li^en an der Hinterwand.
1) In ergänzender Beantwortung der schon von Lbnobmann (1) auf-
gestellten Fragen.
Die LymphdrOseninetastasen beim Magenkrebs.
115
OlcMd. curv, min.
Gland, hepatic-^
Gl. retropyk..
Gl. fubpyl.
Ton der Wurzel d. Mesocolon
am Stamm der Cor. ventr. ein.
Ol. euprapamer.
Ol, coeliac.
Ol. meeocol.
Fig. 2. Der Magen ist in der Mitte quer dnrchjBchnitten und nach rechts und
links anseinandergeklappt gedacht. Leber und Colon sind nach oben bezw. unten
gezogen. Ans: Cüneo.
Infiltration oder Schrumpfung derart verändert, daß die regionären
Drüsen zum Teil entweder überhaupt nicht aufzufinden, oder ihrem
Sitze nach nicht sicher festzustellen waren. Speziell bei den supra-
pankreatischen Drüsen und den Drüsen der kleinen Kurvatur wird
infolgedessen hier und da eine Verwechselung nicht ausgeschlossen sein.
Die Technik der Untersuchung war dieselbe, wie bei Lengemann:
Einbettung in Paraffin, Zerlegung in 10 ^ — in einzelnen Fällen auch
dünnere — Schnitte, Färbung mit Hämatoxylin-Eosin und Durchmikro-
skopieren jedes 11., bei kleineren Drüsen jedes 6. Schnittes mit Hilfe
des verschiebbaren Objekttisches. Bei ganz kleinen Objekten wurden
auch lückenlose Serien untersucht.
In der folgenden Darstellung beginne ich mit den resezierten
6 Fällen. Diesen reihen sich 3 Fälle von Gastroenterostomie an,
während 6 nicht operierte den Schluß bilden.
L P. HL Joum.-No. chir. Klinik 173/1901.
In vivo waren vergrößerte Lymphdrüsen nirgends zu fühlen. Befund
bei der Operation: Sowohl an der kleinen wie an der grollen Kurvatur
finden sich bohnengroße Drüsen. Im Omentum minus reichen sie fast bis
zu Cardiahöhe empor. Auch auf dem Pankreas liegen Drüsen. Die Drüsen
aas dem Omentum minus werden flir sich ezstirpiert, ebenso die auf dem
Pankre&s.
Der Tumor saß zirkulär, ließ aber an der kleinen Kurvatur den Py-
lorus frei.
Mikroskopisch : teilweise Gylinderzellenkrebs, teils Carcinoma solidum.
Sektionsbefund: Die regionären Lymphdrüsen sind bereits bei der
Operation entfernt (cf. Lbitobmann IV).
8*
116 Renner,
untersucht werden: Gruppen 1 — 6. 11 Lumbaidrüsen, von der Gegend
der Abgangsstelle der Nierenarterien etwa handbreit aufwärts. Ihre Kon-
sistenz ist mäßig derb, ihre Größe 9X7, 7X3, 7Xö, 16X8, 10 X 9,
15 Xö, 7X8, 14X^0 mm. Sie sind sämtlich frei von Krebs; eine
davon (4) ist entzündlich hyperplastisch.
Gruppe 7, 2 Bronchialdrüsen von 15 X^ ^^^ l^X^ "^"^ sind eben-
falls normal. Hier fanden sich also in den untersuchten Drüsen, welche
allerdings nicht mehr dem Lymphgef^ßsystem des Magens angehören, keine
Metastasen mehr. Erwähnenswert scheint es, daß trotzdem die makro-
skopische Sektionsdiagnose gelautet hatte: Intumescentia et infiltratio car-
cinomatosa glandularum retroperitonealium.
n. B. K Journ.-No. chir. Klinik 488/1901.
Befund bei der Operation: Drüsen im Ligamentum gastrocolicum und
an der kleinen Kurvatur in mäßiger Menge. Der Tumor saß zirkulär am
Pylorus.
Mikroskopisch: zum größten Teil Scirrhus, stellenweise Carcinoma
solidum.
Drüsen: Von regionären Drüsen erster Station wird nichts mehr
gefunden (cf. Lbnobmann V). Eine kirschgroße, mäßig derbe, supra-
pankreatische (Gruppe 3) ist stark degeneriert, aber frei von Csur-
cinom. Eine gelblichweiße, 4 Finger breit über dem Zwerchfell gelegene
Mediastinaldrüse von löX^ nim (Gruppe 1) enthält zahlreiche Riesen-
zellen, einzelne verkäste Partien und Tuberkel. Ebenso sind 2 andere
in Höhe des 9. und 8. Brustwirbels gelegene Mediastinaldrüsen von
derber Konsistenz (6X^ nim und 16 X^ mm) tuberkulös (Gruppe 4 u. 7).
Von 3 derben Bronchialdrüsen (Gruppe 2) ist die eine (7X6 i^i"»)
normal, die beiden anderen sind tuberkulös (9X7 und 8X7 mm).
Trotz des so günstigen Drüsenbefundes in diesem Falle bestand in
der Leber eine Krebsmetastase.
in. G. K Journ.-No. chir. Klinik 672/1901.
Befund bei der Operation: An der kleinen Kurvatur sind vergrößerte
oder derbe Drüsen nicht zu fühlen. Es handelt sich hier um einen zir-
kulären, stark stenosierenden Pylorustumor.
Mikroskopisch: Adenoma malignum.
Die regionären Lymphdrüsen sind schon bei der Operation entfernt
(cf. Lbngbmann XI). An der Leberpforte und unter dem Kopfe des Pankreas
liegt je ein Paket stark vergrößerter, verkäster Lymphdrüsen. Ebenso
Enden sich längs der Wirbelsäule bis hinab zum Kreuzbein eine Menge
neben- und hintereinanderliegender, in gleicher Weise veränderter Drüsen.
Da somit schon makroskopisch ausgedehnte Tuberkulose der Lymph-
drüsen festgestellt werden konnte (es bestand außer alter Spitzentuberkulose
auch ein großes tuberkulöses Geschwür in der Gegend der BAUHiNischen
Klappe), wurden nur einige Drüsen als Stichproben untersucht, und zwar
2 Lumbaidrüsen (Gruppe 1), 2 Bronchialdrüsen (Gruppe 2) und 2 Mesen-
terialdrüsen (Gruppe 3). Ihre Maße waren: 11X5, 12X8, 7X6. ^X^,
11,5X8, 9X8 mm. Sie erwiesen sich ausnahmslos als tuberkulös.
An der kleinen Kurvatur waren Drüsen bei der Operation nicht gefühlt
und auch nachträglich nicht von Lbngbmann am resezierten Stück gefunden
worden. Daß sie ganz gefehlt haben, ist unwahrscheinlich, da ihr Vor-
kommen nach allen bisherigen Untersuchungen konstant ist. Man maß
wohl annehmen, daß sie ganz klein waren und bei der Operation in einem
Stückchen des resezierten Omentum minus verloren gingen.
Die LymphdrOsemnetastasen beim Magenkrebs.
117
Die von Lkngbmann untersuchten subpylorischen Drüsen waren sämt-
lich frei von Carcinom. Dem entspricht, daß ich bei der Sektion ebenfalls
keine regionären Drüsen mehr fand, und daß die entfernteren unverdächtig
erschienen, bezw. sicher tuberkulös waren.
IV. M. W. Journ.-No. chir. Klinik 728/1901.
Befund bei der Operation: Geschwollene Drüsen im Omentum majus
zwischen Magen und Dickdarm und in der Umgebung des Pankreas.
Nach Vorziehen des Dickdarmes lassen sich die Drüsen leicht abklemmen
and exstirpieren ; etwas mehr Schwierigkeiten machen die Drtlsen am
Fig. 3.
Fig. 4.
In allen Figuren bedeutet:
normale Drüse,
entzündlich hyperplastlBche Drüse,
^ carciDomatöse Drüse.
Die Nummern bei den Drüsen ent-
sprechen den Gruppennummem des Textes.
Pankreaskopfe. Der Tumor war
ein ausgedehntes, zirkuläres Py-
lomscarcinom, mikroskopisch Cy-
linderzellencarcinom.
Drüsen (Fig. 3 u. 4) : Die re-
gionären Drüsen erster Station sind
schon bei der Operation entfernt
(cf. Lenobmakn VII). Von den
Drüsen zweiter Station findet sich
eine ganze Anzahl mittelgroßer,
ziemlich derber, suprapankreatischer Drüsen, und zwar 7 von der
medialen Hälfte (Gruppe 8), 5 von der lienalen Hälfte (Gruppe 9).
Gruppe 8 : 9,6 X ö,2, 8,5 X 2,2, 8,3 X ^,2 mm. Sie sind stark mit
Carcinomzellsträngen angefüllt, welche hauptsächlich den Lymphbahnen
folgen. Auch in der Umgebung der Drüsen liegen mehrere Herde, so daß
Wer wohl Metastase auf dem Wege kontinuierlichen Wachstums ange-
nommen werden darf. Auch die folgenden (1,9 X^A 3,1X^,6, 5,1X^,2,
7X6 mm) sind hochgradig carcinomatös; zum Teil befinden sie sich in
beginnender Degeneration.
Gruppe 9: (7,7X10,7, 10,4X7,3, 4,4X6,2, 6,2X^,8, 7,3X^,3 mm.)
Auch hier ist die Carcinomentwickelung außerordentlich weit fortgeschritten;
die eine Drüse enthält nur noch spärliche Reste von Lymphdrüsengewebe.
An der großen Kurvatur, viel weiter cardiawärts, als man gewöhnlich
118 Renner,
Drüsen za finden pflegt, liegen 4 dunkle, ziemlich weiche Drüsen, die ich
noch sn den snbpylorischen rechnen will (Qnippe 10). Sie sind kaum
vergrößert (3,7 XM, ^^XM» ^»9X2,2, 2,1 X2,4 mm). Sie bieten alle
das Bild mehr oder weniger starker katarrhalischer Desquamation, zum
Teil mit Hämorrhagien, sind aber frei von Garcinom.
In 9 ziemlich weichen Sakral- und Lumbal drüsen (Gruppe 1)
ist die Metastasierung außerordentlich fortgeschritten. Die Carcinomzellen
sind teils in soliden Strängen, teils mehr diffus infiltrierend angeordnet.
Selten eine Andeutung von Lumen. Die Größe dieser Drüsen ist : 2,7 X ^i
6,2 X 3,6, 2,5 X 6,7, 6,6 X 1 1,1, 8,2 X 3,9, 2,4 X 10,3, 6,7 X 12, 13,4 X* mm.
9 weiter aufwärts gelegene Lumbaldrtisen (Gruppe 5) von 5,5 X 3,ö,
3,8X1,4, 0,6X6,1. 4X2,8, 7,8X3,2, 10X7,6, 7X&, 10X10,6, 5X4,4 mm
bieten ziemlich dasselbe Bild. In der letzten findet sich in einem zu-
führenden, stark erweiterten Lymphgefäß ein Carcinomzellhaufen.
Auf der linken Nierenvene liegen 7 ebenfalls stark carcinomatöse
Lumbaidrüsen (Gruppe 6 u. 4) von 5,3X4,2, 3,6 X ^A 2,7X^,2,
7,1 X ö,2, 8,9 X 5j 15,6 X 4>ö» 1 1 X ö mm. 1 weiche Drüse vom Mesocolon
(Gruppe 7) 5,8X2,9 mm ist carcinomfrei, aber entzündlich und hämor-
rhagisch. Bei 2 mäßig derben Bronchialdrüsen an der Teilungsstelle
des rechten Hauptbronchus (Gruppe 2: 8,8X1,6 ^t^^ 1ö,1X11»6 mm) ist
die Diagnose auf Fehlen carcinomatöser Infektion nicht mit Sicherheit zu
stellen, da hochgradige Anthrakose neben fibröser Hyperplasie und viel-
fach auch Nekrose besteht. Von 3 Drüsen an der Teilungsstelle des linken
Bronchus (Gruppe 3: 12,2X^,2, 11,6X6,1| 8,2X4 mm) sind 2 carcino-
matös, 1 frei.
In diesem Falle wurden schon bei der Operation geschwollene supra-
pankreatische Drüsen gefühlt und entfernt. Daß sich trotzdem noch eine
so große Zahl vergrößerter und ausnahmslos krebsig infiltrierter Drüsen
an dieser Stelle bei der Sektion fanden, kann keinen, der die Schwierig-
keit des Zuganges zum Pankreas bei der Operation kennt, überraschen.
Die 4 Drüsen von der großen Kurvatur sind infolge ihrer relativ
geringen Größe und Weichheit bei der Operation nicht gefühlt, oder min-
destens für unverdächtig gehalten worden. Nach allen früheren Unter-
suchungen, speziell denen von Most (3), Cuni^ig (2) und Sappe y (4) über
die Quellgebiete der Lymphdrüsen des Magens ist ja auch eine Infektion
dieser Lymphdrüsen bei Sitz des Tumors im Pylorusteile von vornherein
unwahrscheinlich. Die mikroskopische Untersuchung ergibt nun die Be-
rechtigung dieser Annahme und kann somit wieder als indirekte Bestäti-
gung der sich zum größten Teile nur auf anatomische Studien aufbauenden
Einteilung der Lymphgebiete des Magens dienen. Da diese so weit nach
dem Fundus zu liegenden Drüsen wie auch Cunj^o (2) betont, außerordentlich
selten gefunden werden, verdient der negative Befund an ihnen besonders
hervorgehoben zu werden.
V. 0. F. Journ.-No. chir. Klinik 1376|1902.
In vivo fehlten allgemeine Lymphdrüsenschwellungen.
Befund bei der Operation: Drüsenmetastasen finden sich längs der
kleinen Kurvatur, und hier weiter reichend, als an der großen. Im Omentum
minus und auf dem Pankreas sind die Drüsen desgleichen ergriffen. Immer-
hin ist aber der Befund ein derartiger, daß die Radikaloperation be-
schlossen wird. Ablösung der großen Kurvatur mit Resektion eines kleinen
Pankreaszipfels einschließlich der bezüglichen Drüsen. Darauf Resektion
der von Drüsen durchsetzten Teile des Omentum minus.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
119
Der große, zirkuläre Tumor läfit an der großen Kurvatur 2 cm des
Pylorus frei. Mikroskopisch : Gallertkrebs mit teilweise so reichlicher Binde-
gewebsentwickelung, daß man von Mischform mit Scirrhus reden kann.
Drüsen (Fig. 6): Von regionären Drüsen erster Station (cf. LsNaB-
MANN IX) fand sich nur noch eine mäßig derbe an der kleinen Kur-
vatur, schon nahe der Cardia (Gruppe 3), 4,5 X ^fi i^^^^^* ^^^ enthält
einige kleine Krebsherde; außerdem sind mehrfach ftiesenzellen und zwei
kleine nekrotische Herde vorhanden.
3 suprapankreatische Drüsen (Gruppe 7 u. 8): 4,9X^7,
6X3>2 ^nd l^i^X^)^ °"^) ^^^ nicht carcinomatös. Eine enthält einen
nekrotischen Herd mit Eiesenzellen , an einer zweiten ist stark katar-
rhalische Lymphadenitis zu bemerken.
Von 4 weichen
Drüsen an den zur
Leber ziehenden
Gefkßen (Gruppe 9:
ll,6X6,8nmi)und
an der Leberpforte
(Gruppe 1, 15,3 X
5,2, 10,5X6, ^X
3 mm) ist eine sicher
tuberkulös, und bei
dem käsigen Zerfall
der anderen ist das-
selbe zu vermuten.
Ebenso verhält sich
eine Drttse vom Tri-
pus Halleri (Gl.
coeliaca) Gruppe
4: 12,6 X 7 mm.
Vor der Cardia
liegt eine normale
Drüse von 5,3 X
2 mm (Gruppe 2).
7 lumbale Lymph-
drüsen (Gruppe 5 : 6,5 X &, 6,2 X 9, 12,6 X 8, 3,7 X 3, 9,9 X 7 mm, Gruppe 6 :
13,1 X ^1 "7,6 X ^»8 mm) sind zum größten Teile normal ; zwei zeigen
katarrhalische Desquamation und eine käsigen Zerfall.
Bemerkenswert ist, daß die einzige noch auffindbare regionäre Drüse
erster Station noch einige kleine Krebsherde enthält. Während bei der
Operation die Chancen ftlr eine Badikalheilung nicht sehr groß erschienen,
rechtfertigt der negative mikroskopische Befund an den Drüsen vollkommen
den Versuch der Badikaloperation.
VL J. B. Journ.-No. chir. Klinik 390/1902.
Befund bei der Operation: An der kleinen Kurvatur hoch hinauf-
gehend viele, zum Teil bohnengroße Drüsen. Li der Epikrise wird er-
wähnt, daß bei der Sektion zahlreiche pankreatische Drüsen gefunden
wurden, welche bei der Operation nicht gefühlt wurden. Es ist dies der
letzte, erst nach Abschluß von LsNaBMANNs Arbeit zur Autopsie gekommene
Fall von Eesektion. Im Einverständnis mit L. habe ich daher die schon
bei der Operation entfernten Drüsen mituntersucht und stelle ihre Be-
schreibung voran.
Fig. 5.
120
Benner,
Großer, stark stenosierender Tamor (Pylorus etwa für einen Bleistifb
durchgängig). Er umfaßt hauptsächlich die Vorderwand des Magens und
erreicht seine größte Ausdehnung und Dicke an der großen Kurvatur, wo
er mit einem ca. 2 cm hohen Bande ganz steil gegen die Magenschleim-
haut abfallt An der großen Kurvatur hat er eine Längsausdehnung von
6 cm und reicht bis an den Pylorus; an der kleinen Kurvatur ist er
etwa 4 cm lang. Von der großen Kurvatur aus wird er nach der Vorder-
fläche des Magens zu allmählich flacher und verliert sich mehr in diffuser,
derber Infiltration, während er an der Hinterfläche mehr schroff aufhört,
allerdings wohl auch feinere Ausläufer in sie entsendet Von innen von
der Cardia aus gesehen, bildet der Tumor einen halbmondförmigen Wall,
dessen größte Dicke eben an der großen Kurvatur liegt. Das resezierte
Stück hat im geschrumpften Zustande einen Längsdurchmesser von 10,5 cm,
einen Querdurchmesser von 7 cm. Das duodenale Ende hat 8 cm Durch-
^ messer. Der Tumor zeigt
keine besonders ulcerierten
Partien. Mikroskopisch: Die
Krebszellen sind meist in ein-
schichtigen Drüsengängen an-
geordnet, haben aber in den
älteren Partien eine mehr
diffuse Ausbreitung. In den
tieferen Schichten ist das
Zwischengewebe enorm stark
mit Bundzellen, und zwar
polynukleären , durchsetzt.
Stellenweise gallertartige
Umwandlung der Carcinom-
zellen.
Drüsen (Fig. 6): Sub-
pylorisch liegen etwa 11
Drüsen, von denen einige
durch ihre Größe und Härte
schon makroskopisch als car-
cinomatös imponieren, so daß sie nicht erst untersucht werden.
Im allgemeinen sind die Drüsen, je weiter nach dem Pylorus zu, um
so größer. Am meisten fiinduswärts liegt ein ganz kleines (2X^ mm),
rundes, derbes Drüschen an der Arteria gastroepiploica (Gruppe 23). Es
enthält im Bandsinus reichlich Cylinderzellschläuohe mit weitem Lumen
und einschichtigem Epithel. Weiter pyloruswärts folgt an der Arterie
eine schon makroskopisch sicher carcinomatöse Drüse; eine größere und
eine kleinere ebensolche liegen unterhalb der Arterie. Dann folgt ein
derbes, rundes Knötchen, welches die Arterie vollkommen umfaßt (Gruppe 20),
Die Krebszellen sind hier sehr schön schlauchartig angeordnet. Von Drüsen-
substanz ist nichts zu sehen. Augenscheinlich handelt es sich nur um
eine Netzmetastase.
Unterhalb liegt wieder eine weiche Drüse von 5 X ^ ™^ (Gruppe 22).
Auch hier reichliche Carcinomentwickelung mit starker Bindegewebsbe-
teiligung. Endlich folgen schon ganz nahe am Pylorus und dicht an der
großen Kurvatur 3 makroskopisch sicher carcinomatöse Drüsen.
2 dicht danebenliegende, Gruppe 21, ziemlich weich, 6X^ ^^
und Gruppe 19, ebenfalls weich, 7 X ^ ^^^^"^i 8^°<^ außerordentlich stark
krebsig infiziert.
Fig. 6.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
121
Von der kleinen Kurvatur sind anscheinend eine Anzahl einzeln
bei der Operation ausgelöster Drüsen verloren gegangen. 2 restierende
(Gruppe 24: 12,6 X^ ^^^ ^X^ ™°^) sind mäßig derb und ebenfalls car-
cinomatös, zeigen außerdem hämorrhagische Lymphadenitis.
Bei der Autop-
sie fanden sich nur
noch folgende Drü-
sen (Fig. 7 u. 8):
An der kleinen
Kurvatur liegt
ganz dicht an der
Resektionsstelle
des kleinen Netzes
eine weiche Drüse
von 11 X 7 mm
(Gruppe 1). Sie ent-
hält einige wenige
Krebsherde. 5 wei-
tere, ganz hoch oben
an der kleinen Kur-
vatur sitzende
(Gruppe 2; 11 X
9 mm, Gruppe 3:
4 kleine Drüsen)
sind dagegen nor-
mal. Eine r e t r o -
pylori sehe Drüse
von 4 X 2,5 mm
(Gh*uppe 18)istcarcinomatös.
Suprapankreatisch
(Fig. 8): Gruppe 15: 15 X
13 mm. Am meisten median
gelegen. Ueberall schieben
sich teils schmale Stränge,
teils dicke Haufen von Car-
cinomzellen zwischen stark
vermehrtem Bindegewebe
vor. Von Follikeln sind nur
in einem Teile der Drüse
noch spärliche Reste vor-
handen. Auch in der Um-
gebung der Drüsen besteht
Carcinomentwickelung. Von
2 ziemlich derben Drüsen
mehr von der Mitte des Pan-
kreasrandes (Gruppe 16 :
6X6 und 6,6 X 5 mm) ist
eine carcinomatös.
Eine noch weiter kaudalwärts gelegene (Gruppe 17: 12 X^ ^^) zeigt
nur katarrhalische Desquamation. 5 hepatische Drüsen (Gruppe 4:
8X7 u. 10X6 mm, Gruppe 6: 6X5, ^X^» 6X4 mm) sind nicht er-
gnffen. Von 3 Cöliakaldrüsen (Gruppe 5) sind 2 normal (5X4 ^
Fig. 7.
Fig. 8.
122 Renner,
6X4: mm); in der dritten (10,5X9 ^^) besteht ziemlich diffuse Aus-
breitung von Carcinom.
Eine präkardiale Drüse (Oruppe 7: 4X4 mm) erwies sich als
normal. 7 cm von der Vereinigungsstelle des Magens und Darmes abwärts
im Ligamentum gastrocolicum eine sehr harte Drüse von 2,5X2 mm
(Gruppe 8). Sie ist normal. 3 mäßig derbe Drüsen vom Mesocolon
transversum (4,5X2, 2X2, 4X2,5 mm) sind zum Teil entzündlich.
Eine knorpelharte Drüse von derRadixmesenterii(7X4: mm) ist normal.
Vor der Wirbelsäule liegen überall kleinere und größere, derbe, verdäch-
tige Drüsen.
Als Stichproben werden 3 Lumbaidrüsen aus der Gegend der
Nierenge&ße untersucht und erweisen sich als carcinomatös (Gruppe 11
u. 12: 14X5, 11X4, 11X10 mm). 2 Bronchialdrüsen (Gruppe 13
u. 14: 13 X*^ ^' 10 X® °^°^) s^^*l stark anthrakotisch und fibrös de-
generiert.
Bei der großen Zahl und Ausdehnung der noch gefundenen Drüsen-
metastasen, deren Existenz bei der Operation unbemerkt blieb, war hier
eine Badikalheilung durch die Operation ausgeschlossen. Die mikrosko-
pischen Bilder der infizierten Drüsen geben auch gar keinen Anhalt für
die Annahme, daß die Drüsen im Kampfe mit den eingeschleppten Krebs-
zellen die Oberhand gewinnen würden; im Gegenteil machten die Krebs-
herde den Eindruck außerordentlicher Propagationsfähigkeit
Es folgen nun die 3 Fälle von Gastroenterostomie.
Vn. R K. Journ.-No. chir. Klinik 367/1901.
In vivo waren überall geschwollene Drüsen zu fühlen, besonders in
den Achselhöhlen und Leistenbeugen. Man hatte aber nicht den Eindruck,
daß es sich um Krebsmetastasen handle.
Befund bei der Operation: St€u:ker Ascites. An der kleinen Kurvatur
ftlhlt man einen diese zum größten Teil durchsetzenden harten Tumor,
welcher mit Sicherheit ins Pankreas übergreift. Nach der Leber zu ist
er ziemlich gut, aber auch nicht mit Sicherheit abzugrenzen. Zahlreiche
Drüsen. Keine sicheren Peritonealknötchen. An einer Stelle im Dünn-
darmmesenterium zahlreiche, dicht aneinanderstehende Knötchen, so daß
die Stelle wie bepudert aussieht.
Wegen der Verwachsungen mit dem Pankreas wird nur Gastro-
enterostomie ausgeführt.
Sektionsbefund: Fast faustgroßer Tumor der Pylorusgegend. Der
Pylorus ist derart durch Geschwulstmasse verengt, daß nur mit Mühe die
Spitze des kleinen Fingers eingeführt werden kann. Die retroperitonealen
Lymphdrüsen sind vergrößert, mit Geschwulstmasse infiltriert. Beide Ovarien,
besonders das rechte, zeigen Krebsmetastasen.
Drüsen (Fig. 9) : Das große Netz und Ligamentum gastrocolicum sind
derart geschrumpft und carcinomatös infiltriert^ daß das Kolon ganz nahe
an den Magen gezogen ist In der geschrumpften und infiltrierten Partie
sind aber die zweifellos vollkommen carcinomatös degenerierten subpy-
lori sehen Drüsen nicht zu isolieren. Nur weiter funduswärts liegt eine
deutlich kenntlich. Sie ist jedoch schon makroskopisch so sicher carcinomatös,
daß sie nicht untersucht wird. Von ihr zieht ein derber Strang zu einer
etwa in der Mitte der großen Kurvatur gelegenen Drüse (Gruppe 7:
5 X ^ mm). Sie ist derb, zeigt jedoch mikroskopisch nur das Bild starker
desquamativer Lymphadenitis. Der derbe zu ihr führende Strang wurde
leider nicht mit eingelegt, weil er für sicher carcinomatös gehalten wurde.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
123
An der kleinen Kurvatur liegen ganze Pakete sehr derber, bis
walnußgroßer Drliaen, die schon äußerlich und auf dem Durchschnitt als
carcinomatös imponieren und daher nicht untersucht werden. Eine nahe
am Tumor gelegene (Qruppe 6) ist ziemlich weich und macht den Eindruck
einer tuberkulösen Drüse. Mikroskopisch findet sich jedoch nichts für
Tuberkulose Charakteristisches, aber auch nichts für Carcinom; die ganze
Drüse steht im Beginn des Zerfalles.
Die retropylorischen Drüsen sind mit dem Tumor fest ver-
wachsen und sicher carcinomatös. Auch das kleine Netz ist stark ge-
schrumpft. Die in der Gegend der kleinen Kurvatur gelegenen
Drüsen bilden mit dem Omentum minus, Pankreas und den Drüsen an
der Arteria hepatica ein großes, derbes Paket, so daß die Zugehörigkeit
einzelner Drüsen
nicht immer mit
Sicherheit festzu-
stellen ist. Immer-
hin aber läßt sich
unterscheiden, daß
außer denen der
kleinen Kurvatur
auch mehrere su-
prapankreati-
sehe und hepa-
tische stark von
Tumor infiltriert
sind. In einer 3 cm
oberhalb der Car-
dia vor dem Oe-
sophagus gele-
genen weichen
Drüse von 19 X
1 1 mm (Gruppe 6)
finden sich mi-
kroskopisch doch
einzelne kleine
Krebsherde.
Die Sakral-
und Lumbaidrüsen sind stark vergrößert, derb, auf dem Durch-
schnitt carcinomatös. Von 6 mikroskopisch untersuchten Lumbal-
drüsen aus der Gegend der Abgangsstelle der Nierengefäße ist eine
(Ghruppe 1: 18X8 ni^a) käsig zerfallen. Die anderen (Gruppe 2, 3, 4:
mit Drüsen von 16X10, 18X12, 16X5, 12X8 und 17X13 mm) sind
sämtlich carcinomatös. Die beiden ersten Gruppen davon zeigen sehr
reichliche Krebsentwickelung und enthalten cystische, mit geronnenen
Massen und Detritus erfüllte Räume. In der dritten Gruppe sind die
Krebsherde noch sehr klein; oft liegen nur einzelne Zellen hinterein-
ander.
Im Mediastinum und im Mesenterium findet sich gleichfalls
eine Reihe zweifellos carcinomatöser Lymphdrüsen.
Das Bild, welches der Tumor in diesem Falle selbst bietet: außer-
ordentliche Ausbreitungsenergie, die mit rascher Schrumpfung und sekun-
därem Zerfalle einhergeht, tritt uns hier auch in den Drüsen entgegen:
weitgehende Metastasen und rasch eintretender Zerfall.
m ak rosk op. Ca rcinom
Fig. 9.
124
Renner,
frelropylortsehj
Fig. 10.
Vni. E. K. Jonrn.-No. chir. KUnik 165/1902.
Befand bei der Operation: Magen mit den Bauohdecken verwachsen.
Die hintere und obere Magenwand ist durch einen faustgroßen, mit dem
Pankreas verwachsenen Tumor der Pylorusgegend stark fixiert. Einige
naheliegende Drüsen sind infiltriert. Mit Bücksicht auf das Alter der
Pat und die Drü-
senmetastase n
wird nur Gastroen-
terostomie vorge-
nommen.
Sektionsbefund :
In der Pylorusge-
gend eine faustgroße
Geschwulst. Nach
Eröffnung des Ma-
gens wölbt sich am
Pylorus eine höcke-
rige Geschwulst-
masse portioartig ge-
gen das Magenlumen
vor. Der Pylorus ist
so verengt, daß man
mit Mühe den kleinen
Pinger durchführen
kann. Die Geschwulst
ist etwa 8 cm lang.
Mikroskopisch :
Carcinoma simplex.
An der Bursa omen-
talis eine haselnuß-
große, mit Ge-
schwulstmasse infil-
trierte Drüse. Am
Pankreaskopfe ein
walnußgroßer Ge-
schwulstknoten.
Drüsen (Fig. 10
u. 11): S ubpy lo-
risch werden nur
2 mäßig derbe Drü-
sen, noch im Bereiche
des Tumors, gefun-
den (Gruppe 6 : 3,1 X
2,8 und 13X7,1 mm).
Die größere ist rein
hyperplastisch , die
kleinere normal.
An der kleinen Kurvatur sitzen eine ganze Reihe (11) kleiner,
maßig derber Drüsen von 6X3, 6X^,5, 13,5 XJ 4,6, 6X3,5, 4X2 bis
6X^> 4X3,8, 4X3,5 nmi (Gruppe 1 u. 2). Sie sind fast normal, zum
Teil sehr gefäßreich.
Retropylorisch liegt eine auffallend große Zahl (6) mäßig derber
Drüsen von 8X3,5, 8X3, 7X4, 8X4, 6X4, 7X4 mm (Gruppe 7).
Sie sind alle normal.
UetaUM
uaifc«cr««J
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 125
Suprapankreatische Drüsen. Dicht neben dem auch mikro-
skopisch sichergestellten metastatisohen Knoten am Pankreaskopfe liegen
4 Drüsen (Gruppe 8 u. 3), von denen jedoch die der ersten Oruppe an-
gehörenden (4X6 ^i^d ^ X ^ ^^^^^ ^^^ hyperplastisch sind, die beiden an-
deren, stark vergrößerten (23^(^11 und 22X1*7 ^^) dagegen carcinomatös.
Hier ist das Lymphdrüsengewebe bis auf schmale Streifen am Bande
durch Cylinderzellenschläuche und -stränge ersetzt.
4 weitere Drüsen von der Mitte und dem Pankreasschwanze (Gruppe 9 :
8X2, 2X2, 3X2 mm; Gruppe 10: 10,5X6 mm) sind wieder carcinom-
freL Letztere bietet das Bild der desquamativen Lymphadenitis.
2 kardiale Drüsen von 6^(^4,6 und 6X*^»1 ^^ (Gruppe 4) sind
ebenfalls frei. In der einen liegen stark erweiterte, zum Teil thrombo-
sierte GefUße.
3 hepatische Drüsen (Gruppe 5) von 5,2X4, ^^fiX^A '^^
12,4X3 m™ bieten nichts Besonderes.
Während im vorigen Falle die Menge und Ausdehnung der Drüsen-
metastasen überraschte, ist hier bei einem ungef&hr ebenso großen Tumor,
welcher auch schon in seinem Nachbarorgane eine große Metastase gesetzt
hat, gerade das umgekehrte der Fall: Von den regionären Drüsen erster
Station ist keine erkrankt! Von den subpylorischen sind allerdings nur
2 gefxinden worden, von denen an der kleinen Kurvatur dagegen 11. Sie
sind nicht einmal erheblich vergrößert und — bis auf eine Ausnahme —
in ihrer normalen Struktur kaum verändert. Ebenso dio subpylorischen
Drüsen.
Von den Drüsen zweiter Etappe sind nur 2 suprapankreatische, welche
ganz in der Nähe der Pankreasmetastase liegen, carcinomatös erkrankt,
allerdings hochgradig. Sie sind aber die einzigen überhaupt in diesem
Falle gefundenen Drüsenmetastasen. Und doch trugen einige bei der
Operation für carcinomatös gehaltene Drüsen wenigstens zu dem Entschlüsse
bei, nicht zu resezieren.
ES. G. P. Journ.-No. chir. Klinik 383/1902.
In vivo fehlten allgemeine Drüsenschwellungen. Befund bei der Ope-
ration: Ascites. Omentum majus vollkommen bis auf einen perlschnur-
artigen, der großen Kurvatur anliegenden Saum geschrumpft, welcher mit
kleinsten Knötchen durchsetzt ist. Drüsen längs der kleinen Kurvatur.
Kleinste Knötchen auf der Leberoberfläche. Daher nur Gastroentero-
stomie.
Sektionsbefund: Apfelgroßer, sehr derber Tumor der Pylorusgegend
und kleinen Kurvatur. Die Magenwand ist außerordentlich derb, von
einer grauweißen Geschwulstmasse infiltriert. Im Pylorusring selbst ist
die Wand 2 — 3 cm dick; die Geschwulst, hier außerordentlich hart, ver-
engt das Lumen des Pylorus derart, daß nur mit Mühe die Kleinfinger-
spitze einzuführen ist. Das Lumen kann jedoch nicht passiert werden.
An der Unterfläche ist der Tumor aufs innigste mit dem Pankreas ver-
wachsen.
Mikroskopisch: Der Tumor ist außerordentlich zellreich, hat wenig
Stroma. Er breitet sich in allen Schichten der Magenwand aus. Me-
dullarkrebs.
Drüsen (Fig. 12u. 13): Subpylorisch: Zeigefingerlang vom Pylorus
entfernt liegen 2 weiche Drüsen (Gruppe 5: 3,7 X^ i^^"^» Gruppe 6:
10X3,3 mm). Die erste enthält nur einen kleinen, nur auf 8 Schnitten
sichtbaren Herd. Der Randsinus ist frei. Die zweite enthält zahlreiche
Herde. Eine etwa halbwegs von hier zum Pylorus liegende derb ange-
126
Benner,
^ i
Fig. 12.
schwollene Stelle eines Gef&ßes (Gruppe 7) ist carcinomfrei. Dicht unter-
halb des Pylorus liegen 3 verbackene, kleine derbe Drüsen von 4,5 X &? 7,
5,3X^)^1 ^)^X'^7^ TTiTTi (Gruppe 8), die beiden letzten sind normal, auch
ihre Umgebung carcinomfrei. In der ersten tritt zonSUshst im 9. Schnitte
in einem isoliert
liegenden Teile
der Drüse Carci-
nom auf, das in
den folgenden
Schnitten an Aus-
dehnung gewinnt,
bis es schließlich
auch auf den an-
deren Drüsen teil
übergeht, dort
aber nur geringe
Ausdehnung hat.
Retropylo-
risch liegen meh-
rere kleine, gelb-
weiße, derbe Drü-
sen (Gruppe 16:
8,2X4,2, 6,9 X
6,3, 6,7 X 7,8,
7,6X46 mm). Sie
sind sämtlich car-
cinomatös. In der
ersten ist ein Teil der
Drüse fast vollkommen vom
Tumor ersetzt, während in
anderen die Carcinoma tose
Infektion erst von der Peri-
pherie aus fortschreitet.
Doch finden sich auch im
Innern einzelne Nester. In
einer anderen Drüse liegt
ihr auf der einen Seite
carcinomatöses, sehr zell-
reiches Gewebe an, gegen
welches sie nicht deutlich
abgegrenzt ist Von dort
aus ist anscheinend der
Einbruch in die Drüse
erfolgt
Pylorus und Pankreas
sind überhaupt so fest ver-
wachsen, daß die Drüsen kaum zu isolieren sind. Die Arteria coronaria
ventriculi dextra ist ganz in Tumor und Drüsen eingemauert. Hart an
der Grenze der Geschwulst liegt an der kleinen Kurvatur eine große
(10X10)2 mm) derbe Drüse, welche stark carcinomatös ist (Gruppe 1).
Die Carcinomzellen sehen zum Teile hy dropisch aus, haben genau den-
selben Charakter und Anordnung, wie im Primärtumor.
Gruppe 2: Eine etwas weichere, hoch oben an der kleinen Kurvatur
/*.
Fig. 13.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 127
gelegene Drüse von 13,2 X %^ mm. An einem Pole ist die Drüse von
einem dicken Lager sehr spindelzellreichen Gewebes umgeben. Hier ist
auch die Abgrenzung nach der Drüse zu keine scharfe. In dem er-
wähnten Bindegewebe treten auch Carcinomzellen an die Drüse heran,
die aber selbst noch nicht affiziert, sondern ziemlich normal erscheint.
Eine fast in der Höhe der Cardia gelegene derbe Drüse von 8,2 X 6)^ izun
(Gruppe 3) ist vollkommen carcinomatös.
Im übrigen liegen an der kleinen Kurvatur noch eine Unmenge sehr
derber, schon makroskopisch sicher carcinomatöser Drüsen, mit dem Tumor
verwachsen.
Präkardiale Drüsen sind nicht zu finden. Etwas höher, vor dem
Oesophagus, liegen geschwollene, weiche, aufwärts immer größer werdende
anthrakotische Drüsen.
Von 7 suprapankrea tischen Drüsen (Gruppe 10 — 14: 2,2X6,1,
11,1X6,2, 5,7X3,6, 4,9X6,7, 6,5X11,8 7,3X8,^, 12,4X^,4 mm) sind
5 carcinomatös, 2 entzündlich.
Bei 3 hepatischen Drüsen (Gruppe 4: 10X6,3, 1,1X^,6,
5,8 X 14 mm) handelt es sich nur um hochgradigen desquamativen Katarrh
der Lymphsinus.
Eine Lumbaidrüse (Gruppe 16: 7,9X6,2 mm) ist carcinomatös.
Eine Supraklavikulardrüse von jeder Seite (cervicales pro-
fandae inferiores nach Sakata [8]) ist carcinomfrei, aber stark entzündlich
(Gruppe 17 u. 18: 9X7,6 und 7X6 mm). Die Bronchialdrüsen sind
groß, weich, stark anthrakotisch.
Die Befunde ganz kleiner Herde in Gruppe 5 und 8 beweisen die
Notwendigkeit der Untersuchung recht vieler Schnitte. Jedenfalls dürfte
man aus einem nur an wenigen Schnitten gewonnenen negativen Befunde
keinen Schluß auf die Litegrität einer Drüse ziehen, wie das bei früheren
Untersuchungen vielfach geschehen ist.
Es folgen jetzt die 6 nicht operierten Fälle.
X. J. W. Aufgenommen in die Kgl. med. Klinik am 11. Juli 1901.
In vivo fanden sich in der rechten Halsseite und der linken Achsel-
höhle erbsengroße Lymphdrüsen.
Sektionsbefund: An der Gardia sitzt, der hinteren Wand angehörend,
eine etwa talergroi^e, rundliche Geschwürsfläche, in deren Bereich die
Magenwand leicht verdickt und sehr derb anzufühlen ist. Umgeben ist
diese Stelle von einem etwa 2 mm hohen, leicht höckerigen, wallartigen
Rande. Hält man den aufgeschnittenen Magen gegen das Licht, so sieht
man — besonders an der Vorderwand — vom Tumor aus pyloruswärts
Stränge verlaufen, welche sich auch etwas derber anfühlen, als die um-
gebende Schleimhaut. Einer derselben endet in einem kleinen, länglichen,
gut gegen das Licht sichtbaren, weniger deutlich fühlbaren, flachen Knoten.
Mikroskopisch : Außerordentlich zellreicher Tumor. Die Carcinomzellen
liegen zum Teil in kleinen Alveolen, zum Teil in ganz kleinen Gruppen
oder einzeln, von feinsten Bindegewebsfasern umspannt, so daß man zuerst
an Sarkom denken könnte.
Drüsen (Fig. 14 und 15). 3 kardiale Drüsen (Gruppe 5 und 7:
4X4, 5X^ ^nd 8X^ °^^) BÜid carcinomatös. In der unmittelbaren
Umgebung der beiden letzten schieben sich viele Zellstränge und einzelne
Carcinomzellen vor.
An der kleinen Kurvatur sind die Drüsen kaum vergrößert und
schwer zu finden. Etwa 2 cm abwärts vom Tumor liegen 2 carcinomatöse
128
Renner,
^fTi^Htek.l
Fig. 14.
Drüsen von 4X2 und 6X4 mm (Gruppe 6). In der einen ist deutlich
das Fortschreiten des Carcinoms vom Bandsinus aus zu beobachten.
2 retropylorische Drüsen von 2,6X6)2 und 7,2X5 mm (Gruppe 9)
sind auffallenderweise ebenfalls carcinomatös. Wenn hier schon nach der
Lage der Drüsen eine
Infektion durch kon-
tinuierliches Wachs-
tum unwahrschein-
lich war, so spricht
auch noch der Um-
stand für embolische
Infektion, daB die
Umgebung der einen
Drüse frei ist, wäh-
rend im Bandsinus
ziemlich viel Krebs-
herde liegen. 2 etwa
in der Mitte des obe-
ren Pankreasran-
des gelegene Drüsen
von 5X2,5 und 2,2X
2 mm (Gruppe 8) sind
frei von Carcinom.
Ein weiteres , aus
dieser Gegend ein-
gelegtes Stück erweist sich
nicht als Drüse, sondern als
retikuläres Gewebe, zwischen
dessen Bindegewebszügen
massenhaft Carcinomzellen
liegen. 3 am Pankreas-
kopfe (Gruppe 10) gelegene
Drüsen von 4,6 X 2,7, 4,7 X
4,5 und 7,6X6,6 mm sind
carcinomatös. Bei der einen
liegen wieder im Bandsinus
größere, nach innen zu immer
kleiner werdende Krebsherde
in alveolärer Anordnung,
während die Umgebung der
Drüse frei ist.
4Mesenterialdrüsen
(Gruppe 11) vom Duodenum
(6,5X3,2 und 4,6X4 mm),
Gruppe 12 von der Badix mes-
enterii {(ofi X 3)2 und 5,5 X 2,2 mm) sind gleichfalls carcinomatös.
Daß auch weit entfernte Drüsen hier ausgedehnt carcinomatös erkrankt
sind, beweisen die positiven Befunde bei 8ßronchialdrü8en (Gruppe 4,
2, 3, 1) von 10X5, 6X3, 9X6, 7X2, 9X6, 8X5, 3X4, 7X4 mm.
Die so außerordentliche Verbreitung der Drüsenmetastasen bei Bestehen
eines kleinen Cardiatumors verdient Beachtung. Daß die Drüsen der kleinen
Kurvatur infiziert sind, ist noch am ehesten erklärlich, da die so hoch ge-
legenen Drüsen wohl noch auf direktem Wege infiziert sein können.
Fig. 15.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
129
Für die Erklärung der Metastasen in den retropylorischen und supra-
pankreatischen Drüsen glaube ich hier ohne die Annahme des retrograden
Transportes auskommen zu können. Wie wir gesehen haben, entsandte
der Tumor feinste, bei gewöhnlicher Betrachtung kaum zu bemerkende
Ausläufer weit pyloruswärts, wo sogar dann noch wieder eine flache, rund-
liche Infiltration zu konstatieren war. Von dort aus kann zwangslos die
Infektion jener Gruppen erklärt werden.
Auf diese Weise wird man auch manchen anderen Fall von Lymph-
drüsenmetastase erklären können. Denn das Vorkommen solcher Oeschwulst-
ausläufer ist gewiß viel häufiger, als man annimmt Auch Bobrmann (3)
betont ihr Vorkommen und meint, daß scheinbar isoliert liegende Knötchen
durch einen oder mehrere ganz feine Stränge mit dem primären Garcinom
in Verbindung stehen. Trotzdem aber kann ich mich nicht zu Borbmanns
Ansicht bekennen, der sogar die Metastasierung der Lymphdrüsen a 1 s i n
der Regel durch solche kontinuierlich in sie hineingewachsene Stränge
verursacht bezeichnet. Auf diesen Punkt konmie ich am Schlüsse der
Arbeit noch zu sprechen.
XL A. B. Aufgenommen in die med. Klinik am 8. Juli 190L
In vivo waren an der linken Seite des Nackens, in der linken Achsel-
höhle, in beiden Leistenbeugen indolente, harte, vergrößerte Lymphdrüsen
zu fühlen.
Sektionsbefnnd: An der Cardia sitzt ungefähr 1 cm unterhalb der
Magenschleimhautgrenze ein taubeneigroßer Geschwulstknoten mit breiter
Basis der Magenwand auf, erhebt sich etwa 2 cm auf derselben, hat kreis-
runde Form und steile Bänder. In der Mitte seiner Oberfläche ist das
Oeschwulstgewebe zerfallen. Der Tumor selbst grenzt sich gegen die um-
gebende hintere Magenwand schroff ab. Unter ihm finden sich 2 alte
strahlige Narben. 12 cm von diesem ersten Tumor entfernt sitzt ein
zweiter, fast gleich-
großer der Magen-
wand auf. Er ist
vom Pylorus noch
4 cm entfernt und
hat annähernd glei-
che Form wie der
erste, nur daß seine
Wände sich flach
Dach der Magenwand
senken und daselbst
in eine etwa 2 bis
3 mm hohe Ver-
dickung der umge-
benden Magen-
schleimhaut überge-
hen. Pylorus ganz
frei, für 3 Finger
durchgängig. Auch
dieser zweite Tumor
gehört größtenteils
der hinteren Magen-
wand an, erstreckt
sich nur zum kleinen
Mlttdl. a. 4. OrnuffvUeteii d. Madisiii a. Chirnrgie. 2m. Bd,
•oshcpüscK earcmematäß.
Fig. 16.
130 Renner,
Teil auf die Vorderwand, indem er die große Kurvatur um ein weniges
überschreitet.
Zahlreiche Lebermetastasen.
Mikroskopisch: Cardiatumor: In der Hauptsache alveoläre An-
ordnung, zum Teil auch Zellschläuche. Wenig Bindegewebe. Im Zentrum
der Alveolen stellenweise Nekrose. Tumor der Pars praepylorica:
Typisch alveolärer Bau (Carcinoma simplex). An einzelnen Stellen sieht
man größere und kleinere, mit geronnenen Massen ausgefüllte und mit
einschichtigem Epithel bekleidete Hohlräume, zwischen denen sich Carcinom-
alveolen vorschieben. Es sind anscheinend stark ausgedehnte Magendrüsen.
Drüsen (Fig. 16): 4 kardiale Drüsen (Gruppe 3) von 5,6X^,8,
7.7 X 3)7, 10,6 X 5>6) ^fi X ^fi ^"^^ sind nur entzündlich hy per plastisch,
hämorrhagisch.
Von den Drüsen der kleinen Kurvatur bietet eine mehr cardia-
wärts gelegene Gruppe 4 das Bild hämorrhagischer Lymphadenitis mit
starker katarrhalischer Desquamation (15,2 X ^^ ^^^ ^^y^ X ^)^ mm). Die
andere, dem Pylorus näher gelegene Gruppe 2 weist 2 oarcinomatöse, zum
Teil degenerierte Drüsen von 4,3X9»! ^^^ ^j^X*^ °"^ *^^-
Von der subpylorischen Gruppe 1 sind 2 carcinomatös (7,1X^,7
und 8 X ^^ mm), die dritte (3,9 X ^fi ^^) ^^^ ziemlich normal. Mehrere
andere subpylorische Drüsen scheinen makroskopisch schon sicher carci-
nomatös.
2 Mesenterialdrüsen (Gruppe 6) von 9,1 X^)^ ^^^ ^»^X^^ ^^
sind stark befallen.
Bei dem Fehlen der Metastasen in den kardialen Lymphdrüsen ist
man geneigt, den Cardiatumor, obwohl er ein wenig größer als der prä-
pylorische ist, für den sekundären zu halten, der noch nicht zu Metastasen
geführt hat Hierfür würden vielleicht auch die zahlreichen Lebermeta-
stasen sprechen. Die Glandulae hepaticae sind in diesem Falle leider
der Untersuchung verloren gegangen.
XIT. K. B. Aufgenommen in die med. Klinik am 6. Juni 1901.
In vivo wurden kleine, harte Femoral- und Inguinaldrüsen beiderseits,
am Halse keine geschwollenen Drüsen gefühlt.
Sektionsbefund: Ca. faustgroßer Tumor der kleinen Kurvatur. Die
ganze Wand der kleinen Kurvatur ist in der dem Pylorus näher ge-
legenen Hälfte durch eine an mehreren Stellen tief ulcerierte Geschwulst,
welche fast bis an den Pylorus heranreicht, stark verdickt. Der Tumor
ist mit dem kleinen Netz untrennbar verwachsen, und dieses so ge-
schrumpft, daß Cardia und Pylorus dabei stark aneinander herangezogen sind.
Mikroskopisch: Cylinderzellencarcinom. Sehr viele Mitosen.
Drüsen (Fig. 17 u. 18): Die subpylorische Gruppe 7 enthält
am meisten funduswärts eine Drüse mit entzündlicher Hyperplasie (7,9 X
4.8 mm). Dann folgt eine vollkommen mit Cylinderepithelschläuchen an-
gefüllte Drüse (3,6 X^)^ ii^°^)- Wiederum auf eine stark entzündliche
mit zentraler Erweichung (5,2 X ^ß ™™) folgen 3 oarcinomatöse Drüsen
(3,9X9 ^^^ ö,2X^ TOiim). Auffallend ist, daß in fast allen diesen carci-
nomatösen Drüsen die Ersetzung des Drüsengewebes durch Tumor eine
80 vollständige ist, daß man nach dem mikroskopischen Bilde zuerst kaum
auf den Gedanken kommen würde, Drüsen vor sich zu haben, wenn nicht
die rundliche Abgrenzung mit einer dicken, fibrösen Kapsel und vor allem
der makroskopische Befund in situ die Diagnose stützten. CuNifeo (2)
skizziert diese Schwierigkeit sehr treffend: „On en arrive alors k ce r^-
Die L3nuph(irüsenmetastasen beim Magenkrebs.
131
soltat paradoxal, d'etre gSii6 pour af£rmer Texistence de l^sions ganglion-
naires dans les cas oü ces l^sions pr^sentent leur maximum d'intensitÄ.^
Die Carcinomzellschläuche sind, wo sie nicht dicht aneinanderliegend doroh
breite Züge fibrösen Qewebes getrennt, das meist auch einen dicken Wall
hmttr dir Cmrdia
fr0tro]^ori$ck>J
Fig. 17.
um die ganze Drüse bildet. Ein Vergleich mit anderen Drüsen, in denen
neben solchen Teilen noch Reste von Drüsensubstanz vorhanden sind,
nimmt jeden Zweifel, daß es sich auch hier um Drüsen und nicht einfach
um Tumormetastasen im
Netze handelt.
2 retropylorische
Drüsen (Gruppe 6) von
9,4 X 7,6 und 3,1 X 3,5 mm)
befinden sich im Stadium
entzündlicher Hyperplasie.
An der kleinen Kur-
vatur ist die Verschmel-
zuQg des infiltrierten kleinen
Netzes mit dem Tumor eine
80 innige, daß Drüsen nicht
mit Sicherheit zu isolieren
sind. Von 2 hier entfernten
und makroskopisch für Drü- Fig. 18.
sen gehaltenen Knötchen
(Gruppe 4) handelt es sich
bei dem einen um eine Netzmetastase. In dem anderen sind auch keine
Follikel sichtbar. Sehr dicke Bindegewebszüge begrenzen rundliche oder
ovale Käume, welche teils von Rundzellen, teils von Carcinomzellschläuchen,
manchmal auch von homogenen Massen erfüllt sind. Rechts neben der
Cardia liegen 2 Drüsen (Gruppe 5) von 5,3 X 7,7 und 7,5 X ^ß nun. Sie
sind stark entzündlich.
9*
132
Renner,
Hinter der Cardia liegt eine etwas vergrößerte derbe Drüse (Gruppe 3)
von 7,9 X '7 ™™* '^i^ ähnelt den vorigen, ist aber carcinomatös. Von
den Buprapankreatischen sind nur einige am Schwänze des Pankreas
zu isolieren, da dieses im Mittelteile mit dem Tumor untrennbar ver-
wachsen ist (Gruppe 2 : 4,8 X 3,8 und 5,6 X ö»ß ™™)' Beide sind stark ent-
zündlich hyperpla-
stisch.
Die Gruppe 8
der . hepatischen
Drüsen : (4 Drüsen
von 6X5, 6,1 X
12,1, 6,7X10,5,
6,2X6,1 mm) sind
frei von Carcinom,
aber entzündlich.
Eine davon ist stark
schwarz pigmen-
tiert. Die Gruppe 1
von 3 Mediasti-
naldrüsen 8 cm
über dem Zwerch-
fell rechts von der
Aorta (4,2 X 4,2,
8 X 3,8 und 7,9 X
3,9 mm) zeigt fi-
bröse Hyperplasie.
Fig. 19.
XIILW.H. Aufgenom-
men in die med. Klinik am
23. Sept. 1901.
Sektionsdiagnose : Am
Uebergange der Cardia in
den Magen befindet sich eine
große Geschwulstmasse, wel-
che sich von hier längs der
kleinen Kurvatur bis zum
Pylorus fortsetzt. Man sieht
an der vorderen und hinteren
Magenwand eine Menge kar-
toffelgroßer Geschwulstkno-
ten frei in das Magenlumen
ragend, so daß die kleine
Kurvatur als tiefe Rinne
zwischen Vorder- und Hinter-
wand verläuft. 1 cm vom Anfange des Duodenum entfernt hört die
Geschwulst mit wallartigem Rande auf, so daß der Pylorusring frei bleibt.
Auf ihrer Höhe sind die Geschwulstknoten in eine schmierige, grauweiße
Masse umgewandelt.
Drüsen (Fig. 19 u. 20); Die subpylorische Gruppe 2 besteht aus
3 weichen Drüsen von 3,9X10, 8,8X5,^:, 10,8X6,7 mm. Hier finden
sich zum Teil nur kleine Herde. Die Carcinomzellen sind in Cylinder-
epithelschläuchen mit teilweise sehr weitem Lumen angeordnet.
Die retropylorische Gruppe 3 bilden 3 derbe Drüsen von
Fig. 20.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 138
4,1 X ö,9, 3,8 X 4,7 und 6,6 X ö,6 mm. Die ersten beiden sind carci-
nomatös. Die dritte hat anf der einen Seite einen dicken, kleinzellig in
mehreren Lagen infiltrierten Wall, in welchem keine Follikel erkenn-
bar sind.
Eine weitere retropylorische Drüse (Gruppe 10: 3,1 X ^»^ ^^^^^ ^^^
entzündlich.
Gruppen der kleinen Kurvatur:
6) nahe dem Pylorus 2 carcinomatöse Drüsen von 6,7 X ^i^ ^uid
6,2X10 mm;
7) 2 sehr stark carcinomatöse Drüsen mehr von der Mitte der kleinen
Kurvatur (die eine ist weich, fast breiig, 3,8 X 6)5 i^^d 8,4 X 10,7 mm) ;
8) eine sehr weiche Drüse weiter cardiawärts (6,6 X 10,2 mm) und
9) eine breiweiche Drüse, dicht unterhalb der Cardia (6,8 X 10,1 mm),
zeigen kaum noch eine Spur von Drüsengewebe; auch in der Umgebung
liegen Krebsherde. Handbreit über der Cardia vor dem Oesophagus liegen
2 vergrößerte Drüsen (Gruppe 1 : 6,2 X 6»3 und 4,9 X '^ ^^)i welche ziem-
lich normal sind. An der Hinterwand, 2 Finger breit unter der Cardia,
liegt eine mäßig derbe, mikroskopisch normale Drüse von 6,6 X ^A °^^«
2 mäßig derbe, suprapankreatische Drüsen (Gruppe 11: 7,8X^5
und 6,4X5 13^^^) s^Q^ ^^^^ ^^^ Carcinom. An den zur Leber ziehenden
Gefäßen liegt die Gruppe 6 mit 4 mäßig derben Drüsen von 3,6 X 5,1 1
6,1X4,1, 3,3X3,7, 2,3X3,3 mm. Alle 4 sind nur diffus ferbbar, so
daß eine sichere Diagnose nicht zu stellen ist; eine ist krebsverdächtig.
2 Drüsen und ein Paket von 4 kleineren (Gruppe 4) vom Mesocolon
zeigen nur starke katarrhalische Desquamation (4,8 X ^i^» ^fi X ^fii ^y^ X
6,1 mm). Endlich wurde noch ein Gefllßstrang aus der Gegend des Ductus
thoracicus untersucht, Erwies sich aber vollkommen frei von Krebs.
Bemerkenswert ist die Beschränkung der Metastasen des so ausge-
dehnten und gewiß schon lange bestehenden Tumors auf die streng
regionären Drüsen. Ferner erscheint es wichtig für Operationsbefunde,
daß so weich und fast breiig aussehende Drüsen, wie sie hier mehrfach
vorkamen (Gruppe 7, 8, 9), vollkommen carcinomatös degeneriert sein
können.
XIV. K. B. Aufgenommen in die med. Klinik am 30. Jan. 1902.
Sektionsbefund: Der Pylorus ist Sitz eines ihn vollkommen ein-
nehmenden zirkulären Tumors. Seine Beschaffenheit ist derb, markig,
die Oberfläche unregelmäßig polypös. Vom ringförmigen Tumor schiebt
sich noch ein apfelfÖrmiger, blumenkohlartiger Keil nach vorn und oben
vor. Seine Konsistenz ist ebenfalls derb markig. Die Serosabekleidung
der vorderen Magenfläche zeigt, ungefllhr der Mitte des Tumors ent-
sprechend, einen markstückgroßen Defekt. Hier ist das Gewebe bröcklig,
der tastende Finger kann tief durch die Magenwand gegen das Lumen
vordringen, ohne daß eine gröbere Kommunikation von innen nach außen
besteht Die Stenose des Pylorus ist so erheblich, daß man gerade mit
dem Zeigefinger passieren kann.
Drüsen (Fig. 2 1 u. 22) : Die subpylorisch gelegenen Gruppen 3 und 1
(6 Drüsen von 4,1X3,5, 2,5X3,5, 5X^, ^X^, 8X5 und 11X8 mm)
sind frei von Carcinom, weisen aber zum Teil katarrhalische Desqua-
mation auf. 6 mäßig derbe Drüsen an der kleinen Kurvatur
(Gruppe 5: 12 X 12, 8 X 7, 9 X 10, 8 X 9, 6,5 X 5, 9,1 X 6 mm) sind
krebsfrei, ebenso Gruppe 2 vor der Cardia (18 X 1^ und 9X^ mm).
Von suprapankrea tischen Drüsen wurden 3 von der medialen
134
Renner,
(Gruppe 6), 3 von der lienalen Seite (Gruppe 4) untersucht und sind alle
krebsfrei (10,6 X 6, 7 X 3,6, 5X2, 6,5 X 4, 10 X 8 mm). Die Glan-
dulae hepaticae konnten wegen der zwischen Leber und Milz be-
stehenden Verwachsungen, welche zu lösen Sammlungsinteresse verbot,
nicht isoliert werden.
Dieser Fall von
vollkommen fehlen-
den Drüsenmetasta-
sen dürfte eine sehr
große Seltenheit bil-
den. Lbnobmann hat
unter seinen 21 Fäl-
len zwar auch einen
(11) von Drüsenme-
tastasen ganz freien.
Da in seinem Falle
aber nur subpylori-
sche und Drüsen der
kleinen Kurvatur zur
Untersuchung ka-
men, kann man ihn
nicht als vollbewei-
send ansehen.
XV. S.S. Journ.-
No. Chirurg. Klinik
212/1902.
In vivo wurden ge-
schwollene Drüsen nicht
gefühlt :
Sektionsdiagnose: Der
Magen zeigt an der großen
Kurvatur eine ganz diffxise
Tumorinfiltxation von
speckigem, grauweißen Aus-
sehen. An der Cardia macht
die Infiltration mit scharfer
Grenze Halt. Die infiltrierte
Schleimhaut engt das kar-
diale Lumen in großen Wül-
sten höchstgradig ein. Auch
am Pylorus macht die In-
filtration deutlich an der
Magen-Duodenalgrenze
Halt. An der Vorderwand
ist vom iPylorus ein fünf-
markstückgroßer Bezirk frei von Infiltration. Großes und kleines Netz sind
stark geschrumpft und carcinomatös infiltriert Neben der Infiltration ist
auch starke Ulceration vorhanden, besonders im Fundus, wo sie so tief
geht, daß Perforation nur durch Verlötung mit Nachbarorganen vermieden
ist. Die Drüsen an der großen und kleinen Kurvatur, im Mesenterium,
an der Porta hepatis, in der Lumbaigegend und oberhalb des Pankreas
sind vergrößert und markig infiltriert. Peritonealmetastasen.
Fig. 21.
Fig. 22.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
136
Drüsen (Fig. 23 u. 24): Da die regionären Drüsen schon makro-
skopisch carcinomatös erscheinen, werden nur einige Proben untersucht.
Die subpylorischen sind derb, vergrößert, aber zum Teil ne-
mair0sk»fCarc
i
Fig. 23.
krotisch. Ein Stück einer solchen ist (Gruppe 5:9X7 mm) stark car-
cinomatös. Die Cardiadrüsen sind nicht zu isolieren. Von 2 supra-
pankreatischen (Gruppe2)
ist eine carcinomatös ( 1 5 X ^^
und 16X11 mm).
2 hepatische Drüsen
(Gh-uppe 3:11 Xö und Gruppe
4: 19 X '7 mm) sind krebsfrei,
aber fibrös hyperplastisch.
Eine Lumbaidrüse
aus der Nierengegend
(Gruppe 9 : 9 X 3,5 mm) ent-
hält ziemlich zahlreiche kleine
Krebsherde*
Von 5 Bronchial-
d r ti 8 e n (Gruppen 7, 6, 1 mit
8X5,5, 5X3, 12X9, lOX
9 mm) sind nur t in Höhe des
unteren Schilddrüsenrandes
carcinomatös, allerdings stark.
Eine Doppeldrüse aus der Gruppe 8 (Glandulae clav. pro f.
8up.) von 11,5 X 4: und 8 X ^ ^^ ^^t normal.
Während in diesem Falle Ausdehnung und Sitz des Primärtumors
ftuBt die gleichen sind wie im Falle XTT, besteht doch ein großer Unter-
Fig. 24.
136 Benner,
schied zwischen beiden in Bezug auf Drüsenmetastasen : Dort Beschränkong
auf die streng regionären Drüsen erster Station, hier außerordentlich
weitgehende Metastasierung, bis zum Halse hinauf, außerdem auch Peri-
tonealmetastasen.
Betrachten wir nun die vorliegenden Untersuchungsbefunde nach
den eingangs erwähnten Gesichtspunkten, so ergibt sich folgendes:
1) Aus der Größe und Konsistenz der Drüsen ist ein unbedingter
Schluß auf Vorhandensein oder Fehlen carcinomatöser Infektion nicht
ohne weiteres zulässig. Natürlich wird man oft, wie ich es auch mehr-
fach getan habe, wenn die Drüsen groß, sehr derb, höckerig sind, auf
dem Durchschnitt markig aussehen, ohne weiteres sagen dürfen, daß
sie carcinomatös sind. Andererseits aber können sehr große Drüsen
— ich spreche hier nur von solchen, welche die Lymphe aus einem
carcinomatösen Gebiete aufnehmen — vollkommen frei von Carcinom,
ja sogar manchmal ^frei von entzündlichen Erscheinungen sein.
Es drängt sich da die Frage auf, welche Drüsen soll man als
deutlich vergrößert bezeichnen? Lengemann hat als Mindestmaß dafür
einen Längsdurchmesser von 10 mm, bei querem Durchmesser von
5 mm, oder bei rundlichen Drüsen 6X6 mm angesehen. Natürlich
ist es sehr mißlich, überhaupt ein Maß aufzustellen, doch glaube ich
es zur exakten Beantwortung obiger Frage tun zu sollen, da man noch
oft genug eine große Drüse als mindestens sehr verdächtig, ganz kleine
als unverdächtig bezeichnen sieht. Ich habe mir nun die Mühe ge-
nommen, aus einer großen Anzahl von Drüsen, die den verschiedensten
Gebieten entstammen, einen Durchschnitt zu ziehen, indem ich an
den größten Schnitten jeder Drüse beide Durchmesser multiplizierte,
also ungefähr den Flächeninhalt des Durchschnittes nahm. Allerdings
vernachlässigte ich hierbei die dritte Dimension, was wohl ohne Schaden
geschehen kann, da die Drüsen zumeist parallel zu ihrer größten
Fläche geschnitten wurden. Ich kam so auf ein Durchschnittsmaß von
45 qmm, das auch ungefähr dem LENGEMANNschen entspricht. Zu be-
rücksichtigen ist dabei, daß die Drüsen bei der Fixierung und Ein-
bettung stark schrumpfen, daß also das Maß etwas zu klein ge-
worden ist, andererseits aber, daß überhaupt wenig ganz normale
Drüsen dabei sind, also die resultierenden Zahlen dadurch etwas zu
groß werden. Halten wir uns an dieses Durchschnittsmaß, so sehen
wir, daß erheblich größere Drüsen, welche noch dazu im betreffenden
Falle die regionären Drüsen des Tumors sind, frei von Carcinom sein
können, so z. B. eine Drüse von 99 qmm an der kleinen Kurvatur bei
Pyloruscarcinom (VI, 1) eine hepatische von 81 qmm bei Carcinom der
kleinen Kurvatur mit sonst zahlreichen Drüsenmetastasen (IX, 4), end-
lich eine suprapankreatische von 1«50 qmm bei diffus den ganzen Magen
infiltrierendem Carcinom (XV, 2). Auch Fall V kann hier als Beweis
dienen: trotz der bei der Operation gefühlten vergrößerten supra-
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 137
pankreatischen Drüsen wurde die Radikaloperation vorgenommen, und
bei der Autopsie fand sich keine infizierte suprapankreatische Drüse I
Immerhin wird wegen einzelner — und es handelt sich dabei doch
nur um seltenere Fälle — stark vergrößerter Drüsen eine sonst tech-
nisch gut ausführbare Resektion heute wohl kaum unterlassen werden
dürfen. Wichtiger erscheint es dagegen, wie es schon Carle und
Faktino (7), sowie Lenoemann (1) taten, zu betonen, daß auch kleinste
Drüsen, ohne sonst äußerlich irgendwie die Carcinose zu verraten,
schon intensiv carcinomatös erkrankt sein können.
Beispiele hierfür sind:
Fall VI, 23, Größe 4 qmm
V IV, 5, „ 5 „
„ IV, 6, „ 7 ,
„ X, 6, „ ^ T)
, IV, 6, „ 9 „ '
7» X, 2, „ 14 „
Letztere Drüse war außerdem noch weich.
Man wird also gut daran tun, [alle im Operationsgebiete liegenden
Drüsen, mögen sie aussehen, wie sie wollen, mitzuentfernen, soweit
dadurch nicht die Operation ungebührlich ausgedehnt oder gefähr-
licher wird.
Ich möchte hierbei gleich erwähnen, daß auf dem letzten Ghirurgen-
kongresse Petersen (14) davor gewarnt hat, beim Magenkrebs den
Drüsenmetastasen allzu Jgroße Bedeutung beizumessen. Er vertritt,
gestützt auf die Resultate der Heidelberger Klinik, wo von 18 die Re-
sektion überstehenden Patienten 7 noch 4 — 12 Jahre nachher am Leben
sind, trotzdem besonders in der ersten Zeit von einer systematischen
Drfisenausräumung dort nicht die Rede war, die Anschauung, daß
gerade beim Magenkrebs sehr viele Carcinomzellen in ;den Drüsen zu
Grunde gehen.;
Gewiß kann man theoretisch annehmen, daß {die Drüsen eventuell
mit der in sie verschleppten Neubildung manchmal fertig zu werden
vermögen, in praxi darf man sich wohl kaum darauf verlassen. Man
wird Petersen ohne weiteres zugeben müssen, daß in den 4 speziell
von ihm erwähnten Fällen mit großer Wahrscheinlichkeit in den nicht
exstirpierten Drüsen schon Krebskeime vorhanden waren. Aber bei
einer so kleinen Anzahl von Fällen darf man wohl aus der Rezidiv-
freiheit nicht ohne weiteres schließen, daß beim Magenkrebs viele Keime
in den Drüsen zu Grunde gehen. Auch ist die Möglichkeit des Spät-
rezidivs nicht ausgeschlossen. Bemerkenswert erscheinen in dieser
Hinsicht auch Königs (15) Ausführungen in der Diskussion zu Peter-
sens Vortrag. Er betont, daß nach seinen Erfahrungen Carcinomkeime
138 Renner,
sehr lange in den Drüsen ruhen und erst viele Jahre später zum Aus-
bruch kommen können.
Pbtersek selbst gibt zu, daß bisher nur sehr wenige Unter-
suchungen darüber vorliegen, ob die Rezidive von zurfickgelassen^i
Drüsen oder der zurückgelassenen Magenwand, oder endlich entfernteren
Metastasen ausgehen. Aber gerade, weil das nicht sicher feststeht und
unsere Erfahrungen bei allen übrigen Krebsen — nehmen wir das
Mammacarcinom als Vorbild — uns veranlassen, so gewissenhaft wie
möglich allen Drüsen nachzugehen, sollten wir auch beim Magenkrebs
diesen Punkt nicht vernachlässigen.
Jedenfalls möchte ich aus diesem Anlasse angesichts der Resultate
meiner Untersuchungen nochmals einer möglichst radikalen Entfernung
der Drüsen das Wort reden.
Auf die Konsistenz der Drüsen ist, wenigstens was weiche Drüsen
anlangt, noch viel weniger zu geben, als auf die Größe. Ausgesprochen
weiche Drüsen können carcinomatös sein, ohne daß etwa die Weichheit
durch Zerfall im Innern bedingt wäre. Beispiele hierfür sind VI, 22,
VI, 19, XIII, 7, VIII, 8.
2) Was den Zusammenhang zwischen Sitz des Tumors und Sitz
der Drüseninfektion anlangt, so hat diese Frage zwei Seiten:
a) Müssen immer die dem Gebiete, in welchem der Tumor liegt,
nach den Untersuchungen CüNfios (2) und Sappets (4) zukommenden
Drüsen erkrankt sein?
b) Können nebenbei auch regionäre Drüsen erster Ordnung,
welche einem janderen Lymphgebiete des Magens zugehören, erkrankt
sein?
Betrachten wir daraufhin unsere Fälle unter Zuziehung der Lenoe-
MANNschen Resultate, so finden wir, daß unter 9 FUlen von Pylorus-
carcinom (I— VIII und XIV), 1 Falle von Carcinom des Pylorus und
der kleinen Kurvatur (IX) und 1 Falle von Carcinom des Pylorus und
der Cardia (XI), nur 3 Fälle sich finden, in denen die subpylorischen
Drüsen nicht erkrankt sind. In 2 davon (Fall III und XIV) sind aber
überhaupt keine Drüsenmetastasen gefunden worden. Ob dies im
Falle III damit zusammenhängt, daß Lungen- und Darmtuberkulose
bestand, mit Ausbreitung auf viele Lymphdrüsen, möchte ich dahin-
gestellt sein lassen. Im 3. Falle (VIII) fanden sich überhaupt nur
2 Drüsenmetastasen, und zwar am Pankreas dicht neben einer dort
entstandenen Organmetastase.
In 1 Falle von Carcinom der kleinen Kurvatur (XII) und in
1 Falle von Carcinom der kleinen Kurvatur und des Pylorus (IX) sind
die Drüsen der kleinen Kurvatur carcinomatös.|
In 1 Falle von Carcinom der Cardia (X) und in 1 Falle von
Carcinom der Cardia und Pars praepylorica (XI) sind einmal die
cardialen Lymphdrüsen nicht carcinomatös.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 139
Die beiden FUle von carcinomatöser Infiltration fast des ganzen
Magens (XIII und XV) lasse ich dabei weg.
Wir finden demnach in 15 Fällen llmal die Drüsen der betreffen-
den Region cardnomatös, also in 73 Proz., und in 4 Fällen intakt,
also in 26,6 Proz.
Danach sind wir wohl befugt, anzunehmen, daß nur
in Ausnahmefällen eine Infektion der zu einem Tumor-
gebiete gehörenden regionären Lymphdrüsen ausbleiben
wird, woraus sich wieder die unbedingte Notwendigkeit
der Fortnahme der betreffenden Drüsen ergibt. Daß diese
Infektion der Drüsen der betreiFenden Region die Regel ist, betonen
auch V. Mikulicz und Eaüsch im Handbuche der praktischen Chi-
rurgie (11). Lange, ehe durch Lenoemanns und meine Untersuchungen
die Berechtigung dieser Anschauung und der sich daraus ergebenden
Forderung, alle erreichbaren Drüsen zu entfernen, nachgewiesen war,
wurde ihr in der Breslauer Klinik schon Rechnung getragen, .indem
bei der von Herrn Geheimrat v. Mikulicz angegebenen und typisch
gewordenen Operationstechnik alle regionären Drüsen entfernt wurden,
wie es Lenoemann (1) schildert. Schon 1898 hat v. Mikulicz (13)
auf dem Chirurgenkongreß sich prinzipiell für die Fortnahme aller
palpierbaren Lymphdrüsen erklärt. In neuerer Zeit hat besonders
CuNfio (2) wieder dieselbe Forderung aufgestellt und noch im letzten
Jahre wiederholt (12).
Daß neben den dem betreffenden Gebiete zukommenden Drüsen
auch andere regionäre Drüsen infiziert sein können, versteht sich wohl
von selbst. Denn einmal grenzen sich die Tumoren nicht so scharf ab,
daß sie nur ein Quellgebiet in Anspruch nehmen, dann entsenden sie
gewiß oft, wie Borrmann (6) betont, mikroskopisch feine Ausläufer
weit hinaus, so daß man, wie ich es in Fall X dargetan zu haben
glaube, zwanglos eine Infektion regionärer Drüsen eines der anderen
beiden Quellgebiete des Magens erklären kann, und schließlich bestehen
noch zwischen einzelnen Drüsengruppen Anastomosen, z. B. zwischen
den Glandulae hepaticae und denen der kleinen Kurvatur durch eine
direkt über dem Pylorus liegende, allerdings inkonstante Drüse.
Solcher Anastomosen mögen jedoch noch mehr bestehen, die sich
unserer Kenntnis entziehen. Dafür sprechen z. B. auch die Unter-
suchungen Sakatas (8) über die Lymphdrüsen des Oesophagus, welcher
Verbindungen zwischen dem tieferen Teil des Oesophagus und den
in der Fossa supraclavicularis gelegenen Drüsen fand. Es darf uns
daher nicht wunder nehmen, wenn wir in 7 Fällen von Pylorustumor
(ich lasse hier diejenigen weg, in denen die subpylorischen Drüsen
frei waren) ausnahmslos carcinomatöse Erkrankung der Drüsen der
kleinen Kurvatur finden und 3mal solche der retropylorischen Drüsen.
Es ist mir ganz fraglos, daß die letzteren viel öfter, wenn nicht sogar
140 Renner,
regelmäßig krank gefunden würden, falls es immer gelänge, sie frei zu
legen. Bei obigen 7 Fällen war außer den 3 positiven nur ein nega-
tiver Befund zu verzeichnen.
Aus alledem geht jedenfalls wieder zur Evidenz hervor, daß
wir bei Magenresektionen sämtliche erreichbaren Drüsen mit entfernen
sollten.
3) Da die Frage nach dem Infektionsmodus der Lymphdrüsen —
durch kontinuierliches Wachstum oder embolisch in den Ljmphbahnen
— von Lenqemann schon sehr exakt bearbeitet worden ist, habe ich
nur hinzuzufügen, daß auch ich im Verhältnis zur Zahl der untersuchten
Schnitte (fast 5000 bei über 300 Drüsen) ziemlich selten Bilder gefunden
habe, welche zur Annahme des kontinuierlichen Wachstumes zwangen.
Daß dieser Modus vorkommt, ist ganz selbstverständlich. Wäre er
aber die Regel, wie Borrmann (6) meint, so müßten wir das schließlich
auch für ganz entfernte Lymphdrüsen annehmen, also z. B. bei carci-
nomatöser Erkrankung der Bronchialdrüsen einen kontinuierlichen carci-
nomatösen Strang vom Magen bis dorthin vermuten. Nun habe ich
einige Male Stücke aus der Gegend des Ductus thoracicus, die zum
Teil derb infiltriert erschienen, untersucht, jedesmal mit negativem Re-
sultat, während in der Nähe liegende Lymphdrüsen carcinomatös waren.
Cun£o gibt allerdings an, daß unter 17 Beobachtungen von Krebs des
Ductus thoracicus 4mal der Magen Sitz der Primärgeschwulst war.
Wichtiger erscheint natürlich die umgekehrte Frage, wie oft kommt
beim Magenkrebs Infektion des Ductus thoracicus vor? Letülle (10)
hat sie unter 12 Fällen keinmal gefunden. Lehnen wir aber Borrmanns
Anschauung ab, so kommen wir mangels einer besseren Erklärung
wieder dazu, die Infektion solcher Lymphdrüsen, welche nicht im Ver-
laufe des Lymphstromes liegen, als retrograd anzusehen. Es ist schwer
einzusehen, wie Carcinomzellen, wenn man ihnen nicht gerade Eigen-
bewegungen zusprechen will, dem Lymphstrome entgegenwandern sollen,
ohne eine fortlaufende Kette zu bilden und ohne Spuren in den passierten
Lymphbahnen zu hinterlassen.
4) Welche Prognose haben nun die resezierten Fälle quoad Radikal-
heilung, wenn man die bei ihnen bei der Rektion noch gefundenen er-
krankten Drüsen berücksichtigt?
Im Falle I wurden bei der Sektion gar keine regionären Drüsen
mehr gefunden. Einige entfernter gelegene Gruppen waren intakt.
Aehnlich lagen die Verhältnisse bei II und III. Bei IV waren noch
einige carcinomfreie regionäre Drüsen erster Etappe vorhanden,
dagegen fand sich eine ganze Reihe carcinomatöser suprapankreatischer
und sogar lumbaler und bronchialer Drüsen. Hier, wo also die Ver-
hältnisse günstig zu liegen schienen, ein so schlechter und bei der
Operation absolut nicht festzustellender Befund.
Günstiger erscheint dagegen wieder Fall V, in welchem sich bei
MitieiL a. d. Grenzgeh, d. Med. u. Chir., Bd. XIII.
Beilage tu p. I4U
Quadrate gezeiclmet.
In der Rubrik a stehen die bei der Operation entfenJiakroskopisch als ganz sicher
carcinoniatos imponierten, daher nicht erst mikroskopisch untersuc!
Die Befunde der operativ entfernten Drüsen (a) in de
Renner.
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 141
der Sektion zwar eine carcinomatöse Drüse hoch oben an der kleinen
Kurvatur fand, sonst aber keine Drüsen metastasen.
Bei VI finden wir noch infizierte regionäre Drüsen erster und zweiter
Station, sowie auch femerliegende.
Fasse ich zusammen:
Von 6 operierten Fällen fanden sich in 3 Fällen 0 regionäre Drüsen
infiziert, 0 entferntere Drüsen infiziert;
in 2 Fällen regionäre Drüsen zweiter Etappe infiziert;
in 2 Fällen regionäre Drüsen erster Etappe infiziert.
Nach diesen relativ günstigen Resultaten wäre es sehr interessant
und dankenswert, bei resezierten Fällen, die noch längere Zeit gelebt
haben, bei Gelegenheit von Obduktionen ausführliche Untersuchungen
über den Zustand ihrer regionären Lymphdrüsen des Magens anzu-
stellen.
Bei einem allgemeinen Ueberblick über die Drüsenbeteiligung, den
ich durch ein Schema zu erleichtern gesucht habe (vgl. die graphische
Tabelle), springt die regelmäßige Beteiligung der Drüsen der kleinen
Kurvatur — wenn überhaupt Drüsenmetastasen vorhanden waren — am
meisten ins Auge. Nur einmal unter 13 Fällen fehlt eine Beteiligung
der kleinen Kurvatur (VIII), aber hier fanden sich, wie oben erwähnt,
überhaupt nur 2 infizierte (suprapankreatische) Drüsen ganz nahe an
einer Pankreasmetastase. Die subpylorischen stehen in der Beteiligung
nur um einen Fall zurück. Eine Erklärung für die geringe Beteiligung
der retropylorischen Drüsen habe ich schon oben gegeben.
Von den 302 mikroskopisch untersuchten Drüsen waren 176 frei
(fast 60 Proz.), 127 carcinomatös (42 Proz.). Merkwürdigerweise
sind es genau die von Lenoemann gefundenen Prozentzahlen. Das
Resultat bedarf insofern einer Korrektur, als mehrfach recht zahlreiche
Drüsen schon makroskopisch sicher carcinomatös waren und deshalb
nicht mikroskopisch untersucht wurden, so daß also das Resultat noch
erheblich ungünstiger sein dürfte.
Bei der Betrachtung der einzelnen Drüsen gruppen sei es mir ge-
stattet, die LENGEMANNschen Zahlen mit zu verwerten, da wir erst
dann zu einer richtigen Anschauung über die Ausdehnung der Infektion
gelangen.
Von 78 untersuchten subpylorischen Drüsen (in 14 Fällen)
sind 39 carcinomatös, also 50 Proz. Lenoemann fand nur 37 Proz.;
dabei habe ich hier wiederum die makroskopisch sicher carcinomatösen
nicht mitgerechnet, so daß man mindestens 60 Proz. annehmen darf.
Vielleicht liegt die Erklärung des Unterschiedes zum Teil darin, daß
142 Renner,
in den nichtoperierten Fällen die Tumoren größere Ausdehnung hatten
und länger bestanden.
Von 24 retropylorischen Drüsen (in 8 Fällen) sind 10 carci-
nomatös (4ä Proz.)- Lenoemann fand 60 Proz.
Von 71 Drüsen an der kleinen Kurvatur (in 13 Fällen) sind
32 carcinomatös, also 45 Proz. (Bei Lengemann 50 Proz.)
Die Drüsen der Card ia zeigen in 9 Fällen 5 carcinomatöse unter 19
(26 Proz.).
In 8 Fällen waren einmal die hepatischen Drüsen schon makro-
skopisch sicher carcinomatös. Der mikroskopische Befund in den anderen
7 Fällen war negativ.
Von 51 suprapankreatischen Drüsen in 11 Fällen waren 25
carcinomatös, also 49 Proz. Dazu kommt noch eine ganze Reihe ma-
kroskopisch sicher infizierter Drüsen.
Die Cöliakaldrüsen konnten selten mit aller Sicherheit als solche
von denen im Ligamentum gastrohepaticum bezw. den am Stamme der
Art. coron. ventriculi sin. gelegenen abgegrenzt werden, so daß sie als
eigene Gruppe nur 2mal figurieren. Schlüsse aus dieser geringen Zahl
zu ziehen, verbietet sich von selbst.
Bei 18 Mesenterialdrüsen in 6 Fällen war der Befund 4mal
positiv, also in 32 Proz. Außerdem waren sie in 2 Fällen makro-
skopisch sicher carcinomatös.
In der großen Gruppe der Sakral-, Lumbal- und Mediastinal-
drüsen kommen auf 60 Drüsen in 10 Fällen 35 erkrankte, also
58 Proz. Außerdem fand sich wieder eine große Zahl makroskopisch
sicher carcinomatöser.
Endlich waren in 7 Fällen mit 27 Bronchialdrüsen diese 11 mal
affiziert, also in 41 Proz. Klavikular- und seitliche Halsdrüsen in je
einem Falle weitgehender Infektion erwiesen sich frei. Auch in vivo
waren hier keine geschwollenen Drüsen gefühlt worden.
Wenn wir uns nun fragen, ob wir, gestützt auf vorliegende
Untersuchungen über die Verbreitung des Magenkrebses auf die
Lymphdrüsen eine Verminderung der Rezidivfälle erwarten können,
80 ist das kaum der Fall. In den 2 Fällen unter 6 operierten, wo
sich bei der Sektion noch Metastasen regionärer Drüsen fanden, sind
dies vor allem die suprapankreatischen. Eine radikalere Entfernung
dieser erscheint bei ihrer schweren Zugänglichkeit nur selten und in
geringem Umfange möglich, so daß v. Mikulicz und Kausch (11)
sagen: „Ihre Entfernung bleibt wegen des Sitzes auf und im Pankreas,
wegen der Nähe größerer, wichtiger Gefäße, des Ductus choledochus,
meist unvollkommen. Eine ausgedehnte Erkrankung der pankreatischen
Drüsen wird daher den Operateur von der Radikaloperation meist ganz
Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs. 143
abhalten.^ In einem in Washington 19Ü3 gehaltenen Vortrage^) über
die Chirurgie des Pankreas weist v. Mikulicz nach, daß die Gefahr
der Magenresektion durch jeden Eingriff, welcher das Drüsenparenchym
des Pankreas freilegt, außerordentlich gesteigert wird. Die Mortalität
ist in solchen Fällen fast 3mal so groß, wie nach den Operationen ohne
die genannte Komplikation. Es ist dies ein Grund mehr, von der Ent-
fernung der pankreatischen Drfisen abzusehen. Außerdem bestanden
in diesen beiden Fällen auch ausgedehnte Metastasen entfernter, voll-
kommen unzugänglicher Drüsen. Ich befinde mich da in vollkommener
Uebereinstimmung mit Most (3), welcher sagt: „Sind die Drüsen auf
dem Pankreas bereits stärker geschwollen und in höherem Grade sicher
krebsig infiltriert, dann dürfte eine Radikalheilung durch Operation,
selbst wenn sonst die Exstirpationsbedingungen günstig liegen sollten,
schwerlich gehngen, denn dann sind wohl auch schon die retroperi-
tonealen, an den großen Bauchgefäßen gelegenen Drüsen infiziert, welche
dem Messer des Chirurgen wohl nur schwer und unvollkommen zu-
gänglich sind.^
Wenn Most (3) noch sagen konnte, daß ihm in praxi die Not-
wendigkeit der Fortnahme aller erreichbaren Drüsen noch nicht erwiesen
schiene, glaube ich durch meine Untersuchungen zur Ausfüllung dieser
Lücke beigetragen zu haben.
Literatur.
1) Lbnobmann, Die Erkrankungen der regionären Lymphdrüsen beim
Krebs der Pars pylorica des Magens. Arch. f. klin. Chir., Bd. 68.
2) CuNäo, De l'envahissement du Systeme lymphatirxue dans le Cancer
de l'estomac. Th^se de Paris, 1900.
3) Most, Ueber die Lymphgefäße und die regionären Lymphdrüsen des
Magens in Rücksicht auf die Verbreitung der Magencarcinome. Ver-
handlungen d. dtsch. Gesellsch. f. Chir., 28. Kongr., 1899, II.
4) SAPPBy, Anatomie, Physiologie, Pathologie des vaisseaux lymphatiques,
consid^r^s chez Fhomme et les vert^brös. Paris (Delahaye) 1874.
6) Mbttbehausbn, Ueber Kombination von Krebs und Tuberkulose. Diss.
Göttingen, 1897.
6) BoRRMANM, Das Wachstum und die Verbreitungswege des Magen-
carcinoms. Mitteil. a. d. Orenzgeb. d. Med. u. Chir., 1. Supplement-
band, 1901.
7) Carle e Fantino, Beiträge für Pathologie und Therapie des Magens.
Arch. f. klin. Chir., Bd. 56, 1898.
8) Sakata, Ueber die Lymphgefäße des Oesophagus und über seine
regionären Lymphdrüsen, mit Berücksichtigung derl Verbreitung des
Carcinoms. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 11, Heft 6.
1) lieber den heutigen Stand der Chirurgie des Pankreas. Mitteil.
a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 12, p. 1.
144 Renner, Die Lymphdrüsenmetastasen beim Magenkrebs.
9) Zbhndbr, üeber Krebsentwickelnng in Lymphdrüsen. Virchows Arch.,
Bd. 119.
10) Lbtullb, Commnnic. k la Soc. m^d. des höp., Seance du 26. fSvrier
1897.
11) y. Mikulicz und Kaüsch, Verletzungen und Erki-ankungen des Magens
und Darmes. Handbuch der praktischen Chirurgie, 1903.
12) CuNi^o, B., Pathologische Anatomie des Magenkrebses vom chirurgischen
Gesichtspunkte. Aus Hartmans, Travauz de Chirurgie anatomo-cli-
nique. Paris 1903.
13) y. Mikulicz, Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms.
Verhdl. d. dtsch. Gesellsch. f. Chir., 1898, 11, p. 252.
14) Petersen, Zur pathologischen Anatomie der Magen- und Darmcarci-
nome. Verhdl. d. dtsch. Gesellsch. f. Chir., XXXTT, p. 64
16) König, ibid., p. 72.
Nachdruck verboten.
VIIL
Beiträge zur Kenntnis
des BotMocephalus liguloides.
Von
Dr. H. Mijrake aus Japan.
(Hierzu 2 Abbildungen im Texte.)
Der Bothriocephalus liguloides oder die Ligula Man-
soni (CoBBOLD 1883) kommt beim Menschen nur äußerst selten vor.
Dementsprechend sind denn auch nur 10 Fälle in der neuesten euro-
päischen Literatur (Scheübe, Braun) bekannt geworden, nämlich
ein Fall von Manson aus Amoy bei einem Chinesen, je ein Fall von
ScHEUBE und DissE und 7 Fälle von Ijima und Murata. jDie 9
letzteren Fälle betreffen durchweg Japaner. Außer diesen Publikationen
sind noch von Zeit zu Zeit vereinzelte Angaben — im ganzen 7mal —
in japanischen Zeitschriften gemacht {worden. Dazu kommen noch
einige noch nicht veröffentlichte Fälle, die mir von Kollegen aus ihrer
persönlichen Erfahrung mitgeteilt worden sind. Da ich hier 2 neue
Fälle, den einen von Herrn Kollegen Shakurane, den anderen aus
meiner eigenen Erfahrung, besprechen möchte, so sei es mir gestattet,
bei dieser Gelegenheit auch über die 7 in der europäischen Literatur
noch unbekannten Fälle zusammen mit den früher schon bekannten in
Tabellenform kurz zu berichten. Zunächst zwei IKrankengeschichten :
Fall 1. Hashimoto, 43 -jähr. Apotheker aus Osaka. Bothrio-
cephalus liguloides im M. quadriceps femoris (Fall von
Shakuranb). Vor 10 Tagen ließ Fat. einen kleinen AbsceE in der linken
Kniegegend incidieren. 2 Tage darauf spürte er Schmerzen und An-
schwellung an der Vorderfläche des linken Oberschenkels. Diese Er-
scheinungen nahmen immer mehr zu. Status praesens am 19. März
1901. Mittelgroßer, leidlich ernährter und gebauter Mann. Linere Organe
sind intakt. Die obere Hälfte des linken Oberschenkels ist diffus ange-
schwollen; man ftlhlt eine derbe Liflltration im M. quadriceps femoris,
Fluktuation in der Tiefe zweifelhaft. Litensive Druckempflndlichkeit.
Durch Probepunktion wurde Eiter nachgewiesen. Nach Licision der Haut
Ulttaa. a. d. Omsgebtotan d. Medliüi o. Ghlrargie. Zm. Bd. IQ
146 H. Miyake,
wurde, indem die Gewebe schichtweise durchtreimt wurden, in die Tiefe
gegangen und ein Absceß innerhalb des M. quadriceps femoris gefunden.
Nach gründlicher Entleerung des Eiters erschien aus einer Muskelspalte
ein eigentümliches weißes, bandartiges Gebilde, das zum größten Teile
noch im Muskel versteckt lag. Nach Spaltung des Muskels wurde ein
Bothriocephalus liguloides extrahiert, der milchigweiß, 35 cm lang und
3 — 5 mm breit war und lebhafte peristaltische Bewegungen ausffihrte.
An dem Orte, wo der Wurm saß, konnte keine besondere Cystenbildung
nachgewiesen werden, vielmehr fand sich nur eine einfache Gewebsspalte.
Da das Tier am nächsten Tage in einer ärztlichen Versammlung demon-
striert werden sollte, wurde es in physiologischer Kochsalzlösung bei
Körpertemperatur aufgehoben, um es in lebendem Zustande zeigen zu
können. Leider stieg in der Nacht die Wärme in dem schlecht kon-
struierten Brutschrank bis auf 40^, und es zeigte sich am nächsten
Morgen, daß der Wurm verschwunden war. Nur ein weißer, flockiger
Niederschlag bedeckte den Boden.
Fall 2. Shawada, 26-jähr. Eisenwarenhändler aus Osaka. Ligula
Mansoni des rechten Auges. Pat. war als Kind schwächlich, litt
jedoch nie an schwererer Krankheit. Ende Januar 1901 schwoll das
rechte Unterlid an und wurde rot und schmerzhaft, doch heilte diese
Anschwellung unter ärztlicher Hilfe bald wieder. Mitte November 1901
traten an derselben Stelle die Schmerzen von neuem auf. Sie strahlten
vom Unterlide nach der Nasenwurzel aus, hörten bei Tage auf, um in
der Nacht anfallsweise wieder zu beginnen. Während einer akuten
Osteomyelitis des linken Oberschenkelknochens bekam Pat. am 20. Dez.
1901 nachts unerträgliche Schmerzen im linken Bulbus, die durch wanne
Umschläge ^ gelindert wurden. Am 21. Dez. nachts rieb sich Pat. im
Schlafe unwillkürlich das schmerzende Auge. Dabei kam aus diesem ein
fadenförmiges, ca. 3 cm langes Gebilde heraus, das abgerissen und weg-
geworfen wurde. Gegen Morgen des nächsten Tages kamen ebenfalls
wurmartig bewegliche, weiße Massen aus dem Auge zum Vorschein. Sta-
tus praesens am 22. Nov. 1901. Die rechte Gonjunctiva ist stark
chemotisch angeschwollen, von injizierten Gefäßen durchsetzt und bedeckt
einen Teil der Cornea ringförmig. Am nasalen Teile der Gonjunctiva be-
endet sich ein kleiaer Spalt, aus dem ein milchigweißes, bandartiges, ca.
3 cm langes und 0,3 cm breites bewegliches Gebilde herabhängt. Die
Anschwellung erstreckt sich auf das Unterlid. Beim OefPnen des Auges
fließen reichliche Tränen heraus. Pat. klagt über einen dumpfen Schmerz
im kranken Auge. Nach gründlicher Beinigung und Kokai'nisierung
wurde die Gonjunctiva bulbi so weit gespalten, daß der Wurm leicht
herausgezogen werden konnte. Dann wurde die Wunde erweitert, um
die Höhle genau zu besichtigen. Der Wurm saß im lockeren Binde-
gewebe zwischen Unterlied und Bulbus. Ein Teil der Höhle war glatt-
randig, der andere von feinen Fäden netzartig durchsetzt. Eine besondere
Cysten wand war nicht nachweisbar. Die Wunde wurde ganz zugenäht
und heilte rasch per primam intentionem. Seit der Zeit der Wurm-
extraktion haben die Schmerzen vollständig aufgehört.
Morphologie des Wurmes. Da in den bisherigen Publi-
kationen über die Morphologie des lebenden Wurmes nur mangelhafte
Beschreibungen erschienen sind, sei dieselbe hier etwas eingehender
behandelt. Der im letzten Falle extrahierte Wurm ist zart gebaut,
Beiträge zur Kenntnis des Bothnocephalus liguloides. 147
milehigweiß, sieht auf den ersten Blick wie ein Bandwurm aus und
macht lebhafte peristaltische Bewegungen. Länge im Ruhezustande
12 cm, gedehnt 16 cm^), Breite 0,2—0,3 cm. In der Maximalkontrak-
tion ist er dick und plump und nur 4 cm lang, also 3mal kürzer als
im Ruhezustande. Die Breite beträgt dann 0,4—0,5 cm. Das Kopf-
ende wird im Ruhezustande durch eine leichte Verdickung gegenüber
dem verschmälerten Halsteile markiert. Gegen das Schwanzende nimmt
die Breite zu. Das letztere kann ich leider nicht beschreiben, da es
fehlte. Während der Kopf in der Ruhe leicht verdickt und in der
Mitte eingestülpt ist, dehnt er sich bei Bewegungen zu einer langen
feinen Spitze aus, wie der gestreckte Kopf eines Blutegels. Sobald wir
ihn dann berühren, zieht ihn der Wurm ähnlich dem Blutegel zurück.
Das Schwanzende steht an Dehnbarkeit dem Kopfe bedeutend nach.
Es endet nach der genauen Beschreibung von Omi im lebenden Zu-
stande stumpf und wird durch eine längs des Körpers ziehende Längs-
fnrche eingekerbt und in zwei gleiche Teile geteilt. Nach dem ge-
nannten Autor bewegt sich das Tier nur mit dem Kopfteile. Das
Schwanzende bleibt ruhig. Längs des ganzen Körpers zieht, wie ge-
sagt, eine relativ starke, farblose, rinnenartige Furche, die aber im
oberen Teile wenig ausgeprägt ist, während sie sich gegen den Schwanz
zu allmählich verbreitert. Der ganze Körper weist feine, regelmäßige
Querstreifen auf, welche dem Wurme das Aussehen verleihen, als be-
stände er aus lauter zusammenhängenden Proglottiden, was aber nicht
der Fall ist. Diese Querfalten werden vom Kopfe nach dem Schwanz-
ende zu immer deutlicher. Bei der Dehnung gleichen sie sich ganz
aus. In einer Bouillon von Körpertemperatur lebte das Tier noch
3 Stunden unter steter abwechselnder Dehnung und Zusammenziehung.
Dann aber hörten allmählich seine Bewegungen auf, es schrumpfte bis
auf eine Länge von 4 cm zusammen und verlor seinen vitalen Glanz,
ohne aber in der Farbe sich zu verändern. Eine sonderbare Eigen-
schaft des Wurmes ist es, daß er sich innerhalb kurzer Zeit in Hydro-
celenflüssigkeit oder physiologischer Kochsalzlösung zu einer struktur-
losen, flockigen Masse auflöst. Sowohl der zweite von Omi als auch
der von Shakürane beschriebene hatte dieses Schicksal. Omi konnte
den Wurm in einer Hydrocelenflüssigkeit von Bluttemperatur 2 Tage
lang am Leben erhalten, am nächsten Tage verschwand der Wurm
aber, ohne das etwas weiteres mit ihm geschehen war, vollständig
und ließ nur einen flockigen Niederschlag zurück. Shakürane er-
hielt das Tier in physiologischer Kochsalzlösung bei Körpertemperatur
nur einen halben Tag lang am Leben. Am nächsten Morgen fand er
ihn in demselben Zustande vor wie Omi den seinen. Im natürlichen
1) Dazu kommt noch ein 3 cm langes Stück, das der Patient abge-
gerissen hat.
10*
148
H. Miyake,
Medium scheint aber der Parasit sogar den Tod des Wirtes noch
mehrere Tage überleben zu können, wenigstens fand ich bei einem
Affen 12 Stück noch 3 Tage nach seinem Tode lebend im Gewebe.
Da ich leider keine genaue
fig 2. Zeichnung von dem von mir ge-
sehenen Wurme besitze, so gebe
ich hier die Bilder von Herrn
Omi wieder, die mit meinem
nicht nur übereinstimmen, son-
dern sogar noch vollständiger
sind, da ja dem von mir beob-
achteten Tiere das Schwanzende
fehlte.
Mikroskopischer Befund:
Zur mikroskopischen Untersuchnng
benutzte ich das oben beschriebene
Tier sowie 12 Stück, die ich bei
der Sektion eines Affen von der
in Shikoku vorkommenden Art zu-
fällig fand. 10 von ihnen von ver-
schiedener Stärke saßen im linken
M. pectoralis maior, 2 im Unter-
hau tzellgewebe der linken Inguinal-
gegend. Sie alle unterschieden sich
weder makroskopisch noch mikro-
skopisch irgendwie von dem mensch-
lichen Parasiten, den ich geschildert
habe. Im großen und ganzen stimmt
der Befund mit dem von Lbuckast,
LriBiA und Murata^) beschriebe-
nen überein, nur fand ich sowohl in
frischen wie in Alkoholpräparaten
zwischen den zahlreichen runden
oder eiförmigen Zellen bald aus-
gestreute bald haufenförmig an-
geordnete, ovale oder runde, leicht bräunlich geübte und stark licht-
brechende zellenartige Gebilde, unter denen einige bei schärferer Betrachtung
perlen artige, konzentrische Figuren zeigten. Von vornherein auszuschließen
ist der Gedanke, daß hier Eier vorlägen, weil das im Finnenstadium des
Botriocephalus undenkbar ist. Entweder waren diese eigentümlichen Gebilde
als Amyloidkörper oder als verkalkte Zellen anzusprechen. Durch Zusatz
von Jodlösung wurde keine Amyloidreaktion hervorgerufen, dagegen ent-
wickelten sich bei Zusatz von verdünnter Salzsäure reichliche Giisblasen
und es blieben schließlich strukturlose, zellenartige Gebilde zurück. Diese
Frage ist somit dahin gelöst, daß es sich um nichts anderes, als um ver-
kalkte Zellen gehandelt hat.
Auf die Beschreibung der übrigen Befunde verzichte ich deshalb, weil
..-»^
3
Omib 2. FalL Bothr. liguloides im le-
benden ZuBtande; natürliche Größe.
Fig. 1. Ruhezustand : a verdickter, ein-
gestülpter Kopf, b Schwänzende.
Fig. 2. (Zehnter Zustand: a zuge-
spitzter ^opf. h eingekerbtes Schwanzende.
c Langsf urche.
1) Vergl. das Literaturverzeichnis.
Beiträge zur Kenntnis des Bothriocephalus liguloides. 149
ich seinerzeit nicht im Stande war, den Fachmann zu Eate zu ziehen und
die Sache so einer exakten Forschung zu unterwerfen. Ich muß den Leser,
der sich dafür interessiert, auf die angeführten Arbeiten von Leuckart,
Ijima und MüRATA verweisen.
Aus der nachstehenen Tabelle ergeben sich folgende Schlußfolge-
rungen :
1. Alter und Geschlecht haben gar keinen Einfluß.
2. Bezüglich des Wohnortes der Patienten: Nach der bisherigen
Erfahrung kommt die Krankheit ausschließlich in China und Japan,
und zwar in 18 von 19 Fällen in Japan vor. Auf der Hauptinsel
kommt sie in allen Gegenden, wenn auch selten, vor. Besonders häufig
wurde sie in der Gegend von Kioto (6mal) und Osaka (5mal) beob-
achtet. Diese beiden Orte sind sehr nahe benachbart und stehen in
regem wechselseitigen Verkehre, so daß sie zusammen als eine von
der Wurmkrankheit verseuchte Gegend aufzufassen sind. Welche Ursache
hierbei im Spiele ist, können wir vorläufig nicht ermitteln. Auch auf
Shikoku und Kiuschu und anderen Inseln scheint die Erkrankung sich
zu finden. Wie schon berichtet, wurde Bothricephalus liguloides auch
bei einem Affen von der auf Shikoku vorkommenden Art beobachtet.
3. Lokalisierung: Darüber können wir noch nichts Bestimmtes
angeben, doch scheint eine gewisse Disposition bestimmter Stellen zu
bestehen, nämlich der Umgebung des Auges und des Urogenital-
trakt us. Unter 19 Fällen kamen die Tiere 4m al aus der Umgebung
des Bulbus und 6 mal beim Urinieren spontan aus der Urethra hervor.
Nach Leuckart scheint der Parasit die Eigenschaft zu haben, im
menschlichen Körper umherzuwandern und an beliebigen Stellen des-
selben zu erscheinen. Er lebt nicht in freien Höhlen, wie der Blase,
dem Nierenbecken oder den Ureteren, sondern man hat sich vorzu-
stellen, daß er anfangs innerhalb der Wand saß, dann mit dem Wachs-
tume das Gewebe dieser allmählich durchbrach und nun erst in der
freien Höhle zum Vorschein kam. Diese Annahme scheint den Tat-
sachen zu entsprechen. Kann man doch die Wanderungsfahigkeit des
lebenden Wurmes in der Flüssigkeit sehr gut sehen. Wenn ich als
Beginn der Entwickelung des Parasiten bei meinem Patienten den Zeit-
punkt der ersten Schmerzempfindung und Anschwellung in dem be-
troffenen Auge annehme, so muß der Durchbruch des Gewebes infolge
des Wachstumes des Tieres ungefähr 4 Monate später erfolgt sein.
Gerade dieser Fall ist geeignet, uns davon zu überzeugen, daß der
Parasit mit Durchbruch der Gewebe in freie Körperhöhlen zu wandern
vermag.
4. Symptome: Die meisten Patienten klagen mehr oder weniger
über anfallsweise auftretende Schmerzen und über Druckempfindlichkeit.
Bei den Fällen, in welchen die Kranken den Wurm beim Urinieren ent-
leert haben, waren die Symptome verschieden, bald waren es Tenesmen
150
H. Miyake,
Autoren
Alter
und Ge-
schlecht
Wohnort
Sitz des Wurmes
ECauptsymptome
Makson
Chinese
Amoy
Einer im recht Brust-
korb, 11 in dem peri-
renale Bind^;ewebe
"^
ßCHEUBB
28.iähr.
Pfeide-
knecht
Kioto
Beim Urinieren entieert
Tenesmus b. Urinieren,
strahlende Schmerzen
in der Urethra u. der
Blase
NAMBA(beBchrb.
von LriMA und
MURATA)
Junge
(Alter
nichtan-
g^eben)
Provinz
Echigo
T»
Urintenesm.; Urin ent-
leert sich tropfenweise
8HAiTO(be8chrb.
von Ijima und
MUBATA)
25-jähr.
Bauer
Aus der
Nähe von
Kioto
7»
Urintenesmus ; zeitweise
Juck- u. DruckgefOhl
der Perirenalgegend
ToYODA (beschr.
von Ijima und
MUKATA)
42-jähr.
Mann
Osaka
Tl
Leichte Hämaturie
NiSHIMURA
28-jähr.
Mann
In der
Nähe von
Kioto
T
Vorh. beschwerdefr.,nur
b. Erschein, d. Wurm.
KOJDLA U. ItA-
KURA
33-jähr.
Provinz
Mikawa
W
Nur Juckgefühl in der
Hainröhre
Sato (beschr. v.
Ijima und Mü-
RATA
17-jähr.
Junge
Kanasawa in
Koga
Aus d. inn. Augenwink,
spont. heraus, dann m.
der Pinzette extrahiert
Leichte Conjunctivitis
vorhanden
8HTNGU (beschr.
von Ijima und
MURATA)
15- jähr.
Mädch.
In der
Nähe von
Kioto
Zwischen Conj. bulbi u.
Sclera aus d. äußeren
Augenw. spont heraus
"~
Takahashi und
HAGIWARA(be-
8chrieb.v. Ijima
MURATA)
11-jähr.
Mädch.
Provinz
Kösuke
Zwischen Ck)ni. bulbi u.
Sclera; durch Incision
entfernt
Bohnengroßer Tumor.
Anfalisw. Schmerzen
Imai
33-jähr.
Bauer
In der
Nähe von
Osaka
In dem retrobuib. Teil,
neben d. Sehnerven
AnfaLlsw. Schmerzen u.
lichtscheu. Leichter
Exophthalmus
Miyake
20-jähr.
Mann
Osaka
Aus der Konjunktival-
spalte spontan heraus
Anfalisw. Schmerz. Che-
mosis
NAGAO(be8chrb.
von Ijima und
MURATA)
iNOUE
Soldat
(21-23 J.
alt)
47.jähr.
Mann
Toyama aus
der Provinz
Echu
In der
Nähe von
Osaka
In dem Unterhautzell-
gewebe der Ijenden-
gegend
In der rechten Mamma
Anhdlsws. Schmerzen.
Abscedieri;
Anfallsweise stechende
od. dumpfe Schmerze.
Elast hart. Tumor
Beitrage zur Kenntnis des Botbriocephalos ligoloides.
151
DiagBoee
Anagang
Ezistens einer
Wunncyate
Länge und Breite
des Wurmes
Bemerkungen
ZuiüJigbeid.
Ein StQok frei in
L.» 12-14 IndiB.
Bei d. Sekt ein. an
BektioQ ge-
d. PleurahöUe, 11
Dysentu.btrictura
fQDden
aber in d. einfach.
oesoph. gestorben.
Mannes 12 Stfick
Bindegewebespalt
gefunden
WeitVerlf.
u. Auflg. un-
bek.,wdLd.
Fat ins Ge-
f&ngniif ein-
gesp. wurde
L.«=18^ cm
Ein Stfick ist abge-
rissen und zurilä-
geblieben
~
Hetlong
—
In d. lebend. Zustd.
ca. 30cm lg.; Alk.-
Präp. — 8cmlg. u.
1,75 mm breit
—
1»
— -.
frisch 2 feet lang (6
—1,5 mm breit;
Alkoholpräpant)
~~
—
„
j /frisch •= 36.4cm
^\Alk.-P.-=10,5„
P [frisch = 1,2 «
^•lAlk.-P.« 6,5 „
1»
"
L. = 10 cm
B. « 0,5 cm
(Alkoholpraparat)
~
1»
L. B 14 cm
B. « 0,2 cm
(frisch)
Vor 3 J. einm. ähnl.
Wurm ebenf . beim
Urin.ent]. DamaL
HauptkhSchmen.
u. ürinbeschwd. u.
HämaturiaNachd.
Entleer, d. Wurmes
prompt geheilt
w
"
L. = 25 cm
B. — 1,5— 4 mm
(Alkoholpraparat)
■~~
—
1»
ElefinfingerkuppeD -
große Cyste
L. — 12 cm
B. = 03—0,6 cm
Alkoholpräparat
Unbekannt,
T)
.
L. — 2,5 cm
^_
erst bei der
R «^ 0,2 cm
IncLdon klar
Alkoholpräparat
Betrobol-
f)
_
L. — 30 cm
bärer Tumor
B.« 0,2-0,3 cm
(frisch)
"
1»
Einfach in der Ge-
websspalte einge-
nistet
L. « 12 cm
B. = 0,3 cm
(frisch)
—
AlMoefl
1»
Cystenbildung mit
glatter Innenfläche
L. « 8,5 cm
B. «= 3,5—6,5 cm
(Alkoholpraparat)
—
Unbekannter
1»
DeatUcheCystenbU-
L.«34 cm
—
Tomor
düng
B. = 0,4 cm
(frisch)
152
H. Miyake,
Autoren
Alter
und Ge-
schlecht
Wohnort
Sitz des Wurmes
ECauptsymptome
Shakukane
43.jähr-
Mann
"""■
Im M. quadriceps fe-
moris
An&llsweise dumpfe
Schmerzen. Abecediert
DiBSE
-
—
Bei d. anat. Sezübg. zuf.
im Unterhautzd&ewb.
d. Bauchwd. entdeckt
—
Shawabe
27-jähr.
(Qeschl.
nicht
ange-
geben)
Wakayama
aus der
Provinz
Kischu
Im M. pectoralis major
I^ngs d. Faserverl. d.
M. pect maj. verl. un-
regelmäß. gespalt. hart.
Tumor, olme entzündl.
Zeich, druckempfindl.
Ab u. zu Spontanschm.
Omi 1. FaU
42-jähr.
Mann
Kioto
Im Unterhautzeilgew. d.
Oberschenkenkds
Unt^haib d. Scarpas.
Dreieck kinderfaustgr.
pseudofluktuier. Tum.
ohne entzündl. Zeich.
Ldchter Spontanschm.
Om 2. FaU
26-jähr.
Mann
In der
Nähe Ton
Kioto
»
Kindsftiustgr., pseudo-
fluktuierender Tumor.
Leicht druckempfind-
lich
der Blase, bald Lendenschmerzen, bald Hämaturie. Alle diese Be-
schwerden sind nicht charakteristisch für die Wurmkrankheit, sondern
stellen nur die Folgeerscheinungen eines mechanischen Reizes dar, wie
er durch jede Art von Fremdkörpern hervorgerufen werden kann. Außer
den anfallsweise auftretenden Schmerzen ist oft eine Anschwellung der
befallenen Region bei oberflächlichem Sitz der Affektion zu konstatieren.
Beide Symptome scheinen mit Bewegungen des Wurmes zusammen-
zuhängen. Bei oberflächlichem Sitze fühlt man einen weichen, diffusen
Tumor, der oft Pseudofluktuation zeigt. Zuweilen spürt man ein eigen-
tümliches Knirschen im Innern wie beim Zusammenballen von Schnee
(Omi). In anderen Fällen ist der Tumor von elastisch harter Kon-
sistenz (Inoüe, Shawabe), was bei längerem Bestehen desselben auf
Bindegewebshypertrophie beruht. Im weiteren Verlaufe tritt nicht selten
ein Absceß in der Umgebung des Wurmes hinzu. So fand Nagao den
Parasiten in einem subkutanen Absceß in der Lendengegend, und
Shakürane in der Nähe eines Abscesses des M. quadriceps femoris.
5. Diagnose: Mit Ausnahme der 2 Fälle von Omi, wurden sämt-
liche nur zufallig oder durch das Erscheinen des Wurmes erkannt. Als
wichtiges diagnostisches Merkmal wird bei oberflächlichem Sitze der
Affektion von Omi „ein entzündungsloser Tumor mit der
Beiträge zur Kenntnis des Bothriocephalns liguloides.
153
Diagnose
Ausgang
Existenz einer
Wurmcyste
Lange und Breite
des Wurmes
Bemerkungen
Unter der
Diagnose
MyontiB inci-
diert
Heilung
Nur einfache Snalte
im Muskel vorhan
den
Unbekannter
Tumor
Bichti^ dia-
gnostiziert u.
operiert
Heilung
Derbe bindegewe-
bige Cjstenwd. m.
glatter Innenfläche
Es bleibt an Stelled.
Wurm, nur eine hin
reichd. große Spalte
übrig, um dens. auf-
zun., umgeb. y. Icht.
verdickt Membran
Kein ei^n. Oysten-
wand sichtbar
L. =- 34 cm
B. — 0^ cm
(frisch)
L. = 1 feet (frisch)
L. ^ 18|5 cm
B. = 0,3—0,4 cm
(frisch)
L. = 45 cm
B. — Oß cm
(frisch)
L. »20 cm (frisch)
Der in phvsiol. Koch-
salzlsg. bei Körper-
temp. gehalt. Wurm
wurde am nächsten
Tg. zu ein flockig.
Bodensatz aufgelöst
Angeblich besteht d.
Tum. seit d. 12. Le-
bensjahre. Tumor
zeigt ab u. zu Vo-
lumdifferenz
Der in Hydrocelen-
flüssigk. b. Körper-
temp. gehalt. Wurm
verschwd. am Anf.
des 3. Tages voll-
standig aufgelöst
Neigung zum Wandern" angegeben. Das ist aber nicht stets der
Fall, wie Inoues Beobachtung beweist. Besser wäre es, diesem Zeichen
noch die anfallsweise auftretenden Schmerzen und die
zeitweise Volumenveränderung des Tumors hinzuzufügen.
Jedenfalls existiert kein charakteristisches diagnostisches Merkmal, da
die Krankheit häufig fast symptomlos verläuft.
6. Verlauf und Ausgang: Wenn der Parasit einmal entfernt
ist, so heilt die Wunde ebensogut wie andere frische, operativ ange-
legte Wunden. Bei längerem Bestände kommt der Wurm entweder
unter Durchbruch des Gewebes zum Vorschein, oder es tritt nicht
selten dort, wo er sitzt, Eiterung ein.
6. Der Wurm besitzt gewöhnlich keine besondere Cysten-
wand, sondern lebt ohne scharfe Begrenzung in den Bindegewebs-
oder Muskelspalten. Bei je einem Falle von Shawabe und Inoue
wurde eine deutliche bindegewebige Cystenwand nachgewiesen. Diese
ist aber nicht als von dem Parasiten ausgehend aufzufassen, sondern
als eine reaktive Bindegewebshypertrophie des Gewebes bei langdau-
erndem, von dem Wurme ausgeübtem Reize. Die meisten W^ürmer des
von mir sezierten Affen besaßen ebenfalls eine eigene dünnwandige
Bindegewebskapsel mit glatter Innenfläche. In den Gewebsspalten oder
154 H. Mijake, Beiträge zur Kenntnis des BothriocephaloB liguloides.
in den Cysten, in denen der Parasit saß, konnte irgend eine Art von
Flüssigkeit nicht nachgewiesen werden.
8. Länge und Breite des Wurmes variieren bedeutend, wie
die obige Tal)elle zeigt Diese Zahlen stammen teils von frischen teils
von Alkoholpräparaten, daher ist es schwer, hier Vergleiche anzustellen.
Die geringste Länge hatte der von Eojima und Itakura beschriebene
Wurm, nämlich 14 cm (frisch!), und die bedeutendste der von Shaito,
nämlich 60 cm (frisch !). Die Breite schwankt im allgemeinen zwischen
2—5 mm bei frischen Tieren, als Extreme wurde von Toyoda 1,2 cm
bei frischen, und 6,5 cm bei im Alkohol geschrumpften Tieren an-
gegeben.
Literatur.
1) Braun, Max, Die tierischen Parasiten des Menschen. 1895.
2) Ijima, Die Parasiten des Menschen (japanisch).
3) LriMA and Mubata, Some new cases of the occurrence of Bothrio-
cephalus liguloides 8t. Journal of the College of Science, Imperial
Dniversity Japan, Vol. 2.
4) Imai, Shikkichi, Ein Fall von Bothr. liguloides innerhalb der Augen-
höhle. Mitteil, aus Osaka med. Gesellsch., 1893, No. 13.
5) Ikoue, Ein Fall von Bothr. liguloides. Tokio Jji-Shinshi, 1897, No. 980.
6) KojiMA u. Itakura, Ein Fall von Bothr. ligaloides. Mitteil. a. d. zentral-
med. Gesellsch. zu Nagoya.
7) Lbuckart, Die Parasiten des Menschen. 2. Aufl. 1886.
8) NisHiMURA, Ein Fall von Bothr. liguloides. Mitteil. a. d. med. Gesell-
schaft zu Hiogoken, 1901, No. 74.
9) Omi, Ueber Ligula Mansoni. Tokio Jji-Shinshi, 1898, No. 1065.
10) Shawabb, Ueber die erfolgreiche Therapie von Bothr. liguloides im
M. pectoralis maior. Vereinsber. von Wakayamaken No. 29.
11) ScHBUBB, Die Krankheiten der wannen Länder. 2. Aufl. 1900.
Nachdruck verboteiu
IX.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten
Myositis infectiosa.
Von
Dr. H. Miyake aus Japan.
(Hierzu Tafel DI.)
I. Klinischer Teil.
Als Myositis infectiosa bezeichnen wir eine Muskelentzündung,
welche, ausschließlich in den quergestreiften Muskeln lokalisiert, klinisch
unter dem Bilde einer akuten Infektionskrankheit verläuft und meist
Eiterung hervorruft. In Europa scheint diese Affektion nicht so häufig
vorzukommen wie in Japan, wo sich besonders die Chirurgen eingehend
mit ihr beschäftigen, da sie oft zu chirurgischen Eingriffen Veranlassung
gibt Zur Ergänzung der im Jahre 1885 von Herrn Professor Sgriba
veröffentlichten Arbeit über Myositis infectiosa scheint es mir nicht
ganz ohne Wert zu sein, über 33 Fälle zu berichten, welche ich in
der kurzen Zeit von l*/^ Jahren (Juli 1900 bis März 1902) in meiner
Privatpraxis zu Tokushima und in dem städtischen Erankenhause zu
Osaka beobachtete.
ScRiBA schrieb in dieser Arbeit, daß die Krankheit in Japan
ebenso selten vorkomme als in Europa; später behauptete er aber
gerade das Gegenteil. Als Erreger der Erkrankung fand er bald nach
der Veröffentlichung seiner Arbeit den Staphylococcus aureus,
worüber ich auch aus seiner Klinik in japanischen Zeitschriften früher
berichtet habe.
Aus der Literatur möchte ich zunächst Virchows im Jahre 1852
erschienene Habilitationsschrift erwähnen. Virchow beschrieb unter
dem Namen „spontane akute Myositis" eine Krankheit, welche
unter hohem Fieber, mit Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Benommenheit,
oft sogar mit Delirien, meist in kurzer Zeit zu Tode führt, und bei
welcher auf dem Sektionstische multiple kleine Abscesse, besonders in
156 H. Miyake,
der Thorax-, Extremitäten- und Herzmuskulatur konstatiert worden
sind. Durch Hayem wurde die Krankheit unter dem Namen ^infektiöse
Myositis*' in der französischen Literatur allgemein bekannt. Unab-
hängig von letzterem bezeichnete Scriba die Aflfektion ebenso. Walther
nannte sie in seiner im Jahre 1887 erschienenen Arbeit „idiopathische
akute eiterige Muskelentzündung''. Später wurde sie allge-
mein kurzweg „primäre eiterige Myositis" genannt. Dies sind
nur die wichtigsten Arbeiten der einschlägigen Literatur, welche in
näherer Beziehung zu meiner Arbeit stehen; im übrigen verweise ich
auf die vorzüglichen Arbeiten von Kader, Lorenz und auch Honsell ^).
Was die Häufigkeit der Erkrankung anbetrifft, so behauptete
Lorenz im Jahre 1898, daß sich bei genauer Prüfung der bisher ver-
öffentlichten Fälle nur 17 als echt erwiesen haben, nämlich: 11 Fälle
unter 23 von Brunon (2 von Nicaise, je 1 von Foücoült, Güyot,
Chassaignac, Broca, DoLCHfi und 4 von Scriba), je 1 Fall von
Walther, Süard, Clark, Busch und noch 2 spätere Fälle von
Brünon. Zu diesen 17 Fällen fügt Lorenz noch einen eigener Beob-
achtung hinzu, so daß die Zahl der Fälle im ganzen 18 beträgt. Auch
von den 9 Fällen von Honsell sind 6 traumatischen Ursprunges, was
jedoch nicht von prinzipieller Bedeutung ist.
Angeregt durch Scribas Publikation , haben sich bei uns zahl-
reiche Forscher mit mehr oder weniger Erfolg auf diesem Gebiete be-
tätigt. Es sind dies: E. Sakata, Sekiba, Tomoda, A. Hatashi,
N. Tanaka, Uchiyama, Nagatomi, Kürosawa, Maeda, Jamagüchi,
G. Jamasaki, K. Sato, K. Shüzüki, Araki, Kawasaki, Fükasawa,
Ogawa, Kojima, Füjiy, Yimori, Ikekami, A. Jamasaki. Kinovüchi,
Chosokabe und Verfasser. Von diesen Autoren sind im ganzen über
250 Fälle beschrieben worden. Doch dürfen meiner Ansicht nach nicht
alle Fälle als echte Myositis infectiosa angesehen werden, da die
Muskelabscesse, welche sehr oft im Anschluß an eine Pyämie oder
Osteomyelitis entstanden sind, offenbar hier mitgezählt worden sind.
Die Myositis infectiosa ist in ihrer Erscheinungsform ganz bestimmt
charakterisiert. Man hat, wie Scriba mit Recht hervorgehoben hat,
bei der Diagnose dieser Krankheit vor allem auf die derbe An-
schwellung des betreffenden Muskels und die schmerz-
hafte Kontraktur desselben zu achten; selbstverständlich gestattet
die breite Incision und nachfolgende Besichtigung und gründliche Ab-
tastung der Höhle ein noch sichereres Urteil.
Bei den 33 Fällen, welche dieser Arbeit zu Grunde liegen, wurde
natürlich auf die eben erwähnten diagnostischen Merkmale das größte
Gewicht gelegt und die meisten noch einer gründlichen Nachunter-
suchung unterworfen. Ferner bemerke ich ausdrücklich, daß ich unter
1) Siehe das Literaturverzeichnis am Schlüsse der Arbeit.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infeotiosa. 157
die 33 Fälle 5 Patienten eingerechnet habe, welche im Anschluß an
leichte subkutane Muskeltraumen erkrankt waren. Meiner Ansicht nach
kann eine Infektion nur auf einem, sei es durch eine unbedeutendere
Faserzerreißung, sei es durch Uebermüdung, abgeschwächtem Terrain,
erfolgen, kurz da, wo ein Locus minoris resistentiae vorhanden ist
Streng genommen, besteht also in der Aetiologie der trauma-
tischen und idiopathischen Myositis kein scharfer Unter-
schied. Da es sich bei meinen 5 Fällen nur um ganz unbedeutende
subkutane Muskeltraumen handelt, auf die wir erst durch genauere
anamnestische Nachforschung kamen, bin ich um so eher berechtigt,
jene 5 Fälle als idiopathische Myositis zu beschreiben.
Aetiologie.
Neuerdings wurde von Kader die Ansicht ausgesprochen, daß die
meisten primären Muskelentzündungen die gleiche Ursache haben. Er
behauptet, ^daß die mannigfachen Formen der sogenannten primären
Muskelentzündung, welche unter verschiedenen Namen, als Dermato-
myositis, Polymyositis primaria, Myositis idiopathica suppurativa, Myo-
sitis chronica, Myositis interstitialis, beschrieben worden sind, nicht
voneinander zu trennende Erkrankungen, vielmehr ihrem ganzen Wesen
nach nur die verschiedenartigen Erscheinungsformen eines zusammen-
gehörigen Ganzen, einer durch bakterielle Infektion bedingten Myositis
septica sind^. Vielleicht ergibt sich in der Zukunft die Richtigkeit
dieser Ansicht, aber zur Zeit ist sie noch nicht [ganz einwandsfrei.
Daß unsere Myositis infectiosa zu seiner Myositis septica gehört,
braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Die Arbeiten über
Myositis infectiosa stammen noch zum größten Teile aus einer Zeit,
wo die Bakteriologie noch jüngeren Datums war, und daher vermissen
wir eine genauere Beschreibung der bakteriologischen Aetiologie.
ScRiBA und Walther gaben die hämatogene Infektion durch Bakterien
als Ursache an. Brünon fand in seinem Falle von primärer infektiöser
Myositis Streptokokken und erwähnte dabei, daß die infektiöse Myositis
nicht durch eine spezifische Bakterienart, sondern ähnlich wie Osteo-
myelitis von jeder Art der eitererregenden Mikroorganismen hervor-
gerufen werden kann. Waetzold, Fraenkel, H. Neümann, Lorenz
fanden bei septikopyämischen Muskelerkrankungen Streptokokken ;
P. Boulloche fand im Eiter bei einer Myositis, welche im Anschluß
an multiple eiterige Gelenkentzündung auftrat, Pneumokokken; Zahra-
DONiCKf beobachtete eine Mischinfektion von Typhusbacillen, Staphylo-
coccus aureus und Streptococcus bei einer posttyphösen Myositis ; Boz-
zoLO und Rovere sahen Staphylococcus aureus bei einer multiplen
eiterigen Myositis ; Lorenz bei einer Myositis infectiosa Staphylococcus
aureus; ebenso züchtete Honsell in 9 Fällen von primärer eiteriger
Myositis ohne Ausnahme Staphylococcus aureus in Reinkultur. Bei
158 H. Miyake,
der bakteriologischen Untersuchung der echten Myositis infectiosa
ÜEtnden Bozzolo und Rovere, Lorenz, Honsbll sämtlich Staphylo-
eoccus aureus. Kurz nach der Veröffentlichung seiner 4 Fälle von
Myositis infectiosa fand Professor Scriba, der sich zu Tokio längere
Zeit mit der Kultur des Myositiseiters beschäftigt hatte, stets Staphylo-
kokken. Leider hat Scriba nichts davon in der europäischen
Literatur publiziert. K. Kojima und Araki gelang es, in 2 Fällen
Reinkulturen von Staphylococcus aureus anzulegen, dagegen fand
K. Sato 2mal eine Vermischung von Staphylokokken, Streptokokken
und kapselhaltige, den Pneumokokken ähnliche Diplokokken und ein-
mal das gleichzeitige Vorhandensein von Staphylokokken und Strepto-
kokken.
Bei meinen eigenen 33 Fällen habe ich, mit einer einzigen
Ausnahme, bei welcher ohne Eiterung Resolution eintrat (Fall 5)
und der Patient weder eine Incision noch Punktion an sich vornehmen
ließ, Kulturversuche gemacht. Nur 2 mal unter 32 Fällen war das Re-
sultat negativ, und zwar habe ich hierbei Blut benutzt, welches noch
im Indurationsstadium durch Incision genommen wurde ; vielleicht habe
ich hier nicht das richtige Material, sondern noch gesundes Blut er-
halten. Die Resultate aus 30 positiven Fällen waren folgende:
27mal Staphylococcus aureus in Reinkultur, 2mal mit einer
kleinen Menge von albus vermischt und nur Imal Streptokokken
in Reinkultur. Durch Tierversuche konnte ich eine hohe Virulenz
aller kultivierten Bakterien konstatieren.
Die Kultur habe ich auf Agar vorgenommen. Das Material ent- .
nahm ich nach gründlichster Desinfektion der Haut dem aus der In-
dsionswunde quellenden Eiter, ohne mit dem Finger an die Wunde zu
kommen. Auf diese Weise habe ich etwaige technische Fehler aufs
Minimum reduziert. Selbstverständlich sind die Fälle, in welchen der
Eiter vor der Operation mit der Luft in Berührung kam, nicht ver-
wertet worden.
Sowohl bei der in Europa vorkommenden Myositis als auch bei
der japanischen sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Sta-
phylokokken gefunden worden, nur sehr selten eine Mischung von
Staphylokokken und Streptokokken. Ich selbst sah 29mal
unter meinen 30 Fällen Staphylococcus aureus in reichlicher
Menge und 2mal mit einer geringen Menge Staphylococcus albus
gemischt. Aus diesem Befunde kann man ohne weiteres ersehen, daß
die in Japan relativ häufig vorkommende infektiöse
Myositis fast ausnahmslos durch eine Infektion von Sta-
phylococcus pyogenes aureus allein oder selten durch
eine Mischinfektion von Staphylococcus aureus und
albus verursacht wird. Herr Kollege Haga beschrieb kürzlich
9inen Fall von Myositis infectiosa, verursacht durch Staphylococcus
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 159
albus allein; jedoeh kann in diesem Falle nicht mit absoluter
Sicherheit festgestellt werden, daß Staphjlococcus aureus nicht
beteiligt gewesen war. Möglicherweise war in der kleinen Menge von
Eiter, die in der Kultur verwendet wurde, zufällig kein Staphylococcus
aureus. Uebrigens besteht zwischen Staphylococcus aureus und albus
kein prinzipieller Unterschied, weder in der klinischen Erscheinung
noch im bakteriologischen Verhalten, wie eine neuerdings erschienene
hervorragende Arbeit von M. Neissbr und Wechsberg beweist
Femer gewährt der Myositiseiter schon auf den ersten Blick das cha-
rakteristische Aussehen einer Staphylokokkeninfektion, da er dickflüssig
und grünlichgelb oder graugelb gefärbt ist. Ob den kultivierten Aureus-
Sorten noch ein besonderes bakterielles Verhalten gegen die querge-
streifte Muskulatur zukommt oder ob wir es mit dem gewöhnlichen
pathogenen Aureus zu tun haben, lehren die nachfolgenden Tierexperi-
mente; doch sei schon hier kurz bemerkt, da£ wir keinen Unterschied
zwischen beiden finden können.
Im Gegensatze zu den Staphylokokken kommen die Strepto-
kokken bei unserer Myositis äußerst selten vor. Letztere sind ge-
wöhnlich auf der gesunden menschlichen Haut nicht so verbreitet wie
die Staphylokokken, sondern fast immer auf die gesunde Mnnd-, Rachen-
and Darmschleimhaut beschränkt.
Es ist daher eine seltene Erscheinung, daß tiefsitzende, von allen
Seiten umschlossene und also direkt nicht erreichbare Gewebe, wie
Muskel oder Knochen, durch Streptokokken infiziert werden. Die In-
fektion dieser Gewebe erfolgt erst durch Resorption der Keime von
den genannten Schleimhäuten und dann, indirekt, auf dem Blut-
wege. Während bekanntlich die Staphylokokken das infizierte Gewebe
rasch zum eiterigen Zerfall bringen, verbreitet sich die durch Strepto-
kokken verursachte Entzündung unter Hinterlassung einer derben In-
duration mit nur geringer Neigung zur eiterigen Verschmelzung. Außer-
dem ist der Eiter dünnflüssig und besitzt ein charakteristisches hell-
gelbes Aussehen. Die Streptokokken etablieren sich gern in den
serösen Häuten, dagegen selten in den Muskeln und Knochen. Ferner
zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie seltener Metastasen bilden als
die Staphylokokken. Erfolgt einmal die Infektion eines Organes, so
erkrankt der Patient infolge der Resorption der produzierten Toxine
schwer, obwohl der Prozeß auf eine umschriebene Stelle beschränkt
bleibt. So groß die Aehnlichkeit in der klinischen Erscheinung der
Myositis infectiosa und der Osteomyelitis ist, so übereinstimmend ist
auch der Bakterienbefund. Die beiden Krankheiten beruhen größten-
teils auf einer Staphylokokkeninfektion. Kocher und Tayel haben
allerdings einige Fälle von Osteomyelitis beschrieben, welche durch
Streptokokken hervorgerufen worden waren. Einen ähnlichen Fall habe
ich bei der Myositis nur Imal beobachtet.
160 H. Miyake,
Es handelte sich da um eine 24-jähr. Bauernfrau. Sie spürte plötz-
lich nach vollster Gesundheit Schmerzen in der Gegend des linken M.
infraspinatus, die von hohem Fieber und Prösteln begleitet waren. Bald
darauf begann der betreffende Muskel derb anzuschwellen. Gleichzeitig
bildete sich eine schmerzhafte Kontraktur des Armes nach dem Bumpfe
zu, wobei seine Funktion vollständig aufgehoben wurde. Bei der Incision
stellte es sich heraus, daß der Absceß streng innerhalb des M. infra-
spinatus lokalisiert war. Der ausfließende Eiter war dünnflüssig und
grauweiß, wie es auch sonst beim Streptokokkeneiter der Fall ist Auf
Agarplatten gingen aus ihm denn auch zahlreiche Kolonien von Strepto-
coccus pathog. longus in Beinkultur an. Dagegen wuchs aus dem Eiter
der am Unterschenkel befindlichen kleinfingerkuppengroßen Wunde, die
als Quelle der Infektion angesehen wurde, allein Staphylococcus aureus.
Jedenfalls scheint eine Myositis infectiosa nur sehr
selten durch Infektion von Streptokokken allein ver-
ursacht zu werden, wenn auch, wie schon erwähnt, eine Misch-
infektion mit Staphylokokken von K. Sato u. a. beobachtet worden ist.
Ich habe außer dieser noch einen Fall gesehen, bei dem ich Verdacht
auf Myositis hatte und aus dessen Eiter Streptokokken in Reinkultur
wuchsen. Aber bei der späteren Nachuntersuchung des Patienten
stellte sich heraus, daß es sich nicht um eine echte Myositis, sondern
um Osteomyelitis gehandelt hatte.
Ueber das Vorkommen des kapseih altigen Diplococcus
lanceolatus, von der K. Sato berichtet, habe ich keine Erfahrung.
Jedenfalls haben diese Kokken als Erreger der Myositis keine nennens-
werte Bedeutung, aber ihre Möglichkeit muß auch a priori zugegeben
werden, wenn wir an der nahen Verwandtschaft zwischen Myositis und
Osteomyelitis festhalten. Wenigstens beschrieben üllmann (1888) und
Karl Müller eine Osteomyelitisform, welche durch Pneumokokken
verursacht worden war.
Ferner ist es kein seltenes Vorkommnis, daß ein Muskelabsceß im
Verlaufe von Typhus entstehen kann. So beschrieben kürzlich
6. Shibatama und Kuramoto einen Fall von Muskelabsceß inner-
halb des M. coracobrachialis, welcher in der 4. Woche des Typhus ab-
dominalis auftrat und aus dessen Eiter sich hochvirulente Typhus-
bacillen in Reinkultur züchten ließen. In der europäischen Literatur
finden sich ebenfalls vereinzelte Beschreibungen von ähnlichen Fällen
(ZAHRADONiCKf u. a.). Daß ein Muskelabsceß während oder nach Ab-
lauf des Typhus vorkommen kann, ist leicht zu verstehen, weil die
Muskeln dann sehr oft von den resorbierten Toxinen ergriflfen werden
und der hyalinen, körnigen resp. fettigen Degeneration anheimfallen,
ein für die Etablierung der zirkulierenden Bacillen sehr günstiges Mo-
ment. Einen hierher gehörigen eigenen Fall möchte ich kurz anführen :
Pat. war ein 35-jähr. Arbeiter. Vorher ganz gesund gewesen, er-
krankte er im Juli 1901 an Typhus abdominalis. Im Stadium der Re-
konvaleszenz schwoll die rechte Ileocökalgegend derb und schmerzhaft an.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 161
Pat. fieberte dabei beträchtlich. Da der Prozeß weiter um sich griff,
sachte Pat. meine Klinik auf. In der rechten Fossa iliaoa saß eine flache
derbe Anschwellung. Ihre obere Grenze reichte bis in die Nähe des
Nabels, die untere bis zum PouPARTschen Bande, die innere bis zur Linea
alba und die äußere bis zur Verlängerung der vorderen rechten Axillar-
linie. Die Haut darüber war unverändert Erst bei der breiten Incision
und gründlichen Abtastung der schlaff aussehenden Eiterhöhle konstatierte
ich, daß der Absceß genau innerhalb des M. obliquus extern us und in-
ternus saß. Der Eiter war ziemlich dickflüssig und gi-auweiß. Auf Agar
wuchsen auf ihm massenhafte Kolonien von virulenten Typhusbacillen
in Reinkultur. Die intraperitoneale Injektion (0,1 ccm) einer 24-stündigen
Bouillonkultur von denselben tötete eine Maus nach 24 Stunden, eine
zweite erkrankte auch, erholte sich aber allmählich.
Auüer dieser typhösen Myositis habe ich noch eine eiterige Myo-
sitis des M. rectus abdominis beobachtet Diese war hervorgerufen
durch .eine Goliinfektion, welche sich bei einem Neugeborenen
nach der Operation einer Atresia ani zeigte.
Wir wollen uns nun mit dem Infektionsmodus, sowie den
sonstigen ätiologischen Momenten unserer Krankheit beschäf-
tigen. Gemäß dem in manchen Beziehungen analogen Verhalten der
Myositis und der Osteomyelitis scheint die Annahme berechtigt zu sein,
daß diejenigen ätiologischen Momente, welche schon bei der letztge-
nannten Krankheit anerkannt sind, auch zum größten Teile auf erstere
übertragen werden dürfen. Zunächst möchte ich über die Primärherde
berichten, von denen aus die Infektion erfolgt ist und deren Bedeutung
von hervorragenden Forschern, wie Th. Kocher, Kraske, Lanne-
L017GUE bei der Osteomyelitis in übereinstimmender Weise festgestellt
wurde. Es sind dies meist kleine Wunden oder auch kleine Eiter-
herde, wie Furunkel, Aknepusteln, Ekzeme u. s. w. Jordan hatte zuerst
darauf aufmerksam gemacht, daß in den auf der Haut gelegenen, ma-
kroskopisch schon längst wie abgeheilt aussehenden kleinen Eiterherden
(Furunkeln) in der Tiefe noch virulente Bakterien nachzuweisen sind,
die unter Umständen Metastasen erzeugen können. Außer den unbe-
deutenden Prozessen der Haut wurden auch die Schleimhäute der Ver-
dauungs- und Atmungsorgane, sowie die lymphatischen Apparate als
die Quelle der Infektion angegeben. So halten Th. Kocher, Buchner
die Tonsillen, Kocher die Magen- und Darmschleimhaut für den Aus-
gangspunkt der Bakterien bei Osteomyelitis. Daß der Zungenbelag ein
guter Nährboden für manche pathogenen Mikroorganismen ist und von
hier aus die Keime nach dem Respirations- und Verdauungsapparate
fortgeschleppt und dadurch weiter die Ursache der verschiedenen In-
fektionen werden können, wurde von Bernabei hervorgehoben. Es
ist ferner eine allgemein bekannte Tatsache, daß in den Haarfollikeln
und Schweißdrüsen der gesunden Haut sich stets Staphylokokken nach-
weisen lassen (Gottstein). Somit können auch von der vollkommen
Xtttoa. I. d. Orenzgeblcten d. Ifadixln o. Chirnrfle. XIU. Bd. H
162 H. Miyake,
gesunden Haut schwere Wundinfektionen erfolgen. Daß unter Um-
ständen die Mikroorganismen auch ohne Kontinuitätstrennung der Haut
in diese eindringen können, beweist der bekannte Versuch, den Garr&
am eigenen Korper mit Staphylococcus aureus unternahm. Aehnliche
Prozesse können sich auch in der Schleimhaut abspielen. Forscht man
bei jeder chirurgischen Infektionskrankheit genau nach dem Infektions-
modus, so kann man in manchen Fällen den Primärherd relativ leicht
konstatieren. Ist dies nicht der Fall, so müssen wir doch als Quelle
die Schleimhäute oder auch andere latent gebliebene Stellen annehmen.
Zuerst behauptete Sgriba, daß Furunkel und Mundabscesse den
Ausgangspunkt auch für die Myositis infectiosa darstellen, ohne aber
dafür einen annehmbaren Beweis beizubringen. In einer früheren, mit
Naoatomi zusammen verfaßten Arbeit habe ich Furunkel, kleine Haut-
pusteln, Panaritien, Ekzeme, vereiternde Moxenwunden und Hühner-
augen als häufigste Quelle der Myositis nachweisen können. Um fest-
zustellen, ob solche vorgefundenen kleinen Eiterherde wirklich als die
Quelle der Infektion zu betrachten seien, konnte die vergleichende
bakteriologische Untersuchung zwischen dem Primärherd und der
^eigentlichen Krankheit herangezogen werden. Besonders bei differenten
Bakterienbefunden ist diese Methode von ausschlaggebendem Wert.
Diese Untersuchung wurde bei meinen Fällen manchmal nicht ausge-
führt, weil der angenommene Primärherd eben längst vernarbt war
und es nicht lohnend erschien, durch Incision der betreffenden Partie
das Material für die Kultur zu beschaffen. Ein so angestellter Versuch
würde überdies leicht zu Täuschungen führen, da allzuleicht diejenigen
Staphylokokken zur Entwickelung kommen, welche die Haut bewohnen,
und nicht die gesuchten Erreger der Krankheit.
Zur Bewertung dieser Methode führe ich folgende zwei Beispiele
an: Während im Falle 14 aus dem Myositiseiter sich Strepto-
kokken in Reinkultur entwickelten, gingen aus dem Sekrete der
2 vereiterten Moxenwunden auf der Rückenhaut, welche die Ausgangs-
herde sein sollten, nur Staphylokokken an. Das umgekehrte Ver-
halten zeigte Fall 32, wo aus dem Myositiseiter Staphylococcus
aureus in Reinkultur und aus dem der furunkelähnlichen Eiterherde
der Gesichtshaut in der Nähe des Antitragus nur reichliche Kolonien
von Streptokokken angingen. Diese Streptokokken besaßen volle
Virulenz, so daß die intraperitoneale Injektion von 0,1 ccm einer 48-
stündigen Bouillonkultur ausreichte, die Mäuse binnen 26 Stunden zu
töten. Aus diesen zwei interessanten Befunden geht
hervor, daß man bei der Bestimmung des primären
Herdes ohne vergleichende bakteriologische Unter-
suchung keine Schlüsse ziehen darf. Alle anderen einer
solchen Untersuchung von mir unterworfenen Fälle lieferten überein-
stimmende Resultate.
Beiträge ztir Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 163
Weiter muß die Frage gestellt werden, auf welchem Wege die
Bakterien in die Muskeln gelangen. Nach Sgribas Ansicht gelangen
die Keime auf hämatogenem Wege in die Muskeln. Dies wurde
später 'von anderen Forschern, wie Walther, Lewy, Honsell etc.,
bestätigt. Sonach sollen die Keime nicht direkt durch die Lymph-
bahnen in die nächstgelegenen Muskeln verschleppt werden, sondern
dies soll stets auf embolischem Wege geschehen, so daß beispielsweise
aus einem in der Kopfhaut befindlichen Primärherde stammende Keime
zu den Unterschenkelmuskeln gelangen können.
Kann man nun im Verlaufe der Myositis infectiosa im Blute Bak-
terien nachweisen, wie dies bei manchen anderen Staphylomykosen der
Fall ist? Bei der Myositis infectiosa lassen sich klinisch zwei Formen
unterscheiden: die solitäre und die multiple. Zwischen beiden
besteht aber keine scharfe Grenze, so daß die erstere nicht selten in
die letztere übergehen kann. Aus dieser klinischen Erfahrung können
wir die Existenz von Bakterien im Blute ungefähr vermuten. Bei
Fall 33 handelte es sich um eine multiple Myositis der M. biceps und
gastrocnemius. Nach Incision und gründlicher Eiterentleerung fiel das
Fieber eine Zeitlang ab, stieg aber unter Frösteln wieder bis 40** auf,
ohne daß sich hierfür ein Grund nachweisen ließ. Schließlich stellte es
sich heraus, daß unter der Brusthaut eine wenig schmerzhafte, fluktu-
ierende Anschwellung auftrat, wo vor ca. 12 Tagen bei der Operation
Kampferöl injiziert worden war. Die kleine Wunde war inzwischen
spurlos verheilt. Nach Incision dieses Abscesses, welcher im ünter-
bautzellgewebe saß, fiel die Temperatur rasch zur Norm ab und die
Heilung ging rasch von statten. Sowohl aus dem Myositiseiter als
auch aus dem Hautabscesse ging Staphylococcus aureus in Reinkultur
an. Eine Kultur aus dem Blute konnte leider nicht versucht werden,
da die Patientin die Entnahme von Blut verweigerte. Jedenfalls ist es
in diesem Falle interessant, zu beobachten, daß selbst im fieberfreien
Stadium der Rekonvaleszenz die pathogenen Bakterien noch im Blute
zirkulieren und Metastasen bilden konnten. An einer anderen Pa-
tientin (Fall 27) wurde die Blutuntersuchung vorgenommen. Die
Patientin litt an schwerer Myositis des M. serratus anticus dext. und
fieberte um 39 — 40^. Gleichzeitig bei der Incision wurde nach Canon
5 ccm Blut aus der Armvene mittels steriler Spritze entnommen und
mit Agar vermischt in einige Petrischalen gegossen. Nachdem diese
48 Stunden im Brutofen bei Bluttemperatur gestanden hatten, gingen
in jeder Schale 2 — 3 Kolonieen von Staphylococcus aureus an. Nach
der Operation fiel die Temperatur einige Tage lang zur Norm. Kaum
hatte sich aber die Patientin von ihrer Qual erholt, als wiederum eine
partielle eiterige Myositis des linken M. trapezius auftrat, welche durch
Incision bald geheilt wurde. Dieser Bakterienbefund ist von prinzipieller
Bedeutung. Wir werden nach diesem Befunde und der großen Aehn-
11*
164 H. Miyake,
lichkeit unserer Krankheit mit der akuten Osteomyelitis nicht im Zweifel
sein, daß die Myositis infectiosa zu den septikopyämischen
Affektionen zu rechnen ist
Wir müssen uns nun der Frage zuwenden, warum speziell die
quergestreiften Muskeln bei unserer Form der septikopyämischen In-
fektion ergriffen werden. Volkmann erwähnt in Pitha-Billroths
Handbuch sehr treffend, daß die Entzündung der quergestreiften Muskeln
stets so unbedeutend und demgemäß unbeachtet bleibt, obwohl die-
selben sehr häufig Traumen ausgesetzt sind, ferner täglich bei der
chirurgischen Therapie mitverletzt oder von Entzündungen aus der
Nachbarschaft öfters heimgesucht werden. Das Muskelgewebe besitzt
nicht nur eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen verschiedene Eiter-
kokken, sondern nach Müller, Habermaas, Reverdin auch gegen
die Tuberkelbacillen. Lanz will die Widerstandsfähigkeit gegen Tu-
berkelbadllen durch die rege Assimilation und Zirkulation im Muskel-
gewebe selbst erklären. Tria kam nach zahlreichen Experimenten mit
verschiedenen Bakterien zu dem Schlüsse, die relative Widerstands-
fähigkeit eines Muskels beruhe nicht auf der sauren Reaktion des
Muskelsaftes, sondern auf vitaler Energie des frischen Muskelsaftes.
Abgesehen von der Richtigkeit dieser Erklärung steht doch auch die
Tatsache fest, daß das Muskelgewebe im allgemeinen nicht nur gegen
Entzündungserreger, sondern auch gegen verschiedene andere pathogene
Bakterienarten resistent ist Wie erklärt man sich dann also das Er-
griffenwerden der quergestreiften Muskulatur bei Myositis infectiosa?
Hier bleibt keine andere Antwort übrig als das Vorhandensein irgend-
welcher Prädisposition in dem betreffenden Muskel anzunehmen,
d. h. das Vorhandensein eines Locus minoris resistentiae
in einem Muskel und außerdem einen hohen Grad der
Virulenz der eingedrungenen Bakterien.
Als prädisponierende Ursache für die primäre eiterige Myositis sind
allerhand Momente angegeben worden. Lyot nennt unzweckmäßige Lebens-
weise, mangelhafte Ernährung und Alkoholvergiftung. Walther glaubt,
daß diejenigen Personen ergriffen werden, bei denen die Wirksamkeit
oder die Energie des Nervensystems sehr vermindert und infolgedessen
die Ernährung des Muskels unzureichend ist. Diese Erklärung scheint
nicht richtig zu sein, da, wie Honsell mit Recht hervorhebt, fast
alle Patienten mitten in voller Gesundheit von der Krankheit ergriffen
werden. Sowohl 33 eigene als auch die meisten von meinen früheren
und alle fremden Fälle, welche in Japan veröffentlicht wurden, erkrankten
plötzlich, nachdem sie sich vorher durchaus wohl befunden. Auch der
Ansicht Lyots kann ich nicht beitreten, da sowohl die wohlgenährten
Leute ebenso häufig erkranken wie die schlecht genährten und auch die
Frauen und Kinder, welche wenig oder gar keinen Alkohol genießen,
ebenso häufig wie die Männer.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 165
Die üeberanstrengung als lokal wirkende Disposition wurde
von Walther, Fujiy, Verfasser u. a. hervorgehoben. In diesem Falle
kann man wohl annehmen, daß die zarten Muskelfasern ohne merkbare
oder fühlbare Erscheinung hier und da subkutan gequetscht, gedehnt
oder zerrissen werden und daß dann innerhalb eines Muskels punkt-
förmige Hämorrhagien entstehen, welche den kreisenden Bakterien
günstige Gelegenheit, sich zu etablieren und weiter zu entwickeln,
geben. Nach Dorst stellen subkutane Hämorrhagien einen guten
Nährboden für Bakterien dar. Er brauchte bei Tieren 40mal so viel
Infektionsstoff, um die gesunde Extremität zu infizieren, als die von
Hämorrhagien durchsetzte. Nach Brunon sind diejenigen Muskeln,
die am meisten angestrengt werden, auch am meisten disponiert
Unter 33 Fällen fand ich 5, die sicher auf üeberanstrengung zurück-
zuführen waren. Der erste Patient (Fall 15) bekam nach anstrengendem
Marsche eine Myositis des M. quadriceps femoris, der zweite (Fall 17)
aus gleicher Veranlassung erst die Myositis des rechten M. gluteus
maximus, dann im weiteren Verlaufe des rechten M. deltoideus, der
dritte (Fall 18) auch auf ähnliche Weise Myositis des rechten M. ileo-
psoas, der vierte (Fall 16) nach Anstrengung des. Beines beim Weben
zuerst Myositis des rechten M. gluteus maximus, dann des rechten M.
longissimus dorsi und des M. obliquus abdom. ext., und endlich der
fünfte (Fall 27) nach anstrengender Arbeit beim Drehen einer Trikot-
maschine mit dem Arme zuerst eine Myositis des rechten M. serratus
ant. maj., dann des linken M. trapezius.
Ob reine Üeberanstrengung eines Muskels, also ohne Hämorrhagien
oder Faserläsionen, die lokale Disposition zur Entstehung der Myositis
steigern kann, lehren die später ausgeführten Tierexperimente.
Daß die subkutane Verletzung des Muskels durch
stumpfe Gewalteinwirkung nicht selten die Veranlassung der eiterigen
Myositis werden kann, ist längst bekannt. Unter meinen 33 Fällen
sind in dieser Hinsicht 5 zu verzeichnen (Fall 29—33). Hier sei aus-
drücklich bemerkt, daß es sich bei allen 5 Fällen um ganz unbedeutende
subkutane Verletzungen gehandelt hat und die Patienten bis zum Aus-
bruch der Krankheit kaum etwas von den Folgen der Traumen gespürt
haben.
Wenn üeberanstrengung und Trauma wirklich die Disposition zur
Erkrankung steigern, so muß in Bezug auf die Häufigkeit des Auf-
tretens eine gewisse Regelmäßigkeit bestehen. Walther fand die
Krankheit vorzugsweise in den Extremitätenmuskeln, Brunon gibt
folgende Reihenfolge an : Brustmuskeln, M. deltoideus. Mm. triceps und
biceps humeri, Lendenmuskeln, M. biceps femoris, M. gastrocnemius
u. s. w. Nach meiner, sowie nach Fujiys und K. Satos Statistik sind
die Muskeln der unteren Extremitäten am meisten disponiert, dann
folgen die der oberen Extremitäten. Unter 33 Fällen zählte ich 50
166 H. Miyake,
affizierte Muskeln, darunter 14mal M. gluteus maximus, Tmal M. biceps
femoris, je 3mal Mm. gastrocnemius, quadriceps femoris und triceps
brachii, je 2mal Mm. pectoralis major, deltoideus, Adductor magnus und
rectus abdominis, je Imal Mm. teres major, infraspinatus trapezius,
latissimus dorsi, flexor digitorum communis, ileopsoas, sartorius, lon-
gissimus dorsi, sacrospinalis. Obige Zahlen stimmen vollständig mit
der Statistik der anderen Autoren überein. Hieraus läßt sich schließen,
daß diejenigen Muskeln, welche im gewöhnlichen Leben
am häufigsten gebraucht werden, auch am meisten der
Infektionsgefahr ausgesetzt sind.J
Auch der Stand der Kranken spielt keine unbedeutende Rolle. Bei
Patienten aus den höheren und mittleren Ständen beobachtet man die Krank-
heit relativ selten, bei den Arbeitern und Bauern dagegen ziemlich häufig.
Der Grund hierfür liegt in den oben erwähnten Traumen und üeber-
anstrengungen, denen die niederen Stände häufiger ausgesetzt sind.
Nach FüJiY waren unter 91 Fällen 71 körperlich arbeitende Leute.
Unter meinen 33 Fällen handelte es sich 29mal um Angehörige der
arbeitenden Klassen (darunter aber 6 Kinder unter 10 Jahren) und
4mal um Kaufleute (darunter 1 Kind von 3 Jahren).
Einige Autoren behaupteten, daß die Jahreszeit mit dem Aus-
bruche der Krankheit in Zusammenhang stehe. So soll nach Scriba
der Frühlung und Herbst, nach Maeda ein Zeitraum zwischen Winter
und Frühjahr, nach Sakata dagegen der Sommer bevorzugt sein.
Das Material, welches von diesen Autoren zur Statistik benutzt wurde,
scheint einerseits nicht immer einer echten Myositis infectiosa ent-
sprochen zu haben, andererseits ist es nicht groß genug. Das schein-
bare endemische Vorkommen hängt nicht mit der Jahreszeit oder Tem-
peratur zusammen, sondern in Wirklichkeit, wie Fujiy richtig sagt,
mit den Zeiten, wo die Bauern im Felde hart arbeiten müssen oder
besonderen Anstrengungen und Traumen ausgesetzt sind.
Das Geschlecht übt auf das Vorkommen der Myositis keinen
direkten Einfluß aus, doch ist das männliche Geschlecht öfter befallen
als das weibliche. Nach meiner Zusammenstellung von 33 Fällen be-
trafen 21 das männliche, 12 das weibliche Geschlecht. Der Grund
hierfür ist darin zu suchen, daß das erstere den prädisponierenden
Momenten (Trauma, Ueberanstrengung) mehr ausgesetzt ist als das
letztere.
So viel Einfluß das Alter auf das Vorkommen der Osteomyelitis
hat, so wenig hat es auf das der Myositis. Nach Lyot wurde die
Krankheit häufiger bei Erwachsenen beobachtet. Nach meiner früheren
Arbeit überwiegt das kindliche Alter. Als Grund wurde dafür das bei
Kindern häufige Vorhandensein von skrofulösen Exanthemen und
sonstigen Hautausschlägen, welche die häufige Quelle der Myositiserreger
sind, angegeben. Nach K. Sato überwiegen auch die Individuen unter
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 167
20 Jahren. Honsbll legt keinen Wert auf das Alter, weil die Zahl
der bisher veröffentlichten Fälle noch zu klein ist. Wenn ich meine
33 Fälle in zwei Gruppen teile, nämlich die unter und die über dem
25. Lebensjahre, welches in unserem Klima ungefähr als Grenze der
Wachstumsperioden angesehen werden kann, so kommen 18 Fälle auf
die Zeit unter 25 Jahren, 14 auf die Zeit über dieser Grenze.
Der allgemeinen Annahme, daß die Myositis suppurativa primaria
in Japan so enorm häufig vorkommt, wurde auf dem japanischen Chi-
rurgenkongresse 1902, auf welchem ich über den Gegenstand zu refe-
rieren hatte, sowohl von mir als auch von meinem Korreferenten,
Herrn Professor Dr. H. Ito, auf Grund der tatsächlichen Erfahrungen
widersprochen. Trotzdem kamen wir zu der Annahme, daß die Affektion
im Vergleich zu Europa immerhin noch oft genug vorkommt. Meine
33 unzweifelhaften eigenen Beobachtungen in 1^/4 Jahren mögen dafür
einen Maßstab geben. Auf die Frage nach dem Grunde dieses häufigen
Vorkommens können wir bis jetzt leider keine befriedigende Antwort
geben.
Es lassen sich folgende drei Erklärungsmöglichkeiten anführen:
1) das Klima und die* Bodenbeschaffenheit; 2) der Rassenunterschied;
3) die Nahrung.
Ad 1. Es ist von vielen Krankheiten bekannt, daß sie in einer
bestimmten Gegend häufiger vorkommen als in anderen. Wie einfluß-
reich das Klima und die Bodenbeschaffenheit auf das Wachstum der
Pflanzen sind, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Daß die-
selben Umstände auch bei Entstehung der Myositis mitspielen, kann man
aUerdings nicht leicht behaupten. Möglich ist es aber, daß es unter
den bei uns vorkommenden Staphylokokkenvarietäten auch solche gibt,
welche gerade die entsprechende Virulenz [besitzen, Myositis zu er-
zeugen. Vorausgesetzt, daß diese Annahme richtig sei, so muß dabei
noch eine andere Ursache in den Muskeln vorhanden sein, welche die
Etablierung und Weiterentwickelung der Bakterien begünstigt.
Ad 2. Wie die Reaktion der verschiedenen pathogenen Bakterien
selbst unter den gleichen Tierspecies je nach der verschiedenen Haar-
farbe mehr oder weniger variiert, so muß dies auch bei unserer Rasse
gegenüber anderen der Fall sein. So verläuft bei uns der Typhus ab-
dominalis meist ohne Diarrhöe, die Syphilis im Sekundärstadium meist
mit kaum merkbaren, unbedeutenden Hautausschlägen oder ganz ohne
solche. Endlich trifft man Lupus bei uns so selten an, daß sein Vor-
kommen lange Zeit ganz bezweifelt wurde. So sind wir wohl berech-
tigt, die Häufigkeit der Myositis in Japan auf den Rassenunterschied
zurückzuführen. Ob ein feiner molekularer Unterschied im Baue der
Muskeln zwischen Europäern und Japanern bestehe, weiß niemand.
BlLZ will nach langjähriger Erfahrung die Beobachtung gemacht haben,
daß die japanischen Arbeiter trotz der Kleinheit des Körpers kräftig
168 H. Miyake,
entwickelte Muskeln besitzen und im stände sind, langdauernde körper-
liche Strapazen zu ertragen. Als Ursache gibt der Autor die vor-
wiegend vegetabilische Nahrung an. Ich lasse hier die Richtigkeit der
BlLzschen Erklärung dahingestellt, doch kann daraus vielleicht hervor-
gehen, daß irgend ein unbekannter Unterschied im Muskel zwischen
den beiden Rassen besteht, welcher in Bezug auf die Entstehung unserer
Krankheit vielleicht eine Rolle spielt. Ob bei den uns verwandten
Chinesen und Koreanern die Krankheit ebenso häufig vorkommt, ist
noch nicht erforscht.
Ad 3. Daß eine gewisse Art der Nahrung für das Vorkommen
einer Krankheit von nicht geringer Bedeutung ist, darf nicht bezweifelt
werden. Ueber die Pathogenese der Kakke oder Beriberi weiß man
zur Zeit wenig, doch ist es Tatsache, daß die Krankheit in Japan nur
bei reisessenden Eingeborenen vorkommt, bei den fleischessenden
Europäern dagegen gar nicht oder äußerst selten. Ob ein ähnliches
Verhalten auch bei der Myositis vorliegt, ist noch nicht sicher zu be-
antworten, scheint aber wahrscheinlich.
Welcher von diesen drei Möglichkeiten das Hauptgewicht beizu-
messen ist, läßt sich zur Zeit schwer sagen. Vielleicht darf man an-
nehmen, daß Rasse und Nahrung dabei die Hauptrolle spielen.
Symptome und Verlauf.
Die primäre akute Myositis beginnt meist mit plötzlichem Frost
und hohem Fieber. Patient klagt über Appetitlosigkeit, allgemeine
Mattigkeit, Gliederschmerzen, Kopfschmerz; oft findet man Benommen-
heit, profuse Schweißsekretion. Patient kommt dabei rasch herunter.
Der befallene Muskel zeigt zuerst eine schmerzhafte Induration, welche
bald zu einer spindelförmigen oder mehr diffusen Anschwellung führt.
Der Muskel ist stark kontrahiert, funktionsunfähig und zeigt eine cha-
rakteristische Anschwellung. Die Haut darüber ist heiß, aber nicht
gerötet. Im weiteren Verlaufe tritt eine Erweichung in der Mitte auf,
welche sich allmählich nach dem Rande zu ausbreitet. Dann zeigt
sich mehr oder minder deutliche Fluktuation in der Tiefe. Nicht selten
beschränkt sich der Indurationsprozeß auf einen Teil des Muskels.
Wenn wir in dem Stadium incidieren, in welchem eben die Fluktuation
sich bemerkbar gemacht hat, so bleibt der Absceß regelmäßig innerhalb
des betreffenden Muskels begrenzt. Die Absceßwand ist mit schmierigen,
von Eiter durchtränkten Muskelfasern durchsetzt. Es entleert sich ein
dicker, grüngelber, leicht mit Blut gemischter Eiter. Säumen wir aus
irgend einem Grunde mit der Operation, so geht die harte Induration
in toto in einen weichen, fluktuierenden Absceß über, der einem Senkungs-
absceß nicht unähnlich sieht. Schon in diesem Stadium zeigt der Patient
mehr oder weniger deutliche Erscheinungen von Septikopyämie ; rascher
Kräfteverfall, Appetitlosigkeit, fahlgelbe Hautfarbe, starkes intermittie-
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 169
rendes Fieber, Nachtschweiß, Schlaflosigkeit sind die regelmäßigen Er-
scheinungen in diesem Stadium. Selbst in diesem späten Stadium hat
der Absceß wenig Neigung, das Nachbargewebe in Mitleidenschaft zu
ziehen. Das direkt unter dem affizierten Muskel gelegene Periost und
der Knochen bleiben in jedem Falle verschont Eine phlegmonöse Aus-
breitung des Prozesses ist, wie Scriba seiner Zeit beschrieb, nur im
Falle äußerster Vernachlässigung zu beobachten. Unterlassen wir es,
die Myositis zur rechten Zeit chirurgisch zu behandeln, so geht sie
trotz des spontanen Durchbruchs des Eiters nicht selten in eine Art
Pyämie über und erzeugt multiple Abscesse in verschiedenen Körper-
gegenden, die schließlich zum Tode fähren.
Außer dem geschilderten Ausgange in Eiterung, welcher die Begel
bildet, beobachtet man nicht übermäßig selten, daß die derbe Infiltration
unter geeigneter Behandlung in Resolution übergeht.
Im folgenden gestatte ich mir, noch des Genaueren auf den lo-
kalen Befund, auf die multiple Myositis, sowie auf die Rezidive der
Krankheit einzugehen.
Die Krankheit befällt entweder einen Muskel oder eine ganze
Muskelgruppe, selten nur einen Teil eines Muskels. Wenn ein Muskel
in toto ergriffen wird, so tritt bei den langen Muskeln eine spindel-
förmige, bei den breiten dagegen eine diffuse, halbkugelige Anschwel-
lung auf. Diese Anschwellung ist im Anfangsstadium bretthart und
intensiv druckempfindlich. Eine Infiltration oder Rötung der bedecken-
den Haut wird im Anfangsstadium immer vermißt. Ist sie vorhanden,
so rührt sie in der Regel entweder vom Druck oder Reiben der Klei-
dung oder therapeutischen Maßnahmen her. Die brettharte Induration
geht gewöhnlich in 4—5 — 10 Tagen in Eiterung über. Es wurde aber
auch ein Fall beobachtet, in dem erst nach 1-monatlichem Verlaufe
Eiterung eintrat. In diesem subakut verlaufenden Falle war der affi-
zierte Muskel auffällig hart, abscedierte herdweise und ließ bei der In-
cision ein Knirschen hören, das von dem inzwischen stark gewucherten
Bindegewebe stammte (Fall 24).
Glücklicherweise regenerieren sich die verloren gegangenen Muskel-
Parties äußerst rasch, so daß ein Muskel, der scheinbar fast in toto zu
Grunde gegangen ist, z. B. der M. quadriceps femoris, in 3—4 Wochen
wieder sein ursprüngliches Volumen erreichen und gebrauchsfähig werden
kann. Die nicht selten auftretende Muskelkontraktur verschwindet unter
geeigneter Behandlung.
Als multiple Myositis können wir zwei Abarten der Er-
krankung bezeichnen: die typische Form, welche vom ersten Beginn
an multipel auftritt, und die atypische, welche erst als isolierte
Myositis auftritt und später erst multipel wird. Zwischen beiden be-
steht aber keine scharfe Grenze, indem auch im Verlaufe von der ty-
pischen multiplen Form Nachschübe sich einstellen können. Bezüglich
170 H. Miyake,
der Zahl der gleichzeitig befallenen Muskeln haben wir unter unseren
33 Fällen folgende Erfahrung gemacht. Es waren befallen
1 Muskel allein 18mal
2 Muskeln 12mal
3 „ 2mal
5 j, Imal
Auch mehr als 5 Muskeln gleichzeitig betreffende Fälle kommen vor.
So hat 0. Tomada einen günstig verlaufenden Fall von multipler Myo-
sitis veröffentlicht, in welchem 18 Muskeln affiziert und davon 14 in
Eiterung übergegangen waren.
Kommt die Myositis multipel vor, so sind die Erscheinungen na-
türlich viel schwerer und stürmischer als bei der einfachen, sonst finden
wir keinen merklichen Unterschied. Bei jeder multiplen Myositis ist
Septikopyämie mehr oder minder ausgeprägt. Trotzdem verläuft die
multiple Myositis ebenso günstig wie die einfache, wenn wir dem Eiter
nur schnell hinreichenden Abfluß schaffen. Nur bei vernachlässigten
Fällen tritt der Tod infolge der Pyämie oder Pneumonie ein.
Eine langdauernde Immunität, wie sie nach dem einmaligen üeber-
stehen mancher akuten Infektionskrankheit beobachtet wird, scheint bei
der staphylomykotischen Myositis nicht vorzukommen.
Buchner und Roemer haben darauf aufmerksam gemacht, daß
die meisten Anatomen im Anfange ihrer Tätigkeit der Infektion mit
Eitererregern in hohem Grade ausgesetzt seien, daß aber mit der Zeit
ihre Empfänglichkeit dafür geringer werde. Nach Canon und Petersen
bilden sich im Blute eines an typischer Osteomyelitis erkrankten
Patienten sicher Antitoxine, welche bei intravenöser Injektion von
kleinen Dosen im stände sind, die tödliche Infektion durch den aus
dem Osteomyelitiseiter gewonnenen virulenten Staphylococcus aureus
unschädlich zu machen, wenn sie auch nur kurze Zeit wirksam bleiben.
Nach Lingelsheim u. a. ist die Immunität gegenüber der Staphylo-
kokkeninfektion überhaupt nur von geringer Dauer. Ich habe nun bei
meinem Beobachtungsmaterial nachgeforscht, ob kurz nach der Heilung
einer Myositis Rezidive vorkommen können, über deren Existenz bis
jetzt noch nichts berichtet worden ist, obgleich ein solcher Fall im
Hinblick auf die verwandte Osteomyelitis sehr wahrscheinlich ist. Tat-
sächlich habe ich bis jetzt 2 solche Fälle beobachtet, wovon der eine
(Fall 26) nach 4-monatlicher Heilung der mittelschweren, multiplen
Myositis wiederum an akuter, primärer Myositis der linken Mm. obliquus
abdominis ext. und gluteus maximus erkrankte; bei dem anderen trat
nach 3-monatlicher vollkommener Heilung der Myositis des linken M.
infraspinatus wieder die typische Myositis des M. quadriceps femoris
(Fall 28) ein. Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß die Im-
munitätsdauer nach unserer Myositis ebenfalls nur auf kurze Zeit,
höchstens 3—4 Monate, zu bemessen ist.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 171
Pathologische Anatomie.
Nach eingehenden Studien von zahlreichen Autoren können wir
3 Arten von eiteriger Myositis unterscheiden: die mit solitären
großen, die mit disseminierten Abscessen und die mit eiteriger
diffuser Infiltration des Muskels einhergehende, unter diesen Formen
überwiegt die von großen solitären Abscessen begleitete Form. So ge-
hören sämtliche Fälle von Scriba, Honsell und die meinigen hierher.
Nach ScRiBA lokalisiert sich der Absceß bei frischen Fällen in einem
Muskel selbst oder in der Muskielscheide. Nur Imal beobachtete er
bei einem zweifelhaften und veralteten Falle eine Entzündung, welche
die Muskelscheide durchbrochen und sich in die Umgebung phlegmonös
verbreitet hatte. Ein bei der Operation aus der Umgebung der Abs-
ceßwand exstirpiertes Muskelstück sah etwas blaß, sonst aber gesund
aus. ScRiBA behauptete, daß eine rote oder graugrünliche Verfärbung,
wie sie von anderen beschrieben worden war, als Leichenphänomen zu
betrachten sei.
Die makroskopische Beschreibung des dem Lebenden.entnommenen
entzündeten Muskelgewebes lautet von selten der japanischen Autoren
sehr verschieden.
Nach FujiY ist der entzündete Muskel dunkelrot bis graurot verfärbt,
derb infiltriert, äußerst morsch. Nach meiner Erfahrung kommt sowohl
die blaßrote wie die dunkelrote Farbe je nach dem Grade und der Dauer
der Entzündung vor. Die rote oder graugrünliche Verflärbung darf jeden-
falls nicht ausschließlich als Leichenphänomen gedeutet werden. In der
Mehrzahl der Fälle bildet der Absceß eine unregelmäßige buchtige Höhle
in einem Muskel, die mit grauen oder gelblichgrauen nekrotischen Muskel-
fasern ausgekleidet ist Das der Absceßhöhle benachbarte Muskelgewebe
sah fast stets rot oder dunkelrot aus. Je mehr von ihm entfernt wurde,
desto blasser wurde der Farbenton. Bei einem veralteten Falle, wo nur
minimale Reste des Muskels an dessen Fascie hängen geblieben waren,
war er dunkelrot bis graurot. Im ganz frischen, sogenannten serös-eiterigen
Stadium und in infiltrierten Maskeistücken, die eine Strecke von der Abs-
ceßwand entfernt sind, sahen diese, wie Scriba es beschrieben, blaßrot
aus. Zuweilen zeigen sich an ihnen gelbe, eiterig infiltrierte Linien und
Streifen. Charakteristisch ist die Tatsache, daß der Absceß genau inner-
halb der Muskelmasse oder wenigstens in der Muskelscheide lokalisiert
ist, so daß bei jeder Incision die Scheide oder die Muskelsubstanz er-
öffnet werden muß. Die veralteten Fälle, bei denen der Eiter bereits aus
der Scheide herausgetreten war, wurden, als nicht mehr in den Rahmen
der Myositis gehörig, ausgeschlossen.
Mikroskopischer Befund. Außer der wertvollen Beschreibung
von Scriba möchte ich noch aus der europäischen Literatur die hervor-
ragenden Arbeiten von Kader, Lorbnz und Honsbll anführen. Nach
Scriba war an frischen Präparaten von Muskeln, die bei der Operation
ezstirpiert wurden, die Querstreifung fast völlig verschwunden oder nur
hier und da Spuren von ihr vorhanden. Das Sarkolemma, 2 — 3-fach ver-
dickt und prall gefällt, ist stellenweise mit verschieden gestalteten glän-
172 H. Miyake,
zenden Zellen besetzt. Das Perimysiam zeigt sur spärlich gestreute
Rundzellen. Die Muskelfasern, eigentümlich aufgequollen, ähneln denen
bei der traumatischen Muskelentzündung, die von Wbbbr und Waldbybr
genau studiert worden ist, unterscheiden sich aber von demselben durch
die ganz geringe Beteiligung des interstitiellen Bindegewebes. Scriba
faßt den Prozeß als seröse bezw. serös-eiterige Entzündung auf. Nach der
Absceßhöhle zu konnte er reichliche Rundzelleninfiltration konstatieren.
Nach seinen Befunden handelt es sich um die vorwiegend primäre
Beteiligung des eigentlichen Muskelgewebes an der Ent-
zündung, nicht dagegen der In terstitien, weil die patho-
logische Veränderung der letzteren so sehr in den Hintergrund tritt. Von
PüjiY, JüMORi, KojiMA wird indessen die starke Beteiligung des inter-
fibrillären Bindegewebes ausdrücklich hervorgehoben. Neuerdings sprach
K. Sato sogar die Ansicht aus, daß unsere Myositis nach dem patho-
logisch-anatomischen Befunde eigentlich „interstitielle Myositis^' zu nennen
sei, da die eigentliche Muskelfaser an der Entzündung nur wenig be-
teiligt sei. Wenn wir aber die Krankengeschichte in Satos Arbeit genau
durchsehen, so scheint hier gar nicht die echte primäre Myositis vorge-
legen zu haben, sondern metastatische Muskelabscesse, die im Anschluß
an allgemeine Pyämie auftreten und stets mit so geringer Beteiligung des
Muskelparenchyms einhergehen. Zwischen den beiden Extremen, die von
Scriba und Sato vertreten werden, steht meine Ansicht, die ich hier dar-
legen möchte.
Unter meinen 33 Fällen habe ich 14mal Gelegenheit gehabt, an den
bei der Operation exstirpierten Muskelstücken eingehend zu mikroskopieren.
Bei den übrigen konnte die Untersuchung teils infolge des Ausganges in
Resolution, teils infolge anderer hindernder Umstände leider nicht ausge-
führt werden. Unter den 14 Fällen waren verschiedene Stadien vertreten
von dem serös-eiterigen bis zum fast völligen Zerfalle des Muskelgewebes.
Es wurde sowohl an frischen als auch an gefärbten Präparaten untersucht.
Die Färbung wurde gemacht nach van Gieson, Hämatoxylin-
Eosin, Hämatoxylin-Lithionkarmin und nach Gram.
An den frischen Zupfpräparaten konstatierte ich stets eine ähnliche
Veränderung, wie sie Scriba angegeben, nur unterschied sie sich im wesent-
lichen dadurch, daß an ihr das interstitielle Bindegewebe in demselben
Maße beteiligt war wie die Muskelfasern selbst. Die Sarkolemmschläuche
waren verdickt, doch nicht so bedeutend, wie Scriba es beschreibt. An
gefärbten Präparaten tritt diese Veränderung der Interstitien sowohl als
auch der Muskelfasern noch deutlicher zu Tage als an den frischen. Be-
sonders deutlich läßt die Färbung nach van Gibson die bindegewebige
Umwandlung der Muskelfasern erkennen.
In einem frischen Falle (No. 15) ergab die Untersuchung folgendes.
Es handelte sich um die Myositis des M. quadriceps femoris im Stadium
der serös-eiterigen Durchtränkung. Die Muskelfasern zeigen sich
größtenteils erhalten. Nur ein kleiner Teil derselben hat stellenweise oder
in ihrem ganzen Verlaufe die regelmäßige Querstreifung verloren. Infolge
eines Schrumpfungsprozesses bilden sich an den Muskelfasern hier und da
unregelmäßige Querstreifungen, die ähnlich wie etwa die Streifung eines
Tigerfelles aussehen. Diejenigen Fasern, die ihre Querstreifung vollständig
verloren haben, behalten aber ihre Längstreüung. Ja, sie tritt sogar noch
deutlicher hervor. Die befallenen Fasern zeigen außerordentliche Un»
gleichheit in der Dicke, sind bald gequollen, bald geschrumpft, bald
schollen-, bald wellenförmig. Dazwischen sieht man undeutliche, hyalin
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 173
entartete Partien. Die Sarkolemmakeme sind mehr oder minder ver-
mehrt, das interfibrilläre Bindegewebe mit spärlichen Randzellen infiltriert.
In diesem Falle handelte es sich unzweifelhrft um eine serös-eiterige
Entzündung, welche in ziemlicher üebereinstimmung mit Scbibas Falle
steht. Vielleicht war allerdings die Beteiligung der Interstitien an der
Entzündung hier stärker als an dem seinigen.
Bei Fall 23 lag ein Muskelstück vor, das aus der Absceßwand des
M. glutaens maximus frisch exstirpiert war. An diesem Präparate können
wir das Fortschreiten der serös-eiterigen zu der eiterigen Entzündung
verfolgen. Die direkt in der Nähe der Absceßwand gelegene Zone ist
stark mit Rundzellen infiltriert. Die Muskelelemente sind fast völlig
eiterig eingeschmolzen, nur stellenweise sind in kleine Schollen zerfallene,
teilweise bindegewebig entartete Fasern zurückgeblieben. Weiter nach
der Peripherie zu mehren sie sich, sind aber größtenteils ohne Quer-
streifung und geschrumpft, so daß sie bald schollig, bald geschlängelt aus-
sehen. Die Muskelkerne sind im allgemeinen etwas vermehrt. Das inter-
stitielle Bindegewebe ist stark vermehrt und mit ein- oder mehrkemigen
Rundsellen infiltriert. Noch ein Stück weiter nach der Peripherie zu
bietet das Präparat ein dem vorigen Falle ähnliches Bild, und endlich geht
dasselbe in das normale Muskelgewebe über. Nach GaAMScher Färbung
konstatieren wir Kokkenhaufen hauptsächlich in der Nähe der Absceß-
wandung. In dem Gebiete aber, wo der entzündliche Prozeß noch nicht
deutlich ausgeprägt war, konnten wir sie nicht finden. Die nach van Gieson
gefllrbten Querschnittspräparate gewähren uns ein besonders instruktives
Bild des Ueberganges von den gesunden Muskelfasern zur bindegewebigen
Entartung, sowie von dem Verhältnis der Entzündung der Interstitien zu
der der Fasern. Man sieht Fasern, die je nach der Intensität der binde-
gewebigen Entartung bald mehr oder minder gelb- bis dunkelrot, bald
nur am Rande ringförmig rot gefärbt 'sind.
Das Bild dieses Falles ist das Prototyp unserer Myositis; alle
übrigen Fälle, die ich genau mikroskopiert habe, stimmen im großen
und ganzen mit diesem überein (Fall 3, 11, 17, 19, 21, 22, 25, 29, 31,
32, 33). Es existieren aber auch Fälle genug, in welchen die Ver-
änderung der Muskelfasern in den Hintergrund tritt, so daß die Quer-
und Längsstreifung bis zum Momente des Faserschwundes relativ wohl-
erhalten bleibt. Für die Intensität der Erkrankung beider
Elemente kann ich ein allgemeingültiges Gesetz nicht
finden. Bald überwiegt die Veränderung der Muskel-
fasern, bald die des interstitiellen Bindegewebes. Die
hyaline körnige resp. fettige Degeneration, die bei anderen Formen der
Myositis oft vorkommt, kann hier nicht konstatiert werden, nur in
einigen traumatischen Fällen wurde eine wenig ausgebildete hyaline
Degeneration beobachtet.
Bei veralteten Fällen sieht man sehr oft einen Neubildungsprozefi
der Muskelfasern aus gewucberten Muskelkemen, sowie die Bildung
von Granulationsgewebe.
Hier sei noch an einen Fall (24) erinnert, der mit brettharter
Induration des M. adductor einherging und in dem bei subakutem
174 H, Miyake,
Verlaufe schließlich ein Teil desselben zur Abscedierung kam. Als cha-
rakteristisches Merkmal lieü sich in diesem Falle ein intensiv ge-
wachertes interstitielles Bindegewebe nachweisen, das zum
Teil fast völlig in Narbe umgewandelt, zum Teil noch mit zahlreichen
Eundzellen und neugebildeten Qefäßen durchsetzt war. Die Muskelfasern
waren von dem gewucherten Perimysium stark verdrängt, geschrumpft,
die in der Nähe des Abscesses gelegenen größtenteils in eiterigem Zerfall
begriffen, meist jedoch ohne ihre Querstreifung verlassen zu haben. Man
konnte in einem Gesichtsfelde den Uebergang der Muskelfasern in die
eiterige Einschmelzung sehr gut verfolgen. Ueberall war die Vermehrung
der Muskelkeme ausgeprägt, ja wir konnten sogar das Sprossen der
Muskelfasern aus den Kernen beobachten.
Diagnose.
Die Diagnose der an den Extremitäten auftretenden Myositis ist
nicht schwer, wenn man ihren Verlauf von Anfang an verfolgt und
dabei folgende wichtige Merkmale berücksichtigt:
1) Die derbe Infiltration und Anschwellung, welche der Gestalt des
Muskels entspricht;
2) die schmerzhafte Kontraktur des erkrankten Muskels und die
davon herrührende gezwungene Haltung der Extremität oder des ganzen
Körpers. So nimmt z. B. der Vorderarm bei Erkrankung des M. biceps
brachii die Beugestellung, der Rumpf bei der des M. rectus abdominis
eine nach vorn geneigte Haltung ein, um die Ansatzstellen des Muskels
zu nähern und so die durch Zerrung ausgelösten Schmerzen zu lindern.
Wo die ganze Muskulatur in Eiter, übergegangen ist und dessen Durch-
bruch nach außen droht, wird die Diflferentialdiagnose mit Osteo-
myelitis beim Fehlen einer genauen Anamnese manchmal schwer.
Bei Myositis ist die phlegmonöse Ausbreitung des Eiters in den um-
gebenden Geweben äußerst selten. In der Regel bleibt derselbe inner-
halb der Muskelscheide oder erscheint direkt unter der Haut. Daß er
das Nachbargewebe in Mitleidenschaft zieht, gehört zu den größten
Seltenheiten. In einem zweifelhaften Falle entscheidet die gehörig
weite Incision und darauffolgende Inspektion und Palpation mit dem
Finger.
In der Differentialdiagnose müssen diemetastatischenMuskel-
abscesse bei Pyämie, die oft mit veralteter multipler Myositis ver-
wechselt werden können, von unserer Krankheit streng geschieden
werden. Die pyämisch-metastatischen Muskelabscesse zeigen gewöhnlich
keine derbe Infiltration des betroffenen Muskels oder wenigstens so
wenig ausgeprägt, daß man sie kaum merkt, sondern sie verwandeln
denselben bald in einen deutlich fluktuierenden Tumor. Dabei machen
sie so unbedeutende lokale Erscheinungen, daß sie von dem Patienten
selbst oft gar nicht bemerkt werden.
Mit einem kalten Absceß ist die Myositis kaum zu verwechseln.
Nur bei der primären Myositis des M. ileopsoas muß man besondere
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 175
Vorsicht üben. Diese macht oft ähnliche Erscheinungen wie der soge-
nannte Psoasabsceß (Senkungsabsceß), unterscheidet sich aber durch
ihren akut entzündlichen Verlauf.
Bei Myositis des M. rectus abdominis kommt man oft
in die schwierige Lage, zu entscheiden, ob der Prozeß intra- oder extra-
peritoneal verläuft. Bei der Myositis erstreckt sich der Absceß nicht
auf den ganzen Muskel, sondern wird stets durch die Inscriptiones ten-
dineae begrenzt. Ferner ist die scharfe Abgrenzung des Tumors gegen
die Linea alba wichtig.
Walther schätzt zwar die zwei von Sgriba angegebenen wich-
tigen diagnostischen Zeichen : eine der Gestalt des Muskels entsprechende
derbe Anschwellung und schmerzhafte Kontraktur des erkrankten
Muskels als wertvolle Merkmale, doch hält er sie nicht für absolut
sichere Zeichen, da sie ebensogut auch bei intra- oder submuskulären
Phlegmonen auftreten können. In voller Uebereinstimmung mit Hon-
SELL bin auch ich der Meinung, daß die exakte Diagnose der primären
Myositis erst durch breite Incision und darauffolgende genauere In-
spektion und Palpation gestellt werden kann.
Prognose.
Die von Lyot, Foucaült, Walther, Brünon selbst beobachteten
und gesammelten Fälle haben prognostisch nicht so günstige Zahlen er-
geben, im Gegensatze zu den von uns beobachteten Fällen von Myositis. Es
starben nach Walther unter 19 Fällen 8, und zwar 3 an der Myositis
selbst, 5 an Komplikationen. Nach Lorenz' Ansicht dagegen ist sowohl
die akut wie die subakut verlaufende Myositis leicht heilbar, wenn nur
f&r Abfluß des Eiters rechtzeitig gesorgt wird und keine Komplikationen
eintreten. 9 Fälle von Honsell verliefen alle günstig. Ebenso lauten
die Angaben der übrigen Autoren. Meiner Ansicht nach, die ich schon
früher vertreten habe, nehmen alle unkomplizierten Formen einen
günstigen Ausgang, wenn wir den Fall frühzeitig genug zur Behand-
lung bekommen und vor allem für guten Eiterabfluß sorgen. Un-
günstige Resultate beruhen fast stets auf Komplikationen. Wie in
meiner früheren Arbeit erwähnt, überstand ein 4-jähriges Kind eine an
5 Stellen auftretende schwere Myositis. Nach Tomoda wurde sogar
eine in 18 Muskeln und nach Yamasaei eine in 14 Muskeln auftretende
Myositis glücklich überstanden. Unter meinen 33 Fällen starb nur
1 Patient, und zwar an der zu einer multiplen Myositis hinzutretenden
Pneumonie. Die gefürchtetsten Komplikationen sind Pyämie und
Pneumonie. So berichten K. Sato, Kürosawa und Suzuki je
1 Fall von durch die Sektion sichergestelltem metastatischen Lungen-
absceß als Todesursache.
Nicht nur quoad vitam ist die Prognose günstig, sondern auch
quoad functionem. Der große Verlust an Muskelsubstanz wird unglaub«
176 H. Miyake,
lieh schnell ausgeglichen. Selten tritt eine starke myogene Narben-
kontraktur auf. Sie kann durch geeignete Behandlung behoben werden.
So viel Fälle ich schon gesehen habe, so habe ich doch noch keinen
beobachtet, in dem irgend eine Funktionsstörung der erkrankt gewesenen
Teile hinterblieb.
Therapie.
Bezüglich der Therapie ist fast nichts Neues zu sagen. Ich möchte
nur auf die Frage eingehen, ob man im Stadium der Induration sofort
incidieren soll oder nicht. Nach zahlreichen eigenen und fremden Er-
fahrungen gehen selbst stürmisch einsetzende Formen unter geeigneter
frühzeitiger antiphlogistischer Behandlung öfters in Resorption über.
Daher scheint es berechtigt, erst einmal den Effekt einer solchen
Therapie abzuwarten, ehe man zum Messer greift Denn erstens bringt
die Resorption schneller Heilung als die Incision, und zweitens bleibt
dem Patienten der im allgemeinen gefürchtete schmerzhafte Eingriff
erspart. Füjiy, Honsell widerraten ebenfalls die Operation vor dem
Eintritt der Eiterung. Tritt aber trotz geeigneter Behandlung hohes
Fieber mitanderen schweren Symptomen auf, da ist eine Eiteransamm-
lung in der Tiefe sicher zu erwarten und schleunigst eine breite Incision
zu machen, um einer drohenden Pyämie vorzubeugen. Oft versagt in
solchem Falle die Probepunktion, weil der Eiter für die feine Nadel
zu dickflüssig ist.
Was die antiphlogistische Behandlung betrifft, so empfehle ich vor
allem einen feucht-antiseptischen Verband mit 1-proz. essigsaurer Ton-
erde. Derselbe wirkt kühlend, schmerzlindernd und absolut reizlos.
Außerdem müssen wir, zumal bei frischen Fällen, noch für Inunobili-
sierung und Hochlagerung des erkrankten Teiles sorgen.
Den Paquelin statt des Messers zur Eröffnung des Abscesses zu
benutzen, um dadurch einen zufälligen Uebertritt von Krankheitskeimen
ins Blut zu verhüten, ist nach v. Bergmann bei diesen infektiösen
Staphylo- und Streptomykosen vollständig überflüssig, ja sogar schäd-
lich, insofern als die freie Absonderung der infektiösen Sekrete aus
den Geweben durch die sie abschließenden Schorfe behindert wird.
Die leichten postmyositischen Kontrakturen der betroffenen Muskeln
verschwinden meist ohne Behandlung von selbst Im Notfalle sind
Massage und andere orthopädische Maßnahmen anzuwenden.
n. Experimenteller Teil.
In den nun zu beschreibenden Versuchen wurden folgende zwei
Fragen berücksichtigt:
1) Können subkutane Traumen, Ueberanstrengungen
und Stauungen als disponierende Momente für die Myositis
infectiosa gelten?
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 177
2) Hat der aus Myositiseiter gewonnene Staphylococcus aureus ein
spezifisches Verhalten gegenüber der Muskulatur oder ist er mit
den gewöhnlichen pathogenen Aureus-Stämmen identisch?
Soviel ich weiß, wurden bisher noch keine ausgedehnten Experimente
zur Erzeugung der primären eiterigen Myositis angestellt. Bekannt
sind Kaders Experimente über myogenen Schiefhals und Martinottis
Tierversuche mit dem sogenannten „Staphylococcus polymyositicus",
femer die berühmten 0. Weber und WALDEYERschen Experimente,
die sich auf die Regeneration der quergestreiften Muskeln beziehen. In
einer Zeit, wo die Frage nach der Aetiologie der Osteomyelitis im
Vordergrunde stand, beschäftigten sich Krause, Ullmann, Rodet,
Lexer u. a. eifrig mit Versuchen, bei denen als Teilerscheinung auf-
tretende Muskelabscesse auch mitbeobachtet wurden. Krause und
Ullmann injizierten in die Venen von Versuchstieren, denen subkutane
Frakturen beigebracht oder die Glieder eine Zeitlang mit elastischen
Binden umschnürt worden waren , den aus Osteomyelitiseiter ge-
wonnenen Staphylococcus aureus. Dabei fanden sie dann öfters außer
der Osteomyelitis sowohl am Verletzungsorte als auch in entfernt
liegenden Muskeln Abscesse. Rodet, Lexer u. a. erzeugten ohne ein
vorangehendes Trauma durch intravenöse Einspritzung von Staphylo-
coccus aureus bei jungen Tieren außer Osteomyelitis noch kleine, in
Muskeln multipel auftretende Abscesse. Nach Krause haben Knochen-
mark, Gelenke und Muskeln besondere Neigung, die Kokken aufzu-
nehmen und ihr Wachstum zu unterstützen, während Ribbert diesen
Prozeß als einen echt embolischen Vorgang auffaßt. Musgatello und
Ottaviano konnten ebenfalls in ihren Versuchen über die Staphylo-
kokkenpyämie finden, daß meistens kleine Muskelabscesse auftraten,
und zwar in bestimmten Muskelgruppen. Diese bestimmte Lokalisation
steht im engsten ursächlichen Zusammenhange mit Hämorrhagien,
welche durch das Mikroskop an der Stelle der Abscesse nachzuweisen
waren. Die gewaltigen Anstrengungen der Versuchstiere, sich aus der
gefesselten Stellung zu befreien, sind es, welche diese kleinen Hämor-
rhagien in bestimmten Muskelgruppen erzeugen und dadurch den Ab-
scessen eine so regelmäßige Lokalisation geben.
Der Bakterienbefund wurde schon im klinischen Teile genügend
erörtert Es fragt sich nun weiter, ob irgend eine Spielart des Sta-
phylococcus aureus existiert, welche im stände ist, speziell Myositis zu
erzeugen. Martinotti kultivierte 1895 aus dem Nierenabsceß einer
an Paranoia gestorbenen Person Staphylococcus aureus und konnte
durch intravenöse Injektion desselben bei 20 Kaninchen kleine multiple
Muskelabscesse in verschiedenen Körperteilen erzeugen, insbesondere
im M. psoas. Natürlich waren ähnliche Befunde auch in den Nieren,
der Leber und dem Herzen vorhanden. Von der Annahme ausgehend,
daß diesen Kokken eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Muskel-
lUtteCL a. d. OransfeUaCan d. MadltSn o. Chlmr^le. ZIII. Bd. 12
178 H. Miyake,
entzündung zukäme, hat er sie mit „Staphylococcus polymyo-
siticus^ bezeichnet. Beiläufig sei erwähnt, daß neulich Perex an
aseptisch angelegten und vernähten Wunden durch Injektion von In-
fluenzabacillen in entfernten Körperteilen ebenfalls Muskeleiterung her-
vorrufen konnte.
Martinottis Auffassung scheint mir aber auf einem Irrtume zu
beruhen. Nach seiner Beschreibung handelte es sich gar nicht um
echte Myositis, sondern um eine Begleiterscheinung der gewöhnlichen
Pyämie, wie ja das Auftreten der kleinen multiplen Abscesse auch in
anderen inneren Organen beweist. Ich habe im Jahre 1898 im Czerny-
schen Laboratorium zu Heidelberg auf die freundliche Anregung von
Herrn Prof. Petersen Gelegenheit gehabt, mit dem originalen Stamme
von Staphylococcus polymyositicus zu experimentieren, welcher von
Herrn Prof. Martinotti mir gütigst zur Verfügung gestellt war. Ich
habe damals allerdings nur wenige Versuche mit Kaninchen und Mäusen
gemacht, doch reichen diese wohl aus. Die Ergebnisse wurden damals
nicht veröflfentlicht, ich möchte sie daher hier im Anschluß an meine
später selbständig vorgenommenen Versuche auch mitteilen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, skizziere ich hier kurz die
Technik meiner Versuche. Als Versuchstiere wurden ausschließlich Ka-
ninchen benutzt, weil hier die intravenöse Injektion leicht ausführbar
ist und andererseits die Staphylokokken auf diese Weise am sichersten
zur Wirkung kommen. Injiziert wurde Staphylococcus aureus, der aus
dem Eiter von primärer Myositis, Furunkeln, Panaritien und Lymph-
adenitis genommen war. Einige Versuche habe ich auch mit dem aus
Myositiseiter gewonnenen Staphylococcus albus gemacht, doch ist die
Zahl derselben zu klein, um ein bestimmtes Urteil darüber abgeben zu
können. Die Injektionsflüssigkeit habe ich jedesmal filtriert, um eine
durch den Bodensatz der Bouillonkultur hervorgerufene Embolie zu
vermeiden. Von den zahlreichen Versuchen will ich hier nur 36 brauch-
bare vorführen. Sie zerfallen in folgende 5 Versuchsreihen:
A. Die subkutane, intraperitoneale und intravenöse Injektion von
Staphylococcus polymyositicus nach Martinotti, n
B. Die subkutane Läsion eines Muskels mit Finger oder Zange und
nachfolgende intravenöse Injektion von Staphylococcus aureus aus
unserer Myositis.
C. Analoge Versuche mit Staphylococcus aureus aus akuter Lymph-
adenitis und Panaritium.
D. Die vorherige Anlegung der elastischen Ligatur an Extremitäten
mittels Gummischlauch und darauffolgende intravenöse Injektion von
Staphylococcus aureus aus Myositis und Panaritium.
E. Die direkt nach der Vollendung der langdauernden Muskel-
reizung mittels Induktionsstrom (Ermüdung) erfolgende intravenöse
Injektion von Staphylococcus aureus aus Myositiseiter.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 179
A. Versuchsrei
iie mit so
genannt
em „Staphylococcus
polymyositicus".
B
Datum
Art der
Tiere und
Körper-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
<
Befund der
Muskeln
Bakterien-
befund
der
kranken Teile
Be-
merkungen
1
4. Juli
18d8
Kanin eh.
1850 g
24-8tünd.
Staphyl.
polymyos.
Oß ccm intra-
venöse Injek-
tion
20
Stdn.
t
Negativ
Aureus in Bk.
a. Niere, Milz,
Herz u. Peri-
toneum
SämtL innere
Organe hv-
peram., aber
kein Absceß
2
«
Mäuse
n
0,1 (xun sub-
kutane Inj. an
d. Bauchhaut
18
Stdn.
t
Negativ
Aureus in Bk.
aus Herz und
Niere
i>
3
7. JuH
1898
Kaninch.
1720 g
9
03 ccm sub-
kutane Injek-
tion
15
Tage
rt
Absceßbildg. Aureus in Rk.
a.d.inj.SteUe'aus Muskel-
u.fortgeleitete'absce8sen und
Psoasmyosit Niere
4—5 kleine
Abscesse in
den Nieren
4
15. JuU
1867
Kaninch.
1870 g
48-stÜDd.
Staphyl.
polymyos.
Oß ccm intra-
venöse Injek-
tion
5 Tage
t
Negativ
Aureus in Bk.
aus der Niere
MulÜple klei-
ne Abscesse in
den Nieren
5
1»
Kaninch.
1700 g
24-8tünd.
Staphyl.
polymyos.
n
3 Tage
t
Negativ
ti
Multiple klei-
ne Abscesse
in den Nieren,
Milz u. Leber
Von den 5 Tieren, die zu diesen Versuchen benutzt waren, wurde
zweien 0,2 — 0,3 ccm einer 24-stündigen Bouillonkultur in die Venen einge-
spritzt. 1 Tier verendete 3, das andere 5 Tage nach der Injektion. Bei
der Sektion fanden sich keine Muskelabscesse, sondern nur solche in Niere,
Herz und Leber. Am 3. Kaninchen wurde die Injektion einer 24-stündigen
Bouillonkultur subkutan in der rechten Heocökalgegend gemacht. Ln Ver-
laufe von 2 Wochen bildete sich an Ort und Stelle ein ziemlich großer
Absceß. Bei der Sektion des 15 Tage nach der Einspritzung getöteten
Tieres konstatierte ich eine phlegmonöse Eiterung der Bauchwandmuskeln
an der Injektionsstelle, sowie eine fortschreitende Eiterung am M. iliopsoas.
Mäuse, bei denen die analoge Injektion gemacht wurde, gingen nach
18 Stunden zu Grunde. Das 5. Kaninchen, das eine intraperitoneale Ein-
spritzung von 0,3 ccm erhielt, starb schon nach 20 Stunden. An den
letztgenannten Versuchstieren waren nur leichte Hyperämie und geringe
Ezsudation in der Peritonealhöhle, aber keinerlei Abscesse in den inneren
Organen oder den Muskeln zu finden.
Wie erwähnt, konnte Martinotti bei seinen 20 intravenösen In-
jektionen jedesmal kleine multiple Muskelabscesse erzeugen. Ich bekam
bei meinen 2 ebenso ausgeführten Versuchen keine Muskelabscesse,
obwohl die Tiere noch lange genug lebten (3 und 5 Tage), um Abscesse
sich bilden zu lassen. Es ist von Rodet, Lexer, Muscatello und
Ottaviano in übereinstimmender Weise nachgewiesen, daß bei intra-
venöser Einspritzung von virulenten Staphylokokken, die von Osteo-
myelitis durch Kultur gewonnen waren, ebenfalls multiple Abscesse in
inneren Organen, Knochen und Gelenken und auch in Muskeln erzeugt
werden. Nach Rodet entstehen bei mittlerer Virulenz der Bakterien
12*
180 H. Miyake,
die Abscesse nur in den Knochen, bei hoher dagegen auch in Herz,
Niere und schließlich auch in Muskeln. Dadurch läßt es sich vielleicht
auch erklären, warum Martinotti bei seinen 20 Fällen stets Muskel-
abscesse fand: wahrscheinlich hat er damals Bakterien von so hoher
Virulenz benutzt, daß sich ihre Wirkung nicht bloß auf innere Organe,
sondern auch auf die Muskeln erstreckte.
B. Subkutane Läsion eines oder mehrerer Muskeln mit
Finger oderZange und nachfolgende intravenöse Injektion
von Staphylococcus aureus aus dem Myositiseiter.
Zu diesen Versuchen wurden 11 Tiere benutzt, darunter 5 mit posi-
tivem Erfolge, 6 mit negativem. Von den letzteren gingen die meisten
sehr rasch unter septikämischen Erscheinungen zu Grunde, so daß sich
außer ödematöser Anschwellung der gereizten Muskeln und Hyperämie der
inneren Organe im ganzen Körper nichts Nennenswertes nachweisen ließ.
Aus dem Safte der ödematös infiltrierten Muskeln konnte in einem Falle
(No. 13) Staph. aureus in Reinkultur gezüchtet werden. Daraus geht her-
vor, daß dieser pathologische Prozeß als Vorstadium der Muskel-
abscesse aufzufassen ist. Die übrigen Tiere starben entweder nach
einigen Tagen oder überstanden die Injektion, ohne daß brauchbare Re-
sultate hinsichtlich der Muskeln nachzuweisen waren.
Die 5 Tiere mit positiven Resultaten lebten 3 — 6 Tage. An den
gereizten Stellen bildeten sich größere oder kleinere, teils solitäre, teils
multiple Abscesse. Die größeren waren hasel- bis walnußgroß (No. 6, 7
u. 8), saßen alle regelmäßig innerhalb des betreffenden Muskels und dehnten
sich nie in die umgebenden Gewebe aus. Ja bei No. 7 haben wir größere
Abscesse erst gefunden, als wir tief in das Gewebe des ganz intakt aus-
sehenden Muskels einschnitten. Bei den 2 übrigen Fällen (No. 9 u. 10)
handelte es sich um hirsekorn- bis reiskomgroße multiple Abscesse, welche
an den gereizten Stellen saßen und die Tendenz zu konfluieren zeigten. Es
muß hervorgehoben werden, daß bei allen diesen Fällen sonst nirgends im
Körper ein einziger Muskelabsceß zu finden war. Außer an Ort und Stelle
konnte ich bei 3 Fällen auch an inneren Organen, Leber, Milz, Herz, be-
sonders aber Nieren kleine multiple Abscesse beobachten. Bei den 2
übrigen Fällen trat nur leichte Hyperämie innerer Organe, aber nirgends
im ganzen Körper Absceßbildung ein. Diese sind also als reine eite-
rige Myositis anzusprechen (No. 7 u. 9).
Die Abscesse waren stets zirkumskript, enthielten graugelben, dicken
— manchmal sogar eingedickten — Eiter, oder in ganz frischen Fällen
blutig tingierten, leicht fadenziehenden Eiter. Aus allen Herden konnten
wir die zur Injektion benutzten Bakterien in Reinkultur züchten. Es bil-
deten sich übrigens nicht an allen den Stellen Abscesse aus, wo die
Muskeln mechanisch gereizt worden waren, z. B. bei Fall 8 nur am linken
Oberarme, obwohl auch die rechte Oberarm- und linke Oberschenkelmus-
kulatur verletzt worden waren. An den gereizten Muskeln sieht man
außer größeren und kleinen Extravasaten noch gelbe oder grauweiße Streifen,
welche längs den Faserbündeln verlaufen. Die Konsistenz dieser Partie
ist morsch und derb, das Aussehen matt und trübe (hyaline Degene-
ration).
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 181
Datum
Art der
Tiere und
Körper-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
Befund der
Muskeln
Bakterien-
befund
der
kranken Teile
Be.
merkungen
22. April
1901
21. April
1901
12. Okt
1901
10
11
12
13
14
15
16
25. April
1901
2. Mai
1901
21. Juli
1901
1. Okt.
1901
oinch.
650g
48-8tünd<
Aureus
aus Myo-
sitisdter
24-8tünd.
Aureus
aus Myo-
sitiseiter
0,2 ocm;
r. Oberschen-
kelmuskel lä-
diert
0»2 ccm;
1. Oberschen-
kelmusk. lad.
0,2 ccm;
1. Oberschen
kel-u.!. Ober-
armmuskel
lädiert
1& Dez.
1901
g
Kaninch.
1900 g
junges
780 g
Kaninch.
820 g
Kaninch.
2200 g
Kaninch.
1800 g
1875 g
Kaninch.
2820g
48-stünd.
Aureus
aus Myo-
sitiseiter
24-8tünd.
Aureus
aus Myo-
sitiseiter
48-stünd.
Aureus
aus Myo-
sitiseiter
0J2 ccm;
r. Oberarm- u.
r. Oberschen-
kelmusk. lad.
0,3 ccm;
r. u. 1. Obier-
Bchenkelmus-
kel lädiert
0,1 ccm;
r. u. L Ober-
arm- und 1.
Oberschen-
kelmusk. lad.
0,2 ccm;
r. u. 1. Ober-
schenkel- u. 1.
L Oberarm-
muskel lad.
0^ ccm;
1. Oberarm- u.
r. Oberschen-
kelmusk. lad.
0,2 ccm;
r. Oberarm- u.
r. Oberschen-
kelmusk. lad.
0,3 ccm;
1. Oberarm- u.
1. Oberschen-
kelmusk. lad.
3 Tage
5 Tage
4 Tage
6 Tage
2 Tage
24
ßtdn.
14
Tage
24
8tdn.
4 Tage
18
Btdn.
15
Tage
tot.
Walnußgroß.
Absceß im
verletzten
Muskel
Innerhalb des
verletzt Mus-
kels ein eoli-
tärer walnuß-
groß. Absceß
1. 1. Oberarm«
muskel wal-
nußgr. sollt.
Absc, aber a.
1. Oberschen-
kelm. keiner
Im 1. Ober-
schenkelmus-
kel 3 hirse-
komgr. Absc.
Nur im r.
Oberarmm.
multiple klei-
ne Abscesse
Verletzte
Muskeln öde-
matös ange-
schw. m. Hä-
morrhagien
Negativ
Oedematös
ange-
schwollen
Negativ
Aureus in Ek.
Aureus in Rk.
Ausd.LOber-
armabscefi
Aureus in Bk.
Aureus in Bk.
Negativ
Aureus in Bk
Aus d. Muskel
nichts ge-
wachsen
Bämtl. innere
Organe hv-
perämisch
Kieme Abs-
cesse in den
Nieren u. der
Milz
Multiple klei-
ne Abscesse in
den Nieren,
Mik u. Leber
Innere Or-
gane leicht
hyperämisch
Kleine Abs-
cesse in Herz
und Nieren
Innere Or-
gane leicht
hyperämisch
Alle inneren
Oigane nor-
mal
Innere Or-
gane leicht
hyperämisch
Nur in den
Nieren kleine
Abscesse
Innere Or-
gane leicht
hyperämisch
Sämtl. innere
Organe nor-
mal
182
H. Miyake,
An den Präparaten, welche aus der die Absceßwand umgebenden
Muskelpartie stammen, sehen wir unter dem Mikroskop zahlreiche zer-
rissene Fasern, die entweder nur die Querstreifung oder auch die Längs-
streifung eingebüßt haben. Ein Teil von ihnen ist hyalin degeneriert. Das
interfibrilläre Bindegewebe ist mit zahlreichen Rundzellen infiltriert, und
zwar je näher dem Abscesse, um so stärker. An der Abscefiwand selbst
findet sich eine Zone, die nur aus Rundzellen, mit spärlichen, schollig zer-
fallenen Muskelfasern gemischt, besteht. Stellenweise erkennt man auch
noch die alte Hämorrhagie und die Vermehrung der Muskelzellen. Kurz,
der mikroskopische Befund stimmt im großen und ganzen mit dem der
menschlichen Myositis überein.
Interessant ist, daß wir an 2 von 5 positiven Fällen an den gereizten
Stellen reine Muskelabscesse verursachen konnten, ohne daß sich im übrigen
Körper irgendwelche Eiterherde nachweisen ließen. Ich habe in den nach-
folgenden Experimenten einen solchen Befund methodisch zu erzeugen ge-
sucht, aber vergeblich. Es fanden sich immer neben dem Muskelabscesse
noch kleinere Abscesse in inneren Organen.
Aus den geschilderten Befunden ergaben sich zwei wichtige Resul-
tate: 1) Die Existenz einer traumatischen Läsion im Mus-
kelgewebe steigert in hohem Maße die Möglichkeit einer
Infektion durch zirkulierende Bakterien. 2) Dem aus
dem Myositiseiter gezüchteten Staph. aureus kommt
keine spezifische Wirkung auf unversehrte Muskeln zu.
C. Subkutane Muskelläsion und nachfolgende intra-
venöse Injektion von Staph. aureus aus akuter Lymph-
adenitis und Panaritium.
Alle 3 zu diesem Zwecke benutzten Tiere brachten positive Resultate.
Eins (No. 18) von 2 mit Staph. aureus aus einer akuten Lymphadenitis
Datum
Art der
Tiere und
Körper-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
bo
Befund der
Muskeln
Bakterie*
befand
der
kranken Teile
Be-
merkungen
17
20. Dez.
1901
18
23. Dez.
1901
Kaninch.
2680 g
Kaninch.
3160 g
48-8tünd.
Aureus
aus akuter
Lymph-
adenitis
0,3 ocm injiz. ;
1. Oberarm- u.
L Oberschen-
kelmuskel las.
7 Tage
54 Tg.
töt
19
12. Dez.
1901
Kaninch.
2460 g
48-8tünd.
Aureus
aus Pana-
ritium
03 ccm injiz.;
L Oberarm- u.
1. Oberschen
kelmuskellas.
19 Tg.
1 walnußgr.
Absceß im 1.
Oberschenkel
u. 1 bohnengr
Absceß im r.
Oberarmm.
Je 1 Walnuß-
P. Absceß im
Oberarm u
Oberschen-
kelmuskel; 1
bohnen^oß.
Absceß im r.
Oberschen-
kelmuskel
1 bohnengr.
Absceß im 1.
Oberann-
muskel
Aureus in Bk.
Inn. Organe
hyperämisch
Inn. Organe
intakt
Streifige
Eitermaseein
den Nieren
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa.
183
behandelten Tieren bekam genaa an den Reizstellen der Muskeln der
oberen und unteren Extremität je einen walnußgroßen Muskelabsceß und
außerdem noch einen erbsengroßen in einem nicht gereizten Muskel. Letz-
teres ist wohl auf die von Muskatbllo und Ottaviano angenommenen
zu&lligen Hämorrhagien in der Muskulatur zurückzuführen. Bei dem
anderen Kaninchen entstand je ein erbsen- bis walnußgroßer Absceß an
der gereizten Extremität (No. 17). Bei No. 19 habe ich Kokken aus
Panaritiumeiter verwendet und die Muskulatur an zwei Stellen verletzt
Es kam aber nur an einer Stelle zur Absceß bildung. Die pathologischen
Veränderungen stimmen makroskopisch wie mikroskopisch mit den vorhin
geschilderten überein. Ich darf daher wohl auf eine Beschreibung der-
selben verzichten.
Aus diesen Versuchen geht hervor, daß durch den Staph.
aureus, der von akuter Lymphadenitis oder von Pana-
ritium stammt, an traumatisch gereizten Muskeln eben-
sogut Abscesse hervorgerufen werden können, wie durch
den aus Myositis.
D. Anlegung der elastischen Ligatur an Extremitäten
mittelst Gummischlauchs mit folgender intravenöser In-
jektion von Staph. aureus aus Myositis und Panaritium.
I Datum
Art der
Tiere und
Körp«r-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
Befund der
MuskelD
Bakterien-
befund
der
kranken Teile
Be-
merkungen
20
31. Jan.
1902
21,
22
Kaninch.
3110 g
Kaninch.
2680 g
K^Ti'nch.
3050g
48-stünd.
Aureus
aus Pana-
ritium
48-Btünd.
Aureus
aus Myo-
sitis
23Std.laagL
Oberarm u. 1.
Oberäckenkel
iig.; 0,2 ccm
injiziert
23Std.langL
und r. Ober-
schenkel hg.;
0,2 ccm injiz.
3 Tage
27 Tg.
23Std.laDffr.
Oberschenkel
u. 1. Oberarm
ligiert;
0,2 ccm injiz.
6 Tage
Mltpl. kleine
Abscesse in d.
1. Oberarm- u.
L Oberschen-
kdmuskulat.
entfernt v. d.
Ligaturstelle
Im 1. und r.
Oberschen-
kelmuskel 3
Abscesse von
Kleinfinffer
kuppe bis
Walnußgröße
Negativ
Aureus in Bk
Streif. Eiter-
infiltration in
den Nieren
Inn. Organe
normal
Mltpl. kleme
Abecesse in
den Nieren
Bei allen 3 Tieren wurden die obere und untere Extremität einer
Seite mit einem dünnen Gummischlauche 23 Stunden lang leicht ligiert,
um eine venöse Stauung und dadurch für die peripher gelegenen Muskel
veränderte Ernährungsverhältnisse zu schaffen. Blutung und
Quetschung an der Stelle der Abbindung wurde nach Möglichkeit ver-
mieden. Kurz vor der Lijektion wurde die Binde entfernt. Die in solcher
Weise angestellten Versuche ergaben ein negatives und 2 positive
Resultate. In die Venen zweier Tiere wurde 0,2 ccm einer 48-stün-
184
H. Miyake,
digen Aureusaufschwemmnng aus Panaritiumeiter eingespritzt. 3 Tage
darauf starb das erste, und ich fand an den gestaut gewesenen Ober-
nnd Unterextremttäten multiple kleine Muskelabscesse, die nicht in der
Nähe der Ligaturstelle lokalisiert waren, femer strei^ge Eiterinfiltration
in den HBNLBSchen Schleifen der beiden Nieren. Bei dem zweiten Tiere,
das erst nach 27 Tagen starb, wurden in der Nähe der Umschnürungs-
stelle 2 hasel- bis walnußgroße, zirkumskripte Muskelabscesse vorgefunden.
An den inneren Organen war nichts zu bemerken. Das mit Myositiseiter
behandelte Kaninchen verendete 6 Tage nach der Injektion. Die Sektion
ergab nur kleine multiple Abscesse in den Nieren, aber keine lokalen Er-
scheinungen. Makroskopisch war bei allen 3 Fällen an der Ligaturstelle
keine Läsion bemerkbar. Bei dem ersten Falle ist somit das Ziel er-
reicht worden, bei dem zweiten hingegen nicht, weil sich hier der Absceß
in die Hämorrhagien lokalisierte.
Aus dem ersten Versuche geht also hervor, daß durch vor-
herige Stauung der Glieder und nachfolgende intrave-
nöse Injektion von Staph. aureus in den von der Abbin-
dungsstelle peripher gelegenen unverletzten Muskeln
Abscesse verursacht werden können.
£. Nach langdauernder Muskelreizungmittelstlnduktions-
stromes erfolgende intravenöse Injektion von Staph. aureus
aus Myositiseiter.
B
1
Datum
Art der
Tiere und
Körper-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
1
<
Befund der
Muskela
Bakterien-
befund
der
kranken Teile
Be-
merkungen
23
13. Jan.
1902
Kaninch.
2900g
48-8tünd.
Aureus
L. Ober-
schenkel mit
3—8 MA
30 Min. lang;
0,3 ccm Aur.
5 Tage
^t
Negativ
Ausd.Nieren-
abscessen
Aureus in Bk.
Kl. Abscesse
in den Nieren
24
»
Kaninch.
2650 g
)f
II
II
^.
11
II
Inn. Organe
leicht hyper-
amiscn
25
17. Jan.
1902
Kaninch.
3000 g
24-Btünd.
Aureus
randerer
Stamm)
R. Ober-
schenkel mit
2—3 MA
17 Min. lang;
0,3 ccm Aur.
10 Tg.
t
Im r. Ober-
schenkelm.
3 bohnengr.
u. 1 haselnuB-
groß. Absceß
Aus Muskel-
absc Aureus
u. Coli; aus
Leberabeceß
CoU aUein
In den Nieren
u. der Leber
kl. Abscesse
26
f»
Kaninch.
2690 g
»
L. Ober-
schenkel mit
2-8 MA
17 Min. lang;
03 ccm Aur.
29 Tg.
tot
Negativ
Negativ
Inn. Organe
normal
27
30. Jan.
1902
Kaninch.
2830 g
24.ßtünd.
Aureus
(anderer
Stamm)
R Oberarm 9 Tage
u. r. Ober-
schenkel mit
2-12 MA
15 Min. lang;
0,2 ccm Aur.l
t
91
II
Inn. Oii^e
hyperämiRch
28
»
Kaninch.
2420 g
II
II
13 Tg.
t
»1
II
KL Abscesse
in den Nieren
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 185
H
S
Datum
Art der
Tiere und
Körper-
gewicht
Art und
Abstam-
mung der
Bakterien
Art der
Versuche
Dauer
der
Ver-
suche
<
Befund der
Muskeln
Bakterien-
befund
der
kranken Teile
Be-
merkungen
29
9. Febr.
1902
Kanin eh.
2310 g
>i
L. Ober-
schenkel mit
lMA30Min.
lang; 0^ ccm
Aureus
18 Tg.
t
Im 1. Ober-
armmuskel
1 erbsengroß.
Absceß
Aureus in Bk.
Kl. Abscesse
in den Nieren
u. der Leber
30
17. März
1902
Kaninch.
2420 g
})
L. Ober-
schenke! mit
1-12 MA
12 Min. lang;
03 ccm Aur.
28 Tg.
t
Im 1. Ober-
schenkel 2
reiskomgroße
Abscesse
»
Kl. Abscesse
in den Nieren
31
i>
Kaninch.
1900 g
n
L. Ober-
schenkel mit
1-2 MA
12 Min. lang;
0,2 ccm Aur.
24 Tg.
t
Im 1. Ober-
schenkelm. 1
reiskomgroß.
Absceß
»»
»»
32
»
Kaninch.
2120 g
n
L. Ober-
schenkel mit
1-2 MA
12 Min. lang;
0^ ccm Aur,
4 Tage
t
Im 1. Ober-
schenkel 1;
im r. Oberarm
1 u. im r.
Oberschenkel
2 kl. Abscesse
it
Kl. Abscesse
im Herz, in
den Nieren u.
der Leber
33
>»
Kaninch.
1980 g
>»
Analoge Rei-
zung; 0,2 ccm
Aureus
4 Tage
t
Im 1. Ober-
schenkel 4
kl. Abscesse
«
Kl. Abscesse
im Herzen u.
den Nieren
34
>»
Kaninch.
2200g
if
Analoge Bei-
zung; 0,3 ccm
Aureus
3 Tage
t
Negativ
Muskel negat
Nierenabsc.
Aureus
Kl. Abscesse
in den Nieren
35
n
Kaninch.
2400 g
))
f>
5 Tage
t
Im L Ober-
schenkel 2 kl.
Abscesse
Aureus in Bk.
KL Abscesse
in den Nieren
u. Leber
36
n
Kaninch.
2060g
i>
»1
8 Tage
t
Im 1. Ober-
schenk., im r.
Ob.-u.ünter-
schenkelm. u.
imLPect.maj.
kl. Abscesse
i>
Kl. Abscesse
im Herzen u.
den Nieren
Alle Kaninchen wurden in der Bauchlage von den Händen des Assi-
stenten fixiert und ihre Muskeln 15 — 20 Minuten lang einem 1 — 12 MA
starken Induktionsstrome ausgesetzt. Dann wurde ihnen 0,2 — 0,3 ccm
einer 24 — 48-stündigen Kokkenaufschwemmung von Myositiseiter verschie-
dener Abstammung intravenös injiziert. Zu diesen Versuchsreihen wurden
14 Kaninchen benutzt. Der Erfolg war bei 5 positiv, 2 halb positiv, 7
negativ. Unter den 7 negativen wurde bei einem Falle ein solitärer,
erbsengroßer Muskelabsceß in einem Muskel aufgefunden, der gar nicht
gereizt worden war. Wir sind wohl berechtigt, diesen Befund ebenfalls
auf eine Hämorrhagie zurückzuführen. „Halbpositiv ** nenne ich diejenigen
Fälle, in welchen sich nicht nur an den gereizten, sondern auch in anderen
Muskeln Abscesse bildeten. Ob es sich hier um reine Pyämie handelt
oder doch eine bestimmte Beziehung zu der vorangegangen Reizung be-
steht, läßt sich schwer entscheiden, aber wahrscheinlich ist das erstere
der Fall.
Unter den 5 positiven Fällen habe ich bei einem 3 walnußgroße Muskel-
186 H. Miyake,
abscesse an den elektrisierten Gliedern beobachtet, bei 4 traten an gereizten
Muskeln 2 oder mehrere reiskorn- bis bohnengroße ovale Muskelabscesse
auf. In all diesen Fällen wurden auch in den inneren Organen kleine
multiple Abscesse konstatiert, aber kein einziger in den nicht elektrisierten
Muskeln. Weder makroskopisch noch mikroskopisch waren punktförmige
Blutextravasate oder Muskelfaserzerreißungen zu finden. Aus dem Eiter
aller Muskelabscesse wuchs ebenso wie bei allen übrigen Versuchsreihen
in der Kultur dieselbe Kokkenart wie die injizierte.
Diese Versuchsreihen hatten den Zweck, als sicher nachzuweisen, daß
reine üeberanstrengung eines Muskels — also ohne Traumen,
punktförmige Extravasate oder Zerreißung einzelner Fasern — das dispo-
nierende Moment für die M3''ositi8 abgeben kann. Es wurde nicht nur
auf das Fehlen von Traumen jeglicher Art an den elektrisierten Muskeln
gelegentlich der Sektion und Absceßuntersuchung geachtet, sondern der
Sicherheit wegen noch durch einen Versuch mit einem Kaninchen fest-
gestellt, ob nach starker, langdauernder elektrischer Reizung mittelst In-
duktionsstromes punktförmige Blutungen oder sonstige Veränderungen an
dem Orte des Reizes auftreten können. Nachdem ein Kaninchen an Ober-
und Unterextremitäten mit 12 MA starkem Strome je 40 Minuten lang
elektrisiert worden war, wurde es sofort durch Kopfschläge getötet und
genau untersucht. Weder subkutan noch im Muskelgewebe wurde makro-
skopisch oder mikroskopisch eine einzige verdächtige Veränderung gefunden.
Wir sind somit zu der Annahme berechtigt, daß man ohne
Existenz irgendwelcher Traumen auf dem Wege elek-
trischer Reizung im Sinne reiner üeberanstrengung
eines Muskels durch intravenöse Injektion von Bakte-
rien an den elektrisierten Teilen Muskelabscesse er-
zeugen kann.
Die Frage, ob wir die Ergebnisse der geschilderten 5 Versuchs-
reihen ohne weiteres auf die menschliche Myositis übertragen dürfen,
kann man, wie ich glaube, bejahen. Es bestehen zwar im Aussehen
und Bau Unterschiede zwischen menschlicher und Kaninchenmuskulatur,
und auch die Abscesse haben ein verschiedenes Aussehen, wenigstens
makroskopisch. Die der Kaninchen sind mehr zirkumskript und be-
kommen je nach der Dauer der Krankheit mehr oder minder ent-
wickelte Membranen ; nur bei den ganz frischen fehlen sie. Der Eiter
ist dick und schleimig, zuweilen sogar käsig-trocken. Die Größe variiert
bedeutend, jedoch kennen wir bei Kaninchen eine im ganzen Muskel
verbreitete derbe Induration oder Abscedierung nicht. Trotz dieser
Unterschiede im makroskopischen Befunde ist doch der mikroskopische
im wesentlichen derselbe, nämlich Verlust der Quer- und Längsstreifung
der Fibrillen vor der eiterigen Einschmelzung, Rundzelleninfiltration des
interfibrillären Bindegewebes, und Vermehrung der Sarkolemmkerne.
Noch möchte ich bemerken, daß ich zu meinen Versuchen absichtlich
sowohl junge als auch alte Kaninchen benutzt habe, um den Einfluß
des Alters auf die Muskelentzündung zu beobachten, der doch bei
der Osteomyelitis so groß ist. Wie schon im klinischen Teile gesagt
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 187
wurde, konnte ich einen Unterschied in dieser Hinsicht bei meinen
Myositisexperimenten nicht finden.
Alles in allem, glaube ich durch meine Experimente
nur die klinische Erfahrung bestätigt zu haben, daß
Traumen, Ueberanstrengungen und Stauungen als dis-
ponierende Momente für die primäre eiterige Myositis
anzusehen seien, ein spezifischer Erreger aber bei un-
serer Myositisform fehle.
KraDkengesohiohten.
Fall 1. Yamamoto, 2-jähr. Bauernjunge. Myositis des 1. Glu-
taens maximus. Aureus in Beinkultur. Ausgangsherd: kleines Ek-
zem am r. Unterschenkel. Anamnese: Der bisher gesunde Junge be-
ginnt vor ca. 15 Tagen plötzlich zu fröstelu und zu fiebern. Schmerz-
hafdgkeit des 1. Beines. Am nächsten Morgen leichte Anschwellung in
der 1, Olut&algegend, intensiv schmerzhaft. Pat. ist vollkommen bett-
lägerig. Status praesens am 30. Aug. 1900. Stark abgemagertes,
anämisches Band. Puls klein, 104—130. Temp. 37,9—39 o. Der 1. Ober-
schenke! ist im Hüftgelenk gebeugt. Dem 1. M. glutaeus maximus ent-
sprechend, sieht man eine flache, derbe Anschwellung, in der Tiefe fluk-
tuierend. Haut darüber unverändert. Sofort Incision und Drainage. Der
Absceß saß innerhalb des M. glutaeus maximus. Nach 2 Wochen geh-
fHhig entlassen.
Fall 2. Ogawa, lYg-jähr. Bauernjunge. Myositis des 1. M. glu-
taeus maximus und 1. M. trapezius. Ausgangsherd: skrofulöses
Kopfekzem. Aureus mit geringer Anzahl A 1 b u s - Kolonien ge-
mischt. Anamnese: Vor 14 Tagen schwoll unter Auftreten von Fieber
die 1. Olutäal- und Schultergegend an. Schmerzen, Anschwellung und
Fieber nehmen zu, so daü Pat. rasch herunterkommt. Statuspraesens
am 5. Sept 1900. Hochgradig abgemagerter Junge. Soor im Munde.
Puls 116. Temp. 39,2 ^, Am Kopfe zahlreiche verkrustete Ekzeme. In
der 1. Glutäalgegend flache, deutlich fluktuierende Anschwellung. Sofort
Incision und Drainage. Nach 3 Wochen geheilt entlassen.
Fall 3. Shei*, 32-jähr. Kaufmannsfrau. Serös-eiterige Myo-
sitis des r. M. triceps brachii (resorbiert). Ausgangsherd unbe-
kannt. Kultur negativ. Anamnese: Seit 6 Tagen hat die Pat. von
Zeit zu Zeit Frösteln und Fieber, sowie eine schmerzhafte Anschwellung
an der dorsalen Seite des r. Oberarms. Status praesens am 8. Sept.
1900. Stark gebaute, gut genährte Frau, sieht anämisch aus. Morgen-
temp. 38 <^. Puls 90. Entsprechend dem Bauche des M. triceps brachii
brettharte Anschwellung, intensiv schmerzhaft. Haut darauf intakt. Die
blutige Flüssigkeit, die durch Punktion erhalten wurde, stellt sich als
steril heraus. Eisiunschläge, Hochlagerung, später Umschläge mit 1-proz.
essigsaurer Tonerde. Zeitweise traten am kranken Arme Oedeme auf.
Kurzdauernde Exacerbation und Remission wechseln ab. Nach 26-tägiger
Behandlung geht die AfPektion in Resolution über.
Fall 4. Abe, 30-jähr. Bauer. Myositis des 1. M. sartorius
und des r. M. glutaeus maximus. Ursache unbekannt. Aureus in
Reinkultur. Anamnese: Vor 40 Tagen bekam Pat. eine schmerzhafte
188 H. Miyake,
Anschwellung in der Vorderseite des 1. Oberschenkels und in der r. Glutäal-
gegend. Gleichzeitig Frösteln und hohes Fieber. Pat. kam rasch herunter.
Vor 25 Tagen entleerte ein Arzt durch eine kleine Incision am 1. Ober-
schenkel etwas Eiter. Doch verschlimmerte sich das Leiden immer mehr.
Status praesens am 16. Okt. 1900. Stark abgemagerter, herunter-
gekommener Mann. Temp. 39,7 ^. Puls 124. Zunge stark belegt und
trocken. Am 1. Oberschenkel befindet sich eine eiternde Fistel und in
der r. Glutäalgegend eine harte Anschwellung. Nachdem die Fistel ge-
nügend erweitert, wurde große Menge Eiter entleert. Der Absceß ent-
sprach in seinem Sitz genau dem M. sartorius. Der Absceß im r. M. glutaeus
wurde ebenso behandelt. Nach ca. 2-wöchentlicher Behandlung wurde
Pat. gehf^hig entlassen.
Fall 5. Shogabe, 39-jähr. Kaufmann. Myositis des r. M. rectus
abdominis (ohne Incision resorbiert). Kultur nicht angelegt. Ausgangs-
herd : Furunkel. Anamnese: Im Anschluß an einen kleinen Furunkel
des Unterschenkels trat starkes Frösteln und hohes Fieber (40®) auf.
Daneben eine schmerzhafte Anschwellung auf der r. Seite des Bauches.
Status praesens am 5. Nov. 1900. Morgentemp. 38,6®. Puls 98.
Zunge stark belegt. Auf der r. Bauchseite, entsprechend dem Bereiche
des M. rectus abdominis, also nach innen scharf abgegrenzt durch die
Linea alba, nach außen gegen die Verlängerung der r. Mammillarlinie,
nach oben bis 3 Querfinger breit oberhalb des Nabels, nach unten bis
4 Querfinger breit unterhalb des Nabels, bretthart induriert, selbst bei
der leisesten Berührung intensiv schmerzhaft. Haut darauf unverändert.
Oberkörper nach vom vorgebeugt. Euhe, Eisumschl&ge und Umschläge
mit 1-proz. essigsaurer Tonerde. Nach fast 3-wöchentlicher Behandlung
geheilt entlassen.
Fall 6. Okura, 22-jähr. Bauer. Myositis des r. M. rectus ab-
dominis und M. glutaeus maximus sinist. Ausgangsherd: Fu-
runkel. Aureus gemischt mit Albus. Anamnese: Im Stadium der
Heilung eines kleinen Furunkels trat vor 7 Tagen unter Frösteln und
hohem Eieber zuerst eine schmerzhafte Anschwellung im r. Hypochondrium,
dann eine ähnliche auch in der 1. Glutäalgegend auf. Fieber, Anschwel-
lungen und Schmerz nehmen zu. Pat. kam rasch herunter. Puls 104.
Temp. 39,3^. Unterhalb des r. Rippenbogens, dem M. rectus abdominis
entsprechend, eine faustgroße, flache, derbe Anschwellung. Haut unver-
ändert. L. Glutäalgegend ähnlich angeschwollen, entsprechend der Ge-
stalt des M. glutaeus maximus. Mit Eis und feucht-antiseptischen Um-
schlägen erfolglos behandelt. Am 1. Nov. Incision an beiden Stellen,
Entleerung von enorm großen Mengen Eiter. Am 27. Nov. geheilt ent-
lassen,
Fall 7. Noguchi, 19-jähr. Bauer. Myositis des M. quadriceps
femoris. Ursache unbekannt. Aureus in Reinkultur. Anamnese:
Vor 25 Tagen bekam Pat. an der Vorderfiäche des r. Oberschenkels eine
schmerzhafte Anschwellung unter plötzlichem Frösteln und Fieber. Er
war unfähig, zu gehen. Status praesens am 2. Nov. Anämischer,
abgemagerter junger Mann. Puls 120. Mittagstemp. 38,7^. Die ange-
schwollene Partie des r. Oberschenkels fluktuiert deutlich. Das kranke
Bein ist in Knie und Hüfte gebeugt und etwas abduziert. Durch In-
cision konstatieren wir den genauen Sitz des Abscesses innerhalb des
M. quadriceps femoris. Große Menge Eiter entleert, drainiert. Nach
3 Wochen geheilt entlassen.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 189
Fall 8. Arikawa, 54-jälir. Bäuerin. Myositis des r. M. biceps
ferner is. Ausgangspunkt unbekannt. Aureus in Beinkultur. Vor
20 Tagen spürte Fat. eine schmerzhafte Anschwellung an der Hinterseite
des Oberschenkels. Fieber. Sie war gehunftihig. Status praesens
am 19. Nov. 1900. Anämische, stark heruntergekommene Person. Puls
klein, 120. Mittagstemp. 38,2 o. Zunge trocken. M. biceps femoris ist
in seinem ganzen Bereiche derb angeschwollen, strangartig kontrahiert,
Haut dartlber leicht ödematös angeschwollen. Krankes Bein in Hüfte
und Knie leicht gebeugt, Streckung vollkommen unmöglich. Incision,
Eiterentleerung und Drainage. Die ganze Muskulatur war fast ganz
eiterig infiltriert. Die gebeugten Beine werden durch Sandsäcke allmählich
gestreckt. Am 19. Dez. 1900 geheilt — bis auf eine leichte Muskel-
atrophie im kranken Beine — entlassen.
Fall 9. Shatake, 28-jähr. Bäuerin. Myositis des r. M. biceps
femoris. Ursache unbekannt Aureus in Beinkultur. Anamnese:
Vor 3 Tagen traten plötzlich Schmerzen an der Hinterfläche des r. Ober-
schenkels auf. Starkes Fieber, Unfähigkeit zu gehen. Status prae-
sens am 31. Dez. 1900. Krankes Bein im Knie gebeugt, leicht abdu-
ziert. Hinterfläche des Oberschenkels diffus angeschwollen. Bei der
Palpation fdhlt man den strangartig gespannten, derben M. biceps femoris,
der intensiv schmerzhaft ist. Haut leicht ödematös angeschwollen, aber
keine Bötung. Feuchtwarme Umschläge von essigsaurer Tonerde. Da
die lokalen und die allgemeinen Symptome dadurch nicht schwinden, wurde
am 8. Jan. 1901 incidiert und eine gro^e Menge Eiter entleert Absceü
saß im M. biceps femoris. Heilung nach ca. 2^^ Wochen.
Fall 10. Shaito, 18-jähr. Bauernmädchen. Myositis des M.
quadriceps femoris. Ursache unbekannt. Aureus in Beinkultur.
Nachdem Fat. bisher völlig gesund gewesen, erkrankte sie plötzlich unter
Frösteln und Fieber an einer schnlerzhaften Anschwellung der Vorder-
fläche des r. Oberschenkels; bettlägerig. Status praesens am 11. Jan.
1901. Pat ist stark heruntergekommen, da sie fast 40 Tage ohne ge-
eignete Behandlung war. Puls 108. Mittagstemp. 38,9**. R. Ober-
schenkel im allgemeinen angeschwollen, aber nicht gerötet. An der
Vorderfläche palpiert man mitten in der derb infiltrierten Partie eine
Strecke weit deutliche Fluktuation. Bein im Knie gebeugt und abduziert.
Harn ohne Eiweiß oder Zucker. Sofort Incision und Drainage. Inner-
halb des M. quadriceps femoris findet sich eine große Absceßhöhle. Bei
jedem Verbandwechsel entleert sich eine große Menge eiterig einge-
schmolzener Muskelfetzen. Das ankylosierte Knie wird durch Sandsäcke
allmählich gestreckt. Am 8. Febr. 1901 wird Pat. auf ihren Wunsch halb
gebeilt entlassen. Nach brieflicher Mitteilung soll die Wunde bald ge-
heilt und Pat. wieder arbeitsfähig geworden sein.
Fall 11. Ogawa, 4-jähr. Fischersjunge. Myositis des r. M. teres
major. Ursache unbekannt. Aureus in Reinkultur. Seit 20 Tagen
schwoll die r. Schultergegend unter täglichem Fieber an. Die Bewegung
des betreffenden Oberarmes war völlig aufgehoben. Pat. kam allmählich
herunter. Status praesens am 22. März 1901. R. Schulter difiPus
anj^eschwoUen. Bei der Palpation fühlt man im Bereiche des M. teres
major eine derbe, strangartige Infiltration. Feuchtwarme Umschläge von
essigsaurer Tonerde. Da die Symptome zunehmen, wird am 4. April 1901
incidiert und drainiert. Prompte Heilung.
Pall 12. Shebe, 33-jähr. Bauer. Myositis des 1. M ileopsoas.
190 H. Miyake,
Ursache unbekannt. Aureus in Reinkultur. Seit 40 Tagen ziehende
Schmerzen in der 1. Unter bauchgegend. Gleichzeitig Fieber. Bein in der
Hüfte gebeugt und gebrauchsunfähig. Status praesens am 12. März
1901. Stark heruntergekommener, bis zum Skelett abgemagerter Mann.
Puls 120. Abendtemp. 39,1 ^. Die Gegend der r. Fossa iliaca leicht an-
geschwollen. In der Tiefe ist eine derbe Anschwellung zu palpieren.
Haut unverändert. Krankes Bein in der Hüfte gebeugt und leicht abdu-
ziert. Streckung unmöglich. Feucht- antiseptischer Verband in loco. Am
23. März 1901 wird durch Incision eine große Menge Eiter entleert und
der Sitz des Abscesses im M. ileopsoas festgestellt. Die gebeugten Beine
werden täglich massiert. Am 3. April 1901 geheilt entlassen.
Fall 13. Eida, 24-jähr. Matrose. Myositis des r. M. biceps
femoris. Ursache: Furunkel aml. Nates. Aureus in Reinkultur.
Vor 3 Tagen Frösteln und Fieber. Am nächsten Tage intensiv schmerz-
hafte Anschwellung an der Hinterfläche des r. Oberschenkels. GehunfUhig.
Status praesens am 23. März 1901. Mittagstemp. 38^. Puls 82.
Die Hinterfläche des r. Oberschenkels diflus angeschwollen, die Hautfarbe
jedoch unveräodert. In der Tiefe, entsprechend dem M. biceps femoris,
ist eine derbe, strangartig gespannte Anschwellung zu palpieren. Bein
im Knie gebeugt. Streckung unmöglich. Am 4. April Incision und Eiter-
entleerung. Prompte Heilung am 12. April. Entlassen mit einer granu-
lierenden Incisionswunde.
Fall 14. Azuma, 24'-jähr. Bauersfrau. Myositis des M. infra-
spinatus. Ursache unbekannt. Aus Myositiseiter Strepto-
kokken in Reinkultur, aus verdächtigen eiternden Moxenwunden
Aureus in Reinkultur. Vor 10 Tagen trat plötzlich starkes Frösteln
und Fieber auf. Am nächsten Tage schwoll die 1. Schultergegend schmerz-
haft an. Eine Hebung des kranken Armes völlig unmöglich. Status
praesens am 29. April 1901. Puls 92. Abendtemp. 38,5 <^. An der
1. Fossa infraspinata fühlt man fluktuierende Anschwellung, umgeben von
derber Infiltration. Haut darauf unverändert. Arm am Rumpfe fixiert.
Sofort Incision und Eiterentleerung. Absceü saü genau im M. infra-
spinatus selbst. Schon nach 3 Tagen konnte Pat. den Arm ziemlich hoch
heben. Bald nachher geheilt entlassen.
Fall 15. Takahashi, 51-jähr. Bauer. Myositis des 1. M. quadri-
ceps femoris (serös-eiterig). Ursache: Ueberanstrengung. Kultur
negativ. Vor 10 Tagen bekam Pat. nach anstrengendem Marsche
Schmerzen an der Vorderseite des 1. Oberschenkels unter öfters wieder-
kehrendem Frösteln und Fieber. Status praesens am 3. Mai 1901.
Morgentemp. 37,5 ®. Die Vorderfläche des 1. Oberschenkels diffns ange-
schwollen. Haut darauf unverändert. Im ganzen Bereiche des M. quadri-
ceps femoris besteht eine derbe Infiltration. Fluktuation fehlt. Bein
leicht gebeugt. Durch Incision wurde der Sitz des Prozesses im M.
quadriceps femoris festgestellt. Der Muskel sieht blaß aus, ist derb,
morsch und schon bei leisem Zuge zerreißbar. Eiter nicht nachweisbar.
Die aus dem Blute angelegte Kultur blieb steril. Nach der Inci-
sion große Erleichterung. Kein Fieber, keine Schmerzen. Vollständige
Heilung.
Fall 16. Miki, 17-jähr. Bauernmädchen. Myositis des M. lon-
gissimus dorsi dext, M. glutaeus maximus dext. und M.
obliquus abdominis sin. Ursache :Ueberanstrengung. Aureus
in Reinkultur. Vor 1 Woche mitten in der Arbeit spürte Pat dumpfe
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 191
Schmerzen in der r. Lendengegend. Gleichzeitig Frösteln und Fieber.
Seitdem verschlimmerte sich das Leiden. Es war ihr unmöglich, zu gehen.
Status praesens am 14. Mai 1901. Fat. sieht stark angegriffen aus.
Puls 116. Morgentemp. 38,7^. Zunge stark belegt und trocken. Die
r. Seite des Rückens von der Gegend des Os sacrum bis zur letzten Rippe
strangartig angeschwollen. Leichte reich tsseitige Skoliose. Bei der Probe-
punktion wird nur Blut aufgesogen. Die lucision entleert eine gro^e
Menge Eiter. Als Sitz der Krankheit wird dabei der lange Rückenmuskel
erkannt. Trotz der Entleerung stieg das Fieber. Es wurde nun noch
eine derbe Anschwellung im M. glutaeus maximus dext. entdeckt. Sofort
Licision. Eiterentleerimg. Nach kurzer Pause steigt das Fieber aber-
mals. Es findet sich ein derber, schmerzhafter Tumor im Bereiche des
M. obliquus abdominis ext. Dieser ging durch feuchtwarme Umschläge
in Resolution über. Heilung am 2. Aug. 1901.
Fall 17. Nouoshe, d8-jähr. Kaufmann. Myositis des M. del-
toideus und M. glutaeus maximus dext. Ursache: Ueber-
anstrengung. Aureus in Reinkultur. Am 10. April 1901 stellten
sich nach einem anstrengenden Marsche Schmerzen in der r. Glutäalgegend
ein, dann auch in der r. Schulterwölbung. Frösteln und Fieber. Seitdem
wird Pat täglich von Schmerzen und Fieber geplagt. Status prae-
sens am 18. Mai 1901. Stark abgemagerter Mann mit leidendem Ge-
sichtsausdruck. Puls 112. Mittagstemp. 38,1^. Beide Anschwellungen
fluktuieren deutlich. Sofort eine gehörig weite Incision. Enorme Menge
Eiter. Die Abscesse safien genau in den genannten Muskeln. Schon
1 Woche nach der Licision konnte der Pat., der vorher ans Bett gefesselt
gewesen war, ziemlich weite Strecken laufen. Am 10. Juni geheilt ent-
lassen.
Fall 18. Miyoshi, 23-jähr. Bäuerin. Myositis des M. ileopsoas
dext. Ursache : Ueberanstrengung. Aureus in Reinkultur. Vor
60 Tagen bekam Pat. nach anstrengendem Marsche dumpfe, von der r.
Fossa iliaca nach der Lendengegend ausstrahlende Schmerzen, von mäßigem
Fieber begleitet. Seitdem verschlimmerte sich das Leiden, so daß sie
vollkommen bettlägerig wurde. Seit 7 Tagen zuweilen Urticaria am
ganzen Körper, zuweilen Diarrhöe. Status praesens am 20. Mai 1901.
Stark anämische, abgemagerte Person. Puls 104. Temp. 39,1 o. Urticaria
am ganzen Körper. Die Gegend der Fossa iliaca und die Deosakral-
gegend diffus angeschwollen, jedoch keine Rötung. Intensive Druck-
empfindlichkeit. Fluktuation in der Tiefe. Das kranke Bein nimmt die
charakteristische Psoasstellung ein. Sonst im ganzen Körper kein krank-
hafter Prozeß nachweisbar. 21. Mai breite Incision, Eiterentleerung und
Drainage. Durch genaue Inspektion und Austastung mit dem Finger
wurde der Sitz der Affektion im M. ileopsoas konstatiert. Periost-
ablösung nicht vorhanden. Das gebeugte Bein streckt sich von selbst
bis zur normalen Stellung. Schon nach 1 Woche kann sich Pat. selbst,
wenn auch hinkend, fortbewegen. Am 6. April geheilt nach Haus.
Fall 19. Shimisu, 2-jähr. Bauemmädchen. Myositis des M.
glutaeus maximus dext. Ursache: kleine Abscesse. Aureus
in Reinkultur. Seit einigen Tagen leidet die kleine Pat. an kleinen Abs-
cessen hinter dem Ohre. Bald darauf, vor 4 Tagen, fieberte die Kleine
-ziemlich stark und konnte nicht mehr laufen. Schmerzen in der r. Glutäal-
gegend. Status praesens am 9. Aug. 1901. Puls 130. Morgentemp.
38,2 <>. R. Glutäalgegend diffus angeschwollen. Der Gestalt des M. glu-
192 H. Miyake,
taeus maximas entsprechend, ist eine harte Anschwellung zu fühlen. Das
betroffene Bein ist im Hüftgelenk leicht gebeugt. Streckung unmöglich.
Feucht-antiseptisoher Verband. Sowohl lokale wie allgemeine Symptome
verschlimmern sich. Daher am 22. Aug. Incision. Nach der Entleerung
des Eiters besserte sich das Befinden rasch. Am 30. Okt. vollständige
Heilung.
Fall 20. Tomida, S-jähr. Kaufmannstochter. Myositis des M.
biceps femoris dext., M. glutaeus maximus dext. und M.
pectoralis major sin. Ursache: kleiner Absceß in der Kopf-
haut. Aureus in Reinkultur. Seit 2 Monaten leidet die kleine Fat. an
Kopfekzem. Vor 20 Tagen trat unter Fieber eine Anschwellung in der
rechten Glutäalgegend auf, seit 10 Tagen eine ähnliche Anschwellung
an der Hinterfläche des r. Oberschenkels. Appetitlosigkeit. Fat ist bett-
lägerig. Status praesens am 19. Aug. 1901. Stark herunter-
gekommenes Kind. Fuls klein, 120. Morgen temp. 38,1 ^. An beiden
Lungen ist ein Giemen zu hören (Bronchitis). Da die Anschwellung an
der Hinterfläche des r. Oberschenkels fluktuiert, wurde incidiert und
drainiert. Der indurierte M. glutaeus maximus wird mit feuchtwarmen
Umschlägen behandelt. 3 Tage darauf wurde noch die derbe Anschwellung
im M. pectoralis major sin. entdeckt. 2 Tage später wurde diese Stelle
und weitere 3 Tage darauf auch die am M. glutaeus maximus incidiert.
Eiterentleerung. Seit dem 24. Aug. kamen als Komplikation die damals
endemisch auftretenden Masern hinzu. Am 5. Sept. geheilt entlassen.
Fall 21. Nonoshe, 14-jähr. Bauernjunge. Myositis des M. glu-
taeus maximus uterque, M. latissimusdorsidext. , M. flexor
digitorum sublimis dext. und M. biceps femoris sin. Ursache
unbekannt. Aureus in Reinkultur. Vor 3 Tagen trat plötzlich Frösteln
und Fieber auf. Am nächsten Tage schwoll die Glutäalgegend beider-
seits an. Schmerzhaftigkeit, durch die das Gehen erschwert wird. Appetit-
losigkeit. Status praesens am 30. Aug. 1901. Fuls 90. Morgen-
temp. 38,3®. Zunge trocken und belegt. Beide Glutäen derb infiltriert
und empfindlich. Feucht-antiseptische Umschläge. Am 4. Sept. beider-
seitige Incision und Eiterentleerung. Am 6. Sept. trat eine derbe An-
schwellung im M. latissimus dorsi ein, die sofort incidiert und vom Eiter
befreit wurde. Am 10. Sept. bildete sich ein derber Knoten im M. biceps
femoris und eine analoge Anschwellung an der Beugeseite des r. Vorder-
armes. Die Fingerbewegung war vollkommen aufgehoben. Diese beiden
Indurationen gingen durch feuchtwarme Umschläge mit essigsaurer Ton-
erde in Resolution über. Am 19. Sept. geheilt entlassen.
Fall 22. Ashao, 1 6-jähr. Bauemjunge. Myositis des M. glutaeus
maximus dext. und M. deltoideus sin. Ursache: Furunkel.
Aureus in Reinkultur. Vor 20 Tagen bemerkte der Knabe einen kleinen
Furunkel an der Baucbhaut. Im Stadium der Heilung desselben, vor
7 Tagen bildeten sich in der r. Glutäalgegend und an der 1. Schulter-
wölbung derbe, schmerzhafte Anschwellungen unter plötzlichem Fieber.
Status praesens am 18. Dez. 1901. Fuls 80. Temp. 38,8 «. Die dem
M. glutaeus maximus entsprechende Anschwellung fluktuiert deutlich, die
des M. deltoideus dagegen befindet sich noch im Stadium der Induration.
Erstere wurde incidiert. Es fand sich ein gänseeigroBer Absceü innerhalb
des Muskels, letztere durch feucht-antiseptische Umschläge behandelt.
Am 22. Dez. wurde die Induration am Schultergewölbe fast ganz resor-
biert. Am 23. Dez. geheilt nach Haus.
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 193
Fall 23. Eamada, 31-jähr. Bauer. Myositis des M. glutaeus
maximus sin. Ursache: vereiterte Blase infolge Druckes des
Stiefels. Aureus in Reinkultur. Während eine Blase, die sich am
Fußrücken infolge von Stiefeldruck gebildet hatte, in £iterung überging,
trat vor 4 Tagen eine schmerzhafte Anschwellung in der 1. Glutäalgegend
auf. Zugleich Fieber. Status praesens am 17. Dez. 1901. In der
1. Glutäalgegend fühlt man eine harte, druckempfindliche Induration.
Morgentemp. 37,8 ^ Die schmerzende Stelle wird zum Mittelpunkt einer
großen Incision gemacht, welche den Muskel in der FaserrichtuDg spaltete.
Man fand einen hühnereigroßen Absceß mitten in dunkelrotem, morschem
Muskelgewebe. Schon 2 Tage nach der Incision trat große Besserung ein,
so daß Fat schon etwas laufen konnte. Am 25. Dez. geheilt entlassen.
Fall 24. Ka wamura, 30-jähr. Bauer. Myositis des M. adductor
magnus (subakut). Ursache unbekannt Aureus in Reinkultur. Vor
ca. 1 Monate bekam Fat. plötzlich Fieber. Erst am folgenden Tage be-
merkte er eine beginnende schmerzhafte Anschwellung an der Innenseite
des Oberschenkels. Seit 20 Tagen soll der Tumor angeblich besonders
hart geworden sein. Täglich Frösteln und Fieber. Das Gehen ist stark
erschwert. Status praesens am 24. Sept 1901. Der ganze Bereich
des r. M. adductor derb wie ein hartes Fibrom angeschwollen. Die
Schwellung ist mit der Haut nicht verwachsen und auch gegen die Unter-
lage leicht verschieblich. UngefUir in ihrer Mitte befindet sich eine in-
tensiv empfindliche Partie. Temp. 38,6 ^ Puls 90. Am 25. Sept. wird
die empfindliche Stelle incidiert. Bei der Incision zeigt es sich, daß
Haut und Muskelscheide normal waren. Erst nach Spaltung der harten,
blaßroten Muskelsubstanz gelangte man in das Innere des hühnereigroßen
Abscesses. Die Muskelsubstanz war so hart, daß das Messer beim Ein-
schneiden knirschte (Wucherung des interstitiellen Bindergewebes). Am
30. Sept. war die Anschwellung bis auf ^3 der früheren Größe zurück-
gegangen. Am 2. Okt. Incisionswunde geheilt. 20 Tage darauf Indu-
ration vollständig verschwunden.
Fall 25. Fukuda, 56-j&hr. Bauer. Myositis des M. adductor
magnus sin. und M. biceps femoris dext. (subakut). Ursache
unbekannt. Aureus in Reinkultur. Angeblich spürt Pat. schon seit
August 1901 dumpfe Schmerzen an der Hinter- und Innenseite des 1. Ober-
schenkels. Seit September 1901 soll eine besonders harte Anschwellung
an dieser Stelle entstanden sein. Status praesens am 29. Dez. 1901.
Schlecht ernährter, stark heruntergekommener Mann. Puls 98. Temp. 38,6 •.
Im Bereiche des 1. M. adductor magnus findet sich eine fast knorpelharte,
spindelförmige Schwellung, die wenig druckempfindlich ist. Haut intakt.
Ein entsprechender Tumor sitzt auch im r. M. biceps femoris. Einreibung
mit grauer Salbe. Nach 2 Wochen zeigte sich in der Verhärtung des M.
adductor magnus sin. eine empfindliche Zone. Temperatur schwankte
zwischen 38—38,5 ^. Bei der Incision an der empfindlichen Stelle knirscht
das Messer in der Muskelsubstanz. Von bindegewebereicher Muskelsub-
stanz vollständig umschlossen lag ein pfiaumengroßer Absceß. 5 Tage
darauf wurde der ähnliche Prozeß am M. biceps femoris incidiert und ein
kleiner Absceß mitten im indurierten Muskel gefunden. 26 Tage nach
der letzten Incision fing der Pat. an von selbst zu laufen. Einige Tage
darauf wurde er geheilt entlassen.
Fall 26. Shibanchio, 41 -jähr. Bauer. Erst Myositis der Mm.
triceps brachii sin. et glutaeus maximus sin., dann Myo-
»Dtteü. a. d. OmugOMtm 4. Medtxin a. Chirurgie. XIIL B4. 13
194 H. Miyake,
sitis des M. obliquus ext. sin. und M. glutaeus maximus dext.
Ausgangsherd: Furunkel. Aureus in Reinkultur. Im Anschluß an
kleine Furunkel in Gesichts- und Rtickenhaut stellten sich vor 8 Tagen
erst ziehende Schmerzen in der Hinterseite des 1. Oberarmes, dann vor
4 Tagen eine analoge Erscheinung in der 1. Glutäalgegend ein. Status
praesens Anfang August 1901. An der dem 1. M. triceps brachii ent-
sprechenden Stelle fühlt man eine derbe Anschwellung und in deren
Mitte eine kleine fluktuierende Partie. Desgleichen ist der ganze M.
glutaeus maximus sin. derb und geschwollen. Haut darauf leicht gerötet,
druckempfindlich. Temp. 39,2^. Incision und Drainage beider Abscesse.
12 Tage darauf mit kleiner granulierender Incisionswunde entlassen.
4 Monate nach der Heilung traten wieder ähnliche Erscheinungen am 1.
M. obliquus abdominis ext. und am r. M. glutaeus maximus auf. Puls 90.
Temp. 38,2^. 10 Tage nach der Incision Heilung.
Fall 27. Hashimoto, 18-jahr. Fabrikm&dchen. Myositis des M,
serratus antic. major dext. und M. trapezius sin. Ursache:
Ueberanstrengung des Armes. Aureus in Reinkultur. Vor ca.
8 Tagen bekam Pat. nach angestrengtem Drehen der Trikotmaschine mit
den Händen Schmerzen an der r. Rtickenseite in der Nähe der Axillar-
linie, dazu mehrmals Frösteln und Fieber. Status praesens am
13. März 1902. Puls 116. Temp. 39,3 <>, Die r. Rückengegend im Be-
reiche des M. serratus antic. major ist flach angeschwollen, fühlt sich
derb an. Am 14. März wird durch breite Incision der Sitz des Ab-
scesses innerhalb des M. serratus antic. major konstatiert. Bakterien-
untersuchung im Blute wurde vorgenommen. Am 20. März trat eine
kinderfaustgroße, derbe Anschwellung auch am Ansatz des M. trapezius
auf. Diese kam durch feuchtwarme Umschläge zur Resorption. Am
26. März geheilt entlassen.
Fall 28. Jamamoto, 26-jähr. Bäuerin. Erst Myositis des M.
infraspinatus, dann des M. quadriceps femoris. Ursache unbe-
kannt. Aureus in Reinkultur. Vor 3 Monaten (also Dezember 1901)
litt Pat. angeblich ohne Ursache an einer schmerzhaften Schwellung der
1. Skapulargegend. Sie fieberte auch. Durch Incision wurde damals als
Sitz der Erkrankung der M. infraspinatus erkannt. Seit 15. März 1902
hat sie Schmerzen an der Vorderseite des r. Oberschenkels. Appetit ver-
ringert Oehen vollkommen unmöglich. Status praesens am 20. März
1902. Puls 94. Temp. 39,2». Man fühlt in der Tiefe, der Gestalt des
M. quadriceps femoris entsprechend, eine derb gespannte Anschwellung,
die intensiv druckempfindlich ist. Sofortige Incision. Es entleert sich
blutig eiteriges Sekret aus der Mitte des indurierten Muskels. Ca. 8 Tage
nach der Incision mit granulierender Incisionswunde entlassen.
Fall 29. Jonemoto, 53-jähr. Bauer. Myositis des M. pectoralis
major sin. und M. deltoideus sin. Ursache: Kontusion. Au-
reus in Reinkultur. Vor 8 Tagen fiel Pat. auf die Badewanne und schlug
sich die 1. Schulter und 1. Brustgegend, ohne sich aber merklich zu ver-
letzen. An demselben Abend spürte er lebhafte Schmerzen an denselben
Stellen, auch fieberte er. Einige Tage darauf bekam er Husten und kam
rasch herunter. Status praesens am 11. Febr. 1901. Puls 112.
Mittagstemp. 38,3 o. Zunge gelblichweiß belegt und trocken. An beiden
Lungen Schnurren und feinblasiges Rasseln. Den Mm. pectoralis major et
deltoideus sin. entsprechend, ist eine spindelförmige, derbe Anschwellung
fühlbar, welche intensiv schmerzempfindlich ist Nirgends Fluktuation
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 195
fiihlbar. Am 22. Febr. Incision an beiden Stellen. Die Abscesse sa£en
80, wie erwartet worden war. Nach der Incision trat Besserung ein.
Schmerzen und Fieber ließen nach. Doch bald verschlimmerten sich die
Lungensymptome. Am 25. Febr. erschien ein kachektisches Oedem am
Faßrücken. Starke Dyspnoe (Pneumonie). Am 3. März endet Fat unter
starker Dyspnoe. Sektion verboten.
Fall 30. Wakayama, 6-jfthr. Fischerssohn. Myositis des r. M.
gastrocnemius. Ursache: Kontusion. Aureus in Reinkultur.
Während eines furunknlösen Prozesses auf der Kopfhaut schlug sich der
Knabe bei einem Falle auf die r. Wadengegend. Am nächsten Tage
traten an der geschlagenen Stelle Schmerzen, von Fieber begleitet, auf,
so daß er zu gehen aufhören mußte. Appetit schwach. Er ist ziemlich
henintergekommen. Morgentemp. 37,5^. R. Wade allgemein geschwollen,
im ganzen Bereiche des M. gastrocnemius derbe Anschwellung zu palpieren.
In ihrer Mitte fühlt man Fluktuation. Haut darauf unverändert. Incision.
Drainage. Am 14. Mai vollkonmiene Heilung.
Fall 31. Yoshida, 49-jähr. Bauer. Myositis des M. sacro-
spinalis sin. Ursache: Kontusion. Aureus in Reinkultur. Vor
ca. 1 Monate fiel Pat. auf die Lendengegend. Bald darauf spürte er beim
Gehen leichte Schmerzen in dieser Gegend. Vor einigen Tagen stellten
sich Schmerzen, Frösteln nnd Fieber in der getroffenen Lende ein, so daß
Pat. nicht zu gehen vermochte. Status praesens am 17. Juli 1901.
Puls 82. Temp. 38,7 •. L. Lendengegend derb angeschwollen. Haut
darauf weder verftirbt noch ödematös. Intensiv druckempfindlich. In der
Tiefe Fluktuation. Durch breite Incision und Austastung wurde der Sitz
des Abscesses im M. sacrospinalis festgestellt. Am 26. Juli ist schon
große Besserung eingetreten, so daß Pat. allein aufstehen kann. Am
30. Juli geheilt entlassen.
Fall 32. Hagiwara, 9-jähr. Bauern junge. Myositis des M. glu-
tseus maximus dext. Ursache: Kontusion. Aureus in Rein-
kultur. Vor 10 Tagen schlug sich der Knabe an die r. Glutäalgegend,
jedoch sptirte er keine Schmerzen. Seit 2 — 3 Tagen aber erschienen
Schmerzen und Fieber. Status praesens am 2. Febr. 1903. Die r.
Glutäalgegend ist difPus geschwollen. Haut darauf leicht gerötet, stark
empfindlich. In der Tiefe der Anschwellung ffthlt man eine derbe In-
filtration. Die Incision fördert einen gänseeigroßen Absceß im M. glutaeus
maximus zu Tage. Aus verdächtigen kleinen ekzematösen Eiterherden,
welche vor dem Antitragus in der Gesichtshaut saßen, gingen Strepto-
kokken in Reinkultur an. Am 8. Febr. konnte Pat. wieder gehen. Am
17. Febr. geheilt entlassen.
Fall 33. Kanaoka, 24-jähr. Kaufmannsfrau. Myositis der Mm.
biceps femoris et gastrocnemius dext. Ursache; Kontusion.
Aureus in Reinkultur. Vor 17 Tagen fiel Pat auf den r. Oberschenkel.
Seit 10 Tagen hat sie eine Anschwellung an dieser Stelle, von Fieber
begleitet. Status praesens am 30. Dez. 1901 . An der r. Wade ftlhlt
man, dem M. gastrocnemius entsprechend, eine schmerzhafte, derbe An-
schwellung, desgleichen an dem hinteren unteren Teile des Oberschenkels.
Am 30. Dez. durch Incision die Diagnose gesichert. Wegen ungenügenden
Eiterabflusses wird am 31. Dez. eine zweite Incision gemacht. Am 12. Jan.
1902 stieg das Fieber ohne nachweisbare Ursache bis 40*^. Am 14. Jan.
fand ich endlich bei sorgfältiger Nachforschung die Ursache in Gestalt
eines flachen, deutlich fluktuierenden Abscesses in der linken Brusthaut
13*
196 H. Miyake,
an der Stelle, wo vor 13 Tagen bei der Operation Kampferöl eingespritzt
worden war. Die kleine Wunde war spurlos verheilt. Sofortige Incision
ergibt, daß der Absceß im Unterhautzellgewebe saß. Nun ließ das Fieber
prompt nach. Ebenso war die eigentliche Krankheit am 2. März geheilt
Es blieb aber eine Muskelkontraktur am Fuße zurück (Spitzfuß), die erst
nach 3 Wochen durch Massage zur spurlosen Heilung gelangte.
Erklftning der Abbildung auf Tafel m.
Myositis acuta suppurativa primaria des M. glutaeus maximus von
Fall 23.
Färbung : Hämatoxylin-Eosin.
Vergrößerung: Zbiss' Okular II, Objektiv DD.
a, Rundzelleninfiltration in der Nähe der Absceßwand.
6. Bindegewebig entartete Muskelfasern.
c. Wellig geschlängelte Muskelfasern nur mit Längsstreifnng.
d. Muskelkerne.
e. Vermehrtes interstitielles Bindegewebe mit Rundzelleninfiltration.
f. Querfaltenbildung infolge von Schrumpfxing.
g. Zum Teil noch erhaltene, unregelmäßige Querstreifung.
Literatur.
1) Araki, Ueber multiple, akute primäre eiterige Myositis. Shbygaekais
Monatsh., No. 235, November 1900.
2) AsKANAZT, ViRCHOws Arch., Bd. 126, p. 520.
3) Bälz, Dtsch. med. Wochenschr., 1901, No. 14, p. 110.
4) V. Bbrgmann, Die Behandlung der akut-progredienten Phlegmone.
Berlin 1901.
5) Bhrnabbi, CentralbL f. inn. Med., 1894, p. 864.
6) BuscHKB, Die Tonsillen als Eingangspforte für eitererregende Mikro-
organismen. Dtsch. Zeitschr. f. Ghir., Bd. 38, p. 441.
7) Bbunon, Oontribution k l'^tude de la myosite infectieuse primitive.
Thöse. Paris 1887.
8) BozzoLB, Ueber infektiöse multiple Myositis. 4. ital. Kongr. Ref. in
Dtsch. med. Wochenschr., 1892, p. 127.
9) Gakon, Zur Aetiologie und Terminologie der septischen Krankheiten
mit Berücksichtigung des Wertes bakteriologischer Blutbefunde für
die chirurgische Praxis. Dtsch. Zeitschr. f. Chir., Bd. 61, 1901.
10) — Aetiologie der Sepsis. Ebenda, Bd. 37, p. 571.
11) — Beiträge zur Osteomyelitis mit Immunisierungsversuchen. Ebenda,
Bd. 42, 1896, p. 135.
12) DoRSTj Hildbbrands Jahresber., 1897, p. 107.
13) V. EiSBLSBBRO, Bcrl. klin. Wochenschr., 1891, No. 23.
14) FuKASAWA, Ueber den Einfluß der Jahreszeit auf die Entwickelung der
Myositis sowie über Lokalität derselben. Mitteil. a. d. Jamanashi
med. Gesellschaft, 1901, No. 4.
MtLlad.Gremgebielaid.Mediiuiu.ChirurgicBd.XHI. Tat. III
, - % % •«» %«
-•% ... tf -- *
^ \, , /^ "*' •**^; -»Air-
e
ff **-
ri.GiislavRschrr i . .riArst.J -^ c\,r .
Beiträge zur Kenntnis der sogenannten Myositis infectiosa. 197
16) Gabrä, Fortschr. d. Med., 1886, III, No. 6.
16) GoB]^, C^ Ausgebreitete suppurative Muskelentzündung mit gleich-
zeitiger erysipelatöser Hautentzündung. Ref. in Schmidts Jahrb., Bd. 92,
p. 303.
17) Gärtner, Versuch der praktischen Verwertung des Nachweises von
Eiterkokken im Schweiße Septischer. Gentralblatt f. Gynäkol., 1891,
No. 40.
18) GussBNBAUBR, Ucber die Veränderung des quergestreiften Muskel-
gewebes bei der traumatischen Entzündung. Lanobnbecks Archiv,
Bd. 12, 1879, p. 1010.
19) GoTTSTBiN, Bruns' Boitr., Bd. 24 — 25.
20) Habbrmaas, Multiple Tuberkulose der Muskeln. Bruns' Beitr., Bd. 2,
p. 70.
21) HoNSBLL, Zur Kenntnis der sogenannten primären Myositis purulenta.
Brüns* Beitr., Bd. 31, 1901, p. 117.
22) Hatashi, 2 Fälle von Ileopsoas-Myositis. In- u. ausländ, med. Nachr.,
1894, No. 334.
23) HüTBR, AUgem. Chir., Leipzig 1873.
24) — Zur Aetiologie und Therapie der metastatischen Pyämie. Dtsch.
Zeitschr. f. Chir., Bd. 1, 1872.
25) IYmori, M., Ueber multiple primäre Myositis. Mitteil a. d. Kanasawa
med. Gesellsch., Bd. 3, No. 21, 1894.
26) Ikekamb, J., 2 Fälle von Myositis. Mitteil. a. d. Kanasawa med.
Gesellsch., Bd. 3, No. 18, 1894.
27) Jamasaki, A., Eine multiple Myositis mit 14 Lokalisierungen. Monatsh.
d. Hokkaido med. Gesellsch., 1893.
28) Jamaguchi u. Jamasaki, Ueber akute, multiple eiterige Myositis. Mitteil,
d. Jundendo med. Gesellsch, No. 340.
29) Janssbn, Observation de myosite suppur^e. Ref. im Centralbl. f. Chir.,
Bd. 2, p. 111.
30) Kadbb, Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 2, 1897.
31) — Bruns' Beitr., Bd. 18, 1897.
32) Kawasaki, Ueber Myositis. Mitteil. a. d. Jamanashi med. Gesellsch.,
No. 4.
33) KocHBR, Dtsch. Zeitschr. f. Chir., Bd. 11, p. 87.
34) KocHBB u. Tavbl, Vorlesungen über chirurgische Infektionskrankheiten.
Basel und Leipzig, 1895.
35) Kbausb, Kaninchen anatomie.
36) KuROSAWA, Ueber einen Fall von eiteriger Myositis mit den Kompli-
kationen von Lungenabsceß. Tokio-Iji-shinshi, No. 110.
37) Lbxbr, Langbnbbcks Arch., Bd. 48, 1894.
38) LiNOBLSHBiM, Aetiologic und Therapie der Staphylokokken in fektion.
Berlin 1900.
39) LoRBNZ, Die Muskelerkrankungen. Nothnagels spez. Pathol. u. Therap.
Wien 1898.
40) Martinotti, Ueber Polymyositis acuta, verursacht durch einen Staphylo-
coccus. Centralbl. f. Bakt., Bd. 23, 1898.
41) Marmorbk, Die Streptokokken und das Antistreptokokkenserum. Wien,
med. Wochenschr., 1895.
42) MaAda, Ueber 16 Fälle von akuter, eiteriger Myositis. Mitteil. a. d.
Stintendo med. Gesellsch., No. 339.
43) Mttakb, Ueber akute, primäre Ileopsoas-Myositis. Tokio Iji-shinshi,
No. 806.
198 H. Miyake, Beiträge zur Kenntnis der sogen. Myositis infectiosa.
44) MiYAKE u. Naoatomi, Klinische Beiträge zur eiterigen Myositis. In-
u. ausländ. Nachr. (Tokio), No. 427.
45) Müller, Brüns' Beitr., Bd. 2, p. 489.
46) Muscatbllo u. Ottaviano, Virchows Arch., Bd. 166, 1901.
47) Neissbr u. Wschselbebg, Zeitschr. f. Hyg. u. Infektionskrankheiten,
Bd. 36.
48) Neumann, Dtsch. med. Wochenschr., 1895, p. 386.
49) RiBBERT, Die pathologische Anatomie und die Heilung der durch den
Staphyl. pyog. aureus hervorgerufenen Erkrankungen. Bonn 1881.
50) fiiOSSNBACH, Experimente über Osteomyelitis. Halle 1870.
51) — Mikroorganismen bei Wundinfektionskrankheiten des Menschen.
Wiesbaden 1884.
62) RovBRB, Polimiosite suppurative in individuo diabetico. Ref. in Central-
blatt f. inn. Med., 1896, No. 3.
63) Sakata, Mitteil. a. d. Okayama med. Gesellsch., No. 33.
64) Sato, K., üeber eiterige Myositis. Mitteil. a. d. zentral, med. Gesellsch.,
No. 43, Nagoya, 1901.
65) — Beiträge zur eiterigen Myositis. Tokio Iji-shinshi, No. 1249.
66) Sänöbb, Dtsch. med. Wochenschr., 1899, No. 8.
57) ScRiBA, Beiträge zur Aetiologie der Myositis acuta. Dtsch. Zeitschr.
f. Chir., Bd. 22, 1886.
68) Schultz, Dtsch. med. Wochenschr., 1900, No. 29 u. 30.
69) Skriba, Ueber eiterige Myositis. In- u. ausländ. Nachr., No. 258, Tokio.
60) — Ueber eiterige Myositis. Monatsh. d. Hokkaido med. Gesellsch.,
No. 39.
61) Shibayama u. Kurahoto, Ueber einen Fall von Myositis typhosa.
Bakt. Zeitschr., No. 68. Tokio.
62) Stöhr, Histologie. 3. Aufl., p. 44.
63) Strümpell, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilkd., I, 1891.
64) Shuzuki, K., Ueber 2 Fälle von idiopathischer, akuter eiteriger Myositis.
Monatsk f. Sheyigakkai, No. 318.
65) Tanaka, N., Ueber akut eiterige Myositis des M. infrascapularis. In-
u. ausl. med. Nachr., No. 401.
66) ToMODA, Ein Fall von multipler Myositis mit 18 Lokalisationen. In-
u. ausl. med. Nachr., No. 311.
67) Trla Giacomo, Centralbl. f. klin. Med., 1892, No. 19, p. 390.
68) Ullmann, Beiträge zur Lehre von der Osteomyelitis acuta. Wien 1891.
69) UcHiYAMA u. Nagatomi, Uebcr 2 Fälle von Ueopsoasmyositis. Mitteil,
a. d. Tokushima med. Gesellsch., No. 30.
70) ViRCHOW, Dessen Arch., Bd. 4, p. 262.
71) Volk MANN, Krankheiten der Muskeln und Sehnen. Pitha-Billroths
Handbuch, Bd. 2, I. Teü, p. 845.
72) Waldbybr, Virchows Arch., Bd. 34, p. 473.
73) Walthbr, Dtsch. Zeitschr. f. Chir., Bd. 25, p. 260.
74) Weber, Virchows Arch., Bd. 39, p. 216.
75) Zahradnicky, Wien. klin. Rundsch., 1895, No. 43.
76) ZiEQLER, Lehrbuch der speziellen pathologischen Anatomie. 9. Aufl.
1898.
Nachdruck yerbotem
X.
lieber einen neuen anaeroben pathogenen
Bacillus.
Beitrag znr Aetiologle der akuten Osteomyelitis.
Von
Otto TBTyss,
praktischer Arzt in Oerlafingen,
gewes. Assistenzarzt an der chirurg. Poliklinik des Bürgerspitals BaseL
(Hierzu Tafel IV und 1 Kurve.)
Die infektiöse Natur der akuten Osteomyelitis wurde zuerst von
LÜCKE (1) und von Rosenbagh (2) erkannt. Der erste fußte seine Theorie
auf die klinische Beobachtung, der letztere auf die Experimente. We-
nige Jahre später war durch die weiteren Arbeiten von Rosenbagh (3),
ferner von Oosten, Krause (4) und Garrä (5) der gewöhnliche Er-
reger der Osteomyelitis, Staphylococcus pyogenes erkannt, studiert und
klassifiziert. Wer diese Arbeiten jetzt Uest, begreift nur schwer, wie
nach denselben der Osteomyelitis auch nur ein Schein von Spezifität
bleiben konnte. Und doch liest man überall, daß es erst Kraske (6)
(1886) war, der zuerst die Vermutung aussprach, daß Jeder Mikro-
organismus, der pyogene Eigenschaften besitzt, sich als fShig erweist,
für sich allein typische Osteomyelitis beim Menschen hervorzurufen^.
Genau betrachtet aber ist es Kocher (7), der — schon 7 Jahre
früher -— diesen Gedanken zuerst ausgesprochen hatte, nur (die Mikro-
organismen waren damals noch nicht isoliert) in etwas anderer Form.
Er bestritt Rosenbach (I. Arbeit) gegenüber, daß die Osteomyelitis
eine spezifische Erkrankung sei und schreibt:
„Wenn wir nichts Spezifisches an dem Infektionsstoflf der Osteo-
myelitis finden können, vielmehr verlangen müssen, daß derselbe an
verschiedenen Orten und zu den verschiedensten Zeiten vorhanden sein
müsse, auch wenn gar keine epidemischen Krankheiten herrschen, daß
er ferner in den gesunden Organismus aufgenommen werden könne,
ohne Schaden anzurichten, so brauchen wir nur noch den früheren
Nachweis hinzuzunehmen, daß es sich nur um einen Infektionsstoff
körperlicher Natur handeln kann und daß derselbe sich in einem ein-
fachen AbsceB vorfinden resp. von einer oberflächlichen Wunde ausgehen
200 Otto Wyss,
kann, daß er endlich, wie die Strumitis, nach einfachen Magendarra-
katarrhen sowohl als Typhus und wahrscheinlich auch im Anschluß an
'gewisse Lungenaffektionen auftreten kann, um zu dem Schlüsse zu ge-
langen: der Infektionsstoff der akuten Osteomyelitis ist
kein anderer als derjenige, welcher die akuten Ent-
zündungen auf Wunden veranlaßt."
An dem Sinne dieses etwas langen und schweren, dafür aber auch
inhaltsreichen Satzes, den die experimentelle Forschung später Teil für
Teil erhärtet hat, haben auch die 24 Jahre seither kaum etwas Wesent-
liches geändert. Und doch hat der Gegenstand zahlreiche Autoren ge-
funden, unter denen besonders Jordan (8) zu nennen ist. Man konnte
sich streiten über die Frage, ob die von anderen Keimen als Staphylo-
kokken hervorgerufenen Osteomyelitiden Knochen- und Periostentzün-
dungen seien [Kurt Mt^LLER (9), Klemm (10)] oder eigentliche
Knochenmarkentzündungen — also über pathologisch - anatomische De-
tails, die zudem mehr formaler Natur waren. Am Grundsatz der ätio-
logischen Mannigfaltigkeit der Osteomyelitis wurde nicht gerüttelt; er
ist aus der Theorie der Ueberzeugten zur oft konstatierten feststehenden
Tatsache geworden. Nur wurde die Ausdrucksform scheinbar einfacher
und klarer: alle pyogenen Mikroben können Osteomyelitis hervorrufen.
Ich sage scheinbar; das Konzise besticht. Doch sagt uns die neue
Form nicht wesentlich mehr als die verklungenen Worte Kochers.
Sie bringt nicht das Bedürfiiis für die Unbekannte in der Gleichung;
nur die Benennung wurde geändert und dadurch wohl kaum klarer:
gibt es denn eine bestimmte Gruppe von „pyogenen" Mikroorganismen V
Läßt sich von vornherein feststellen, welche Keime pyogen sind und
welche nicht? Leider nein. Sogar Vertreter der bekanntesten „Pyo-
genen", z. B. Streptokokken können zum Tode führen, ohne Eiterung
zu erzeugen. Und bei anderen, die schon längst bekannt waren, wurde
die „pyogene Natur" erst proklamiert, nachdem man sie zufällig einmal
in einem Absceß oder im vereiterten Knochenmark aufgefunden hat.
Die Fähigkeit, eine lokale Gewebsreaktion oder Einschmelzung des
Gewebes hervorzurufen, welche sich als Eiterung manifestiert, kann
nicht nur eine spezifische Eigenschaft gewisser Bakteriengifte sein. Sie
ist abhängig von einer Anzahl von Faktoren, die zum Teil allerdings
im Mikroorganismus und dessen Lebenstätigkeit, zum Teil aber auch
im Organismus des Wirtes liegen [Klemm (11), Jordan (12)J.
Speziell im Knochenmark der Epiphysengegend im Wachstumsalter 0
findet die Ansiedelung der Keime besonders günstige Bedingungen.
Welche diese sind, ist hier gleichgültig. Wichtig ist hier nur zu kon-
statieren, daß die „pyogenen" Eigenschaften der Keime in diesem
1) Beim Erwachsenen kann in dieser Beziehung die entartete Schild-
drüse ein Aeqaivalent bilden, worauf schon Eochbr hinweist
MätadärenzffebietmdMediiin u.Oüruiyk Bei XUI.
Wyss.
Üeber einen neuen anaäroben pathogenen Bacillus. 201
Knochenmark (oder Periost) besonders gut zum Ausdruck kommen.
So erklärt es sich wenigstens aus der Beobachtung, daß Keime als Er-
reger der akuten Osteomyelitis isoliert wurden, die vorher nicht nur in
der Klasse der Pyogenen fehlten, sondern überhaupt unbekannt waren.
In dieser Weise erweist sich das Knochenmark im Wachstumsalter als
eigentliches Fangnetz für pathogene Mikroorganismen.
Die Aufzählung aller der Keimarten, die außer den in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle nachgewiesenen Staphylokokken bisher
als Erreger der akuten Osteomyelitis isoliert wurden, hat daher nur
nebensächlichen Wert Mit ganz wenigen Ausnahmen (Tetanus, ma-
lignes Oedem, Rauschbrand) kann man sich unschwer vorstellen, daß
diejenigen von den als pathogen bekannten Mikroorganismen, die bisher
noch nicht als Erreger der Osteomyelitis isoliert wurden, gelegentUch
im entzündeten Knochenmark noch gefunden werden können.
Es mag aber nicht ohne Interesse sein, wenn an der Hand eines
Falles von akut eiteriger Osteomyelitis mit eiterigen Metastasen über
deren Erreger, einen bisher überhaupt unbekannten Mikroorganismus,
der bei dieser Gelegenheit in seinen morphologischen und biologischen
Eigenschaften genau studiert werden konnte, etwas einläßlicher be-
richtet wird. Ich hatte Gelegenheit, als Assistenzarzt der chirurgischen
Abteilung des Bürgerspitals Basel diesen Fall, bei dem auch das kli-
nische und pathologisch -anatomische Bild wesentlich von dem der ge-
wöhnlichen Staphylokokkenosteomyelitis abwich, zu beobachten. Es sei
mir an dieser Stelle gestattet, Herrn Prof. Hildebrand für die üeber-
lassung des Falles und Herrn Prof. G. Haegler für die Anregung zu
dieser Arbeit und die freundliche Unterstützung bei den Untersuchungen
meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
Krankengeschichte.
l K. Georg, 37 Jahre alt, Schreiner, geriet am 26. Aug. 1901 beim
X- Baden in einer Badeanstalt am Bhein mit dem rechten Unterschenkel
^ zwischen zwei unter Wasser gelegene Eisenba]ken. Er zog sich dabei
4 eine Schürfwunde in der Mitte des Unterschenkels, etwas medial von der
1 Tibiakante zu. Noch am gleichen Tage sei der Unterschenkel stark ange-
^ schwollen, die Haut derselben blaurot verfärbt worden. Seit 2 Tagen
-^ seien stärkere Schmerzen aufgetreten; die Geschwulst habe sich entzündet;
0 rote Streifen an der Innenfläche des Oberschenkels seien erschienen ; dar-
auf Schmerzen in der Inguinalgegend ; gestern Frösteln.
Spitaleintritt: 30. Aug. 1901.
^^^ Status praesens. Sehr kräftiger Mann. Temperatur 39,0, Puls
ca. 90, kräftig; innere Organe ohne Besonderheiten.
Die Innenfläche des rechten Unterschenkels vom Knie an bis hand-
breit über dem Faßgelenk ist mäßig geschwollen. Die Haut in der Aus-
dehnung der Schwellung, gegen die Umgebung gut abgegrenzt, gleich-
-"^^ mäßig gerötet und mit zahlreichen dunkelroten punkt- und sternförmigen
Hämorrhagien in die Epidermis übersät. In der Mitte der Schwellung, ca.
202 Otto WysB,
3 iingerbreit medial von der Tibiakante, ist die Haut in der Aasdehnung
eines 2-Frankenstücke8 nekrotisch, graugelb, in der Mitte mit einem kleinen
Defekt, aus dem sich eine gelbbraune, dünnflüßige, trübe, jauchige Masse
herauspressen läßt. Die Untersuchung mit der Sonde ergibt, daß die Haut im
ganzen Hereich unterminiert und durch zahlreiche Stränge mit der Unter-
lage verbunden ist.
Breite l3rmphangitische Streifen ziehen hinter dem medialen Condylus
durch bis zur Mitte des Oberschenkels. Die rechtsseitigen Inguinaldrüsen
sind von Mandelgröße, stark druckempfindlich.
Weitere Beobachtung. Sofort nach dem Eintritt wird in Brom-
äthylnarkose die ganze Höhle gespalten. Zahlreiche nekrotische Gewebs-
fetzen und verjauchte Koagula werden entfernt. Der Grund der Höhle
wird von der zerfetzten Fasele gebildet, die an verschiedenen Stellen durch
Gewebsbrücken mit der Haut in Verbindung steht. Einige derselben werden
durchtrennt. Höhle mit verdünnter Jodtinktur ausgespült; tamponiert.
AI um. acet. priesnitz. Hochlagerung.
Die Sekretion war in den nächsten Tagen sehr stark, das Sekret noch
jauchig riechend. Der Verband wurde täglich 2mal gewechselt und jedes-
mal die Höhle mit Kai. Hypermanganlösung ausgespült. Vom 3. Sept. an
war Patient afebril. Die Höhle zeigte schöne Granulationsbildung. An
diesem Tage wurde zum erstenmal bemerkt, daß auf der medialen Tibia-
fläche, ungefähr entsprechend der nekrotischen Hautstelle, der Knochen in
der Ausdehnung eines 20-Gentstückes vom Periost entblößt war. Der
Knochen selbst sah normal aus. Am 7. Sept. mußte unterhalb der Höhle
ein kleiner Absceß incidiert werden, der sich in einer Tasche derselben
gebildet hatte. Temperatursteigerung hatte diese Betention nicht zur
Folge.
Die Wundüäche granulierte des weiteren sehr schön. Die Ränder
hatten sich dem Grunde gut angelegt. Patient war immer afebril, bis sich
am 14. Sept. fast mit einem Schlage das Bild änderte. Den Tag über
fröstelte der Patient, am Abend betrug die Temperatur 39,2. Eine Ursache
dafür ließ sich nicht linden, weder lokal am Unterschenkel, noch im übrigen
Körper. Subjektiv keine Klage. Der Zustand blieb in den nächsten Tagen
derselbe. Das Fieber zeigte einen remittierenden Charakter, mit kurzen
Intervallen, wo die Temperatur subfrebil war. Allmählich bildete sich in
der Mitte der granulierenden Fläche, unterhalb der vom Periost entblößten
Stelle, eine Vorwölbung, die schmerzhaft war und in deren Bereich die
Granulationen blasser wurden. Später trat noch direkte und indirekte Druck-
empfindlichkeit des Knochens hinzu, so daß die Diagnose auf Osteomye-
litis der Tibiadiaphyse gestellt wurde.
Fast von Beginn dieser Temperatursteigerung an war das „septische
Aussehen ** und die Euphorie des Patienten aufgefallen. Er klagte nie
über Schmerzen, sagte immer, es gehe ihm wohl.
Am 23. Sept. Eröffnung der Markhöhle mit dem Meißel in Chloro-
formnarkose. Das Periost war im Bereich der Schwellung verdickt, löste
sich sehr leicht vom Knochen ab, war nirgends eiterig infiltriert. Das
Knochenmark dunkelgraurot, von mehreren, höchstens linsengroßen Abscessen
durchsetzt Der Eiter dick, graugelb. In den Weichteilen fand sich kein
Herd. — Die Markhöhle wurde mit Jodtinktur ausgepinselt. Alum. acet
priesnitz.
Die Temperatur fiel von 39,0 am Morgen auf 37,6 am Abend. In den
nächsten Tagen sehr starke Sekretion. Trotzdem der Verband 2mal
täglich gewechselt, von der Jodtinktur ausgiebiger Gebrauch gemacht wurde,
üeber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 203
stieg die Temperatur allmählich wieder. Am 28. Sept. morgens hatte sie
40,1^ erreicht Ueber dem unteren Drittel der Tibiakante hatte sich eine
geringe Infiltration der Haut eingestellt. Am 28. Sept. wurde in Chloro-
tormnarkose die Markhöhle ca. 1 cm unterhalb der ersten Oeffnung auf-
gemeißelt, so daß eine Kortikalisbrücke noch bestehen blieb. Auch hier
fanden sich wieder ganz kleine, unter sich abgeschlossene Herde von dickem
graugelben Eiter. Eine makroskopisch bemerkbare Kommunikation der
oberen Höhle mit diesen Eiterherdchen oder eine sichtbar kontinuierliche
Fortsetzung der eiterigen Infiltiation bestand nicht Ausspülung der Höhlen
mit Acid. carbol. liquef. (}j^ Minute lang) ; Entfernung derselben mit Alkohol.
Alum. acet priesnitz. Die Temperatur sank am Abend auf 37,1, am anderen
Morgen auf 36,2.
Der Geruch des massenhaft aus der Wunde entleerten Sekretes war
nicht mehr so jauchig wie am Anfang. Er hatte allerdings noch immer
einen fötiden, aber mehr säuerlichen Charakter. Die Höhlen wurden jeden
Tag mit konz. Karbolsäure ausgetupft Eine stärkere Infiltration der
Weich teile bestand nicht -Der Ailgemeinzustand verschlechterte sich aber
rasch.
Vom 1. Okt. an begann die Temperatur wieder zu steigen. Auch der
Puls wurde jetzt schlecht. Subjektive Beschwerden bestanden nicht.
Am 2. Okt. erreichte das Fieber 40,6. Deshalb Aufmeißelung der
ganzen Markhöhle der Tibia am 3. Okt. Das Periost ließ sich im Bereich
der ganzen Diaphyse in der vorderen EUilfte der Zirkumferenz sehr leicht
vom Knochen lösen. Im unteren Teil des Maikes fanden sich auch wieder
die gleichen zirkumskripten Absceßchen, wie sie bei den früheren Eingriffen
beobachtet wurden, ohne sichtbaren Zusammenhang mit der schon erööneten
Markhöhle. Der Eiter war ziemlich dick, graugelb, säuerlich fötid riechend.
Oben und unten wurde noch gesunde Spongiosa freigelegt und die ganze
Höhle ausgiebig mit Jodtinktur gespiLlt Alum. acet priesnitz,
Temperatur am Abend 40,2, am anderen Morgen 36,7. Um ^,9 Uhr
starker Schtlttelfrost von 15 Min. Dauer. Keine Schmerzen. Temperatur
nachher 40,3, Puls 144; darauf Schweißausbruch und Sinken der Tempe-
ratur (abends 36,6).
In der Nacht vom 4. und 5. Okt. wieder Schüttelfrost mit Ansteigen
der Temperatur auf 39,7. Am übrigen Körper fanden sich keine An-
zeichen für Metastasen. Pathologische Veränderungen fanden sich nur
auf der linken Lunge, wo hinten unten in einer schmalen Zone feuchte,
klein blasige, klanglose Rasselgeräusche hörbar waren bei schwachem Vesi-
kuläratmen; keine Dämpfung; keine Abschwächung des Pektoralfi-emitus ;
Lungengrenzen gut verschieblich. Ueber der Aorta war hie und da ein
systolisches Blasen hörbar. Im Urin kein Eiweiß, kein Blut, keine korpus-
kularen Elemente. Leichte Diarrhoe.
Der Zustand verschlimmerte sich in den nächsten Tagen immer
mehr. Die Temperatur blieb dauernd über 38^, meist zwischen 39 und
40.5, entsprechend war auch die Pulsfrequenz gestiegen. Pat klagte
nie über Schmerzen, delirierte aber öfters. Lokal hatte die anfangs noch
reichliche Sekretion abgenommen, war aber immer fötid geblieben. Der
Knochen war ganz trocken, sah nekrotisch aus. Die Weichteile waren
nicht infiltriert.
Am 8. Oktober zwei Schüttelfröste mit Temperaturen von 40,1 und
40.6. Nach dem letzten Schüttelfrost Entnahme von 10 ccm Blut aus
der Vena mediana cubiti zur bakteriologischen Untersuchung (Resultat
fliehe unten).
204 Otto Wyss,
Nachdem durch stündliche Kampfer- und KoffeMinjektionen (abwech-
selnd) der Puls wieder besser geworden war, wurde am 9. Okt zur Am-
putation des rechten Oberschenkels im unteren Drittel geschritten. Sofort
nachher intravenöse Infusion von 1 1 Kochsalzlösung. Y^ Stunde darauf
wieder starker Schüttelfrost mit 40,8; am Abend Sinken der Temperatur
auf 38 und am anderen Morgen auf 37,8. Fat. sah etwas besser aus,
fühlte sich wohl, war bei klarem Bewußtsein; doch klagte er über
Schmerzen im rechten Schultergelenk, das bei der leisesten Bewegung
weh tat. Eine Schwellung oder Bötung der Weichteile war nicht zu
konstatieren.
Gegen den Abend des 10. Okt. verschlimmerte sich der Zustand
wieder; es traten Delirien auf; der Puls wurde kleiner und frequenter.
Am 10. Okt. abends Entnahme von 15 ccm Blut aus der Vena
mediana cubiti zur bakteriologischen Untersuchung. Sofort darauf intra-
venöse Kochsalzinfusion von 800 ccm.
Am 11. Okt. war der Fat meist somnolent, klagte noch über Schmerzen
in der Lebergegend. Lähmungen waren nicht zu bemerken. Der Puls
wurde immer kleiner. 6 Uhr 30 Min p. m. Exitus.
Yg Stunde post mortem wurde das rechte Schultergelenk unter asep-
tischen Kautelen eröffnet. Die Weich teile waren unverändert, ohne jede
Infiltration. Nach Incision der Gelenkkapsel strömte reichlich dünner,
graugelber Eiter heraus, der denselben fbtid-säuerlichen Geruch zeigte
wie der Eiter aus dem Knochenmark. Er wurde steril aufgefangen zur
mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchung.
Auszug aus dem Sektionsprotokoll (pathoL-anat. Anstalt Basel,
Dr. Müthmann).
Thorax. Lungen mäßig retrahiert. Im rechten Pleuraraum 10 ccm
blutige, mit flockigen, gelblichen Massen untermischte Flüssigkeit.
Im Herzbeutel ca. 50 ccm klare Flüssigkeit, mit Flocken untermischt.
Auf dem Herzen in großer Anzahl etwa linsengroße, subepikardiale Blutungen
von dunkel bräunlicher Farbe.
Herz von Faustgröße. Aus dem rechten Herzen entleert sich etwas
schaumiges Blut. Klappen alle intakt. Auf einer Mitralklappe punkt-
förmiger Blutaustritt unter die Intima.
Im linken Herzen zahlreiche subendokardiale Blutaustritte. Muskulatur
etwas trüb, von gelblich-brauner Farbe. Muskulatur links 1,3 cm dick,
rechts 0,3 cm.
Linke Lunge: Oberfläche mit abziehbaren, gelblichen Membranen be-
deckt. Auf dem Unterlappen in großer Anzahl etwa erbsen- bis haselnuß-
große, prominente Partien mit gelblichen Konturen, auf dem Schnitt
rahmigen, gelblichen Eiter enthaltend. Lunge auf dem Durchschnitt röt-
liche, schaumige Flüssigkeit entleerend.
Rechte Lunge ähnlich wie links. Bronchialschleimhaut etwas gerötet.
Pharyngealschleimhaut gerötet.
Tonsillen mandelgroß; aus der linken Tonsille entleert sich auf dem
Schnitt eine breiige, eiterig-rahmige Masse.
Larynx- und Trachealschleimhaut ohne Befund.
Abdomen. Serosa der Därme blank. Darm gebläht Im Bauch-
raum keine freie Flüssigkeit.
Milz: 14,5:7,5:4 cm glatte Oberfläche; Pulpa sehr weich, breiig;
Trabekel und Follikel nicht zu erkennen.
Ueber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 205
Nebennieren beiderseits ohne Befund.
Nieren: links 13,5:5 cm. Kapsel leicht löslich. Oberfläche rötlich-
gelb. Zahlreiche punktförmige Blutungen. Auf der Oberfläche ein gelb-
licher Herd von Erbsengröße, auf dem Schnitt gelblichen Eiter entleerend.
Durchschnitt: Binde herd weise trüb. Pyramiden graurötlich. Im Nieren-
becken zahlreiche submuköse Blutungen.
Rechts wie links (ohne den Eiterherd). Zahlreiche punktförmige
Blutungen der Oberfläche. Keine Blutungen im Nierenbecken.
Leber : Oberfläche glatt. Im rechten Lappen ein hühnereigroßer, gelb-
lichen Eiter entleerender Herd. Farbe des Durchschnittes rötlich-gelb.
Zeichnung der Acini undeutlich (Fettleber).
In der Oallenblase etwas trübe, fast orangefarbene Oalle.
Magen- und Duodenalschleimhaut ohne Befund.
Pankreas grobkörnig, graurötlich; zahlreiche punktförmige, gelbliche
Herdchen (Fettnekrose des Pankreas).
Darmschleimhaut im allgemeinen blase, sonst ohne Befund.
Blase und Genitalien ohne besonderen Befund.
Schädel Sinus longitudinalis enthält ziemlich viel Cruor und
Speckhaut Auf der Durainnenfläche kleine, rote, abziehbare, membranöse
Auflagerungen (Pachymeningitis haemorrhagica interna).
Gehirn ziemlich blutarm, von fester Konsistenz; in der weißen Sub-
stanz beider Hemisphären eine Anzahl erbsengroßer Herde mit grünlich-
gelbem Eiter.
Beim Einschneiden ins rechte Schultergelenk entleert sich massen-
haft dünnflüssiger, gelblich-weißer Eiter. Gelenkknorpel nicht usuriert
Umgebende Weichteile ohne Reaktion.
Rechter Oberschenkel: Beim Einschneiden in die Muskulatur unter-
halb dem Trochanter wird ein kastaniengroßer, mit grünlichem Eiter ge-
füllter Herd eröffnet Aus dem Hüftgelenk entleert sich nach Eröffnung
desselben ebensolcher Eiter. Eine Kommunikation der beiden Herde mit-
einander ist nicht zu konstatieren, ebenso nicht mit einem Decubitus, der
etwas nach hinten und unten vom Trochanter gelegen ist.
Der amputierte rechte Unterschenkel^) zeigte folgenden Befund: Die
ganze Markhöhle d^r Diaphyse war freigelegt ; am oberen Ende derselben
die Spongiosa nut einer dünnen Schicht dicken, graugelben, schwach fötid
riechenden Eiters bedeckt, sonstige Markhöhle frei. Am Condylus internus
tibiae führte zwischen Fascie und Periost ein feiner Gang in einen
Schleimbeutel unter der Sehne des Musculus semimembranosus ; die Bursa
war ausgefüllt von dünnem, graugelbem Eiter, der den gleichen Geruch
zeigte wie der osteomyelitische Eiter. Sonst befanden sich in den Weich-
teilen keine Abscesse. Die Wunden derselben waren überall mit Granu-
lationen bedeckt. Die Tibia wurde in der Längsachse aufgesägt. Knie-
und Fußgelenk frei; ebenso obere Epiphyse. In der unteren Epiphyse,
ca. 2 und 3 cm von der offenen Markhöhle entfernt, lagen hintereinander
in der Längsachse zwei ungefähr linsengroße Abscesse in der Spongiosa,
die noch nicht sequestriert war. Der Eiter war ziemlich dick, sonst von
gleicher Beschaffenheit wie oben. Diese Herde waren durch einen feinen
Strang rahmigen Markes mit der offenen Markhöhle verbunden.
1) Er wurde nach der Amputation in sterile Tücher eingewickelt
und nachher sofort auf Eis gelegt. Die Untersuchung desselben wurde
ca. 3 Stunden nach der Operation vorgenommen.
206 Otto WysB,
A. Mikroskopische Untersuchungen.
Der mikroskopischen Untersuchung wurden unterzogen:
1) der Eiter von der unteren Tibiaepiphyse ;
2) der Eiter vom oberen Teil der Markhöhle;
3) der Eiter von der Bursa subsemimembr. ;
4) der Belag der Granulationen an der Innenseite des Unterschenkels ;
5) der Eiter im rechten SSchultergelenk ;
6) ein Lungenabsceß. Stücke der Lungen mit Absceßchen wurden in
Formol gelegt, gehärtet, in Paraffin geschnitten und gefärbt;
7) der Herd in der Leber.
Die Deckglaspräparate eines jeden Eiters wurden mit Earbolfuchsin-
Glycerin (Czaplbwski) und nach der ÖRAMSchen Methode gefärbt.
1) Eiter aus der unteren Tibiaepiphyse. Zahlreiche, gut
erhaltene, polynukleäre Eiterzellen; wenige in Degeneration begriiFene;
ziemlich viele Kömchenzellen. An Mikroorganismen sehr viele kurze, dünne
Stäbchen, oft mit etwas zugespitzten Enden. Lire Länge beträgt etwa
den 6. — 7. Teil des Durchmessers eines roten Blutkörperchens; ihre Breite
die Hälfte oder den dritten Teil der Länge; ganz selten finden sich auch
etwas längere, aber gleich dicke Formen. Bei schwächerer Einwirkung
des Färbemittels sind oft nur die Pole gefärbt in Form von 2 Pünktchen,
so daß sie wie Diplokokken erscheinen. Bei längerer Einwirkung der
CzAPLBWSKischen Lösung (3 — 4 Minuten unter Erwärmen) wird aber das
ganze Stäbchen gleichmäßig gefUrbt. Meist liegen die Bakterien vereinzelt,
sehr oft aber auch zu zwei, als Diplobazillen. Nach Gbam werden sie
sehr leicht entfärbt. Auch in Eiterzellen sind hie und da solche Stäbchen
zu treffen.
Daneben finden sich sehr wenige große Kokken, meist als Diplo-
kokken, die nach Gram gefärbt bleiben. Eine Kapsel konnte ich nicht
darstellen.
2) Eiter aus dem oberen Teil der Markhöhle. Dasselbe
Bild.
3) Eiter aus der Bursa subsemimembran. Im Verhältnis
zur Zahl der Eiterzellen sind viel weniger Bakterien vorhanden und zwar
exklusive Stäbchen von der gleichen Beschaffenheit wie die oben be-
schriebenen.
4) Granulationen. Im Sekret derselben finden sich die nämlichen
Stäbchen wieder, aber in sehr geringer Anzahl. Ueberwiegend sind kleine
nach Gram gefHrbt bleibende Kokken, meist vereinzelt oder zu zwei, vor-
handen.
5) Schultergelenk. Das mikroskopische Bild wird beherrscht
von Mikroorganismen und zwar finden sich ausschließlich die oben be-
schriebenen Stäbchen. Hie und da werden so kurze Formen angetroffen,
daß sie fast wie Kokken erscheinen. Ganz selten sieht man auch leicht
gebogene Ketten von 3 — 4 kurzen Stäbchen. Auch die Dicke wechselt
etwas. Die Eiterzellen treten an Zahl den Bakterien gegenüber ganz
zurück.
6) Lunge, a) Eiter aus einem der größeren Abscesse. Sehr wenige
polynukleäre Eiterzellen, dagegen äußerst zahlreiche Stäbchen von der
gleichen Beschaffenheit wie die obigen. Sehr selten sind auch lange und
breite Stäbchen bemerkbar, die sich ebenfalls nach Gram entfärben.
b) In den Schnittpräparaten der Lunge färben sich die Bakterien am
besten durch Löfflbrs Methylenblau (12 Stunden bei 37^). Hier sieht
lieber einen neuen anaöroben pathogenen Bacillus. 207
man zahlreiche Bakterien im Absceß und in an^enzenden Teilen der
Wand desselben; ihrem Aussehen nach sind es die gleichen Stäbchen wie
in den Deckglaspräparaten, nur erscheinen sie in der Mitte etwas dicker,
sind also an beiden Enden etwas zugespitzt. Oft sieht man auch ge-
schlängelte Ketten von 4 — 10 Gliedern. In den Blut- und Lymphgefäßen
konnte ich sie nicht finden; ebenso nicht in den beoachbarten Alveolen.
Im übrigen Lungengewebe zeigen sich unregelmäßig zerstreut ziemlich
viele lange dicke Stäbchen (wahrscheinlich Fäulnisbakterien).
7) Leber. Auch hier finden sich dieselben kleinen Stäbchen, wenn
auch nicht so zahlreich wie an den anderen Orten. Andere Formen werden
nicht beobachtet.
B. Kulturelle und experimentelle Untersuchungen.
1) Untersuchungen des Blutes.
Am 8. Okt. wurden nach einem Schüttelfrost dem Pat. 10 ccm Blut
aus der Vena mediana cubit. entnommen und zu Kulturen verarbeitet
(aerobe Bouillonkulturen, Gelatine- und Agarplatten, Agarstichkultur ohne
XJeberschichtung). Dieselben waren steril geblieben. Auch mikroskopisch
ließen sich, im Blute keine Mikroorganismen nachweisen.
Am 10. Okt. (am Tage nach der Amputation) wurden noch einmal
15 ccm Blut entnommen und wieder gleiche Kulturen angelegt. Da uns
damals die Lebensbedingungen des Stäbchens, auf das es nach den mikro-
skopischen Untersuchungen des Eiters hauptsächlich ankam, noch nicht
bekannt waren, wurden außer den beiden Agarstichkujturen, wovon eine
mit Ueberschichtung , keine anderen anaSroben Kulturen gemacht. Zu
diesen Stichkulturen wurden nur wenige Tropfen verwendet, so daß also
in geringer Anzahl im Blute enthaltene Stäbchen der Untersuchung ent-
gangen sein können. Die Kulturen blieben steril. Mikroskopische Unter-
suchung des Blutes negativ.
Ferner wurden einem Kaninchen von 770 g subkutan in den rechten
Oberschenkel 6 ccm injiziert, einem Meerschweinchen von 420 g 3,5 ccm
ebenfalls subkutan und einer weiß-schwarz gefleckten Batte von 110 g
2 ccm. Alle 3 Tiere hatten am anderen Tage ein krankhaftes Aussehen,
fraßen nichts mehr, waren ganz apathisch. Das Kaninchen und die Ratte
erholten sich am 2. Tage wieder. Das Meerschweinchen aber blieb apa-
thisch, fraß auch weiter nichts mehr und ging am 3. Tage, ca. 64 Stunden
nach der Injektion zu Grunde, ohne spezielle Krankheitserscheinungen
gezeigt zu haben (keine Diarrhöe, keine Krämpfe, keine Atemnot). Die
Sektion bot keine makroskopisch-pathologischen Veränderungen. Mikro-
skopisch fanden sich weder an der Injektionsstelle, noch im Blut, noch
in der Milz Mikroorganismen. Die Kulturen blieben steril (allerdings
waren nur aSrobe Kulturen angelegt worden).
2) Untersuchungen des Eiters.
Untersucht wurde
a) der Eiter aus der unteren Tibiaepiphyse ;
b) der Eiter aus dem unteren Teile der Markhöhle;
c) der Eiter aus der Bursa subsemimembr. ;
d) der Eiter aus dem rechten Schultergelenk.
Von den 3 ersten Stellen wurde die Abimpfung ca. 3 Stunden nach
der Amputation gemacht, nachdem die Extremität während dieser Zeit
auf Eis gelegen hatte. Das Schultergelenk war ^/g Stunde nach dem
208 Otto Wyss,
Tode aseptisch eröffnet worden; in diesem fand sich das Stäbchen in
Beinkultur. Die Eiterproben anderer Provenienz waren zum Teil verun-
reinigt mit Staphylokokken (in der unteren Tibiaepiphyse nur wenige
Kolonien ; vom Eiter der Markhöhle mehr) oder Tetragenus (in der Buraa).
Es stellte sich bald heraus, daiS das Stäbchen nur anaerob wuchs.
Aus dem Eiter des Schultergelenks wurde es direkt in Bouillon unter
Wasserstoffatmosphäre gezüchtet und zwar habe ich fast von Anfang an
Ascitesbouillon genommen (ca. 2 Teile gewöhnliche Nährbouillon und
1 Teil sterile AscitesHüssigkeit), worin dasselbe am besten gedieh.
Aus den verunreinigten Eiterilüssigkeiten habe ich das Stäbchen auf
doppelte Weise isoliert:
1) Wurde von demjenigen Teil einer agroben Agars tichkultur, wo
keine Staphylokokken- oder Tetragenuskolonien gewachsen und wo mikro-
skopisch gut fkrbbare Stäbchen vorhanden waren, auf Bouillon übergeimpft
und an aerob gehalten.
2) Bei den nach Liborius (Schüttelkulturen in hohen Säulen) ge-
züchteten Kulturen (Zuckeragar und Ascitesagar) wurden mit Glaspipette
die Kolonien des Stäbchens hervorgefischt und anaerob weiter gezüchtet
(vide Rist).
Einen anderen Stamm desselben Stäbchens habe ich erhalten aus
dem Absceß eines Kaninchens, welchem 0,3 ccm des Eiters vom rechten
Schultergelenk des Patienten subkutan injiziert worden waren. Im Absceß,
der sich an der Injektionsstelle entwickelte, war das Stäbchen in Bein-
kultur enthalten.
Auf diese Weise habe ich 4 Stämme eines Mikroorganismus erhalten
(Bac. or, Bac. ß, Bac. y ^^^ ^&<^- ^ ^^s Protokolls), die sich durch ihre
morphologischen und biologischen Eigenschaften als ein und dasselbe
Bakterium erwiesen. Wegen einiger charakteristischen Merkmale taufte
ich den — wie später gezeigt wird, bisher nicht beschriebenen — Mikro-
organismus: Bacterium halosepticum (rj Skfog der Hof um die Gestirne).
Charakteristik des neuen pathogenen Mikroorganismus
(Bact. halosepticum).
a) Morphologische Eigenschaften.
Dieser Keim bildet in den Kulturen ein kurzes, schmales, gerades
Stäbchen, die Enden sind meist etwas zugespitzt. Die Länge ist ver-
schieden, je nach der Temperatur, bei der das Wachstum stattgefunden
hat. Bei 37 ® (in anaerober Ascitesbouillon) bildet er gewöhnlich kurze,
leicht geschlängelte Ketten von 4—8—10 Gliedern. Die einzelnen
Glieder haben eine Länge von 0,7 — 1,0 /«. Einzelstehende Stäbchen
können noch kürzer sein. Die Dicke beträgt in der Mitte 0,5 /i. Die
Längsachse des Einzelindividuums fallt mit der Längsachse der Kette
zusammen.
Bei 40® gewachsen sind die einzelnen Glieder noch kürzer, so daß
die Züge wie kurze Streptokokkenketten erscheinen. Die Dicke bleibt
sich gleich.
Bei 22® sieht man längere Elemente; das Mittel beträgt dann
3,5 fi ; die Einzelstäbchen wachsen nicht über eine Länge von 5 fi hinaus.
Ueber einen neuen anaeroben patbogenen Bacillus. 209
Sie bilden bei dieser Temperatur auch längere Fäden (bis 20 // lang),
die aber bei genauem Zusehen aus langen und kurzen Gliedern be-
stehen. Häufig sieht man am Ende eines Fadens ein oder mehrere
distinkte Stäbchen, die noch klein geblieben sind. Der Faden selbst
kann auch durch solche unterbrochen werden. Die Dicke beträgt 0,5
bis 0,6 /i. Verzweigungen habe ich keine beobachtet, auch keine An-
schwellungen.
Diese Verschiedenheit der Länge hängt wahrscheinlich mit der
Geschwindigkeit zusammen, mit der das Wachstum vor sich geht. Bei
22^ welche Temperatur ungefähr die unterste Grenze des Wachstums
bildet, erfolgt dasselbe äußerst langsam; die Einzelstäbchen haben Zeit,
sich zu entwickeln. Bei 40® (oberste Grenze) erfolgt die Teilung so
rasch, daß das Stäbchen nicht Zeit hat, weit in die Länge zu wachsen.
Unser Mikroorganismus läßt sich mit den gewöhnlichen Anilinfarb-
stoflFen färben, am besten mit verdünntem Karbolfuchsin (nach Cza-
PLEWSKi), durch das er in 2 — 3 Minuten, besonders unter Erwärmen,
genügend geförbt wird. Auch in 2 Proz. Gentianaviolettlösung färbt
er sich in 5 Minuten. Er nimmt den Farbstoff gleichmäßig an. Die
anderen Färbmittel brauchen längere Zeit zur Einwirkung (Methylenblau
und Vesuvin mehrere Stunden). Nach Gram wird er vollkommen und
rasch entfärbt.
Eine Kultur, die aus dem ersten Agarstrich in Zuckeragar
übergeimpft worden war und seither immer in zuckerhaltigen Medien
gezüchtet wurde i), bot ein anderes morphologisches Verhalten. In
Zuckerbouillon s^ man neben ganz wenigen kurzen Stäbchen mittel-
lange Formen, die an einem Ende keulenförmig angeschwollen waren,
am anderen Ende spitz zuliefen. Dann kamen längere, gewellte und
geschlungene Fäden vor von unregelmäßiger Form, meist an einem
Ende kolbig angeschwollen, oft auch an beiden Enden. Oder die An-
schwellungen waren willkürlich auf den ganzen Faden verteilt. Echte
Verzweigungen hatte ich nicht beobachten können. Die Farbstoffe
wurden vom Faden ganz unregelmäßig angenommen. Aus der gleichen
Ausgangskultur (Agarstrich) wurde in Ascitesbouillon das gewöhnliche
Stäbchen gezüchtet, das in allen seinen Kulturen, auch nach mehrfacher
üeberimpfung in Zuckerbouillon, nie diese polymorphe Gestalt ange-
nommen hat, sondern immer sich gleich geblieben ist. Die Kultur jenes
polymorphen Stäbchens, auf Ascitesbouillon übergeimpft, entwickelte sich
als gewöhnliches, kurzes Stäbchen und zeigte auch nach der Rückimpfung
in Zuckerbouillon nicht mehr jene ungewöhnlichen Formen. Es muß
dahingestellt bleiben, ob es sich um eine vorübergehende Wachstums-
varietät unseres Keimes oder um eine accidentelle Verunreinigung ge-
1) Nach 5 Uebertragungen in Zuckerbouillon ging die Kultur nicht
mehr an.
tfittcil. a. d. GrejiicebieUn d. Mcdixin u. Chirurgie. XiU. Ud. 14
210 Otto Wyss,
handelt hat, bei welcher der veruDreinigende Keim bald im Wachstum
zurückblieb. Die letztere Möglichkeit scheint uns allerdings wahrschein-
licher, da ähnliche polymorphe Bildungen sonst bei keiner der zahl-
reichen Kulturen beobachtet werden konnten.
Sporen werden nicht gebildet. Die Sporenfarbung (mit Karbol-
fuchsin und Methylenblau) ist negativ ; auch im ungefärbten Präparate
lassen sich keine Körperchen nachweisen, die als solche anzusprechen
wären. Die Bildung von Dauerformen ist auch nach dem biologischen
Verhalten unwahrscheinlich.
Beobachtung im lebenden Zustand.
Die Beobachtung geschieht im hängenden Tropfen (wobei der Luft
mit Pyrogallol und Kalilauge der Sauerstoff entzogen wird) oder besser
noch in einer Glaskapillare ^). Die Bakterien erscheinen hier gleich wie
im gefärbten Präparat, man sieht einzelne kleine Stäbchen, die eine aus-
geprägte Molekularbewegung aufweisen. Zahlreicher noch sind die
kurzen, leicht geschwungenen Ketten von 4—5—7 Gliedern, die sich
auch lebhaft rotieren. Eine Eigenbewegung, ein Vorwärtsschreiten habe
ich nie beobachten können, trotzdem ich die verschiedensten Alters-
stadien und die Bntwickelung in den meisten flüssigen Nährböden so unter-
sucht habe.
Infolgedessen blieb auch immer die Geißelfärbung (nach Löffler
und nach Peppler) negativ.
b) Biologische Eigenschaften.
Unser Mikroorganismus ist ein strenger Anaörobier. Der Sauer-
stoff muß aus den Nährmedien vollkommen entfernt werden, wenn ein
Wachstum stattfinden soll. In Berührung mit der atmosphärischen Luft
stirbt er, auch wenn vor Austrocknung geschützt, viel schneller ab als
bei Luftabschluß. Am besten gedeiht er ferner auf eiweißreichen Nähr-
böden und bei alkalischer Reaktion. Diese wurden gewöhnlich durch
Zusatz von steriler Ascitesflüssigkeit zu den gewöhnlichen Nährböden
(Bouillon, Agar, Gelatine) hergestellt und zwar im Verhältnis von 2
Teilen der letzteren zu 1 Teil Ascites. (Die Inaktivierung der Ascites-
flüssigkeit bei 56^ hat auf das Wachstum keinen Einfluß.) Hier bildet
1) Aehnlich wie Fuchs. Eine in Entwickelung begriffene Ascites-
bouillonkultur wird in eine lange, frisch ausgezogene Glaskapillare
aspiriert, oder in eine mit steriler Ascitesbouillon gefüllte Kapillare werden
einige Tropfen einer vollentwickelten Kultur eingesogen und hierauf die
Kapillare an beiden Enden resp. noch im Bereich der Flüsaigkeitssäule
zugeschmolzen. Das Innere derselben ist auf diese Weise sicher luftleer
gemacht. Die Entwickelung der Kultur geht sehr gut von statten. Zur
besseren Untersuchung unter dem Mikroskop kann die SLapillare auf einen
Glasstreifen aufgekittet werden mit Canadabalsam.
Ueber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 211
er auch Gasblasen. Weniger üppig ist die Entwickelung auf trauben-
zuckerhaltigen Nährmedien, in denen auch nur selten Gasblasen sich
zeigen. Am schwächsten geht das Wachstum auf den gewöhnlichen
Substraten von statten. Auf Milch, Kartofifeln etc. findet überhaupt
kein Wachstum statt.
Wie er den Nährstoffen gegenüber ziemlich subtil ist, ist er auch
gegen Kälte und Wärme stark empfindlich. Die Temperaturen, bei
denen noch Vermehrung sich zeigt, liegen zwischen 22 ^ und etwas über
40®, das Optimum liegt bei ca. 38®. Bei 22® ist das Wachstum sehr
spärlich; erst in etwa 10 Tagen ist auch in geeigneten Medien makro-
skopisch eine Entwickelung sichtbar. Bei 42—43® vermehrt er sich
nicht mehr. Von der Entwickelungsintensität ist auch die Lebensdauer
abhängig. Je langsamer die Entwickelung vor sich geht, desto länger
bleibt die Kultur lebensfähig, je rascher sie sich entwickelt, desto eher
stirbt sie unter sonst gleichen Umständen ab. Im allgemeinen ist die
Lebensdauer gering. In Ascitesbouillon z. B. bei 37 ® gehalten, ist eine
Kultur in 8 Tagen abgestorben; nach 6 Tagen abgeimpft, entwickelt
sie sich im neuen Medium noch langsam. Diese geringe Lebensenergie
gibt sich auch im mikroskopischen Bild zu erkennen: der größte Teil
der Stäbchen färbt sich nicht mehr. Im Eisschrank aufbewahrt, bleibt
die Kultur etwas länger am Leben. Von einer Ascitesagarkultur, welche
sich während 2 Tagen bei 37 ® entwickelt hat und die dann in den Eis-
schrank gestellt wird, kann man auch nach 13—14 Tagen mit Erfolg
abimpfen. Noch etwas größer ist die Lebensdauer, wenn die Entwicke-
lung von Anfang an bei 22 — 24® stattgefunden hat, da beträgt sie ca.
3 Wochen (ohne daß die Kultur auf Eis gehalten wird).
Unser Stäbchen ist gegen höhere Temperaturen sehr empfindlich.
Eine in voller Entwickelung begriffene Kultur ist bei 56® in 15 Minuten
abgetötet!).
An Deckblättchen angetrocknet, stirbt das Stäbchen bei gewöhn-
licher Zimmertemperatur und an der Luft in einigen Stunden ab; nach
einem Tage war es bei keinem Versuche mehr lebensfähig.
Art des Wachstums in den verschiedenen Nährböden.
In den flüssigen Nährmedien wurde die Anaärobiose nach den
Methoden von Roux und Heim ermöglicht (Verdrängung der Luft durch
Wasserstoff)-
1) Diese Prüfung habe ich derart gemacht, daß ich von einer 2-tägigen
Ascitesbouillonkultur gleiche Mengen von ca. ^2 ^^^ ^ sterile Eeagens-
röhrchen, die auf 56 ^ vorgewärmt waren, abfüllte und diese in den Brut-
ofen bei 56 ^ stellte ; nach 5, 10, 15, 20 etc. Minuten nahm ich ein Eöhrchen
heraus, impfte von demselben auf Ascitesbouillon ab und verarbeitete
diese sofort anaörob. Diejenigen Böhrchen, welche nur 5 und 10 Minuten
der Temperatur von 56^ ausgesetzt waren, waren noch mit Erfolg ab-
impfbar.
212 Otto Wyss,
Ascitesbouillon. Bei 37 ^ sieht man nach ca. 80 Stunden wenige,
ganz kleine Gasblasen aufsteigen; einige Stunden darauf erscheinen makro-
skopisch an den abhängigen Partien der Glaswand und an der in die Bouillon
herabreichenden Kapillare, die zur Einleitung des H gedient hat, kleine
graugelbe, etwas transparente Wölkchen, die allmählich größer werden und
an Zahl zunehmen. Die Gasentwickelung bleibt sich gleich, ist nie be-
deutend ; am Bande des Flüssigkeitsmeniskus sammeln sich die aufsteigenden
Gasblasen als feiner Schaum. Die Bouillon bleibt klar. Am Ende des
2. und am Anfang des 3. Tages senken sich die Flöckchen zu Boden
und bilden hier einen losen, wolkigen, graugelben Bodensatz, der sich beim
Schütteln leicht in der ganzen Bouillon verteilen läßt. Die Gasentwickelung
hört von diesem Zeitpunkt an auf. Der Bodensatz bildet im Maximum
etwa den 4. Teil der Flüssigkeitssäule, ist derselbe erst einmal aufgewirbelt,
so klärt sich die Bouillon erst ungefähr nach einer Woche wieder ab.
Der Geruch dieser Kulturen ist eigentümlich fÖtid- säuerlich, manch-
mal an faulenden Kohl erinnernd.
In Zuckerbouillon ist das Wachstum weniger intensiv ; noch schwächer
in gewöhnlicher Nährbouillon, wo der Bodensatz nicht viel mehr als die
Kuppe des Röhrchens füllt. Gasblasen entwickeln* sich hier gewöhnlich
keine. Der Geruch ist weniger intensiv.
Ascitesagarplatte. Es ist mir nicht gelungen, das Bakterium
in PsTRischen Schalen zu züchten, weder bei Luftabschluß unter Paraffin
noch auch mit den sauerstofEverdrängenden, gasförmigen Mitteln^). Die
Züchtung gelingt aber leicht zwischen 2 großen, parallel aufeinander ge-
legten Uhrschalen (nach Trbnkmann [13]').
Bereits nach 24 Stunden sind die Kolonien sichtbar (makroskopisch)
als feine, graugelbe Pünktchen ; bei 60-facher Vergrößerung sind sie meist
fast ganz rund, gleichmäßig granuliert, hie und da auch schwach gelappt.
Am 2. Tage ist die Kolonie etwas größer, undurchsichtig, meist drei-
1) Evakuation einer mit alkalischer Pjrogallollösung versehenen Glas-
glocke durch die Wasserstrahlluftpumpe und Einleiten von Wasserstofigas.
Dies in 4 — 5-maligem Wechsel. — Tetanuskulturen gingen unter derselben
Glasglocke in PsTRischalen gut an; ebenso wurde Methylen blaugelatine voll-
kommen entfärbt.
2) Diese werden im Trockenschrank frisch sterilisiert, damit die dem
Glase anhaftende Luft verdrängt wird. Der gut ausgekochte Agar wird
nach dem Abkühlen auf oa. 50 ^ mit der Ascitesflüssigkeit gemischt, wobei
die Temperatur auf ca. 40^ sinkt, und geimpft. Darauf Herstellung der
verschiedenen Verdünnungen, die im Wasserbade von ca. 40^ gehalten
werden. Der Agar wird nun in die untere Uhrschale gegossen und sofort
mit der oberen zugedeckt, wobei eventuelle Luftblasen der unteren Fläche
der oberen Schale entlang an den Band steigen. Nachher werden die
Schalen zur schnellen Erstarrung auf Eis gelegt und kommen dann in
einer Doppelschale in die Brütkammer. Nach einigen Tagen stellen sich
allerdings am Rande der Uhrschalen Kolonien von Keimen ein, die durch
den Luftstaub oder beim Anfassen der Schalen dort deponiert werden.
Sie wachsen aber höchstens einige Millimeter in den Agar hinein, erreichen
die Zone der anaeroben Kulturen nie. Die Stäbchen entwickeln ihre
Kolonien nur im Innern der Schale, etwa IY2 — 2 cm vom Bande des
Agars entfernt und können so sehr gut wie in einer PsTRi-Schale unter
dem Mikroskop betrachtet werden.
Ueber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 21 3
eckig oder sternförmig. Diejenigen Kolonien, die das Olas berühren, werden
an der Peripherie durchsichtig und rund. Auch nach 10 Tagen wachsen
sie nicht über Mohnkorngröße.
Bei 60-facher Vergrößerung erscheinen die tiefliegenden Kolonien bern-
steingelb ; der Rand ist scharf abgesetzt, glatt, leicht gekerbt, stellenweise
auch schwach gezähnt. Die Mitte der Kolonie ist dunkelbraun, zeigt ver-
wischt grobkörnige Zeichnung, gegen die Peripherie zu wird diese deutlich
grobkörnig, oft morulaartig.
In den Kolonien, die zwischen Agar und Glaswand sich ausbreiten,
zeigt der Kern die gleiche BeschafiPenheit wie in den tiefliegenden; meist
ist er dreieckig; darauf folgt eine Zone, die sich durch ihre hellgelbe
durchsichtige Färbung scharf vom Kern abhebt. Sie ist grob granuliert.
Die Größe der Körner nimmt gegen den Band zu allmählich ab, so daß
die äußerste Zone nur mehr punktiert erscheint. Die Bandzone ist manch-
mal auch sektorenfbrmig dunkler gefärbt (Tafel).
Am 2. — 3. Tage erscheint um jede Kolonie ein 1 — 2 mm breiter,
durchscheinender, schwach glänzender Kof, der nach außen sich allmählich
in die Umgebung verliert. Bei 60-facher Vergrößerung sieht man im
durchfallenden Licht und bei enger Blende, daß derselbe aus dunklen
Punkten und Körnchen besteht. Später konfluieren die Höfe der einzelnen
Kolonien, wenn diese nahe genug beieinander liegen (s. auch Agarstich).
Weder in gewöhnlichen Agar- noch in Zuckeragarplatten, die auf
obige Weise (mit Uhrschalen) hergestellt werden, konnten Kolonien zur Ent-
wickelung gebracht werden.
Ascitesagarstic h. Das Wachstum geht gut von statten, auch
ohne Ueberschichtung, wenn der Agar vorher ausgekocht wird. Dasselbe
macht sich schon nach 20 Stunden als feiner Streifen längs des Stich-
kanals bemerkbar: er entwickelt sich 1 — ly, cm unterhalb der Oberfläche.
Am 2. Tage wird der Streifen bandförmig mit zentralem, dunklem Faden,
der stellenweise knotig verdickt ist. Die Seitenteile des Bandes sind un-
regelmäßig gewellt und fein ausgebuchtet, oft mit Knötchen und Höckerchen
besetzt Die Breite des Bandes schwankt zwischen 1 — 2,5 mm. Manch-
mal entwickelt sich eine Gasblase neben dem Stichkanal. Der Geruch ist
derselbe wie in der Ascitesbouillon.
Auch bei dieser Kulturform zeigt sich, wie der Hof um die Kolonien
in den Schalen, am 2. oder 3. Tage rings um die ganze Länge des Bandes
ein zarter, grauer Schleier, der für unser Bakterium charakteristisch ist.
Er kann einen Durchmesser von fast 1 cm erreichen. Gegen die Kolonie
zu wird er immer dichter, nach außen ist er ziemlich scharf abgesetzt.
Er ist bei durchfallendem, am schönsten aber bei schräg auffallendem
Lichte sichtbar. Bei schwacher Vergrößerung besteht er aus kleinen, stark
lichtbrechenden Körnchen. Die Abimpfung aus demselben bleibt steril.
(Tafel).
Zur genaueren mikroskopischen Untersuchung habe ich Schnitte durch
die Agarsäule angefertigt i).
1) Der Agarcylinder wird aus dem Beagenzglas durch Zerschlagen
des letzteren herausgenommen und in Cylinder von 2 — 3 mm Höhe zer-
schnitten. Diese werden dann 12 Stunden lang starken Formoldämpfen
ausgesetzt (in einer Elxsiccatorschale), darauf kommen sie für 24 Stunden
in AlcoL absol. und nachher für wenige Stunden in Xylol bis zur Auf-
hellung (alle diese Prozeduren wurden bei 37 • vorgenommen); dann für
214 Otto Wysfl,
Der Impfkanal in der Mitte stellt sich makroskopisch als unregel-
mäßiger dunkelblauer Fleck von etwa Stecknadelkopfgröße dar, der Hof
hebt sich durch eine hellere Nuancierung vom übrigen Agar ab. Mikro-
skopisch sieht man, daß das Wachstum der Bakterien nur auf die nächste
Umgebung des Stichkanals, soweit man also mit bloßem Augen das Band
sieht, sich beschränkt. Der Hof ist vollkommen frei von Mikroorganismen.
Die Kolonie wächst in Form von breiten Ausläufern vom Zentrum aus,
ähnlich wie die Pseudopodien einer Amöbe. Manchmal treiben diese noch
kleine seitliche Sprossen. Vorstöße von Ketten oder schmalen Zügen von
Bakterien sieht man nicht. Demgemäß sind auch die periphersten Rand-
zonen tief dunkelblau geiUrbt, zeigen also das stärkste Wachstum der
Bakterien. Diese sitzen in Foi-m von Kuppen den Pseudopodien und Aus-
läufern auf, währenddem die Buchten und Einkerbungen dazwischen sich
durch ihre Färbung kaum oder nur durch einen ganz schmalen Saum
vom Zentrum abheben ; sie sind wie dieses schwachblau gefärbt (Tafel).
Der Hof bietet mikroskopisch nichts Charakteristisches. Er wird allem
Anscheine nach hervorgerufen durch StofFwechselprodukte der Bakterien,
welche in den umgebenden Agar diffundieren und denselben unter anderem
so verändern, daß er ein anderes Lichtbrechungsvermögen erhält oder
durch Niederschläge trüb erscheint.
In Zuckeragar ist das Wachstum bedeutend geringer, erst nach 6
Tagen bemerkbar und es erfolgt auch nicht gleichmäßig längs des Impf-
stichs, meist in Form von vereinzelten Punkten, die aber nicht über Mohn-
korngröße hinausgehen. Gasbildung findet hier nicht statt. In gewöhn-
lichem Agar zeigt sich kein Wachstum.
Agarstrich. Ebensowenig wie in einer PETRischen Schale, ent-
wickelten sich die Bakterien auf der Oberfläche des Striches, während
z. B. Tetanusbacillen, auf die gleiche Weise behandelt, im Strich kräftig
wuchsen (nach der Methode von Heim).
Gelatinekulturen. In Gelatine findet bei 22 ®, also solange die-
selbe fest ist, kein Wachstum statt, auch nicht in Ascitesgelatine. Da-
gegen gedeiht das Bakterium gut in Ascitesgelatine bei 37^, wenn dieser
der Sauerstoff entzogen wird (Durchleiten von Wasserstoff). Nach 24
Stunden zeigt sich zuerst eine wolkige Trübung, die zuerst längs der ein-
geschmolzenen Kapillare beginnt; die Wolken, an denen Gasblasen haften,
steigen langsam in die Höhe, senken sich aber nach 3 — 4 Tagen wieder
und bilden am Boden einen Niederschlag wie in der Ascitesbouillon, wenn
auch nicht so intensiv. Die Gelatine bleibt klar. Der Geruch ist gleich
beschaffen wie dort. In gewöhnlicher Gelatine und Zuckergelatine zeigt
sich keine Entwickelung.
In der Milch findet keine Vermehrung statt ; sie wird auch nicht
verändert.
Die Lackmusmolke (nach Pbtbuschky) bleibt ebenfalls steril, sei
sie neutral oder schwach sauer oder schwach alkalisch.
Kulturversuche mit Kartoffeln wurden so angestellt, daß ein schräg
ein paar Stunden in Paraffinxylol resp. Paraffin (bei 54^). So können
sie gut in Klötze eingegossen und geschnitten werden, ohne daß sich etwa
der Agar vom Paraffin loslöst. Die Färbung findet mit LöFFLERschem
Methylenblau statt (einige Stunden bei 37^). Mit schwach essigsaurem
Wasser kann dem Agar die Farbe fast vollständig entzogen werden, ohne
daß dabei die Bakterien sich entfärben.
üeber einen neuen anaSroben pathogenen Bacillus. 216
halbierter KartofTelcylJnder in einem Hegenzglas sterilisiert wurde und
nach der Impfung die gleiche Behandlung erfuhr, wie die Agarstrichkul-
turen. Auch hier zeigte sich kein Wachstum, ebensowenig in Kartoifel-
Wasser.
Reine Ascites flüssigkeit ist weder im flüssigen (inaktivierten)
noch im erstarrten Zustande ein Nährboden für dieses Bakterium.
Ebensowenig kann ein Wachstum in eiweiß freiem Nährboden
(nach C. Fränkel und Vogbs) und in 1-proz. Peptonwasser (leicht
alkalisch und mit Y^ ^^oz, Kochsalz) beobachtet werden.
Chemische Aeußerungen.
In eiweißreichen Nährböden zeigt sich Gasentwickelung; dieselbe
ist aber nie bedeutend. In der Ascitesbouillon bildet sich ein feiner
Schaum am Rande des Flüssigkeitsmeniskus. In einer Ascitesagarplatte
mit ca. 100 Kolonien entwickeln sich etwa 16 kleine Gasblasen, in einer
Ascitesagarstichknltur 1 — 2 spaltibrmige Luftblasen neben dem Stich; in
einer Ascitesagarschüttelkultur treten auch nur vereinzelte Blasen auf. In
mit Traubenzucker versetzten Nährböden (ca. 1 Proz.) ist die Gasent-
wickelung, wenn sie überhaupt stattfindet, sehr gering.
Der Geruch ist eigentümlich födit-säuerlich, fast ähnlich demjenigen
von faulendem Kohl.
Das Gas enthält Schwefelwasserstoff. Zu dessen Nachweis
werden Filtrierpapierstreifen, die mit einer Plumb. acet-Lösung getränkt
und sterilisiert sind, in den oberen freien Raum eines geimpften Ascites-
bouillonröhrchens gebracht, so daß der Streifen durch Kapillarattraktion
an der Glaswand festhaftet. Darauf wird das Röhrchen oberhalb des
Streifens ausgezogen, Wasserstoff durchgeleitet und abgeschmolzen. Nach
24 Stunden beginnt sich der untere Rand des Papierstreifens zu bräunen.
Die H|S-Entwickelung war nie stark ; es färbte sich immer nur der unterste
Teil des Streifens.
Indolbildung. Schon am 2. Tage läßt sich in einer Ascitesbouillon-
kultur Indol nachweisen (mit Schwefelsäure und Natriumnitrit). Eine
S-tägige Kultur zeigt die Reaktion sehr schön; vom 3. Tage an wird sie
aber nicht mehr stärker. Manchmal tritt schon auf Zusatz der Schwefel-
säure und Erwärmen schwache Rotfkrbung auf (Nitrosoindolreaktion).
Auch geringe Säurebildung findet statt. Die Alkaleszenz einer
Ascitesbouillonkultur nimmt bis zum 3. — 4. Tage ab, verschwindet aber
nie ganz. Die Milchsäurereaktion ist schwach positiv (UrFELMANi^sches
Reagens oder Eisenchloridlösung). Beim Kochen tritt schwacher Geruch
nach Buttersäure auf, ein über die Oeffnung des Reagenzrohres gehaltener,
angefeuchteter Lackmuspapierstreifen rötet sich aber nicht.
c) Tierversuche.
Zunächst wurden am 12. Okt 1901 vom Eiter aus dem rechten
Schnltergelenk des Pat. 0,3 ccm einem Kaninchen (No. 4, ca. 1200 g) sub-
kutan in den rechten Oberschenkel injiziert; der Eiter war vom 11. Okt.
1901 bis 12. Oktober 1901 im Eisschrank aufbewahrt worden. In den
folgenden Tagen zeigte das Tier etwas verminderte Freßlust und es bildete
sich eine Infiltration an der Injektionsstelle; im Verlauf der 2. Woche
entwickelte sich hier ein geschlossener subkutaner Absceß, der mäßig druck-
empfindlich war. Am Ende der 2. Woche wurde die Haut am Rande des
Abscesses nekrotisch, so daß der Eiter hier durchbrach. Er war ziemlich
216 Otto Wysfl,
dick, hellgelb, hatte denselben Geruch wie der injizierte Eiter. Die mikro-
skopische Untersuchung desselben ergab nebst zahlreichen, meist gut er-
haltenen polynukleären Eiterzellen mäßig viele Stäbchen von der morpho-
logischen und tinktoriellen Beschaffenheit wie im Schultergelenkseiter;
kulturell erwies es sich als eine Reinkultur des nämlichen Stäbchens, das
aus dem Schultergelenk und der Tibiamarkhöhle des Fat. gezüchtet wurde.
Die Absceßhöhle entleerte immer viel Eiter von der gleichen Be-
schaffenheit; auch 4 Wochen nach dem Durchbruch war das Stäbchen
noch in Beinkultur vorhanden. Die Absceßhöhle wurde allmählich kleiner
und am 20. Nov. 1901 war dieselbe ganz geschlossen.
Später stellten sich bei dem Tiere mangelnde Ereßlust und Apathie
ein. Es magerte rasch ab. Die hinteren Extremitäten werden nachge-
schleppt und allmählich ganz gelähmt, schließlich kam noch eine Blasen-
und Mastdarmlähmung hinzu und am 26. — 27. Dez. 1901 ging das Tier
zu Orunde. Bei der Sektion fand sich die Gegend unterhalb der Leber,/
die selbst sehr klein war, von einem kleinfaustgroßen, kugeligen, glatten
Tumor von graugelber Farbe eingenommen, zu dessen üeberzug fast das
ganze große Netz verwendet wurde. Derselbe ging vom hinteren rechten
Leberlappen aus; ein Streifen Leberläppchen ließ sich bis über die halbe
Zirkumferenz der Hinterfiäche des Tumors verfolgen. Die Konsistenz war
derb elastisch. Die Geschwulst war gefüllt von einer dickbreiigen, schlei-
migen, graugelben, nach altem Kohl riechenden Masse; die Wand der
Cyste war derb-fibrös ; 2 — 3 mm dick. Der linke Leberlappen war normal ;
die übrige Leber sehr klein, derb, dunkelbraunrot. Die übrigen Organe
ohne besonderen Befund. Der Wirbelkanal und das Bückenmark zeigten
makroskopisch keine Veränderungen.
Mikroskopisch fanden sich im Cysteninhalt neben eigentlichem Detritus
in Zerfall begriffene Leukocyten und sehr wenige Stäbchen von gleichem
Aussehen wie die Bakterien aus dem subkutanen Absceß. Die Kulturen
blieben steril. Trotzdem sprechen der mikroskopische Befund und der
spezifische Geruch für die Identität dieses Mikroorganismus mit dem ein-
geimpften.
Vom gleichen Eiter erhielt am 12. Okt. 1901 ein Meerschweinchen
(No. 5) 3 Platinösen subkutan ebenfalls in die rechte hintere Extremität.
Eine Störung des Allgemeinbefindens trat nicht ein; dagegen bildete sich
an der Injektionsstelle auch ein Absceß, der nach Nekrotisierung der Haut
nach 12 Tagen durchbrach und der morphologisch und kulturell die
gleichen Stäbchen enthielt wie der injizierte Eiter. Die Absceßhöhle
granulierte langsam zu und war am 4. Nov. 1901 geheilt
Am gleichen Tage injizierte ich noch einer schwarzweiß gefleckten
Batte 1 Oese voll von demselben Eiter; nach wenigen Tagen war die
Infiltration an der Injektionsstelle verschwunden. Das Allgemeinbefinden
war nie gestört gewesen.
Uebrigens blieben auch gegen Kulturen unseres Stäbchens, die direkt
aus dem Schultergelenkeiter des Patienten hergestellt waren, die Ratten
unempfindlich, gleichviel ob die Bakterien subkutan oder intraperitoneal
einverleibt wurden.
Ebenso resistent zeigten sich Mäuse.
Bei einem weiteren Versuche wurden Reinkulturen unseres Mikro-
organismus direkt in die Knochenmarkshöhle gebracht. 12. Nov.
1901. Kaninchen No. 10 (1200 g). Zur Verwendung gelangte die
erste Ascitesbouillonkultur aus dem Absceßeiter von Kaninchen No. 4.
In Chloroformnarkose wurde die Innenfläche der rechten Tibia geschoren
Üeber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 217
and desinfiziert; die Instrumente sterilisiert. Incision über der Tibia.
Ablösen des Periosts in geringem Umfange. Eröffnung der Knochenhöhle
mittels Hohlmeißel. Durch das ganz kleine Loch wurde 1 ccm der Kultur
mit einer PRAVAZ-Spritze injiziert, wobei aber ein Teil der Bouillon durch
das Blut wieder herausgeschwemmt wurde. Verschluß des Loches mit
sterilisiertem Wachs. Periostnaht. Hautnaht (beides mit Catgut). Ichthyol-
kollodiumverband.
Da der weitere Verlauf der Erkrankung des Tieres sich ähnlich ge-
staltete wie bei unserem Patienten, möge hier das Protokoll in extenso
mitgeteilt werden.
13. Nov. 1901. Das Tier springt ordentlich herum, ohne das rechte
Bein zu schonen, frißt gut.
15. Nov. 1901. Mäßige Schwellung von teigiger Konsistenz an der
Innenfläche der Tibia. Sie scheint druckempfindlich zu sein ; lokale Tem-
peratur erhöht.
16. Nov. 1901. Die Schwellung ist umfangreicher geworden. Das
Tier bleibt am gleichen Orte liegen, wo man es hinsetzt, frißt ordentlich.
17. Nov. 1901. Das rechte Vorderbein wird nicht mehr auf den
Boden aufgesetzt, im Karpalgelenk flektiert gehalten; geringe Schwellung
der Karpalgelenksgegend gegenüber links.
18. Nov. 1901. Frißt nichts mehr, ist ganz apathisch, richtet sich
nur langsam wieder auf, wenn man es in eine unbequeme Stellung bringt.
Die Schwellung an der rechten Tibia erstreckt sich über die ganze Innen-
fläche; diejenige des rechten Garpalgelenkes ist auch stärker geworden.
Ebenso ist das linke Schultergelenk verdickt und anscheinend druck-
empfindlich. Mäßige Diarrhöe.
Da das Tier wahrscheinlich die Nacht nicht überstehen wird und,
um postmortale oder agonale Verunreinigungen auszuschließen, wird es
abends 7 Uhr durch Nackenschlag getötet und sofort die Sektion ge-
macht (unter den gewohnten aseptischen Kautelen):
Aus der Schnittwunde an der Innenfläche der Tibia fließt auf Druck
etwas dünnflüssiger, hellgelber Eiter heraus. Nach Eröffnung der Wunde
zeigt sich, daß die medial gelegene Muskulatur ganz durchsetzt ist von
dickem rahmigen Eiter. Die Phlegmone ist gegen die umgebende, an-
scheinend normale Muskulatur scharf abgesetzt. Gasblasen sind nirgends
bemerkbar. Der Eiter hat auch wieder den charakteristischen fötid-
säuerlichen Geruch. Der Knochen ist, soweit das Periost bei der Operation
gelöst wurde, nekrotisch; das Loch in demselben ist mit Eiter bedeckt.
Nach der Abimpfung wird das Glied im Kniegelenk exartikuliert und die
Tibia der Länge nach aufgesägt. Fast die ganze Markhöble ist eiterig
imbibiert. Gegen die Epiphysen zu sieht man mehrere kleine Abscesse,
die makroskopisch mit der großen Eiterhöhle nicht in Verbindung stehen.
Die Epiphysen selbst sind frei.
Eechtes Karpalgelenk : Auf der Dorsalfläche erstreckt sich der Ab-
sceß, der hier die Gelenkkapsel durchbrochen hat, noch etwas zentral wärts
unter der Fascie weiter. Im Gelenk selbst ist wenig dünnflüssiger Eiter,
am meisten noch zwischen Vorderarm und Carpus.
Im linken Schultergelenk findet sich eine graue, gallertige, leicht ge-
trübte Flüssigkeit in größerer Quantität als die normale Synovia. Auch
im linken Karpalgelenk erscheint die Synovia etwas getrübt. Die übrigen
Gelenke sind frei.
Abdomen: Milz mäßig vergrößert, sonst ohne pathologischen Befund.
Ebenso an den übrigen Organen nichts Besonderes. Aus der Cava in-
218 Otto Wyss,
ferior wird mit steriler Pipette Blut entnommen. Herz und Lunge ohne
Befund.
Mikroskopisch finden sich die bekannten kleinen Stäbchen im Absceß
des rechten Unterschenkels, in der Markhöhle der rechten Tibia, in allen
Gelenken, die ein pathologisches Exsudat enthalten, und zwar hier um
so weniger, je geringer die pathologische Veränderung ist. Ferner in
der Milz und im Blute. Im Weichteilabsceß treten noch vereinzelte längere
und dicke Stäbchen auf, die sich ebenfalls nach Oram entfärben.
Kulturell erwies sich das Stäbchen als unser Mikroorganismus, und
zwar in Beinkultur an allen untersuchten Stellen, mit Ausnahme im Abs-
ceß des Unterschenkels, wo der verunreinigende Keim wahrscheinlich
Bact. coli war; auch in der Markhöhle fand sich nur der erstere vor.
Direkt in die Blutbahn gebracht, wird der Keim bald unschädlich
gemacht, jedenfalls sieht man keine bedeutenderen lokalen oder allge-
meinen Wirkungen auftreten.
Ich habe einem Kaninchen von 1420 g Vs ^™ einer Ascitesbouillon-
kultur (Aasgangsmaterial lieferte Kaninchen No. 10) in die linke Ohrvene
injiziert. Dabei war allerdings ein Teil der Flüssigkeit in die Subcutis
gedrungen und von dieser aus entwickelte sich eine starke entzündliche
Schwellung des Ohres, die nach 3 Tagen abscedierte. Der Absceßeiter
enthielt das Bakterium in Reinkultur. Das Allgemeinbefinden war nicht
gestört (kein Fieber, gute Freßlust). Gelenkschwellungen traten auch nicht
auf. Dagegen bildeten sich am Ohr peripher vom ersten Absceß in rosen-
kranzfbrmiger Anordnung immer neue Abscesse, die alle nach Gangrän
der Haut durchbrachen. Nach ca. 6 Wochen waren sie geheilt.
Einem anderen Kaninchen von 1200 g wurde in Ghloroformnarkose
eine starke Kontusion des rechten Kniegelenkes mit einem Holzhammer
und eine subkutane Fraktur der linken Tibia beigebracht. Ga. 1 Stunde
nachher Injektion von Vg ccm einer 6-tägigen Ascitesbouillonkultur unseres
Stäbchens in die linke Ohrvene (gleiches Ausgangsmaterial wie beim
vorigen). An den lädierten Stellen traten keine besonderen Veränderungen
auf; es bildete sich an der Frakturstelle ein guter Gallus, der den Bruch
in 4 Wochen zur Heilung brachte, ohne daß sich hier jemals entzündliche
Symptome eingestellt hätten. Auch das Allgemeinbefinden war nicht
gestört.
Mit den Stofifwechselprodukten unseres Stäbchens allein konnte ich
keine größeren Versuche machen. Da die Ascitesbouillon nur sehr
schwer die CHAMBERLAND-Filter passiert, erhielt ich nur geringe Mengen
von Toxinen, die keinen nennenswerten Einfluß ausübten. Wahrschein-
lich ist der Tod des Meerschweinchens, dem 3,5 ccm Blut des Patienten
injiziert worden waren, infolge Toxinvergiftung zustande gekommen.
Stellung des Bact halosept im System der Bakterien.
Ich habe dasselbe mit keiner der bis jetzt beschriebenen, nicht
sporulierenden ana^roben Arten identifizieren können. Am meisten
Aehnlichkeit hat unser Keim mit einigen hauptsächlich von französischen
Autoren in den letzten Jahren beschriebenen Arten. Eine genaue Ver-
gleichung derselben mit der unserigen würde hier zu weit führen. Ich
tTeber einen neuen an aeroben pathogenen Bacillus. 219
beschränke mich auf die Erwähnung derselben und einiger anderer
Arten, die dififerentialdiagnostisch in Betracht kommen^):
1) Bac. ramosus (Veillon et Zuber).
2) Bac. serpens (Veillon et Zuber).
3) Bac. perfiingens (Veillon et Zuber).
4) Bac. fragilis (Veillon et Zuber).
5) Bac. fusiformis (Veillou et Zuber).
6) Bac. furcosus (Veillon et Zuber).
7) Bac. funduliformis (Hall£).
8) Bac. nebulosus (Hall£).
9) Bac. caducus (HallS).
10) Bac. anagrobius minutus (Tissier).
11) Bac. bifidus communis (Tissier).
12) Coccobacülus anaSrobius perfoetens (Tissier).
13) Bac. radiiformis (Rist et Guillemot).
14) Bac. thetoides (Rist et Guillemot).
15) Art A.
16) Art G (nach Rist vielleicht identisch mit Bac. fundulif. Hall£).
17) Bac. anaßrobius gracilis (Lewkowicz).
18) Bac. helminthoides (Lewkowicz).
Nach den Untersuchungen, über die oben referiert wurde, kann es
kaum einem Zweifel unterliegen, daß die akut eiterige Osteomyelitis
mit ihren weiteren zum Tode führenden pyämischen und septikämischen
Symptomen unseres Falles durch den neu klassierten Mikroorganismus,
das Bacterium halosepticum, hervorgerufen war. Wahrscheinlicherweise
hat dieser Keim schon bei der Verjauchung des subkutanen Hämatoms ')
eine Rolle gespielt (eine bakteriologische Untersuchung wurde damals
unterlassen) und der ganze Verlauf spricht dafür, daß die Infektion
des Knochenmarkes von der entblößten Knochenstelle aus durch die
transkortikalen Blutbahnen erfolgt ist. Die Annahme einer Infektion auf
hämatogenem Wege scheint unnötig und es fehlt in den Symptomen
jegliche Basis dafür. Auch die Lokalisation (Diaphyse) und das Alter
des Mannes, der über die Wachstumsjahre weit hinaus war, sprechen
dagegen.
1) Eine ausführlichere Beschreibung derselben findet sich in meiner
Dissertation (Basel 1904).
Die Arbeiten sind im Literaturverzeichnis angegeben.
2) Ob die Infektion dieses Hämatoms primär (es bestand eine äußere
Wunde) oder sekundär durch die Kleider etc. stattgefunden hat, kann mit
Sicherheit nicht entschieden werden. Immerhin bat die erste Annahme
viel Wahrscheinlichkeit ftLr sich, denn Fäulniskeime finden sich wohl
regelmäßig an den im Wasser hervorragenden Teilen von eingedachten,
vielbenutzten Badeanstalten, besonders wenn diese unterhalb der Einmün-
dung von ELloaken angelegt sind.
220 Otto Wyss,
Besondere Aufmerksamkeit verdient noch das klinische Bild und der
pathologisch-anatomische Lokalbefund bei unserem Falle. Ersteres unter-
scheidet sich scharf von demjenigen bei Osteomyelitis staphylomycotica,
aber auch in bemerklicher Weise von dem durch die anderen bisher
als Osteomyelitiserreger bekannten Mikroorganismen hervorgerufenen
Krankheitsbild.
Beherrscht wird dasselbe durch toxinämische Erscheinungen : fahles
Aussehen, hohe Temperaturen mit Remissionen, hohe Pulsfrequenz,
Veränderung des Blutfarbstoffes (das Blut sah bei der Amputation miß-
farben aus, mit einem Stich ins Bräunliche). Dazu eine beständige
Euphorie bei gewöhnlich intaktem Bewußtsein und — was außerordent-
lich auffällig ist — das absolute Fehlen von subjektiven Krankheits-
erscheinungen: Kein Schmerz am befallenen Knochen, kaum eine be-
merkenswerte Druckempfindlichkeit, eine Empfindlichkeit bei Erschütte-
rungen.
Diesem Mangel an lokalen subjektiven Krankheitssymptomen ent-
spricht auch das Fehlen der objektiven. Die Reaktion in der Umgebung
der eiterigen Knochenmarksherde fehlt fast vollkommen. Weder Rötung
der Haut noch Schwellung und Infiltration der Weichteile. Eine geringe
Verdickung des Periosts und der Umstand, daß es leichter als normal
vom Knochen abzulösen war, das waren die einzigen Veränderungen in
der Umgebung.
Auch bei der Metastase im Schultergelenk blieb die auf solche
eiterige Gelenksaffektionen regelmäßig auftretende Reaktion der um-
gebenden Weichteile aus. Keine Hautrötung, keine Infiltration der
Weichteile und eine kaum bemerkbare Schwellung, die schon physi-
kalisch durch die Füllung der Gelenkhöhle mit Eiter erklärt wird.
Auch der pathologisch-anatomische Lokalbefund ist ein nicht ge-
wöhnlicher: Keine progrediente, schon makroskopisch zu verfolgende
Markphlegmone. Nur kleine, bis höchstens linsengroße, scharf von-
einander gesonderte Eiterherdchen. Beim Tierversuch (Kaninchen No. 10)
war allerdings der größere Teil des Knochenmarkes von einer zu-
sammenfließenden eiterigen Masse eingenommen; aber durch die Auf-
meißelung der Tibia und durch die Injektion von solch großen Kultur-
mengen direkt in die Markhöhle war eine starke Schädigung des Markes
und eine Ueberschwemmung desselben mit Keimen verursacht worden,
so daß diese Ausdehnung des Abscesses nichts Verwunderliches hat.
Wichtig ist, daß über der Grenze dieser ausgedehnten Markphlegmone
hinaus auch hier isolierte Absceßchen erschienen waren.
Das Krankheitsbild entsprach also der Septikämie, dem fast aus-
schließlichen Vorwiegen der putriden Intoxikation, dem auch die eiterigen
Metastasen, die ganz in den Hintergrund traten, nichts vom Typischen
nahmen. Die Autopsie hat nach dem Befund der vielen kleinen Blut-
austritte unter das Endo- und Epikard, unter die Schleimhaut des
MUtaä. Grenzgebieten d. Medizin u.Chirurgie Bd.M.
Taf. IV.
*f -(■'''■;
Hm
C
Ycriv. Gustav Fischer, Jena
O^S
""*^3^
Weps gez.
Lilh.AnstY.J.AnidlJena.
Ueber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 221
Nierenbeckens, unter die Nierenkapsel etc. der klinischen Auffassung
nachträglich noch eine Stütze gebracht.
Den Beweis, daß diese von einer Osteomyelitis ausgehende Septi-
kämie durch den von uns zum erstenmal isolierten Mikroorganismen
das Bact. halosepticum, hervorgerufen war, glauben wir oben erbracht
zu haben.
Literatur.
1) Lücke, Die primäre infektiöse Osteomyelitis. Dtsch. Zeitschr. f. Chir.,
Bd. 4, 1874, p. 218.
Rosenbach. Beiträge zur Kenntnis der Osteomyelitis. Dtsch. Zeitschr.
f. Chir., Bd. 10, 1878, p. 869.
3) — Mikroorganismen bei den Wundinfektionskrankheiten des Menschen.
Wiesbaden 1884.
Kbausb, Ueber einen bei der akuten infektiösen Osteomyelitis des
Menschen vorkommenden Mikroorganismus. Fortschr. d. Med., 1884.
Oarrä, Zur Aetiologie akut eiteriger Entzündungen. Fortschr. d.
Med., 1885.
Kbasks, Zur Aetiologie und Pathogenese der akut eiterigen Osteo-
myelitis. Arch. f. klin. Chir., Bd. 34, 1886.
KoGHBR, Die akute Osteomyelitis mit besonderer Rücksicht auf ihre
Ursache. Dtsch. Zeitschr. f. Chir., Bd. 11, 1879.
8) Jordan, Die akute Osteomyelitis. Bruns' Beitr. z. klin. Chir., Bd. 10, 3.
9) Müller, Curt, Ueber akute Osteomyelitis. Münch. med. Wochenschr.,
1893.
10) Klbhh, Ueber Streptomykose der Knochen. Volkmanns Samml. klin.
Vortr., N. F., No. 234.
11) — Einige Bemerkungen über die Spezifität der Bakterien. Münch.
med. Wochenschr,, 1901, No. 44.
12) Jordan, Ueber die Aetiologie des Erysipels und sein Verhältnis zu
den pyogenen Infektionen. Münch. med. Wochenschr., 1901, No. 35.
13) Trbnkmann, Das Wachstum der anaSroben Bakterien. Centralbl. f.
Bakt, Bd. 23, p. 1038.
14) Vhillon et Zuber in den Compt. rend. de la soc. de biol., mars 1897,
p. 263.
15) — Recherches sur quelques microbes strictement ana^robies et leur röle
en Pathologie. Arch. de m6d. exp., T. 10, 1898, p. 517.
16) Hallä, J., Recherches sur la bact^r. du canal gen. de la femme.
Thöse. Paris, 1898, et Ann. de gyn^c. et d'obst., T. 51, 1899.
17) TissiER, H., Rech, sur la flore intest, des nourrissons. These. Paris, 1900.
18) GüiLLEMOT, Rech, sur la gangr. pulmon. Th^se. Paris, 1899.
19) CoTTBT, Rech, bactör. sur les suppurat. p^riur6thr. These. Paris, 1899.
20) Rist, E., Etudes bact. sur les infect. d*orig. otique. Th^se. Paris, 1898.
21) — Neue Methoden und neue Ergebnisse im Gebiete der bakterio-
logischen Untersuchung gangränöser und foetider Eiterungen. Gentral-
blatt f. Bakt., Bd. 30, No. 7.
22) Lewkowicz, Rech, sur la flore microbienne de la bouche des nourrissons.
Arch. de mW., exp. 13, 1901, No. 5.
222 Otto Wyss,
23) Stancülbanu et Baup, Bact. des empy&mes des sinus de la face.
Arch. intemat. de laryngol., 1900.
24) Fräkkbl, £., Ueber Gasphlegmone. Centralbl. f. Bakt, Bd. 13, 1, u.
Bd. 14, p. 622.
25) — üeber G-asphlegmone. Hamburg u. Leipzig, (Leop. Voß) 1893.
26) — üeber den Erreger der Gasphlegmone. Münch. med. Wochenschr.,
1899, No. 4
27) — Ueber Gasphlegmone, Schaumorgane und deren Erreger. Zeitschr. f.
Hyg., Bd. 40, 1902, Heft 1.
28) Welch and Nuttal in the Johns Hopk. Bull., 1892, ref. Centralbl. f.
Bakt, Bd. 24, p. 794 (Dünham, E.), Hyg. Rdsoh., Bd. 2, p. 927, und
Bd. 7, p. 947.
29) Wood, F. C, Puerp. infect with the bac. aerog. caps. New York med.
Rec, Vol. 40, 1899, ref. Centralbl. f. Bakt., Bd. 28, p. 612.
30) Howard, W. T., Akute fibrino-purulente cerebrospinale Meningitis etc.
Johns Hopk. Hosp. Bull., 1899, ref. Centralbl. f. Bakt., Bd. 28, p. 612.
31) Ernst, F., Ueber einen gasbildenden Anaeroben im menschlichen
Körper und seine Beziehung zur Schaumleber. Virchows Arch., Bd. 133,
Heft 2.
32) Hitschmann u. Lindbntal, Ueber die Gangr. foudroyante, Arch. f.
klin. Chir., Bd. 59, 1899, Heft 1.
33) G^bbbl, Ueber den Bacillus der Schaumorgane. Centralbl. f. allgem.
Path. u. pathoL Anat., Bd. 6, 1895, Heft 12/13.
34) Lbvy, Ueber einen Fall von Gasabsceß. DtscL Zeitschr. f. Chir.,
Bd. 32.
35) BüDAY, Zur Kenntnis der abnormen postmortalen Gasbildung. Central-
blatt f. Bakt, Bd. 24, p. 369.
36) Stolz, Die Gasphlegmone des Menschen. Beitr. z. klin. Chir., Bd. 33,
Heft 1. (Ausführl. Literat)
37) NovY, Ein neuer anaerober Bacillus des malignen Oedems. Zeitschr.
f. Hyg., Bd. 17, 2.
38) Fuchs, Ein anaerober Eiterungserreger. Diss. Greifswald, 1890.
39) Sanfelicb, Untersuchungen über anaerobe Mikroorganismen. Zeitschr.
f. Hyg., Bd. 14, p. 368.
40) Lüdbritz, Zur Kenntnis der anaeroben Bakterien. Zeitschr. f. Hyg.,
Bd. 6, p. 148.
41) FlOqoe, C, Die Aufgaben und Leistungen der Milchsteril isierung
gegenüber den Darmkrankheiteu der Säuglinge. Zeitschr. f. Hyg.,
Bd. 17, p. 290.
42) Grips, Zur Aetiologie der Leberabscesse des Rindes. Mitteil. f. Tier-
ärzte, Bd. 3, ref. Baumg. Jahresber., Bd. 12, 1896, p. 525.
43) AcHALMB, Rech, bact sur le rhumat. artic. aigu. Ann. de l'Inst Fast,
1897, p. 845.
44) Sawtschbnko, Der akute Gelenkrheumatismus und die Bakterie
AcHALMBs. Russ. Arch. f. Fath. etc., Bd. 5, 1898, ref. Centralbl. f.
Bakt., Bd. 24, p. 798.
45) Fic et Lbsibur, Contrib. k la bact^r. du rhumat. artic, aigu. Joum.
de Fhys. et Fath. gönör., T. 1, 6.
46) Thiroloix, Bac. du rhumat. art aigu. La sem. möd., 1897, p. 93.
47) Bbttbncourt, Nota sobre a pre8en9a do Bac. de Ach. et Thirol. etc.
Arch. de med., T. 2, ref Centralbl. f. Bakt, Bd. 25, p. 86.
48) SiNQER, Aetiologie und Klinik des akuten Gelenkrheumatismus. Wien
und Leipzig (Braumüller) 1898, p. 220.
Ueber einen neuen anaeroben pathogenen Bacillus. 223
Literatur zur Einleitung.
Lbxer, Die Aetiologie und die Mikroorganismen der akuten Osteomyelitis.
VoLKMANMS Samml. klin. Vortr., N. F., No. 173.
— Experimente über Osteomyelitis. Arcb. f. klin. Gbir., Bd. 53.
KocHEB u. Tatbl, Vorlesungen über chirurgiscbe Infektionskrankheiten.
Lehrbücher der Bakteriologie, die zu Rate gezogen wurden.
1) FlOooio, C, Die Mikroorganismen. 3. Aufl. 1896.
2) Hblm, L., Lehrbuch der Bakteriologie. 2. Aufl. 1898.
3) Lbhmann u. Nbumann, Atlas und Grundriß der Bakteriologie und bak-
teriologischen Diagnostik. 2. Aufl. 1899.
4) HüBPPE, F., Die Methoden der Bakterienforschung. 6. Aufl. 1891.
5) Fränkbl, C, u. Pfbifvbr, Mikrophotographischer Atlas der Bakterien-
künde. 2. Aufl. 1896.
Aus der Heilstätte Holsterhausen bei Werden a. d. Ruhr.
(Chefarzt: Dr. F. Köhler.)
Nachdruck yerboten.
XL
Em Fall von Tuberkulose des Wurmfortsatzes.
Von
Dr. Max Behr,
Assistenzarzt.
Fälle von Tuberkulose des Wurmfortsatzes sind zur Ergänzung
der so häufigen Fälle von nicht tuberkulöser Appendicitis von beson-
derem Interesse. Der folgende Fall ist noch dadurch bemerkenswert,
daß die Erkrankung bei Lebzeiten symptomlos verlief und darum gar
nicht diagnostiziert wurde.
Lukas K., 29 J. alt, Zigarrenmacher, wurde aaf Veranlassung der
Landesversicherungsanstalt in Düsseldorf am 12. Okt. in unsere Heilstätte
aufgenommen. Sein Vater ist an „Gelbsucht", seine Mutter an „Schlag-
anfall" gestorben. Seine erste Frau erlag der Lungenschwindsucht; 2 Kinder
starben klein. Die zweite Frau des Fat. soll gesund sein. Er selbst, das
3. Kind seiner Eltern, will in der Jugend nie krank gewesen sein. Sein
Beruf bedingt Aufenthalt in staubiger Luft, ein Umstand, den der Kranke
als ursächlich für sein jetziges Leiden anführt. Vor 4 Jahren wurde er vom
„Nervenfieber" befallen, von welchem er sich aber wieder gut erholte.
Im Herbste 1902 bekam Pat. „nach einer Erkältung" Husten und
blutigen Auswurf, sowie Schmerzen in der rechten Seite. Er litt bisweilen
an geringen Nachtschweißen und will ungefähr 25 Pfund an Gewicht ab-
genommen haben.
K. ist ein schwächlicher, schlecht genährter Mensch. Bei der Auf-
nahme gibt er keine Schmerzen an; es besteht mäßige Atemnot, wenig
Husten und Auswurf. Appetit nnd Schlaf sind gut; Stuhl regelmäßig,
Urin ohne Eiweiß und Zucker. Es besteht kein Fieber. Die am 12. Okt.
1903 vorgenommene Untersuchung zeigt eine Lordose der Wirbelsäule.
Der untere Teil des Sternum ist stark eingedrückt. Der Perkussionsschall
ist über der r. Spitze vorne gedämpft, desgleichen unterhalb der r. Clavicula
bis zur III. Rippe ; er hat tympani tischen Beiklang ; ebenso r. Spitze hinten.
Auch die 1. Spitze ist nicht vollschallend. Ueber der r. Spitze vorne
ist das Atemgeräusch vesikulär, Ezspirium verlängert. Es sind geringe
kleinblasige Rasselgeräusche am Ende des Exspiriums zu hören; unterhalb
Max Behr, Ein Fall von Tuberkulose des Wurmfortsatzes. 225
der Clavicula Knisterrasseln bis zur unteren Lungengrenze, ebenso
in der Azülarlinie. R. Spitze hinten rauhes vesikuläres Atmen^ ohne
Nebengeräusche, desgleichen in den unterhalb gelegenen Partien. Die 1.
Spitze vorne zeigt Vesikuläratmen mit kleinblasigen Rasselgeräuschen
aiif der Höhe des Inspiriums. Unterhalb bis zur Herzdämpfung sind die»
selben zahlreicher zu hören. Der gleiche Befund in der Azillarlinie.
L. Spitze hinten unreines vesikuläres Atmen mit spärlichen trockenen
Rasselgeräuschen, in den unteren Partien das Gleiche.
Das Herz liegt innerhalb normaler Orenzen, die Töne sind rein;
Aktion beschleunigt.
Die Untersuchung der Bauchorgane ergibt nichts Be-
sonderes, kein Druckschmerz; keine Drüsenschwellungen, keine
Oedeme. Die Untersuchung des Sputums auf Tuberkelbacillen hat ein
negatives Ergebnis.
Bei der am 13. Nov. 1908 vorgenommenen Untersuchung ist der
Zustand des Pat. unverändert.
Die nunmehr einen Monat fortgesetzte physikalisch-diätetische Kur
bekommt dem Kranken gut, er gibt an, sich etwas besser zu fohlen.
Am 28. Nov. meldet die Stationsschwester, daß K. sich unwohl ftlhle
und sich zu Bett gelegt habe. Er sagte nur, er habe etwas stärkere
Atemnot und wolle lieber heute liegen bleiben. Pieber besteht nicht,
ebenso wenig Schmerzen. Am 29. Nov. Besserung; K. steht auf, sucht
aber nachmittags wieder das Bett auf. Am 30. Nov. hat sich sein Zu-
stand wesentlich verschlechtert; die Dyspnoö ist heftiger; Temperatur
mittags 380, abends 6 Uhr 37,8 <>; 8 Uhr 37,6 <>. Es bestehen keine
Schmerzen; Haiii und Stuhl zeigten auch an diesem Tage keine Besonder-
heiten. Der Pols ist beschleunigt und klein und steigt bis 10 Uhr auf
170 Schläge. Die Dyspnoö wird immer heftiger, das Herz stündlich
schlechter. Um 12,50 Uhr Exitus.
Die am folgenden Tage vorgenommene Sektion forderte Ueber-
rasohendes zu Tage.
Magere Leiche, sehr geringes Fettpolster, ohne Oedeme, ohne Drüsen-
schwellungen. Die Lungen sind beiderseits in ganzer Ausdehnung mit
der inneren Thoraxwand verwachsen und nur mit äußerster MtLhe zu lösen.
Auf der Schnittfläche sieht man das deutlich verdickte Rippenfell« Der
ganze r. Oberlappen besitzt eine derbe, leberartige Konsistenz und ist
luftleer. Auf der Schnittfläche zeigt er eine gleichmäßig weißgelbe Farbe,
ist „morsch und bröckelig*^; an mehreren Stellen die beginnende Bildung
von Kavernen; in der r. Spitze eine ausgebildete von Walnußgröße mit
dicklichem, schmutzig-gelbem Inhalte. Im mittleren und unteren Lappen
der rechten Lunge ist der Lufbgehalt sehr vermindert. Auf Druck ent-
leeren die Bronchien eine dicke gelbe Masse. Das Oewebe ist reichlich
besetzt von grauweißen, käsigen Herden, zum Teil klein und scharf ab-
gegrenzt, zum Teil über größere Partien sich erstreckend und durch Kon-
fluenz kleiner Herde entstanden. Die Bronchialdrüsen sind geschwollen.
Die linke Lunge bietet fast das gleiche Bild, wie der untere und mittlere
der rechten.
Das Herz besitzt eine schlaffe Muskulatur. Der linke Ventrikel ist
dilatiert, seine Muskulatur hypertrophisch, im übrigen ohne Besonderheiten.
Leber und Nieren sind von gewöhnlichem Aussehen; Milz ist ver-
größert, zeigt aber sonst nichts Krank haftes. Die Magenschleimhaut ist
stellenweise etwas gerötet, das Duodenum ohne Besonderheiten. Jejunum
und Ileum sind besetzt von zahlreichen unregelmäßigen Geschwüren mit
Mitteil. a. d. GrenzfeUeten d. Medizin o. Chinirgle. XIII. Bd. 15
226 Max Behr,
aafgeworfenen, geröteten Rändern und schmutzig-grau gefärbtem Grunde^
der bei einer Reihe hellere, gelbe, käsige Massen erkennen läßt.
Der WurmfortsatB ist um seine gewöhnliche Länge ver-
größert, ungefähr 16 cm lang; er besitzt ein ausgeprägtes, aber
ftlr seine Länge zu kurzes Mesenteriolum, wodurch seine fast spiralig auf-
gerollte Lage bedingt wird. Er ist gefüllt mit einer dickflüssigen, gelben
Masse. Sein Inneres zeigt eine Reihe der oben beschriebenen Geschwürs-
bildungen, von denen einzelne diejenigen des übrigen Darmes an Größe
übertreffen.
DasCoeoom ist an der Affektion nicht beteiligt und frei.
An den sonstigen Organen ist nichts Krankhaftes zu entdecken.
Zur Feststellung der anatomischen Diagnose übersandten wir
den Processus vermiformis und mehrere Darmstücke Herrn Dr. Marokwald,.
Prosektor am städtischen Krankenhause in Barmen. Seine Untersuchung,
für welche ich ihm auch an dieser Stelle herzlichst danke, ergab, daß die
Darmgeschwüre tuberkulöser Natur waren.
Es liegt also ein Fall von ausgebreiteter Tuberkulose der
Lungen und des Darmes vor, der jedoch, was die Erkrankung
des Darmes angeht, interessant sein und daher seine Mitteilung recht-
fertigen dürfte. Sowohl in pathologisch-anatomischer als auch
in klinischer Hinsicht bietet er Interesse.
Was zunächst die letztere angeht, so bot das klinische Bild bei
Lebzeiten der Patienten absolut keine Zeichen, die auf irgendwelche
Erkrankung des Appendix und des Darmes überhaupt hinzielten. Es
bestand nie Durchfall, nie Schmerz; nie machte Patient irgend-
welche Angaben, welche auf eine Darmerkrankung Bezug hatten. Er
hatte nur in den letzten Tagen etwas Fieber, welches sehr leicht durch
die schwer erkrankten Lungen bedingt sein konnte und auch in Er-
mangelung irgendwelcher anderer Symptome so gedeutet werden mußte,
üebereinstimmend mit unserer Beobachtung möchte es auch Nebel-
THAU, wie er die Güte hatte, mir mitzuteilen, als charakteristisch dar-
stellen, daß „in Fällen schwerster tuberkulöser Veränderung des Darmea
weder Schmerzen noch Durchfälle zu besteben brauchen, daß ferner
das unter solchen Umständen gelegentlich beobachtete Empyem des
Processus vermiformis keinerlei Beschwerden machen muß*'. In ähn-
licher Weise sagt Nothnagel: „Klinisch nehmen die Fälle von Ap-
pendicitis tuberculosa insofern eine eigenartige Stellung ein, als sie
wohl zuweilen eine Perforation und diffuse Peritonitis erzeugen, aber
nur ganz ausnahmsweise das Bild einer auf die Fossa iliaca dextra be-
schränkten Entzündung. Gewöhnlich gehen die Züge der Perityphlitis
in dem Symptomkomplex einer meist chronisch verlaufenden diffusen
Peritonitis unter.**
Es dürfte also immerhin interessant sein, daß solche schwere Ver-
änderungen des Dünndarmes, diese riesige Vergrößerung und Eiterung
des Wurmfortsatzes absolut symptomlos verlaufen und nicht einmal den
Verdacht einer Erkrankung aufkommen lassen.
Ein Fall von Tuberkulose des Wurmfortsatzes. 227
Was nun die anatomische Seite des Falles angeht, so scheint
es recht selten zn sein, daß bei tuberkulöser Verände-
rung des Appendix das Goecum nicht mitergriffen wird.
Riedel schreibt mir: „Ich sah noch nie isolierte Appendicitis tuber-
cnlosa; stets war das Goecum miterkrankt, wodurch die Prognose sehr
verschlechtert wird, zumal die Resektion des Goecums oft mit Fistel-
bildung resp. Rezidiv endet/ Ist auch im vorliegenden Falle der
Dünndarm noch ergriffen, so dürfte es doch merkwürdig sein, daß bei
solch ausgebreiteter Tuberkulose des Jejunums und Ileums, ferner des
Appendix das Goecum gänzlich verschont blieb.
Im großen und ganzen ist die tuberkulöse Erkrankung des Ap-
pendix nicht sehr häufig. Fbnwick und Dodwell untersuchten
2000 Leichen von Phthisikern und fanden nur 27mal tuberkulöse
Ulcerationen im Processus vermiformis. Beschäftigt man sich etwas
eingehender mit den anatomischen und physiologischen Verhältnissen
des Appendix, so sollte man glauben, daß gerade der Wurmfort-
satz in erster Linie schädlichen Einwirkungen und auch der Tuber-
kulose erliegen müsse, weit eher als der übrige Darm. Es ist kaum
einzusehen, warum er den Tuberkelbacillen nicht öfter zum Opfer fällt
Nothnagel sagt unter anderem: „Mit einem Worte: nicht besondere
spezifische Krankheitsursachen bedingen die Scolicoiditis und ihre
Folgen, sondern die dem Appendix speziell angehörigen anatomisch-
physiologißchen Verhältnisse ermöglichen es, daß Faktoren, die in
anderen Darmabschnitten unschädlich sind, hier zu schweren Folge-
zuständen führen.** N. hebt auf Grund der Forschungen englischer und
amerikanischer Autoren als besonders disponierend den großen Reich-
tum des Organs an adenoidem Gewebe hervor und vergleicht den
Wurmfortsatz geradezu mit den Tonsillen. In ähnlicher Weise
spricht Sahli von einer „Angina des Wurmfortsatzes". Eine
wesentliche Unterstützung erfährt diese Ansicht durch die Beobachtung
RiB BERTS, daß vom 30. Jahre ab die Follikel im Appendix schwinden :
in der Tat liegen die meisten Erkrankungen des Wurmfortsatzes in
der ersten Lebenshälfte.
Nun wissen wir, wie leicht sich in den Krypten der Tonsillen
Bakterien ^häuslich niederlassen" können. Es ist daher höchst merk-
würdig, daß die Tuberkelbacillen, die nach diesen Ausführungen für den
Proc. vermiform. gewiß noch gefährlicher sein müßten als für den übrigen
Darm, von jenem aus ihre verheerende Wirkung nicht öfter entfalten.
Die durch das in unserem Falle beschriebene kurze Mesenteriolum be-
bedingte Einschränkung der ohnehin schon geringen Peristaltik des
Wurmfortsatzes könnte die ruhige, ungestörte Entwickelung der Tuber-
kulose noch begreiflicher machen.
Sehen wir für einen Augenblick von den Kotsteinen ab, so hat die
Ansicht, daß Fremdkörper die Appendicitis veranlassen, ja im großen
15*
228 Max Bohr,
und ganzen wenig Vertreter mehr. Ich glaube aber, daß auch der
Anwesenheit von Eotsteinen im Appendix als Ursache der Scolicoi-
ditis noch eine zu große Bedeutung beigelegt wird. Ich möchte sie
jedenfalls dem ^anderen Faktor'' (Nothnagel) unterordnen! Die An-
wesenheit Yon Bakterien und deren Wirkung dürfte wohl ausschlag-
gebend sein. Hat doch Siegel unzweifelhaft nachgewiesen, daß es
eine reine Eokkenperityphlitis gibt! Und daß diese Mikro-
organismen auf den Appendix verhängnisvoller wirken als auf den flbrigen
Darmtraktus, bewirkt, abgesehen von dem Angefahrten, sicherlich auch
der Umstand, daß die Widerstandskraft des Appendix als eines in
Rückbildung begriffenen Organes ohne Zweifel verringert ist.
Einen weiteren Grund bildet die Untersuchung Fowlers über die
Blutversorgung des Wurmfortsatzes (zitiertnach Nothnagel) : ^Nir -
gends sonst im Darm kOnnen so leicht vaskuläre und damit Ernährungs-
störungen zu Stande kommen, wie im Wurmfortsatze. Denn es besteht
hier eigentlich eine terminale Blutversorgung, indem die ganze Ernährung
durch einen Zweig der A. mesenterica vermittelt wird.^ Zwar soll nach
Untersuchungen von Breuer, angestellt auf Veranlassung Nothnagels,
die Blutversorgung des Appendix nicht gerade eine terminale sein, aber
auch Breuer kommt zu dem Ergebnis, daß der Proc. vermiform. in
Bezug auf Blutversorgung den übrigen Darmteilen gegenüber „zweifel-
los im Nachteil'^ ist. Daß die infolge schlechter Ernährung herab-
gesetzte Widerstandskraft einer Erkrankung Vorschub leistet, ist ein-
leuchtend.
Um so sonderbarer muß es nach diesen Ausführungen wieder er-
scheinen, daß die Darmtnberkulose gewöhnlich nicht vom Appendix ihren
Ausgang nimmt Die bei den Sektionen gemachte Erfahrung, der sich
auch Riedel anschließt, daß die Appendicitis tuberculosa nur selten vor-
kommt, und wie Nothnagel sagt, isoliert fast nie gefunden worden
ist, scheint mit den Ergebnissen der anatomisch-physiologischen Unter-
suchungen fast in Widerspruch zu stehen. Jedenfalls dürfte es nicht
leicht sein, dieses Rätsel zu lösen!
Dem Praktiker zeigt mein Fall wieder, welche Vorsicht bei der
Beurteilnng von Lungenkranken geboten ist Man sieht, wie selbst so
weit ausgebreitete, zerstörende Prozesse im Darme symptomlos ver-
laufen können, wie wir denn auch immer wieder erfahren müssen, daß
es ganz and gar nicht in unserer Macht steht, eine sichere Prognose
bei Phthisis pulmonum zu stellen.
Zum Schlüsse möchte ich nicht verfehlen, meinen sehr verehrten
Chef Herrn Dr. Köhler für die Ueberlassnng des Falles meinen Dank
auszusprechen.
Ein Fall von Taberkulose des Wurmfortsatzea
229
Literatur.
1) Nothnagels Handbnch: Die Erkrankungen des Darmes und des Peri-
toneums.
2) BiBDSL, Die Eesnltate der Appendicitisoperationen in Jena während
des letzten Semesters. Münch. med. Wochenschr., 1903, No. 47.
3) Sahli, Ueber das Wesen und die Behandlung der Perityphlitis. Korre-
spondenzbl. f. Schweizer Aerzte, 1892.
4) Bjbbbrt, Beiträge zur normalen und pathologischen Anatomie des
Wurmfortsatzes. Virchows Archiv, Bd. 82.
5) SiBOBL, Die Appendicitis und ihre Komplikationen. Mitteil. a. d. Grenz-
■ " ■ ^ ~' 1, 1896.
Perforation
geb. d. Med. u. Ghir., Bd.
6) Fbnwick und Dodwbll,
Lancet, 1892, July.
of the intestines in phthisis.
Aus der chirurg. Abteilung des städt. Krankenhauses Moabit zu Berlin
(Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. Sonnenbürg).
Nachdruck yerboten.
XIL
Ueber Perityphlitis,
mit besonderer Berücksichtigung
der Leukocytose.
Zweite Mitteilung:
Begrenzte eiterige Peritonitis.
Von
Dr. A. Federmann,
Assistenzarzt.
(Hierzu 19 Kurven im Texte.)
Ich habe in meiner ersten Mitteilung über den gleichen Gegen-
stand die Leukocytose bei freier fortschreitender Wurmfortsatzperitonitis
auf Grund von 21 Fällen genauer abgehandelt. In der vorliegenden
Arbeit werde ich alle die Formen eiteriger Perityphlitis besprechen,
bei denen die begleitende Peritonitis entweder von vorneherein den
Charakter der Begrenzung an sich trägt oder diesen im weiteren
Verlauf annimmt. Jene leichten Formen von Perityphlitis, die ohne
Beteiligung des Peritoneums oder lediglich mit einer serös-fibrinösen
Exsudation einhergehen (Appendicitis simplex nach Sonnenburg),
werde ich nur insoweit erwähnen, als sie im Anfall operiert worden
sind. Auf eine ausführliche Besprechung aller einfachen Entzün-
dungen, die erst exspektativ behandelt und nach Wochen im Intervall
operiert wurden, kann ich in dieser Arbeit aus Mangel an Raum nicht
eingehen.
Je nach der verschiedenen Art der Begrenzung der peritonealen
Entzündung unterscheide ich
a) eine Peritonitis mit völliger Abkapselung (einfacher
perityphlitischer Absceß bei Append. perforativa nach Sonnenburo);
1) Die vorliegende Arbeit bildet die Fortsetzung und Ergänzung meiner
früheren Arbeit über Leukocytose bei diffuser Wurmfortsatzperitonitis
(Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 12, Heft 2). Das Meiste,
was ich dort auseinandergesetzt habe, muß ich hier als bekannt voraus-
etzen, um längere Wiederholungen zu vermeiden.
A. Federmann, Ueber Perityphlitis. 231
b) eine Peritonitis mit teilweiser mehrfacher Abkap*
seiung (progredient fibrinös-eiterige Peritonitis).
Eigentlich stationär ist nur die erste yon beiden, während die
2weite zu den progredienten Formen zählt. Wenn wir diese trotzdem
in dieser Arbeit abhandeln, so geschieht es deshalb, weil wir häufig
ihre Entwickelung aus einer gut begrenzten beobachten, und weil sie
auch klinisch in ihrem mehr chronischen Verlaufe der zirkumskripten
Peritonitis näher liegt als der diffusen. Man kann sie als Zwischenstufe
zwischen dem eigentlichen perityphlitischen Absceß und den yon vorne-
herein frei fortschreitenden Peritonitiden auffassen.
Wenn wir hiermit einer Einteilung aus praktischen Gründen das
Wort reden, so dürfen wir doch nie vergessen, daß ein prinzipieller Unter-
schied der verschiedenen Formen von Perityphlitis nicht besteht, viel-
mehr daß es Unterschiede lediglich gradueller Natur sind, die durch unsere
Einteilungen hervorgehoben werden. Wir müssen stets bemüht sein,
die mannigfachen anatomischen und klinischen Bilder, welche die Krank-
heit in ihrer wechselnden Intensität und ihren verschiedenen Stadien
darbietet, von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus zu beurteilen.
Dieser Gesichtspunkt findet seine Grundlage in der Schwere der In-
fektion einerseits und der Reaktionskraft des Organismus andererseits.
Das Resultat dieser Wechselwirkung wird bei den peritonealen Entzün-
liungen durch die Begrenzung, die das Exsudat erfährt, dargestellt
Deshalb ergab es sich als das Natürlichste, die verschieden starke Be-
grenzung des Exsudates gegen die freie Bauchhöhle zum Einteilungs-
prinzip zu erheben. Der Organismus hat in jedem Falle die Neigung,
«ine Begrenzung der Entzündung herbeizuführen; je gutartiger die In-
fektion ist, desto leichter gelingt ihm dies. Ist der Organismus nicht
im Stande, der Entzündung Herr zu werden, so kommt es zu einer nur
teilweisen oder gar keiner Abkapselung. Es hängt also der Grad der
Begrenzung und damit der günstige Ausgang der peritonealen Entzün-
dung lediglich davon ab, daß die Infektionsintensität eine gewisse Höhe,
die für den Organismus eine überwindliche ist, nicht überschreitet.
Dieser Wert ist in jedem einzelnen Falle ein verschiedener und setzt
sich zusammen aus einer Summe zahlreicher Einzelfaktoren. Diese Fak-
toren sind einerseits die verschiedene Affektion des Wurmfortsatzes,
seine Lagebeziehung zu den übrigen Organen, das Vorhandensein oder
Fehlen von Adhäsionen etc., andererseits vor allem die Qualität und
Quantität des Infektionsmateriales. Eine entscheidende Bedeutung kommt
einem einzelnen von ihnen nicht zu, wenn auch selbstverständlich jedes
Moment von großer Wichtigkeit ist.
Bevor ich auf das Verhalten der Leukocytose bei den verschiedenen
Verlaufsarten einer völlig begrenzten und teilweise begrenzten Peri-
tonitis näher eingehe, werde ich in einem getrennten Abschnitte alle
die Fälle besprechen, die in den ersten 2V2 Tagen der Erkrankung
232
A. Federmann,
operiert worden sind. Da diese Gruppe, die ich mit „Frühstadien*' be-
zeichne, Fälle der verschiedensten Dignität enthält, möchte ich an ihrer
Hand auf die Fnige eingehen, ob und inwieweit das Verhalten der
Leukocyten im Beginne der Erkrankung eine Bedeutung beanspruchen
darf. Es erscheint mir eine gesonderte Erörterung gerade dieses Punktes
im gegebenen Augenblicke zweckmäßig, wo das Thema Frühoperation
oder konservative Behandlung an der Tagesordnung steht.
Am Schlüsse der Arbeit sei es mir gestattet, in Kürze unsere
Ansicht über den Wert der Leukocytenzählung, wie wir sie jetzt nach
einem Beobachtungsmaterialevon ca. 300 Fällen gewonnen haben, zu-
sammenzufassen.
FrUistadlen.
(Fälle verschiedener Dignität.)
Von den ca. 350 Fällen von Perityphlitis, die in den Jahren 1902—1903
im Krankenhaus Moabit zur Beobachtung kamen, wurden gegen 40 Fälle
in den ersten 3 Tagen der Erkrankung operiert. — Von diesen sind
für die vorliegende Betrachtung 17 Fälle brauchbar. 15 Fälle müssen der
freien, fortschreitenden Peritonitis zugerechnet werden und sind dann
bereits in meiner ersten Publikation besprochen. Bei dem Reste ist
entweder die Leukocytenzahl nicht festgestellt, oder die Erkrankungs- '
dauer ist eine unsichere.
Von unseren 17 Frühoperationen ist 1 Fall, der 8 Stunden nach
Beginn der ersten Symptome operiert wurde, gestorben. Dieser Fall
war kompliziert durch eine Gravidität im 5. Monat; ich komme weiter
unten nochmals darauf zurück. Alle übrigen Fälle sind geheilt.
Von den 17 Fällen wurden operiert am
Krankheitstag: Zahl der Fälle:
1. 5
2. 8
3. 4
Ich lasse in der folgenden Tabelle die Fälle, nach der Zeitdauer
zwischen Erkrankung und Operation geordnet, folgen:
a) Innerhalb der ersten 24 Stunden operierte Fälle.
673
Name
UDd
Alter
Dauer
zwischen
ErkraDkg.
u. Operat
i'2
■^§
Klinischer
Befand
Operationsbefand
Saiomon
32-jähr.
1. AnfaU
8 Stund.
15000
39,4
112
Gravid, im 5. M.
Enorm. Druck-
empfindlichkeit
r. u. — Starker
Meteorism. Qr.
Unruhe, üebr.
Leib unempfdL
Flankenschnitt r. — Starke
Durchtrankung. Dünn-eitr.
freies Exsud. — Ovarium u»
Darm liegt vor. W.-F. li^
verwachs, nach med. u. unt.
Ist umgeb. v. stink, fr. Eit.^
etwa 1 Eßl. — W.-F. perfor.
u. gangr. — Abort am nächst.
Tg. — Exi t am 5. Tg. an Perit.
Ueber Perityphlitis.
233
Name
and
Alter
Dauer
zwischen
Erkrankg.
u. Operat.
^-a
^'
&
Klinischer
Befund
Operationsbefand
2.
3.
Lutomski
23-j.
2. Anfall
Brewke
24-].
1. AnfaU
Krebe
54-j.
1. An&U
Steinke
19.j.
3. Anfall
24 Stund. 19000
24 Stund.
16 Stund.
16 Stund.
20000
30000
20000
37,6
37.6
88
38,2
132
39.0
140
Starke Bauch-
deckeuspanng.
Hochgradiger
Schmerzpunkt
r. u. Ldnks frei
Unterleib stark
gespannt. R. u.
hochgradige
Empfindlichkeit
Linke Seite frei.
Reichliches Er-
brechen
Verfallenes Aus-
sehen. Zunge
trock. Schüttel-
frost. Erbrechen.
R. u. sehr em-
pfindlich
Schwerkranker
Eindruck. Leib
hart, nicht auf-
getrieben. R. u.
hochgradiger
Schmerzpunkt
Etwas freies seröses Exsudat
W.-F. m. Fibrin bedeckt, em-
pyemart erweit, euth. Eit;
an d. Schleimhaut beginnende
Gangr. Leichte Verwadisg.
am W.-F. Heilung
Einige Tropf, serös. Ezsud. —
Darmschi. nire. verkl. W.-F.
deichf. frei, U) cm lang, mit
Fibrin bedeckt Hochgradig.
Emp., stark gespannt, Serosa
schwarzgrün verfärbt Keine
Perf. Frei flottierend. Heiig.
Einige Tropfen serös. Exsud.
Darmschi. nirg. verklebt W.-
F. völL frei. —Wand total gan-
gränös. Prall gespannt Emp.,
m. Fibrin bedeckt Keine Per-
foration. Mesenterioium teil-
weise nekrotisch. Heilung
1 TeeL trüb-serös. Flüssigkeit
W.-F. nach unt geschaffen,
außerord. verwachs., m. Netz
überd., 10 cm dick, daumen^
dick prallgesp.. Wand gan-
gränös. Heilung
b) Am 2. Krankheitstage operierte Fälle.
6.
Kalten-
thaler
26^j.
2 Tag
13 000
37.1
88
7.
Botmann
56.J.
1. Anfall
48 Stund.
15000
37,1
90
8.
3. AnMl
48 Stund.
28000
38,6
116
9.
Pelikan
19-j.
3. AnfaU
44 Stund.
160001
39,2
120
10.
Würfel
27-j.
3. AnüJl
30 Stund.
120001
38,1
96
10 Tag
13000
37,0
80
Leib weich. R. u.
hochgradig em-
pfinolicL Links
weniger
Leib weich; r.u.
sehr empfindlich.
Links frei
Vor 12 Stunden
starker Schüttel
frost Jetzt stark
schmerzhaft r.u.,
sonst frei
Heute Abd. hoch-
grad. plötzl. Ver-
schlimm. UndtL
Resistr.u. Hoch-
gradig Bchmerzh.
L. etwas empfndl.
Allmahl. Be^nn.
Schwerkr. Emdr.
Leib sehr gesp.
r.u. sehr empfdl.,
aber auch links.
Beiderseits Flan-
kenschmerz
W.-F. stark injiz. u. verdickt.
Schleimh. geschwolL Leichte
Verkleb, d. Darmschlg.. etwas
seröses Exsudat Heilung
1 EßL trüb-serös. Exsud. W.-
F. m. d. Coec. verwachs. ; 5 cm
lg., entzüudl. verdickt, leichte
Fibriubeschl. SchleimJi. stark
hämorrhagisch. Heilung.
Därme leicht fibrinös belegt,
etwa 1 Teel. trüb-eit Flüssigk.
Leichte Verkleb. W.-F. 7 cm
lang. Serosa verfärbt In d.
Mitte feine Perf orationsöff.,
aus d. Eit kommt Heilung
W.-F. median fest auf den
Gefäßen fixiert Aus d. Tiefe
quillt reichlich freier Eiter.
W.-F. 8 cm lang, stark ver-
dickt; enthält eine Perforation.
Sdileimh. nekrotisch. Heiig.
Freier Darm liegt vor. Keine
Verkleb., keine FibrinbeschL
Vom kl. Becken quillt reichL
dick, stink. Eit W.-F. sehr
stark verwachs, auf der
Beckenschauf., nicht gangr.,
aber perforiert. 6 cm lajag,
Schleimh. nekr. Freier Kotst
Vrwlb.imDougLjlDcis. dnes 5 Eßl. fassenden
Douglasabscesses. Heilung
Urinbö»chwera. 1
234
A. Federmann,
Name
und
Alter
Dauer
zwischen
Erkrankg.
u. Operat.
SS 0
Klinificher
Befund
OperationBbefund .
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
Neu-
meister
33.J.
1. Anfall
Chemnitz
ll.j.
1. Anfall
Franz
13-j.
2. Anfall
48 Stund.
20000
48 8tund.
36 Stund.
22 000
20000
38
100
36.6
38
120
Ikter. Meteorism.
Schlechter All-
reineindruck.
u. sehr em-
pfindlich; Besi-
stenz r. u.
Leib nicht auf-
getrieben. R u
derbe Stelle, die
sehr empfdl. ist.
Uebr. Leib frei,
Schwerkranker
Eindruck.
Außerordentlich
schmerzhafte
Steller. u. Uebr.
Leib frei
Freier Darm. Nach oben zu
lock, b^renzt 1 Eßl. Eiter.
W.-F. liegt an der Parietal-
serosa nach ob. zu stark ver-
wachs. Nach d. kl. Beck, zu
lieft gldchf. locker begrenzt
1 EßL Eiter. W.-F. gangr&n.
2mal perforiert
Etwas trfibes Elxsudat 4 cm
lang, gangränös. W.-F. li^
vor. Mit Netz verwachsen.
Enthalt im Innern kotig-eit
Flüssigkeit. Heilang
Coecum liegt vor. W.-F. mit
d. Hinterwd. d. Ck)ecum8 sehr
dicht verwachs., ist 5 cm lang,
an der Kuppe gangranöe;
diese ist perfor. u. ragt in d.
Eiterherd. Aus d. kl. Beck,
quillt freier übelriech. Eiter,
etwa 3 Eßl. Heilung
Kittich
21.j.
2. Anfall
Sprengel
16-j.
3. AnfaU
Hamann
22-j.
Richter
lO-j.
1. Anfall
c) Am 3. Krankheitstage operierte Fälle.
2 Tag
3 Tag
40 Stund.
3 Tag
3 Tag
27, Tag
17 000
19 000
26000
25 000
26000
28000
38,1
38,4
38,8
38
100
37,5
72
38
132
Abdomen etwas
aufgetrieb., r. u.
sehr empfindlich.
Links weniger
Starke Schmerz-
haftigkeit r. u.
Uebr. Leib frei
Leib überall
empfindlich, be-
sonders r.
Beiderseits Flau
kenschmerz
Leib stark ge-
spannt. R. ober
sehr empfindlich.
Links wenig.
Ikterus. Apatnie
W.-F. li^ vor, etwas ver-
wachs., mit Fibrin bedeckt,
völlig gangränös. Die Darm-
schlingen etwas fibrinös ver-
klebt, wenig trüb. Elxsudat
Heilung
Append. stark adhar. Wenig
freies, trübes Sekret W.-F.
mit Fibrinbeschlä^. bedeckt,
feine Perforat Heilung
1 Eßl. trüb-eitr. Flüssigkeit,
nach unten zu locker verkL
W.-F. mit Fibrin bedeckt,
6 cm lang, teilw. gangränös.
Heilung
Freier fibrinbelegt. Darm liegt
vor. Ueberall freies, trüb-
seröses Exsudat W.-F. gan-
gränös u. perforiert unt der
Leber. Um ihn herum 1 EßL
jauchiger Eiter u. freier Kot-
stein. Heilung
Ehe ich auf mein eigentliches Thema, das Verhalten der Leukocytose
im Beginn der Perityphlitis, eingehe, halte ich es für zweckmäßig, einen
pathologisch-anatomischen Punkt kurz zu besprechen, dessen Erörterung
sowohl für diese Frage von Wichtigkeit ist als auch für die Genese
des perityphlitischen Abscesses bedeutungsvoll erscheint. Es ist ein-
leuchtend, daß gerade Frühstadien den wertvollsten Aufschluß in dieser
Richtung zu geben im stände sein werden.
Es geht aus einer Durchsicht der Operationsbefunde in obiger
Ueber Perityphlitis. 235
Tabelle hervor, daß die Dignität der einzelnen Fälle eine verschiedene
ist. 2mal handelte es sich um eine katarrhalische Appendicitis, 4mal
um ein gangränöses Empyem, das dem Bersten nahe war, aber noch
keine oder unwesentliche Reaktion von Seiten des Peritoneums hervor-
gerufen hatte. In den übrigen 11 Fällen war Gangrän oder Perfo-
ration des Organs oder Beides bereits eingetreten. Ebenso wie die Art
der Affektion des Wurmfortsatzes war auch die Zusammensetzung und
Menge des Exsudats in den verschiedenen Fällen eine verschiedene.
Während in den 4 Fällen von gangränösem Empyem selbst nach 24 Stunden
kaum einige Tropfen klarer Flüssigkeit sich in der Bauchhöhle vorfanden,
konnten in der Mehrzahl der übrigen Fälle bereits mehrere Teelöffel
Eiters entleert werden. Dieser Umstand findet seine Erklärung in der
verschiedenen Intensität und Dauer der Erkrankung.
Eine völlige Begrenzung des eiterigen Exsudats wurde nur in sehr
wenigen Fällen konstatiert. Dasselbe lag vielmehr meist frei zwischen
den gar nicht oder nur locker verklebten Darmschlingen. Nahezu
bei allen Fällen des 2. und 3. Krankheitstages wurde in einem großen
Umfang um den eiterigen Herd herum trübe seröse Flüssigkeit frei
zwischen den Darmschlingen vorgefunden. Man hatte den Eindruck
einer freien Peritonitis. Trotzdem ist es in hohem Grade wahrschein-
lich, daß die Mehrzahl dieser Fälle auch ohne sofortigen Eingriff zur all-
mählichen völligen oder teilweisen Begrenzung gekommen wäre. Wenn
wir alle diese Befunde als freie, fortschreitende Peritonitiden auffassen
wollten, dann müßten nahezu alle Frühstadien in diese Klasse ge-
zählt werden, denn — und damit kommen wir auf den Hauptpunkt
unserer Erörterungen — wir müssen es als Regel auffassen lernen,
daß in vielen Fällen von eiteriger Perityphlitis das eiterige oder nicht
eiterige Exsudat im Beginn ein diffuses ist und erst im
weiteren Verlauf zu einem begrenzten wird. Ich bin der
Meinung, daß auch in solchen Fällen, wo später eine Abkapselung ein-
tritt, sehr häufig im Beginn eine diffuse Entzündung besteht in einem
Umfange, der von der Intensität der Infektion abhängt, stets aber ein
weit größeres Gebiet betrifft, als der später zur Ausbildung kommende
Absceß umfaßt.
Diese Infektion eines großen Teils des Peritoneums in den ersten
24—48 Stunden ist die sogenannte „peritoneale Reizung**, die ich
somit als echten Entzündungszustand des Peritoneums auffasse. Die
Zusammensetzung des dabei ausgeschiedenen Exsudats nähert sich um
so mehr der des Eiters, je virulenter das Giftmaterial ist. Da selbst-
verständlich am lokalen Herd die Giftintensität am höchsten sein wird,
je weiter entfernt davon um so mehr abnimmt, so ist es das Natürliche,
daß das Exsudat je näher dem Appendix um so eiteriger, je weiter
entfernt um so klarer ist. Von Anfang an ist jedes Exsudat serös, es
trübt sich um so rascher und in um so größerer Ausdehnung, je
236 A. Federmann,
schwerer die Infektion nnd je stärker die Reaktionskraft des Orga-
nismus ist Je früher man operiert, desto dünnflüssiger und spärlicher
wird also das Exsudat sein, wir können aber nicht warten, bis es ver-
eitert ist Hand in Hand mit der serösen Exsudation geht eine Fibrin-
ausscheidung seitens des Peritoneums, wodurch die sekundäre Ver-
klebung zu Stande kommt. Je gutartiger ein Exsudat ist, desto mehr
Fibrin wird in der Regel ausgeschieden. Ist durch Fibrinverklebung
ein Abschluß des Herdes gegen die übrige Bauchhöhle eingetreten, so
ist der Prozeß vorläufig beendet
Mit den eben dargestellten Anschauungen stehe ich also nicht
auf Seite derer, die den perityphlitischen Absceß in der Weise entstehen
lassen, daß die Perforation regelmäßig in vorgebildete Adhäsionen oder
durch den vorhergegangenen Reiz verklebtes Gebiet erfolgt, eine In-
fektion der freira Bauchhöhle aber nicht stattfindet Ich glaube viel-
mehr, wie dies auch Moskowicz^) besonders hervorhebt, daß der Ent-
zündungsprozeß im Beginn häufig nicht begrenzt ist, vielmehr diesen
Charakter erst im weiteren Verlauf, manchmal früher manchmal später,
annimmt
Wäre es das Gewöhnliche, daß der perityphlitische Absceß sich in
den vorgebildeten Adhäsionen entwickelt, so erscheint es als verwunder-
lich, daß wir einen derartigen Befund in unseren früh operierten Fällen
kaum jemals haben erheben können. Ja, daß sogar in den Fällen, wo
infolge mehrfacher vorangegangener Anfälle der Wurmfortsatz größten-
teils in Adhäsionen eingebettet lag, trotzdem ein freies trüb-seröses
Exsudat um die Adhäsionen herum vorhanden war. Als besonders
eklatante Beweise dafQr möchte ich aus der Reihe obiger Fälle nur die
unter Nummer 9, 10 und 13 anführen, bei denen eine deutliche Be-
grenzung des Eitcirs, trotz hochgradiger Verwachsungen um den Wurm-
fortsatz, fehlte.
Fall 9 (Pelikan). 44 Stunden nach Beginn der Erkrankung. 8
AnfUUe. Heilung.
R. Flankenschnitt Freies Coecmn liegt vor. Wurmfortsatz fest auf
den Iliakalgefäßen fixiert, ist 8 cm lang, kolbig verdickt, an der Kuppe
perforiert. Aus der Tiefe zwischen teilweise locker verklebten Darm-
schlingen quillt reichlich stinkender Eiter und freies, ti*übes Exsudat. Netz
zieht nach unten.
Fall 10 (Würfel). 1. Anfall. 80 Standen nach Beginn. Heilung.
R. Flankenschnitt. Coecum liegt vor. Von unten her kommen frei
zwischen den Darmschlingen ca. 2 Eßlöffel dicken Eiters; reichlich trüb
seröses freies Exsudat Wurmfortsatz sehr stark in ganzer Ausdehnung
mit der Beckenschaufel verwachsen; sehr schwierige Lösung, 6 cm lang,
perforiert. Freier Kotstein.
1) MosKOwicz, Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 10.
Ueber Perityphlitis. 237
Fall 18 (Franz). 2 Anfälle. 86 Standen nach Beginn. Heilung.
B. Flankenschnitt. Peritoneam mit Darm verwachsen. Goecum liegt
vor. Aus dem kleinen Becken kommen etwa 50 ccm übelriechenden Eiters
frei zwischen den Darmschlingen hervor. Der Wurmfortsatz ist mit der
Hinterwand des Coecums so dicht verwachsen, daß er mit der Schere ge-
löst werden muß. Er ist 5 cm lang; an der Kuppe gangränös und perforiert
Dieselbe taucht frei in den Absceß. In der Kuppe ein Kotstein.
Deshalb sind wir zu der Anschauung gekommen, daß den Adhäsionen
um den Wurmfortsatz nur eine geringe Bedeutung für das Zustande-
kommen einer begrenzten oder nicht begrenzten Eiterung zuzuschreiben
ist. Schon die einfache Ueberlegung sagt uns auch, daß ein sehr
dichtes Adhäsionsnetz dazu gehört, um jeden Austritt an freier Stelle
zu verhüten; derartige dichte Verwachsungen gehören aber zu den
größten Seltenheiten.
Auch die Möglichkeit, daß, noch bevor die eigentliche Perforation
eintritt, um den Wurmfortsatz herum, infolge Durchwanderung von Bak-
terien, entzündliche Verklebungen entstehen, die einen Abschluß gegen
die freie Bauchhöhle ergeben, scheint mir nicht die Regel zu bilden
oder wenigstens nur bei langsamer verlaufenden Prozessen vorzukommen.
Man vergegenwärtige sich nur die beiden Operationsbefunde von gan-
gränösem Empyem (Fall 3 und 4) in obiger Tabelle. In diesen beiden
Fällen fanden sich trotz 24-8tündigen Bestehens eines schwer gangränösen,
dem Durchbruch nahen Empyems, bei der Operation weder Exsudat
noch Verklebungen in der Bauchhöhle. Der Wurmfortsatz flottierte
vielmehr völlig frei; die nahe bevorstehende Perforation wäre unfehlbar
in die freie Bauchhöhle erfolgt Aus diesen beiden Befunden geht hervor,
daß selbst 24 Stunden bestehende schwerste Entzündung im Appendix,
die sogar schon auf die Serosa übergegriffen hat, nicht derartige Ver-
änderungen in der Umgebung hervorzubringen braucht, daß eine ein-
tretende Perforation in einen begrenzten Raum erfolgt. Daß es anderer-
seits Fälle gibt, bei denen infolge langsamer Usur der Wand vor dem
eigentlichen Durchbruch Verklebungen in der Umgebung sich bilden,
die eine Allgemeininfektion verhindern, wollen wir keineswegs bestreiten.
Es wird aus den Erörterungen in den folgenden Abschnitten hervor-
gehen, daß unsere eben mitgeteilte Auffassung des pathologisch-ana-
tomischen Vorganges die beste Erklärung für den klinischen Verlauf und
das Verhalten der Leukocyten bei schweren akuten Perityphliden darstellt.
Gemäß der verschiedenen anatomischen Dignität unserer 17 Fälle
waren auch die klinischen Symptome wechselnder Natur. Die
Indikation, die uns bestimmte, diese Fälle sofort zu operieren, wurde
dorch das Gesamtbild gegeben. Wir hatten die Ueberzeugung einer
schweren Perityphlitis, deren Verlauf unberechenbar war. Wie der
Befund zeigte, war die Diagnose in allen, mit Ausnahme von 2 Fällen
238 A. Federmann,
(Fall 6 u. 8), die richtige gewesen ; in diesen beiden bestand der Verdacht
einer Gangrän, es fand sich aber eine Appendicitis simplex.
Die Symptome, die für uns für die Diagnose einer schweren Affek-
tion des Wurmfortsatzes in den ersten 48 Stunden vor allem von Be-
deutung erscheinen, sind neben dem schweren Allgemeineindruck vor*
züglich solche lokaler Art Von letzteren erscheint als das Bedeutungs-
vollste, auf das Sonnenburo längst hingewiesen hat, die hochgradige
zirkumskripte Empfindlichkeit in der rechten Unterbauchgegend, deren
Vorhandensein wir in unseren Fällen niemals vermißten. Dem Verhalten
der Temperatur kommt eine geringere Bedeutung zu, während eine
hohe Pulsfrequenz stets zur Vorsicht mahnt. Wer über ein größeres
Material verfügt, weiß, daß all diesen Einzelsymptomen kein ausschlag-
gebender Wert beizumessen ist. Es ist vor allem die Beurteilung des
Gesamtbildes, das den Ausschlag gibt.
Aus diesem Grunde kann wohl billiger Weise kaum verlangt
werden, daß eine Untersuchungsmethode, die ja gleichfalls nur eine Re-
aktion des Organismus darstellt, allein das leiste, wozu keine der übrigen
Reaktionen im stände ist. Wenn wir auch der Meinung sind, daß das
Verhalten des Blutes ein sehr feines und vorzügliches Reagens des im
Organismus sich abspielenden Prozesses darstellt, so ist eben damit schon
gesagt, daß es durch außerordentlich zahlreiche Momente beeinflußt wird,
die wir zum Teil gar nicht kennen, und deren Einfluß sich darum auch
bei der Beurteilung unserer Schätzung entziehen wird.
Es wäre ja von außerordentlichem Wert, wenn gerade in dem Früh-
stadium der Erkrankung uns ein Mittel an die Hand gegeben wäre,
das im stände sein würde, alle bisherigen Zweifel der Indikationsstellung
zu heben. Leider stellt auch die neue Untersuchungsmethode der Leuko-
cytenzählung diese ideale Methode nicht dar. Auch in Zukunft wird,
wie die Mehrzahl meiner Voruntersucher angenommen haben, nur die
gewissenhafte Abschätzung und Gegenüberhaltung aller vorhandenen
Symptome uns die Indikation zur Operation stellen lassen. Die Zählung
der Leukocyten kann eine Stütze der Diagnose werden, eine ausschlag-
gebende Bedeutung besitzt sie nicht.
Nach den ausführlichen Darlegungen in meiner ersten Arbeit*) bin
ich der Ansicht, daß die Mehrzahl aller eiterigen Perityphlitiden mit einer
hohen Leukocytose einsetzt, die meist schon innerhalb der ersten 24 Stun-
den entsteht und den Ausdruck der diflFusen Peritonealinfektion darstellt.
Je schwerer die Infektion ist, desto länger bleibt die Leukocytose hoch,
oder sie steigt sogar in den nächsten Tagen noch weiter an, je leichter
dieselbe, desto rascher fällt sie, zugleich mit den übrigen Symptomen,
zur Norm ab. Eine abfallende Leukocytose bei schweren Allgemein-
symptomen bedeutet eine beginnende Allgemeinvergiftung des Körpers,
1) Grenzgebiete für Medizin u. Chirurgie, Bd. 12, Heft 2.
Ueber Perityphlitis.
239
Gehe ich nach diesen allgemeinen Erörterungen zu einer kritischen
Besprechung unserer Resultate über, so erscheint es als das zweck-
mäßigste, unsere Fälle, je nach der Schwere geordnet, in drei Gruppen
einzuteilen.
In die erste Gruppe, die der leichten Fälle, gehören die
Fälle 6 und 7. In Fall 6 handelt es sich lediglich um einen akut ent-
zündeten Wurmfortsatz mit leichter fibrinöser Verklebung und einigen
Tropfen Exsudats in der Umgebung. Es waren 13 000 Leukocyten
gezählt. In Fall 7, bei dem 15000 Leukocyten festgestellt waren, wurde
gleichfalls eine akute Entzündung vorgefunden mit einem Teelöffel trüb-
serösen Exsudats und einem hämorrhagisch infiltrierten Wurmfortsatz.
Beide Fälle befanden sich am Ende des 2. Krankheitstages.
Man muß sagen, daß in diesen beiden Fällen die niedrige Leuko-
cytenzahl ein richtiges Bild der leichten Infektion gegeben hat. Aller-
dings waren auch die übrigen Symptome nicht gerade bedrohlicher Art.
Niedrige Temperatur, niedriger Puls. Das einzige Symptom, auf das
hin wir operierten, und das in beiden Fällen im Stich gelassen hatte^
war die exzessive Empfindlichkeit in der Ileocökalgegend.
Die zweite Gruppe umfaßt 4 Fälle von gangränösem Empyem
des Wurmfortsatzes [Fall 2, 3, 4 ^), 5J, die in der folgenden Tabelle zu-
sammengestellt sind.
No.
der
FäUe
Name
Dauer
des
Bestehens
Leuko-
cytenzahl
Temger.,
Operationsbefund
2
3
4
5
Latomski
Brewke
Krebe
SteiDke
24Std.
24 Std.
16 Std.
16 Std.
19000
20000
30000
20000
37,6
68
37,6
88
38,2
140
39,6
140
Empyem des W.-F., mit b^innen-
der Gangrän der ächleimhaut.
Frei. Etwas seröses Exsudat.
Gangränöses Empyem des W.-F.
Frei flottierend. Kein Exsudat.
Keine Verklebungen.
Gangränöses Empyem, vor der Per-
foration stehend. Frei. Keine
peritonealen Entzündungen.
Gangränöses Empyem, vor der Per-
foration stehend. Stark verwach-
sen. 1 Teelöffel trübes Exsudat.
Sämtliche Fälle befanden sich noch innerhalb des ersten Krankheits-
tages. Die Diagnose stützte sich in erster Linie auf die außerordentlich
zirkumskripte Empfindlichkeit in der rechten Unterbauchgegend, da die
übrigen Symptome, vor allem Puls und Temperatur, zum Teil sehr
schwankender Natur waren.
1) Fall 3 und 4 sind ausführlich bereits in meiner ersten Arbeit mit-
geteilt.
A. Federmann,
Es geht aus der Betrachtung dieser 4 Fälle hervor, daß selbst ein
noch auf den W.-F. beschränkter Prozeß mit unseren bisherigen Hil&-
mitteln bereits sehr frühzeitig als schwerer diagnostiziert werden kann«
Es muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß hier das Blutbild
einen der Intensität des Prozesses völlig entsprechenden Ausdruck zeigte
und daß, obgleich weder Temperatur noch Peritoneum irgend eine Re-
aktion darboten, doch die hohe Leukocytose einen Fingerzeig gab fflr
die Schwere des sich abspielenden Prozesses (siehe Fall 3). Gleichzeitig
liefern diese Fälle den Beweis dafür, daß Leukocytose und Bauchfell-
exsudation nicht Hand in Hand gehen.
In der dritten Gruppe befinden sich alle diejenigen Fälle, bei
denen die Affektion des W.-F. in einer Perforation oder Gangrän be-
stand, und im Peritonealraum bereits eiteriges Exsudat vorhanden war.
In ganz wenigen Fällen war das Exsudat noch trüb-serös.
Ich stelle der Uebersicht halber diese 11 Fälle, nach der Dauer ihres
Bestehens geordnet, nochmals kurz in einer Tabelle zusammen.
No.
des
FaUes
Name
Dauer
des
Bestehens
Leuko-
cytenzahl
Temper.,
Puls
Operationsbefund
1
Balomon
8 Stdn.
15 0001
38,1«
112
W. F. gangränös und perforiert
2 Eßlöffelfiiter und trüb-seröse
Flüssigkeit
10
Würfel
30 ,
120001
38,1«
96
W. F. perforiert und gangränös.
Freier Eotstein. 2 Efil. Eiter u.
trübes Exsudat Douglasabsoeß
9
Pelikan
44 ,
160001
39,2«
120
W. F. perforiert. Reichlich freier
Eiter
13
Franz
36 „
20000
38«
120
W. F. perforiert und gangränös.
3 Eßlöffel übekiechender Eiter
12
Chemnitz
48 r,
22 000
36,6«
88
W. F. völlig gangränös. Trübes
Exsudat
11
Neumeister
48 ,
20000
38«
100
W. F. perforiert und gangränös.
2 teilweise begrenzte, reichliche
Eiteransammlungen
8
Murcyn
48 „
28000
38,6«
116
W. F. perforiert 1 Eßlöffel trüb-
eiterige Flüssigkeit
16
Hamann
3 Tage
26000
37,5
72
W. F. in der Kuppe gangränös.
1 Eßlöffel trüb-eiteriges Exsudat
15
Sprengel
3 «
25000
38«
100
W. F. perforiert Etwas trübes
Exsudat
17
Richter
3 .
28000
38,4«
132
W. F. gangränös und perforiert
Freier Kotstein. 2 Eßl. dicken
Eiters unter der Leber. ReicMcb
trübes Exsudat
14
Rittich
3 .
19000
38,4«
W. F. total nekrotisch. 2 Eßlöffel
trübes Exsudat
Aus einer Durchsicht dieser Tabelle geht hervor, daß die Tempe-
ratur und die Pulsfrequenz durchaus schwankend waren, und daß selbst
Ueber Perityphlitis. 241
bei dem schwersten Befund ganz normale Zahlen konstatiert wurden.
Wir müssen demnach im Beginn der Erkrankung dem Befund einer
normalen Temperatur und eines niedrigen Pulses ausschlaggebende
Bedeutung in Hinsicht des Fehlens von Eiter absprechen. Es kann
nicht oft und nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, daß bei
völlig normalem Puls und Temperatur die schwersten Veränderungen
angetroffen werden können. Aus dieser Tabelle geht aber des weiteren
hervor, daß nahezu in allen Fällen, entsprechend ihrer Schwere, eine
hohe Leukocytose von 20000 und darüber vorhanden war. Noch
detailliertere Zahlenangaben zu geben, halten wir für zwecklos. Da wir
dieses Verhältnis als das unseren Anschauungen entsprechende be-
trachten, so hätten wir dieser Tatsache nichts weiter hinzuzufügen,
wenn nicht Ausnahmen von dieser Regel vorkämen. Gerade auf diese
Ausnahmen will ich, weil ihre Kenntnis eine sehr wichtige ist, be-
sonders eingehen.
Betrachten wir die Zahl 20000 als eine hohe und dem schweren
Prozeß gemäße, so finden sich in obiger Tabelle 3 Fälle, bei denen eine
verhältnismäßig niedrige Leukocytenzalil festgestellt wurde (Fall 1, 10, 9).
In diesen Fällen kontrastierte die niedrige Leukocytenzahl auf-
£Edlend mit den schweren übrigen Allgemeinerscheinungen. Es fand
sich ein so deutlicher in die Augen springender Kontrast, daß er kaum
übersehen werden konnte. Und durch diese Kombination erhält die
niedrige Leukocytenzahl ihr besonderes und, wie wir gleich hinzufügen,
prognostisch ungünstiges Gepräge.
Es ist gar nicht möglich, auch ohne Leukocytenzählung nicht auf
den ersten Blick die Schwere dieser Fälle zu erkennen. In solchen
Fällen wird sich kein Arzt in der Diagnose einer schweren Affektion
durch eine niedrige Leukocytenzahl beirren lassen ; das große Interesse
und die außerordentliche Wichtigkeit liegen in prognostischer Hinsicht.
Die niedrige Leukocytenzahl gab im Vergleich mit den sehr schweren
Allgemeinsymptomen uns eine Handhabe, den Zustand als einen sehr
ernsten richtig zu beurteilen. Von den 3 Fällen ist der eine Fall
mit 15000 Leukocyten trotz sehr frühzeitiger Operation gestorben 0.
Ich teile den Fall hier kurz mit, weil er wegen der gleichzeitig
bestehenden Gravidität im 5. Monat von besonderem Interesse ist.
Fall 1. F r a u S a 1 0 m 0 n , 32 J. alt. Erkrankt am 23. Nov. Operiert am
selben Tage, 8 Standen nach Beginn des Anfalls. Gestorben am 29. Nov. 1903.
Die Pat. befindet sich wegen Rheumatismus auf der inneren Abteilung,
ist im 5. Monat gravide. Sie erkrankt mitten im Wohlbefinden nachmittags
1) Diesen Fällen möchte ich noch einen Fall aus der Privatpraxis
von Oeheimrat Sonnbnbüro an die Seite stelleo, wo er kürzlich mit un-
günstigem Erfolg bei einer Leukocytose von 16000 und schweren All-
gemeinerscheinungen am 1. Tage die Laparotomie machte. Es fand sich
eine ausgedehnte eiterige Peritonitis. Exitus am nächsten Tage.
mtWl. a. d. OTMogriiletm d. MadWa a. Ghirorfi«. im. Bd. 16
242 A. Pedermann,
um 3 Uhr mit einem heftigen Schmerz in der Ileocökalgegend. Tempe-
ratur normal. Puls 100. Im Laufe des Nachmittags nahmen die Schmerzen
sehr zu. Abends 8 Uhr besteht 39,4 Temperatur, 112 Pulse und 15 000
Leukocyten. Die Pat macht einen schwerkranken Eindruck. Das Ab-
domen, der Gravidität entsprechend, stark ausgedehnt, überall empfindlich.
In der Annahme einer schweren Gangrän des W.-F. wird abends
9 Uhr operiert (Hbrmbs).
Operation. Typischer Flankenschnitt. Bauchdecken auüerordentlich
schlaff und dünn. Muskulatur kaum vorhanden. Starke seröse Durch-
tränkung der Gewebe. Nach Eröffnung des Peritoneums entleert sich ca.
ein Eßlöffel dünneiterigen, geruchlosen Exsudats. Nach Erweiterung des
Schnittes stellt sich ein hochbläul ichrot gefärbtes Organ ein, welches im
ersten Augenblick den Eindruck der Kuppe des stark geschwollenen und
veränderten W.-E. macht. Bei vorsichtiger Lösung desselben mit den
Fingern entleert sich von neuem etwas dicker, aber geruchloser Eiter.
Nach Lösung ganz zarter Adhäsionen mit der Umgebung erweist sich das-
selbe als das stark geschwollene, bläulichrot verfärbte Ovarium. In der
Annahme, daß möglicherweise von einem ovariellen Absceß die Eiterung
ausgegangen sein könnte, wird das Ovarium mit der Tube, die anscheinend
nicht verändert ist, abgetragen. Die Gewebe sind außerordentlich hoch-
gradig geschwollen, starke Gefäßentwickelung, entsprechend der Schwanger-
schaft. Beim Austasten der freigelegten Wunde fühlt man jetzt bis zu
der Stelle, an der das Ovarium gelegen hatte, herabreichend, die Kuppe
eines länglichen Organes, welches in der Richtung nach oben seine Fort-
setzung nimmt. Schon bei den ersten Palpationsversuchen kommt sofort
der deutliche Geruch des appendicitischen Eiters zur Wahrnehmung. Der
Proc. vermif., um den es sich handelt, wird aus seinen Verwachsungen,
die hauptsächlich sich nach der medialen Seite zu erstrecken, stumpf ge-
löst und vorgezogen. Er zeigt schon äußerlich eine Perforationsstelle und
Gangrän. Abbindung des außerordentlich verdickten Mesenteriolum. Ab-
bindung von Goecum. Mehrfache Uebernähung durch die stark ödematöse
Cökalwand. Die Nahtlinie wird noch durch darüber gelegtes Netz ge-
schützt. Nach sorgfältiger Freilegung der Wunde wird dieselbe durch
breite, ergiebige Schürzentamponade versorgt.
Verlauf. Am nächsten Tage Abort. Die Placenta muß manuell
entfernt werden. Nach anfänglichem günstigen Verlauf ging die Frau
6 Tage nach der Operation an fortschreitender Peritonitis zu Grunde.
Die Leukocytenzahl stieg bis zum Tode dauernd an.
Wir sind der Meinung, daß bei dem endgültigen Ausgang die
durch das Zusammensinken des graviden Uterus veränderten Druck-
verhältnisse im Abdomen eine wichtige Rolle spielten, da dadurch einer
Verbreitung der Peritonitis Vorschub geleistet wurde. Ich lasse die
Kurve des Falles auf der nächsten Seite folgen.
In den beiden anderen Fällen (Fall 9 und 10) kam es
trotz niedriger Leukocytenzahl zur Heilung. Im Fall Würfel
ist der postoperative Verlauf von großem Interesse. Die Leukocytose von
12000, die vor dem Eingriff bestand, blieb auch in den nächsten Tagen
nach der Operation dauernd bestehen. Ein sich bildender Douglasabsceß
dokumentierte sich weder im Verhalten der Temperatur noch in dem der
Leukocytose. Wir nehmen an, daß bereits bei dem ersten Eingriff ein viel
Ueber Perityphlitis. 243
Anmerkung: In allen folgenden Kuiren bedeutet o^^-»o Leukocytenzahli
— • Temperatur, © « Puls.
LeukZcM
Tem/t
Puls
1
ffOOOO
l|
35000
«'
160
30000
♦/'
no
•^ 1.
\
J
'S
^
X5000
w'
120
r
\
/
WOOO
39"
100
.,''
>4
15000
38"
80
X
/^
^1 ».*--
(^
10000
37"
60
^^^^
^
^s/
^
^
5000
36"
W
8S£.
Z
3
4f
5
6
7
Fall Salomon. Operiert nach 8 Stunden. Gravide im 5. Monate. Freier
Eiter. W.-F. gangrande. Abort. Exitus.
leicht eiteriges Exsudat im Douglas vorhanden war, das sich später
lediglich begrenzte, nicht fortschritt. Hätte man mit der Incision noch
einige Tage gewartet, so wäre wahrscheinlich die Leukocytose höher
gestiegen. Ich lasse die sehr interessante Kurve folgen:
leukZeJd
TentfiL
fUls
1
^tOOOO
s
1
s.
35000
«'
160
-1
1
1
-hl
30000
♦/"
no
;§
1
s.
Z5000
*o"
120
1
^
WOOO
39"
100
^
1
15000
38"
80
M.
■o...^
"•-->«.
o-.-..
10000
31"
60
A
^
A
:^
J\
A
A
^
gj^
^
5000
36"
W
r"
7^
tT"
T^
^fi.n
^
30St
3
¥
5
6
7
8
9
10
//-
Fall Würfel. Gangränöses Empyem. Douglasabsceß. Hdlung.
Wir ersehen aus diesen 3 Fällen, daß eine niedrige
Leukocytose in den ersten 2 Tagen uns nicht abhalten
darf, mit dem Messer einzugreifen, da ein glücklicher
Ausgang trotz des Darniederliegens der Reaktion mög-
lich ist. Wir werden weiter unten sehen, daß schon am 3. und 4. Tage
oder noch später eine niedrige Leukocytose bei schweren Allgemein-
symptomen durch eine Operation nicht in günstigem Sinne beeinflußt
wird. Ich komme darauf im dritten Abschnitte dieser Arbeit aus-
führlich zu sprechen.
Fassen wir das Resultat unserer Beobachtungen zusammen, so
können wir über den Wert und die Bedeutung der Leukocytenzählung
16*
244 A. Federmann,
in den allerersten Stadien der Perityphlitis folgendes aus-
sagen :
Jede Perityphlitis, bei der, sei es durch Gangrän oder durch
Perforation, eine intensive resp. eiterige Infektion des Peritoneums
stattfindet, zeigt eine hohe Leukocytose von 20000 und darüber in den
ersten Tagen der Erkrankung. Diese hohe Leukocytose als Ausdruck
der diffusen Peritonealinfektion ist meist am 1. Tage schon vorhanden
und bleibt dann in den ersten 2 — 3 Tagen bestehen oder sie steigt
sogar noch höher. Tritt durch Allgemeinvergiftung ein Nachlassen der
Kräfte des Organismus ein, so sinkt, im Gegensatze zu der Schwere
aller übrigen Symptome, die Leukocytose ab. Je schwerer der Prozeß
ist, desto früher beginnt dieser Abfall. Setzt der Anfall mehr all-
mählich ein, so kann es vorkommen, daß erst am 2. oder 3. Tage eine
hohe Leukocytenzahl konstatiert wird. Im allgemeinen kann man
also behaupten, daß eine Leukocytose über 20000 am 1.,
vor allem aber am 2. und 3. Tage eine spätere Abscedie-
rung voraussagen läßt und insofern eine schwere Infek-
tion bedeutet Eine Appendicitis simplex mit kaum vorhandener oder
fehlender Beteiligung des Peritoneums pflegt in der Regel am 1. Tage eine
Leukocytenzahl unter 20000 aufzuweisen, die in den nächsten beiden Tagen
parallel den übrigen klinischen Symptomen deutlich zurückgeht. Aus-
nahmsweise wird auch bei einer Appendicitis simplex in den ersten
24 Stunden eine Leukocytose von 20000 und darüber konstatiert, dann
handelt es sich gewöhnlich um Empyem des Wurmfortsatzes.
Einen differentialdiagnostischen Wert im Beginne der
Erkrankung besitzt die Leukocytenuntersuchung nur in geringem Maße.
Auch andere peritoneale, besonders gynäkologische Aflfektionen, um deren
Unterscheidung es sich im wesentlichen handelt, gehen gleichfalls in den
ersten Tagen sehr häufig mit hohen Leukocytenzahlen einher^).
Die Indikation zur Frühoperation wird durch das
Verhalten der Leukocyten allein niemals gegeben. Eine
unterstützende Bedeutung ist ihr jedoch nicht abzusprechen. Die aller-
größte Vorsicht bei der Beurteilung der Leukocytenzahl ist besonders
in den ersten 24 Stunden anzuwenden. Finden wir in den ersten
3 Tagen der Erkrankung bei schweren klinischen Symptomen eine
Leukocytenzahl von 20000 und darüber, so ist eine Operation unter allen
Umständen berechtigt; denn es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzu-
nehmen, daß eine schwere Infektion vorliegt. Ob der Prozeß ohne
operativen Eingriff zur Begrenzung kommt oder nicht, kann eine ein-
1) Ich verweise, was die Differentialdiagnose anbetrifft, auf die Aus-
führungen in meiner ersten Arbeit. Zahreiohe Beispiele beweisen, daß
gerade gynäkologische Erkrankungen in den Frühstadien sich kaum leuko-
cytotisch von einer Perityphlitis unterscheiden.
Ueber Perityphlitie. 245
einmalige LeukocjteDzählung nicht entscheiden. Dazu bedürfte es einer
mehrtägigen Untersuchung. Daß in der Tat eine selbst mehrere Tage
anhaltende hohe Leukocytose eine spätere vollkommene Begrenzung
und Resorption nicht ausschließt, dafQr m5gen zum Beweise die mannig-
fachen Beobachtungen im nächsten Kapitel dienen. In einer großen Zahl
dieser Fälle war im Beginne eine zum Teil sehr hohe Leukocytose fest-
gestellt worden, und trotzdem kam es zur Ausbildung eines gut be-
grenzten Abscesses, der sich teilweise sogar völlig resorbierte, so daß
im Intervall operiert werden konnte. Findet sich in den ersten
2 Tagen der Erkrankung eine niedrige Leukocytenzahl bei
schweren klinischen Symptomen, so ist unter allen Um-
ständen sofortige Operation indiciert, weU, wenngleich die
Prognose eine zweifelhafte ist, ein günstiger Ausgang nur durch eine Ope-
ration zu erwarten ist. Findet man in den ersten Tagen der Erkrankung
leichte klinische Symptome und eine Leukocytose unter 20000, so han-
delt es sich um eine einfache Appendicitis und ist abwartende Behand-
lung angezeigt.
In prognostischer Hinsicht ist eine hohe Leukocytenzahl
in den ersten Tagen der Erkrankung ein günstiges Zeichen. Schwere
klinische Symptome und niedrige oder fehlende Leukocytose geben eine
ungünstige Prognose.
Im großen ganzen geht aus dieser Zusammenstellung
hervor, daß der Wert der Leukocytenzählung in den
Frühstadien der Perityphlitis ein geringer ist.
II.
ClrkiimBkrlpte eiterige Peritonitis mit TOlllger Abkapselung.
Perityphlitischer Absceß. Appendicitis perforativa nach Sonnenbürg.
Die eitrige Peritonitis mit vollkommener Abkapselung umfaßt alle
die Fälle, bei denen entweder von vornherein die Infektion in einen
begrenzten Raum hinein erfolgt, oder die erst freie Entzündung im
weiteren Verlauf zu einer begrenzten wird.
In den leichteren Fällen von Perforation, wo derselben bereits einige
Zeit vorher Beschwerden vorangegangen sind, meinen wir, daß durch
Durch Wanderung durch die durchlässige Wand des Appendix eine In-
fektion in der nächsten Umgebung des Wurmfortsatzes eintreten kann.
Der Effekt dieser Kontinuitätsinfektion besteht in einer leichten sero-
fibrinösen reaktiven Ausschwitzung und Durchtränkung des umgebenden
Peritoneums, wodurch auch eine leichte Verklebung des benachbarten
Peritonealraumes herbeigeführt wird. Hierdurch kann, wenn nur spär-
liches und wenig virulentes Material allmählich austritt, eine Infektion
des übrigen Bauchraumes vermieden werden. Das klinische Bild ist in
solchen Fällen kein besonders stürmisches. Erst der Eintritt der wirk-
lichen Perforation pflegt heftigere Erscheinungen zu machen. Auch die
246 A. Federmann,
Leukocytose ist in solchen Fällen in den ersten 24 — ^48 Stunden eine re-
lativ niedrige und beginnt erst vom 3. Tage an sich zu hohen Werten über
20000 zu erheben, um dann einen Verlauf zu nehmen, wie wir ihn weiter
unten ausführlich schildern werden. Ich habe diese Entstehungsweise,
obgleich ich sie für nicht besonders häufig halte, hier erwähnt, weil sie
von interner Seite als häufig angenommen wird (Cürsghmann).
Ich bin der Meinung, daß in den meisten schwereren Fällen von Peri-
typhlitis erst eine diffuse Entzündung vorhanden ist, die später in-
folge fibrinöser Verklebung zu einer begrenzten wird. Wie groß der
Abschnitt der Bauchhöhle ist, der in Mitleidenschaft gezogen wird, hängt
von der Schwere der Infektion, von der Peristaltik und von der Loka-
lisation des Appendix ab. Da die Entzündung in der Nähe des Wurm-
fortsatzes am intensivsten ist, so kommt es nur dort zur Bildung eines
eiterigen Exsudats, während je weiter entfernt davon, das Exsudat um
so klarer sein wird. Der klinische Verlauf entspricht in derartigen
Fällen durchaus unseren anatomischen Vorstellungen und liefert dadurch
eine wesentliche Stütze für unsere pathologisch-anatomische Anschauung.
Diese Fälle beginnen mit shockartigen Erscheinungen, hoher Temperatur,
hoher Pulszahl, hoher Leukocytose, als Ausdruck der diffusen Infektion
eines großen Peritonealabschnittes. In den mittelschweren Fällen pflegt
diese Allgemeinentzündung nach 3—5 Tagen in eine begrenzte über-
zugehen. An Stelle des Allgemeinmeteorismus tritt jetzt eine deutliche
gedämpfte Resistenz in der Ileocökalgegend ; gleichzeitig sind auch oft
Puls, Temperatur, vor allem die Leukocytenzahl, nahezu oder völlig bis
zur Norm herunter gegangen.
Ich habe diese beiden Entstehungsarten ausführlicher geschildert, weil
ich die Kenntnis dieser Vorgänge für sehr wichtig halte und weil sie uns
auch den Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens der Leukocyten geben.
Ich komme nun in folgenden nicht mehr auf diese Frühstadien zurück,
sondern werde mich im Weiteren nur noch mit den späteren Stadien
der begrenzten eiterigen Peritonitis beschäftigen. Wir werden hierbei er-
kennen, daß die Bedeutung und der Wert der Leukocyten-
zählung um so mehr steigt, je weiter entfernt vom Be-
ginn der Erkrankung der Prozeß sich befindet Wir sind
dann auch nicht mehr genötigt, auf eine einmalige Zählung hin unsere
Entscheidung zu treffen, sondern wir können mit Ruhe das Steigen und
Fallen der Leukocytose, also die Leukocytenkurve, beobachten, um da-
nach den operativen Eingriff einzurichten. Allerdings muß zugestanden
werden, daß die Notwendigkeit einer Leukocytenzählung in diesen Spät-
stadien erheblich seltener vorhanden ist, als am Beginn der Erkrankung,
da wir in der großen Mehrzahl der Fälle bereits durch unsere bisherigen
Untersuchungsmethoden im stände sind, eine richtige Diagnose zu stellen.
Immerhin kommen noch genug Fälle zur Beobachtung, wo bei schwan-
kendem klinischen Bild ein weiteres Hilfsmittel sehr erwünscht ist.
lieber Perityphlitis.
247
Ich muß es mir versagen, auf alle die vielen praktisch wichtigen
Kombinationen, die wir beobachtet haben, hier einzugehen, da es den
Bahmen dieser Arbeit bei weitem überschreiten würde. Ich hoffe jedoch,
daß aus den folgenden Mitteilungen der verschiedenen Verlaufsarten
der eiterigen Perityphlitis sich die praktisch wichtigen Gesichtspunkte
von selbst ergeben werden.
Gehen wir auf unser eigentliches Thema, das Verhalten der Leuko-
cytose, ein, so läßt sich ganz allgemein sagen, daß es zwei Verlaufs-
typen einer begrenzten eiterigen Perityphlitis gibt, die zwar im Einzelnen
verschiedene Abweichungen darbieten können, im großen ganzen jedoch
einen typischen Verlauf beibehalten. Diese beiden großen Typen möchte
ich als absteigenden und aufsteigenden Typus bezeichnen.
A. Absteigender Typus.
Die Fälle mit absteigendem Typus, bei denen es mit einer ein-
maligen Infektion ohne weitere Nachschübe abgetan ist,
verlaufen in der Weise, daß die anfänglich mehr oder minder hohe
Leukocytose entweder schon am 3. oder 4. Krankheitstage, oder einige
Tage später zur Norm absinkt, um nun dauernd auf diesem tiefen
Niveau zu verharren.
Ich verfüge über zwei sehr instruktive Beobachtungen, bei denen
es sich mit Sicherheit um eine Perforation und eiterigem Exsudat ge-
handelt hat. Erwähnenswert ist in diesen beiden Fällen, die am 2.
und 3. Krankheitstag in Beobachtung kamen, der sehr bedrohliche All-
gemeinzustand und im Gegensatz dazu die verhältnismäßig niedrige
Leukocytose von 18000. In beiden Fällen war eine Temperatur von
39,2^ und ein Puls von 120 (156) vorhanden, vereint mit einer
hochgradigen Empfindlichkeit der Ileocökalgegend. In beiden Fällen
Kurve
Dobbeling
Kurve Zetssin.
LeukZahl
Jen^t
IhiÜ
1
LeulLZahl
Tempi
PUls
\
WOOO
4W00
35000
m'
160
^
V
35000
i^Z'
160
w
30000
*;"
no
f
30000
♦;"
no
\
Z5000
w"
1ZO
«^
%\
15000
♦ö"
120
*
WOOO
39'
100
;x
'
WOOO
39"
WO
h
^.....
15000
38'
80
>
s:>
'\
15O00
38"
so
(K^
!^
•^-...
10000
sr'
60
-f^
^
^
^1=^
^
WOOO
sr"
60
VN
y
^
P9^
5000
36'
kO
31^^
5000
36"
hO
<.
^^
z
3
4
5
6
r
KrcuMieUsta^
3
^
5^
6
r
Dobbeling. Kleinhandtellergroße Resistenz; sehr empfindlich. Operation im
IntervaU. V, Teelöffei Eiter. Wurmfortsatz stark verwachsen.
Z es 8 in. Deutliche Resistenz, sehr empfindlich; Im IntervaU operiert Alte
Perforationsnarbe.
248 A. Federmann,
fiel die Leukocytose am nächsten Tage zur Norm ab, während Puls
und Temperatur erst mehrere Tage später allmählich heruntergingen.
Beide Fälle konnten nach 5 Wochen im Intervall operiert werden, in
dem einen Fall (Dobbeling) fand sich der Wurmfortsatz in derbe
Schwarten eingehüllt und ein halber Teelöffel geruchloser Eiter. Im
zweiten Fall (Zessin) enthielt der in starke Verwachsungen eingehüllte
Wurmfortsatz eine Perforationsstelle, die fest mit der Cökalwand verlötet
war. Die Kurven beider Fälle sind vorstehend wiedergegeben.
Es geht aus diesen beiden Beobachtungen hervor, daß es Fälle eiteriger
Perityphlitis gibt, deren klinisches Bild im Beginn zwar ein sehr be-
drohliches sein kann, die aber anstandslos in Heilung übergehen. Die
vorhandene Leukocytose geht in solchen Fällen am 3. oder 4. Tage zur
Norm zurück, um dann dauernd auf diesem Niveau zu bleiben. Wir
erhalten also in solchen Fällen durch die relativ niedrige Leukocytose
und den schnellen Bückgang einen Hinweis auf die Gutartigkeit des
Prozesses.
Diesen eben mitgeteilten Fällen steht eine andere Gruppe gegen-
über, bei denen das klinische Bild im Beginn ein ähnliches relativ
schweres ist, und in denen gleichfalls rasch eine deutUche Resistenz
zur Ausbildung kommt. Aber diese Fälle setzen gewöhnlich mit einer
hohen Leukocytose über 20(XX) ein, und in dieser Anfangszahl ist
schon die größere Intensität des Prozesses gekennzeichnet. Noch mehr
tritt diese hervor, wenn man den weiteren Verlauf der Kurve ins Auge
faßt. In diesen Fällen bleibt nämlich noch viele Tage, ja Wochen, eine
Leukocytose zwischen 15 und 20000 konstant bestehen, die dann erst
allmählich zur Norm absinkt. Die Temperatur kann dabei iängst normal
sein. Trotz der lange bestehenden Leukocytose geht der Absceß voll-
kommen in Resorption über, und auch in diesen Fällen finden wir bei
der Operation als Reste des vorhanden gewesenen Abscesses häufig
nur noch eine alte Perforationsnarbe.
Ich verfüge über 6 reine Fälle dieser Art, wo mehrere Wochen
eine Leukocytose bis zu 20000 bestehen blieb. In allen war ein deut-
licher Tumor vorhanden gewesen, in dem einen Falle gingen Eitermengen
per rectum ab, in einem zweiten wurde der Eiter durch Punktion nach-
gewiesen. Es ergeben diese Beobachtungen, daß selbst
längere Zeit konstatierte hohe Leukocytenzahlen eine
Resorption nicht ausschließen und somit eine Indikation
zum operativen Eingriff nicht ergeben^).
B. Aufsteigender Typus.
Der aufsteigende Typus einer Perityphlitiskurve unterscheidet sich
von dem eben beschriebenen absteigenden Typus dadurch, daß die nach
1) Es ist überflüssig, Kurven oder Krankengeschichten solcher Fälle
wiederzugeben, da ihr Verlauf nach obiger Schilderung klar ist.
üeber Perityphlitis. 249
einigen Tagen nahezu oder völlig zur Norm abgefallene Temperatur, nach
verschieden langer Dauer nun aufs neue deutlich ansteigt. Dieser er*
neute Anstieg, der in der Regel alle Symptome gleichmäßig betrifft,
kann ein bald langsamer bald plötzlicher sein. Er kann eine gewisse
Höhe erreichen, entweder um längere Zeit auf diesem Niveau zu ver-
harren oder aufs neue zur Norm abzusinken. Andererseits jedoch kann,
besonders in solchen Fällen, wo ein rapider Anstieg manchmal im Ver-
lauf von 24 Stunden erfolgt, die Leukocytose immer weiter steigen, bis
der Exitus eintritt.
Anatomisch ist der Vorgang bei einer aufsteigenden Perityphlitis-
kurve folgender: Setzt die Erkrankung mit stürmischen Erscheinungen
und demgemäß hohen Leukocytenzahlen ein, die in der Mitte der ersten
Woche zur Norm zurückgehen, um dann allmählich wieder anzusteigen,
so handelt es sich anatomisch erst um eine diffuse Bauchfellinfektion,
die in einigen Tagen in eine begrenzte, lokale übergegangen ist Dieser
Zeitpunkt dürfte dem Tiefstand aller Reaktionen entsprechen. Um diese
Zeit würden wir bei der Operation sicherlich ein locker begrenztes,
eiteriges Exsudat antreffen. Klinisch ist um diese Zeit meist ein deut-
licher Tumor nachweisbar. Der erneute Anstieg ist dann der Ausdruck
der Propagation der abgekapselten Peritonitis.
Gewöhnlich kommt das Wachsen eines perityphlitischen Eiterherdes
in der Weise zustande, daß durchwandernde Bakterien in der Peripherie
des Abscesses neue Verklebungen hervorrufen, während an der Innen-
seite die Wand eingeschmolzen wird. Bei dieser Art einer relativ
langsamen Propagation pflegt die Leukocytose auch langsam anzu-
steigen, manchmal aber doch bis zu recht hohen Werten, die 30000 sogar
überschreiten können. Erwähnenswert ist in solchen Fällen, daß die
Temperaturkurve häufig nicht einen gleichen Anstieg erkennen läßt,
sondern entweder sich auf einer konstanten mäßigen Höhe um 37,5
hält oder aber einen leicht remittierenden Typus zwischen 37 ® und 38 ^
annimmt. Es ist in solchen Fällen bei einer dem Nachweis ungünstigen
Lokalisation des Abscesses das Vorhandensein einer ansteigenden
Leukocytose besonders wertvoll, vor allem aber hat sich uns bei post-
operativen sekundären Abscedierungen die Leukocytenuntersuchung sehr
häufig bewährt, da gerade unter diesen Verhältnissen die Temperatur-
erhöhung oft viel später sich geltend macht oder völlig ausbleibt. Ich
denke hier vor allem an die vielen sekundären intraperitonealen und
subphrenischen Abscesse.
Neben dem eben erwähnten allmählichen Anstieg giebt es jedoch
auch Fälle wo innerhalb 24—48 Stunden ein rapides Indiehöheschnellen
der Leukocytenkurve oft um 20000 erfolgt Dann pflegt auch niemals
ein rasches Ansteigen der Temperatur und Pulskurve zu fehlen. Ana-
tomisch entspricht diese plötzliche Progression oft einem Durchbruch
in das retroperitoneale Gewebe oder einem plötzlichen, heftigen Nach-
250
A. Federmann,
Schub. Ein baldiger Eingriff ist in solchen Fällen indiziert, während
beim langsamen Ansteigen der Kurve einem ein- bis mehrtägigen Ab-
warten keine Bedenken entgegenstehen, da hierbei der Prozeß spontan
aufs neue zur Begrenzung, ja sogar zur Resorption kommen kann.
Ich habe mich bemüht, hiermit ein Bild des aufsteigenden Leuko-
cytentypus zu entwerfen und werde nun im Folgenden erst einige vom
Anfang der Erkrankung bis zur völligen Heilung beobachtete Fälle
zusammen mit ihren Kurven wiedergeben, um dadurch meine eben
gemachten Angaben zu illustrieren.
Im Weiteren wird es jedoch meine Aufgabe sein, ausführlich auf
die einzelnen Stadien einer derartigen Kurve besonders mit Rücksicht
auf praktische Zwecke näher einzugehen, da es ja nur selten möglich
sein wird, die gesamte Kurve an einem Fall zu beobachten, vielmehr
man häufig in irgend einem Stadium der Entwickelung den Fall erst in
Behandlung bekommt. Durch die Kenntnis eines gesetzmäßigen Verlaufs
der Kurve sind wii* aber dann im Stande, den Blutbefund in jedem
Zeitpunkt richtig zu bewerten.
Es ist natürlich nicht angängig, sämtliche Krankengeschichten hier
mitzuteilen; ich beschränke mich darauf, einzelne besonders typische
Fälle herauszugreifen.
Es mögen erst 3 Fälle hier mitgeteilt werden, wo unter unseren
Augen ein rapider Anstieg sich entwickelte:
1. Fall. Neymög. 21 J., operiert am 6. Krankheitstage.
Heilung. Der Anfall begann plötzlich unter heftigen Erscheinungen. In
den nächsten Tagen Rückgang aller Symptome, nahezu bis zur Norm. Am
5. Tage besteht ein htihnereigroßer, wenig empfindlicher Tumor rechts unten
und 10000 Leukocyten. In den nächsten 48 Stunden erfolgt ein rapider
Anstieg aller Symptome, Leukocytenzahl 35 000. Die Operation ergibt einen
hühnereigroßen Absceß, der locker begrenzt ist und einen Durchbruch in
das retrocökale Gewebe aufweist Der Wurmfortsatz ist gangränös und
perforiert. Freie Kotsteine. Resektion. Tamponade. Nach der Operation
rascher Abfall der Leukocytenzahl.
UukZcM
Ttn^
RUs
BBi^a
1
*C000
t
35000
uz'
160
s
s
30000
*l'
no
^
Ä
X5000
*o'
1ZO
s
^
"1
A
WOOO
39'
100
N
«^
i \
15000
38'
so
v<\
X^
\
'rr'if\
' A
0\
«
10000
St'
60
^
z
V^
>^
^
5000
36'
¥)
T —
T*—
^'^
z
3
-f
5
6
7
8
9
Ueber Perityphlitis.
251
2. Fall. Adomeit.
16Jahrealt,operiert ^^^
am 7. Krankheits-
tage. Heilung.
Plötzlicher Beginn der
Erkrankung. Bei der
AuAiahme diffuse
Bauchdeckenspannun g.
Resistenz nirgends nach-
weisbar. Am 5. Tage
16 000 Leukocyten.
Deutlicher Tumor rechts
unten. In den nächsten
2 Tagen steigt die Leu-
kocytose rapid auf 35000, unter Verschlechterung des Gesamtbefindens.
Die Operation ergibt einen bis an die Leber heranreichenden Absceß,
locker begrenzt. Tampon ade. Heilung.
3. FalL Wenzel. 21 Jahre alt, operiert am 13. Krankheits-
tage. Heilung. Mehr allmählicher Beginn. Bei der Aufnahme am 8. Krank-
heitstage undeutliche Resistenz rechts unten und 15000 Leukocyten. Am
11. Tage vollkommenes Wohlbefinden. Temperatur und Leukocyten
normal. Deutlicher Tumor rechts unten. In den nächsten 2 Tagen erfolgt
unter Vergrößerung des Tumors ein Anstieg der Temperatur und Leuko-
cytose. Allgemeinbefinden gut. Die Operation ergibt einen locker be-
grenzten Absceß, nach oben gelegen, mit 1 Eßlöffel Eiter. Von überall
her, besonders aber aus dem kleinen Becken, quillt trüb- seröse Flüssigkeit
und freier Darm. Der Wurmfortsatz ist perforiert. Freier Kotsein. Re-
sektion. Heilung.
Tem/k
Puls
1
40000
■ u
^
35000
«•
160
i
•s
SOOOO
♦/"
no
e^
Z5000
M'
1ZO
*!
4
ftOOOO
39'
100
B
vO
t
k^
15000
38'
80
...A
«^
^
>
«
10000
St'
-60
y^
>
^
y^
A
/>
v:
v-^
^000
36'
w
Z^'
v*
Krankheitsta^
7
8
9
10
//
n
13
/f
15
1»
In diesem Fall ist die akute Propagation deutlich an dem anato-
mischen Befund, der eine frische Entzündung um den Absceß ergab,
erkenntlich.
Diesen beiden Fällen eines rapiden Anstieges möchte ich einige
Beobachtungen einer mehr allmählichen Progression gegenüberstellen.
4. Fall. Feiler. Operiert am 12. Krankheitstage. Heilung.
Die Erkrankung begann mit hohem Fieber, Schüttelfrost und mittelschweren
252
A. Federmann,
Allgemeinerscheintmgen. Am 2. Tage ist der Leib im ganzen gespannt,
nirgends hochgradig schmerzhaft. Am 7. Erankheitstage ist das hohe
Fieber und die hohe Lenkocytose zur Norm abgesunken, rechts unten sitzt
ein deutlicher Tumor. Allgemeines Wohlbefinden. In den nächsten 6
Tagen tritt ein deutliches Wachsen des Tumors zu Tage, die Lenkocytose
steigt auf 23 000, hat leicht remittierenden Typus. Die Operation ergibt
einen 2 Eßlöffel übelriechenden Eiters enthaltenden, gut begrenzten Absceß.
Die Höhle reicht tief ins kleine Becken. Wurmfortsatz nicht zu fühlen.
Nach der Operation allmählicher Abfall der Lenkocytose.
Auffallend ist die Temperaturkurve, die sehr an die eines Typhus
im amphibolen Stadium erinnert.
5. Fall. Schilling. 17 Jahrealt. Operiert am 1 3. Krankheits-
tage. Heilung. Die Fat hatte bereits Imal Blinddarmentzündung. Vor
3 Tagen bekam sie unter Schüttelfrost und Erbrechen eine Angina. Gestern
traten allmählich Schmerzen rechts unten auf. Bei der Aufnahme ist
der Leib gespannt, rechts unten eine undeutliche Resistenz, die wenig
empfindlich ist. Am 3. Tage steigt die Lenkocytose trotz normaler Tem-
peratur auf 20000 und steigt nun langsam weiter bis auf 35 000 am
13. Elrankheitstage. Er besteht nun ein deutlicher Tumor. Allgemein-
befinden gut. Die Operation ergibt einen, bis nahe an die Leber heran-
reichenden, gut begrenzten Absceß, etwa 3—4 Eßlöffel übelriechenden
Eiters enthaltend. Wurmfortsatz nicht zu fühlen.
LeukZM
¥)000
T<mp.
Puls
J . 1
I.
\
35O00
M'
160
b
^y
\l
SOOOO
JH'
no
1
^,A.
^
\
Z5000
M'
120
^/
^
-o....
— 1
^-
WOOO
39'
too
X
\
■0^. _
•«»•
^
***"-..
/
•er'
v^
*
15000
38'
80
J>
/\
3r
A
A
v^
10000
St'
60
\
^
^
y
V^
/
k:
v^
J
^
^
5000
36'
W
7*"
"*^
KrankkeUsta^
x
3
^
5
6
7
8
s
/o
//
/»
/3
/^
\f5
6. Fall. Stoldt. 39 Jahrefalt. Operiert am 9. Krankheitstage.
Heilung. Plötzlicher Beginn. Der Fat. wird am 4. Tage bereits mit einem
deutlichen Tumor und niedriger Leukocytenzahl aufgenommen. Der Tumor
lieber Peritjrphlitis.
253
soheint erst kleiner za werden, beginnt dann aber rasch zu wachsen. Die
Leukocytenzahl steigt aaf 23 000. Die Operation ergibt einen gut be-
grenzten, faustgroßen Absceß. Wurmfortsatz ist perforiert und gangränös.
Resektion.
laikZeM
Tanp
Puls
1
MOOO
-*1
35000
U'
160
\
30000
♦/•
no
Z5000
*o'
1Z0
J
WOOO
39'
100
N
s.
1S000
38'
80
-•-.
y
J^
!s
10000
sr'
60
!£
§^
^
./'\
:f:>.-A, 1
5000
36'
¥)
N
7'
n
KraakheUstaff
^
5
6
7
8
9
H)
d
7. Fall. Lichel. ISJahrealt. Operiert am 13. Krankheitstage.
Heilung. Die Erkrankung begann plötzlich mit heftigen Magenschmerzen
und reichlichem Erbrechen. Am 3. und 4. Tage Nachlaß der Schmerzen.
Am 8. Tage Leukocytenzahl 13 000, Temperatur 36,6 <>. Man fühlt rechts
oben eine undeutliche Resistenz. In den nächsten 5 Tagen Ansteigen der
Leukocytenzahl auf 20000. Eine deutliche Resistenz ist auch jetzt noch
nicht zu fdhlen. Die Operation ergibt einen intraperitoneal gelegenen, an
die untere Leberfläche heranreichenden Eiterherd mit etwa 3 Eßlöffel sehr
übelriechenden Eiters. Wurmfortsatz nicht zu fühlen. Heilung.
LeukZahl
¥)000
Temfk
Puls
1
35000
4Z'
160
l
.|
30000
tl'
M)
^
a
Z5000
*o'
1Z0
1
^
WOOO
39'
100
l
^'
GUtäe
rJMau/ II
15000
38'
80
-^
^
-^^
"N
10000
sr'
60
-■ ^
l!^
^
y^
^
/\
j^
/
>c
Sl
«o
5000
36'
¥>
^^
T"
s/
V
\t
v^^
7^
V^
^
Krouikheilstaff
6
7
8
9
10
//
fZ
/3
/♦
^5
16
17
Der Fall ist deshalb besonders interessant, weil wegen der Lokali-
sation des Abscesses der Nachweis ein außerordentlich schwieriger ge-*
wesen ist. Die ansteigende Leukocytose ergab mit Sicherheit das Vor-
handensein eines Eiterherdes.
8. FalL Wirth. 17 Jahre alt, operiert am 1 0. Krankheitstage.
Heilung. Bereits 2 AnfUle von Blinddarmentzündung. Plötzlicher Beginn
mit Schmerzen im ganzen Leib und hoher Leukocytose. Resistenz nicht
nachweisbar. Am 7. Krankheitstage vollkommenes Wohlbefinden, Druck-
254
A. Federmann,
emfindlichkeit rechts oben. Leakoc3rtenzahl normal. Langsames Ansteigen
der Kurve. Kein Tumor zu fühlen. Die Operation ergibt einen nufigroßen,
abgekapselten Eiterherd, ganz unter der Leber gelegen, der durch die freie
Bauchhöhle hindurch eröffnet wird. Heilung. Langsamer Abfall der Leuko-
cytose.
LatkZaJU
Tempi
Puü
1
UOOOO
35000
^z""
160
t
30000
i^l""
no
\
.1
Z5000
W""
120
%
i
WOOO
59^
100
N
-»k
J
Jv
GlaOerfMoiA
15000
38'
80
^
T
>>
^
S
>
^'^
>
w^
^
X
10000
sr'
60
^
^
Lz^
/^
^^
\
b
5000
36''
hO
7^
v^
F=!:
L —
^
^
Krankheüsta^ \
3
^
5
6
7
a
9
w
11
12
13
/f
13
16
Der Fall gleicht sehr dem Fall 7 wegen der Aehnlichkeit der Loka-
lisation und der klinischen Symptome.
Resümieren wir noch einmal, so handelt es sich in den eben be-
schriebenen Fällen um einen mehr oder weniger stürmischen Beginn durch
eine Gangrän oder Perforation des Wurmfortsatzes meist mit diffuser Bauch-
fellbeteiligung. Das Abklingen aller Erscheinungen, zugleich mit dem Zu-
tagetreten eines deutlichen Tumors rechts unten, ist der Ausdruck da-
für, daß die diffuse Entzündung sich lokalisiert hat Der neue An-
stieg der Kurve bedeutet die Propagation der Eiterung. Entweder tritt
nun aufs neue Begrenzung oder Resorption ein, dann geht die Leuko-
cytose allmählich wieder zur Norm zurück, oder der Absceß wird auf
der Höhe der Kurve eröffnet, und man findet bei der Operation einen
mehr oder weniger gut begrenzten Eiterherd.
Ich möchte nun im folgenden die einzelnen Stadien der Kurve ein-
gehender besprechen, um ihre praktische Bedeutung zu erörtern.
Es geht aus den bisherigen Kurven schon hervor, wie wir dies
schon beim Kapitel „Frühstadien'' betont haben, daß eine hohe
Leukocytose in den ersten 2 — 3 Tagen der Erkrankung
zwar in der Regel eine Gangrän oder Perforation des
Wurmfortsatzes annehmen läßt, aber eine spätere Be-
grenzung des eiterigen Exsudats in keiner Weise aus-
schließt. Ich kann daher darauf verzichten, solche Beobachtungen
hier namentlich anzuführen.
Im weiteren ersehen wir jedoch aus der Betrachtung der obigen
Kurven, daß im Verlaufe der ersten Woche ein Zeitpunkt eintreten kann,
wo sowohl Temperatur wie Puls wie Leukocytose entweder nahezu oder
völlig an der Norm angelangt sind. Die allgemeine Bauchfellreizung und
Ueber Peritjrphlitis. 255
der daraus resultierende Meteorismus sind um diese Zeit beinahe voll-
ständig geschwunden, und dafür ist an der Stelle des Herdes ein mehr oder
weniger deutlicher Tumor nachweisbar. Die diffuse Entzündung hat
sich lokalisiert. Wenn man in einem solchen Stadium operiert, so
findet man eine locker begrenzte, meist noch sehr infektiöse Eiterung. Je
länger normale Werte der Leukocyten bereits bestanden haben, desto un-
gefährlicher ist die Operation. Wie außerordentlich vorsichtig man selbst
mehrere Tage nach dem Eintritt der normalen Werte mit der Eröff-
nung der freien Bauchhöhle sein muß, beweist der Fall 5 (Kraft) auf
der weiter unten stehenden Tabelle, wo am 6. Tage der Erkrankung,
nachdem bereits 3 Tage eine normale Leukocytenzahl bestanden hatte,
ein kleiner Eiterherd eröffnet wurde. Die wahrscheinlich bei der Ope-
ration infizierte freie Bauchhöhle führte in diesem Falle zu einer letalen
Peritonitis. Wir haben während dieses Stadiums außerdem nur noch
wenige Fälle operiert (Fall 7 und 8). In beiden trat eine fortschreitende
Peritonitis nicht ein (s. Tab. p. 256).
Für uns resultiert also die praktisch und theoretisch
äußerst wichtige Tatsache, daß schon ganz kurze Zeit
nach Beginn der Erkrankung im Verlaufe der ersten
Woche alle Symptome zur Norm abgesunken sein können,
und trotzdem ein eiteriges Exsudat mit Sicherheit vor-
handen ist. Ein Eingriff in diesem Stadium ist nicht zu
empfehlen, da eine feste Begrenzung noch nicht ein-
getreten ist, und der Zustand des Peritoneums einer
Propagation sehr förderlich zu sein scheint. Es ist viel-
mehr zweckmäßig, den eingetretenen Tiefstand erst
einige Zeit andauern zu lassen, damit die Abkapselung
einen möglichst festen Grad annehmen kann.
In der folgenden Tabelle (p. 256) habe ich nun in 12 Kurven den Tag
herausgesucht, an dem der Tiefstand der Kurve eingetreten war.
Wie aus einer Durchsicht der Tabelle hervorgeht, schwankt dieser
Termin zwischen dem 5. und 11. Krankheitstage. Die Leukocyten-,
Temperatur- und Pulswerte und der Palpationsbefund an diesem Tage
sind daneben gestellt. Je nachdem der Fall am selben Tage oder später
zur Operation kam, ist dann der Operationsbefund wiedergegeben. Die
Einzelheiten ergeben sich aus der Tabelle selbst.
Es ist nach unseren bisherigen Ausführungen selbstverständlich,
daß nicht nur im Verlaufe der ersten Woche normale Werte trotz des
Bestehens eines eiterigen Exsudats vorhanden sein können, sondern daß
dieses Verhältnis vor allem in dem Spätstadium des Prozesses als ge-
wöhnlich erscheinen muß; denn es wird, sobald die Eiterung zur Be-
grenzung gekommen ist, die Leukocytenzahl sehr rasch zur Norm ab-
sinken, und falls keine erneute Propagation eintritt, dauernd auf diesem
niedrigen Niveau verharren, da ja nur ein Fortschritt nach der einen
256
A. Federmana,
Tiefstand
(
Operation
Lfd.
No.
Name
Leuk.-
zahl
Temp.,
Puls
OperationB-
befund
i*
Leuk.-
zahl
Temp.,
Puls
Operations-
befund
1
Adomeit
5
15000
37,4
80
37,4
7
35000
38,8
200 com Eiter
2
Wagner
5
8000
Besistenz
11
20000
363
lEßLEiter.Absc.
3
Neimög
5
10000
37
Kesistenz
6
30000
38,5
Schwere Eiters,
und retrooökale
Phlegmone
4
Köhler
6
8000
36,2
Resistenz
9
20000
38,2
lEßLEiter.Absc.
5
Kraft
6
9000
37,5
Beeifitenz
8
11000
38
lTeeI.Eiter.Abea
Tod!
6
Stoldt
7
10000
37
Tumor
9
21000
37,6
200 ccm abgek.
Eiter
7
Rath
7
10000
37
Tumor
8
37,5
2Eßi.Eiter.Abea
8
Belaek
7
13 000
38
Besistenz
7
13000
38
gener Abscefi
9
FeUer
7
10000
37,2
Tumor
12
23000
37
Ab8cefim.3£ai.
Eiter
10
Wirth
7
13000
37,1
Resistenz
10
15000
363
1 EßL Eiter
LeberwärtB gele-
gener Absoess
11
lichel
10
12000
36,2
Besistenz
13
20000
363
Leberwarts gele-
gener Abec^ m.
3 Efii. Eiter
12
Wenzel
11
10000
36,9
Groß. Tumor
13
23000
39
TiOckerer Abscefi
mit 2 Eßl. Eiter
u.trfib. Exsudat
oder anderen Seite hin eine Reaktion im Blutbilde hervorruft. Es er-
gibt sich daraus die praktisch wichtige Tatsache, daß vor allem in
den späteren Stadien der Erkrankung eine fehlende Leu-
kocytenvermehrung gar nichts gegen das Vorhandensein
selbst reichlicher Eitermengen beweist, wofern die-
selben nur in einem abgegrenzten Raum sich befinden.
Differentialdiagnostisch bedeutet dies, daß in solchen Fällen nur ein
positiver Ausfall der Leukocytenzählung eventuell gegen das Bestehen
eines Tumors verwertet werden kann, da eine niedrige Leukocytenzahl
ein entzündliches Produkt nicht ausschließt.
Ich habe in der folgenden Tabelle (p. 257) mehrere Fälle zusammen-
gestellt, wo trotz der vorhandenen normalen Leukocyten- und Temperatur-
werte bei der Operation reichlich Eiter gefunden wurde. In der Mehrzahl
der Fälle war ein deutlicher Tumor palpabel gewesen, alle Abscesse
befanden sich in einem gut begrenzten Zustande. Am Schlüsse der
Tabelle sind 2 Fälle von verjauchtem Cökalcarcinom angeführt, deren
Diagnose erst bei der Operation gestellt werden konnte.
Haben wir in diesen beiden letzten Tabellen dargetan, daß schon
im Verlauf der ersten Woche, vor allem aber in den späteren Stadien
niedrige Leukocytenwerte nichts gegen das Vorhandensein eiteriger
lieber Perityphlitis.
257
Alte Abscesse.
a»
Name
Dauer des
Bestehens
der Er-
krankuDg
Leuko-
cytenzahl
Temp.
Operationsbefund
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
KorafeiBki
Rieck
Dähne
Kiews
Hicke
Frank
Kessler
Fiebig
Ebert
Pagel
Hamann
Bosselmann
Behlke
Oiesecke
Kripke
Polzin
I
7 Wochen
3 „
2V,Woch.
3 „
7000
8000
9000
16000
6000
8000
37^
37,8
36,6
37,0
37,0
37,0
2V,
II
2
II
av.
II
8
II
av.
II
2
11
2
II
2
II
4
„t
4
„1
12000
37,4
10000
37,8
8000
38,5
8000
37,0
14 000
36,2
8000
36,1
10000
36,6
8000
36,6
12 000
10000
38,0
38,0
1 Eßlöffel Eiter
Apfelgroßer Absceß, W.-F. gan-
gränös
Alter Schwartentumor, eingedickter
Eiter
Apfelgroße Höhle, eingedickter
Eiter, W.-F. gangränös
Schwartentumor, nußgroße Eiter-
höhle
Hühnereigroßer Absceß, W. F.
gangränös
Apfelgroßer tbk. Absceß
1 Eßföffd Eiter
Tbk. Gasabsceß, 2 Eßlöffel Eiter
Absceß mit 1 Eßlöffel Eiter
Schwartentumor mit eitrigem Kern
2 Eßlöffel Eiter, Absceß
Nußgroßer Absceß
Nußgroße Granulationshöhle ohne
Eiter
Verjauchtes Carcinom
Verjauchtes Carcinom
Exsudate beweisen, so kommen wir nun zu dem zweiten Teile der
Kurve, von dem sie ihren Namen einer „aufsteigenden Kurve" hat und
damit zu den positiven Werten, die stets mit Sicherheit Eiter beweisen.
Wie wir schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt besprochen
haben, kann das Wachstum eines eiterigen Exsudats ein plötzliches oder
ein langsames sein. Ich habe in der folgenden Tabelle (p. 258) 15 Fälle
zusammengestellt^), bei denen nach einer verschieden langen Begren-
zungsperiode infolge einer akuten Propagation unter Verschlimmerung
aller Symptome ein rapider Anstieg eintrat. Anatomisch lagen
wechselnde Möglichkeiten zu Grunde, deren Natur aus einer Durchsicht
der daneben stehenden Operationsbefunde hervorgeht.
Die Fälle 1-5 der Tabelle wurden nicht sofort operiert, so daß an
ihnen eine ein- oder mehrtägige Leukocytenbeobachtung stattfinden
konnte. Die Erscheinungen waren bei ihnen erst weniger bedrohlicher
Natur, die schweren Symptome entwickelten sich unter unseren Augen.
Die Fälle 6—15 jedoch wurden sofort nach der Aufnahme ins
Krankenhaus operiert und ergaben durchweg eine fortschreitende Eiterung.
In diesen Fällen wurde vom Patienten beinahe stets angegeben, daß die
Erscheinungen bis vor wenigen Tagen leichte gewesen seien, und daß
1) Im ganzen verfdgen wir über ungefähr 50 Beobachtungen dieser Art.
Ifittefl. ft. d. Or«nz«»bl«ten d. Medizin o. Chlrorci" Xm. Bd. 17
258
A. Federmann,
Aufgenommen
Operiert
No.
Name
^'1
il
Tem|K
PuU
a3
Temp.
Operationsbefund
1
Türk
4
20000
38
118
6
30000
38
Beckenabsceß
2
Hermann
(5
22000
38^
120
7
23 000
38,2
'U 1 Eiter mit Strepto-
kokken, lock, begrenzt
3
Wilke
7
16000
38,4
144
9
30000
38,2
Subhepatisch gelesen
200 rem Eiter, lo<äer
4
Hahn
9
18000
38,4
10
30000
37,5
V* 1 Eiter, lock, begrenzt
5
Kaiser
5
17 000
37,2
7
28000
37,4
Subhepatisch gel«;ener ,
hühnereigr. Absceß,
locker b^renzt
6
BaiUen
2Tge.
^p. 4
Woch.)
24000
39,4
120
Großer, lock^ begrenz-
ter Absceß
7
Schuster
3Tge.
(resp. 2
35000
38,1
120
t
Gr. Beckenabeoefi bis
an die Niere heran-
Woch.)
reichend
8
Flügel
2Tge.
(resp. 2
Woch.)
31000
39,6
136
a
•3
Gr. Beckenabsceß
9
Müller
8
56000
39
96
200 ccm Eiter
10
Deile
8
25 000
38
96
0
<
Retroperitoneale Phleg-
mone
11
Lädke
12
28000
38,2
100
TS
V, 1 Eiter
12
Peper
8
32 000
39
104
1
Subhepatischer Absceß
mit \\ 1 Eiter
13
Hoee
41000
38
128
1
Faustgr., an die Leber
gehender Absceß
14
Breite
6
37 000
38
124
1
Gr. Absceß, 200 ccm
Eiter
15
Schulze
8
45000
38,4
100
Beckenabsceß, V, 1 Ei-
ter
dann eine immer mehr sich steigernde Verschlimmerung eingetreten wäre*
Wenn man sich schon aus dieser Annahme ein deutliches Bild des bis-
herigen Verlaufes machen konnte, so wurde das Verständnis des Vorganges
noch klarer durch den augenblicklichen Zustand des Patienten. In
diesen Fällen konstatiert man nämlich stets sehr hohe Leukocytenwerte,
ja die tiberhaupt höchsten Werke, die man zu beobachen Gelegenheit
hat Auch der Puls und die Temperatur sind stark erhöht Eine
Resistenz ist beinahe immer irgendwo nachweisbar und der Operations-
befund ergibt stets große, meist nur mangelhaft begrenzte Abscesse;
besonders häufig große Beckenabscesse. Die Diagnose ist, wie man sieht,
unter solchen Umständen eine leichte. Die Leukocytenuntersuchung
wird nur dann von großem Wert sein, wenn die lokalen Symptome
unsicher sind, so daß der Nachweis einer Resistenz nicht gelingt In
den übrigen Fällen hat sie nur eine die Diagnose unterstützende
Bedeutung. Da diese Eiterungen keiner spontanen Rückbildung fähig
sind und die Gefahr der Sepsis sehr naheliegt, so ist die sofortige
Operation indiziert.
Ueber Perityphlitis. 259
Wir können uns demnach dahin zusammenfassen: Finden wir am
Ende der ersten Woche oder später, selbst nach ein-
maliger Zählung eine hohe Leukocytose und schwere
klinische Symptome ergibt noch dazu dieAnamnese, daß
in den letzten Tagen eine akute Verschlimmerung ein-
getreten ist, so ist sofort zu operieren, da ein weiteres
Abwarten zwecklos und gefährlich erscheint Es ist mit
Sicherheit ein großer Eiterherd vorhanden.
Im großen ganzen erfolgt die Propagation der Eiterung seltener
in der eben beschriebenen akuten Art und Weise, sondern langsamer
im Verlauf mehrerer Tage, indem ganz allmählich eine Vergrößerung
des Tumors eintritt. Die klinischen Symptome sind in solchen Fällen
auch bei weitem leichterer Natur. Die Leukocytose kann zwar gleich-
falls zu recht hohen Werten ansteigen, jedoch geschieht dies in der Art,
daß von Tag zu Tag ein allmählicher Anstieg um 1 — 4000 Leukocyten
eintritt Die Temperatur pflegt entweder gleichzeitig parallel der Leuko-
cytenkurve in die Höhe zu gehen oder aber sie nimmt einen leicht
remittierenden Typus zwischen 37 und 38^ an. Oefters hat man auch
Gelegenheit, normale Temperatur längere Zeit zu beobachten, trotzdem
ein deutliches Wachsen des Abscesses vor sich geht Ich habe diese
Verhältnisse auf p. 252—253 bereits hervorgehoben und auch mehrere
Beispiele und Kurven dafQr gegeben. Ich kann es mir deshalb hier ver-
sagen, nochmals darauf einzugehen.
Leicht ist es nun, den vorliegenden Prozeß zu beurteilen, wenn
er sich unter unseren Augen abspielt, wenn wir selbst beobachten,
wie unter allmählichem Ansteigen der Kurve die Resistenz immer
größer wird. Ungleich schwieriger ist jedoch eine Wertschätzung des
Zustandes, wenn erst spät der Fall in Behandlung kommt. Die Leuko-
cytenzahl steht dann gewöhnlich um 20000 herum. Die Temperatur
ist vielleicht mäßig erhöht Lokal ist gewöhnlich ein deutlicher Tumor
vorhanden. Der Gesamteindruck ist schwankend.
In der großen Zahl dieser Fälle dürfte die Diagnose eines Ab-
scesses auch ohne Leukocytenzählung eine leichte sein. Nur in solchen
Fällen, wo der Nachweis einer Resistenz unmöglich ist, hat auch das
Vorhandensein einer Leukocytenvermehrung ein großes diagnostisches
Interesse, denn, wie wir schon mehrfach in unseren früheren Aus-
führungen betont haben, beweist das Vorhandensein einer Leukocyten-
zahl über 18000 auch bei normaler Temperatur am Ende der 1. Woche
oder später konstatiert, mit Sicherheit das Bestehen eines eiterigen
Exsudats.
Das Hauptinteresse und vor allem die größere Wichtigkeit hinsicht-
lich der Behandlung liegt aber auf Seiten der Indikationsstellung. Wir
werden uns immer fragen müssen, wenn wir bei mittelschweren All-
gemeinerscheinungen und einer erhöhten Leukocytose einen Fall am
17*
260 A. Federmann,
Ende der 1. Woche oder später in Behandlung bekommen, sollen wir
sofort operieren oder abwarten. Es ist natürlich nach einer einmaligen
Leukocytenzählung in diesem Stadium nicht ohne weiteres zu ent-
scheiden, wie der fernere Verlauf des Prozesses sein wird, ob die
Eiterung weiter fortschreitet oder ob ein spontaner Rückgang zu er-
warten steht Beides wird erst bei mehrmaliger Zählung einen deut-
lichen Ausdruck im Blutbilde geben.
Da diese Fälle keineswegs bedrohlicher Natur sind, so ist ein sogar
mehrtägiges Abwarten wohl stets unbedenklich. Schon nach 24 Stunden
ist in der großen Mehrzahl mit Sicherheit zu erkennen, nach welcher
Richtung hin der Absceß sich entwickelt. Ergibt sich nach 24 Stunden
ein deutlicher Anstieg der Leukocytenkurve, der ja meist die Tempe-
ratur parallel läuft, so ist ein weiteres Abwarten nicht vorteilhaft, da
vorläufig keine Tendenz zum Stillstand besteht. Eine Entleerung des
Eiters mit oder ohne Entfernung des Wurmfortsatzes erscheint in
solchen Fällen zweckmäßiger, als die Resorption abzuwarten. Eonsta-
tieren wir dagegen, daß nach 24 Stunden die Leukocytenzahl nicht
weiter gestiegen, vielleicht sogar zurückgegangen ist, so kann entweder,
je nach den übrigen Symptomen, operiert oder aber die völlige spon-
tane Rückbildung abgewartet werden. Wir verfügen selbst über mehrere
Fälle, die mit einem faustgroßen Tumor, einer Leukocytenzahl über
20000 und einer Temperatur von 39*^ nach der 1. Woche in unsere
Behandlung kamen und bei denen im Verlaufe von 4 Wochen eine
derart vollkommene Resorption des Eiters erfolgte, daß die Patienten
im Intervall operiert werden konnten. Im allgemeinen kann man sagen,
daß das Verhalten der Leukocytenkurve in dieser Hinsicht ein feineres
Reagens darstellt als die Temperatur ; diese kann vielmehr längere Zeit
hoch bleiben, während uns eine niedrige Leukocytenzahl längst den
weiteren Verlauf des Falles gekennzeichnet hat.
Resümieren wir kurz, so können wir sagen, daß eine Leuko-
cytenzahl, am Ende der L Erankheitswoche oder später
festgestellt, mit Sicherheit die Diagnose ^eiteriges Ex-
sudat"^ gestattet, jedoch keinesfalls an sich eine Indikation
zum operativen Eingriff ergibt. Diese ergibt sich viel-
mehr einerseits aus der Vergleichung mit den übrigen
klinischen Symptomen, andererseits aus der Beobach-
tung des weiteren Verlaufes. Eonstatieren wir nach 24
Stunden einen Anstieg der Eurve, so ist die Operation
anzuraten, immerhin kann auch jetzt noch ein Rückgang
erfolgen. Bleibt nach 24 Stunden die Leukocytenzahl auf
derselben Höhe oder sinkt sie sogar noch ab, so ent-
scheiden andere Ueberlegungen. Eine völlige Resorption
ist unter solchen Umständen keinesfalls ausgeschlossen.
Findet man am Ende der I.Woche oder noch später nie-
üeber Perityphlitis,
a) Langsam ansteigende Kurve.
261
Name
Tag der
Auf-
nahme bis
Tag der
Opmtion
Anstieg
d. Leuko-
cyten in
dieser Zeit
Temperat.
in dieser
Zeit
Phyf^ikaL
Befund
Operations-
befund
Bemer-
kungen
Schnitze
Lüdike
Krause
Beich
Dntz
Bötger
Janz
Kroll
6-^
6-7
8-10
5-6
7—9
6-7
5—7
9—12
21—26000
27-30000
18-28000
18-23 000
15—18000
15-21 000
20—25 000
18—32000
383
38^-39^
38-373
383-38,1
383-39,2
39
38
39
Handtellergr.
Besistenz
DeutLTumor,
auch perrec
tum
Besistenz bis
zur Mittel-
linie u. per
rectum
Tumor r. u.
hühner-
tr Absceß
'ageope-
[)CKerDe-
Subhet
eigrofl
Am 8. Ti
riert.Locl
grenzterAbsceß:
nach unten zu.1
100 ccm Eiter i
Großer Becken-
absceß
Heilung
Todn. 3
Wochen
(Adhfisi.
on "
Tumor
Hühnereigroßer
Abeceß
Hühnereigroßer
Absceß
Subhep. Absceß
Taubeneigroßer
Absceß
Bubhep. Absceß
Heilung
b) Gleichbleibende Kurve.
9
KalHdat
8—9
17 000
38
Tumor
V, 1 Eiter. Gut
begrenzt
t
Embolie
am 8.
Tage
lOIidigk
16—17
22 000
373
T»
2Eßl.Eiter. Gut
begrenzt
Geheilt
11 Gramer
8-10
28000
38,2
— Subhep. Absceß
TJ
c) Absinkende Kurve.
12 Bienwald
7-9
22-17 000
37
—
Hühnereier. Abs-
ceß. 2Eßl.Eiter
Geheilt
13 Schilling
7-10
14-13000
38
B. u. f austgr.
Tumor
150 ccm geruchL
Eiter. Gut begr.
fl
14
Leech
10-13
25-14000
38-37
Tumor, der
stark zurück-
geht
100 ccm Eiter.
Absceß
n
15 Boaseimann
12-14
20-13 000
363
Tumor r. u.
lEßl. Eiter. Gut
begrenzt
Schwartentumor
mit lEßl. Eiter.
Besektion des
Coecum
T»
16
Seefeld
5-6?
24—16000
38-373
Derb. Tumor
11
17
Dittmann
12-16
28-15 000
39-37
Groß. Tumor
Besorption. Im
Intervall oper.
nach 5 Wochen
n
18
Ussek
10—23
22- 8000
37,8-36,7
Groß. TumoriBesorption. Im
T»
8 Wochen oper.
262 A. Federmann,
drige oder fehlende Leukocytose, so beweist dies nichts
gegen das Vorhandensein eines gut begrenzten Eiter-
herdes.
In den vorstehenden 3 Tabellen a, b, c (p. 261) sind 18 Fälle zusammen-
gestellt, bei denen die Leukocytenkurve im Verlaufe der nächsten Tage
nach der Aufnahme entweder weiter anstieg oder stehen blieb oder ab-
sank. Alle mit Ausnahme von Fall 17 und 18 sind operiert. In den
beiden letzten wurde die völlige Resorption abgewartet. Es ist natürlich
zweifellos, daß von den Fällen unter Tabelle b und c ein großer Teil
gleichfalls ohne Eingriff zur Resorption gekommen wäre, es schien aus
jedoch äußeren Gründen eine Operation zweckmäßiger.
III.
Eiterige Peritonitis mit teilweiser nnd mehrfiieher Abl^apselung.
(Begrenzt fortschreitende Peritonitis, progredient fibrinös-
eiterige Peritonitis).
Die eiterige Peritonitis mit teilweiser Abkapselung steht in der Mitte
zwischen dem mehr oder weniger gut begrenzten perityphlitischen Absceß
und der freien fortschreitenden Peritonitis. Charakteristisch für diese
Form der Peritonitis ist, daß die Begrenzung stets nur eine teilweise
und mangelhafte ist und deshalb ein dauernder Fortschritt resultiert.
Fälle dieser Art zeigen einen mehr subakuten Verlauf und besitzen
eine derart hohe Infektionsintensität, daß es dem Organismus nicht ge-
lingt, eine völlige Neutralisation des Giftmaterials herbeizuführen, sondern
daß er nur unter äußerster Kraftanstrengung im stände ist, die tödliche
Allgemeininfektion verschieden lange Zeit hinauszuschieben. Damit ist
schon gesagt, daß die Mehrzahl dieser Fälle ohne Eingriff durch Sepsis
zum Tode führt. Andererseits ist jedoch die Infektionsintensität nicht
eine derart hohe, daß eine von vorne herein ohne jede Begrenzung
fortschreitende letale Peritonitis entsteht
Welcher Art die Affektion des Wurmfortsatzes ist, die ja nur einen
Faktor in der Summe aller ursächlichen Momente darstellt, ist fflr das
Zustandekommen der vorstehenden Peritonitis nicht von ausschlag-
gebender Bedeutung. Eine Gangrän ebenso wie eine Perforation kann
unter gewissen Umständen denselben Effekt haben.
Das anatomische Bild der vorstehenden Peritonitis kann ein sehr
verschiedenartiges sein, je nach der Intensität der Infektion und vor
allem nach der Dauer des Bestehens. In den allerersten Stadien der
Erkrankung kann es selbst bei der Operation unmöglich sein, Fälle, die
in die hier zu besprechende Gruppe gehören, von solchen zu unter-
scheiden, die später in Begrenzung übergehen; das war auch mit ein
Grund für uns gewesen, solche Fälle in eine besondere Gruppe, die der
Frühstadien, zusammenzufassen. Die Entstehungsweise der teilweise be-
grenzten Peritonitis ist ja nicht eine prinzipiell verschiedene von der des
üeber Perityphlitis. 268
gewöhnlichen perityphlitischen Abscesses, das schließliche Resultat hängt
lediglich von der graduell wechselnden Infektionsintensität ab. Auch
bei der Genese des perityphlitischen Abscesses hatten wir ja in sehr vielen
Fällen eine primäre diffuse Entzündung, die sekundär erst in Begren-
zung übergeht, angenommen, für das Zustandekommen einer teilweise
begrenzten Peritonitis halten wir diese Entstehungsweise für
die regelmäßige, eine Anschauung, der ein großer Teil der Autoren
längst beigetreten ist. Betrachtet man die anatomischen Befunde unter
Zugrundelegung dieser von uns angenommenen Entstehungsart aus einer
erst diffusen Entzündung so erklären sich ungezwungen alle die ver-
schiedenartigen Kombinationen, die in den verschiedenen Stadien einer
derartigen Peritonitis beobachtet werden können. Wir sind so stets im
Stande, zu verstehen, weshalb es in einem Falle nur zu einer einzigen
lokalisierten Eiterung kam und weshalb in vielen anderen Fällen die
vorhergegangene diffuse Entzündung vielfache Lokalisationen hinterließ.
Ebenso wie das anatomische, zeigt auch das klinische Bild natür-
lich ein wechselndes Gesicht. Die Diagnose, vor allem aber die In-
dikationsstellung ist in diesen Fällen die allerschwierigste, die Mortalität
eine große. Es erscheint deshalb sehr schwierig, ein einheitliches Symptom-
bild dieser, in so mannigfachen Variationen auftretenden Peritonitisform
zu zeichnen, da keineswegs eine derartige Einheitlichkeit des pathologisch-
anatomisch und klinischen Verlaufes besteht, wie wir sie doch immer-
hin bei der freien fortschreitenden Peritonitis meist beobachten. So
erklärt es sich auch, daß es nicht möglich ist, eine für alle Verlaufs-
arten einer teilweise begrenzten Peritonitis passende Leukocytenkurve
aufzustellen. Wir müssen uns darauf beschränken, einzelne Verlaufstypen
herauszugreifen und kritisch zu beleuchten.
Ich werde deshalb in folgendem eine Auswahl aus den in den
Jahren 1902 — 1903 beobachteten Fällen von progredient-fibrinös-eiteriger
Peritonitis mitteilen, um an ihrer Hand die praktisch wichtigen Punkte
zu besprechen.
Ich beginne mit zwei Fällen, die in pathologisch-anatomischer wie
in klinischer Beziehung außerordentlich instruktiv und lehrreich sind.
1. Fall. Kaczmarck, Hans. 15 Jahre alt Erkrankt am 28. Aug.
aufgenommen am 80. Aug., operiert am 5. Sept., dem 7. Krankheits-
tage, geheilt entlassen am 2. Dez. 1903.
Anamnese. Früher dreimal Blinddarmentzündung. Die jetzige Er-
krankung begann am 28. Aug. früh morgens plötzlich mit hohem Fieber
und Erbrechen, Patient erhielt 60 Tropfen Opium.
Befund. Sehr schwer krank aussehender junger Mann. Leib stark ge-
spannt und meteoristisch aufgetrieben. Ueberall, besonders links unten
hochgradig empfindlich, deutliche Resistenz nicht zu fühlen. Beiderseits
Flankenschmerz, per rectum nihil, Puls 138^^, Temperatur 38,3,
Leukocytose 27000.
Verlauf. Am nächsten 4. Krankheitstage sinkt die Leukocytose auf
264
A. Federmann,
13000 und steigt am
8. Tage auf 18000. Der
Allgemeinzustand bes-
sert sich in diesen 8
Tagen. Der Meteoris-
mus geht etwas zurück.
Per rectum wird eine
deutliche Vorwölbong
palpabel deshalb
I. Opera t. 6. Sept.
1903 (Pedbbmann) Ent-
leerung eines großen
Douglasabscesses per
rectum. Nach dieser In-
cision gehen alle Erscheinungen derart zurück, daß am 15. Okt. der Wurm-
fortsatz entfernt werden konnte.
n. Operation. 15. Okt. 1903. Exstirpation des Appendix im Intervall.
Der Wurmfortsatz ist stark verwachsen, eiteriges Empyem, keine Perforation.
Verlauf. Im weiteren Verlauf treten Ileuserscheinungen auf und es
wird, nachdem die Leukocytose nochmals stark angestiegen ist, an der
linken Bauchseite ein faustgroßer intraperitonealer Absceß incidiert. Von
da ab glatter Verlauf. Patient wird am 2. Dez. mit guten Narben geheilt
entlassen.
2. Fall. Borchert, Paul. 11 J. Erkrankt am 25. Dez. 1903, auf-
genommen am 29. Dez. 1903, operiert am 7. Jan. 1904, dem 13. Krank-
heitstage, geheilt entlassen am 1. Feb. 1904.
Anamnese: Pat. erkrankte am 25. Dez. plötzlich mit Erbrechen und
Schmerzen rechts unten, es trat Durchfall hinzu, die Schmerzen nahmen zu.
Bei der Aufnahme am 4. Exankheitstage (2$. Dez.) zeigt der Pat. folgenden
schwerkranken Oesamteindruck. Temperatur 37,7, Puls 116, Leuko-
cyten 13000, der Leib sehr stark aufgetrieben; überall empfindlich.
Nirgends eine deutliche Resistenz oder Dämpfung. Per rectum nihil.
Verlauf: Das Bemerkenswerte in den nächsten Tagen ist der starke
Durchfall. Der Gesamteindruck bessert sich langsam, aber deutlich. In
der rechten oberen Bauchgegend bildet sich allmählich eine deutliche
Resistenz heraus, die mehr als der übrige Leib empfindlich erscheint, die
aber niemals Dämpfung aufweist. Das Erbrechen sistiert völlig. Die
Empfindlichkeit des übrigen Leibes geht allmählich zurück. Per rectum
dauernd nihil. Temperatur und Leukocyten bleiben gleichfalls dauernd
niedrig.
5. J a n. Pat klagt über stärkere Schmerzen und wird unruhig. Leuko-
cytose und Temperatur steigt In den nächsten Tagen steigen unter
größerer Unruhe Leukocyten, Puls und Temperatur mehr an. Rechts unten
deutliche über handtellergroße Resistenz ohne Dämpfung.
Operation: 7. Jan. (Sonnbnburo). Plankenschnitt rechts. Extraperi-
toneale Eröffnung eines großen Abscesses mit 500 ccm gashaltigen
Eiters, der unter hohem Druck steht. (Daher keine Dämpfung.) Mit dem
Finger kommt man in eine flache Höhle, die weit nach dem Nabel zu
reicht und ganz locker abgekapselt erscheint. Nach oben zu fühlt man
den Leberrand, nach unten Darm. Darüber hinweg zieht das Netz.
Drainage. Wurmfortsatz nicht zu fühlen.
Ueber Perityphlitis.
265
Verlauf: Sehr starke Sekretion. Absceß entleert sich gut. Voll-
kommene Heilung. Fat. wird nach 4 Wochen zur Appendektomie wieder
bestellt
leukZahl
UOOOO
TemfiL
Paü
1
1
%
•s
S5O00
M""
160
i
s
y
30000
♦/^
VtO
J
1
1
^
25000
W^
1Z0
i*
§
\j
^
v
WOOD
so""
100
<?
«5
/
N
15000
38''
so
"A
,•>'
.•-- "
J
" "-or
»''
A
...
«..—
♦^**
^*
10000
37''
60
fd
J^
e^
^
y
/^
!^-^
^
5000
3S''
w
^
y
K Wl
Krankkeiista^
*
5
e
;>■
s
9
/<?
11
ie
13
IJf
/5
/tf
üü
Beide FSlle stellen in verschiedener Richtung Typen dar, sie er-
gänzen sich gegenseitig. Beide Fälle haben die gleiche Anamnese. In
beiden der stürmische Beginn mit Erbrechen und Schmerzen im ganzen
Leib, die bald nachlassen, um nach einigen Tagen aufs neue stark in der
rechten Unterbauchseite aufzutreten . Amdritten bis viertenTage
der Erkrankung Aufnahme ins Krankenhaus unter folgendem Status:
Aeußerst kollabierter Zustand, demgemäß alle Reaktionen minimal^
Temperatur 37— 37,5S Leukocyten 10—15000, Puls klein,
frequent 120 — 140. Der Unterleib trommelartig aufgetrieben, fiberall
gleichmäßig stark druckempfindlich, auch in den Flanken. Eine Re-
sistenz entweder gar nicht oder nur ganz undeutlich nachweisbar, ge-
wöhnlich Erbredien und Durchfall.
Es geht aus dieser Beschreibung hervor, wie schwierig die richtige
Beurteilung dieses Zustandes sein muß und wie schwankend die Indi-
kationsstellung zur Operation ist. Ich glaube jedoch, daß wir in dem
Verlauf der beiden mitgeteilten Fälle einen Hinweis haben, wie wir uns
am zweckmäßigsten in derartigen Situationen verhalten. Es erscheint
auf den ersten Blick als das einzig Richtige, durch eine schnelle
Entleerung des infektiösen Exsudats eine Entlastung des Organismus
herbeizuführen. Die Erfahrungen jedoch, die man mit Eingriffen in solch
desolatem Zustande macht, sind durchaus keine ermutigenden. Wir haben
manche Fälle in diesem Intermediärstadium operiert, jedoch leider mit
durchaus schlechtem Erfolg. Ich werde weiter unten noch näher auf
diese letalen Fälle zurückkommen. Wir stehen heute auf dem Stand-
punkte einer abwartenden Behandlung, indem wir uns unter genauester
Beobachtung des Fortschrittes des Prozesses unser jeweiliges Eingreifen
vorbehalten. Operiert man nämlich in einem solchen Stadium, wo alle
Kräfte bereits so außerordentlich darniederliegen, so fügt man eine
neue, tiefgreifende Schädigung hinzu, die imstande ist, die Widerstands-
kraft des Organismus völlig zu brechen. Der Patient geht im Shok
266 A. Federmann,
zu Grunde. Eine andere noch größere Gefahr in diesem Stadium ist die,
daß die Adhäsionen, die vielleicht bereits in der Bildung begriffen sind,
zerstört werden, und somit eine wenigstens schon teilweise begrenzte Peri-
tonitis aufs neue in eine diffuse verwandelt wird. Es leuchtet ein, daß
der durch vielfache Momente schwer geschädigte Organismus eine er-
neute Begrenzung nicht leicht herbeizuführen vermag.
Es geht aus diesen Betrachtungen hervor, daß es sehr schädlich
sein kann, in einem solchen Stadium zu operieren. Wir müssen aufs
sorgfältigste und stündlich einen derartigen Patienten beobachten und
jederzeit bereit sein, einzugreifen. Bemerken wir in den nächsten
Stunden und Tagen, daß der Zustand des Patienten auch nur eine
geringe Besserung aufweist, so werden wir froh sein, abwarten zu
können. Es steht dann zu hoffen, daß es den Wehrkräften des Orga-
nismus gelingen wird, eine Begrenzung der allgemeinen Infektion her-
beizuführen ; diesen Verlauf zu stören, kann nicht in unserem Interesse
liegen.
Es ist nun sehr schwierig, den Zustand, in dem sich das Peri-
toneum befindet, mit Sicherheit zu beurteilen. Nur einige Punkte
möchte ich hier als besonders wichtig hervorheben, da ihre Beachtung
von der größten Bedeutung ist. Unter dem physikalischen Symptomen
halten wir für das Hervorstechendste den mehr oder weniger starken
Meteorismus, durch den eine vorhandene Resistenz oft kaum
zu fühlen ist. Trotzdem muß auf den Nachweis der letzteren,
resp. einer deutlichen Dämpfung großes Gewicht gelegt werden, und
in den allermeisten Fällen gelingt es auch, trotz des Meteorismus
eine Resistenz an irgend einer Stelle, wenn auch nur undeutlich, nach-
zuweisen. Die allgemeinen Symptome sind die eines völligen Dar-
niederliegens aller reaktiven Kräfte des Körpers. Der Puls ist stets
sehr frequent und klein, er schwankt zwischen 120 — 140. Einen lang-
samen Puls haben wir in einem solchen Zustand kaum jemals beob-
achtet, die Temperatur ist mäßig erhöht, zwischen 37^ und 38 ^ oft
niedriger.
Eine besondere Bedeutung muß aber gerade in diesen Fällen, vor
allem in prognostischer Beziehung, die Leukocytose beanspruchen.
Während am 2. oder 3. Krankheitstage eine hohe Leukocytenzahl,
zwischen 20 und 30000, gemäß der großen Intensität des Pro-
zesses und der noch nicht geschädigten Widerstandskraft des Orga-
nismus, das durchaus gewöhnliche ist, ist es die Regel, daß in den
schweren Fällen, die wir hier im Auge haben, die Leukocytose bereits
am 4. Tage rapid bis auf 15000 und darunter sinkt. Dieser jähe
Sturz ist der Ausdruck der schnell fortschreitenden Allgemeininfektion
und ein Zeichen von hervorragender Bedeutung. Dieser Tiefstand der
Leukocytenzahl ist uns ein Beweis dafür, daß die Wehrkraft des Orga-
üeber Perityphlitis. 267
nismus nahezu an ihrem tiefsten Punkt angelangt ist Eine weitere
Schädigung vermag der Körper nicht mehr zu überwinden ^).
Gewöhnlich beobachtet man den eben geschilderten Befund am
4. — 6. Tage seit Beginn der Erkrankung. Die Leukocytose wird um so
länger hochbleiben, je später der Organismus erlahmt. Es ist deshalb
nicht angängig, für jeden Krankheitstag eine bestimmte Höhe der Leuko-
cytenzahl festzusetzen, sondern in jedem Falle muß individuell die ge-
fundene Zahl mit den übrigen Symptomen zusammen beurteilt werden.
Wir können uns deshalb dahin fassen: Erhält man am 3.-7. Krank-
heitstage einen Patienten in Behandlung, der neben den
oben bezeichneten schweren klinischen Symptomen eine
Leukocytenzahl unter 15000 aufweist, so halten wir es
für das Richtige, momentan mit dem Eingriff zu warten
und den weiteren Verlauf zu beobachten.
Denn in einer gewissen Zahl von Fällen, wovon die beiden oben-
genannten als Typus angesehen werden können, kommt die am 4. Tage
noch diffuse Peritonitis sekundär zur Begrenzung, und es ist dann
möglich, später ohne Verletzung der freien Bauchhöhle einen, oder
mehrere Abscesse zu incidieren. Der Verlauf ist in solchen güns-
tigen Fällen ein derartiger, daß einige Tage noch die Leukocytose auf
dem konstatierten tiefen Stand verharrt, zugleich mit der Temperatur.
In diese Zeit müssen wir den Beginn der Begrenzung setzen. Ganz
allmählich erfolgt dann ein Anstieg der Leukocytenzahl, manchmal bis
zu sehr hohen Graden infolge des erneuten Wachstums des Abscesses
und der zunehmenden Widerstandskraft des Körpers. Die Temperatur
beginnt gewöhnlich erst einige Tage später als die Leukocytenzahl an-
zusteigen, und wir erhalten durch die feinere Leukocytenreaktion
früher schon Nachricht von dem im Organismus sich vorbereitenden
Prozesse. Incidiert man dann am Ende der ersten oder im Verlauf
der zweiten Woche, je nach der Schnelligkeit des Wachstums, einen
solchen Absceß, so findet man gewöhnlich nur eine lockere Begrenzung.
Ein Suchen nach dem Wurmfortsatz ist aus diesem Grunde schon nicht
angebracht. Andererseits ist es nicht nötig, daß die sekundäre Abkapse-
lung überhaupt in der Umgebung des Wurmfortsatzes erfolgen muß.
1) Es entspricht einer durchaus imgen Auffassung der Leukocytose,
wenn mau lediglich den positiven oder negativen Ausfall der Untersuchung
für das Vorhandensein von Eiter verwendet. Eine Statistik, wie sie kürz-
lich noch Rbhk (Münch. med. Woch., 1903, No. 60) gegeben hat, die ein-
fach auf den Befund hin, daß trotz einer niedrigen Leukocytose eiterige
Peritonitis bestand, sich aufbaut, ist angreifbar. Es geht aus der Mit-
teilung zahlreicher Fälle unserer Beobachtung hervor, daß unter Umständen
gerade das Pehlen einer Leukocytose bei sonstigen schweren Symptomen
ftlr einen intensiven eiterigen Prozeß spricht und daher gerade diese Kom-
bination nicht nur in diagnostischer, sondern vor allem in prognostischer
Hinsicht eine große Bedeutung beanspruchen kann.
268 A. Federmann,
Wir selbst verfügen über mehrere Fälle, in denen lediglich ein Absceß
in der linken Bauchseite von der diffusen Peritonitis übrig geblieben
ist. Gewöhnlich muß man allerdings annehmen, daß infolge der größeren
Virulenz des Exsudats eine Resorption des dem Appendix nächstge-
legenen Herdes am spätesten erfolgt, während an den übrigen Partien
der Bauchhöhle infolge der leichteren Resorbierbarkeit des Exsudats
eine Resorption leichter möglich erscheint Außerdem kommen sicherlich
auch die verschiedenartigen Resorptionsverhältnisse des Peritoneum
parietale und viscerale in Betracht, weshalb wir auch gewöhnlich Abs-
cesse antreffen, die dem schwerer resorbierenden Peritoneum parietale
anb'egen.
Einen solchen gutartigen Verlauf, wie ich ihn eben geschildert habe,
sehen wir vorzüglich illustriert durch den mitgeteilten Fall Borchert,
wo der Absceß vorn in der Magengegend in Erscheiiiung trat. Eine
zweite, vielleicht die häufigste Lokalisation derartiger Abscesse ist die
im kleinen Becken (Douglasabscesse). Diese Lokalisation ist deshalb
die günstigste, weil es durch einen sehr geringfügigen Eingriff gelingt,
eine Entleerung herbeizuführen. Wir sind dann, wenn wir eine empfind-
liche Vorwölbung im Rectum nachweisen können, nicht gezwungen, eine
deutliche Begrenzung abzuwarten, sondern können bereits, ehe die Leuko-
cytose hohe Grade erreicht hat, das Exsudat ablassen. Um eine der-
artige Lokalisation handelt es sich im Fall Kaczmarek, wo dieser
Eingriff bereits am 8. Krankheitstage bei einer Leukocytose von 20000
mit Erfolg ausgeführt werden konnte. Als üeberrest der früheren
diffusen Peritonitis mußte in diesem Fall ein zweiter linksseitiger, intra-
peritonealer Absceß später noch entleert werden, ehe die völlige Heilung
erfolgen konnte.
Diese beiden Fälle, die wir früh genug zur Aufnahme erhielten
und wo wir deshalb im stände waren, die Entwickelung unter unseren
Augen zu beobachten, dürften gewissermaßen als Typen des gutartigen
Verlaufes einer sehr schweren, mangelhaft begrenzten Peritonitis
anzusehen sein. Es ist selbstverständlich, daß wir Fälle ganz ver-
schiedener Intensität und Krankheitsdauer in Behandlung bekommen,
durch die Kenntnis eines einigermaßen gesetzmäßigen Verlaufes sind
wir aber im stände, selbst bei einer kurz dauernden Beobachtung, uns
ein Urteil über den Zustand des Peritoneums zu bilden und unsere Indi-
kation danach einzurichten.
Ich möchte mir im weiteren erlauben, kurz einige in dieselbe
Gruppe gehörige Fälle mitzuteilen, bei denen keine längere Beobach-
tungszeit im Krankenhause vorlag und die wir bald nach der Aufnahme
operierten.
3. Fall. Alex Müller, 11 Jahre alt. Erkrankt am 4. Juni, auf-
genommen am 11. Juni 1903, operiert am 11. Juni dem 7. Krankheitstage
geheilt entlassen am 3. Aag. 1903.
Ueber Perityphlitis.
269
Anamnese: Früher gesund. Der Anfall begann am 4. Juni nach-
mittags 4 ühr mit Erbrechen und Schmerzen links unten. In der Nacht
zogen sich die Schmerzen nach der rechten Seite und blieben dort be-
stehen. Die Schmerzhafdgkeit ließ nach und das Erbrechen sistierte.
Seit 2 Tagen hochgradige Verschlimmerung, erneutes Erbrechen.
Befund: Schwerkranker Eindruck, Temperatur 39,7, Puls 140,
Leukocyten 36000. Leib gespannt und aufgetrieben. Die linke Bauch-
seite ist frei, rechts auf Druck hochgradig empfindlich. B.echts eine bis
zur Mittellinie reichende Resistenz und undeutliche Dämpfung. Rechts
Flankenschmerz. Per rectum eine ziemlich starke empfindliche Vor-
wölbung. In der Annahme einer fortschreitenden Peritonitis sofortige
Operation.
Operation 11. Juni nachm. 6 Uhr (Fbdbrmann). Tjrpischer Planken-
schnitt rechts. Nach Eröffnung des Peritoneums entleeren sich unter
mäßigem Druck etwa 3 Eßlöffel dünnflüssigen Eiters. Beim Eindringen
mit dem Finger kommt man in eine nach oben zu locker abgekapselte,
nach unten und median zu vollkommen freie Höhle, aus der sich noch
ziemlich viel dicker Eiter entleert. Der Wurmfortsatz liegt nach median
zu, ist an verschiedenen Stellen gangränös und enthält zwei große Kot-
steine. Resektion. Tiefe Schürzentamponade der Wunde.
Verlauf: In den nächsten Tagen reichliche Sekretion, es entsteht
eine Kotfistel, aus der sich reichlich Faeces entleeren.
Nachdem anfänglich Temperatur und Leukocyten vollkommen zur
Norm abgesunken sind, beginnt nach etwa 8 Tagen ein allmählicher An-
stieg von Puls, Temperatur und Leukocytose. Gleichzeitig tritt in der
linken Unterbauchgegend eine deutliche Resistenz in Erscheinung.
26. Juni. Spontanperforation eines großen Abscesses in
den Mastdarm. Zurückgehen aller Erscheinungen. Pat. erholt sich
rasch, wird am 3. Aug. mit einer 4 cm langen Fistel entlassen. Da trotz
mehrmonatlicher Behandlung sich dieselbe nicht von selbst schließt, wird sie
Ende Dezember mit vollständigem Erfolge operiert.
Tempi
fUU
1
^€000
••>•
Tl
35000
uz""
160
'
y
^
w_
i1
J
f
30000
^l'
no
\<
«.
\
\^
■ll
25000
^^
1Z0
^
s.
4»^
4^
^
WOOO
Jt9^
100
>
*•
^
'S.
^*
'Tl^
-**—
" r
15000
38'
so
\ /^
./\
^•.
XV
•o-'''
^
^
A
yv
^
fr
v^
/
10OO0
37'
60
V
)
.. A.
A^
_K
>
t^
ZJ
/-
)^
5000
36'
'tO
x^
/^
T
7^
7^
KrtzakkeUstag
7
s
9
10
//
JZ
t3
/-f
/.?
w
17
78
19
^6>
AL
In diesem Falle, der am 7. Krankheitstage unter höchst schweren
Erscheinungen (Puls 140, Temp. 39,7) zur Aufnahme kam, konnte nach
der Anamnese sowohl, wie nach dem Befund kein Zweifel sein, daß es
sich um eine fortschreitende teilweise begrenzte Peritonitis handelte, bei
der ohne einen Eingriff ein spontaner Stillstand nicht zu erwarten war. Für
diese Auffassung sprach vor allem die hohe Leukocytose von 30000 und
die schweren Allgemeinerscheinungen. Von großem Interesse ist in
270 A. Fe der mann,
diesem Fall die Anamnese, in der sich der bisherige Verlauf deutlich
widerspiegelt. Stürmischer Beginn der Erkrankung, Nachlassen aller
Erscheinungen, allmähliche Verschlimmerung seit 2 Tagen. Der Ope-
rationsbefund bestätigte die Diagnose, indem ein nur höchst mangelhaft
und teilweise abgekapselter Eiterherd gefunden wurde. Daß wir es
ferner mit einem vorher diffusen Prozeß zu tun hatten, ging aus der
später erfolgenden Abscedierung, dem Douglasabsceß, hervor. Außer-
dem sehen wir durch diesen Fall unsere Behauptung bestätigt, daß,
solange bei noch hochstehender Leukocytose operiert wird, die Prognose
eine günstige ist.
Als weiteres Beispiel einer begrenzt fortschreitenden Peritonitis
im Beginn, mag der folgende Fall Strache dienen.
4. Fall. Strache. 17 Jahre alt. Erkrankt am 18. Juli 1903, aufge-
nommen am 21. Juli, operiert am 21. Juli, dem 3. Krankheitstage,
geheilt entlassen am 1. Sept. 1903.
Anamnese. Pat. früher stets gesund. Am 18. Juli plötzlich mit
Schmerzen rechts unten und kräftigem Erbrechen erkrankt, nachdem er
vorher schon 14 Tage über Magenschmerzen geklagt hatte. Da die
Schmerzen dauernd zunehmen, der Leib sich immer mehr aufbläht, der
Oesamteindruck immer schlechter wird, wird Pat zur Operation ins
ELrankenhaus gebracht.
Befund. Schwerkranker Eindruck. Zunge ti'ocken. Puls 120,
Temperatur 39,0, Leukocyten 22 000, Leib trommelartig aufge-
trieben, die ganze rechte Seite hochgradig empfindlich, undeutlicher Wider-
stand. Rechts Flankenschmerz, die linke Bauchseite weniger empfindlich,
keine Dämpfung. In der Annahme einer fortschreitenden Peritonitis sofortige
Operation.
Operation. 21. Juli Nachmittag 4 ühr (Fbdbrmann). Typischer
Flankenschnitt rechts. Nach Eröffnung des etwas verdickten Peritoneums
quillt von allen Seiten reichlich übelriechender dünner Eiter hervor.
Man kommt mit dem Finger in eine nach unten zu locker verklebte, nach
oben und median zu völlig freie Höhle. Der Wurmfortsatz liegt nach unten
und median zu, wird mit Darmklemmen reseziert und übernäht. Er ist
4 cm lang, in seiner ganzen Länge gangränös, in der Mitte perforiert,
enthält einen Kotstein. Verlauf glatt. Am 1. Sept. geheilt entlassen.
Das Verständnis dieses Falles ist nach all dem Vorausgegangenen
kein schwieriges. Der Patient wurde am 3. Krankheitstage mit einer
hohen Leukocytose von 23000 unter sehr schweren Allgemeinerschei-
nungen eingeliefert. Er war also in demselben Stadium, in dem sich
der Fall Kaczmarek bei der Aufnahme befand und bot dieselben klini-
schen Symptome. Während aber im Fall Kaczmarek aus äußeren Gründen
mit dem Eingriff gewartet wurde und wir so Gelegenheit hatten,
den rapiden Verfall nach weiteren 24 Stunden zu beobachten, wurde
Strache sofort operiert, da wir auf Grund der hohen Leukocytose
(22000) die Prognose günstig zu stellen berechtigt waren. Der Aus-
gang der Operation gab ihr recht. Es ist mit großer Wahrscheinlich-
keit anzunehmen, daß auch in diesem Falle nach weiteren 24 Stunden
Ueber Perityphlitis. 271
ein Nachlassen aller Kräfte eingetreten wäre, mit einer wesentlichen
Verschlechterung der Prognose. Der Operationsbefund bestätigte die
Prognose insofern, als sich nur ein ganz locker abgegrenzter außer-
ordentlich großer Eiterherd von putridem Charakter vorfand. Durch
radikale Operation und ausgedehnte Tamponade gelang es, weitere Ab-
scedierungen zu verhüten.
Im folgenden Fall S toi dt haben wir ein außerordentlich instruk-
tives Beispiel, wie trotz andauernd normaler Temperatur die konstant
hochbleibende Leukocytose uns einen Fingerzeig für die Schwere des sich
abspielenden Vorganges gibt. Auch in diesem Falle handelt es sich
sicherlich um eine Form der Peritonitis, die ohne einen operativen Ein-
griff zur progredienten fibrinös-eiterigen Peritonitis geführt hätte. Es ist
anzunehmen, daß in kurzer Zeit ein Absinken der Leukocytose mit der
bekannten schlechten Prognose erfolgt wäre. Der Patient, der schon
nach 48 Stunden zur Beobachtung kam, zeigte dauernd schwere klinische
Symptome; da die Leukocytose dauernd hoch blieb, eine Wendung zur
Besserung nicht eintrat, wurde am 5. Krankheitstage bei noch hoch-
stehender Leukocytose operiert, und trotz des ungünstigen Zeitpunktes,
gemäß der hohen Leukocytose, mit gutem Erfolg, wenn es auch später
noch zu mehrfacher Abscedierung kam. Der Operationsbefund be-
stätigte die Diagnose insofern, als sich bereits zwei mangelhaft be-
grenzte Eiterherde vorfanden. Der Anfang zu einer fortschreitenden
Peritonitis war hierdurch gegeben. Ich teile die Krankengeschichte und
die Kurve hier mit
6. Fall. Stoldt. 18 Jahre alt. Erkrankt am 23. April, aufgenommen am
26. April 1903, operiert am 28. April, dem 5. Kran kheits tage, ge-
heilt entlassen am 8. Juni 1903.
Anamnese. In der Nacht vom 22. — 23. April begann der Anfall mit
einem plötzlichen Schmerz rechts unten, nachdem schon den Tag über ge-
ringe Leibschmerzen vorhanden gewesen waren. Es trat reichliches Er-
brechen hinzu, die Schmerzen nahmen zu.
Befund. Schwerkranker Gesamteindruck. Temperatur 37,8,
Puls 120, Leukocyten 23 000. Der Leib mäßig aufgetrieben, in
der rechten Unter bauchsei te eine ganz undeutliche Resistenz ohne
Dämpfung, jedoch mit hochgradiger Empfindlichkeit Ikterus.
Verlauf. In den nächsten Tagen tritt rechts unten ein deutlicher
Tumor auf, der beinahe bis zur Mittellinie reicht und hochgradig empfind-
lich ist, die Allgemeinerscheinungen gehen nicht zurück, deshalb Operation.
Operation (28. April, Hbrmbs). Typischer Flankenschnitt rechts. Nach
Eröffnung des etwas verdickten Peritoneums kommt man in eine lockere
Absceßhöhle, aus der sich etwa l^, Eßlöifel übelriechenden Eiters entleert.
Der Wurmfortsatz liegt an der Hinterwand des Coccums, ist an seiner
Spitze gangränös und perforiert Dieselbe taucht in eine zweite Absceß-
höhle im deinen Becken, aus der sich gleichfalls zwei Eßlöffel Eiter ent-
leeren. Der Wurmfortsatz wird reseziert Tiefe Schürzentamponade.
Verlauf. In den nächsten Tagen gingen die Erscheinungen anfänglich
zurück. Am S.Mai wird erst von der alten Wunde aus ein großer Absceß
272
A. Federmann,
^latt, Pat. wird mit guter Narbe am 28. Juni geheilt
stumpf eröffnet, der
bis tief in den
Douglas hinab-
reicht. Entleerung
von ca. 300 ccm
stinkenden grün-
gelben Eiters. Dann
Eröffnung eines
zweiten Abscesses,
der nach der linken
Becken schaufei
hingeht, per Rec-
tum, 200 ccm Eiter,
Verlauf ist dann
entlassen.
Hatten wir es bisher mit Beobachtungen zu tun, die sämtlich einen
gutartigen Verlauf zeigten, so möchte ich nun auf eine Reihe von Fällen
näher eingehen, die einen letalen Ausgang nahmen und gerade deshalb
eine Fülle interessanter und wichtiger Tatsachen liefern. Wir hatten
oben die Behauptung aufgestellt, daß, wenn bei einer nach 48 Stun-
den bestehenden niedrigen Leukocytose und schwerem Allgemeinzustande
operiert wird, die Prognose eine durchaus schlechte ist.
Ich möchte im folgenden 3 Fälle mitteilen, die nach dem 3. Krank-
heitstage trotz niedriger Leukocytose und schweren Allgemeinerschei-
nungen operiert wurden und alle zu Grunde gegangen sind. Der Abfall
einer hohen Leukocytose kann bei einer vorher schon mangelhaft be-
grenzten Peritonitis dadurch zu stände kommen, daß die Allgemein-
vergiftung des Körpers einen hohen Grad erreicht hat. Um diesen
Modus handelt es sich in der Regel, wenn wir bereits in den ersten
3 — 5 Tagen ein allmähliches Absinken der Leukocytose konstatieren.
Beispiele dieser Art finden sich ausführlich mitgeteilt in meiner ersten
Arbeit über Leukocytose bei freier fortschreitender Peritonitis. Alle
jene Fälle wurden trotz niedriger Leukocytose am 3. — 4. Tage operiert
und sind zu Grunde gegangen, und ich stellte schon in meiner ersten
Veröffentlichung die Behauptung auf, daß Operationen unter solchen
Bedingungen ausgeführt, eine durchaus schlechte Prognose geben. Eine
zweite Ursache des Leukocytenabfalls, die vor allem in den uns hier
interessierenden Fällen vorliegt, bildet die Perforation eines Abscesses
in die freie Bauchhöhle. Ich werde mir erlauben, nachfolgend mehrere
Beispiele eines solchen Vorganges hier mitzuteilen, möchte aber vorher
einige berichtigende Worte voranschicken.
Es kommt sicher sehr selten vor, daß ein völlig abgekapselter
Eiterherd perforiert. Ich selbst habe dieses Ereignis niemals mit
Sicherheit beobachtet. Wenn man von einer Perforation eines Abscesses
spricht, so handelt es sich meist um jene locker abgekapselten, bereits
im Fortschritt begriffenen Eiteransammlungen, die auf irgend eine Weise
plötzlich ein großes, bisher nur leicht entzündetes Peritonealgebiet über-
Ueber Perityphlitis. 273
schwemmen. Die Wirkung eines solchen Vorkommnisses ist eine shok-
artige, und wer sie einmal gesehen hat, kann ein solches Ereignis stets
wiedererkennen. Das Verhalten der Leukocytose ist dabei geradezu ein
typisches. Während nämlich die Temperatur ein verschiedenes Bild
zeigt, in dem einen Falle unter die Norm absinkt, in dem andern auf
40 ^ unter Schüttelfrösten ansteigt, ist es die Regel, daß die Leukocyten-
zahl, ganz abgesehen auf welcher Höhe sie vorher gestanden hat, in
ganz kurzer Zeit erheblich absinkt, bis zur Norm, oder noch tiefer.
Dieser Sturz, der meiner Ansicht nach in erster Linie auf nervöse Ein-
flüsse seitens des Sympathicus, der auch mit den Leukocytencentren in
Verbindung steht, zurückzuführen ist, ist in allen Fällen gleichmäßig zu
beobachten. Klinisch macht sich eine derartige Perforation außerdem
durch einen höchst frequenten Puls, CoUaps, allgemeine Unruhe des
Patienten bemerkbar. Meistens bestehen hochgradige Schmerzen in der
Gegend der Perforation. Physikalische Symptome sind häufig undeutlich.
In zwei von den 3 folgenden Fällen (Fall 6 und 7) trat die Perforation
unter unseren Augen ein. Beide Patienten hatten vorher einen mehr oder
minder deutlichen Absceß, ein durchaus schwerer Allgemeineindruck
konnte nicht konstatiert werden. In beiden Fällen, die sich am 4. resp.
5. Krankheitstage befanden, war vor der Perforation eine hohe Leuko-
cytenzahl festgestellt worden. Die Leukocytose sank eine Stunde nach
der Perforation rapide, aber trotz sofortiger Operation gingen beide
Patienten zu Grunde. Auffallend ist die außerordentlich reichliche Eiter-
menge, die sich bei der Operation fand, ein Befund, der die Anschauung
zu stützen scheint, daß der wirkliche Durchbruch bereits Stunden vorher
stattgefunden hatte, die klinischen Symptome aber erst infolge der
gesteigerten Einwirkung auftraten. In beiden Fällen konnte durch
das Vorhandensein eines Teiles der früheren Absceßwände der Nach-
weis geführt werden, daß vorher ein, wenn auch locker begrenzter
Absceß bestanden hatte. Nach unseren Erfahrungen stellten wir auf
Grund der niedrigen Leukocytenzahl eine durchaus schlechte Prognose,
die durch den bald erfolgten Exitus leider bestätigt wurde. Von Interesse
ist schließlich der weitere Verlauf der Leukocytose nach der Operation.
Beide Patienten gingen unter einer dauernd ansteigenden Leukocytose
und subnormalen Temperatur an fortschreitender Peritonitis zu Grunde.
Als dritter Fall einer Perforationsperitonitis möchte ich noch
den Fall Sommer anführen, den ich am Abend des dritten Krank-
heitstages draußen mit einem anscheinend gut begrenzten Absceß zu
Gesicht bekam. In der Nacht trat hochgradige Verschlimmerung ein.
Am nächsten Mittag Leukocytenzahl von 16000. Trotz der schlechten
Prognose operierte ich den Fall. Bei der Operation fand sich neben
den Resten des alten Ab^cesses eine ausgedehnte Peritonitis. Der
Patient ging nach 24 Stunden im Collaps zu Grunde.
Ich teile im folgenden die Krankengeschichten dieser 3 Fälle von
Perforationsperitonitis mit :
MlttdL a. d. OreazfeMetan d. Medlsin a. Chlrargle. Zm. Bd. 18
274
A. Federmann,
LeukZcM
Jh^t
RJ»
1
*0000
35000
42'
160
1«
30000
41'
no
25000
*o'
1ZO
14
f —
»
WOOO
so'
100
15000
38'
80
*^.
\
r
*v
nd.
10000
sr'
60
,.\
\^
L
5000
36'
' W
^~^
w
^
^
Tod.
KrcuikkeUsta0
♦
3
6
7
8
6. Fall. Berthold, Paul.
34 Jahre alt Erkrankt 29. Juni,
aufgenommen am 3. Juli, dem
4. Krankheitstage, sofort
operiert, gestorben 6. Juli 1903.
Anamnese. Vor 6 Wochen
Leibschmerzen und Erbrechen.
Die jetzige Erkrankung begann
am 29. Juni plötzlich 5 Uhr früh
mit Schmerzen im Leibe und Er-
brechen. Die Schmerzen lokali-
sierten sich auf die rechte Bauch-
seite. Erbrechen hört auf.
Befund. Fat macht einen
kranken Eindruck. Puls 100, Temperatur 37,6, Leukocyten
23 000. Leib stark gespannt Rechts unten fühlt man eine deutliche
Resistenz von Handtellergröße, die auf Druck schmerzhaft erscheint Per
Rektum keine Verwölbung, rechts schmerzhaft.
3. Juli. Am Morgen ist die Temperatur 36,8, Leukocytenzahl 22000,
Puls 88. Resistenz deutlicher. Status idem. Am Nachmittag 2 Uhr
plötzlich Kollaps, unter Absinken der Temperatur und
Heruntergehen der Leukocytenzahl auf 6000. Oroße Un-
ruhe. Puls 104.
Operation Nachmittag 4 Uhr (Wolff). Flankenschnitt Nach Eröff-
nung des dicken schwartigen Peritoneums entleert sich grünflüssiger Eiter
in reichlicher Menge. Dick- und Dünndarm drängen sich in die Wunde
vor. Der Wurmfortsatz liegt retrocökal nach median zu geschlagen. Er
ist kleinfingerdick, prall mit Eiter gefüllt Perforation oder Gangrän nicht
zu entdecken. Er wird abgebunden und übemäht Lockere Verklebungen
bestehen nur nach oben hin. .
Verlauf. Unter zunehmender Leukocytose und abfallender Temperatur
tritt nach 4 Tagen unter fortschreitender Peritonitis der Exitus ein.
7. Fall. Gattner, Franz. 39 Jahre alt Erkrankt am 25. Januar,
aufgenommen am 4. Febr , operiert am 6. Febr., gestorben am 15. Febr. 1902.
Anamnese. Die jetzige Erkrankung begann vor 10 Tagen mit leichten
Jjeibschmerzen, die Patient aber nicht weiter beachtete. Am 2. Febr.
traten plötzlich abends heftige Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend
auf, ohne Erbrechen und Schüttelfrost
Befund: Der Leib nicht stark aufgetrieben. Rechts unten eine etwa
handtellergroße Resistenz und Dämpfung, die empfindlich ist Der übrige
Leib ist schmerzfrei. Temperatur 39. Puls 92.
Am nächsten Tage Temperatur 37,8, Puls 96, Leukocytenzahl 20000.
Gesamtbefund unverändert; deutliche hochsitzende Resistenz. Da am
nächsten Tage unter plötzlichem Schüttelfrost morgens die Temperatur
auf 41^ steigt. Puls 136, wird, unter Annahme einer plötzlichen Perforation
des Abscesses, sofort operiert.
Operation (Hbrmbs). 6. Nov. Typischer Flankenschnitt Nach Er-
öffnung des Peritoneums an der Umschlagsfalte liegt freies Coecum und
Netz vor. Nach Zurückstopfen desselben kommt man mit dem Finger in
einen nur zum Teil begrenzten, nach oben offenen Absceßraum von Hühner-
eigröße. Gangränöse Absceßwandteile werden entfernt. Der Wurmfortsatz
liegt als 8 cm langer, dünner Strang, zum Teil völlig gangränös, in der
Absceßwand eingebettet Resektion. Schürzentamponade.
Ueber Perityphlitis.
276
Verlauf: In den ersten 3 Tagen nach der Operation sinken Puls,
Temperatur und Leukocyten parallel bis zur Norm ab. £& erfolgt Stuhl-
gang. Starker Ikterus tritt auf. Einmaliges Erbrechen. Wunde sieht
schlecht aus. In den nächsten 6 Tagen bis zum Exitus steigt die Leuko-
cytose auf 48000, während die Temperatur dauernd subnormale Zahlen
aufweist. Trotz zweimaliger Incision auf der linken Bauchseite und Ent-
leerung von 2 neuen Absoessen gebt Patient am 14. Nov. an fortschreitender
Peritonitis zu Orunde. Sektion ergibt allgemeine eiterige Peritonitis.
8. Fall. Sommer. 9 Jahre alt Erkrankte am 9. Nov., aufgenommen
am 12. Nov., operiert am 12. Nov., am 4. Krankheitstage, gestorben
13. Nov.
Anamnese. Pat. erkrankte am 8. Nov. plötzlich mit Leibschmerzen
und Erbrechen. Die Schmerzen nahmen zu, kein Schüttelfrost. Nach 3 Tagen
war rechts unten eine deutliche Resistenz zu fühlen, die sehr empfind-
lich war. Puls 140, Temperatur 39,3. In der Nacht zum 12. trat
eine Verschlimmerung ein. Als Patient am 12. mittags ins Krankenhaus
aufgenommen wurde, war er in völligem Kollapszustaüde. Unterleib mäßig
aufgetrieben, auch jetzt besteht eine deutliche handtellergroße Resistenz
rechts unten, die sich diffus nach der Mittellinie hin verbreitete. Der
ganze Unterleib empfindlich, besonders rechts unten und in beiden Flanken.
Zunge trocken. Fahles Aussehen. Temperatur 38,3, Puls 140,
Leukocyten 14000. In der Annahme einer fortsdireitenden Peri-
tonitis sofortige Operation.
Operation 12. Dez. nachmittags (Fbdbrmanm). Flankenschnitt rechts.
Es entleert sich unter mäßigem Druck etwa ein Eßlöffel übelriechenden
Eiters. Wurmfortsatz liegt, kaum verwachsen, bogenförmig geknickt direkt
vor, ist teilweise gangränös und an der Kuppe perforiert. Die Qangrän
geht bis zum Goecum. Resektion desselben und Uebemähung. Beim
Herausholen des Wurmfortsatzes quillt aus dem kleinen Becken von median
und oben her reichlich grüner Eiter, im ganzen Yg ^- Darmschlingen sind
kaum verklebt, ein breiter Netzzipfel zieht nach dem kleinen Becken hinunter.
Eiter quillt frei zwischen den Darmschlingen hervor. Mehrfache tiefe
Schürzentamponade.
Trotz reichlicher Excitantien am nächsten Nachmittag Exitus.
Gewissermaßen in die obige Kategorie von Fällen, insofern als
auch in ihm eine akute Perforation eintrat, gehört der folgende Fall
Konrad, der gleichfalls einen letalen Ausgang nahm. Ich schicke die
Krankengeschichte voran.
18*
276
A. Federmann,
9. Fall. Kon r ad. 28 J., erkrankt am 19. Febr., aufgenommen am
22. Febr., operiert am 28. Febr., gestorben am 4. März 1903.
Anamnese: Früher angeblich gesund. Die jetzige Erkrankung begann
am 19. Febr. mit heftigen Schmerzen in der Unterbauchgegend, Erbrechen
und Fieber. Am n&chsten Tage Stuhlgang. Da die Schmerzen trotz Eis-
blase nicht nachlassen, Aufnahme ins Krankenhaus.
Befund: Bei der Aufnahme bietet Fat. einen mäßig schwerkranken
Eindruck. Temperatur 39®, Puls 120, Leukocyten 17000.
Der Leib leicht aufgetrieben und überall empfindlich. Brcsistenz oder
Dämpfung nirgends nachweisbar. Kein Erbrechen.
Verlauf: 25. Febr. In der rechten ünterbauchgegend deutliche
Resistenz von Hühnereigröße. Fat. hat mehrmals erbrochen. Stuhlgang
spontan. Etwas Ikterus. Temperatur 39 o, Puls 96, Leukocyten 18000.
26. Febr. Schüttelfrost, Temperatur 39,2 o, Puls 104. Allgemeine Ver-
schlechterung. In den nächsten Tagen wird das Allgemeinbefinden schlechter.
Ikterus nimmt zu, Erbrechen hält an.
Operation: 28. Febr. (Hbrmks). Flankenschnitt rechts. Eröffnung
eines faustgroßen Abscesses an der Umschlags falte und Entleerung von
Y^ 1 übelriechenden Eiters. Die Höhle ist besonders nach unten zu offen.
Im übrigen sehr locker abgekapselt. Der Wurmfortsatz zeigt in der Mitte
eine 3 cm lange gangränöse Partie, die perforiert ist. Resektion. Tiefe
Schürzentamponade.
Verlauf: Unter fortschreitender Peritonitis und unter Ansteigen der
Leukocyten auf 42000 geht Fat. nach 4 Tagen zu Grunde. Bei der
Sektion findet sich ein großer Absceß im Douglas. Im übrigen ausgedehnte
Peritonitis.
Der Fall hatte am 3. Krankheitstage bereits eine für die Schwere
des Prozesses niedrige Leukocytose, die nun bis zum 7. Tage konstant
auf dieser Höhe verblieb, während gleichzeitig ein deutlicher Tumor in
die Erscheinung trat. Wir müssen diese niedrige Reaktion als äußerste
Anstrengung des Organismus ansehen, der noch nicht völlig erlahmt,
aber zu der nötigen höheren Leistung unfähig ist. Immerhin war die
Leukocytose eine derartige, daß ein Eingriff noch erfolgversprechend
gewesen wäre. Da trat am 7. Tage ein akuter Nachschub mit einem
Schüttelfrost ein, gleichzeitig rapides Absinken der Leukocyten auf
10000. Die folgende fortschreitende Peritonitis führte zum Tode, ohne
daß der chirurgische Eingriff einen merklichen Einfluß hatte. Es ist
üeber Perityphlitis. 277
anzunehmen, daß die Begrenzung von Anfang an nur eine höchst
mangelhafte gewesen ist, und daß der Körper nur mit Aufbietung aller
Kräfte einer Propagation widerstand. Von größter Wichtigkeit ist der
Fall deswegen, weil die vorhandene konstante Leukocytose von 17000
zu der Schwere des Prozesses in einem großen Mißverhältnis stand und
die Bösartigkeit des Vorganges in keiner Weise erkennen ließ.
IV.
Zasammenfasfliiiig.
Fasse ich am Schlüsse meiner bisherigen Ausführungen unsere
Ansicht über den Wert und die Bedeutung der Leukocytenzählung,
wie sie sich uns nun nach einem Untersuchungsmaterial von ca. 300
FSllen in den letzten 2 Jahren ergeben hat, kurz zusammen, so möchte
ich folgendes sagen:
Die Leukocytose ist als eine heilsame Reaktion des Organismus
gegenüber der Infektion aufzufassen. Sie stellt ein Symptom der Er-
krankung dar wie Jedes andere, in mancher Hfnsicht vielleicht ein
feineres, jedenfalls aber kein charakteristisches. Der Ausfall dieser
Reaktion wird im wesentlichen bestimmt durch die Infektionsintensität
und die Reaktionskraft des Körpers. Von diesen beiden Momenten ist
das erstere wegen seiner größeren Labilität als das wichtigere zu be-
trachten. Da sich bei der Perityphlitis die Entzündung vorzüglich am
Peritoneum abspielt, das wie kein anderes Organ befähigt ist, jeden
feinsten Reiz widerzuspiegeln, so erklärt sich dadurch die große Em-
pfindlichkeit der Reaktion bei dieser Krankheit. So werden wir aber
auch geradezu dazu gedrängt, die Beteiligung des Peritoneums neben
den anatomischen Veränderungen am Wurmfortsatz zur Grundlage und
zum Einteilungsprinzip zu erheben. Nur durch eine Kenntnis des
pathologisch-anatomischen Vorganges kann der Blutbefund richtig be-
wertet werden, und umgekehrt wird durch die Untersuchung des
Blutes das Verständnis für den anatomischen Prozeß erleichtert und
gefordert
Wie aus der großen Zahl unserer Beobachtungen hervorgeht, ver-
läuft jede Perityphlitis, mag es nun eine einfache katarrhalische Form
sein oder die schwere Gangrän mit freier Peritonitis, unter einer typischen
Leukocytenkurve, die einen ansteigenden Teil, ein Höhestadium
und einen absteigenden Teil hat. Je nach der Intensität des Prozesses
variiert diese Kurve.
Je leichter die Infektion ist, desto niedriger ist die Leukocyten-
zahl im Beginn der Erkrankung und desto schneller sinkt sie parallel
den übrigen Symptomen zur Norm ab. Je schwerer die Infektion ist,
zu desto höheren Werten steigt die Leukocytenzahl an, desto länger
verweilt sie auf diesem Niveau, um dann gleichfalls allmählicher oder
rascher zur Norm herunterzugehen. In den allerschwersten Fällen
sinkt sie nach einem kurzen Höhestadium zwar gleichfalls ab, während
J
278 A. Federmaun,
jedoch im Gegensatz dazu die übrigen klinischen Symptome dauernd
an Schwere zunehmen.
Betrachten wir unter Zugrundelegung dieser allgemeinen Gesichts-
punkte den Wert und die Bedeutung der LeukocytenzäMung in den
einzelnen Entwickelungsstadien einer Perityphlitis, so werden wir er-
kennen, daß die Verwertung des Leukocytose fOr diagnostisch - pro-
gnostische Zwecke nur statthaft ist unter sorgfältigster Berücksichti-
gung aller übrigen klinischen Symptome, vor allem der Temperatur,
des Pulses und dem Zeitpunkt der Erkrankung. Ohne eine Ver-
gleichung mit diesen ist eine richtige Beurteilung unsicher und irre-
führend. Da die Leukocytose einen Wert vor allem während des
Fortschrittes der Krankheit besitzt, so bedeutet aucH bei weitem mehr
als eine einmalige Zählung die genaue Beobachtung der Leukocyten-
kurve. Es ist ausdrücklich davor zu warnen, die gefundene Zahl allzu
schematisch aufzufassen und der einmaligen Zählung eine zu große Be-
deutung beizulegen. Deuten schon die klinischen Symptome auf eine
schwere Erkrankung, so ist uns eine vorhandene Leukocytose eine
willkommene Stütze der Diagnose. Einen besonderen Wert hat die
Leukocytose dann, wenn die übrigen Untersuchungsergebnisse zweifel-
hafter Natur sind.
In dem Frühstadium der Erkrankung — das ist in den
ersten 2 — 2^2 Tagen — ist die Beurteilung und Verwertung der ge-
gefundenen Leukocytenzahl am schwierigsten und unsichersten, weil
die Momente, die gerade im Beginne der Erkrankung die Leukocyten-
reaktion beeinflussen, zu zahlreich und zum Teil noch zu unbekannt sind.
Wir sind zwar auf Grund einer einmaligen Zählung meist in der Lage,
im vorliegenden Falle zu entscheiden, ob eine Appendicitis simplex
oder eine Perforation resp. Gangrän des Organs besteht, denn bei einer
Appendicitis simplex erhebt sich nur in seltenen Ausnahmefällen die
Leukocytenzahl über 20000 (Empyem des Wurmfortsatzes), während
bei den schwereren Formen eine hohe Leukocytenzahl über 20000 die Regel
darstellt. Jedoch sind wir keineswegs im stände, auf Grund einer so-
gar mehrmals vorgenommenen Zählung, in den ersten 2 — 3 Tagen mit
Sicherheit zu entscheiden, ob der vorliegende eiterige Prozeß spontan
in Begrenzung übergeht oder dauernd fortschreitet. Es ist jedenfalls
feststehend, daß eine selbst mehrere Tage bestehende hohe Leukocyten-
zahl eine spätere völlige Abkapselung durchaus nicht ausschließt.
Mittelwerte sind in diagnostischer Hinsicht von geringer Bedeutung, da
sie bei jeder Form der Perityphlitis vorkommen können. Eine niedrige
Leukocytenzahl zusammen mit schweren klinischen Symptomen ist der
Ausdruck von schon beginnender Allgemeinvergiftung und beansprucht
in prognostischer Beziehung eine große Bedeutung. Eine Indikations-
stellung lediglich auf Grund der Leukocytenzahl ist in den ersten
48 Stunden nicht angängig, dazu bedarf es, wie bisher, der sorgfilltigen
Abwägung und Beurteilung aller vorhandenen Symptome.
lieber Perityphlitis. 279
Der Wert der Leukocytenzählung steigt um so mehr, je weiter
der infektiöse Prozeß fortschreitet. Denn um so mehr sind wir in der Lage,
die Leukocytenkurve zu berücksichtigen. Schon am 3.-5. Krank-
heitst^ge, dem Intermediärstadium, in dem ein Eingriff am ge-
fährlichsten erscheint, ist der Ausfall der Leukocytenzählung in dia-
gnostisch-prognostischer Hinsicht von großer Bedeutung. Eine hohe
Leukocytenzahl und schwere klinische Symptome geben in diesem
Stadium die Indikation zum sofortigen Eingriff, da das mit Sicherheit
vorhandene eiterige Exsudat keine Tendenz zur Abkapselung zeigt.
Solange bei noch hochstehender Leukocytenzahl operiert wird, ist die
Prognose der Operation eine günstige. Besteht jedoch in diesem
Stadium neben schweren klinischen Symptomen eine niedrige oder
keine Leukocytose, so bedeutet das, daß die Kräfte des Organismus
bereits auf einem derartig tiefen Niveau angelangt sind, daß eine weitere
Schädigung, wie sie ein operativer Eingriff immerhin darstellt, nicht
mehr vom Körper überwunden werden kann. Deshalb ist ein ab-
wartendes Verhalten unter solchen Verhältnissen mehr am Platze, um
dem Organismus die Möglichkeit zu überlassen, spontan eine Be-
grenzung herbeizuführen. Es ist dann später unter günstigeren Ver-
hältnissen möglich, bei hoher Leukocytose einen oder mehrere Abscesse
zu eröffnen.
Geht der Verfall weiter, so ist die Prognose mit oder
ohne Operation eine ungünstige. Von unseren Peri-
tonitisfällen sind alle bei niedriger oder fehlender
Leukocytose und schweren klinischen Symptomen ope-
rierten Patienten zu Grunde gegangen, während alle
bei hoher Leukocytose wenn auch schwersten klinischen
Symptomen operierten — selbst die am 4. Krankheits-
tage — genesen sind. Wir halten demnach die Leuko-
cytenzahl vor der Operation für das sicherste pro-
gnostische Merkmal, weil er am klarsten die noch vor-
handene Wehrkraft des Organismus widerspiegelt.
Befindet sich der Prozeß bereits am Ende der 1. Woche oder in
einem noch späteren Stadium, so ist eine Leukocytenzahl von 20000
und darüber zwar stets ein Zeichen eines mehr oder weniger gut be-
grenzten Abscesses. Eine Indikation zur Operation ist jedoch durch
diese hohe Leukocytenzahl allein niemals gegeben, eine solche ergibt
sich vielmehr erst aus einer Vergleichung mit allen übrigen Symptomen.
Besteht eine hohe Leukocytose bei schweren klinischen Symptomen,
80 spricht das für schnell wachsenden Absceß und indiciert sofortige
Operation. Konstatieren wir eine hohe Leukocytenzahl ohne bedroh-
liche Symptome, so erlaubt dies 24-stündiges Abwarten. Je nach dem
weiteren Steigen oder Absinken der Leukocytenzahl ist dann zu ope-
rieren oder der weitere Rückgang abzuwarten. Bleibt die Leukocyten-
zahl nach 24 Stunden auf der gleichen Höhe, so entscheiden die übrigen
280 A. Federmann, Ueber Perityphlitis.
Symptome. Eine niedrige Leukocytose oder ihr Fehlen beweist nichts
für das Vorhandensein eines Abscesses und ist deshalb für die Indi-
kationsstellung ohne größeren Wert.
Auch im postoperativen Verlaufe wie in differentialdiagnostischer
Hinsicht kann die Leukocytenuntersuchung unter Umständen große Be-
deutung beanspruchen, wie ich ausführlich bereits in meiner ersten
Veröffentlichung betont habe.
Es geht aus dieser Zusammenfassung hervor, daß
die Hauptbedeutung der Leukocytenuntersuchung auf
diagnostisch-prognostischem Gebiete liegt und daß ihr
Wert hinsichtlich der Indikationsstellung ein geringer
ist. Immerhin stehen wir nicht an, sie als ein wertvolles
Hilfsmittel in der gesamten Klinik der Perityphlitis zu
bezeichnen.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geh. Rat Sonnenburg, erlaube
ich mir auch an dieser Stelle für die gütige Ueberlassung des Materials
und das große Interesse, das er dieser Arbeit stets entgegengebracht
hat, hiermit meinen ergebensten Dank auszudrücken.
Literatur.
Ausführliches Literaturverzeichnis bereits in der ersten Mitteilung.
Rbhn, Münch. med. Wochenschr., 1903, No. 60.
CuBSCHMANN, Münch. med. Wochenschr., 1903, No. 61.
Reich, Bruns' Beitr. z. klin. Chir., Bd. 41, 1904, Heft 2. (Ausfährliches
Literaturverzeichnis.)
Stadler, Grenzgeb. f. Med. u. Chir., Bd. 1903, Heft 3.
Gerngross, Mtlnch. med. Wochenschr., 1903, No. 37.
Aus der chirurgischen Klinik der Universität Königsberg
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Garrä).
Nachdruck verboten»
XIIL
Experimentelle Beiträge zur Meren-
dekapsulation.
Von
Dr. O. Bhrliardt,
Privatdozent und Assistenzarzt der Klinik.
Als Edebohls im Jahre 1901 seine viel erörterten Mitteilungen
über die operative Behandlung des chronischen Morbus Brightii ver-
öffentlichte, erregten nicht allein die bei der Kürze der Kranken-
geschichten uns völlig unkontrollierbaren Operationserfolge Aufsehen;
in vielleicht noch höherem Grade lenkte sich die Aufmerksamkeit auf
die seltsamen theoretischen Anschauungen, mit denen der amerikanische
Chirurg sein Verfahren als ein rationelles begründen wollte^). Bei
allen Formen des chronischen Morbus Brightii, mag es sich nun um
eine interstitielle, eine parenchymatöse oder eine Mischform der chro-
nischen Nephritis handeln, hält Edebohls die Entfernung der Capsula
propria, die Dekapsulation der Nieren, für angezeigt. Der Eingriff
wird von ihm in typischer Weise so ausgeführt, daß möglichst in einer
Sitzung beide Nieren durch den Lumbaischnitt aufgesucht werden ; nach
Ablösung der Fettkapsel wird die Niere luxiert, die Capsula propria
gespalten, bis zum Hilus abgeschoben und hierauf in ganzer Aus-
dehnung abgetragen. Die Niere wird reponiert und die Wunde ge-
schlossen. Bei ausgedehnten perinephritischen Prozessen, welche dia
Luxation der Nieren unmöglich machen, wird der Eingriff in der Tiefe
der Wunde in situ ausgeführt.
1) Edbbohls, The eure of chronic Bright's disease by Operation.
Medical Record, 1901, Dec. 21. Ferner in: On bandages for Nephroptosis^
Med, Eecord, 1901, May 4. Questions of priori ty in the surgical treat-
ment of chronic Bright's disease. Ibid., 1902, April 16. Benal decap-
sulation for chronic Bright's disease. Ibid., 1903, March 28.
282 0. Ehrhardt,
Nach diesem Verfahren hatte Edebohls bis Ende 1902 51 Patienten
operiert, von denen 7 im Anschuß an die Operation, weitere 6 unge-
heilt nach längerer Zeit starben ; 2 leben ungeheilt, 3 sind unauffindbar,
bei 11 gestattet die kurze Zeit, die seit der Operation verflossen ist,
kein Urteil über den Erfolg. In weiteren 22 Fällen hat die Operation
Erfolg gehabt, indem 10 Patienten vollständig geheilt, 12 wesentlich
gebessert sind.
Die Frage, wie eine Besserung oder gar Heilung der chronischen
Nephritis durch Dekapsulation zustande kommen kann, beantwortet
Edebohls auf Grund von Beobachtungen, die er an 3 vor längerer
Zeit mit Nephropexie behandelten Patienten anstellen konnte. In diesen
Fällen hatten mächtige bindegewebige Verwachsungen die Niere an ihre
Umgebung fixiert; in dem neugebildeten Bindegewebe verliefen zahl-
reiche große Gefäße, so daß bei Durchtrennung der Adhäsionen „eine
starke Arterie nach der anderen^ unterbunden werden mußte. Ueber-
haupt waren in den Adhäsionen die Arterien viel zahlreicher als die
Venen und in allen Arterien war der Blutstrom nach der Niere zu
gerichtet.
„Arterielle Hyperämie, die dauernd vermehrte Blutzufuhr, wie sie
durch meine Operation bewirkt wird^, so fährt Edebohls weiter aus,
^bringt allmählich die Produkte der interstitiellen und parenchymatösen
Entzündungsprozesse zum Verschwinden. Sie befreit die Harnkanälchen
und Glomeruli vom äußeren Drucke, von ihrer AbschnOrung und
Knickung, sie bewirkt die Wiederherstellung normaler Zirkulation. Das
Endresultat des vermehrten Blutzuflusses zu den Kanälchen und
Glomeruli ist die Neubildung von Epithelien mit sekretorischen Funk-
tionen."
„Die Dekapsulation bezweckt die Ausbildung von ineuen reichlichen
kollateralen Blutgefäßen für die erkrankte Niere. Durch mein Verfahren
werden die reichen Gefäßbezirke der Fettkapsel und die Nierenober-
fäche in unmittelbare Berührung gebracht; hieraus ergibt sich als not-
wendige Folge eine Verbindung der beiden Blutbahnen in größter Aus-
dehnung. Bei zahlreichen Operationen habe ich feststellen können,
daß die fibröse Capsula propria eine fast unüberwindliche Barriere
zwischen den Gefäßen der Niere und ihrer Fettkapsel bildet. Häufig
sieht man die Gefäße der Capsula adiposa infolge perinephritischer
Prozesse an Zahl und Größe vermehrt, bisweilen dringt eine große
Arterie aus der Fettkapsel in die Capsula propria ein, ohne jedoch,
wie man sich beim Abstreifen der Capsula propria überzeugen kann,
je in die Niere selbst zu gelangen. Die Capsula propria hat hier die
Möglichkeit einer neuen Blutzufuhr zur Niere abgeschnitten.'^
„Die Lebercirrhose, die chronische interstitielle Hepatitis, eine der
häufigsten Komplikationen der BRiGHTschen Krankheit, gehört thera-
peutisch seit 3 Jahren in das Gebiet der Chirurgie. Die heute übliche
Experimentelle Beiträge zur Nierendekapsalation. 283
Operation der Lebercirrhose bezweckt vor allem, die Entwickelung von
ßefäßanastomosen zwischen Netz und vorderer Bauchwand, ferner die
Ausbildung fiächenhafter Adhäsionen zwischen Leberoberfläche und
Zwerchfell; beides geschieht zur Erleichterung des Pfortaderkreislaufs
und zur Beseitigung eines Krankheitssymptoms, des Ascites. Wenn
schon die Gefäßanastomosen zwischen Netz und Bauchwand den Ascites
zum Schwinden bringen, so wird meines Erachtens die Zukunft lehren,
daß die Entwickelung breiter Adhäsionen zwischen Leberoberfläche und
Diaphragma mehr leistet. Sie wird wahrscheinlich zu einer Besserung
und in einigen Fällen zur Heilung der Cirrhose führen, indem sie eine
vermehrte arterielle Blutzufuhr zur Leber herbeiführt nach denselben
Gesichtspunkten, die mich bei meiner Operation des chronischen Morbus
Brightii leiteten."
Edebohls nimmt also an, daß durch die Dekapsulation die Aus-
bildung eines reichlichen Kollateralkreislaufs angeregt wird und daß —
dank den besseren Zirkulationsverhältnissen — eine Aufsaugung der
Entzündungsprodukte und damit ein Rückgang oder gar eine völlige
Heilung der Nephritis zustande kommt. Es lag nahe, experimentell
Dekapsulationen bei Tieren auszuführen und sich zu überzeugen, ob
wirklich nennenswerte Anastomosen zwischen den Gefäßen der Nieren-
rinde und der Fettkapsel sich bilden würden. Selbstverständlich sind
die hierbei vorliegenden Bedingungen nicht die gleichen wie sie bei der
chronischen Nephritis vorhanden sind, bei der narbenähnliches Gewebe
mit der gefäßreicheren Fettkapsel in Berührung kommt. Im allgemeinen
darf man jedoch meines Erachtens annehmen, daß die Anastomosen-
bildung bei normaler Nierenrinde reichlicher sein wird als bei der durch
Schrumpfungsprozesse veränderten; die Experimente setzten
günstigere Bedingungen für die Anastomosenbildung,
als sie bei den Schrumpfnieren vorhanden sind.
Ich habe vor etwa IV2 Jahren an Katzen einige Dekapsulations-
versuche gemacht, die zu völlig negativen Resultaten führten, in keinem
Falle hatte eine Ausbildung nennenswerter Anastomosen stattgefunden.
Damals gab ich weitere Versuche als aussichtslos auf, da auch eine
analoge, von einem Kollegen unternommene Versuchsreihe ein ähnliches
Ergebnis hatte. Als ich kurze Zeit danach die Veröffentlichungen
anderer Autoren, von Bonsz-Osmolowsky i) und Albarran*) u. a.,
las, die ebenfalls eine irgend nennenswerte Anastomosenbildung nach
Dekapsulation nicht konstatieren konnten, schien mir eine Mitteilung
1) Einige Untersachaiigsergebnisse über die Veränderung der Nieren
bei Entferung ihrer Kapsel. Russky Wratsch, 1903. Ref. in der Münch.
med. Wochenschr., 1903.
2) AiiBARRAN et Bbrnard, B^g^n^ration de la capsule du rein aprös
d^cortication de Torgane. Compt. rend. de la soc. de biol., 1902, 14 juin,
et Semaine m6dicale, 1902.
284 0. Ehrhardt,
meiner Versuche nicht mehr erforderlich. Inzwischen haben Asakura *)
und Stursberq') experimentelle Untersuchungen veröffentlicht, die,
wie die genannten Autoren glauben, zu hoffiiungsreicheren Resultaten
geführt haben. Da meine Versuchsergebnisse mit denen Asaküras
und Stursberqs bis auf einen, allerdings den Kardinalpunkt der ganzen
Frage, die Gefäßneubildung, übereinstimmen, glaube ich meine völlig
negativ ausgefallenen Versuchsresultate kurz mitteilen zu müssen.
Ich habe an 6 Katzen Nierendekapsulationen ausgefQhrt, in allen
Fällen entsprach der Eingriff im wesentlichen dem auch von Asakura
und Stürsberg geschilderten Verfahren. Nach Freilegung der Nieren
von Lumbaischnitten aus wurde die Fettkapsel von der Capsula propria
abgestreift, die Niere luxiert, die Capsula propria von Pol zu Pol ge-
spalten, mit der Pinzette gefaßt, abgestreift und am Hilus abgetragen.
Nach Reposition der Niere wurde die Wunde durch Naht geschlossen.
2mal wurde bei den Operationen das sehr zarte Peritoneum leicht an-
gerissen und sofort durch eine Kopfnaht wieder verschlossen. Die Tiere
überstanden den aseptisch vorgenommenen und reaktionslos ver-
laufenden Eingriff ohne besondere Schädigung; nach 2—10 Wochen
wurden die Tiere getötet, 2 von ihnen starben in dieser Frist spontan
an Darmkatarrhen. Die Untersuchung der Nieren ergab, daß die Niere
in allen Fällen mit der Umgebung wieder ziemlich fest verwachsen
war, und zwar umgaben diese völlig flächenhaften Verwachsungen die
Niere wie eine neue Capsula propria. Diese Bindegewebsneu-
bildung rief den Eindruck hervor, als hätte sich die
Capsula propria einfach regeneriert. Ohne Schwierigkeiten
gelang die Trennung dieser neuen Capsula propria von der Capsula
adiposa, intensiver ausgebildet war die Verklebung mit der Nieren-
rinde, von der sich die neue Kapsel nur schwierig entfernen ließ. Diese
Erscheinung findet ihre Erklärung in der von Boncz-Osmolowsky
nachgewiesenen Mitbeteiligung der Nierenrinde an der Neubildung der
Kapsel. In keinem Falle gelang es mir, eine Gefäßneu-
bildung in dieser neuen Kapsel nachzuweisen, die zu
wirklich nennenswerten Anastomosen zwischen Nieren-
rinde und Capsula adiposa geführt hätte.
Immerhin schien es noch notwendig, die Leistungsfähigkeit der
geringen Geiäßanastomosen zu prüfen. Da Injektionsversuche mir zur
Entscheidung der Frage nicht geeignet scheinen, beschloß ich, die
Leistung der Anastomosen dadurch zu prüfen, daß ich bei einer
8 Wochen zuvor dekapsulierten Niere die Arteria und Vena renalis
1) Experimentelle UntersuchuDgen über die Decapsulatio renam. Mitteil,
a. d. GreDzgeb., Bd. 12.
2) Experimentelle Untersuchungen über die zur Heilung chronischer
Nephritiden von Edebohls vorgeschlagene „Nierenentkapselung". Mitteil,
a. d. Grenzgeb., Bd. 12.
Experimentelle Beiträge zur Nierendekapsulation. 285
unterband und nun die Ausdehnung der Nekrose untersuchte. Tat-
sächlich blieb nur ein kaum 1 mm breiter Rindensaum von der Nekrose
verschont; die neuen Gefäßanastomosen hatten also irgend
einen Einfluß auf die Erhaltung des Nierengewebes
nicht gehabt.
Das sind in kurzem die Resultate meiner Versuche, die ich nur
mitteile, weil die Aufsätze Asakuras und Stürsberqs die theoretische
Begründung der EDEBOHLSschen Operation zu stützen scheinen. In 6
von mir vorgenommenen Dekapsulationen, sowie in einer größeren, mir
anderweitig bekannt gewordenen Dekapsulationsserie blieb die von
Edebohls seiner Nephritisheilung supponierte Gefäßneubildung aus.
Damit stimmen die Angaben von Albarran und Boncz-Osmolowskt
überein.
Ein Einwurf bleibt natürlich den geschilderten Versuchen gegen-
über gestattet: Die Dekapsulation wurde nicht an nephritischen, son-
dern an gesunden Nieren vorgenommen. Da ein Verfahren der ex-
perimentellen Erzeugung von Schrumpfnieren, soweit mir bekannt ist,
nicht existiert, konnten Dekapsulationen an SchrumpfDieren nicht unter-
nommen werden. Akute Nephritiden, wie sie ja durch Infektionen
oder durch Gifte zu erzeugen sind, können mit der chronischen Ne-
phritis nicht in Parallele gestellt werden. Bei akuten Nephritiden, bei
allen Prozessen, die mit erhöhter Spannung des Nierengewebes einher-
gehen, besitzt die Dekapsulation im Sinne der Entspannungsincision
einen gewissen Sinn, wie dies unter anderen Harrison^), Poüsson*),
Israel^) gezeigt haben. Für die Beurteilung der Anastomosenbildung
kann die akute Nephritis aber nicht in Betracht gezogen werden, da
bei ihr die Gefäßverhältnisse von denen der Schrumpfniere gänzlich
unterschieden sind.
Ich würde a priori annehmen, daß die Anastomosenneubildung bei
Dekapsulationen der gesunden Niere ausgedehnter ist als bei der
Schrumpfhiere, weil die normale Nierenrinde gefäßreicher ist und daher
mehr Gefäßknospen bilden kann als die cirrhotisch veränderte. Wenn
wir bei experimentellen Dekapsulationen keine nennens-
werten Anastomosen finden, werden sie wohl auch bei
der Schrumpfniere ausbleiben.
Der von Edebohls zur Stütze seiner Behauptungen herangezogene
1) Habrison, Renal tension and its treatment by surgical means.
British med. Joum., 1901, Oct. 19.
2) PoussoN, De Tintervention chirurgicale dans les n^phrites m6dicales.
Annales d. mal. d. org. g^n.-nrin., 1902.
3) Lsrabl, Ueber den EinfluiS der Nierenspaltung auf akute und
chronische Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitteil. a. d. Grenz-
geb., Bd. 5, 1900. Ferner: Chirurgische Klinik der Nierenkrankheiten.
Berlin 1901.
286 0. Ehrhardt, Experimentelle Beiträge zur Nierenentk&pselung.
Vergleich der Dekapsulation mit der TALMASchen Operation stellt zwei
völlig inkommensurable Dinge nebeneinander; Talma will ein durch
die Kreislaufstörung in der Pfortader bedingtes, lediglich in Zirku-
lationsverhältnissen begründetes Symptom, den Ascites, durch seine
Anastomosen beseitigen, eine Aufsaugung des Bindegewebes um die
Acini durch Gefäßein Wucherung in die Leber hat bisher niemand be-
obachtet. Der EDEBOHLSsche Vorschlag, die Leberkonvexität an das
Diaphragma anzuheilen, um Gefäßneubildung und dadurch Resorption
der Entzündungsprodukte anzuregen, wird wohl zunächst Befremden
hervorrufen.
Zum Schlüsse sei mir nur noch der Hinweis auf die Tatsache ge-
stattet, daß die Lehre von der arteriosklerotischen Schrumpfiliere, auf
die in letzter Linie auch Edebohls' Anschauungen zurückzuführen
sind, heute nicht mehr unanfechtbare Gültigkeit besitzt. Es mehren
sich die Stimmen, welche die Möglichkeit einer Nierenschrumpfung
durch ungenügenden arteriellen Blutzufluß bestreiten.
Zu einem Urteil über die operativen Erfolge von Edebohls be-
rechtigen die von mir mitgeteilten Versuche nicht. Seine theoretischen
Anschauungen aber sind irrige. Wenn die Dekapsulation bei Behand-
lung der Schrumpfniere sich wirklich bewähren sollte, so dürften diese
Erfolge kaum auf ein Einwuchern von neuen Gefäßen in die Niere zu
beziehen sein. Neubildung von Gefäßanastomosen findet bei experi-
mentellen Dekapsulationen nur in geringer Ausdehnung statt.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geh. Rat Garr^, dem ich die
Anregung zu dieser Mitteilung verdanke, sage ich auch an dieser Stelle
meinen ergebensten Dank.
Frommanntche Buehdniekerei (Hermann Fohle) in Jena. — 8678
Aus der medizinischen Universitätsklinik zu Königsberg i. Pr.
(Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. Lichtheim).
Nachdruck ▼erboten.
XIV.
Hyperglobulie und MilztumorO.
Von
Dr. med. F. Freiss,
I. Assistenzarzt der KUnik.
Im folgenden will ich über einen Fall von Hyperglobulie und
Milztumor berichten, dessen Mitteilung auch ohne Autopsie mir gerecht-
fertigt zu sein scheint, da die Zahl der bisher bekannten, ausführlich
beschriebenen Fälle noch eine ziemlich geringe ist.
Es handelt sich um einen 48-jährigen Patienten, der vom 15. Juli
bis 31. August und vom 7. November bis 5. Dezember 1903 in der
medizinischen Klinik lag.
Seine Familienanamnese ist belanglos. Er selbst hat nie Lues, nie
Malaria gehabt, war überhaupt bis auf eine kurzdauernde fieberhafte
Krankheit in seinem 13. Jahre früher stets gesund. Kein Potus.
Seit 6 — 7 Jahren bemerkte er in der linken Bauchseite eine all-
mählich wachsende, derbe, nicht empfindliche Geschwulst, die ihm nie
irgendwelche Beschwerden machte und vom Arzt als die vergrößerte Milz
bezeichnet wurde.
3Y, Jahre vor der Aufnahme, im Februar 1900, bekam er im An-
schluß an eine unbedeutende Fingerverletzung ein Erysipel des rechten
Armes und im Verlaufe desselben Erscheinungen, die eine Thrombose der
Vena iliaca sinistra wahrscheinlich machten.
Seit jener Zeit hat Pat. fast immer unter heftigen brennenden
Schmerzen in den Unterschenkeln, etwas oberhalb der Sprunggelenke, zu
leiden gehabt, die ihn nicht mehr zu regelmäßiger Arbeit kommen ließen.
Die Unterschenkel sollen oft etwas bläulich ausgesehen haben, und wenn
er umherging, etwas geschwollen gewesen sein. Vor 2 Jahren bildeten
sich einige Geschwüre an ihnen, die seitdem nie ganz zuheilten.
1) Nach einem am 30. November 1903 im Verein fOr wissenschaft-
liche Heilkunde zu Königsberg gehaltenen Vortrage.
mttelL a. d. OraaiceUeten d. Ifedlsin o. Chlrarcie. Xm. Bd. 19
288 P. Preiss,
Nach der Erkrankung vor 8^, Jahren bemerkte Pat. zuerst an den
Beinen und am Bauche, später auch an Brust und Armen die alhn&hliche
Entwickelung dicker, blauer GeflLßstränge, die später unverändert blieben.
Gleichzeitig bekam das Gesicht eine bläulich-rote Farbe und die Mund-
schleimhaut wurde so blutreich, daß sie schon bei geringfügigen Anlässen
etwas blutete.
Seit ly« Jahren besteht beim Treppensteigen und anderen körper-
lichen Anstrengungen etwas Druckgeftlhl in der Herzgegend, sowie Herz-
klopfen und Kurzatmigkeit mäßigen Grades.
Stuhl regelmäßig. Appetit^ Schlaf gut. Keine Fiebererscheinungen.
Aufnahmestatus: Leidlich kräftiger Körperbau; mäßiger Er-
nährungszustand, keine Oedeme.
Gesicht ziemlich intensiv rötlich-blau geftlrbt, schon weniger Hände
und Ftiße ; Conjunctivae stark injiziert, Mundschleimhaut, Zunge blau-rötlich,
Zahnfleisch etwas geschwollen, leicht blutend. Die ganze Körperhaut zeigt
schwach, aber deutlich eine leicht oyanotische Färbung. Im Gesicht, an
den Schleimhäuten, sowie der Körperoberfläche sieht man in mäßiger
Menge kleinste Venenerweiterungen.
Venae jugulares bei aufrechter HaHung nicht sonderlich geftlllt.
Starke Erweiterung der großen Hautvenen an Brust und Armen ; am
Bauche und den Beinen ist sie noch erheblicher, die Venen sind hier zum
Teil stark geschlängelt. Blutstrom in den Venen der Bauchhaut nach
oben gerichtet.
An den Unterschenkeln ziemlich diffuse, bräunlich-rote Pigmentierung
und je ein mäßig großes Ulcus varicosum.
An der Vorder- und Außenfläche des linkea Oberschenkels einige un-
regelmäßig begrenzte, bläulich-rote Flecken, die etwas druckempfindlich
und leicht erhaben sind, sich etwas derb anfühlen.
Pupillen gleich, prompte Reaktion ; Betinalvenen stark gefällt, Augen-
hintergrund sonst normal.
Patellarreflexe auslösbar.
Thorax ziemlich stark gewölbt, Atmung 16 — 18 pro Minute, in der
Auhe nicht dyspnoisoh. Wenn Pat. auf ist oder längere Zeit spricht,
stellt sich etwas Kurzatmigkeit ein.
Normale Lungengrenzen. Ueberall lauter Klopfschall und Vesikulär-
atmen mit spärlichen klanglosen Rasselgeräuschen über beiden Unter-
lappen.
Herz: Spitzenstoß nicht fühlbar. Dämpfung oben: oberer Rand der
4. Rippe. Rechts: linker Brustbeinrand. Links: linke MamiUarlinie. An
der Spitze neben 2 Tönen ein leises, ziemlich langes, blasendes systolisches
Geräusch. Der zweite Ton an der Basis ist etwas accentuiert. Herzaktion
regelmäßig, ziemlich stark beschleunigt; ca. 114 pro Minute,
Puls synchron, gleich stark, gut geffQlt, Spannung etwas vermehrt
Art radialis etwas geschlängelt, rund, deutlich fühlbar, aber nicht
sklerotisch.
Blutdruck: 120 — IdO mm Hg nach GXrtnbr; 146 — 150 mm Hg nadi
RlVA-RoGCI.
Abdomen: Milz als gi'oßer, derber, platter, nicht empflndlioher Tumor
fühlbar, der eine flache Prominenz des linkem Hypochondrium verursacht.
Der untere, sich wie etwas umgekrempelt anftLhlende Rand überragt die
Nabelhorizontale um 1^^ Querflnger, die vordere Grenze liegt an der
linken MamiUarlinie.
Leber derb, unempflndlich, unterer Rand stumpf, bei der Exspiration
Hyperglobnlie und Milztumor. 289
in der rechten Mamillarlinie den Rippenbogen um 8 Querfinger über-
ragend
Untere Bauchpartien weich, tympanitisch klingend. Kein Ascites.
Urin rötlich-gelb, sauer, spezifisches Gewicht 1012. Alb. 1 p. M.
Kein Zucker und Indlkan. Deutlicher Urobilinstreifen im Spektrum.
Im spärlichen Sediment einzelne rote und weiBe Blutkörperchen,
einzelne hyaline und epitheliale Cylinder.
Wir fanden also bei unserem Patienten im wesentlichen eine diffuse
Cyanose, ferner Tachykardie, mäßige Dyspnoe schon bei geringen Körper-
bewegungen eine starke Vergrößerung von Leber und Milz, geringe
Albuminurie und eine beträchtliche Erweiterung der größeren Hautvenen
am ganzen Körper, Erscheinungen, die bis auf die schon 6 — 7 Jahre
bestehende Splenomegalie, vielleicht auch die Lebervergrößerung erst
in den letzten 3Vi Jahren aufgetreten waren.
Der ftußere Befund, der beim Patienten zu erheben war, zusammen
mit den anamnestischen Angaben ließen von vornherein die eine An-
nahme gesichert erscheinen, daß jetzt ein Verschluß oder wenigstens
eine hochgradige thrombotische Verengerung der Vena cava inferior
bestand, die sich im Anschluß an die vor Sy« Jahren entstandene Throm-
bose der Vena iliaca sinistra ausgebildet hatte. Der KoUateralkreis«
lauf war, soweit er Beine und Bauch betrifft, der fOr solche Fälle
typische.
Wir fragten uns nun, getreu dem Grundsatze, alle Krankheits-
erscheinungen möglichst auf einen Ursprung zurückzufahren, ob wir
hier, abgesehen von dem schon mindestens 6 Jahre bestehenden Milz-
tumor, alle Symptome auf die durch die Thrombose der Cava inferior
gesetzte Zirkulationsstörung beziehen könnten.
Aber nur für die beträchtliche Albuminurie wäre eine Abhängigkeit
von der Thrombose denkbar, dann nämlich, wenn sich der Verschluß
über die Einmündungssteile der Vena renales und eventuell in diese
hinein erstreckte; die hierdurch bedingte lokale Stauung in den Nieren
wäre dann als Ursache der Albuminurie anzusehen.
Die Erweiterung der Venen an der oberen Körperhälfte dagegen
ist wenigstens in so hohem Grade bei Thrombosen der Cava inferior
nicht vorhanden, und auch die übrigen Symptome lassen sich auf diesem
Wege absolut nicht erklären.
Einen anderen Ursprung für sie zu finden, war nun aber ohne
weiteres auch nicht möglich.
Was zunächst die nicht unbeträchtliche Gyanose, die Tachykardie
und Dyspnoö betraf, so konnten sie von den geringfügigen Verände-
rungen an den Brustorganen nicht oder wenigstens nicht allein veran-
laßt sein, und eine andere Ursache ließ sich aus dem Organbefund
für sie ebensowenig herleiten wie für die starke Milz- und Leber-
schwellung, für die die gewöhnlichen ätiologischen Momente, Lues,
19*
290 P. Preiss,
Malaria, Lebercirrhose, Amyloid, Leukämie und eventuell maligne Tu-
moren, teils durch das Untersuchungsergebnis, teils durch die fehlende
Veranlassung auszuschließen waren.
Wir standen so betreffs der angeführten auffälligen Befunde .vor
einem Rätsel, das durch die Blutuntersuchung noch unlösbarer zu
werden schien.
Der Blutbefund bei der Aufnahme war folgender:
Hb — ca. 125 Proz. N = 6750000. W. — 22000. ^ = ^.
Spez. Gewicht (Chloroformbeozolmischung) 1064,9.
Das Blat war dankelkirschrot, dickflüssig, gerann leicht und ließ sich
schlecht ausstreichen. Die roten Blutkörperchen waren von normaler Form
und Oröße, nur einzelne Makro- und Mikrocyten waren vorhanden.
Die Auszählung der einzelnen Leukocytenarten ergab:
P = 82 Proz., L — 10% Proz., Mo und Ueb. = 2 Proz., Ma =•
2 Proz., E =» 31/8 Proz.i).
Die Blutplättchen erschienen deutlich vermehrt.
Wir fanden also, daß der Hämoglobingehalt und das spezifische Ge-
wicht des Blutes stark vermehrt, daß auch die morphologischen Bestand-
teile viel reichlicher als im normalen Blute waren, und daß es unter den
Leukocyten nur die Knochenmarkselemente waren, die an der Steigerung
teilgenommen hatten, während die Zahl der Lymphocyten relativ sogar
verringert, absolut aber vollkommen normal erschien.
Diesen auffälligen Blutbefund vermochten wir anfänglich nicht zu
deuten, wußten auch nicht, wie weit er etwa mit den übrigen Sym-
ptomen zusammenhinge. Erst aus einer gerade damals erschienenen
Mitteilung Rosenoarts (1) sahen wir, daß eine Beihe analoger Fälle
bekannt sei, in denen, wie bei unserem, neben der erwähnten Blutver-
änderung eine sonst nicht zu erklärende Gyanose bestand und in denen
sich außerdem eine mehr oder weniger starke Splenomegalie, eine
Albuminurie und oft auch eine Lebervergrößerung fand, in den meisten
Fällen ohne jede erkennbare Ursache für diese Organveränderungen.
Die beschriebenen Fälle [Rosengart, Türck (2), Collet et
Gallavardin (3), Vaqüez (4), Moutard-Martin et Lepas (5),
Rendü et WiDAL (6), Osler (7) etc.] unterscheiden sich zwar im
einzelnen etwas ; im großen und ganzen bilden sie aber durch die oben
genannten hervorstechenden Merkmale ein wohlcharakterisiertes Krank-
heitsbild, das sich mit keinem anderen in irgend einen Zusammenhang
bringen läßt.
Irgend ein bestimmtes ätiologisches Moment oder eine disponierende
1) Hb =s Hämoglobin. N = Normocyten, W = Leukocyten. P =:
polynukleäre neutrophile Zellen. L ■= Lymphocyten. Mo und Ueb »=»
große mononukleäre Zellen und Uebergangsformen, Ma = Mastzellen, E =»
eosinophile Zellen.
Hyperglobulie und Milztumor. 291
oder direkt veranlassende Ursache für das Zustandekommen des uns
hier interessierenden Krankheitsbildes ist bisher noch nicht bekannt und
auch über sein Wesen und über das zeitliche Entstehen und die Ver-
knüpfung der einzelnen Symptome würden wir absolut im unklaren sein,
wenn uns nicht anatomische Befunde einige Anhaltspunkte für Ver-
mutungen über die Pathogenese gewähren würden.
Von den hierher gehörigen Fällen ist eine Anzahl zur Autopsie
gekommen. In 5 von ihnen [Osler, Cominotti (8), Vaqübz], die
teils an interkurrenten Krankheiten starben, teils aus Ursachen, die
aus den Angaben nicht genau ersichtlich sind, fand sich 4mal eine mehr
oder weniger starke beträchtliche Milzhypertrophie, 2mal auch eine Ver-
größerung der Leber; im übrigen bieten sich nichts, was uns irgendwie
zur Aufklärung dienen könnte. In je einem Falle von Breuer (9)
und von Tt^RCK (10), von denen der Breuers an einer Blutung nach
einer Myomoperation starb, fand sich ein großer Blutreichtum aller
Organe. In der Milz und im Knochenmark des BREUERschen Falles
waren außerdem die eosinophilen Elemente stark vermehrt.
In 3 anderen Fällen (Collet - Gallavardin , Rendü-Widal,
Moutard-Martin et Lefas) ergab nun die Autopsie eine auf die Milz
beschränkte chronische Tuberkulose, die zu starker Vergrößerung dieses
Organs und 2mal zu terminaler Aussaat miliarer Tuberkel in Leber,
Niere, Pankreas geführt hatte, und diese 3 Fälle sind es, die uns meines
Erachtens zu einer bestimmten Auffassung des ganzen Krankheitsbildes
kommen lassen können.
Auffallend bei den hierher gehörigen Fällen, den zur Autopsie
gekommenen und den übrigen, ist es, daß sich fast konstant ein Milz-
tumor findet, der also als zum Krankheitsbild gehörig betrachtet werden
kann.
Welche Rolle er spielt, welche Stellung er im ganzen Krankheits-
bilde einnimmt, ist eine Frage, die sich mit Sicherheit wohl wenigstens
für die 3 soeben erwähnten Fälle beantworten läßt, in denen die Ver-
größerung der Milz durch chronische Tuberkulose bedingt war. In
diesen ist, da ein zufälliges Zusammentreffen von Milztuberkulose und
Hyperglobulie hier wohl ausgeschlossen ist, kein anderer Zusammenhang
zwischen diesen Prozessen denkbar, als der, daß die Erkrankung der
Milz das primäre, die Hyperglobulie das sekundäre ist.
In den übrigen Fällen ist nun der Zusammenhang zwischen Milz-
erkrankung und Hyperglobulie nicht so ersichtlich; doch liegt es, zumal
bei der klinischen Gleichartigkeit des Krankheitsbildes, nahe, daran zu
denken, daß auch hier die Hjrperglobulie die Folge der Milzerkran-
kung ist.
Aus dem Fall van der Weyde — van Yzeren (12), in dem
Cyanose, Hyperglobulie, polynukleäre Leukocytose neben einem enormen,
derben Milztumor bestand, der seinerseits die Folge einer Thrombose
292
P. Preiss,
der Vena portae nach alter Entzündung und Verdickung des Ligam.
hepato-duodenale darstellte, können wir ferner ersehen, daß die Milz-
erkrankung an und fQr sich gar nicht ein primäres Leiden im wahren
Sinne des Wortes zu sein braucht; sie scheint nur primär mit Bezug
auf die Hyperglobulie zu sein, die wir hier analog zu den übrigen
Fällen vielleicht auch auf den Milztumor zurückführen dürfen. Letzterer
erwies sich übrigens anatomisch als Sklerose mit Verlust von Follikeln
und Pulpagewebe.
Jedenfalls geht aus dem vorhergesagten hervor, daß die Hyper-
globulie bei verschiedenen Veränderungen der Milz nicht etwa nur bei
Tuberkulose derselben sich findet und ihr Entstehen von noch unbekannten
Faktoren abhängt Denn entsprechend den Tierversuchen von Lepas
und Bender (11), durch experimentelle Erzeugung einer solitären Milz-
tuberkulose Hyperglobulie hervorzurufen, die noch kein einheitliches
Resultat ergeben haben, ist ja auch eine Reihe von Fällen solitärer
Milztuberkulose beim Menschen ohne Hyperglobulie bekannt
Ich möchte jetzt auf die Blutbeschaffenheit in den hierher gehörigen
Fällen noch etwas näher eingehen und zunächst in einer Tabelle zu-
sammenstellen, was wir bei unserem Patienten bei den verschiedenen
Zählungen gefunden haben.
Wir sehen aus dieser Tabelle, daß die auffällige Veränderung des
Blutes, die wir schon bei der ersten Untersuchung gefunden hatten,
keine vorübergehende, sondern eine dauernde, und zwar immer gleich-
artige, nicht etwa fortschreitende war.
Die Zahlen für Hämoglobin, spezifisches Gewicht, Leukocyten und
Erythrocyten schwankten wohl etwas, zeigten im übrigen aber stets eine
erhebliche Erhöhung über die Norm. Die einmalige starke Steigerung
der Leukocyten am 28. Oktober findet vielleicht zum Teil ihre Erklärung
in einer Lymphangitis am rechten Bein, die von einer Erosion am
Unterschenkel ausgegangen war.
Auffallend und interessant im morphologischen Blutbefunde ist die
Datum
Hb
N
W
W
N
P
L
22. JuU
25. „
125 Proz.
ca. 140 „
6750000
7160000
22000
26000
1/307
1/275
82 Proz.
86,6 „
10»/. Proz.
6JS „
3. Aug.
la .
27. „
10. Nov.
u 124 „
:; ^ ;;
7340000
7176000
7480000
6740000
16800
21800
20500
24200
1/437
1/329
1/365
1/278
83^ „
8634 „
87,35 „
85,4 „
8 „
6,45 „
5,64 „
a .
„ 20 „
6800000
36000
1/189
85,7 „
5,3 „
Hyperglobulie und Milztumor.
293
starke Vermehrung der Eosinophilen und der Mastzellen, sowie das
Vorkommen vereinzelter Normoblasten und eosinophiler und ndtttro-
philer Myelocyten, also unreifer Blutzellen im strömenden Blute; die
Lymphocyten waren auf 6 — 10 Proz. vermindert, ihre absolute Zahl
dagegen völlig normal.
Unserem Falle kommt im Blutbilde am nächsten der von TOrok (2)
mitgeteilte, bei dem die Erythrocyten zwar um 2 Millionen reichlicher
waren, bei dem dagegen die Zahl der Leukocyten sich wie bei uns ver-
hielt und außerdem eine Vermehrung der polynukleären Neutrophilen
und der Mastzellen und eine relative Verminderung der Lymphocyten
vorhanden war. Bei ihm, sowie in einem Falle Gabots (12) fanden
sich auch spärliche Normoblasten.
Im übrigen ist das Blutbild in den beschriebenen Fällen ein sehr
wechselndes.
Die Werte fflr Hämoglobin gehen bis zu 180 Proz. (TOrok) und
200 Proz. (RoBBNaART) hinauf, die Zahl der Erythrocyten schwankt
von 6200000 (Rbndü-Widal) bis zu 10000000 (Kobenoart), 11 600000
(Osler, F. III) und 12000000 [Shattüok (13)J. Noch größer sind
relativ die Verschiedenheiten in dem Verhalten der Leukocyten. Die
Zahlen schwanken hier von 4000 (Osler I), 6200 (Osler III), 6000
(CoMiNOTTi, Rbndu-Widal) bis zu 20—30000 [TOrok, Osler I,
Cabot I (12), Moutard-Martik, unser Fall], also neben Fällen mit
Leukopenie finden sich solche mit starker Leukocytose. In ein und
demselben Falle (Osler II) fanden sich bei verschiedenen Unter^
sachungen Zahlen zwischen 8600 und 30000. Auch das prozentuale
Verhalten der einzelnen Leukocytenarten ist ein verschiedenes. In
den Fällen, in denen nähere Angaben hierfiber existieren, war der
Befund teils normal (Collet-Gallavardik u. a.), teils war eine Ver-
mehrung der polynukleären Neutrophilen auf Kosten der Lympho-
cyten vorhanden (TOrok, Osler II, unser Fall) und nur in einem
(Osler III) zeigte sich das entgegengesetzte Verhalten, indem von
Mo
Ma
BpeE.
Gewicht
Bemerkungen
2 Proc
2^ „
3
8,06
2,92
1.7
2 Proz.
2,7 „
3,6 „
3,66 „
2,76 „
2,4
2^"^-
2,2
1,6
2,1
3,24
4,9
1064,9
1065
1067,7
Qanz geringe AnisocytOBe
Auf lObO W 2 Normoblaeten. Ein-
zelne neutrophile nnd eoeinophile
Myelocyten. Blutplättchen ver-
mehrt
1 Normoblast, einzelne Myelocyten,
Yiel Blutplättchen
1 Myelocyt, viel Blutplättchen
1 Normoblast, viel Blutplättchen,
Bpfirlicli neutrophile und eosino-
pnile Mjeiocyten
Spärlich Myelocyten
294 P. Freiss,
5200 Leukocyten 59 Proz. P, 32 Proz. L, 8 Proz. Mo, 0,6 Proz. E
waren.
Eine Vermehrung* der Mastzellen fand sich, wie schon erwfihnt, nur
bei TOrok nnd uns, bei uns außerdem eine Eosinophilie, während wieder
CoMiNOTTi keine Vermehrung der Eosinophilen und Kosenoart die-
selben und die Mastzellen nur sehr sp&rlich sah. Einkernige neutro-
phile und eosinophile Zellen (Myelocyten) fanden sich nur bei uns, und
zwar nur in sehr geringer Menge. Die Blutplättchen waren bei Rosbn-
6ART vermindert, bei uns deutlich vermehrt
Wir hatten nun oben gesehen, daß es nicht unwahrscheinlich sei^
daß die veränderte Blutbeschaffenheit in unseren Fällen die Folge einer
Milzerkrankung darstelle und zwar hauptsächlich im Hinblick auf die
Fälle mit solitärer Milztuberkulose.
Ueber die Art der Einwirkung der Milzerkrankung sind wir dabei
noch nicht im klaren; wir können uns vermutungsweise jedoch vor-
stellen, daß aus der erkrankten Milz Stoffe in den Kreislauf gelangen»
die das Knochenmark, das für die Blutbildung ja hauptsächlich in Be-
tracht kommende Organ, treffen und zu einer vermehrten Tätigkeit
anregen.
Schon WiDAX und Vaquez hatten vermutet, daß die Hyperglobulie
durch eine vermehrte Knochenmarkstätigkeit bedingt sei, und auch
TÜRCK glaubt, sie auf eine Mehrleistung des Myeloidsystemes zurück-
führen zu können. Und in der Tat ist die veränderte Zusammensetzung
des Blutes nicht gut anders zu erklären, als durch die Annahme einer
gesteigerten, in ihrem normalen Ablaufe dabei nicht wesentlich gestörten
Funktion des Knochenmarkes.
Als Beweise hierfür können wir neben der Vermehrung des Hämo-
globin und der Erythrocyten das einige Male beobachtete Vorkommen
von Normoblasten im Blute, sowie die Zunahme der aus dem Knochen-
mark stammenden Leukocyten, insbesondere der Mast- und eosinophilen
Zellen, gelten lassen.
Auch die wiederholt beobachtete Zunahme des Urobilins im Harn
spricht indirekt, da sie bei gleichzeitiger Vermehrung der Erythrocyten
besteht, für eine verstärkte Neubildung derselben.
Die Hyperaktivität des Knochenmarkes ist, jedoch wie wir aus der
oben gegebenen Schilderung des Blutbefundes sehen, keine gleichmäßige;
in allen Fällen nimmt das die Erythrocyten bildende Gewebe daran
teil, nur in einem Teile derselben auch der leukoblastische Anteil des
Markes.
Wir kommen nun zu einer kurzen Besprechung der übrigen Haupt-
symptome des uns hier beschäftigenden Krankheitsbildes, die, wie wir
sehen werden, mit der Milzerkrankung direkt nichts zu tun haben,
sondern ihrerseits als unmittelbare Folgen der Hyperglobulie zu be-
trachten sind.
Hyperglobulie und Milztumor. 295
Daß die Vermehrung der roten Blutkörperchen auf mehr als das
Doppelte des Normalen — es sind Zahlen bis zu 12 Millionen beob-
achtet — eine erhöhte Viskosität des Blutes und dadurch eine Er-
jschwerung und Verlangsamung des Blutstromes und eine UeberfQllung,
besonders der kleinen Gefäße bedingen muß, ist leicht erklärlich und
schon von verschiedenen Autoren hervorgehoben.
Es findet infolge dieser Zirkulationsstörung eine stärkere Sättigung
des Blutes mit der 00^ der Gewebe statt, ein Umstand, der zumal
noch bei der Vermehrung der färbenden Substanz, des Hämoglobins
eine Cyanose im Gefolge haben muß. Dieselbe ist dabei manchmal
nicht nur auf die gewöhnlichen Stellen beschränkt, sondern ist, wozu
wohl auch die Ueberfüllung und Erweiterung der kleinen Gefäße bei-
trägt, eine mehr diffuse (Osler, unser Fall).
Die UeberfQllung der kleinen Gefäße ist wohl auch die Ursache
fär kleine Hämorrhagien aus dem Zahnfleisch (Osler, unser Fall), dem
Hagen und der Lunge (Rosenoart).
Bei unserem Patienten traten noch andere Zeichen gestörter Zir-
kulation auf. Die schon oben erwähnten bläulich-roten Flecken am
linken Oberschenkel, die wie typische Effloreszenzen von Erythema
nodosum aussahen, sind, da sie monatelang unverändert an gleicher
Stelle bestanden, als lokale Stauungen, vielleicht infolge thrombotischen
Verschlusses kleiner Hautvenen aufzufassen. Die schon eingangs er-
wähnte Erweiterung der Venen der oberen Körperhälfte bei unserem
Patienten ist, da sie nicht zum klinischen Bilde der Thrombose der
Vena cava inferior gehört, wohl so zu erklären, daß die Ueber-
füllung der oberen Hohlvene nur deshalb einen ungenügenden Ab-
fluß aus ihrem eigenen Stromgebiete nach sich zieht, weil durch die
beschriebene Blutveränderung die Zirkulation schon an und für sich
behindert ist.
Wie stark übrigens diese Zirkulationsstörungen werden können,
zeigt aufs schönste Rosenoarts Patient, der unter äußerst heftigen
Schmerzen häufig beim Gehen die Erscheinung des intermittierenden
Hinkens bekam mit Verschwinden des Pulses in der Art. tib. post und
Dors. pedis sin. Da keine Arteriosklerose vorhanden war, glaubte
Rosenoart wohl mit Recht, dies Symptom der Störung der Zirkulation
infolge der Blutbeschafienheit zur Last legen zu müssen, besonders da
gleichzeitig leichte Insufficienzerscheinungen von selten des Herzens,
Dyspnoö und Tachykardie bestanden.
Auch in unserem Falle war eine dauernde geringe Schwäche des
Herzens nicht zu verkennen, die sich gleichfalls in anhaltender mäßiger
Dyspnoe und Tachykardie äußerte. Die Herzschwäche nahm einmal
sogar beträchtlich zu; Dyspnoe und Tachykardie wurden dabei stärker,
es trat ein allgemeines geringgradiges Anasarka und eine deutliche
Dilatation des Herzens auf, und die Albuminurie stieg auf das 2-bis
296 P. Preise,
3-fache; nach Digitalisdarreichung trat eine fast vollkommene Kompen-
sation ein.
Die erwähnten tnsufficienzerscheinungen hängen wohl gleichfalls von
der veränderten Blutzusammensetzung ab ; denn es ist leicht einzusehea»
daß das Herz unter diesen Bedingungen dauernd eine vermehrte Arbeit
zu leisten hat, und schließlich, ebenso wie bei Klappenfehlern, Arterio*
Sklerose etc., versagen kann; und es ist daher eigentlich wunderbar,
daß derartige leichte Kompensationsstörungen in den einschlägigen Fällen
nicht häufiger beobachtet worden sind. Daß sie bei unserem Patienten,
bei dem die Hyperglobulie eine relativ geringe war, so deutlich zum
Ausdruck kamen, ist wohl die Folge davon, daß hier die Kombination
mit der Thrombose der Vena cava inferior bestand, die ja gleichfalls
ein Kreislaufhindernis darstellt.
Ein anderes der gewöhnlich beobachteten Symptome ist die Albumin-
urie, die in allen Fällen eine sehr geringe war, und, wie Türok und
RosENOART annehmen, in der Ueberfflllung der kleinen NierengefiLße
ihre Ursache hat Bei unserem Patienten war sie dagegen ziemlich
hochgradig, und zwar wohl deshalb, weil erstens die Herzkraft nidit
normal war, zweitens, weil hier zu der durch die Hyperglobulie
bedingten Kreislaufstörung möglicherweise noch, wie wir schon oben
sahen, eine andere kam, die durch die Thrombose der Nierenvenen
oder wenigstens der Vena cava an deren Einmündungssteile hervor-
gerufen wurde.
Daß trotz dieser Hindernisse bei unserem Patienten die Urinmenge
eine recht reichliche war, sie betrug IV2— 2 1, liegt wohl daran, daß
selbst bei der leichten Kompensationsstörung der Blutdruck über den
normalen etwas hinausging.
Eine Steigerung des Blutdruckes, wahrscheinlich gleichfalls eine
Folge der veränderten Blutbeschafienheit, hat übrigens auch Osler be-
obachtet.
Ueber den Verlauf unserer Fälle wäre zu sagen, daß er ein aus-
gesprochen chronischer, sich über viele Jahre erstreckender und zum
Teil natürlich von der zu Grunde liegenden Erkrankung der Milz ab-
hängiger ist, insofern als bei einer Tuberkulose man immer auf eine
plötzliche Ausbreitung des Leidens gefaßt sein muß.
Die Klagen der Patienten sind mannigfach und bei den einzelnen
verschieden ; sie beziehen sich einerseits auf Schmerzen in der Milz-
gegend, andererseits auf Kopfschmerzen, Schwindel, gastrointestinale
Störungen, Beschwerden, die wohl durch die Folgezustände der Hyper-
globulie bedingt sind und im Laufe der Jahre wechseln.
Klagen und Beschwerden, wie sie Robbngarts und unser Patient
äußerten, scheinen dagegen recht selten zu sein. Bei unserem Patienten
stand die Dyspnoö im Vordergrunde; in zweiter Linie kamen bei ihm
Hyperglobalie and Milstumor. 297
die Zirkulationsstörungen hervorgerufen waren, aber nie einen so hohen
starke Schmerzen in den Unterschenkeln, die wahrscheinlich auch durch
Grad wie im RosExroARTschen Falle annahmen.
Unser Patient ist fibrigens am 25. Dez. 1903 etwa 3 Wochen,
nachdem er zum zweiten Male die Klinik verlassen hatte, zu Hause
gestorben, so daß uns die anatomische Kontrolle Imder entgangen ist.
Es hatten sich bei ihm in der Klinik am rechten Unterschenkel
auf den pigmentierten Hautstellen zahlreiche mit Serum gefüllte Bläschen
gebildet, von denen aus unter kurzdauerndem mäßigen Fieber eine
Lymphangitis entstand, die an den Inguinaldrüsen Halt machte. Bei
der Entlassung waren die Beschwerden aus dieser Komplikation ge-
schwunden, im übrigen war das Befinden unverändert; es bestand
dauernd ein kleines rechtsseitiges Pleuraexsudat.
Zu Hause bildete sich beim Patienten, wie seine Frau nach seinem
Tode angab, eine Anschwellung des rechten Beines und des Scrotums
aus; Patient verfiel immer mehr und hatte starke Schmerzen in beiden
Beinen und der linken Bauchseite, hier besonders am Tage vor dem
Tode. Die Cyanose, ebenso die Dyspnoe, waren bis zuletzt unver-
ändert.
Ueber die eigentliche Todesursache sind wir hier also durchaus
nicht im klaren und auch die anderen Fälle, die zum Exitus kamen, ohne
daß Tuberkulose der Milz sich fand, starben unter Symptomen, deren
Zusammenhang mit dem Grundleiden meist nicht erwiesen ist Aus
dem oben über Rosenoarts und meinen Fall Gesagten geht hervor,
daß immerhin auch einmal das Versagen des überanstrengten Herzens
eine Gefahr für den Patienten bilden kann.
Zum Schlüsse komme ich noch kurz zur Therapie, möchte hier
aber nur die eine Frage erörtern, ob die Möglichkeit besteht, die
Patienten von ihrem Leiden auf irgend eine Weise radikal zu be-
freien.
Es ist nun theoretisch von vornherein unzweifelhaft, daß diese Mög-
lichkeit in einer Reihe von Fällen vorliegt, und zwar, worauf auch
RosENOART hinweist, in denen, bei denen es sich um eine solitäre
Milztuberkulose handelt.
In ihnen, bei denen ja sicher die Milzerkrankung das Primäre ist,
sollte eine Splenektomie zum Ziele führen können; denn man darf er-
warten, daß nach der Entfernung des primären, die schädigenden Stoffe
produzierenden Krankheitsherdes das sekundär erkrankte Knochenmark,
auf dessen abnormer Tätigkeit alle anderen Erscheinungen beruhen,
wieder zur normalen Funktion zurückkehrt; man darf es erwarten zum
mindesten ebenso, wie z. B. bei einer Botryocephalusanämie nach Ab-
treibung des Wurmes, oder sogar noch eher als bei dieser, da bei ihr
die Knochenmarkstätigkeit auch in ihrem Ablauf keine normale ist.
298 P. Preiss,
wfihrend sie bei der Hyperglobulie nur die Zeichen einer Hyperaktivität
an sich trägt.
Dieser Indikation der Splenektomie kann man aber einfach des-
wegen kaum gerecht werden, weil die solitäre Milztuberkulose nach dem
Urteil der Autoren in vivo nicht diagnostizierbar ist; auch in den oben
erwähnten Fällen ist sie ja erst bei der Autopsie erkannt worden. In
den seltenen Fällen von Splenektomie bei Milztuberkulose scheint, so-
weit ich sehen kann, die Operation immer vorgenommen worden zu
sein, weil die Patienten einen großen Milztumor hatten, der ihnen starke
Beschwerden machte; die Natur des Leidens wurde erst an dem ent-
fernten Organe erkannt; von einer Hyperglobuli bei diesen Fällen ist
nichts erwähnt.
In unserem Falle haben wir das Bestehen oder Fehlen einer Tuber-
kulose dadurch zu erweisen versucht, daß wir dem Patienten 2 proba-
torische Injektionen von 0,001 und 0,01 altem Tuberkulin (Koch)
machten ; da er auf beide nicht reagierte, können wir nach den heute
gültigen Anschauungen eine Tuberkulose bei ihm mit ziemlicher Sicher-
heit ausschließen. Eine Komplikation, die sich beim Patienten einstellte,
lenkte allerdings den Verdacht auf Tuberkulose, nämlich eine rechts-
seitige seröse Pleuritis, die sich ohne jede erkennbare Ursache fand und
sehr hartnäckig war. Abgesehen aber davon, daß man auf sie allein
die Diagnose „Tuberkulose^ nicht basieren kann, liegt für das Entr
stehen des Exsudates noch eine andere Möglichkeit vor, nämlich die,
daß es eine Folge kleiner Lungenembolien und kleiner, symptomlos
verlaufender Infarkte ist, wie sie Breuer (19) in letzter Zeit bei Wöch-
nerinnen beschrieben hat. Wie dort Thrombosen im Becken etc. die
Ursache für die Embolien bilden, könnten bei unserem Patienten
Thrombosen in den Venen der unteren Extremitäten schuld sein. Das
Alter der Thrombose in unserem Falle spricht zwar gegen diese Auf-
fassung, doch ist es immerhin nicht vollkommen ausgeschlossen, daß
z. B. in den Hautgefäßen des linken Oberschenkels (wie oben erwähnt)
auch kleine frische Thrombosen als Ausgangspunkte vorhanden sind.
Jedenfalls glaube ich, daß wir das Bestehen einer Tuberkulose bei
unserem Patienten mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließen können.
Nun fragt es sich, ob die Splenektomie nicht auch in solchen
Fällen von Hyperglobulie gerechtfertigt ist, in denen eine Tuberkulose
der Milz nicht erwiesen oder sogar unwahrscheinlich ist, und da läßt
es sich nicht leugnen, daß jeder, der die Möglichkeit zugibt, daß auch in
diesen Fällen die Milzerkrankung die Ursache aller anderen Erschei-
nungen ist, die Operation in Erwägung ziehen muß. Ich möchte hier
auf die günstigen Erfahrungen hinweisen, die man mit der Splenektomie
in Fällen sogenannter BAUTischer Krankheit gemacht hat. Wenn auch
beide Krankheiten im klinischen Symptomenbilde verschieden sind, so
Hyperglobuli« und Milztamor. 299
gleichen sie sich doch prinzipiell dadurch, daß bei beiden Erscheinungen
entstehen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine primäre Er-
krankung der Milz zurückzuführen sind.
Aus diesem Gesichtspunkte glaube ich also, zumal da die Operation
als solche bei verschiedenen Arten von Milzvergrößerung so häufig und
mit Erfolg ausgeführt wurde, daß etwa die Schwere des Eingriffes nicht
als Eontraindikation in Betracht gezogen zu werden braucht, daß auch
in geeigneten Fällen unserer Krankheit ein therapeutischer Versuch
mit der Splenektomie gemacht werden darf; immerhin ist daran zu
denken, daß der Blutreichtum des Körpers die Blutstillung erschweren
und zu Nachblutungen Veranlassung geben kann.
Der ungünstige Ausgang im Falle yan der Weyde und van
YzEREN braucht vor weiteren Versuchen nicht abzuschrecken, da dieser
Fall, soweit ich aus dem mir vorliegenden Referate entnehmen kann,
ein komplizierter gewesen ist. Unserem Patienten hatten wir die Ope-
ration nicht empfohlen, da auch bei ihm in der Thrombose der Vena
Cava inferior eine nicht zu unterschätzende Komplikation vorlag.
Gerade, als die Arbeit abgeschickt werden sollte, wurde wieder ein
Patient mit Hyperglobulie und den übrigen typischen Zeichen, Cyanose,
Milztumor, Albuminurie in die Klinik aufgenommen.
Ich bringe im folgenden die Krankengeschichte; zu weiteren Er-
örterungen bietet der Fall keinen Anlaß.
M. M., 53 Jahre, Vorarbeiter. Aufgenommen 20. Febr. 1904. Fa-
milienanamnese belanglos. Früher nie ernstlich krank. Keine Lues. Keine
Malaria. Seit 10 Jahren 3 — 4mal im Jahre mehrere Wochen lang mäßige
Magenbeschwerden, bestehend in kneifenden Schmerzen in der Magen-
gegend, Aufstoßen und seltenem Erbrechen saurer Speisereste. Nie Hä-
matemesis. Im November 1903 Pneumonie. Am 25. Dez. 1903 ohne jeg-
liche Insalterscheinangen nach mehrtägigen geringen Kopfschmerzen Ein-
tritt einer Parese der linksseitigen Extremitäten; keine Beteiligung der
Himnerven.
Angeblich 8 Tage dauernder Ikterus. Allmählich vollständiger Rück-
gang der Parese. Seit jener Zeit ab und zu geringe Kopfschmerzen, be-
sonders linksseitig, sowie mehrmals täglich leichte SchwindelanfUlle, die
in letzter Zeit nachgelassen haben.
Häufig mehrere Minuten lang kneifende Schmerzen in der Magen-
gegend, sowie Beißen im Kreuz, zwischen den Schultern und im Genick.
Wegen dieser Beschwerden kommt Pat. in die Klinik. Keinerlei
subjektive Störung von Seiten der Brustorgane. Kein Fieber; Stuhl meist
regelmäßig, manchmal etwas obstipiert.
Von einer Verfärbung seines Gesichtes weiß Pat. nichts. Eine Bötung
der Augen wurde vor etwa 2 Monaten bemerkt, damals sollen auch Hände
tmd Ftlße rot geworden sein, angeblich infolge von Einreibungen, die sich
Pat wegen der Parese machte.
300 P. Preiss,
Bei der Aufnahme: Mäßig kraftiger Mann in leidlichem Er-
nährungszustande. Kein Fieber. Irgendwelche Residuen der linksseitigen
Parese sind bis auf ein geringes Abweichen der Zunge nach links nicht
vorhanden. Auch sonst keinerlei nervöse Störungen.
Das Gesicht hat in toto einen ausgesprochen bläulich-violetten Farben-
ton, der besonders stark an den Ohren und Lippen hervortritt. Conjunc-
tivae stark injiziert ; Zahnfleisch, Mund und Bachenschleimhaut von dunkel-
kirschroter Farbe. Zahnfleisch leicht blutend, an den Bändern mit gelb-
lichem Belage bedeckt. Die ganze Körperhaut, besonders die oberen
Brust- und Bückenpartien haben ein leicht cyanotisches Kolorit, das an
Händen und Füßen, hauptsächlich an Vola und Planta viel stärker ist.
Auf der Haut und den Schleimhäuten zahlreiche feine Ektasien kleinster
Hautgefäßchen.
Keine Schmerzen beim Beklopfen der Knochen.
Pupillen gleich weit, von prompter Beaktion. Augenhintergrund
bis auf eine Erweiterung der Venen normal.
Thorax normal gebaut, symmetrisch.
Atmung regelmäßig, ruhig, nicht dyspnoisch, auch beim Sprechen
und nach dem Herumgehen nicht. Lungengrenzen an normaler Stelle;
gute Verschieblichkeit
Heller Klopfschall. Beiderseits hinten unten vereinzelte klanglose
Basseigeräusche. Kein Husten, kein Auswurf.
Herz: Spitzenstoß im 5. Interkostalraum innerhalb der Mammillar-
linie. Tiefe Dämpfung: oben 4. Bippe; rechts: auf dem Stemum;
links: 1 Querflnger innerhalb der Mammillarlinie. Begelmäßige, etwas
beschleunigte Herzaktiun. Beine Töne. Zweiter Ton an der Basis, be-
sonders an der Aorta etwas accentuiert
Puls 90 pro Minute, kräftig, voll, regelmäßig, nicht celer. Arteria
rad. weit, rund, nicht besonders schwer kompressibel, nicht deutlich
sklerotisch, etwas geschlängelt. Die großen peripheren Arterien pulsieren
deutlich, tönen aber nicht Kein Kapillarpuls, kein Doppelgeräusch an der
Art. cruralis.
Blutdruck: linker Oberarm (Biva-Bocci) 190 mm Hg, linker Mittel-
finger (Gabrtnbr) 136 mm Hg.
Abdomen: normal konfiguriert, nicht empfindlich. Epigastrische
Pulsation.
Kein Ascites.
Leber: unterer glatter, etwas derber Band eben am Bippenbogen
zu ftihlen.
Milz: ziemlich derb, glatt, nicht druckempfindlich, überragt um
1 Querfinger den Bippenbogen, ihre Dämpfung reicht oben bis zur 8.,
unten bis zur 12. Bippe.
Urin: klar. Menge ca. ly, 1. Farbe dunkelgelb.
Beaktion: sehwach sauer.
Albumen ca. 0,5 p. M. (Esbach). Kein Zucker, Indikan nicht ver-
vermehrt. Im Spektrum deutlicher, nicht sehr starker Urobilinabsorptions-
streifen.
Im spärlichen Sediment ganz vereinzelte rote und weiße Blutkörperchen
und nicht verfettete Nierenepithelien ; spärlich hyaline Cylinder.
Stuhl: ohne Besonderheiten.
Blut: dick, dunkelrot.
Spez. Gewicht 1074.
Hyperglobulie und Milztumor. 301
Hb nach Gowebs-Sahli oa. 140 ProaL, nach Fleischl-Mibsohbr ca.
215 g im Liter.
N = 8000000.
W-12000. 5-4
P = 80,2 Proz. L — 10,2 Proz. Mo ~ 4,4 Pro».
Ma —I 1,2 Pros. £ »» 4 Pros.
Bote Blutkörperchen von normaler Form und Ghröße. Keine Normo-
blasten. Blutplättchen vielleicht etwas vermehrt.
Unter den Leukocyten 1 neutrophiler Myelooyt.
6 Tage später:
N = 7250000. W = 13500. J = ^. P = 86 Proz. L =
5 Proz. Mo = 3,76 Proz. E »= 3 Proz. Ma = 2,25 Proz.
Keine Normoblasteu. Blutpättchen vermehrt
Während seines kurzen Aufenthaltes in der Klinik war Pat. fast
vollkommen beschwerdefrei, hatte nur ab und zu etwas Aufstoßen. Auf-
fallend war, daß man von der auch bei einer zweiten Untersuchung kon-
statierten Blutdrucksteigerung am Puls eigentlich nichts fühlen konnte.
Auch dieser Patient hat probatorische Injektionen von 0,001 and
0,01 alt. Tuberkulin reaktionslos vertragen, so daß bei ihm also eine
tuberkulöse Erkrankung wohl nicht sehr wahrscheinlich ist. Eine Ope-
ration wurde ihm seiner geringfügigen Beschwerden wegen nicht vor-
geschlagen.
Herrn Geheimrat Prol Dr. Lightheim, meinem verehrten Lehrer
und Chef, spreche ich fQr das der Arbeit entgegengebrachte Interesse
und die gütige Unterstützung meinen ergebensten Dank aus.
Literatur.
1) BosBNOART, Milztumor und Hyperglobulie. Mitt. a. d. Grenzgeb. d.
Med. u. Chir., Bd. 11, Heft 4.
2) TObck, Protokoll d. Ges. f. innere Med. in Wien, Bd. 1, p. 7, Sitzung
V. 23. Jan. 1902.
3) CoLLBT et Gallav ARDIN, Tuborculose massive et primitive de la rate.
Arch. de m^d. exp^r. et d'anat. path., 1901, Mars, No. 2.
4) Vaquez, Semaine m^d., 1892 u. 1899.
5) Moutarb-Martin et Lbfas, Soc. m^d. d. h6p. de Paris, 1899, 9 juin.
6) Rbkdu et WiDAL, Soc. m^d. d. höp. de Paris, 1899, 2 juin.
7) OsLBR, Chronic Cyanosis with Polycythaemia and Enlarged Spleen: A
New Clinical Entity. American Joum. of the med. scienc, 1903, Aug.
8) CoMiNOTTi, Hyperglobulie und Splenomegalie. Wiener klin. Wochen-
schrift, 1900, No. 39.
9) Brbübb, Oes. f. innere Med. in Wien, Sitz. v. 6. Dez. 1903; Bef.
Deutsche med. Wochenschr., Vereinsbeil., 1904, 4. Febr., p. 231.
302 P. Preise, Hjrperglobulie und Milztumor.
10) TOBCK, Ges. f. innere Med. in Wien, Sitz. v. 6. Dez. 1903; Ref.
Deutsche med. Wochenschr., Vereinsbeil., 1904, 4. Febr., p. 231.
11) Lbfas et Bbndbr, Compt. rend. de la soc. de biol., T. 54, 1902, p. 832.
12) VAN DBR Wbtde Und VAN YzBRXN, Chronischer Tumor der Milz als
Folge von Thrombose der Vena portae. Ref. Münch. med. Wochenschr.,
1903, No. 46, p. 1979.
18) Cabot, Boston med. and surg. Journ., 1900, March 15, u. 1899, Dez.
(Cit. nach Oslbr.)
14) Shattuok, Münch. med. Wochenschr., 1903. No. 43. (Ref. über Oslbb.)
15) Brbübr, Ueber puerperale Pleuritis und Pneumonie. Beitr. z. Geburts-
hilfe u. GynftkoL, 1903. (Festschr. f. R. Chrobak.)
Nachdnick yerboten*
XY.
Meine Erfahrungen über Appendicitis.
Von
Prof. TL G. Iiennander, Upsala.
Ehe ich zu der Berichterstattung über die in der Klinik zu Upsala
ausgeführten Operationen übergehe, halte ich es für wichtig, einige
Punkte aus der Lehre von der Appendicitis zu berühren, nämlich:
1) lieber den latenten Verlauf der Krankheit im Innern des
Appendix selbst;
2) über die Bedeutung einer vom Appendix ausgegangenen Lymph-
angitis oder Lymphadenitis;
3) über infektiöse Enteritis oder Colitis als ein wichtiges ätio-
logisches Moment fQr Appendicitis;
4) über den Umstand, daß das, was man in akuten Fällen dia-
gnostiziert, nicht Appendicitis ist, sondern eine Form der Peritonitis,
oder in einzelnen Fällen eine akute Lymphangitis mit Lymphadenitis,
als deren ätiologisches Moment man auf dem Wege des Ausschlusses
eine akute Appendicitis annimmt. Es finden sich deshalb manche Ver-
anlassungen zu diagnostischen Mißgriffen;
5) über die Ursache davon, daß die Schmerzen im Beginn eines
Appendicitisanfalles so oft mitten im Bauche und auf der linken Seite
gefühlt werden, sowie davon, warum in gewissen seltenen Fällen nicht
einmal im weiteren Verlaufe der Krankheit auf der rechten Seite
Schmerzen auftreten.
Daß eine entzündliche Krankheit im Proc. vermiformis
ganz latent verlaufen kann, ist ganz sicher. Niemand dürfte
diesen Umstand schärfer hervorgehoben haben als Sir Frederick
Treves. ^In dealing with the pathology of appendicitis it is desirable
to appreciate clearly that the clinical phenomena, which are
familiär under the name of ,an attack of appendicitis', are due to
MitMl. a. d. liraoxcebiisteii d. MedisiD a. Chlnir«to. 2m. bd. 20
304 K. G. Lennander,
Peritonitis in the region of that organ. The disease i&
essentially a variety of Peritonitis. Its manifestations,
its effects, and its possibilities are those only of Peri-
tonitis. Whatever may be the antecedent condition, an
attack of appendicitis is not in evidence, andindead, not
exist until the Peritoneum is implicated^ 0-
Schon 1895 hatte indessen Hawkins gesagt, daß er es als voll-
kommen sicher betrachte, daß „in allen Fällen akuter Appendicitis, die
ärztliche Behandlung verlangen, das Peritoneum bereits entzündet ist" *).
Bei einer Menge Operationen habe ich den Eindruck bekommen^
daß sich die Krankheit ganz symptomlos im Innern des Proc. vermi-
formis entwickelt haben müsse, so lange, bis die Serosa in der Um-
gebung des Organes ergriffen wurde. So operierte ich z. B. in einer
Nacht im folgenden Falle.
Fall L Mädchen, 16 Jahre alt, No. 300 A, 1902. Die Operation
wurde 51 Stunden naoh dem Auftreten des ersten Unwohlseins und der
ersten Schmerzen ausgeführt. 6 Jahre vorher ein recht schwerer Anfall
von Appendicitis, aber seitdem gesund. Es wurde zuerst ein Schnitt
durch die Vagina gemacht, dann einer auf der rechten Seite, der vom
Tuberculum pubis bis zum Muse, erector dorsi reichte ; und dann ein
kürzerer Schrägschnitt an der linken Seite, vom Bande des Muse, rectus
bis 4 — B cm hinter die Spina ilei anter. superior. Man findet vor den
VaBa iliaca dextra den gangränösen Wurmfortsatz und um diesen herum
eine vollständig abgekapselte Eiteransammlung. Uebrigens im ganzen
Bauche unterhalb des Colon transversum, sowie in dem rechten sub-
phrenischen Räume eine fortschreitende eiterige Peritonitis mit dünnem,
gelblich-grauem Eiter.
Bei der Untersuchung des Proc. vermiformis konnte man zu Anfang
nicht sehen, daß er perforiert war, weil das Loch so klein war, daß e&
nur eine Knopfsonde hindurchließ. Beim Aufschneiden war der Proc.
vermiformis leer bis auf einen Fäkalstein und ein wenig Kalkgries. Die
Schleimhaut war vollständig durch Oangrän verloren gegangen von der
Spitze an und bis 1 cm von der Einmündungssteile in das Coecum ent-
fernt, wo man einen fast im ganzen Umkreise vollkommen scharfen und
reinen Wundrand (Demarkationslinie gegen das Brandige) sah.
Nachdem der Proc. vermiformis akut erkrankt war, ist also die
Schleimhaut brandig geworden, abgestoßen worden und zu einem feinen
Detritus zerfallen, so daß dieser nebst Schleim und Eiter durch eine
millimeterweite Oeflfhung sich vollständig entleeren konnte. Weiter
hat sich die übrig gebliebene gesunde Schleimhaut reinigen können
längs der Demarkationslinie. Denkt man an ähnliche pathologische
Prozesse an den dem Auge zugänglichen Schleimhäuten (z. B. im Munde,
im Rachen), so dürfte man wohl in diesem Falle zu der Auffassung
1) Brit. med. Journ., 1902, June 23, p. 1589.
2) Hawkins, Diseases of the vermiform appendix. London 1896, p. 56.
Meine Erfahrtmgen über Appendicitis. 305
gelangen, daß die Erkrankung im Innern des Proc. vermiformis
wenigstens einige Tage, wahrscheinlich noch länger, bestanden habe,
ehe die ersten Schmerzen auftraten. Das stimmt ja auch sehr wohl
mit meinen Untersuchungen über das Gefühl in der Bauchhöhle über-
ein, die gezeigt haben, daß auch ein kranker Proc. vermiformis
völlig gefühllos für alle operativen Eingriffe ist^).
Auf Grund der alles beherrschenden Stellung, die eine vom Proc.
vermiformis ausgehende, begrenzte oder fortschreitende Peritonitis im
Krankheitsbilde der Appendicitis einnimmt, hat man sich im allgemeinen
nicht hinlänglich hineingedacht in die Bedeutung einer vom Proc.
vermiformis ausgegangenen infektiösen Lymphangitis
und Lymphadenitis. Im Jahre 1891 hob Axel Iyersen') die
Bedeutung der Lymphgefäße im Proc. vermiformis als Weg der In-
fektion von der Schleimhaut zur Serosa hervor. Er meinte, daß die
Adhärenzen bei chronischen Appendidten ^als Produkte einer septischen
Lymphangitis aufgefaßt werden können^.
TixiER und BiANNAY haben im Jahre 1901 die Lymphgefäße des
Appendix gründlich studiert^). Ihre Angaben sind kontrolliert und er-
weitert worden durch neue Untersuchungen von Poirier und Cün^o.
Sie sind referiert in ihrem im Jahre 1902 erschienenen Handbuch über
die Lymphgefäße des Körpers^).
Von älteren Arbeiten ist an erster Stelle die von Clados zu nennen.
Dieser suchte teils zu beweisen, daß sich konstant eine Lymphdrüse
im Mesoappendix hinter dem Ileum findet, und teils auch, daß die
Lymphgefäße im Proc. vermiformis mit den Lymphgefäßen der rechten
Uterusadnexe und des rechten Ligamentum latum kommunizieren^).
LoGKWOOD hat, soviel ich weiß, zuerst angegeben, daß Lymphgefäße
aus dem Appendix in die Lymphgefäße längs der Vasa hypogastrica an
der rechten Beckenwand einmünden^). Es ist indessen möglich, daß
1) Centralbl. f. Chir., 1901. — Upsala läkarefbren. Förhandl., 1901. —
Hygiea, 1901. — Mitt a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., 1901. Meine
Untersuchungen zeigen, daß sowohl der gesunde wie der kranke Magen
und Darm, sowie die Gallenblase gefühllos sind für alle operativen Ein-
griffe (Schneiden, Nähen, Kneipen mit Zangen, Dehnung der Länge oder
der Quere nach, Thermokauter, Salpetersäure, Chromsäure u. s. w.), daß
aber dagegen die parietale Serosa reich an schmerzleitenden Nerven ist.
Besonders rufen Dehnen und Schaben an der Innenseite der Parietal-
serosa Schmerz hervor.
2) Ejöbenhavns med. Selskabs Förhandl. 1891.
3) Lyon möd., 1901.
4) Les lymphatiques, Poiriers und Charpys Trait^ d' Anatomie humaine,
Tome 2, Heft 4.
5) Compt. rend. de la soc. de biol., Paris 1892.
6) Lockwood, Appendicitis, its pathology and surgery, London 1901,
p. 26.
20*
306 K. G. Lennander,
diese Angaben über normalerweise vorkommende Anastomosen zwischen
LymphgefiLßen im Proc. vermiformis und den Lymphgefäßen, die zu
den Organen im kleinen Recken gehören, alle beide mindestens sehr
zweifelhaft sind ^). Das stimmt auch am besten mit den Entwickelungs-
verh<nissen überein, nach denen die Lymphgefäße des Proc. vermiformis
nicht anders verlaufen können als zu den mesenterialen Lymphdrüsen.
Nach PoiRiER und Gun£o sind die Lymphgefäße im Coecum und
Proc. vermiformis weit mehr entwickelt als in den übrigen Teilen des
Dickdarms. Das gilt vor allem vom Blinddarmanhange, dessen großer
Reichtum an lymphoidem Gewebe wohlbekannt ist.
Lockwood lieferte im Jahre 1901 eine vorzügliche Darstellung')
der normalen mikroskopischen Anatomie des Proc vermiformis und
der Bedeutung der Lymphgefäße in diesem Organ für die Ausbreitung
von Krankheiten daselbst. Die Mucosa im Proc. vermiformis ist am
meisten mit den PETERschen Plaques zu vergleichen. Es besteht ein
Reichtum an lymphoiden Follikeln (nach L. 150—200 in einem mittel-
großen Appendix) und di£fus angeordnetem lymphoiden Gewebe mit
zahlreichen Lymphgefäßen. Eine Anzahl von Lymphgefäßen der Follikel
sammelt sich zu großen Lymphsinus, die halbmondförmig die Follikel
umgeben an ihrer tiefen (submukösen) Seite. Die Sinus der Follikel
entleeren sich in die Lymphgefäße der Submncosa. In der Muskelschicht
findet sich eine Menge millimeterweiter Oeffnungen „Hiatus musculares''
(Logkwood), durch welche teils die Arterien und Nerven vom Mes-
enteriolum und der Subserosa in die Submucosa eintreten, teils die
Venen und LymphgeßLße in umgekehrter Richtung austreten, um sich
zu größeren Stämmen im Mesenteriolum zu sammeln. Danach folgen
die Lymphgefäße den Arterien auf ihrem Wege zur Aorta, und es ist
deshalb am einfachsten, sie nach den Arterien zu benennen.
Erinnern wir uns, daß der Proc. vermiformis den rudimentären
Endteil des Coecum bildet, und daß das Colon ascendens, das Coecum
und der am meisten distale Teil des Ileum ihr Blut durch die
Art. ileocolica aus der Art. mesenterica superior erhalten, so ist es
leicht, sich eine Vorstellung von den Anastomosen der appendikulären
Lymphgefäße im Mesenteriolum mit den Lymphgefäßen des Coecum und
Ileum zu machen und von deren Vereinigung zu Stämmen, die bei
dem Durchgange durch die Lymphdrüsen im Mesenterium zuerst der
Art. ileocoecalis, dem Endzweige der Art. ileocolica, folgen und darauf
dieser Arterie und der Art. mesenterica superior, um zuletzt in die
Lymphdrüsen und die großen Lymphstämme um die obere Bauchaorta
herum und von da in den Ductus thoracicus zu gehen.
Die Lymphgefäße an der vorderen Seite des Coecum sammeln
1) PoiRiBR et CuNfio, 1. c. p. 1225.
2) 1. c. p. 17—73 u. 140—160.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 307
sich nm die vordere COkalarterie herum und folgen dem Lauf der-
selben aufwärts bis zu einer Gruppe von Lymphdrüsen im Mesenterium
um die Art. ileocoecalis herum, im Winkel zwischen Ileum und Colon.
Von der hinteren Seite des Coecum aus folgen die Lymphgefäße in
gleicher Weise der hinteren Cökalarterie nach oben bis zu derselben
Lymphdrfisengruppe. Am medialen Teile des Coecum finden sich sowohl
an der vorderen als auch an der hinteren Seite Gruppen von sub-
serösen Lymphdrüsen, welche die Lymphgefäße teilweise passieren
können. Diese ^Ganglions pr6- et r^trocoecaux'' sind indessen nicht
konstant.
Die von dem Appendix abführenden Lymphgefäße sind
4 oder 5 an Zahl. Sie folgen der Art. appendicularis in den Meso-
appendix und verlaufen also hinter dem am meisten distalen (analen)
Segment des Ileum, um in die vorher genannte Drüsengruppe um die
Art. ileocoecalis herum einzumünden. In ihrem Verlaufe im Meso-
appendix können sie eine oder mehrere kleine Lymphdrüsen passieren
— „Ganglions appendiculaires^. Diese sind nicht konstant. Nach
TixiER und BiANNAY fehlen sie in 46 Proz. aller Fälle (50 Leichen
sind untersucht worden). Sie werden am öftesten hinter dem Ileum —
Clados Drüse — angetroffen. „Ganglions appendiculaires r^troil^ux^.
Seltener findet man eine oder mehrere Drüsen im freien Mesoappendix
unterhalb des Ileum — „Ganglions appendiculaires sousiläaux'^. Eine
dritte Gruppe kann sich finden unter der Serosa am Coecum, unmittel-
bar oberhalb der Einmündung des Proc. vermiformis — „Ganglions
appendiculaires juxtacoecaux^. Da indessen keine von diesen 3 Lymph-
drüsengruppen konstant vorkommt, hat man die Lymphdrüsen-
gruppe um die Arteria ileocoecalis herum im Winkel
zwischen Ileum und Colon ascendens als die regionären
Lymphdrüsen des Proc. vermiformis zu betrachten.
Im Mesoappendix unterhalb des Ileum habe ich bei Operationen
mehrere Male 1 — 4 geschwollene Lymphdrüsen gesehen. Hinter dem
nenm und neben dem Coecum findet man natürlicherweise bei Ope-
rationen keine Lymphdrüsen im Mesoappendix („r^tro - ilSaux^ und
„juxta-il^aux^), wenn nicht Coecum und Ileum so beweglich sind, daß
sie in die Bauchwunde vorgezogen werden können.
Gerade im Winkel zwischen Ileum und Colon ascendens sieht man
besonders oft eine oder mehrere geschwollene Lymphdrüsen. Bei einer
mehr ausgebreiteten Lymphadenitis findet man geschwollene Lymph-
drüsen im ganzen Mesocolon ascendens vom Colon aus bis zur Wirbel-
säule. Das gilt sowohl von akuten wie auch von chronischen Appendi-
dten. Ein etwas höherer Grad von Fettreichtum in den Mesenterien
macht es jedoch fast unmöglich, bei einer Operation geschwollene
Lymphdrüsen zu erkennen durch den kurzen Operationsschnitt hindurch,
den man aus manchen Gründen anzuwenden bestrebt ist.
308 K. G-. Lennander,
Auf Grund der bekannten Verhältnisse bei der Entwickelung des
Proc. vermiformis, des Colon und des Mesenterium im Fötalleben ist
es klar, daß der Proc. vermiformis ursprünglich keine anderen Lymph*
drüsenverbindungen haben kann als die, über die ich nach Poirier
und Cun£o berichtet habe, d. h. daß die Lymphgefäße des Proc. vermi-
formis, ohne irgendwelche Anastomosen mit retroperi-
tonealen Lymphdrüsen, durch das Mesenterium, einen Teil der
dort befindlichen Lymphdrüsen passierend, aufwärtq zu den die obere
Bauchaorta umgebenden Lymphdrüsen und LymphgeßLßstämmen ver-
laufen. Das Colon und das Mesenterium sind nämlich, wie bekannt,
während einer gewissen Periode des Fötallebens vollkommen mit Peri-
tonealgewebe bekleidete Organe, die vollständig beweglich sind.
Wenn später Coecum und Colon ascendens ihren Platz auf der
rechten Seite des Bauches einnehmen und wenn das Mesocolon ascen-
dens und in gewissen Fällen auch der unterste Teil des Dünndarm-
mesenterium an der hinteren Bauchwand festwachsen, treten Venen-
anastomosen zwischen den Systemen der Porta und der Cava auf.
Infolgedessen bilden die Venen des Coecum und also auch des Proc.
vermiformis Anastomosen mit den Venen der Nierenkapsel, mit den
Venae spermaticae und mit einem Teil der Wurzeln der Venae iliacae.
Diese Venenanastom osen sind sehr eng, aber sehr zahlreich. Sie
werden schon von Rutsch und Haller erwähnt, wurden aber zuerst
von Retzius (Veines de Retziüs) näher beschrieben i). Die Lymph-
geflUie verhalten sich wahrscheinlich ungefähr wie die Venen. Nach
Poirier und Cün£o^) anastomosiert das subseröse Lymphgefäßnetz
am Coecum mit dem Lymphgefäßnetz unter dem angrenzenden Peri-
toneum parietale.
Die cöko-appendikularen Lymphgefäße können also auf diesem
Wege mit in der Nähe liegenden retroperitonealen Lymphdrüsengruppen
in Verbindung kommen. In je größerer Ausdehnung Colon ascendens,
Coecum, Proc. vermiformis und Mesenteriolum mit der hinteren und
lateralen Bauch wand verwachsen sind, desto zahlreichere Verbindungen
hat man zwischen den Lymphgefäßen dieser Darmteile und der Bauch-
wand zu erwarten. Es ist deshalb höchst wahrscheinlich, daß wenigstens
nach vorausgegangenen entzündlichen Prozessen in der Fossa iliaca
Lymphgefäßanastomosen vom Proc. vermiformis in die Lymphdrüsen
längs der Vasa renalia, der Vena cava und der Vasa iliaca einmünden
können, vielleicht sogar in inguinale Lymphdrüsen. Bei akuter Appen-
dicitis sieht man nämlich manchmal, daß auch Lymphdrüsen am Ober-
schenkel unterhalb des Ligam. Poupartii anschwellen. Die Fälle von
akuten Bubonen am Oberschenkel, die ich bei Appendicitis gesehen
1) PomiBR und Cunbo, 1. c. Tome 2, Faso. 3, p. 1013.
2) 1. c. Tome 2, Fase. 4, p. 1226.
Meine Erfahrangen über Appendicitis. 309
habe« haben indessen nicht eine Operation erfordert, wenn nicht gleich-
zeitig eine extraperitoneale Eiterung in der Fossa iliaca bestand.
In den Fällen, in denen das Colon ascendens nicht mit der hinteren
Bauchwand verwächst und in denen auch infolge davon der untere Teil
des Dünndarmmesenterium und das Mesocolon vollständig frei and be-
weglich sind, verlaufen natürlicherweise alle Lymphgefäße des Proc.
vermiformis genau wie während des frühesten Fötallebens, zu den
retroperitonealen Drüsen um die Aorta herum, ohne irgendwelche
Anastomosen mit den retroperitonealen Lymphdrüsen zu bilden.
Sobald sich eine Lücke in der Epithelbekleidung des Proc. vermi-
formis findet, ist ein Teil der Lymphgefäße der Schleimhaut für bak-
terielle Invasion offen. Bakterien sind in den Lymphgefäßen in allen
Schichten des Proc. vermiformis nachgewiesen worden. Es ist klar,
<iaß dadurch auch miliare oder größere Abscesse in der Wand des
Appendix entstehen können. Fenger berichtete im Jahre 1893 über
«inen Fall von septischer Lymphangitis im Proc. vermiformis mit
miliaren Abscessen in der Subserosa Ö- In der Fig. 14 von Hawkins^)
sieht man zwei Abscesse in der äußeren Muskelschicht; in Fig. 15 >)
sieht man zahlreiche kurze Bacillen in einer Vene in der inneren
Mnskelschicht.
Nach diesen Auseinandersetzungen ist es leicht zu
verstehen, daß eine infektiöse Lymphangitis im Proc. ver-
miformis die Ursache einer begrenzten oder fortschrei-
tenden infektiösen Peritonitis sein kann, ohne daß man
makroskopisch eine Perforation in der Wandung des Or-
gansoder auch nur eine Ulceration in dessen Schleimhaut
sehen kann. Hawkins berichtet über mehrere derartige Sektionen
und ich habe bereits in meinen früheren Arbeiten gleiche eigene Beob-
achtungen (s. a. Fall XI) erwähnt. Das dürfte man nunmehr wohl als
eine allgemein anerkannte Wahrheit zu betrachten haben, über die alle
erfahrenen Chirurgen vollständig einig sind.
Dagegen ist der von einer akuten Appendicitis herrührenden An-
schwellung der regionären Lymphdrüsen nur sehr wenig Aufmerksam-
keit geschenkt worden. Und doch ist es etwas Gewöhnliches, daß nach
Appendiciten eine toxische oder infektiöse Lymphadenitis im Mesocolon
oder vielleicht auch in der Fossa iliaca folgt, während sehr geringe
oder gar keine Peritonitis in der Umgebung des Proc. vermiformis
bestehen kann. Davon kann man sich bei Operationen, sowohl während
des akuten Anfalls als auch unmittelbar nach demselben, überzeugen.
Auch bei den gewöhnlichen Operationen „ä froid^ muß man zu einer
1) Citiert nach Mvntbr, Appendicitis. Philadelphia 1897, p. 65.
2) 1. c. p. 43.
3) 1. c. p. 47.
310 K. G. Lennander,
gleichen Aofifassang kommen in Fällen, in denen man einen sogenannten
katarrhalischen Proc. vermiformis ohne Adh&renzen findet, aber mit an-
geschwollenen Lymphdrüsen, von denen manche vielleicht Eitening
zeigen.
Man dfirfte deshalb die Richtigkeit der vorher citierten Aenßerung
von Treyes in Zweifel zn ziehen berechtigt sein, daß eine akute Appen-
dicitis, sobald sie Symptome zeigt, stets von Peritonitis begleitet ist
In meinem angeführten Aufsatz über das Gefühl in der Bauchhöhle
habe ich hervorgehoben, daß eine akute Appendicitis nach meiner Auf-
fassung nur Schmerz erzeugt, sobald das Peritoneum parietale er-
krankt ist oder sobald eine vom Appendix ausgegangene Lymphan-
gitis die retroperitonealen Lymphgefäße oder Lymphdrüsen erreicht
hat. Mao Bürkets Punkt nahm ich als die Stelle an, wo in gewohn-
lichen Ffillen die vom Appendix ausgehenden Lymphgefäße zuerst in
Berührung kommen mit schmerzleitenden Nervenzweigen, die den
Lumbalnerven angehören. Diese Ansicht gewinnt eine gute Stütze an
den später citierten Untersuchungen von Eeith, die zeigen, daß die
Valvula Bauhini in der Mehrzahl von Fällen Mao Bürnets Punkte
entspricht. Aber nach vorher erwähnten Untersuchungen wissen wir
auch, daß die retroilealen und juxtacökalen appendikulären Lymphdrüsen,
wie auch die konstant vorkommende Lymphdrüsengruppe um die Art
ileocoecalis herum ihre Lage gerade in der allernächsten Nachbarschaft
der Ileocökalklappe haben.
Schon im Jahre 1893 hob ich^) die Symptome und die Bedeutung
einer akuten Lympbangitis und Lymphadenitis sowohl bei akuten wie
auch bei chronischen Appendiciten hervor. Jetzt wie damals glaube
ich, daß es am einfachsten ist, den Proc. vermiformis mit den Rachen-
mandeln zu vergleichen. Wie sich akute Tonsilliten finden mit, wenig-
stens makroskopisch betrachtet, nur katarrhalischen Veränderungen^
andere mit Suppuration und wieder andere mit Gangrän, so finden
sich auch entsprechende Prozesse im Appendix. Bei der akuten Ton-
sillitis schwellen mehr oder weniger die regionären Lymphdrüsen am
Halse an ; das ist auch der Fall mit den Lymphdrüsen des Proc vermi-
formis bei der Mehrzahl von akuten Appendiciten.
Je nach der Art des Prozesses im Appendix, kann dieser in dem
einen Falle eine schwere, vielleicht rasch zum Tode führende Peri-
tonitis, in einem anderen kaum irgendwelche Peritonitis, aber eine
bedeutende Lymphdrüsengeschwulst hervorrufen. Wie soll man das
erklären? Wenn die Appendicitis rasch zum Brand des erkrankten
Teiles des Organes führt, dann werden Venen und Lymphgefäße in
einem sehr zeitigen Stadium der Krankheit thrombosiert und sterben
1) Nord. med. ark., 189S, No. 27, p. 12 u. 13. — Ueber Appendicitis.
Wien 1895.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 311
danach rasch ab. Es kann deshalb keine Lymphangitis außerhalb des
Organes entstehen und ebensowenig eine entzündliche Schwellung in
den regionären Lymphdrüsen. Es entsteht dagegen Peritonitis, denn
entweder reißt die Wand des brandigen Appendix, dessen Inhalt dann
in die Bauchhöhle entleert wird, oder auch es wachsen die Mikroben
quer durch die abgestorbene Darmwand hindurch.
Aber auch in weniger heftigen Fällen, in denen man eher von einer
Ulceration sprechen kann, die perforiert, als von Gangrän, wird der
Inhalt des Appendix ebenfalls sofort in die Bauchhöhle entleert, die je
nach den lokalen Verhältnissen oder je nach der Virulenz der Bakterien
gegen die Infektion durch eine begrenzte oder fortschreitende Peritonitis
reagiert, genau wie in den eben genannten Fällen mit Gangrän.
In den Fällen aber, in denen es nie zu einer größeren Zerstörung
des Proc. vermiformis kommt oder in denen eine solche erst im späteren
Verlauf der Krankheit eintritt, fährt die Schleimhaut fort zu sezer-
nieren, aber das Sekret wird infolge der akuten Schleimhautschwellung
und der möglicherweise vorhandenen Verengungen (Knickungen, Narben
u. s. w.) abgesperrt. Der infektiöse Inhalt im Proc. vermiformis kommt
unter Druck. Der kranke Proc. vermiformis kann in schwereren Fällen
am besten mit einem Furunkel an einer Hand oder einem Fuß ver-
glichen werden oder mit einer Tonsille, in der Absceßbildung besteht.
Toxine und Mikroben können nicht anders aus dem Proc. vermiformis
treten als durch die Lymphgefäße (oder die Venen?). Es entsteht
je nach der Art des Inhaltes eine rein toxische oder überwiegend
toxische oder eine mehr infektiöse Lymphangitis mit regionärer Lymph-
adenitis.
Da indessen die vom Proc. vermiformis kommenden Lymphgefäße
erst die Subserosa des Organes und dann das Mesenteriolum passieren,
ehe sie in die unter gewöhnlichen Verhältnissen retroperitonealen Drüsen
im Mesocolon einmünden, so kann, wie aus der vorhergehenden Dar-
stellung deutlich hervorgeht, die Peritonealhöhle von den Lymphgefäßen
in der Subserosa, im Appendix und im Mesenteriolum infiziert werden,
gleichzeitig mit der Infektion der Lymphdrüsen. Die früher angeführten
Beobachtungen von miliaren Abscessen und von Mikroben in den
Lymphgefäßen in der Subserosa machen das wohl begreiflich^).
In allen Fällen, in denen eine etwas ernstere Form einer vom
Proc. vermiformis aus fortgeleiteten Bauchfellentzündung besteht, ver-
1) Schöne Beispiele von infektiöser Lymphangitis im Appendix mit
eiteriger Peritonitis bieten die Fälle, in denen man bei Operationen
kurz nach einem Anfalle den geschwollenen Proc. vermiformis mehr oder
weniger von adhärenten Omentumzipfeln umgeben findet und im Innern der
fibrösen Adhärenzen einen oder einige Tropfen Eiter, ohne daß man am
entsprechenden Teile der Schleimhaut des Proc. vermiformis makroskopisch
irgendwelche Ulceration sehen kann.
312 £. G. Lennander,
liert natürlich die Anschwellung der regionären Lymphdrüsen (= akute
Lymphangitis) alle klinische Bedeutung, soweit sie nicht in eiterige £in-
schmelzung der Lymphdrüsen übergeht oder zu infektiösen Thrombosen
in nahe gelegenen Venenzweigen des Porta- oder Cavasystems — Leber-
abscessen, Lungenabscessen — führt
Man kann sich schwer vorstellen, daß Toxine oder Mikroben in
größerer Menge die Lymphgefäße in der Subserosa des Proc. vermi-
formis und dessen Mesenteriolum passieren können, ohne wenigstens
Hyperämie in der Subserosa selbst zu verursachen. Sicher ist indessen,
daß man sowohl während eines Anfalles wie einige Tage später an der
Außenseite des Proc. vermiformis ganz wenig (Fall III und V) oder
gar keine Gefäßinjektion (Fall IV) finden kann.
Fall IL Mann, 20 Jahre alt, aufgenommen am 25. Sept. 1902.
Appendicitis acuta catarrhalis haemorrhagica cum peri-
tonitide serosa incipiente et cum lymphadeni tide acuta
jnesocoli.
Anamnese. Fälle von Appendicitis sind vorher nicht in der Familie
oder in der Verwandtschaft vorgekommen. Pat ist immer gesund und
stark gewesen. Im Sommer hatte er mehrere Male geringen, in • der
rechten Seite des Bauches lokalisierten Schmerz, dicht oberhalb des Ligam.
Poupartii: es „strammte^^ bei Anstrengungen und mitunter „hieb es zu'^
Pat. war nie bettlägerig; die Darmentleerung war die ganze Zeit normal;
einige Male bestanden geringe dyspeptische Symptome. Am 25. Sept.
fühlte sich Pat beim Aufstehen vollkommen gesund und aß sein Frühstück
wie gewöhnlich. Früh hatte er eine Darmeutleerung gehabt, die indessen
recht gering gewesen war. An den vorhergehenden Tagen war die Darm-
entleerung normal gewesen und dyspeptische Beschwerden hatten nicht
bestanden. Einige Zeit nach dem Frühstück (ungefähr 11 Uhr vormittags)
hatte Pat. das Gefühl von „ Schwere ^^ nach unten zu im Bauche; er ging
auf das Klosett, hatte aber keine Stuhlentleerung, nur unbedeutende
Blähungen gingen ab. Unmittelbar danach stellte sich heftiger Schmerz
in der rechten Seite des Bauches ein, der in das rechte Bein abwärts und
in den Bücken ausstrahlte, gleichzeitig bestand bedeutende Empfindlichkeit
in der rechten Fossa iliaca. Der Schmerz exacerbierte von Zeit zu Zeit
und wurde sehr quälend; um Ys^^ ^^^ ^^^^ ^^° P^^^ ^^^ reichliches Er-
brechen mit saurem Geruch ein. Kein Frost, weder am Morgen noch jetzt;
doch kam es dem Pat. vor, als ob er den ganzen Morgen ungewöhnlich
stark geschwitzt hätte. Bei der um 1 Uhr mittags vorgenommenen Unter-
suchung wurde folgendes gefunden : Temp. 37,6 ®, Puls etwas unregelmäßig,
Frequenz 70 — 80. Der Bauch erscheint etwas aufgetrieben, doch nicht in
besonders hohem Grade; bei der Palpation findet sich der Bauch auf der
linken Seite weich und nirgends empfindlich ; geht man auf die rechte Seite
über, so spannen sich die Muskeln bei sehr leiser Palpation bretthart an.
Dabei wird bedeutende Empfindlichkeit angegeben über Mac Bijbkbts
Punkt, sowie etwas nach außen davon. Nach oben zu im rechten Hypo-
chondrium wird auch Empfindlichkeit angegeben, obwohl in geringerem
Grade als in dem vorher angegebenen Bezirk. Eine deutliche Resistenz
ist nicht zu fühlen. Der Perkussionsschall erscheint über dem vorher
genannten Bezirk etwas kürzer tympanitisch als auf der linken Seite.
Palpation vom Rectum aus ergibt nichts. Von Seiten der Lungen und
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 313
des Herzens nichts Abnormes. Harn trübe, etwas rötlich, er gibt (fil-
triert!) einen dünnen, aber deutlichen unteren Bing bei Hbllbbs Probe.
Da die Diagnose sicher erschien, Fat. zu einer eventuellen Operation ge-
neigt war und die Schmerzen besonders heftig waren, wurde 1 cg Mor-
phium subkutan gegeben.
Status praesens 5 Uhr nachm. Ungewöhnlich muskelstarker
junger Mann. Die Schmerzen haben aufgehört, Fat ist etwas benommen.
Bauch jetzt weich und nicht besonders empfindlich auf der rechten Seite.
Etwas Auftreibung des Leibes. Flatus sind nicht abgegangen. Temp. 37,6 ®,
Puls gleichmäßig, 80. Der Harn gibt, stark verdünnt, bei Hbllers Probe
einen dünnen, aber deutlichen unteren und einen oberen Eiweißring. Nichts
im Sediment. Anzahl der weißen Blutkörperchen 16900 im Kubikmillimeter.
Operation 5 Uhr 30 Min. (ungefähr 6^/, Stunden nach dem Auf-
treten des ersten Unwohlseins). Die Diagnose war auf akute Appendicitis
gestellt worden. Die Krankheit wurde als gefährlich betrachtet, weil Fat.
schon Eiweiß im Harne und 16900 Leukocyten im Blute hatte. Die hef-
tigen Schmerzen und die „brettharte" Spannung der Muskeln bei der ersten
Untersuchung deuteten ebenfalls darauf hin. Schrägschnitt. Zwischen der
vorderen Bauchwand und den lateralen Teilen des Goecum und Colon ascen-
dens fanden sich breite, dünne, gefäßreiche Adhärenzen (vgl. die Anamnese).
Der Froc. vermiformis war ungewöhnlich lang. Er lag medial am Coecum
und ging in Trichterform in dieses über. In seiner Serosa sah man nicht
mehr als 1 oder 2 injizierte Ge^ße. Die Serosa an den umliegenden
Därmen zeigte vermehrte Feuchtigkeit und vermehrte Rötung. Alle Därme
waren mehr ausgedehnt als gewöhnlich. In dem sehr großen und fett-
reichen Mesoappendix waren keine vergrößerten Lymphdrüsen zu er-
kennen. Solche fanden sich dagegen im Winkel zwischen Ileum und
Colon und von da an bis an die Wirbelsäule. Sie hatten die Größe
einer kleinen Kaffeebohne bis zu einer Haselnuß. Im untersten Teile des
Dünndarmmesenterium fanden sich keine geschwollenen Drüsen. Die
Mesenterien waren fettreich. Der Froc. vermiformis wurde ezstirpiert und
der Bauch zugenäht ohne Drainage.
Der exstirpierte Froc. vermiformis war 12 cm lang und von konischer
Porm, gleichmäßig schmäler werdend nach der Spitze zu. Er war voll-
ständig ausgefüllt von einer recht festen Fäkalmasse, die in der Nähe
des Coecum natürliches Aussehen hatte, aber nach der Spitze zu mit
Schleim oder möglicherweise mit Eiter gemischt war. In der Schleimhaut
sah man in der ganzen Ausdehnung des Appendix einige wenige steck-
nadelkopfgroße und kleinere Blutungen. Die Schleimhaut war in den
distalen Teilen geschwollen.
Der Fat. wurde nach der Operation mit salicylsaurem Fhysostigmin^
0,0002 g subkutan, 3 — 4mal täglich, behandelt. Jeden Tag wurden
4 Darmausspülungen gemacht und nach diesen in der ersten Nacht 2 Ein-
gießungen von lÖOO g 0,9-proz. Kochsalzlösung mit Traubenzucker und
Cognac in das Rectum; danach wurde jede Eingießung auf 500 g herab-
gesetzt. Schon in der ersten Nacht reichlicher Abgang von
Flatus. 26. Sept. Harn eiweißfrei, wie auch von da an immer.
28. Sept. Bronchitis mit eiterigem Auswurf. 5. Okt. Bauch-
wunde geheilt per primam. Fat. hatte die ersten 5 Tage eine geringe
Temperatursteigerung bis 38,6® im Rectum. Noch heute etwas eiteriger
Auswurf. Fat. hat nach der Operation keine andere Störung in der
Bauchhöhle gehabt als solche, die mit der Bauchwunde in Zusammenhang
gebracht werden konnte.
314 K. G. Lennander,
War das etwa eine Allgemeininfektion mit Lokalisa*
tion im Appendix and in den Bronchien sowie im Bachen,
wo sich Rötung, jedoch ohne Schmerz, fand?
Fall III. Weib, 22 Jahre alt, No. 161 A, 1902. Appendicitis
acuta catarrhalis haemorrhagica cum lymphadenitide
acuta mesocolL
Fat war am 13. Mai 1902 ins Exankenhaus aufgenommen worden
wegen einer retrotrachealen Struma mit ErstickungsanfUlen in
den Nächten. Die Resektion des hinter der Trachea liegen-
den Teiles des linken Lappens war ausgeführt worden.
Alle Symptome der Struma waren verschwunden und die Operations-
wunde war fast geheilt, als die Fat. am 9. Juni mit den Symptomen einer
akuten Appendicitis erkrankte. 9. Juni. Abends, als Fat. im Begriff war,
ihre Abendmahlzeit (Orütze und Milch) zu verzehren, begann sie plötzlich
üebelkeit mit Brechneigung zu empfinden — sie hatte sich eine Zeit
vorher „frostig^* gefühlt. Sie brach die Speisen aus und hatte seitdem
Üebelkeit. Bei der Falpation spannte sie den unteren Teil des Bauches
an und gab Druckempfindlichkeit an über der rechten Eossa iliaca bis
zur Höhe des Nabels und über der linken Fossa iliaca nach außen bis zur
Mitte des Ligam. Foupartü. Im Rectum keine deutliche Empfindlichkeit.
Temp. im Rectum 37,5^, Fuls 90. Fat hatte sich vorher im Laufe des
Tages ganz gesund gefühlt, alles war gewesen wie gewöhnlich. Sie hatte
normale Stuhlentleerung gehabt und auch an den vorhergehenden Tagen
keine Darmstörungen. Ord. Fasten, 2 Eisblasen. 10. Juni. Temp. 36,5
—37,40, Puls 70—84. Ein paarmal w&hrend der Nacht üebelkeit. Fat.
hat den größten Teil der Nacht geschlafen. Wenn sie munter war, hat
sie Schmerz im Bauche gehabt. Auch am Tage wurde nichts per os ge-
geben. Kochsalzlösung subkutan 1000 ccm. Im Laufe des Tages soll Fat.
einige Male Üebelkeit gehabt haben. Seit gestern Abend sollen keine Blä-
hungen abgegangen sein. Kein Aufstoßen von Gasen. Bauch nicht aufge-
trieben. Fat. spannt den unteren Teil des Bauches heute weniger als gestern.
Bauch übrigens sehr weich. Die Empfindlichkeit soll heute nicht weiter
nach links gehen als bis zur Mittellinie. Das Aussehen der Fat. ist jetzt,
wie immer, blühend und mit lachender Miene erklärte sie bei der Fal-
pation, daß es wehe tue. 11. Juni. Temp. 36,9—37,6 0, Fuls 78 — 72.
Einige Male in der Nacht Üebelkeit, heute aber keine. Immer noch sollen
keine Gase abgehen. Schlaf in der Nacht gut. Nichts per os. 1200 ccm
Kochsalzlösung subkutan. Bauch nicht aufgetrieben, heute im allgemeinen,
auch der untere Teil, sehr weich. Empfindlichkeit wird jetzt im medialen
Teile der rechten Fossa iliaca angegeben, im übrigen nicht 12. Juni.
Temp. 37 — 37,5 0, Fuls 70—80. Heute haben Flatus abzugehen begonnen.
Man läßt die Fat. anfangen, flüssige Nahrung (Brei) per os zu nehmen.
1000 ccm Kochsalzlösung subkutan. 13. Juni. Temp. 36,4^37,5 0, Fuls
78 — 72. 1000 ccm Kochsalzlösung subkutan.
Operation am 14. Juni. Schnitt durch die Bectusscheide mit
Schonung der Nerven. Im Mesocolon ascendens zahlreiche
geschwollene Lymphdrüsen bis an die Wirbelsäule. In
einigen Drüsen gelbe, eiterähnliche Funkte. Im Dünndarmmesenterium
keine fühlbaren Lymphdrüsen. Serosa des Appendix von nor-
malem Aussehen. Keine Adhärenzen. Appendix lang, Inhalt
pur ulent (mikroskopische Untersuchung). Schleimhaut geschwollen,
Follikel stark hervortretend ; viele kleine Blutungen in der Mucosa. Heilung
Meine Erfahrungen über Appendiciüs. 316
der prünam intentionem. Fat. wurde am 8. Juli geheilt entlassen. Im
Herbst hat sie sich gesund und blühend wieder gezeigt Fat. hatte selbst
verlangt, operiert zu werden, weil sie Dienstmädchen auf dem Lande war
und meinte, sie könne nicht sofort Ffiege und Behandlung haben, falls
möglicherweise ein Rezidiv eintreten sollte.
Bei Operationen während des freien Intervalls ist es ganz
gewöhnlich, geschwollene Lymphdrüsen im Mesocolon zu sehen. Ich
pflege stets zu untersuchen, ob Fatient mit chronischer Appendicitis
Empfindlichkeit gegen Druck oberhalb des Mac BuRNETschen Funktes
oder medial von demselben nach vorn gegen die Mittellinie hin zeigen,
d. h. entsprechend dem Mesocolon ascendens. Findet sich eine solche
Empfindlichkeit, dann habe ich Verdacht auf vom Froc. vermiformis
ausgehende Lymphadenitis. 3mal habe ich bei Appendicitisexstirpationen
ä froid in Schmelzung übergegangene Lymphdrüsen im Mesocolon ent-
fernt. 2mal enthielten sie Staphylokokken, Imal war der Inhalt steril
in aöroben Kulturen. In allen 3 Fällen zeigten die geschmolzenen
Lymphdrüsen deutliche Aehnlichkeit mit Drüsentuberkulose mit käsiger
Umwandlung. Tuberkulose konnte indessen nicht nachgewiesen werden
und die Fatienten sind nach 2—4 Jahren noch gesund.
Einmal habe ich während des Anfalls einen großen retroperitonealen
Absceß geöffnet, der medial am Colon ascendens lag. Ein anderes Mal
operierte ich einen großen retroperitonealen Absceß in der Fossa iliaca
mit Senkung nach dem Oberschenkel und in das kleine Becken bis an
die Articulatio sacro-iliaca. Beide Fatienten wurden vollkommen gesund.
In beiden Fällen hatte die Krankheit als Appendicitis begonnen. In
beiden fanden sich ein geschwollener Appendix und geschwollene Lymph-
drüsen im Mesocolon; dabei in dem einen Falle keine und im anderen
unbedeutende peritonitische Veränderungen in der Bauchhöhle, und
zwar nur in der Umgebung des Appendix. Bei den 3 vorhin erwähnten
Operationen ä froid, wo Eiterbildung in Lymphdrüsen bestand, fand
sich ebenfalls keine Feritonitis oder nur geringe Zeichen einer abge-
laufenen Feritonitis.
Ich glaube, daß bei manchen leichten, rasch vorüber-
gehenden Anfällen von Appendicitis sich keine Feri-
tonitis in der Umgebung des Froc. vermiformis findet,
sondern nur Lymphangitis und Lymphadenitis im Meso-
colon. Es ist wohlbekannt, wie rasch Frost, Fieber, Schwellung,
Empfindlichkeit und Schmerz auftreten können, z. B. bei einer akuten
Lymphadenitis im Leistenkanal von einem infizierten Beingeschwür aus,
aber auch, daß Allgemeinsymptome, Schmerz und Empfindlichkeit be-
reits nach 12—24—48 Stunden in solchen Fällen verschwunden sein
können, wenn es nicht zur Suppuration kommt. Als pathologisch-ana-
tomische Grundlage in einem großen Teile der sogenannten Rezidive
der Appendicitis dürfte man ein Akutwerden einer chronischen Lymph-
316 K. G. Lennander,
adenitis finden, im Zusammenhang mit einer vermehrten Toxicität oder
Infektiosität in dem mehr oder weniger stagnierenden Darminhalt im
Proc. vermiformis. Gleiche Anfälle von Schmerzen und Empfindlichkeit
sieht man bei Exacerbationen chronischer Typhliten in Fällen, in denen
der Proc. vermiformis schon seit langer Zeit exstirpiert worden ist.
Ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, in einer besonderen Arbeit die
Kasuistik ausführlicher vorzulegen, von der ich glaube, daß sie die
Richtigkeit der hier ausgesprochenen Ansichten beweist^).
Der dritte Punkt, den ich hier näher diskutieren wollte, lautet:
eine akute infektiöse Enteritis oder Colitis ist ein wich-
tiges ätiologisches Moment für das Entstehen einer
akuten Appendicitis. Hiermit habe ich natürlich nicht die Mög-
lichkeit einer hämatogenen Infektion des Proc. vermiformis wie jedes
anderen Organes geleugnet. Eine Menge klinischer Fakta, wie auch
Beaüsenats^) und Jahan Nioolatsens ^) experimentelle Unter-
suchungen sprechen für die Bedeutung der infektiösen Enterocolitis.
Ich für meinen Teil glaube, daß jede Enterocolitis, die die Valvula
Bauhini überschreitet, auch eine Erkrankung des Proc. vermiformis mit
sich führt Ob dann die Krankheit im Proc. vermiformis dazu kommt,
sich zu einem Anfall von akuter Appendicitis zu entwickeln, das beruht
vermutlich meist auf den individuellen anatomischen Verhältnissen im
Proc. vermiformis und in seiner Umgebung. Ich bin überzeugt, daß
jedes toxische oder infektiöse Agens, das eine Schwellung des lymphoiden
Gewebes im übrigen Darmkanal mit sich bringt (z. B. die Toxine des
Bact. coli), auch und vor allem eine Schwellung desselben Gewebes
im Proc. vermiformis verursacht, die vielleicht nie ganz zurückgeht.
Fall IV scheint mir in dieser Richtung von großem Interesse.
Fall IV. Mann, 36 J. alt, aus Tjerp, No. 168 A. 1902. Enteritis
acuta cum appendicitide acuta catarrhali haemorrhagica
Pat. ist stets vollständig gesund gewesen, mit Ausnahme geringerer
Diarrhöe bei verschiedenen Gelegenheiten. Er ist nie gelb gewesen. Am.
Sonnabend, 10. Mai, abends erkrankte er mit Diarrhöe, Schüttelfrost und
Erbrechen, hatte aber keine Schmerzen im Bauche. Das Erbrechen dauerte
die ganze Nacht und den folgenden Tag fort Am Montag (12. Mai) und
Dienstag (13.) befand er sich besser und war auf. Am Mittwoch begann er
wieder zu arbeiten, aber am Donnerstag (15. Mai) abends erkrankte er
wieder und hatte nun starke Schmerzen im Bauche. Er nennt sie Kolik-
schmerzen und beschreibt sie als vom Rücken gerade nach vom gegen
1) Meine Ansicht über die vom Proc. vermiformis ausgehende Lymph-
angitis und Lymphadenitis habe ich schon in einer in schwedischer Sprache
geschriebenen Arbeit niedergelegt (Tankar om diagnos och Operation af
appendicit. Nord. Tidsskr. f. Therapi, Bd. 1, 1902).
2) Beausenat, Appendicite exp^rimentale. Revue de Gyn. et Chir.
abdom., 1897, No. 2.
3) Nord. med. ark., Afd. 1, 1901, Haft 4, No. 24.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 317
den Nabel gehend. Der Schmerz fahr fort bis zum Morgen. Am
Freitag (16. Mai) Mittag begann der Schmerz wieder in derselben Weise.
Er ist seitdem unverändert geblieben, obwohl er sich in der letzten Zeit auf
die obere rechte Seite des Bauches beschränkt hat. Fat hat, seitdem die
einleitende Diarrhöe aufgehört hat, Verstopfung gehabt. Er hat hin und
wieder kleine FrostanfkUe gehabt und glaubt, dafi Flatus seit Freitag den
16. Mai nicht abgegangen seien. Am 18. Mai kam er in das akademische
Krankenhaus.
Status praesens am 18. Mai. Körperfülle und Muskulatur gut.
Temp. 37,6 ö, Fuls 76, regelmäßig. Leukocyten 10000. H a r n : Bei Hbllbrs
Probe unbedeutender unterer, stärker hervortretender oberer Eiweißring,
kein Sediment. Im Rectum nichts Bemerkenswertes. Fat. gibt an, daß
es im Bauche brenne, und zwar am meisten auf der rechten Seite. Bei
der Palpation des Bauches spannte er die Muse, recti etwas; in den un-
teren und lateralen Teilen der rechten Fossa iliaca fand sich keine Em-
pfindlichkeit, aber im medialen oberen Teile derselben Fossa iliaca und
von da an von der Wirbelsäule bis zum Nabel war eine bedeutende
Empfindlichkeit bei tiefer Palpation. Ebenso bestand Empfindlichkeit
über der linken Seite der Wirbelsäule, doch nicht so stark, wie nach
rechts zu. Oberhalb des Nabels nahm die Empfindlichkeit rasch ab und
in der Oegend der Gallenblase war gar keine vorhanden. Es fand sich
keine abnorme Dämpfung am Bauche. Nach eingeleiteter Narkose ver-
suchte man nachzufühlen, ob sich irgend welche Resistenz im Bauche
fand, aber es konnte keine nachgewiesen werden. Man nahm an, daß
Fat am 10. Mai an einer akuten Enteritis erkrankt war und nun eine
akute Appendicitis habe, es unentschieden lassend, ob möglicherweise
auch eine kleine, begrenzte pui*ulente Peritonitis nach der Wirbelsäule
zu bestehe.
Längsschnitt durch die rechte Rectusscheide ; man sah 3 zum Rectus
verlaufende Nerven, der mittelste wurde durchschnitten, der obere und der
untere wurden gedehnt Im Bauche sah man etwas vermehrte Menge von
seröser Flüssigkeit. Das Coecum wurde vorgezogen ; der Proc. vermiformis
lag an dessen hinterer medialer Seite und war durch alte Adhärenzen in
einem Winkel gebogen und mit dem Coecum verwachsen. Solche Adhä-
renzen fanden sich auch zwischen dem Coecum und der hinteren Bauch-
wand. Am Proc. vermiformis fand sich keine nennenswerte GeiUßinjektion ;
er war am schmälsten am Coecum; er wurde auf die gewöhnliche Weise
exstirpiert. Der zunächst liegende Teil des Ileum wie auch das Coecum
hatten das gewöhnliche Aussehen, aber weiter oben war der Darm hell-
rot von Farbe infolge einer besonders lebhaften Ge&ßinjektion. Zwischen
den Därmen befand sich überall etwas vermehrte Flüssigkeitsmenge, doch
nicht so viel, daß man sie in einer Pipette hätte sammeln können. Auch
das Mesenterium war stellenweise etwas gerötet und hier und da sah und
fühlte man vergrößerte Lymphdrüsen in demselben. Ich habe versäumt^
aufzuzeichnen, wie sich die Lymphdrüsen im Mesocolon verhielten. Die
Gef^ßinjektion an einem großen Teile des Dünndarmes, die Lymph-
adenitis im Mesenterium und die vermehrte Feuchtigkeit in der Bauch-
höhle wurden als i^olgen einer akuten Enteritis mit akuter Lymphangitis
betrachtet. Die Veränderungen in der Schleimhaut des Appendix erwiesen
eine akute katarrhalische, hämorrhagische Appendicitis. Der exstirpierte
Proc vermiformis war 4 cm lang. Beim Aufschneiden zeigte sich das
proximale Ende dilatiert und mit Faeces geftillt. Die Schleimhaut war
geschwollen; Blutungen fanden sich sowohl in der Mucosa als auch in
318 K. G. Lennander,
der Submucosa. Dieser dilatierte Teil war iiogefUir 3 cm lang; das un-
gefähr 1 cm lange Endstück war obliteriert.
Rekonvaleszenz ungestört Am 10. Juni wurde Fat. entlassen^ nach-
dem er seit 2 Tagen das Bett verlassen hatte. Die Wunde war per
primam geheilt. Allgemeinbefinden gut; Appetit gut; Stuhlentleernng die
letzten 3 Tage ohne Laxantia. Am 5. Okt. 1902 war Fat. noch gesund.
Dieser Fall ist einer von den nicht seltenen Fällen, in denen man
chronische Veränderungen in der Umgebung des Free, vermiformis
findet, ohne daB Fatient sich an einen Anfall von Ferityphlitis erinnern
kann.
Was den 4. Funkt — die diagnostischen Schwierigkeiten
— betriiTt, so beschränke ich mich hier darauf, diesen Funkt als These
aufzustellen. Wenn der Leser derselben zustimmmt, so wird er gern
zugeben, daß man von jedem Chirurgen, der akute Appendiciten ope-
riert, fordern muß, daß er mit den Krankheiten der zunächst angren-
zenden Organe und mit der erforderlichen chirurgischen Technik so
vertraut ist, daß er bei unrichtiger Diagnose sofort die veränderte Situ-
ation auffaßt und die Operation ausführt, die gerade für den individu-
ellen Fall erforderlich ist
Die wechselnde Lage des Froc. vermiformis vermehrt natürlich die
Schwierigkeit einer richtigen Diagnose in hohem Grade. Man findet
den Froc. vermiformis in der rechten Bauchhälfte vom Ligam. Foupartii
an bis zur Leber, von dem Rande des Muse, quadratus lumborum an
bis zum Duodenum, Rückgrat und Fromontorium. Man findet ihn vor
oder hinter dem Coecum und Mesocolon u. s. w. Es ist deshalb klar«
daß verschiedene Teile der Farietalserosa in den verschiedenen Fällen
zuerst angegriffen werden können, je nach der Lage des Froc. vermi-
formis, und daß deshalb sowohl die spontanen Schmerzen wie auch die
Druckempfindlichkeit die Lage wechseln müssen. Wie bekannt, wird
der Froc. vermiformis oft im kleinen Becken angetroffen; manchmal
liegt er sogar nach links von der Wirbelsäule.
Funkt 5. lieber Schmerzen in der Mitte des Bauches
und nach links im Bauche. Daß die ersten Schmerzen und die
erste Druckempfindlichkeit so oft „oberhalb des Nabels^, „rings um den
Nabel herum", an Mac Burneys Funkt und von da nach oben und
nach innen am Rückgrat gefühlt werden, beruht, wie ich glaube,
darauf, daß die ersten Schmerzen oft weit weniger durch eine pa-
thologisch-anatomisch nachweisbare Feritonitis hervorgerufen werden,
als durch eine von dem Appendix und in manchen Fällen auch vom
Coecum und Ileum (akute Ileocolitis) ausgegangene Lymphangitis und
Lymphadenitis. Infolge der verhältnißmäßig wenig wechselnden Lage
der Valvula Bauhini und des Mesocolon ascendens, in dessen Gekröse
man ja die von dem Appendix ausgehenden Lymphdrüsen mit den
dazu gehörigen Lymphgefäße findet, und weil alle diese Lymphdrüsen
Meine Erfahrungen ttber Appendicitis. 319
schließlich in den Lymphdrüsen und Lymphgefäßstämmen um den oberen
Teil der Bauchaorta hemm vereinigt werden, ergreift eine akute Lymph-
angitis und Ljrmphadenitis, die vom Proc. vermiformis ausgeht, zuerst
die schmerzleitenden Nerven an der hinteren Bauchwand zwischen Mao
Burnets Punkt und dem Rückgrat und um dieses herum.
Wenn in einem Falle von abnormer Lage der Därme der Dünn*
dann nach rechts und der Dickdarm nach links liegt, wie während
einer Periode des früheren Fötallebens, so ist es klar, daß die ersten
Schmerzen um den Nabel herum und nach links zu im Bauche gefühlt
werden. Ruft die akute Appendicitis nur eine begrenzte Peritonitis
(Periappendicitis, Perityphlitis) hervor, so bekommen wir dann eine
^Blinddarmentzündung^ in der linken Bauchhälfte. Aber auch, wenn das
Colon ascendens normaler Weise rechts im Bauche liegt, können, wo-
rauf schon vorher hingewiesen wurde, der untere Teil des Dünndarm-
mesenterium und das Colon ascendens verhältnismäßig frei beweglich
sein. Wenn in solchen Fällen das Coecum und der Proc. vermiformis
in das kleine Becken herabhängen, werden die Schmerzen nicht eher
rechts im Bauche gefühlt, bis sich die appendikuläre Peritonitis nach
oben vor die rechte Articulatio sacroiliaca und in die rechte Fossa iliaca
auszubreiten beginnt.
Man hört nicht ganz selten, sowohl von Aerzten wie von Pa-
tienten, daß sie in gewissen Fällen an Appendicitis denken, aber den
Gedanken aufgeben, weil die „ersten^, die „schwersten^ Schmerzen auf
der linken Seite auftreten. In den eben erwähnten Fällen von seltener
Darmlage, wo Coecum und Proc. vermiformis in der linken Bauchhälfte
gefunden werden, ist es selbstverständlich, daß die Schmerzen auf der
linken Seite auftreten; indessen sind die prodromalen Schmerzen auf
dieser Seite etwas ganz gewöhnliches. Wie soll man dieses Verhalten
erklären? Es ist sehr wahrscheinlich (vgl. die Lymphadeniten in den
Leisten und am Halse), daß eine besonders virulente Infektion
die Entzündung vonweit mehr Lymphgefäßen undLymph-
drüsen verursacht, als eine weniger schwere Infektion,
falls es nicht etwa rasch zur Gangrän des Organes kommt, in welchem
Falle, wie bereits erwähnt, aller Wahrscheinlichkeit nach gar keine
Lymphangitis und Lymphadenitis entsteht. Man vergleiche hiermit das
Verhalten der Drüsen in der Achsel und in den Leisten bei gan-
gränösen Formen von Erysipel am Arm oder Bein; sie pflegen keine
Lymphadenitis zur Folge zu haben. Eine mehr ausgebreitete Lymph-
angitis verursacht natürlich in einem größeren Umkreise Schmerz und
Empfindlichkeit, als eine weniger ausgebreitete. Schwellen die retro-
peritonealen Lymphdrüsen vor dem Rückgrate und nach links von diesem
an, so muß auch an diesen Stellen Schmerz entstehen.
Ich glaube auch, daß solche Fälle, in denen von Anfang an Schmerzen
und Empfindlichkeit in der linken Seite des Bauches vorhanden sind,
Mittcil. a. d. GreniceMetoa d. Medizin n. Chlrargte. Xni. Bd. 21
320 K. G. Lönnander,
und zwar am häufigsten ^nach links vom Nabel*^, sich nur dadurch er-
klaren lassen, daß sich gleichzeitig mit der Entzündung des
Appendix eine Enteritis oder Colitis mit Lymphangitis
und Lymphadenitis in den Mesenterien und in den retro-
peritonealen Lymphgefäßen und Lymphdrüsen entwickelt
(vgl. Fall IV). Eine Enteritis braucht an und für sich ja weder zu
Erbrechen noch zu Diarrhöe zu führen, eine Colitis hat oft Ver-
stopfung zur Folge. Erst wenn diese Krankheiten eine retroperitoneale
Lymphangitis hervorrufen, geben sie nach meiner Meinung zu Schmerzen
und Empfindlichkeit Veranlassung.
Aber die Schmerzen links im Bauche können noch eine andere
gefährlichere Ursache haben. Platzt ein ausgedehnter Proc.
vermiformis oder ein periappendikulärer Absceß, so
können Infektionsstoffe unmittelbar die linke Seite des
Bauches überschwemmen und sofort zu einer fortschrei-
tenden Peritonitis der linken Bauchhälfte führen.
Ist der Infektionsstoff nicht besonders virulent und kommt keine
neue Zufuhr von Mikroben hinzu, so kann er abgekapselt werden. Es
entsteht dann im schlimmsten Falle ein sogenannter intraperitonealer
Absceß. Ist dieser klein, so kann der Eiter resorbiert werden. In den
meisten Fällen dürfte er den Darm perforieren, sofern nicht der Chirurg
ihn direkt nach außen entleert. In manchen Fällen entsteht kein Absceß,
sondern nur eine serofibrinöse Peritonitis mit wenig vermehrter Flüssig-
keitsmenge an der infizierten Stelle und einigen florähnlichen Belägen an
und zwischen den infizierten Därmen, die bald resorbiert werden, wenn
der Fall in Heilung ausgeht. Eine solche serofibrinöse Peritonitis nennt
man vielfach Peritonismus, peritoneale Reizung. Sie soll, wie wir
bald sehen werden, eine Warnung für den Arzt sein.
Die tägliche Erfahrung zeigt, daß es nicht bloß bei ungewöhn-
licher Lagerung des Darmes (Coecum und Proc. vermiformis in
der linken Bauchhälfte oder im kleinen Becken) oder bei besonders
schweren Infektionen mit rascher retro- oder intraperitonealer Aus-
breitung des Prozesses bis vor das Rückgrat oder nach links von
diesem (s. oben) vorkommt, daß die ersten Schmerzen bei einem Appen-
dicitisanfall „in der Mitte des Bauches^, „im ganzen Bauche^, in „der
Magengrube*", nach oben „unter die Brust*^, nach links vom Nabel ge-
fühlt werden. Das kommt auch in den allerleichtesten Fällen von
Appendicitis vor. Hierüber wird einiges Licht verbreitet durch Beob-
achtungen bei Operationen wegen Appendicitis unter lokaler Anästhesie.
Man findet dabei, daß auch ein geringes Vorziehen des Proc. vermi-
formis, des Mesenteriolum oder des Coecum mit Dehnung an dem hin-
teren Peritoneum parietale Unbehagen oder Schmerz „nach oben bis
unter die Brust'', im „ganzen Bauche", in der „Magengrube", „mitten
im Magen** u. s. w. hervorruft. Gleichzeitig haben die Patienten oft
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 321
Brechneigung, oder auch Erbrechen (reflektorisch). Ist der Zug an der
hinteren Peritonealserosa gering, dann kommt es vor, daß die Patienten
keine lokale Schmerzempfindung rechts im Bauche haben, sondern nur
Unbehagen oder Schmerz in der Mitte des Bauches u. s. w.
Bei manchen Patienten, die aus anderen Gründen nicht wegen
Appendicitis operiert wurden, hat Berührung mit einem Finger oder
Einführen einer Salzwasserkompresse nach der Innenseite des yorderen
Parietalperitoneum ähnliche Schmerzen hervorgerufen, wie bei einem
beginnenden Appendicitisanfall, in der Mitte des Bauches u. s. w. Ein
Patient sagte bei Berührung der vorderen Parietalserosa, „es tut weh,
wie Blähungen im Darme*^. Die hier erwähnten Phänomene beruhen
natürlicherweise auf der Verteilung der schmerzleitenden Nerven.
Operationen wegen Appendicitis in der chirurgischen
Klinik in Upsala 1888-1902.
Im Jahre 1893 faßte ich meine Indikationen für die Operation
der Appendicitis folgendermaßen zusammen.
„Während des Anfalles wird unter folgenden Umständen operiert:
1) Wenn ein Anfall von Appendicitis so heftig begonnen hat, daß
man eine drohende oder bereits eingetretene diiTuse Peritonitis zu be-
fürchten hat; hier soll man sofort operieren, es mag Nacht oder Tag
sein, sobald die äußeren Verhältnisse die Ausführung einer möglicher-
weise schweren Laparotomie gestatten. Natürlich entschließt man sich
leichter zur Laparotomie, wenn man vorher einen oder mehrere Anfälle
gesehen hat und deshalb sicher ist in Bezug auf die Diagnose.
2) In leichteren Fällen wird operiert, wenn bei einer regelrecht
durchgeführten medizinischen Behandlung nicht eine solche Besserung
eintritt, wie wir sie als typisch bei einer gutartigen Appendicitis zu be-
trachten gewohnt sind. Von den einzelnen Erankheitszeichen, die eine
Operation indizieren können, ist Ileus das wichtigste.
Bei rezidivierender Appendicitis wird unter folgenden Umständen
operiert:
1) Wenn die Anfälle, auch wenn sie gutartig sind, sehr oft wieder-
kommen. Nicht selten bedrohen sie dann die ökonomische Existenz
einer Person und machen sie mehr oder weniger zum Invaliden.
2) Wenn der letzte Anfall oder die letzten Anfälle entschieden
schwerer waren als die vorhergehenden.
3) Wenn nach einem Anfalle trotz regelrechter medizinischer Be-
handlung bei längere Zeit hindurch wiederholten IJntersuchungen eine
Resistenz beständig zurückbleibt. Die Indikation wird noch dringender,
wenn die Resistenz druckempfindlich ist und wenn man Verwachsungen
vermutet, z. B. mit Därmen oder den Genitalien ^).^
1) Nord. med. ark., 1893. — Deutsch: Ueber Appendicitis. Wien 1895.
21*
322 K. 6. Lennander,
Appendicektomien in der freien Zwischenzeit (ä froid).
In Upsala wurde die erste Appendicektomie während der freien
Zwischenzeit im September 1891 ausgeführt. Während der Jahre 1891
— 1902 wurden 318 Patienten operiert, ohne einen einzigen Todesfall.
Bei der Aufstellung meiner Statistik habe ich einen Fall (240 B, 1901)
ausgeschlossen, in dem ich bei einer über 40 Jahre alten, sehr korpu-
lenten Frau erst einen chronisch erkrankten Appendix exstirpierte und
danach, nachdem ich die Bauchhöhle geschlossen hatte, die rechte Niere
spaltete, die einen großen Stein enthielt. Bei der bakteriologischen
Untersuchung vor der Operation hatte der Harn Staphylokokken ent-
halten. Der Verlauf war zu Anfang sehr günstig, aber nach einigen
Tagen bekam die Kranke gleichzeitig mit anderen Patienten in den
angrenzenden Krankenzimmern die Influenza. Sie starb am 20. Tage
nach der Operation an Peritonitis, ausgegangen von zwei Perforationen
im Colon transversum infolge einer diphtherischen Influenzaenterocolitis.
Im Colon fand sich so gut wie keine Schleimhaut vor.
Treves hat von 1887 an, wo er vor der Royal med. and Chirurg.
Society in London vorschlug, daß Fälle von rezidivierender Appendicitis
durch Exstirpation des Proc. vermiformis während der freien Zwischen-
zeit behandelt werden sollten, bis zum Juni 1902 mehr als 1000 solche
Operationen ausgeführt mit 2 Todesfällen^). Roüx teilte auf dem
Chirurgenkongresse in Berlin im Frülgahr 1902 mit, daß er 670 solche
Operationen ausgeführt habe mit 2 Todesfällen, 1 durch Ileus und 1
durch Embolie.
Auf Grund vermehrter Erfahrung habe ich die Indikationen für
die Operation der Appendiciten während der freien Zwischenzeit all-
mählich erweitert. Ich operiere jetzt jede Person, die einen sicher
diagnostizierten Anfall gehabt hat, wenn sie die Exstirpation ihres
Proc. vermiformis verlangt. Ich rate zur Operation schon nach dem
ersten Anfall:
1) wenn ich eine mehr gefährliche Lage des Proc. vermiformis
diagnostiziert habe (z. B. an der medialen Seite des Coecum zwischen
den Dünndärmen),
2) wenn die gewöhnliche Beschäftigung des Patienten eine solche
ist, daß er z. B. unregelmäßige Mahlzeiten, starke Temperaturwechsel
oder heftige Körperanstrengungen nicht vermeiden kann und
3) wenn ich weiß, daß er seine Tätigkeit in einer Gegend ausübt
oder in Zukunft ausüben wird, wo es nicht möglich ist, bei einem
neuen Anfalle sofort chirurgische Hilfe zu erlangen.
In den übrigen Fällen rate ich nach einem ersten Anfalle zu einer
passenden Lebensweise mit Bücksicht auf den Magendarmkanal und
1) Brit. med. Journ., 1902, June 28, p. 1594.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 323
zu sofortiger Operation bei dem möglichen Eintreten eines zweiten
Anfalles, d. h. Operation innerhalb 6—12—24 Stunden, je nach der
Heftigkeit, mit der der Anfall begonnen hat. Ich pflege nicht operierten
Appendicitispatienten zu raten, sorgfältig ihre Nahrung zu kauen,
die auf 4, am liebsten 5 Mahlzeiten im Laufe des Tages verteilt
werden muß. Kalte Getränke, wie Eiswasser, Bier, Milch, müssen
äußerst langsam genommen werden. Die Patienten müssen
ihre Darmtätigkeit durch die Diät regulieren und zusehen, daß sie
jeden Tag zu bestimmter Zeit Stuhlentleerung haben.
Sie müssen sich in Acht nehmen vor Diarrhöen, Drasticis und großen
Klystieren. Sie dürfen keine Dinge verzehren, die nicht ganz verdaut
werden.
Bei einem zweiten oder einem späteren Anfalle ist es am prak-
tischsten, sofort zu operieren — die Diagnose ist klar — der Anfall
wird durch die Operation auf einmal unterbrochen — die Rekonvaleszenz-
zeit ist dieselbe wie bei einer Operation in der freien Zwischenzeit.
Als Beispiele hierfür führe ich die Fälle V und VI an.
Fall V. Student der Med., 24 Jahre alt, No. 220A, 1902. Appen-
dicitis acuta gangraenosa, non perforans, cum peritonitide
fibrinosa incipiente et hyperaemia diffusa peritonei.
Nach 13 Stunden Laparotomie und Exstirpation des Proc.
vermiformis. Heilung.
Fat. hat nie vorher irgendwelche ernstere Störung im Digestionskanal
erfahren. Ende Januar 1902 begann er unbestimmte Empfindungen von
Unbehagen im Bauche zu fühlen und lokalisierte sie in der Magengrube.
Dazwischen hatte er außerdem etwas Empfindlichkeit gegen Druck über
der rechten Fossa iliaca. Dieser Zustand bestand fort bis in die letzten Tage
des Februars, als Fat. sich matt und unwohl zu fühlen begann, weshalb er
sich zu Bett legte. Bald traten Frost und Schmerz im ganzen Bauche
auf und ein paarmal Erbrechen. Es wurde ein Arzt gerufen, der feucht-
warme Umschläge und Tinct. opii verordnete, wovon Fat 5 Tropfen Imal
nahm. Nach dem Auflegen des Umschlages hörte der Schmerz fast voll-
ständig auf und Fat. schlief die ganze Nacht hindurch ruhig. Am folgen-
den Tage befand er sich gut, war aber etwas empfindlich über der rechten
Fossa iliaca. Er lag 2 Tage zu Bett In der folgenden Zeit war die
Stuhlentleerung trag. Am 3. April nahm Fat an einer gymnastischen
Uebung der Studentenschaft teil und strengte sich dabei bedeutend an.
Am 4. April um ^/2lO Uhr vormittags begann er sich etwas unwohl zu
filhlen. Dessenungeachtet ging er aus und aß Frühstück in einem Cafö.
Um ^/,12 Uhr nahm das Unwohlsein zu; dabei fühlte Fat keine eigent-
lichen Schmerzen auHer einem gelinden „Stechen" in der rechten Seite.
Wiederholt Uebelkeit. Fat. legte sich zu Bett und legte feuchtwarme
Umschläge auf. Nach einiger Zeit begann er zu frieren. Ungefähr ^,3 Uhr
bekam er Schmerzen im ganzen Bauche, am meisten auf der rechten Seite.
Empfindlichkeit der ganzen rechten Fossa iliaca. Der hinzugerufene Arzt
fand 7 Uhr abends den Fat mit heftigen spontanen Schmerzen über dem
ganzen Bauche; Temp. 36,8®, Fuls 100. Der Leib war gegen Druck em-
pfindlich fast über die ganze rechte Seite, sowie auch etwas auf der an-
deren Seite an der Mittellinie. Fat spannte den Bauch ziemlich stark
324 K. G. Lennander,
bei der Untersuchung. Er schien auch etwas empfindlich bei der Unter-
suchung vom Rectum aus.
Fat. kam in das akademische Krankenhaus am 4. April ^/{lO Uhr
abends. Der Harn enthielt eine minimale Spur von EiweüJ (Hellebs
Probe). Temp. 38,7 <>, Puls 88. Bauch nicht aufgetrieben. Bei der
Untersuchung spannte Pat. die Bauchwand ziemlich stark; aber als die
Untersuchung erneuert wurde, nachdem eine Eisblase eine Weile auf
den Bauch appliziert worden war, trat dieses Symptom bei weitem
nicht mehr so deutlich hervor. Es bestand Empündlichkeit über dem unteren
Teile des Bauches, aufwärts bis zu einer transversalen Linie 4 — 5 cm
oberhalb des Nabels. Nach rechts reichte die Empfindlichkeit bis zu einer
sagittalen Ebene durch die Spina ilei anter. sup., nach links schloß sie
einige Zentimeter medial von der entsprechenden Ebene ab. Bei Zählung
der Leukocyten wurde ihre Zahl (als Mittel aus 3 Zählungen) auf 12000
bestimmt. Behandlung: 40 cg Kampfer, 1 mg Strychnin, 1 cg Morphium
subkutan.
Operation sofort. Pat. hatte keinen wirklichen Perforationsschmerz
gehabt, schien aber doch recht ernstlich erkrankt. Die Diagnose „akute
Appendicitis^* war sicher, dagegen war es ungewiß, wie weit sich die nicht
begrenzte Peritonitis ausgebreitet hatte. Auf alle Fälle mußte man an-
nehmen, daß sie sich über einen größeren Teil der vorderen Bauchwand
und zwischen die Ddnndärme erstreckte. Man beschloß deshalb, den
Appendix sofort zu exstirpieren, und hoffte, den Bauch ohne oder mit ge-
ringer Drainage zunähen zu können. Bauchschnitt über der rechten
Lumbaigegend und über der rechten Fossa iliaca zwischen dem 12. Inter-
kostal- und 1. Lumbalnerven. Der Musculus obl. ext und transversus
wurden in ihrer Faserrichtung geteilt. Der Appendix war nahe am Coecum
im Winkel abgebogen; er erstreckte sich an der Linea terminalis vorbei
bis gegen die Mittellinie und war durch frische Fibrinbeläge mit dem
untersten Teile des Ileum und dem Omentum verlötet. Er wurde exstirpiert
mit dem zunächst liegenden Teile des Omentum in der Ausdehnung einer
flachen Hand. Der Appendix und das kranke Omentum hatten zum Teil
an der vorderen Bauchwand gelegen. Das Coecum und alle sichtbaren
Därme waren mehr als gewöhnlich injiziert und etwas ausgedehnt, aber
ihre Wandungen waren nicht verdickt, mit Ausnahme der untersten Ileum-
schlinge. Im Bauche fand sich kein flüssiges Exsudat. Die Bauchwunde
wurde mit 3 Reihen versenkter Catgutnähte zusammengenäht. Keine
Drainage. Die Haut sollte sekundär genäht werden.
Beschreibung des Appendix. Der exstirpierte Appendix war
6 — 7 cm lang. Die Wand fühlte sich sehr fest an, war stark injiziert
und mit Fibrin belegt. Der Inhalt des Appendix bestand aus einer blutigen,
trüben Flüssigkeit, die unter einem recht großen Druck stand. Die Schleim-
haut erschien überall gangränös oder bereits abgelöst. An einzelnen
Stellen schienen die Substanzverluste bis zur Serosa zu reichen. In der
ganzen Ausdehnung des Appendix, soweit die Schleimhaut gangränös
schien, war es unmöglich, in Schabpräparaten mikroskopisch Epithel nach-
zuweisen.
Nach der Operation bekam der Pat. Kochsalzlösung subkutan. 6. April.
Mit Hellers Probe heute schwacher Eiweißring. Temp. resp. 37,2 — 38 ^,
Puls 80 — 74. Am 6. April gingen spontan Flatus ab; im Harn kein Ei-
weiß. 8. April. Pat. ist afebril und befindet sich wohl ; 7700 Leukocyten ;
die Hautwunde wurde genäht. Am 25. April wurde Pat geheilt und ge-
sund entlassen. 2. Nov. fortdauernd gesund.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 325
Eall VL Hauefrau, 57 Jahre alt, aus Basbo, No. 80 B, 1902.
Appendioitis acuta cum gangraena membranae mucosae
totius et cum periappendicitide fibrino-purulenta inci-
piente. Nach 55 — 60 Stunden Laparotomie und Exstir-
pation des Froc. vermiformis; Heilung.
Fat. war in der Nacht zwischen dem 15. und 16. März erkrankt
ohne bekannte Veranlassung. Sie hatte einen ähnlichen Anfall 2 Jahre
früher gehabt, der damals 3 Wochen gedauert hatte. Die Schmerzen be-
gannen im Epigastrium oberhalb des Nabels. Bisweilen hatte Fat. Uebel-
keit. Am Nachmittag des 16. März bekam sie Erbrechen. Die Schmerzen
nahmen zu und verzogen sich nach rechts unterhalb des Nabels bis zur
Fossa iliaca deztra. Am 17. März war der Zustand derselbe. Am Abend
war die Temperatur 39,3^, der Puls 120 (Dr. Zachribson). Am Morgen
des 18. März fühlte sich Fat. besser. Sie hatte Abgang von Blähungen
gehabt. Am 18. März vormittags kam sie in das Krankenhaus.
Status praesens am 18. März. Herz und Lungen boten nichts
Bemerkenswertes. Temp. 37,8^, Fuls 98. Harn etwas trübe, gelbbraun,
sauer; spez. Gew. 1,020; Hellers Frobe: scharfer unterer Eiweißring.
Im Sediment rote und weiße Blutkörperchen, keine Cylinder. Leukocyten
nach 3 Zählungen in 2 Präparaten 11000. Der Bauch war unmittelbar
unter der Nabellinie etwas aufgetrieben. Ueber der Fossa iliaca dextra
bestand starker Tympanismus. Keine Empfindlichkeit in der Nähe des
Ligam. Foupartü und an der Spina ilei ant., aber in einem, dem oberen
medialen Teile der Fossa iliaca entsprechenden Bezirke bestand bedeutende
Empfindlichkeit Auch von der Vagina aus zeigte sich bedeutende
Empfindlichkeit, sobald man den Uterus berflhrte oder wenn man nach
rechts und oben drückte, in der Kichtung nach der Linea terminalis hin.
Man glaubte, daß der Appendix medial am Goecum liege, und beschloß
deshalb, sofort die Fat. zu operieren, weil man annahm, daß das Eiweiß im
Harne auf eine infektiöse oder toxische Nephritis deute, die von dem
Appendix ausging.
Chloroform-Aethemarkose. Schrägschnitt über der vorderen Lumbal-
gegend und Fossa iliaca mitten zwischen 11. und 12. Interkostalnerven
nach vom bis zum Eectusrande. Es fand sich keine Flüssigkeit in der
Bauchhöhle und das Coecum hatte ein natürliches Aussehen. Als dieser
Darm vorgezogen wurde, folgte der Froc. vermiformis mit, der gerade
nach innen gerichtet und teilweise von Omentum umgeben war, das nach
dem Appendix zu eiterig-fibrinös belegt war. Das kranke Omentum wurde
exstirpiert und sollte bakteriologisch untersucht werden^). Der Free,
vermiformis war fast so dick wie ein Finger und war ganz steif. Er
wurde dicht am Goecum amputiert Der ganze zunächst liegende Teil des
Goecum u. s. w. wurde durch Gatgutsuturen eingestülpt. Im Mesenteriolum
und im zunächst liegenden Teile des Mesocolon fanden sich manche mäßig
geschwollene Lymphdrüsen. Die vorderen Zweidrittel der Bauchwunde
wurden mit 3 Reihen versenkten, starken Gatgutsuturen zusammengenäht.
Am weitesten nach hinten in der Wunde wurde ein Jodoformgazetampon
in die Bauchhöhle eingelegt und die ganze Hautwunde offen gelassen, um
sekundär genäht zu werden. Der Appendix war, wie gesagt, sehr ausge-
dehnt und geschwollen; starke Injektion in der Serosa; fibrinöse Beläge,
wo das Omentum an dem Appendix anlag. Der Inhalt des Appendix
1) Es fand sich steril in aeroben Kulturen.
326 K K. Lennander,
war ein eiteriger Schleim. Die Schleimhaut des ganzen Appendix war
gangränös. Die Supporation in der Wandung erstreckte sich an der
Spitze bis zur Serosa.
Die Rekonvaleszenz verlief ungestört Während der nächsten 3 Tage
war die Zahl der Leukocyten im Blute zwischen 8000 und 9000, danach
geringer. Vom 29. März an war der Harn ganz frei von EiweiB. Die
Hautwunde wurde am 26. März sekundär genaht Pat. wurde gesund am
17. April entlassen.
Epikrise. Die Operation wurde sofort ausgeftihrt, weil es am
sichersten fOr die Pat. erschien, obgleich sowohl die Temperatur als der
Puls am 3. Tage bedeutend sanken. Das Eiweü^ und die roten und weißen
Blutkörperchen im Harn, sowie die diagnostizierte Lage des Appendix
medial am Coecum machten es mir zur Pflicht, den Appendix so schnell
als möglich zu entfernen. In diesem Falle hatte ein 25 km weiter Trans-
port der Pat. im Wagen keinen Schaden gebracht
Ich operiere sehr gerne chronische Appendiciten , die Ewald
„Appendicitis larvata^ genannt hat, nachdem ich sie eine längere
Zeit beobachtet habe. Das Symptomenbild, das im wesentlichen durch
Magensymptome, Flatulenz und Verstopfung charakterisiert wird, war
manchen Chirurgen schon lange vor Ewalds Vortrag bei dem Chirurgen-
kongresse in Berlin 1899 wohlbekannt. Diese Patienten leiden oft an
^Colica mucosa^ oder anderen Formen chronischer Colitis. Es ist des-
halb nicht genug mit der Exstirpation ihres Appendix; ihr Dai-mkanal
muß oft ein Jahr lang oder länger behandelt werden.
Besonders beim Diagnostizieren chronischer Appendiciten ist man
versucht, allzuviel Beachtung der Druckempfindlichkeit über Mag Bur-
nets Punkt zu schenken. Treves lieferte neuerdings einige interes-
sante Mitteilungen darüber^). Es ist eine alte Erfahrung, daß Leute
mit chronischer Typhlitis (Colitis, Colica mucosa) auf der rechten Seite
des Bauches Empfindlichkeit zu zeigen pflegen, aber eine solche Druck-
empfindlichkeit findet sich nach Treves auch bei gesunden Personen.
Er hat deshalb die Beantwortung der Frage angestrebt: was für ein
Gebilde kann es sein, idas es verursacht, daß manche Personen, die
gegen Druck auf der linken Seite des Bauches nicht empfindlich sind,
empfindlich werden, wenn man bei ihnen mit einem Finger auf Mao
BuRNEYs Punkt (1^/, — 2 engl. Zoll, 4 — 5 cm von der Spina ilei ant
sup. dextra auf der Linie, die den erwähnten Knochenpunkt mit dem
Nabel vereinigt) oder auf Munros Punkt drückt? Dieser liegt da,
wo der äußere Rectusrand von der erwähnten Linie zwischen der Spina
ilei ant sup. dextra und dem Nabel gekreuzt wird, also etwas mehr
medial als Mac Burnets Punkt oder ungefähr 2,6 Zoll (6,6 cm) von
der Spina ilei sup. bei erwachsenen jungen Männern. Dr. Addison
und Dr. Arthur Keith am London Hospital haben 50 Leichen unter-
sucht, die in Formalin gehärtet waren, und gefunden, daß die Valvula
1) Brit. med. Journ., 1902, June 28.
Meine Erfahrungen über Apenpdicitis. 327
Bauhini in 22 Fällen hinter Munros Punkt lag, aber in 14 Fällen nach
oben und außen, in 14 anderen nach unten und innen von diesem
Punkt. Keith hat 27 gesunde Studenten der Medizin untersucht und
gefunden, daß keiner von ihnen irgend einen druckempfindlichen Punkt
in der linken Fossa iliaca hatte, daß aber 24 von ihnen einen solchen
in der rechten hatten. Er lag bei 11 hinter Munros Punkt, bei 9
nach oben und außen, bei 4 nach unten und innen von diesem Punkt
Die Valvula Bauhini ist das einzige Gebilde, das in der rechten Fossa
iliaca vorkommt und das kein entsprechendes Seitenstück in der linken
hat. Keith und Treves meinen, daß diese Klappe den empfindlichen
Fleck bildet, der nach des ersteren Untersuchungen bei der Mehrzahl
der gesunden Personen sich in ihrer rechten Fossa iliaca finden soll.
Sie glauben nämlich, daß die Valvula Bauhini reichlich innerviert ist,
da sich das ^bei den meisten Oeffnungen im Körper so verhält''. Nach
meiner Auffassung hat die Valvula Bauhini ebensowenig wie ein anderer
Teil des Magendarmkanals, mit Ausnahme des Anus, Nerven für die
Empfindung von Berührung, Druck oder Schmerz. Ich habe in ein
paar Fällen das Coecum und die Valvula Bauhini zwischen den Fingern
zusammengedrückt, ohne daß der Patient dabei irgendwelchen Schmerz
empfand 0. Ich selbst habe Druckempfindlichkeit über Mag Burneys
oder Munros Punkt bei sicher gesunden Personen nicht beobachtet.
Ich habe keine besonderen Untersuchungen darüber angestellt, aber
ich habe die Gewohnheit, die rechte Fossa iliaca bei allen Patienten
zu untersuchen, bei denen ich aus irgend einer Veranlassung den Bauch
palpiere.
Ich benutze die Gelegenheit, ein kleines Mißverständnis zu berich-
tigen, dessen sich Treves mir gegenüber schuldig gemacht hat Er
sagt bei der Frage über Appendicitisrezidive ^) : „While I cannot agree
with Lennander that a recurrence is to be anticipated, at some period
or another, in the historj of every case. I think that there is no doubt
that the balance of probability is in the direction of a second attack.**
Ich hatte gesagt '), daß ich es für eine Pflicht halte, jedem Patienten
zur Operation in der freien Zwischenzeit zu raten, bei dem ich eine
längere Zeit nach einem Anfalle fortwährend eine zu-
rückgebliebene Resistenz fühlte (s. Indikation 3). Alle solche
Patienten, die ich bisher beobachtet habe, haben nämlich früher
oder später Rezidive bekommen. Mit Resistenz meinte ich natürlich
nicht „den bleistiftdicken, abgerundeten, nach unten und innen ver-
laufenden Strang in der rechten Fossa iliaca^, der in Krankengeschichten
1 ) Fortsatta studier öfver känseln i organ och väfnader och öfver lokal
anestesi. Upsala läkarefbren ftrh., N. F. Bd. 9, Fall 15a u. 16b.
2) 1. c. p. 1594.
3) Ueber Appendicitis. Wien 1896, p. 42.
328 K G. Lennander,
ein ^empfindlicher Proc. vermiformis*' genannt wird, der sich aber bei
den Operationen oft als etwas ganz anderes ausweist
Während der Zeit 1 888 — 1902 wurden von mir 283Pa-
tienten während des akuten Anfalles bei Appendicitis
operiert; von diesen starben 57, was eine Sterblichkeit von
20 Proz. ausmacht.
Man dürfte diese 283 in zwei Gruppen verteilen können: be-
grenzte und nicht begrenzte Peritonealinfektionen. Ich glaube
indessen, daß es praktischer ist, die Prognose als Einteilungsgrund
zu nehmen.
Die schlimmste Prognose geben rasch fortschreitende eiterige oder
putride Peritonitiden, die einen großen oder den größten Teil der Bauch-
serosa ergriffen haben. Je mehr die Peritonealinfektion eine zentrale
Ausbreitung hat, d. h. je mehr die Entzündung die Serosa der Dünn-
därme und deren Mesenterium ergriffen hat, desto gefährlicher ist die
Krankheit. Eine bessere Prognose geben mehr langsam fortschrei-
tende Peritonitiden, bei denen die Infektion von Anfang an in 2 oder
mehreren Herden abgekapselt ist. Viel besser wird die Prognose, wenn
die Herde in diesen Fällen in der Peripherie des Bauches liegen, so
daß sie z. B. vom Rectum, von der Vagina, von der Fossa iliaca, von
den Lendengegenden aus geöffnet werden können.
Die beste Prognose geben die sogenannten intraperitonealen Ab-
ßcesse, d. h. vollständig abgekapselte Peritonealinfektionen mit Eiter-
bildung. In verhältnismäßig zeitig operierten Fällen dürfte man in-
dessen mitunter eiterige oder putride Flüssigkeit in der Umgebung des
Proc. vermiformis finden, mit keiner oder unvollständiger Abkapselung
(s. Fall X, XIII, XIV). Wird in diesen Fällen mit der richtigen Technik
operiert, so daß man es umgeht, die Infektion zu verbreiten und den
ganzen infizierten Bezirk „extraperitoneal" unter Tamponade legt, so
geben sie nach meiner Erfahrung eine ganz ebenso gute Prognose wie
die vollständig abgekapselten „Abscesse".
Die Operationsprognose bei Peritonitis ist, mit anderen Worten,
schlecht 1) wenn viele Toxine und Bakterien bereits in das Blut über-
gegangen sind (Gefahr der Nephritis, Sepsis), 2) wenn die Darmwand
(besonders die Dünndarmwand) bereits in so großer Ausdehnung
und in so hohem Grade ergriffen ist, daß dies Darmparal)'se mit sich
bringt, und 3) wenn man nicht mehr hoffen kann, die Infektion durch
Drainage und Tampons zu begrenzen, d. h. zugleich die fortgesetzte
Ausbreitung derselben über die Serosa und die fortgesetzte Aufnahme
von Mikroben und Toxinen in das Blut zu hindern. Auf Grund des
vorliegenden Raisonnements haben wir deshalb die Fälle nach der Ope-
rationsprognose in 2 Gruppen A und B eingeteilt. In Gruppe A haben
wir gerechnet: 1) was man im allgemeinen „diffuse eiterige Peritonitis^
Meine Erfahrnngen über Appendicitis. 329
nennt, 2) von Mikulicz' progrediente, fibrino-purulente Peritonitis, Von
dieser letzteren finden sich nicht viele Fülle.
Für die Gruppe A ist die Prognose dubia, mala und oft pessima«
Für die Gruppe B ist sie in den meisten Fällen bona, bei genügend
zeitiger Operation fast ohne Ausnahme gut.
Die Gruppe A umfaßt 91 Fälle mit 46 Todesfällen. In der Mehr-
zahl der Fälle hat man gleich 2 oder 3 Bauchschnitte gemacht; in
manchen Fällen ist es notwendig gewesen, später noch 1 oder 2 Bauch-
schnitte hinzuzufügen. Die Sektion ist in fast allen Fällen von tödlichem
Ausgange gemacht worden. Die Diagnose: über die ganze oder
den größten Teil der Bauchserosa fortschreitende
eiterige Peritonitis kann deshalb in diesen 91 Fällen als
sicher angesehen werden.
Zur Gruppe B haben wir gerechnet 1) Fälle von akuter Appendicitis,
nur mit Hyperämie in der Bauchserosa oder mit seröser oder fibrinöser
Peritonitis (z. B. Fall IX), 2) Fälle mit beginnender eiteriger Peritonitis,
die zwar frei war, d. h. nicht abgekapselt, aber nicht über mehr als einen
kleinen Teil der Bauchserosa ausgebreitet (vgl. Fall XIII), und 3) alle
einkämmerigen intraperitonealen Abscesse, auch wenn sie in raschem
Wachstum standen und sehr groß waren, z. B. sich von der Fossa
Douglasii längs des rechten Colon aufwärts bis zum Diaphragmagewölbe
erstreckten, oder als sogenannte Bauchempyeme den ganzen unteren
Teil des Bauches einnahmen, sowie alle zwei- oder mefarräumigen Abs-
cesse, wenn sie durch einen Bauchschnitt geöffnet werden konnten.
Zur Gruppe B gehören 192 Fälle mit 11 Todesfällen. In der Tabelle I
wird über die Sektionsdiagnose in 8 der Todesfälle berichtet^). Man
findet dabei, daß No. 359 A im Jahre 1892 infolge von Dünndarm-
volvulus starb. Das ist der einzige Fall von Darmverschlingung, den
ich nach Appendicitisoperationen gesehen habe. Die übrigen Todesfälle
können mit der Operation in keinen Zusammenhang gebracht werden.
Mit Ausnahme von No. 38 A, Jahr 1896 (chronische Nephritis, Bronchi-
ektasien, Amyloid), dürfte in allen der Tod infolge von Appendicitis
durch eine zeitiger ausgeführte Operation haben verhütet werden können.
Der Raum gestattet es nicht, über die Todesursachen in der
Gruppe A Rechenschaft zu geben, aber es muß hervorgehoben werden,
daß verschiedene von diesen Patienten an Komplikationen erst nach
Wochen oder Monaten gestorben sind, nachdem die Peritonitis voll-
ständig ausgeheilt war.
Derjenige, der diesen Aufsatz liest, kann leicht zu der Auffassung
gelangen, daß wir in Upsala oft Gelegenheit haben, zeitig bei akuter
1) Ich habe versäumt, die Sektion der 3 Patienten zu verzeichnen,
die 1902 gestorben sind. £iner von ihnen wurde in der 2. Woche operiert,
2, 5 Wochen nach der Erkrankung. Assouan 1. März 1904.
330
K. G. Lennander,
Appendicitis zu operieren. Daß dies nicht der Fall war in den Jahren 1888
—1901, geht aus Tabelle I hervor, in der sich die Zeit angegeben findet,
die vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Operation verflossen
war. Von den 33, die während der beiden ersten Tage operiert wurden,
gehören nämlich 9 dem Jahre 1902 an.
Tabelle I.
Zeit in hal
0- V, 1-
lVi-2
2-3
m Tagen z^wtsclieii d^ Erkrankung und
3_4 4-55-66-7 7—13 14-2021-27
der Opamtioti
28 u. iinbe- 1 Summa
mehr kau Dt j
Geuegen
4
0
6
1
6
2
7
24
7-hlb)
17
4+1^)
18
5
9
3
11
4
Ü7
lO + H)
27 ,
0
10
2 + 2«)
IE
4 + 2D
7 22S=80%
1 57=20%
4
7
8
14
32
22
23
12
fl5
1 78
27
14
19
S '283
Alle FäUe, die nicht bei der Aufnahme in agone waren, wurden nach den früher
besprochenen Indikationen operiert. Alljährlich konnten wir uns in einer größeren
oder geringeren Anzahl von Fällen mit einer inneren Bdiandlung begnügen. Im Jahre
1902 wurden so 16 Patienten medizinisch behandelt, von diesen wurden 11 symptom-
frei entlassen. Bei 5 wurde der Proc. vermiformis später ä froid exstirpiert
1) Anmerkune. Wo die Anzahl der Gestorbenen in einer Zeitgruppe durch
2 Zahlen ausgedrückt ist, weisen die der zweiten Zahl beigefügten Buchstaben auf die
unten stehenden Angaben über die Todesursache in diesen Fäüen hin.
a) 1B92, A 359. Tod 5 Tage nach der Operation. Peritonitis, beruhend auf
Volvulus einor Dünndarmschlinge. Neue Laparotomie mit Beposition des Dünndarms
1 Tac vor dem Tode.
b) 1893, A 330. Tod 12 Tage nach der Operation. Akute parenchymatöse Ne-
phritis (s. FaU XV).
c) 1896, A 38. Tod 16 Taj^e nach der Operation. Diffuse Am^loidentartung in
der Milz. Chronische Bronchitis mit Bronchiektasien. Akute kapillare Broncmtis,
multiple Bronchopneumonien. Amyloidentartung in den Därmen, chronische
parenchymatöse Nephritis.
d) 1^8, B 456. Tod 3 Tage nach der Operation. Sepsis, ausgegangen von einer
zum größten Teile retroperitoneal gel^enen Absceßhöhle. Pat., ein 34 Jahre alter
Manu, hatte den Keuchhusten.
e) 1897, B 77. Tod 6 Tage nach der Operation. Pneumonia acuta bilateralis.
Die Operationsdiagnose war: Appendicitis acuta c periappendidtide purulenta permagna
mit Zerstörung der Fascia iliaca und mit Durchbruch zum Schenkel unter dem Ligam.
Poupartii. Die Eiterhöhle reichte aufwärts bis zur Leber.
1895, A 72. Tod 14 Tage nach der Operation. IVlephlebitis mit Thrombus in
der Vena portae, multiple Abscesse in der Leber, subphrenischer Abscefi. Es wurde
operiert wegen Pyosalmnx ex appendicitida
f) 1893, B 424. Tod 78 tilge nach der Operation. Leberabscefi, subphrenischw
Absceu. Perforation des Diaphragma, rechtsseitiges Empyem. Wurde wie 1895, A 72
wegen Pyosalpinx ex appendicitide operiert.
1891, A 110. Pat. war während der Schwangerschaft erkrankt und nach der
Entbindung zuerst in der medizinischen Klinik behandelt worden. Tod 24 Tage nach
der Operation. Leberabscesse, multiple Lun^enabscesse. Pyämie, ausge-
gangen von einem Herd um einen gangränösen Appendix, die an der medialen Seite aes
Coecum lag und nicht j^funden wurde, als die große Eiterhöhle hinter diesem Darm
und an dessen Außenseite geöffnet wurde.
Was die Indikation zur Operation während des Anfalles
betrifft, so habe ich versucht, anzuwenden, was ich 1891 — 1893 schrieb.
Ich bin jedoch den konservativen Strömungen nicht ganz ablehnend ge-
blieben, die sich seitdem geltend machten, namentlich in Deutschland. Ich
nehme an, daß dieselben ihre Höhe durch die Vorträge von Renvers und
Sonnenburg und durch Rotters, K(Jmmells und Körtes Aeußerungen
Meine Erfahrangen über Appendicitis. 331
in der Diskussion beim Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
in Berlin 1899 erreicht haben. Damals faßte Sonnenburo^) seinen
Vortrag: ^Indikationen der chirurgischen Behandlung der Appendicitis^
in folgende These zusammen: ^£s läßt sich nach diesen Erörterungen
die Regel aufstellen, daß, wenn sich der Anfall nach 4—5 Tagen
nicht vollständig ausgleicht, es Zeit ist, eine Operation in Aussicht zu
nehmen.^ Meine Erfahrung ist eine andere: sie stimmt am besten mit
der von Riedel, Rehn, Rose und Sprengel ^) überein. Nicht wenige
Appendicitiden müssen nach meiner Meinung schon am 1. Tage operiert
werden, noch mehr am 2. Tage. Wartet man 5 Tage, dann haben ver-
schiedene bereits zum Tode geführt.
Da die Appendicitis nach meiner Ansicht im engsten ätiologischen
Zusammenhange mit der Enteritis und Colitis steht, so spricht alles
dafür, daß die Appendicitiden an verschiedenen Orten und zu verschie-
denen Zeiten eine verschiedene Malignität besitzen. Es ist deshalb
natürlich, daß Chirurgen mit verschiedenen Wirkungskreisen verschie-
dene Erfahrungen machen. Es ist im allgemeinen wenig glücklich,
wie Sonnenburo (1899) bestimmte Schemata für die Behandlung von
Krankheiten aufzustellen. Die Kunst, kranke Menschen gut zu
behandeln, gründet sich auf die Fähigkeit des Arztes, eine in allen
Einzelheiten durchgeführte Untersuchung des Kranken zu machen und
seine Behandlung gerade nach dem Resultat, das die Untersuchung am
Individuum ergeben hat, einzurichten. Mit anderen Worten : Die Haupt-
kunst in einer guten Therapie besteht darin, zu individualisieren
oder für ein gewisses Individuum in einem gewissen Falle die rechte
Behandlung zu finden. Kaum dürfte die Wichtigkeit einer genauen
Untersuchung und einer hierauf gegründeten individualisierenden Be-
handlung bei irgend einer Krankheit klarer hervortreten, als bei der
Appendicitis.
Hier haben wir es mit verschiedenen Mikroben von höchst wech-
selnder Virulenz zu tun. Die Krankheit spielt sich ab in einem rudi-
mentären Organe, das bei verschiedenen Individuen eine sehr ver-
schiedene Größe, Form und Blutgefäßverteilung hat, Verhältnisse, die
machen, daß eben ein vorher gesunder Proc. vermiformis bei verschie-
denen Individuen eine verschiedene Widerstandskraft gegen die Er-
krankung hat.
Gewisse, zur Erkrankung disponierende Eigentümlichkeiten in den
anatomischen Verhältnissen des Proc. vermiformis scheinen vererbt zu
werden und erklären eine Familiendisposition, die unbestreitbar ist. Wir
haben ferner zu rechnen mit einer vom Individuum erworbenen Dis-
1) Verhandl. d. dtsch. Gesellsch. f. Chir., II, p. 473.
2) Ders. Kongr. 1899. 8. a. Rehns und Spbenoels Vorträge beim
dtsch. Chir..Kongr., 1901.
332 K. G. Lennander,
Position, vornehmlich Fäkalsteinen, Narbenstrikturen, scharfen Knickun-
gen, teilweise Produkten einer vorhergegangenen Krankheit in dem
Appendix. Die Gegenwart von einem oder mehreren Koprolithen im
Proc. vermiformis vermehrt im höchsten Grade die Anlage zu einer
schweren Erkrankung, kann aber als solche nicht diagnostiziert werden,
weil die Formen von chronischer katarrhalischer Appendicitis, bei denen
diese Gebilde sich wahrscheinlich aus der Sekretion der Schleimhaut
absetzen, im allgemeinen symptomlos verlaufen.
Ein anderes ffir die Prognose äußerst wichtiges Moment ist die Lage
des Proc. vermiformis in der Bauchhöhle. Hier finden sich die mannigfach-
sten Möglichkeiten und es ist fast unmöglich, sie alle aufzuzählen. Manche
sind relativ günstig, so vor allem die Lage an der hinteren äußeren Seite
des Coecums und tief unten in der Fossa Douglasii. An beiden Stellen
wird ein infektiöser Prozeß leicht abgekapselt. Dagegen ist die Lage
des Proc. vermiformis medial am Goecum zwischen den Dünndärmen
äußerst gefährlich, weil die Dünndarmperistaltik so leicht die Infektion
ausbreitet und dadurch zu fortschreitender (diffundierender) Peritonitis
führt. Eine Peritonitis in der Mitte des Bauches, ich wiederhole das
nochmals, ist unvergleichlich gefährlicher, als eine Peritonitis in der
Peripherie. Hierzu kommt die Gefahr der Thrombose in den Venae
mesentericae mit Leberabscessen und die Gefahr der Thrombose in der
Vena iliaca mit Pyämie, die besonders groß ist in denjenigen Fällen,
wo der kranke Proc. vermiformis vor der Vene festgewachsen ist
Noch ein Umstand, der unser Urteil erschwert, muß hier hervor-
gehoben werden. Das ist der, daß es das Aussehen hat, als ob das
Peritoneum bei verschiedenen Individuen ein verschiedenes Vermögen
besäße, Adhärenzen zu bilden und somit auch infektiöse Herde abzu-
kapseln. Es ist möglich, daß diese Auffassung unrichtig ist; sicher
ist es aber, daß das Peritoneum ein sehr verschiedenes Vermögen
besitzt, sich durch Abkapselung gegen verschiedene Mikroben oder gegen
verschiedene Virulenzgrade derselben Mikroben zu schützen.
Es tut mir leid, daß ich hier mit allen diesen Aufzählungen ermüde.
Ich habe das getan, um zu zeigen, daß, wenn es sich um Appendicitis
handelt, nichts anderes hilft, als den Patienten zu untersuchen
und wieder zu untersuchen, so daß man zu einer Diagnose ge-
langt oder zu einer bestimmten Ueberzeugung darüber, ob sofort ope-
riert werden muß, oder ob man ihn bis auf weiteres medizinisch be-
handeln kann. Das heißt, ihn still liegen, hungern und dursten
lassen (wenn es nötig ist, Wasser und sonstige Ernährung subkutan)
die Schmerzen mitOpium oder Morphium stillen und ihn
überwachen und dann operieren beim ersten Anzeichen dafür, daß die
Infektion in der Bauchhöhle progredient (diffundierend) wird, oder daß sie
zu allgemeiner Sepsis (Eiweiß im Harn), oder zu einer begrenzten Suppu-
ration im Bauche (Verhalten der Leukocyten im Blute u. s. w.) führt
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 333
Derjenige, der keine persönliche Erfahrung besitzt, muß gute
Krankengeschichten in Massen lesen, und sich in jede von ihnen hinein-
denken. In dieser meiner Mitteilung betrachte ich auch die Kranken-
geschichten als die Hauptsache. Sie sind Tatsachen, an die man sich
halten kann.
Nach der bisher gebräuchlichen allgemeinen Auffassung ist eine
Operation wegen akuter Appendicitis notwendig, wenn die klinischen
Symptome eine fortschreitende eiterige Peritonitis zeigen, oder eine
größere begrenzte intra- oder extraperitoneale Eiterbildung. Bei der
Mehrzahl der Patienten, die in die Klinik in Upsala gebracht werden,
ist die Diagnose dieses Zustandes handgreiflich. Sie müssen sofort
operiert werden. In Fällen, die zeitiger unter meine Beobachtung
kommen, frage ich jetzt nicht: Ist es notwendig, sofort zu operieren?
sondern: Ist es für den Patienten das Sicherste? Gewinnt er seine
Gesundheit am sichersten wieder, wenn ich warte, oder wenn ich sofort
operiere?
Die Erfahrungen, die über die Behandlung des Peritoneum bei in-
fektiösen Leiden gemacht worden sind, berechtigen nicht nur zu einer
derartigen Fragestellung, sondern sie zwingen dazu. Wir wissen jetzt«
daß trotz einzelner glänzender Erfolge doch die Operation bei einer
mehr ausgebreiteten, fortschreitenden eiterigen Peritonitis in der Mehr-
zahl der Fälle resultatlos ist. Die Therapie muß in Bezug auf die
Peritonitiden wesentlich präventiv werden, wie ich schon früher in meinen
Arbeiten über Peritonitis scharf hervorgehoben habe. Das heißt, wenn es
sich um akute Fälle handelt, daß wir operieren müssen, wenn noch nur
ein kleiner Bezirk der Bauchserosa infiziert ist, und vor allem, ehe es
zur Darmparalyse gekommen ist. Der Grad derselben steht nach
meiner Erfahrung im direkten Verhältnisse dazu, ein wie großer Teil
des Darmkanales eine geschwollene Wand hat und welchen Grad die
Schwellung erreicht hat.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen gehe ich zu einer näheren
Kritik meiner Indikationen von 1893 Ober 'und beginne mit Punkt 1.
Was ich damals ^diffuse Peritonitis^ nannte, entspricht am meisten
dem, was ich jetzt „fortschreitende eiterige (serös eiterige) Peritonitis
nenne. Daß ein solcher Zustand dem Chirurgen das Messer in die
Hand drücken mus, darüber sind heute, wie ich schon gesagt habe,
alle einig. Es muß operiert werden, sobald man die Dia-
gnose auf eine fortschreitende eiterige Peritonitis ge-
stellt hat. Beispiele bilden die Fälle VII— IX.
Fall Vn. Hausfrau, 29 J. alt Nr. 366 A 1901.
Appendicitis (Koprolith) cum perforatione etcumperi-
tonitide sero-purulenta progrediente (im ganzen Bauche ge-
funden, mit Ausnahme des linken subphrenischen Baumes, der bei der
Operation nicht untersucht wurde). Nach 11 — 12 Stunden Lapa-
334 K. G. Lennander,
rotomie mit Exstirpation des Processus vermiformis. Hei-
lung.
Die Pat. ist vorher gesund gewesen. Sie hat den Typhus nicht gehabt
Im allgemeinen keine Störungen in den Verdauungsorganen. Im Verlaufe
des letzten Jahres soll Pat. indessen nach gewissen Arten von schwer ver-
daulichen Speisen ein Gefühl von Schwere und Aufblähung im Bauche
gehabt haben. Pat. ist verheiratet seit 1898 und hat 1899 ein Kind ge-
boren (Zange). — Die Menstruationen sind regelmäßig gewesen, nicht
schmerzhaft. Letzte Menstruation vom 16. — 20. Okt 1901.
In der Nacht vom 19. zum 20. Mai 1901 erkrankte Pat. mit Schmerzen
in der linken Seite des Bauches, Erbrechen, sowie vermindertem Abgang
von Blähungen. Kein Schmerz nach den Beinen zu, auch keine Behinde-
rung der Harnentleerung. Pat. konnte aufbleiben bis zum Vormittag des
20., auch etwas zu Mittag essen, was jedoch sofort wieder herausgebrochen
wurde. Die Temperatur, im Rectum gemessen, war am Abend afebriL
Gegen die Nacht hin hörte das Erbrechen auf. Schlaf nach Morphium.
Gegen Morgen am 21. Mai nahmen die Schmerzen zu und verzogen sich
allmählich nach rechts unten. Am Abend des 21. war die Tempe-
ratur 39,7 ^ Kein Abgang von Blähungen. Ein Arzt konstatierte Peri-
tonitis, die als von Appendicitis ausgegangen betrachtet wurde; doch
war die rechte Fossa iUaca ziemlich frei von Empfindlichkeit. 22. Mai.
Pat gab Empfindlichkeit an unterhalb des Nabels, über dem Eingang
zum kleinen Becken, sowie über dem rechten Ligam. Poupartii. Keine
absolute Dämpfung. Von der Vagina aus keine Empfindlichkeit Keine
Hervorbuchtung der Fomices. In der Nacht vom 22. zum 23. Mai spontane
Darmentleerung. Am 13. Juni war Pat mehrere Tage fieberfrei gewesen und
die Empfindlichkeit war fast verschwunden; Temperatur am Abend 38,9^.
Pat. war dann bettlägerig bis zum 24. Juni und hier und da war das Fieber
wiedergekehrt. Die Darmentleerung war die ganze Zeit spontan, gewöhnlich
2mal täglich, um ihren Appendix im freien Intervall ezstirpieren zu lassen,
reiste Pat. am 20. Okt. nach Upsala und kam am 21. im Krankenhause
an. Am Tage vorher laxierte Pat. in Rücksicht auf die Operation; sie
nahm 1 Eßlöffel Eizinusöl und hatte 5 dünne, nicht schmerzhafte Ent-
leerungen. Sie fühlte sich ganz munter, hatte keine Empfindungen von
Seiten des Bauches, ging aus in die Stadt u. s. w. Sie aß nichts Unge-
wöhnliches und machte keine anstrengenden Bewegungen.
22. Okt Pat. fühlt sich am Vormittag dauernd wohl. Bei der
Untersuchung mittags konnte man kein einziges krankhaftes
Symptom in ihrem Unterleibe entdecken. Sie legte sich dann
zu Bett Im Laufe des Nachmittags hatte sie hier und da Kolikschmerzen,
sie achtete aber nicht besonders darauf, weil sie oft damit beschwert zu
sein pflegte. Abendtemperatur 37,6®. Um 9 Uhr abends bekam Pat ein
kleines Wasserkly stier, das ohne größere Wirkung wieder abging. Um
^2 10 Uhr bekam sie einmaliges Erbrechen. Um ^j^ll Uhr wurde der
Unterchirurg gerufen. Pat. klagte über heftigen Schmerz im Bauche. Die
Schmerzen waren über den ganzen Bauch ausgebreitet ohne bestimmte
Lokalisation. Sie waren aber stärker im unteren Teile. Der Bauch war
weich, aber nach Angabe der Pat. überall empfindlich, auch für geringen
Druck. Temp. 37,7®, Puls 76. Ordination: ein Opiumsuppositorium von
0,05 g und Eisblase über den unteren Teil des Bauches. In der Nacht
V2I2 war die Temperatur 37,6 ®, der Puls 80. Pat. war etwas benommen
nach dem Opium. Sie fühlte fortwährend einen wühlenden, nicht bestimmt
lokalisierten Schmerz im Bauche, der fortwährend weich war, aber in
Meine Erfahrangen über Appendicitis. 335
derselben Weise empfindlich wie vorher. Bei diesen Untersuchnngen war
auch der Bruder der Fat. anwesend. Er ist ein Arzt mit großer Erfahrung
im GFebiete der Bauchchirurgie. Er sah indessen keine Oefahr, sondern
teilte die Auffassung seiner Schwester, daß es sich nur um einen Schmerz-
anfall derselben Art handelte, wie sie ihn schon einige Male vorher im Laufe
des Sommers und Herbstes gehabt hatte nach den schweren Appendicitis-
anfallen im Mai und Juni. Morgens V»^ ^^ ^^ ^^^ Temperatur 38,8**,
der Puls 112. Fat hatte zeitweise in der Nacht geschlafen« Sie fühlte
fortwährend Schmerzen, obwohl geringer als vorher; unbedeutende An-
wandlungen von Uebelkeit. Vormittags 8 Uhr war die Temperatur 38,5 o,
der Fuls 108. Bei der Untersuchung (Lbnnandbr) war der Bauch jetzt
unbedeutend, wenn überhaupt, aufgetrieben. Fat. spannte die Muskulatur
etwas mehr nach rechts als nach links von der Mittellinie. Sie war etwas
empfindlich überall unterhalb der transversalen Nabelebene, doch in keiner
der beiden Lumbaigegenden. Die Empfindlichkeit war vielleicht am größten
an der der rechten Articulatio sacro-iliaca entsprechenden Stelle und am
medialen Teile der rechten Fossa iliaca, sowie von da aus aufwärts nach
dem rechten Thoraxrande. Femer bestand Empfindlichkeit im rechten
Fomiz vaginae. Lungen und Herz boten nichts Bemerkenswertes. Der
Harn war frei von Eiweiß und reduzierender Substanz.
Vormittags 9 Uhr Operation (Chloroform-Aethemarkose). Erst wurde
ein Schrägschnitt über der rechten Lumbaigegend und Fossa iliaca ge-
macht Der Schnitt erstreckte sich am weitesten hinten bis zum Muse,
erector Spinae und nach vom längs des Rectusrandes bis fast zum Tuber-
culum pubis. Die Vasa epigastrica inferiora wurden doppelt unterbunden.
Das Feritoneum parietale war sehr injiziert. Das Omentum, das ein ziemlich
natürliches Aussehen hatte, lag vor den Därmen ausgebreitet. Li der
Bauchhöhle fand sich eine trübe, etwas schmutzige Flüssigkeit, die alle
Organe in der rechten Bauchhälfte umgab. Die Leber war nach unten
verschoben, so daß der untere Band nach unten bis an die Linea inter
Spinae ilei ant. super, reichte, oder noch etwas darüber hinaus. Die er-
wähnte schmutzige Flüssigkeit fand sich auch zwischen Diaphragma und
Leber. Sowohl das Coecum als das Heum in der Nähe der Valvula
Bauhini waren vor der Art. sacro-iliaca dextra festgewachsen. Ebenso
verhielt es sich mit dem Froc. vermiformis, den zu erkennen dadurch
gelang, daß man einen kleinen Fäkalstein aus einem Loche nahe an der
Basis hervorkommen sah. Nach vieler Mühe gelang es, den Proc. vermi-
formis zu exstirpieren und dessen Basis mit verhältnismäßig unversehrter
Serosa aus der Umgebung zu überkleiden. Der Uterus war mit seiner
hinteren Seite an das Rectum festgewachsen, so daß die Fossa Douglasii
zum gi*ößten Teile obliteriert war. Man konnte deshalb nicht durch die
Vagina drainieren. Danach wurde ein Schrägschnitt über der linken
Lumbaigegend gemacht Hier fand sich ebenfalls Flüssigkeit von der
vorher erwähnten Beschaffenheit in der Bauchhöhle. Alle Därme, die man
sah, zeigten vermehrte GFeiUßinjektion, am meisten aber in der Nähe des
Appendix. Einer oder der andere Darm hatte einen geringeren, gelblich-
weißen Fibrinbelag. Die Mehrzahl derselben waren etwas matt von Exsudat.
Ebenso verhielt es sich auch mit der Leberserosa. Beide Bauchwunden
wurden offen gelassen. Das kleine Becken wurde von den Seiten her mit
Gazetampons angefüllt, ebenso der rechte subphrenische Baum, wo außer-
dem 2 Drainrohre eingelegt wurden.
Die Nachbehandlung wurde in gewöhnlicher Weise ausgeftlhrt, mit
Kochsalzlösung intravenös und subkutan, Darmausspülungen ungefähr alle
Ifittdl. K d. OraaifebleteB d. UedislB o. Chlraifle. XIQ. Bd. 22
336 K. O. Lennander,
4 Stunden und ernährenden EUystieren. Es entstand eine ganz reichliche
seröse Sekretion durch die Sauchwunde, 3 Tage nach der Operation fand
man Eiweiß im Harn, sowohl oberen wie unteren Bing bei Hbllbrs Probe.
Die Albuminarie dauerte 10 Tage lang. Die Herztätigkeit der Fat war
lange schwach und die Pulsfrequenz hoch. Die Bauchwunden waren nach
ungefähr 2 Monaten geheilt Pat. konnte dann nach Hause reisen, brachte
aber mehrere Wochen lang den größten Teil des Tages im Sette zu, um
ihrem Herzen die nötige Ruhe zu gönnen. Im Sommer 1902 fühlte sie
sich vollständig gesund, machte Bergwanderungen, vertrug alle Arten
Nahrung und hatte regelmäüige Stuhlentleerung. Im September 1902
schreibt sie, daß sie eben so stark ist, wie vorher.
Epikrise. Diese Krankengeschichte zeigt, wie schwer es ist, eine
fortschreitende serös-eiterige Peritonitis in den ersten Stunden nach einer
Perforation zu erkennen.
Von besonderem Interesse ist es, die Veränderungen in der Peri-
tonealhöhle im Falle VII A zu studieren: Berstung eines periappendiku-
laren Abscesses frei in die Bauchhöhle hinein und Laparotomie nach
2V2 Stunden, sowie diese mit den klinischen Symptomen zu vergleichen.
Fall VnA. No. 164 A, 1903. Frau E. A., 32 J. alt, wurde am
11. April 1903 aufgenonunen. Chronische Obstipation. Am 4. April
1903 Gastroenteritis acuta. 6. April Appendicites acuta
mit eiteriger Beckenperitonitis. 11. April Entleerung von
Eiter durchSchnitt durch dieVagina. Am 26. April berstet
frei in die Bauchhöhle ein periappendikulärer Eiterherd,
der an der Harnblase lag. Binnen 2Ys Stunden danach La-
parotomie mit 2 Bauchschnitten. Freie serös-eiterige Peri-
tonitis.
Pat hatte ihre erste Menstruation im Alter von 17 Jahren gehabt.
Die Blutungen waren reichlich, boten aber im übrigen nichts Bemerkens-
wertes. Abortus hat sie nie gehabt; eine Oeburt vor 4 Jahren verlief
in jeder Beziehung normal ; das Kind ist immer gesund und stark ge-
wesen. Seit der Entbindung hat die Pat einen geringen schleimigen
Ausfluß gehabt. Letzte Menstruation vor 3 Wochen. Sie ist stets ge-
sund gewesen, hat aber träge Darmentleerungen gehabt, so lange sie
sich erinnern kann, und in den letzten 3 Monaten auch hin und wieder
Erbrechen, das plötzlich und ohne bekannte Veranlassung, am häufigsten
in der Nacht, kam und nach 1 — 3 Stunden vorüberging. Am Sonntag
Abend (Nacht zum Montag den 6. April) wurde Pat ganz plötzlich un-
wohl, mit heftigem Erbrechen und Diarrhöe; die Darmentleerungen waren
von gewöhnlicher diarrhoischer Beschaffenheit Erbrechen und Diarrhöe
dauerten die ganze Nacht fort bis zum Montag morgens, wo die Diarrhöe
aufhörte, während das Erbrechen noch den Montag und Dienstag (6.) bis
gegen 4 Uhr nachmittags fortdauerte und Pat Schmerz im Bauche auf der
rechten Seite nach unten zu bekam. Gleichzeitig stellte sich Frost ein.
Der hinzugerufene Arzt stellte die Diagnose auf Appendicitis, verordnete
Eisblase, Bettliegen und vollständiges Fasten. Am Mittwoch (7.) hatte
sich der Schmerz auf die linke Seite des Bauches verzogen, weshalb auch
die Eisblase dahin gelegt wurde. Am Donnerstag (8.) stellte sich die
Menstruation, zur richtigen Zeit, ein und war noch am 11. vorhanden.
Status praesens am 11. April. Pat erscheint matt und blaß,
Meiue Erfahrungen über Appendicitis. 337
Körperfülle nnd Muskulatur reduziert. Temperatur 38,5^ (in der Achsel-
höhle 37,9% Puls 104. Leukooyten 16500. Harn sauer, stark getrübt,
deutlicher oberer und dickerer unterer Ring bei Hbllbrs Probe (bei
doppelter Verdünnung). Der Sauch ist nicht aufgetrieben, weich anzu-
fühlen und nicht empfindlich, aufier in der Gegend oberhalb der Symphyse,
wo sich sowohl rechts wie links von der Mittellinie ein Bezirk, ungefllhr
von der GröEe einer flachen Hand, findet, in dem man eine recht be-
deutende, stark empfindliche Eesistenz fühlt; der Perkussionsschall ist in
diesem Bezirke gedämpft. Dem rechten Musa rectus entsprechend, erstreckt
sich dieser Bezirk fast bis hinauf zur transversalen Nabelebene, wo er
diffus abschließt. In der Gegend, wo sich Mac Burnbys und Monros
Punkte finden, findet sich keine Resistenz oder Druckempfindlichkeit Auf
der linken Seite fühlt man eine wenig empfindliche Resistenz vom Ligam.
Poupartii in schräger Richtung nach oben außen ; diese wurde als die mit
Faeces gefüllte Flexura sigmoidea aufgefaßt. Von der Vagina aus fühlt
man die Fossa Douglasii ausgedehnt durch ein Exsudat, das den hinteren
Fomiz vorbuchtet: Auf der linken Seite kann man bis zu einem gewissen
Grade zwischen die Beckenwand und dieses Exsudat kommen, auf der
rechten Seite geht das Exsudat bis zur Beckenwand. Vom Rectum aus
fählt man einen mehr als fingerdicken Bezirk von Resistenz, die weicher
als die übrigen Partien ist Diagnose: Es wurde für wahr-
scheinlich gehalten, daß eine akute Appendicitis der Aus-
gangspunkt für die intraperitoneale Eiterbildung im
kleinen Beken war.
Operation sofort am 11. April. Unter leichter Aethernarkose
wurde zuerst eine Punktion im hinteren Fomix gemacht, wobei gelber,
gashaltiger Eiter angetroffen wurde. Darauf wurde die Höhle durch In-
cision von der Punktionsstelle aus entleert. Die Oeffnung wurde mit
BiBGELOWS Dilatator erweitert. In die Höhle wurden 2 fingerdicke Drain-
rohre eingelegt, wonach die Vagina leicht mit Jodoformgaze tamponiert
wurde. Nach der Operation 1000 com Kochsalzlösung subkutan. Abend-
temperatur in der Achselhöhle 37,20, p^ig 93, 12. April hat Pat in
der Nacht ganz gut geschlafen. Der Harn wird durch Katheter ent-
leert, die Menge beträgt 525 com. Temperatur in der Achselhöhle
37^0—37^40^ Puls 92—92. Per os Milch und Vichywasser. 13. April
Temp. 37,0— 37,2 (Achselhöhle), Puls 78—80. Der Harn wurde ab-
gezapft, Menge 650 ccm, bei Hbllbbs Probe Spuren von Eiweiß.
14. April. Der Harn muß fortwährend abgezapft werden, Menge
750 ccm. Kein Eiweiß. Flatus sind spontan abgegangen. Temp.
(Achselhöhle) 36,7—36,9 % Puls 78—80. 15. April. Allgemeinzustand ganz
gut. Pat fühlt sich wohl, schläft gut und klagt über Hunger. Der Harn
wird abgezapft, 700 ccm. Temperatur in der Achselhöhle 36,6—36,6®,
Puls 60 — 66. 17. April. Darmentleerung hat heute spontan stattge-
funden. Platus sind seit dem 14. jeden Tag abgegangen. Pat. kann fort-
während den Harn nicht selbst entleeren. Hammenge 800 ccm; kein
Eiweiß. Die Pulsfrequenz, die gestern auf 80 gestiegen war, ist heute
wieder herabgegangen auf 64 und 72. Temp. 36,3 — 36,5 <^. 18. April.
Pat. fühlt starken Hunger. Etwas Abfluß von Eiter durch das Drainrohr
im kleinen Becken ist fortwährend vorhanden. Temp. 36,4 — 36,7®, Puls
66 — 76. 21. April. Pat. kann den Harn selbst entleeren, wenn sie sich
im Bette auf die Knie erhebt und in knieender Stellung ihre Blase ent-
leert Temperatur im Rectum 36,3— 36,9 <>, Puls 60 und 62. Hammenge
1100 ccm. Der Zustand der Pat. ist fortwährend unverändert, sie fühlt
22*
338 E. G. Lennander,
sich selbst besonders wohl. Die Nahningszufiihr ist allmählich vermehrt
worden. 21. — 24. April. Temperatur im Rectum zwischen 36,6 und 37,4®,
Puls zwischen 60 und 68. 24. April. Fat. hat seit dem 19. keine Darm-
entleerung gehabt, sie hat in den 3 letzten Tagen Eingießungen in das
Rectum von je 100 g Oel bekommen, ohne Wirkung. Der Bauch ist
überall weich imd nicht empfindlich. Der Perkussionsschall ist überall
tympanitisch. 26. April. Morgentemperatur 36,7®, Puls 88. Pat. hat
sich in der Nacht und am Vormittage nicht so wohl gefühlt wie vorher.
Bei der Visite, ungefäiir 3 ühr nachmittags, war sie etwas empfindlich im
unteren Teile des Bauches, aber sie spannte die Bauchmuskeln nicht bei
der Palpation. Die Empfindlichkeit war möglicherweise st&rker in der
rechten Fossa iliaca, als an den anderen Stellen. In der linken Fossa
iliaca fühlte man eine Resistenz, die als mit Kot geftlllter Darm aufgefaßt
wurde. Ordiniert wurde vorsichtige Ausspülung des Rectum. Ungefähr
um 4 Uhr wurde diese äußerst vorsichtig ausgeführt und nach der Aus-
sage der Wärterin so, daß das Spülwasser bloß in das Rectum eindringen
konnte. Unmittelbar darauf 2 große Darmentleerungen mit vielen Flatus,
ohne daß Pat. Schmerz dabei hatte. Nach einer kurzen Zeit wieder eine
Darmentleerung, bei der Pat. plötzlich Schmerz im ganzen Bauche bekam,
jedoch besonders lokalisiert in der Magengrube. Der unmittel-
bar hinzugerufene Arzt fand 4 Uhr 30 Min. nachmittags die Pat. unruhig,
sich in Schmerzen windend, blaß und mit Atemnot und Nasenflügelat-
mung. Während der Schmerzanfälle liegt Pat. heftig zitternd, aber
Frostanfälle hatte sie nach ihrer Aussage nicht. Die Schmerzen zeigen
keine deutliche Lokalisation über der rechten Fossa iliaca. Der Bauch
ist in seiner Gesamtheit nicht aufgetrieben; im oberen Teile ist er weich
und unempfindlich, über beiden Fossae iliacae aber stark gespannt, be-
sonders über der linken. Er ist empfindlich gegen Druck überall unter-
halb der transversalen Nabelebene, in bedeutenderem Grade jedoch über
der rechten Fossa iliaca, während die Empfindlichkeit über der linken
Fossa iliaca ganz gering ist. Temperatur 4 Uhr 46 Min nachmittags
39,10, Puig 72. Leukocyten 24000—30000. Im Harn kein Eiweiß.
Status um 6 Uhr nachm. Die Palpationsphänomene haben sich
jetzt etwas verändert. Die Empfindlichkeit ist stark, auch bei oberfläch-
licher Berührung, über dem Hypogastrium zwischen Nabel und Symphyse.
Sie ist etwas stärker nach links als nach rechts zu. An den Seiten wird
dieser Bezirk begrenzt von einer Linie, die den Nabel mit dem Mittel-
punkte beider Ligam. Poupartii vereinigt Hier ist auch Muskelspannung
vorhanden. Sobald man außerhalb dieses Bezirkes kommt, ist die Empfind-
lichkeit nur bei tiefer Palpation vorhanden und der Schmerz wird dabei
in das Hypogastrium verlegt Eine deutliche Resistenz kann nicht wahr-
genommen werden. Der Perkussionsschall ist überall tympanitisch.
Operation 6 Uhr 46 Min. nachm. Man nahm an, daß ein Absceß
in die freie Bauchhöhle geborsten sei, und operierte deshalb sobald als
möglich d. i. 2V2 Stunden nach dem ersten Auftreten des Schmerzanfalles.
Man hielt es für wahrscheinlich, daß der Absceß nahe an der Harnblase
um den Proc. vermiformis herum in der Nähe der Linea terminalis lag. Es
wurde ein Schrägschnitt zwischen dem XTT. Costal- und L Lumbalnerven
gemacht, mit Teilung der Rectusscheide und Unterbindung der Vasa epi-
gastr. inferiora. Es fand sich kein Oedem in der Subserosa und keine
vermehrte Gefößinjektion an der Außenseite des Peritoneum. Li der Fossa
iliaca sah man das Coecum, das blaß war; es war zum großen Teile von
blassem Omentum bedeckt; man sah eine freie seröse Flüssigkeit, in
Meine Erfahrangen über Appendicitis. 339
bedeutender Menge rechts nach oben am Winkel des Colon, um den
rechten Leberlappen. Als der rechte Teil des Omentum beiseite ge-
schoben wurde, fand man, daß sich das Goecum fast bis hinunter an des
Ligam. Poupartii erstreckte und daß der Proc. vermiformis lang war, um-
geben von Omentum und wahrscheinlich am Os pubis festgewachsen.
Zwischen Omentum, Harnblase und Dünndärmen sah man in der Mittel-
linie und unten im kleinen Becken ein sero-purulentes Exsudat. Dieses
wurde mit Kochsalzkompressen äußerst sorgfllltig ausgetupft. Deutlich
sah man, daß ein Absceß zwischen Omentum, Harnblase, Os pubis und
Proc. vermiformis geborsten war. Als das Omentum und der Proc. vermi-
formis abgelöst und in die Wunde vorgezogen wurden, fand sich nämlich
noch ein wenig Eiter um den Proc. vermiformis herum, dessen Serosa an
der Spitze granulierend war, aber ohne daß man eine Perforation an ihr
entdecken konnte. Alle hier sichtbaren Därme zeigten Ge&ßinjektion, je-
doch in sehr verschiedenem Grade. Man sah keine Fibrinbeläge, aber
wohlausgebildete gefUßreiche Bindegewebsstränge und Bänder. Der Proc.
vermiformis wurde ezstirpiert in der gewöhnlichen Weise wie im freien
Intervall. Der unterste Teil der Bauchwunde wurde in der Muskulatur
mit 3 Reihen versenkter Catgutnähte zusammengenäht; der Rest der
Wunde wurde offen gelassen. Die ganze Hautwunde wurde offen ge-
lassen. Man drainierte die Bauchhöhle mit sterilen Gazestreifen längs
beiden Seiten des Colon ascendens und des Goecum, sowie um die Harn-
blase herum. Danach wurde ein gleicher Schnitt auf der linken Seite
gemacht; hier war die Außenseite des Peritoneum bedeutend injiziert, so
verhielt es sich auch mit allen sichtbaren Dünndärmen und, obwohl in
geringerem Grade, mit der Flexura sigmoidea, die mit festen Scybalis ge-
fällt war. Man sah eine geringere Menge freier seröser Flüssigkeit links
in der Bauchhöhle, als man rechts gesehen hatte. Das beruhte möglicher-
weise darauf, daß die Flüssigkeit vorher während der Operation in das kleine
Becken hinabgelaufen und dort ausgetupft worden war. Die ganze linke
Bauohwunde wurde offen gelassen und die Bauchhöhle mit steriler Gaze
drainiert, die an beiden Seiten am linken Golon eingelegt wurde zwischen
der vorderen Bauchwand und den Dünndärmen, sowie im kleinen Becken
zwischen Beckenwand und Dünndärmen. Der Appendix ist lang; ein
Stück Omentum ist an ihm festgewachsen; an Omentum und Appendix
sieht man eiterige Beläge; eine Perforation konnte nicht entdeckt werden.
3 cm vom cökalen Ende ist das Lumen obliteriert; proximal davon ist
die Schleimhaut geschwollen, aber blaß, und die Wandung in ihrer Gesamt-
heit hat ungefähr normale Beschaffenheit und Dicke. Distal davon ist
die Schleimhaut stark injiziert, zeigt zahlreiche Blutungen und ist an
gewissen Stellen ganz verschwunden. Die Wandung in ihrer Gesamt-
heit ist geschwollen, besonders betrifft dies die Submucosa. Dieser distale
Teil des Proc. vermiformis war gefüllt mit einer schmutzigen, blutigen
Flüssigkeit, die unter einem gewissen Drucke stand. Am Mesenteriolum
fühlte man keine geschwollenen Lymphdrüsen.
Bei der Operation am 11. April war ein größerer Absceß zwischen
den Därmen im kleinen Becken entleert worden von der Vagina aus.
Zurückgeblieben war ein kleineres, begrenztes eiteriges Exsudat, das um
den Proc. vermiformis herum an der Seite der Harnblase lag. Dieses war
wahrscheinlich die Ursache davon gewesen, daß die Pat. den Harn nicht
selbst lassen konnte, bevor sie sich am 21. April im Bette auf die Kniee
erhob und in dieser Stellung ihre Blase entleerte. Die Darmperistaltik
und die Kontraktionen der Bauchwand im Zusammenhange mit 3 Darm-
340 K. G. Lennander,
entleerungen waren wahrscheinlich das Moment, das einen Durchbruch in
die freie Bauchhöhle hervorrief, ungefähr 4 Uhr 25 Min. nachuL Das Perito-
neum reagierte auf die Infektion durch rasche Bildung eines seropurulenten
Exsudats im Hypogastrium (und eines serösen Exsudats in der übrigen
Bauchhöhle) 1), im Verein mit einer bedeutenden Geftlßinjektion im Hypo-
gastrium und nach links zu im Bauche.
Abend und Nacht desselben Tages. Darmausspülung alle
4 Stunden. Nach jeder Aussptüung eine Eingießung von 200 g einer
Kochsalzlösung in das Rectum, 15 g Cognac und 15 g Traubenzucker.
1500 g Kochsalzlösung subkutan mit 5 Proz. Traubenzucker und 2 Proz.
Spiritus (aa 75 g Traubenzucker und 30 g Spiritus). Nach Bedarf wird
den Mastdarmeingießungen eine Infusion von 0,15 g Puly. fol. digitalis
zugesetzt, oft zusammen mit 15 Tropfen Tinct. strophanthi. Pat. genas
allmählich unter fortgesetzter gleicher Nachbehandlung, die den Zweck
hatte, 1) die Darmperistaltik sobald als möglich in Gang zu bringen,
2) die Herztätigkeit und den Allgemeinzustand zu heben und 3) dem
Körper eine nach dem Funktions vermögen des Herzens und der Nieren
angepaßte, möglichst große Flüssigkeitsmenge zuzuführen, zuerst auf intra-
venösem, subkutanem und rektalem Wege und dann per os, um dadurch
eine lebhafte Flüssigkeitsabsonderung von den drainierten Teilen der
Peritonealhöhle aus hervorzurufen und dadurch die Mikroben und Toxine
aus der Bauchhöhle in den Verband fortzuschaffen. Die Bauchwunde
wurde mit Ausnahme der Haut am 11. Mai genäht. Die Pat. wurde ge-
sund entlassen am 30. Mai.
Epikrise. 2 Tage lang (4. — 6. April) Symptome einer akuten Gastro-
enteritis, darauf einer akuten Appendicitis mit intraperitonealer Suppuration
im kleinen Becken. Nach 5 Tagen (am 11. April) wird eine große Menge
Eiter durch die Vagina aus dem kleinen Becken entleert. Danach wird
das Allgemeinbefinden gut, die Albuminurie verschwindet, die Temperatur
wird normal und die Pulsfrequenz ist einige Tage lang niedrig, 60 — 64.
Die Pat. ist schmerzfrei und hat keine lokale Empfindlichkeit. Flatus
gehen spontan ab. Spontane Darmentleerungen stellen sich 6 Tage nach
der Operation (11. April) ein, aber später nicht mehr. Am 14. Tage
(23. April) hat die Pat. ein unbestimmtes Uebelbefinden und der Puls
steigt von 64 auf 88. Man nahm an, daß diese Veränderung des Allge-
meinbefindens und der Pulsfrequenz mit einer Resorption von den mit
Faeces gefällten Därmen in Zusammenhang stehe. Das Rectum wird
entleert durch vorsichtige Ausspülungen. Im Zusammenhang mit einer
unmittelbar danach eintretenden spontanen Ausleerung bekommt die Pat.
einen heftigen Perforationsschmerz. Die Temperatur steigt bis 39,6®
binnen 2 Stunden, am Morgen hatte sie 36,7 ® betragen. Die Pulsfrequenz
steigt bis 100; am Morgen war sie 88 gewesen. Lokal: Druckempfind-
lichkeit und Muskelspannung. Eine Leukocytose von 24000—30000 2 Stun-
den nach der Perforation bestärkt uns in der Auffassung, daß ein intra-
peritonealer Eiterherd geborsten ist. Wir betrachten es nämlich als sicher,
daß es der Eiter von diesem bei der Operation nachgewiesenen zirkum-
skripten Abscesse ist, der die Leukocytose noch vor der Perforation hervor-
gerufen hat. Als nächste Folgen der Perforation sehen wir eine diffuse
Hyperämie und im Hypogastrium ein seropurulentes freies Exsudat Wie-
weit das seröse Exsudat, das sich höher oben im Bauche, um die Leber
1) Siehe die Epikrise.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 341
herum u. 8. w., vorfand, nach der Perforation des periappendikulären Abs-
cesses sich gebildet hatte oder schon vorher vorhanden gewesen war,
darüber wage ich eine Ansicht nicht auszusprechen.
Fall VIII. Mann, 26 Jahre alt, No. 42ÖA, 1899. Appendicitis
acuta gangraenosa non perforans cum periappendicitide
purulenta putrida circumscripta et peritonitide sero-puru-
lenta progrediente. Nach 47 Stunden Laparotomie mit
Ezstirpation des Appendix. Heilung.
Fat. hat vorher zu 3 verschiedenen Malen Anfalle von Schmerzen
im Bauche gehabt Diese sind indessen ganz gelinde gewesen und bald
vorübergegangen. Ben letzten Anfall hatte Fat vor 13 Monaten gehabt.
Er wurde damals in der medizinischen Abteilung des hiesigen Kranken-
hauses vom 3. — 6. Oktober 1899 behandelt unter der Diagnose Gastro-
enteritis acuta; die Behandlung bestand in Anwendung von Eisblase
und Klystieren. Die Stnhlentleerung des Fat. war in der letzten Zeit
sehr unregelmäßig gewesen, abwechselnd war Diarrhöe oder Verstopfung
vorhanden gewesen. Freitag den 8. Dez. 2 Uhr nachm. begann Fat.
„Kneipen im Magen ^ zu bekommen; um 3 Uhr afi er zu Mittag und ver-
zehrte dabei unter anderem eine große Fortion Weißkohl; unmittelbar
nach der Mittagsmahlzeit nahm das Kneipen zu und steigerte sich bald
bis zu wirklichen Schmerzen. Vor 2 Uhr nachm. hatte Fat. 2 große
dünne Ausleerungen dicht nacheinander gehabt. Zwischen 2 und 6 Uhr
nachm. 2mal Erbrechen. Die Schmerzen dauerten während des Nach-
mittags und der Nacht zum Sonnabend, 9. Dez., mit wechselnder Intensität
fort, bald stärker, bald schwächer. Sie waren lokalisiert im unteren Teile
des Bauches, etwas stärker auf der rechten Seite. Keine Stuhlentleerung,
kein Abgang von Blähungen. Sonnabend den 9. Dez. war der Zustand
ziemlich unverändert, die Schmerzen waren aber geringer. Abends 10 Uhr
wurde die Temperatur gemessen, sie betrug 38,2 <'; die Fulsfrequenz war
zu derselben Zeit 98; Fat. war da fast frei von Schmerz.
Bei der Falpation des Bauches ^), der nicht aufgetrieben oder gespannt
erschien, gab Fat ziemlich starke Empfindlichkeit an auf der rechten Seite
des Bauches auf einem kleinen Bezirke dicht oberhalb des Ligam. Fou-
partii. Diese Empfindlichkeit nahm nach allen Richtungen hin rasch ab.
Deutliche Empfindlichkeit fand sich jedoch in der Gegend um den Nabel
herum, etwas Empfindlichkeit auch über der linken Fossa iliaca, doch ver-
legte Fat. den Schmerz bei der Falpation dieser Stelle auf die rechte
Seite. Bei Falpation vom Rectum aus fand sich keine Ausbuchtung und
keine Empfindlichkeit. Am Abend gingen zu wiederholten Malen Blähungen
spontan ab. Um 2 Uhr in der Nacht auf Sonntag den 10. Dez. war die
Temperatur 38,4 <^. Unmittelbar nachdem Fat seine Temperatur selbst
gemessen hatte, stand er auf, um Wasser zu lassen. Eine kurze Zeit
danach bekam er intensive Schmerzen im Bauche. Diese dauerten von da
an in wechselnder Intensität fast bis gegen 9 Uhr am Sonntag Vormittag.
Die Temperatur war in der Nacht allmählich gestiegen und betrug am
9 Uhr vorm. 39,7®. Im Laufe des Freitags und des Sonnabends hatte
Fat zusammengenommen 8 — 9mal Erbrechen gehabt; das Erbrochene war
1) Diese Untersuchung wurde von einem Freunde des Fat., Amanuensis
Cand. med. Edwin Helling, ausgeführt, dem ich die anamnestischen Daten
zu danken habe.
342 K« G. Lennander,
nicht übelriechend. Am Sonntag Morgen nm 10 Uhr hatte Pat. keine
Schmerzen. Mehrere reichliche Entleerungen von Blähungen erfolgten
spontan. Um 11 Uhr wurde Fat. in das akademische Krankenhaus ge-
bracht. Bei seiner Ankunft daselbst war er schmerzfrei, aber kurze Zeit
danach bekam er wieder heftige Schmerzen im Bauche.
Aufzeichnung bei der Ankunft im Krankenhause: Der
Bauch ist deutlich aufgetrieben. Bei der Palpation des Bauches ist Fat.
überall unterhalb des Nabels empfindlich. Am stärksten tritt die Empfind-
lichkeit hervor auf einem kleinen Bezirke auf der rechten Seite dicht
oberhalb des Ligam. Poupartii. Bei der Palpation vom Bectum aus fühlt
man eine gespannte Ausbuchtung, die bis etwas nach unten vom oberen
Bande der Prostata reicht, Druck darauf erzeugt große Schmerzen.
Ueber Puls und Harn findet sich keine Aufzeichnung. Eine vollständige
chemische und mikroskopische Untersuchung des Harns wurde jedoch am
11. und 13. Dez. ausgeführt und seitdem mehrere Male, ohne daß irgend-
welche pathologische Bestandteile angetroffen wurden. Es ist deshalb
anzunehmen, daß der Harn vor der Operation kein Eiweiß enthielt. Die
Operation wurde sofort ausgef&hrt, da man eine akute (wahrscheinlich
gangränöse) Appendicitis und eine sich ausbreitende Peritonitis dia-
gnostizierte.
Operation am 10. Dez. 1 Uhr nachm. Schnitt längs des Ligam.
Poupartii und der Crista ossis ilei dextri. Im subserösen Bindegewebe
Oedem. Als das Peritoneum durchschnitten wurde, kam eine seröse
Flüssigkeit hervor. Man sah ein injiziertes Coecum, ein gerötetes Omentum
und injizierte Dünndärme. Die Därme wurden durch Kochsalzkompressen
geschützt. Ungefähr an der Linea terminalis fand man einen gelben,
dicken, fibrinösen Belag und hier fühlte man im kleinen Becken eine
Besistenz längs des mittelsten Teiles der rechten Beckenwand. Ein
roter Appendix mit gelben Brandflecken fand sich in der Eiterhöhle, mit
der Spitze gerade nach vom gerichtet. Eine Zange wurde über dem
Mesenteriolum angesetzt, eine andere über der Basis des Proc vermiformis,
der weggeschnitten wurde. Im kleinen Becken fand sich eine große
Menge &^eier, dünnflüssiger, grauer Flüssigkeit, die man ausrinnen zu lassen
versuchte dadurch, daß man den Pat auf die rechte Seite legte, während
die Därme zurückgehalten wurden. In den Boden des kleinen Beckens
wurden 2 Drainrohre eingelegt ; dabei kam ein wenig gelber Eiter hervor,
der deutlich daher rührte, daß das Dicke von dem Exsudat sich zu Boden
gesetzt hatte. Es wurde mit Jodoformgaze zwischen den beiden Zangen
am Proc. vermiformis und am Mesenteriolum tamponiert, im übrigen mit
steriler Gaze. Die ganze Bauchwunde wurde offen gelassen. 3 ELaut-
faltensuturen von Seide. Der exstirpierte Appendix enthielt 3 kleine
Fäkalsteine. Die Schleimhaut war überall gangränös und an manchen
Stellen erstreckte sich der Brand nach außen bis zur Serosa. Keine Per-
foration.
Es ist anzunehmen, daß sich der periappendikuläre
Herd am 8. — 9. Dez. entwickelte und daß dieser in das
kleine Becken in der Nacht vor dem 10. Dez. barst und zu
einer fortschreitenden eiterigen Peritonitis führte.
Diagnose bei der Operation: Appendicitis acuta gangraenosa
non perforans cum periappendicitide purulenta circumscripta et peritonitide
purulenta libera pelvis minoris et peritonitide serosa libera infraum-
bilicalis.
Fat. wurde gesund und am 23. Jan. 1900 entlassen. Unge&hr
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 343
5 Monate nach der Entlassung hatte Fat. einen kleinen, obliquen, rechts-
seitigen, beweglichen Leistenbruch. Dieser wuchs und konnte mit einem
Bruchbande nicht zurückgehalten werden. Außerdem fand sich eine
schwache Stelle in der Narbe an der Spina ilei ant. snperior. Es ist
wahrscheinlich, daß Fat. den Leistenbruch deswegen bekommen hat, weil die
Bauchwand durch die Operation geschw&cht war. Am 10. Okt. 1901
wurde der Bruch operiert. Aus dem Operationsberichte ist folgendes an-
zuführen. Schnitt in der alten Narbe. Man gelangte frei in die Bauch-
höhle hinein. Das Omentum war mit dem Coecum und dem nächsten
Teile der vorderen Bauohwand oberhalb des Ligam. Foupartii verwachsen«
Es wurde abgelöst und nach oben in die Bauchhöhle verschoben. Das Coecum
war an die vordere Bauch wand und an die Eossa iliaca festgewachsen.
Im übrigen fand sich keine einzige Adhärenz, sondern die
Serosa der Dünndärme und der Harnblase hatte ein natür-
liches Aussehen. Die Einmündungssteile des Ileum in das Coecum
sah man, aber den Augangspunkt des Appendix konnte man nicht finden.
Heilung per primam inten tionem. Im Sept. 1902 war Fat vollständig
gesund.
Zur Diskussion kommen diejenigen Fälle, in denen man Grund
hat anzunehmen, daß die fortschreitende Peritonitis serös^ serofibrinös
ist, d. h. hierher gehört aller der Wirrwarr, der „Peritonismus", „peri-
toneale Reizung'' genannt wird. Ist hier die „Reizung" über einen be-
deutenden Teil des Peritoneum ausgebreitet, sind die lokalen Symptome
in der Gegend des Proc. vermiformis stark hervortretend, ist der
Kräflezustand des Patienten noch gut, so operiere ich sofort, in der
Hoffnung, einen vielleicht noch nicht geborstenen gangränösen Proc«
vermiformis mit einer serösen Peritonitis in der Umgebung zu finden.
Sollte sich bereits eine eiterige Peritonitis eingestellt haben, so kann
ich teils die Infektionsquelle selbst, den Proc. vermiformis, entfernen
teils die umgebenden Teüe der Serosa, die am meisten beschädigt sind,
drainieren und tamponieren („extraperitoneal legen"). Dadurch wird
die weitere Zufuhr von Toxinen und Mikroben zu dem mehr oder
weniger weit ausgedehnten Serosabezirk abgeschnitten, in dem „Peri-
tonismus" besteht, d. h. zu den Abschnitten der Bauchhöhle, in welchen
man bei der Operation einfach Hyperämie findet oder Hyperämie mit
vermehrter seröser Flüssigkeit, möglicherweise auch dünne Fibrinab-
lagerungen oder vielleicht nur eine Trübung der Serosa, wo aber die
Darmwand noch nicht nachweisbar verdickt und die
Peristaltik noch kräftig ist. Beispiele sind die Fälle IX, X, XI
und XII. Ich führe so viele Beispiele auf, weil ich diese Frage für
äußerst wichtig halte.
Fall IX. Mann, 38 Jahre alt, Brauereiarbeiter, No. 460 B, 1895.
Appendicitis gangraenosa non perforans cum hyperaemia
diffusa peritonei. Laparotomie und Exstirpation desFroc.
vermiformis nach ungefähr 22 Stunden.
Fat., der sehr fett und cyanotisch an den Wangen ist, hat nach
seiner eigenen Meinung nie an Blinddarmentzündung gelitten. Im Ver-
344 K. G. Lennander,
lauf von 2 Jahren hat er dmal An&lle eines ünterleibsleidens gehabt,
das vom Arzt als auf Darmocclusion beruhend betrachtet nnd demgemäß
mit wiederholten Klystieren und Barmausspülungen behandelt wurden. Der
schwerste dieser Anfalle dauerte vom Mittag des einen Tages an bis zum
Abend des folgenden Tages. Außerdem hatte Pat. im April 1895 einen
ganz leichten 4. Anfall. Zwischen den Anfällen hat sich Pat wohl
befunden und ist nur von Magensäure und Aufstoßen beschwert gewesen.
Sonntag den 6. Okt. abends begann er Leibschmerzen zu fühlen, die um
10 ühr bedeutend zunahmen nach einem geringen Prost. Gleichzeitig
stellte sich Erbrechen ein, das mit wenig Unterbrechung fortdauert« bis
um 8 ühr am folgenden Morgen (7. Okt.). Um 11 Uhr 30 Min. vorm.
von neuem Erbrechen. Das Erbrochene bestand zum größten Teile aus
Schleim. Danach kein Erbrechen, auch keine spontanen Schmerzen im
Bauche, nur ein Gefühl von starker Empfindlichkeit unterhalb des Nabels.
In der Nacht zum 7. Okt waren wiederholt Wasserklystiere gegeben
worden, teils in Seitenlage, teils in Knie-Ellenbogenlage. Auf sie folgte
ein ganz unbedeutender Abgang von Gasen und Paecos. Die größte
Wassermenge, die auf einmal eingegossen wurde, betrug etwa bis 2,6 1.
Um Vs^ U^ ^^ ^^^ Nacht wurden 2 cg Morphium subkutan gegeben mit
nur geringer Linderung der Schmerzen, die in „Kneipen mitten im Magen ^
bestanden, anfallsweise heftig waren, mit wenige Minuten langer Er-
leichterung. Bei wiederholten Untersuchungen des Bauches konnte keine
Empfindlichkeit in der Possa ileocoecalis nachgewiesen werden, wohl aber
dicht unterhalb des Nabels auf einem Umkreise von der Größe einer
flachen Hand. Die größte Empfindlichkeit bestand nach rechts unterhalb
des Nabels, wo man bei tiefem Druck nach dem rechten Bippenrand zu
eine abgerundete Resistenz zu fühlen glaubte. Ueber demselben Umkreis
ganz stark gedämpfter Perkussionsschall. Während der ganzen Zeit kein
spontaner Abgang von Blähungen. Temperatur am 7. Okt. 1 Uhr 30 Min.
nachm. 37,9^ im B.ectum, 37,4 <) in der Achselhöhle. Puls während der
Nacht vom €. zum 7. Okt. um 130 — 140 herum, nicht regelmäßig; am
Morgen des 7. Okt. 104, am Nachmittag 108 — 120. Nach der Aufnahme
im Krankenhause am 7. Okt. abends ein Klystier von 3 1, das nach einer
Weile entleert werden mußte, ohne daß irgendwelche Gase dabei ab-
gingen. Der Bauch war nicht erwähnenswert aufgetrieben. Puls 120,
Temp. 38,9 ö im Rectum.
Operation am 7. Okt. abends. Chloroform- Aethernarkose. Pat.
vertrug sowohl Aether als Chloroform sehr schlecht, so daß die Narkose
nicht einmal vollständig war, was viele Schwierigkeiten mit den Därmen
verursachte. Laparotomie durch den rechten Muse, rectus abdom. 2 cm
von der Mittellinie. Zuerst wurde eine herabhängende Schlinge vom
Colon transversum angetroffen. Sie war blaß und zusammengefallen; an
der Spitze dieser Schlinge war das Omentum majus zusammengebacken
zu einer nahezu mannsfaustgroßen Masse. Auch nach links von dieser
Stelle war das Netz verändert. So fand sich hier ein großes Loch im
Omentum, das rund herum um dieses Loch bedeutend verdickt war. Es
wurde von seiner Peripherie an bis zu dem Loche gespalten. In die
Bauchwunde drängten sich eine Menge Dünndarmschlingen vor, von denen
einige blaß und zusammengefallen, andere etwas mehr rosafarbig wie ge-
wöhnlich und mäßig ausgedehnt waren. Gerade an der Stelle, wo Pat.
empfindlich gegen Druck war, nach unten zu und rechts vom Nabel, fUhlte
man ein Gebilde, das am meisten an die Form eines Eisenhakens erinnerte,
dessen gerader Teil gerade nach hinten gerichtet, während der abgerundete
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 345
nach vom und unten gerichtet war. Nachdem naheliegende Darmschlingen
mit Hilfe von Kompressen zur Seite gebracht waren, wurde das genannte
Gebilde als Proc. vermiformis erkannt. Er war wohl zeigefingerdick und
das Mesenteriolum war es, das durch seinen Zug die eigentümliche Form
und Stellung bewirkte. Nach Durchtrennung des Mesenteriolum wurde die
Basis des Appendix zwischen 2 Ellemmzangen durchgebrannt, von denen
die eine am Stumpfe gelassen wurde. Rund um die Zange herum wurde
mit Jodoformgaze tamponiert, im übrigen wurde die Bauchhöhle mit
3 Reihen Catgutsuturen und Silkwormgut in der Haut geschlossen. Das
Coecum war groß und beweglich und lag weit nach der Mittellinie zu.
Der ganze herausgenommene Proc. vermiformis war gangränös und von
einer stinkenden schmierigen Masse erfüllt.
Nach der Ankunft im Krankenhause hatte man am meisten an eine
akute Appendicitis gedacht. Hierfür sprach das Einsetzen der Krankheit
mit einem Froste, das heftige Erbrechen und die Schmerzen, die beide
nach Verlauf von mehr als einem halben Tage aufhörten, um einer ziem-
lich begrenzten Empfindlichkeit Platz zu machen. Ferner die Temperatur-
steigerung am Schlüsse des ersten Tages (37,7 — 38,9®), sowie die relativ
hohe Pulsfrequenz während des ganzen Verlaufes. Als die- Schmerzen
nachgelassen und das Erbrechen aufgehört hatten, war der Puls langsamer
geworden, aber er wurde wieder rascher, als die Temperatur stieg. Die
Rekonvaleszenz wurde durch psychische Unruhe und schwache, rasche
Herztätigkeit gestört. Pat. wurde am 1. Sept. 1902 wieder untersucht.
Er war gesund, was den Unterleib betrifft, aber er hat seit einigen Jahren
einen mittelschweren Diabetes mellitus.
Fall X. Mann, 21 Jahre alt, No. 122B, 1900. Appendicitis
acuta catarrhalis haemorrhagica cum peritonitide puru-
lenta ineipiente. Nach ungefähr 27 Stunden Laparotomie
und Exstirpation des Proc. vermiformis. Heilung.
Zu Weihnachten erkältete sich Pat. und bekam Kneipen und Schmerz
im Bauche, besonders in der rechten Fossa iliaca. Seitdem hat er hie
und da Schmerzen und Stechen in der rechten Fossa iliaca verspürt.
20. März. Pat. wird im Krankenhause wegen einer suppurierenden Lymph-
adenitis in der linken Leiste behandelt. Die Drüsen sind exstirpiert worden
und die Wunde granuliert. Pat. hat heute Temperatursteigerung — Abend-
temp. 38,2 ® — woftlr sich keine andere Ursache fand als eine unbedeu-
tendeRötung imHalse. Besonders ist bemerkt, daß er keinerlei Sym-
ptome von Seiten des Bauches hat. Stuhlentleerung normal. 21. März. Temp.
37,7 — 37,8 ®. Um 3 Uhr nachm. bekam Pat. heftige Schmerzen im ganzen
Bauche, mit Schwierigkeit, Blähungen zu lassen, und Uebelkeit^ jedoch ohne
Erbrechen. Bei der Untersuchung zwischen 6 und 7 Uhr abends fand man
den Bauch weich, aber etwas eingezogen, sowie eine diffuse, heftige Em-
pfindlichkeit für Druck über dem medialen Teile der rechten Fossa iliaca.
Puls gleichmäßig, 96. Behandlung: Eisblase, 5 cg Opium in einem Suppo-
sitorium, sowie Fasten. Dessenungeachtet dauerten die Schmerzen fort
mit fast vermehrter Heftigkeit und waren nicht an einem bestimmten Teile
des Bauches lokalisiert. Um 11 Uhr abends war der Bauch fortwährend
eingezogen und die Empfindlichkeit hatte zugenommen. Sie hatte sich auf
die linke Fossa iliaca ausgebreitet. Pat. zeigte auch etwas Empfindlichkeit
im Rectum. Die Uebelkeit dauerte fort, ohne daß es zu Erbrechen kam.
Temperatur in der Achselhöhle 37,7 <>, Puls 104. Pat. bekam 0,01 g
Morphium subkutan, sowie ein Opiumsuppositorium mit 0,05 g. Danach
346 K. G, Lennander,
hatte er 3—4 Stunden Schlaf. Schmerzen im späteren Teile der Nacht
im Abnehmen begriffen. 22. März. Am Morgen hatte sich die Empfind-
lichkeit nicht aasgebreitet, sondern eher vermindert. Pols 104, Temp.
im Bectum 38*>. Kein Eiweiß im Harn. Während der Nacht waren
Blähungen mit Hilfe des Darmrohres abgegangen. Am Vormittag hat Fat
quälenden Singultus. Temp. 4 ühr nachm. 38,1^, Puls 112. Pat. machte
den Eindruck eines schwer Ejranken. Es fand sich eine gewisse „Reizung"
des Peritoneum fast überall unterhalb des Colon transversum. Den peri-
appendikulären Herd dachte man sich ungefUir an der Linea innominata
dextra liegend.
Operation 5 Uhr 30 Min. nachm. Der Bauchschnitt wurde
oberhalb des Ligam. Poupartii gemacht mit Durchschneidung der Vasa
epigastr. inf. Im subserösen Bindegewebe fand sich kein Oedem. Die
Serosa am Coecum und an den nahe gelegenen Därmen zeigte lebhafte
OefälSinjektion. In der Possa iliaca dextra eine Spur von klebriger Flüssig-
keit. Als man das Coecum hervorzog, um zum Proc. vermiformis zu ge-
langen, kamen ein paar Eßlöffel Eiter aus dem kleinen Becken heraus.
Der Proc. vermiformis wurde in die Wunde hervorgeholt; er war in
seiner Mitte zusammengeklappt wie ein Taschenmesser und der distale
Teil bedeutend mehr geschwollen als der proximale. An ein paar her-
vordrängenden Dünndärmen sah man fibrinöse Beläge. Der Proc. vermi-
formis wurde exstirpiert wie bei Operationen k froid. Als man dann
die Därme aus dem kleinen Becken hinwegschob, konnte man an keiner
Stelle mehr eiteriges oder flüssiges Exsudat entdecken. Man hatte den
Eindruck, daß der Eiter um den Proc« vermiformis herum lag, aber nicht
abgekapselt war. Der rechte Teil des kleinen Beckens wurde mit ste-
riler Gaze tamponiert, in die ein dickes Drainrohr eingelegt wurde. Um
das Coecum und Colon ascendens herum wurde ebenfalls mit steriler
Gaze tamponiert. Die ganze Bauchwunde wurde offen gelassen. Der
exstirpierte Appendix war 6,6 cm lang; als er aufgeschnitten wurde, fand
sich der distale Teil mit übelriechendem Eot gefüllt. Die Schleimhaut
in dem ganzen Appendix war geschwollen und besonders im distalen
Teile von Blutungen durchsetzt.
Pat. wurde gesund entlassen und war im Mai 1902 noch gesund.
Pall XL Rekrut, 21 Jahre alt, No. 166A, 1902. Empyema
proc. vermiformis cum gangraena membranae mucosae et
cum peritonitide serosa incipiente et lymphadenitide meso-
coli. Laparotomie mit Exstirpation des Proc vermiformis
nach ungefähr 20 Stunden. Heilung.
16. MaL Pat. hat nie an Störungen von Seiten des Verdauungskanals
gelitten bis vor 1 Jahre, wo er eines Tages heftige Schmerzen im Bauche
und Erbrechen bekam; Schüttel&'öste hatte er nicht. Die Schmerzen
waren in der Mitte des Bauches lokalisiert. Danach war er gesund, be-
kam aber bei kalten Füßen ELneipen im ünterleibe. Ebenso ver-
hielt es sich nach fetter Kost. Gegenwärtige Krankheit. Pat.
erkrankte um 12 Uhr in der Nacht mit heftigen Schmerzen über dem
ganzen Bauch, bekam unmittelbar danach eine etwas harte Entleerung
und erbrach die ganze Nacht. Gestern hatte er keine Stuhlentleerung
gehabt, aber vorgestern eine normale. Gestern Nachmittag hatte er
Schmerz über dem Nabel gehabt und hatte vornübergebeugt bei dem
Exerzieren gehen müssen, wobei der Druck der Kleider ihm Schmerz iu
der Magengrube verursachte. Als Abendbrot verzehrte er Grütze, Milch
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 347
und etwas weiches Brot. Heute Morgen am 8 Uhr bekam Pat. plötzlich
heftigen Schüttelfrost, der nur einige Minuten dauerte. Nach dem Frost
am Morgen sind keine Blähungen abgegangen. Pat. hat den ganzen Tag
starke Schmerzen im Bauche gehabt. Er wurde im Begimentskranken-
hause behandelt mit Fasten, Eisblase und Stillliegen und wurde abends
um 6 Uhr in das akademische Elrankenhaus gebracht.
Status praesens bei der Ankunft Pat ist von kräftiger
Eörperkonstitution. Gesichtsfarbe blafi. Ueber Lungen und Herz ist
nichts zu bemerken. Bespirationsfrequenz vor der Operation 26. Nasen-
flügelatmen. Harn klar, hellgelb, von saurer Beaktion, enthält kein Ei-
weiß. Pat hat heftige Schüttelfröste, Temp. während des Frostes 38^,
Puls um 128 herum, klein und etwas unregelmäßig. Der Bauch ist nicht
aufgetrieben, die Muse, recti zeichnen sich ab. Bei der Palpation spannt
Pat. den Bauch bretthart, mehr oben an den Thoraxrändem als unten
nach den Leistenfalten zu und vielleicht etwas mehr auf der rechten als
auf der linken Seite. Pat ist am empfindlichsten in der rechten Fossa
iliaca, besonders über dem Mac BuRNATSchen Punkt und medial von
diesem. Bei tiefem Druck erstreckt sich jedoch die Empfindlichkeit quer
über das Bückgrat, ungefthr gleich weit nach links wie nach rechts, und
reicht aufwärts bis 4 — 5 cm über den Nabel hinauf und nach unten zu
ebensoweit unterhalb desselben. Ebenso gibt Pat etwas Empfindlichkeit
im Epigastrium an, sowie ganz unbedeutende im linken Hypochondrium.
Dagegen wird in den Lendengegenden keine Empfindlichkeit angegeben.
Der Perkussionsschall ist überall tympanitisch. Keine Dämpfung außer
möglicherweise etwas kürzerem Schall, ein paar Fingerbreiten über beiden
Ligam. PoupartiL Leukocyten 5200. Temp. abends 6 Uhr 40 Min., als
der Schüttelfrost aufgehört hatte, 40,1 o im Bectum, 7 Uhr 15 Min. 40,7 o
im Bectum und 40,1 ^ in der Achselhöhle. 7 Uhr 30 Min, abends wurde
operiert
Operationsbericht Man hatte die Diagnose auf eine gangränöse
Appendicitis gestellt, wobei der Appendix noch nicht geborsten war, und
man dachte sich, daß der Appendix weit oben in der Fossa iliaca hinter
dem Coecum liegen würde, wegen der unbedeutenden Empfindlichkeit an
der vorderen Bauchwand. Schrägschnitt über dem oberen Teile der Fossa
iliaca. Bei der Eröfinung des Peritoneum rann sofort etwas klares Serum
aus. Das Coecum war mäßig injiziert an seiner Vorderseite ; es konnte
in die Wunde vorgezogen werden. Man sah dabei ein paar Eßlöffel klaren
Serums in der Fossa iliaca. Fibrin wurde nicht gesehen. Der Appendix
war ungefähr 8 cm lang; er lag hinter dem medialen Teile des Coecum
und war durch alte Adhärenzen an diesen Darm und an die Fossa iliaca
geheftet. Der Appendix war erst nach unten gerichtet; danach war er
doppelt geknickt, das geschah ungefähr 3 cm vom Coecum entfernt. Der
längere, distale Teil des Appendix war nach oben und außen gerichtet.
Durch eine alte, sehr feste, bandförmige Adhärenz war diese Knickung
des Appendix an die hintere Bauchwand vor der Linea terminalis fixiert.
Der distale Teil des Appendix war bedeutend dicker als der proximale,
er hatte den Umfang des kleinen Fingers eines Mannes oder noch mehr,
war hochrot von Farbe und besonders fest anzufühlen. Im Mesenteriolum
wurden 3 geschwollene Lymphdrüsen gefühlt, sie waren wie Erbsen. Im
Mesocolon zwischen Beum und Colon wurden mehrere größere geschwollene
Drüsen gefühlt Die Darmserosa am Beum hatte ein fast natürliches Aus-
sehen und die Darmwand erschien nicht geschwollen. Der Appendix wurde
exstirpiert auf die gewöhnliche Weise wie während des freien Intervalls.
348 E. O. Lennander,
Eine geschwollene Lymphdrüse wurde entfernt. In der Baachwnnde
2 Reihen versenkter Catgutnähte, in der Haut Silkwormgutn&hte, die se-
kundär geknotet werden sollten ; keine Drainage. Die Muskulatur erschien
ungewöhnlich dunkelrot. Die Operation wurde bei Gaslicht ausgeführt.
Beschreibung des Appendix. In dem proximalen Ende war
das Lumen stark verengt in einer Ausdehnung von 1 cm und hier an
einer Stelle sogar vollständig obliteriert. Danach kam eine ungefthr 4 cm
lange erweiterte Partie, gefüllt mit dickem gelben Eiter, der uoter starkem
Druck stand; die Schleimhaut war mit Blut imbibiert, gangränös und an
einer Stelle in der Nähe des distalen Endes vollständig zerstört, so daß
die Muacularis bloß lag. In Schabpräparaten von dieser Stelle konnte
kein Epithel entdeckt werden. Kein Fäkalstein, keine Perforation. An
der Stelle der Obliteration war der Appendix im Winkel gebogen.
Verlauf. An demselben Tage erhielt Pat 2500 com Kochsalz-
lösung intravenös, 100 g Infusion von 15 cg Pulv. foL digit. mit 7 Tropfen
Tinct. strophanthi und 2 Eßlöffel Cognac in Klystieren, bis auf weiteres
alle 4 Stunden; 0,20 Kampfer alle 8 Stunden. 17. Mai. Pat. hat am
Morgen 2500 ccm Kochsalzlösung intravenös bekommen. Puls am Morgen
114, Temp. 38,3 <>; am Abend Puls 106, Temp. 38,2 <>. Pat. hat im Laufe
des Tages 5 Darmausspülungen erhalten, mit denen Blähungen in reich*
lieber Menge abgingen. Am Abend 1800 ccm Kochsalzlösung subkutan.
Die Hammenge hatte im Laufe des Tages 800 ccm betragen. Der Harn
war klar, sauer, ohne Eiweiß. Leukocyten 11600. 18. Mai. Darmaus-
spülung am Vormittag mit reichlichem Abgang von Blähungen. Karls-
bader Wasser, Vichy- Wasser und Milch. Harn klar, frei von Eiweiß.
Puls am Morgen 98, Temp. 37,2 ^. Pat hat im Laufe des Tages 1000 ccm
Kochsalzlösung subkutan erhalten. Hammenge 650 ccm. Pat hat in der
Nacht eine Darmausspülung erhalten, wobei reichliche Blähungen ab-
gingen. Temp. 37,7^, Puls 68. Am Abend eine Darmausspülung und
danach ein Kochsalzklystier (500 ccm). Kein Kochsalz subkutan. Harn-
menge 1500 ccm. Wunde reaktionslos. Die Tampons wurden heute
herausgenommen und die Hautsuturen geknotet
Bakteriologische Untersuchung (Dr. Jörobn Jbnsbn in
Kopenhagen). Aus dem serösen Exsudat im Peritoneum konnten keine
Mikroorganismen durch direkte mikroskopische Untersuchung nachgewiesen
werden ; in der schrägen Agarkultur wurden 5—6 Kolonien von Bacterium
coli erhalten; in dem gelben, dicken Eiter aus dem Proc. vermiformis
fand sich bei direkter Untersuchung eine Menge verschiedener Mikro-
organismen, sowohl Kokken als Stäbchen, in Kulturen nur Bacterium coli.
In der exstirpierten Lymphdrüse konnten keine Mikroorganismen nachge-
wiesen werden, weder direkt noch in Kulturen.
20. MaL Spontaner Abgang von Blähungen. Temp. 37,8— 38®, Puls
60 — 72. 21. Mai. Spontaner Abgang von Blähungen. Beichliche, ziemlich
feste Darmentleerung. Temp. 37,4 <*, Puls 60. Von da an afebril.
Fall Xn. Soldat, 24 J. alt No. 377 B 1902. Appendioitis
acuta purulenta cum hyperaemia et oedemate peritonei.
Nach ungefähr 26 Stunden Laparotomie mit Exstirpation
des Proc. vermiformis.
Pat. ist vorher stets gesund und stark gewesen. Er hatte stets einen
„guten Magen" gehabt und jede Art von Nahrung vertragen. Eines Tages
im Dezember 1901 bekam er bei der Arbeit auswärts einen heftigen Frost
und sofort danach starke Schmerzen im ganzen unteren Teile des Bauches
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 349
und kurze Zeit danach Erbrechen. Er ging sogleich zu Bett und am Tage
darauf ftlhlte er sich wieder ganz gesund; seitdem hatte er keinerlei
Symptome von Seiten dos Unterleibes bis zum 31. Mai nachmittags. Er
hatte um 1 Uhr zu Mittag gesalzenes Fleisch und Fruchtsuppe gegessen.
Um 4 Uhr begann er sich unwohl zu fühlen und bekam Frostanfälle, ging
aber doch zum Exerzieren bis Y^^ ^^ abends. Da begann es wieder
wie das vorige Mal im ganzen unteren Teile des Bauches zu schmerzen,
jedoch am meisten auf der rechten Seite. Kurz danach bekam Fat.
heftiges Erbrechen, er „brach die ganze Mittagsmahlzeit aus^^ Er ging
nun in sein Quartier und legte sich und, obwohl er nichts aß und nichts
trank, erbrach er mehrere Male im Laufe der Nacht und fühlte die ganze
Nacht viel Frost. Am folgenden Morgen (1. Juni) war die Temperatur
38,4^; der Schmerz dauerte fort wie vorher; am Nachmittag war die
Temperatur 38,6^, der Puls 112. Fat. hatte im Laufe des Tages ein
Paar Frostanfälle gehabt und ein Paar Male Erbrechen. Die Behandlung
hatte in absolutem Fasten und Dursten bestanden und Eisblase über der
rechten Fossa iliaca. Pat kam in das Krankenhaus an demselben Tage
(1. Juni) 9 Uhr abends.
Status bei der Ankunft. Pat. ist kräftig gebaut Herz und
Lungen bieten nichts Bemerkenswertes. Temp. 39,2^, Puls 104, gleich-
mäßig und regelmäßig. Leukocyten 18000. Der Harn gab bei Hkllxrs
Probe sofort eine Spur von einem oberen Bing und nach einer Weile
auch Spuren eines unteren Ringes. Der Bauch ist merkbar aufgetrieben.
Der ganze linke Teil ist bei der Palpation weich und nicht empfindlich.
Jxx der rechten Seite des Bauches zeigt Pat. bedeutende Empfindlichkeit
bis in die rechte Lumbaigegend. Die Empfindlichkeit ist am größten un-
getfSkhr 2 Querfinger medial von der. Spina ilei anter. sup., von wo an
sie rasch abnimmt in der Bichtung gegen die Mittellinie hin. Keine Em-
pfindlichkeit im unteren Teile der Fossa iliaca. Im Rectum keine Aus-
buchtung, doch gibt Pat. hoch oben nach rechts zu geringe Empfindlichkeit
an. Keine Dämpfung, keine Resistenz an irgend einer Stelle im Bauche.
Operation sofort. Man hatte die Diagnose auf akute Appendicitis
(gangraenosa?) gestellt, betrachtete es aber als wahrscheinlich, daß der
Appendix noch nicht perforiert war. Man nahm an, daß der Proc. vermi-
formis in der Lumbaigegend in der Nähe der Leber liege. Schrägschnitt
über der Lumbaigegend und dem nächsten Teile der Fossa iliaca zwischen
dem 12. Literkostalnerven und dem 1. Lumbalnerven. Als das Peritoneum
eröffnet wurde, sah man ein dünnes Omentum über das Coecum aus-
gebreitet, aber es fanden sich keine Adhärenzen, auch keine Flüssigkeit
war im Bauche zu sehen. Sowohl die Därme als auch das Omentum
hatten natürliche Farbe. Darauf wurde das Coecum hervorgezogen und
an dessen unterer Seite lag ein ganz besonders langer (15 cm) Proc.
vermiformis, der durch das Mesenteriolum an seinem proximalen Teile
mit dem Coecum verwachsen war. Der Appendix war nach oben und
hinten gerichtet, so daß der distale Teil an der Außenseite des Colon
ascendens lag. Hier war dieser Darm sehr lebhaft gerötet durch GefUß-
injektion. Die gi'oße Menge neugebildeter Oefkße zeigte deutlich, daß hier
chronische Reizung stattgei^nden hatte. Um das distale Drittel des Appendix
herum fand sich ein dünnes Blutgerinnsel, aber kein Eiter. Die Subserosa
rund um diese Stelle herum, sowohl am Darm als an der Bauch wand,
zeigte ein mehrere Millimeter dickes Oedem. Man sah keine Fibrinbeläge.
Der Appendix wurde auf die gewöhnliche Weise exstirpiert. Wo er am
Coecum festgewachsen war, wurde die Serosa sorgfältig zusammengenäht.
350 K. Gr. Lennander,
Nach dem ödemaiösen und injizierten Teile des Colon zu wurde Jodoform-
gaze und ein Drainrohr eingelegt, die durch den hintersten Teil der Wunde
nach außen geleitet wurden, die übrigens mit 3 Reihen von versenkten
Oatgutnähten und Silkwormgutnaht in der Haut geschlossen wurde. Im
Mesocolon ascendens fühlte man trotz der bedeutenden Fettmenge mehrere
größere und kleinere geschwollene Lymphdrüsen.
Der Proc. vermiformis war 14,6 cm lang. Ungeflihr 5 cm vom proxi-
malen Ende ist er im Winkel gebogen. Der proximal von der Knickung
gelegene Teil zeigt auswendig ein normales Aussehen, nach dem Auf-
schneiden zeigt die geschwollene Schleimhaut hier nur einzelne Blutungen.
Der distal von der Knickung gelegene Teil ist bedeutend dicker und steifer
als der übrige und zeigt eine besonders starke Injektion in der Subserosa,
die nach der Spitze hin zunimmt. Die Serosa ist da von stark dunkel-
roter Farbe, was teils auf Injektion, teils auf Blutung unter der Serosa
beruht. Der am meisten distale Teil ist von einer subserösen Blutung ein-
genommen. Beim Aufschneiden des distalen Teiles fand man, daß dieser
einige Teelöffel dicken, gelben Eiters enthält, und als dieser entfernt wurde,
sah man, daß die Schleimhaut in diesem ganzen Teile fehlte und das
Lumen von einer Submucosa (?) begrenzt wurde, die stark thrombosierte
Geftße zeigte. Die Wandung ist hier an manchen Stellen papierdünn.
Die Grenze, wo die Muoosa aufhört, ist besonders scharf markiert.
Nach der Operation bekam der Fat 2500 ccm Kochsalzlösung sub-
kutan; 0,20 g Kampfer alle 4 Stunden. 2. Juni Allgemeinzustand gut
Spur eines oberen Ringes im Harne. Harnmenge im Laufe der Nacht
1000 ccm, während des Tages ebensoviel. Leukocyten 14000, Temp. 37,2
— 37,6<>, Fuls 80—88. 3. Juni. Harn eiweißfrei. Die B^konvaleszenz
war ungestört und Fat. wurde gesund entlassen.
Aus dem Vorhergehenden (s. Fall IX— XII) geht hervor, daß ich
eine ausgebreitete „peritoneale Reizung" als eine Indi-
kation, sofort zu operieren, betrachte. Im allgemeinen wird
ein solches serös oder serofibrinös entzündetes Feritoneum fflr viel
empfindlicher für eine Infektion gehalten (Sonnenbürg u. a.), als
eine normale Serosa. Das ist indessen, soviel ich weiß, noch nicht
bakteriologisch bewiesen; sollte es sich so verhalten, so würde mich
diese Gewißheit nur in meiner Ansicht bestärken. Ich halte
es nämlich für viel leichter, das kranke Feritoneum vor einer neuen
oder einer fortschreitenden Infektion dadurch zu schützen, daß sofort
operiert wird, als durch Zuwarten unter medizinischer Behandlung.
Im Bauche findet sich ja bei diesen Fatienten ein infektiöser Kern :
Der Froc. vermiformis, mit oder ohne putride oder purulente Flüssig-
keitsansammlung in der Umgebung. Zu Anfang der Krankheit braucht
sich keine Abkapselung um diese Flüssigkeit zu finden (s. Fall X, XIII,
XIV, XIV A). Das eiterige Exsudat kann ganz frei um den Froc.
vermiformis herumliegen. Durch Zuwarten unter medizinischer Behand-
lung riskiert man, daß die entzündete Serosa (d. h. die Serosa im
Bezirke der peritonealen Reizung) langsam infiziert wird durch die
Lymphbahnen, oder mit einem Schlage durch Berstung des Froc. vermi-
formis, oder durch eine Verbreitung der infektiösen Flüssigkeit aus
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 351
seiner Umgebung. Operiert man aber, nachdem man sich durch eine
genaue Uutersuchung eine möglichst klare Auffassung davon verschafft
hat, wie es im Innern der Bauchhöhle aussieht, so kann man, wenn
man die Technik beherrscht, den Proc. vermiformis entfernen und seine
Umgebung „extraperitoneal^ legen unter Tamponade, ohne einer so
erkrankten Bauchhöhle neue Infektion zuzuführen. Als Beispiel diene
Fan XIII, XIV, wie auch die Fälle IX-XII.
Im Fall XIII handelt es sich um einen 24 Jahre alten, ungewöhnlich
kräftigen und fetten Mann, der stets „den besten Magen^ gehabt hat
und der in das Krankenhaus am 4. Mai 1902 kam, nach einem 3-stün-
<ligen Transporte auf der Eisenbahn (im Bette) mit dem Schnellzuge.
Fall XTTT. Zuckerbäcker, No. 297 A, 1902. Appendicitis acuta
cum gangraena et perforatione (Koprolith) et cum peri-
tonitide putrida incipiente.
1. Sept nachmittags: Unwohlsein mit Schmerz im ganzen Bauche;
seitdem schlechter Schlaf in der Nacht. Am 2. Sept. arbeitete Fat. am
Vormittag, aß aber zu Mittag nur unbedeutend; am Nachmittag hatten
sich die Schmerzen auf die rechte Seite des Unterleibes beschränkt, Fat.
.ging zu Bett. Temp. 38,3^ (im B.ectum). Keine Stuhlentleerung, keine
Flatus. 3. Sept. Temp. 38,8—39,6 0; sehr große Empfindlichkeit medial
und oberhalb der Spina ilei ant. sup. dextra. 4. Sept. Temp. 39,3 \ Flatus
gehen seit gestern unbehindert ab. Vor der Eisenbahnfahrt eine „größere"
Morphiumeinspritzung. Bei der Ankunft im Krankenhause abends 9 Uhr
Temp. 39,6 0, Puls 100, kräftig, Allgemeinbefinden ganz gut. Keine Auf-
treibung des Bauches; bei der Untersuchung gehen Flatus ab. Starke
Empfindlichkeit und Muskelspannung in einem kleinen Bezirke medial
von der Spina ilei ant. sup. dextra und nach oben zu. Geringe Empfind-
lichkeit nach hinten in der rechten Lumbaigegend. Im Rectum keine
Empfindlichkeit, keine Vorbuchtung. Der Haiii, der mit dem Katheter
abgenommen werden maßte, zeigte, auch bei 3 — 4-facher Verdünnung
2 Eiweißringe, nämlich einen diffusen oberen und einen, zwar äußerst
dünnen, aber doch deutlichen unteren Ring. Leukocytose: Mehrere
Zählungen ergaben mindestens 12000 und höchstens 13900 Leukocyten
Im Kubikmillimeter Blut.
Operation 11 Uhr abends (ungefiähr 80 Stunden nach der Er-
krankung). Schrägschnitt zwischen dem 11. und 12. Interkostalnerven.
In der parietalen Subserosa fand sich ein centimeterdickes Oedem vom
Rectusrande bis zum Muse« quadratus lumborum. An der vorderen äußeren
und hinteren Seite des Dickdarmes schmutziger Eiter, der am meisten
Darminhalt glich; er war nicht abgekapselt. Nur am Coecum nach vorn
zu sah man ein paar weiße spinnengewebeähnliche Fibrinbeläge. Die be-
nachbarten Dünndärme wenig gerötet, übrigens normal. Hinter dem Coecum
und Colon ascendens fand sich ein brandiger, an mehreren Stellen perfo-
rierter Proc. vermiformis, der einen Fäkalstein enthielt. Der benachbarte
Teil der Cökalwand war gelblich-weiß ge&rbt und ungefähr centimeter-
dick. Distal davon war die Dickdarmwand rot durch Injektion einer
Menge langer, kleiner Gefäße in der verdickten Serosa. Um die Leber
herum und im nächsten Teile des Bauches etwas vermehrte seröse Flüssig-
MttflU. a. d. OT0nzK»M«ten d. Medizin a. Chirurgie. XIH. Bd. 23
352 E. G. Lennander,
keit. Der Proo. vermiformis wurde exstirpiert. Die Bauchwunde ward»
vom Mose, rectus bis zur Spina ilei ant. sup. mit 3 Beihen Catgutnähten
in Peritoneum und Muskeln zusammengenäht, die übrige Wunde wurde mit
Jodoformgaze und steriler Gaze tamponiert. Nachbehandlung: Häufiger
Verbandswechsel, Kochsalzlösung subkutan, Darmaussptüungen und groß»
Klystiere mit Cognac (2-— 3 Eßlöffel Cognac auf 300—500 physiologische
Kochsalzlösung, 4 — 5mal täglich), 0,04 mg salicylsaures Physostigmin sub»
kutan, 3— 4mal täglich, . schon von der ersten Nacht an. Die Bekon*
valeszenz wurde vom 15. — 17. Sept. durch Fröste, Temperatursteigerung^
und Stechen in der rechten Seite sowie Bluthusten gestört. Es han-
delte sich ziemlich deutlich um einen geringen Lungeninfarkt. Am
27. Sept. schien sich der Pat. in vollständiger Bekonvaleszenz zu befinden^
Nach einigen Wogen glaubte man jedoch, eine Myocarditis diagnosti*
zieren zu können. Pat. hatte zu 3 verschiedenen Malen Anftllle von
sehr schweren Kollapssymptomen. Am 19. März 1903 erschien er völlig
gesund.
Fall XIV. Knabe, 4 J. 10 Mon. alt, No. 196 A, 1902. Gangrä-
nöser, nicht geborstener Appendix. Laparotomie mit Ex-
stirpation des Proc. vermiformis ungefähr 51 Stunden
nach dem Auftreten der ersten Schmerzen. Heilung.
Pat., vorher gesund, erwachte am 11. Juni morgens um 6 Uhr und
klagte über heftigen Schmerz im Bauche. Nach einiger Zeit Erbrechen.
Vormittags Stuhlentleerung. Nachmittags saß er auf und sah den Spielen
seiner Schwestern zu. Abends hatte er starkes Fieber, erschien schlimmer^
schlief aber doch ruhig bis 2 Uhr morgens, wo er aufwachte und schwer
klagte. Er schlief dann immer nur kurze Zeit und klagte fast ununter-
brochen. Um 9 Uhr vormittags bekam er einen Teelöffel Rizinusöl und
um 12 Uhr mittags wieder einen, die er beide bei sich behielt. Danach
wurde er in die Stadt gefahren. Er klagte auf dem Wege, sobald der
Wagen einen Stoß bekam, über große Schmerzen. Nach der Ankunft in
der Stadt eine Stuhlentleerung, dünn und hart gemischt Er wurde in»
Krankenhaus aufgenommen am 12. Juni 6 Uhr 30 Min. abends. Temp.
38,7 0, Puls 120, nach einiger Zeit 106, gleichmäßig. Pat. klagt manchmal
über Schmerzen im Bauche, ist aber im ganzen ruhig. Der Bauch ist
nicht aufgetrieben und fühlt sich im allgemeinen weich an. Man glaubt
eine Resistenz in der rechten Fossa iliaca zu fühlen, wo Pat auch die stärkst»
Empfindlichkeit gegen Druck angibt Im Harn kein Eiweiß; Temp. 37,6^^
Puls 114.
Operation am 13. Juni. Nachdem Pat. eingeschläfert war, wurde
eine Resistenz im medialen Teile der rechten Fossa iliaca palpiert Schräg-
schnitt über der Lumbaigegend und Fossa iliaca zwischen dem 12. Thorakal-
und 1. Lumbalnerven. In der Subserosa fand sich reichliches Oedem. Daa
Peritoneum parietale war besonders stark injiziert. Als es geöffnet wurde,
kam ein gelber stinkender Eiter heraus, aber dabei zeigte sich auch ein
gesunder Darm. Der Eiter wurde rasch aufgetrocknet; er hatte um den
Proc. vermiformis herum gelegen, der nach innen gerichtet war und mit
seiner Spitze nach dem linken Blatte des Dünndarmmesenterium zu ge-
legen hatte. Die unvollständig abgekapselte Eiterhöhle war vom Dünn-
darmmesenterium umgeben gewesen, vom untersten Teile des Ileum, einem
kleinen Teile des Coecum und dem rechten Zipfel des Omentum majus.
In den genannten Dünndarmteilen fanden sich dicke, fibrinöse Beläge. Die
nächsten Därme waren lebhaft iM>t. Im kleinen Becken und in der Lumbal-
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 353
gegend fand sich etwas seröse Flüssigkeit. Auch die am meisten ergriffenen
Därme hatten relativ wenig geschwollene Wandungen und die weniger
ergriffenen zeigten eine lebhafte Peristaltik. Weiter nach links im Bauche
hatte die Darmserosa ein normales Aussehen. Die Lymphdrüsen waren
bedeutend vergrößert im unteren Teile des Dünndarmmesenterium , wie
auch im Mesocolon ascendens, wo sich eine reichlich mandelgroße Drüse
im Winkel zwischen Beum und Colon fand. Vergrößerte Lymphdrüsen
wurden bis hinauf zum Bückgrat geftihlt. Der Proc. vermiformis wurde
auf die gewöhnliche Weise exstirpiert, wie bei Operation im freien Latervall.
Nach dem kranken Teile des Dünndarmmesenterium und dem untersten
Teile des Ileum wurde Drainage von Jodoformgaze und ein Drainrohr
eingelegt, die durch den hinteren Teil der Wunde nach außen geleitet
wurden. Der vordere Teil der Wunde bis an der Spina ilei ant sup.
vorbei wurde mit 2 Reihen versenkter Gatgutsuturen und einer Reihe
Silkwormsuturen zusammengenäht. Pat. bekam 800 ccm Eochsalzinfusion
unmittelbar nach der Operation.
Der exstirpierte Appendix war 6 cm lang, 2 cm von der Spitze
war er geknickt. Distal davon war der Umfang weiter als proximal.
Ein Stück reseziertes Omentum saß an dem erweiterten distalen Teile
fest. Li dem proximalen Teile war die Schleimhaut etwas geschwollen,
mit kleinen Blutungen. Im distalen fand sich Eiter und ein knapp
erbsengroßer, trockener und wohlgeschichteter Päkalstein. Die Schleim-
haut war hier durch Gangrän vollständig zerstört; die Grenze gegen
die nur katarrhalisch veränderte Schleimhaut im proximalen Teile war
sehr scharf; 0,5 cm von der Spitze des Proc. vermiformis ging die
Gangrän an einer Stelle durch die ganze Wand. Es handelte sich
also um eine gangränöse Appendicitis (Knickung des Appendix
+ Fäkalstein) mit einer fibrino-purulenten, nur teilweise
abgekapselten Periappendicitis und eine seröse Peri-
tonitis in den Umgebungen (Hyperämie und seröser Erguß).
Daneben fand sich eine hochgradige akute Lymphadenitis
im Mesenterium und Mesocolon ascendens. Pat hatte wahr-
scheinlich eine Bronchopneumonie vom 16. — 18. Juni. Danach Besserung
und ungestörte Rekonvaleszenz. Er wurde am 14. Aug. geheilt entlassen.
Ln Januar 1903 war er gesund.
Epikrise. .Li diesem Falle nahm die Pulsfrequenz zu, trotzdem
die Temperatur sank. Am Abend des 12. Juni Temp. 88,7 <^, Puls 106;
am Morgen des 13. Juni Temp. 37,6^, Puls 114. Dieses Verhalten im
Verein mit der vermuteten Lage des Appendix medial vom Goecum gab
die Lidikation ab, sofort zu operieren.
Die Ausdrücke ^Peritonismus" und ^peritoneale Reizung** bringen
nur Verwirrung hervor und sollten deshalb nicht angewendet werden.
Manche Aerzte glauben, daß hinter dem Worte ^Reizung** nur ein „ner-
vöses Leiden" liegt.
Ist der Allgemeinzustand, namentlich die Tätigkeit des Herzens,
bei einem Patienten mit fortschreitender Peritonitis schlecht, so daß
man die Narkose und Operation fürchtet, dann verordne man ein gutes
Bett und sehe zu, daß der ganze Körper warm gehalten wird. Sind die
Schmerzen heftig, gebe man Morphium subkutan. In jedem Falle gebe
man Kampfer (wenigstens 0,40 g) und Strychnin (1—3 mg) subkutan,
23*
354 K. G. Lennander,
womöglich auch (man beachte das Herz) physiologische Kochsalzlösung
subkutan oder intravenös (sehr langsam!). Unter einer solchen Be-
handlung wird der Puls bald so viel besser, daß man eine Narkose
[am liebsten lokale Anästhesie im Verein mit allgemeiner Narkose]^)
wagen kann, sofern es nicht schon zu spät ist zum operieren.
Sowohl in den Handbüchern wie in Vorträgen und Diskussions-
äußerungen wird beständig hervorgehoben, daß ein kleiner und fre-
quenter Puls* eine Indikation für die Operatio nbei Appendicitiden
ist Ich möchte statt dessen sagen: Man soll operieren, noch
ehe der Puls klein und frequent wird. Appendicitiskranke
haben im allgemeinen einen vollen und etwas gespannten Puls mit
einer Frequenz von 80 — 110, wenn sie sich von dem Erbrechen
und den heftigen initialen Schmerzen erholt haben, wenn sie solche
gehabt haben. Durch die Spannung in der Bauchwand (defense mus-
culaire) und durch den zunehmenden Meteorismus wird nämlich der
Blutdruck im Beginne der Krankheit vermehrt. Und so geht es fort,
bis die Blutzufuhr zur rechten Herzhälfte vermindert oder zuletzt fast
abgeschnitten wird durch die Gefäßerweiterung im Bauche
(Lähmung des vasomotorischen Zentrums in der Medulla oblongata und
damit des großen Gebietes des N. splanchicus) und durch Kom-
pression der vom Bauche abführenden Venen, vor allem
der Vena cava, im Zusammenhange mit der fortschreitenden Peritonitis
und der immer stärker werdenden Verschiebung des Zwerchfells nach
oben. Die Verschlechterung des Pulses, die wesentlich ein Produkt
der hier genannten mechanischen Verhältnisse ist, kommt deshalb un-
erwartet rasch, ja für den weniger Erfahrenen als eine reine Ueber-
raschung. Bei Sektionen findet man oft, daß das Herzfleisch ein ge-
sundes Aussehen hat.
Hindern es äußere Verhältnisse, einen Patienten mit nicht be-
grenzter Peritonitis sofort zu operieren, oder hält man den Zustand
des Patienten für so gut, daß man an eine medizinische Behandlung
denken kann, dann verordne man eine solche: gutes Bett, Kniepolster,
auf den Bauch 2 große Eisblasen, nichts per os, außer vielleicht heißes
Wasser teelöfFelweise. Durch diese vollständige Ruhe für den ganzen
Körper und für den Darm, sowie durch die Applikation des Eises
auf den Bauch hören oft die Schmerzen ganz rasch auf. Sollten sie
es nicht tun, wird eine subkutane Morphiumeinspritzung gegeben oder
0,05 g Opium auf einmal in das Rectum, aber die Gabe von Morphium
oder Opium wird nicht wiederholt, wenn nicht die Schmerzen von
neuem dazu zwingen. In diesem Falle muß man sich in-
dessen erst fragen, ob es nicht am sichersten ist, sofort
1) Vgl. meine Abhandlung über die Sensibilität in der Bauchhöhle.
Hygiea, 1901. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 10.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 355
ZU operieren. Das nötige Wasser und Nahrung werden subkutan
gegeben, nicht per rectum.
Wenn bei der hier angegebenen medizinischen Behandlung nicht
nur das Allgemeinbefinden des Patienten, sondern auch alle Haupt-
symptome: Schmerzen, sowohl spontane wie die Druckempfindlichkeit,
Meteorismus, Puls, Temperatur und Fehlen von Eiweiß im Harn, binnen
12—24 Stunden für Besserung sprechen, so setzt man natürlich die
exspektative Behandlung fort. Man darf sich hingegen nicht darauf
verlassen, daß Besserung eingetreten sei, weil das Erbrechen aufgehört
hat und die Schmerzen vermindert sind und sich ein relatives Wohl-
befinden bei dem Patienten eingestellt hat, wenn nicht wirklich auch
Temperatur, Puls, Meteorismus, der Harn u. s. w. alle in derselben
Richtung auf Besserung hindeuten. Es ist nämlich oft und mit Recht
von amerikanischen und französischen Aerzten hervorgehoben worden,
daß sich gleichzeitig mit dem Brandigwerden des Proc. vermiformis nicht
selten die Beschwerden vermindern und eine gewisse, Ruhe gebende Stille
über den Patienten kommt. Das ist der Zustand, den Prof. Dieulafoy
„raccalmie traitresse^ nennt. Man hat sich vorgestellt, daß die
Schmerzen abnehmen oder aufhören, weil die Nerven im Proc. vermi-
formis abgestorben sind. Da nach meinen Beobachtungen auch der
kranke Proc. vermiformis vollständig gefühllos ist für alle operativen
Eingriffe, kann man an dieser Erklärung nicht länger festhalten. Mein
Gedanke ist, daß durch den Brand die Lymphgefäße und Venen im
Proc. vermiformis zerstört werden. Es entsteht deshalb eine Unter-
brechung für die Ausführung von Toxinen und Mikroben aus dem
Proc. vermiformis, bis dieser berstet oder bis es den Mikroben gelingt,
in Massen die tote Darmwand zu passieren.
Um sich klar zu werden, ob eine Peritonitis fortschreitend ist,
muß man bei der ersten Untersuchung genau verzeichnen
1) das Verhalten des Meteorismus (unter anderem die Leber-
dämpfung), sowie
2) den Grad und die Ausbreitung der Muskelspannung (defense
musculaires) und
3) die Grenzen der Empfindlichkeit bei der Palpation, sowohl von
der Bauchwand wie auch vom Rectum (von der Vagina) aus.
Eine Menge Operationen haben gezeigt, daß man durch Achten
auf die Druckempfindlichkeit für leise Palpation mit einem oder höchstens
zwei Fingern fast auf den Zentimeter genau die Ausbreitung der Ent-
zündung an der vorderen oder hinteren Serosa der Bauchwand be-
stimmen kann.
Zusammenfassung. Wenn man zu einem Patienten gerufen
ist, der schwer an Appendicitis erkrankt ist, besteht die Indikation
für sofortiges Operieren, wenn man eine fortschreitende eiterige Peri-
tonitis diagnostiziert. In den übrigen Fällen von schwerer Erkrankung
356 K. O. Lennander,
hat man stets genau zu erwägen, ob es nicht am sichersten für den
Patienten ist, seinen Proc. vermiformis sofort zu entfernen.
Schwangerschaft.
Eine besondere Beachtung verdient eine akute Appendicitis
bei bestehender Schwangerschaft. Es ist Pinards Verdienst,
die Gefahren derselben: Abortus, vorzeitige Geburt, Tod der Frucht,
allgemeine eiterige Peritonitis gezeigt zu haben.
Am 25. März 1903 spät abends klingelte es an meinem Telephon.
Es war mein alter Freund, Oberarzt P. Söderbaum in Falun, der mich
wegen einer Patientin um Rat fragen wollte, zu der er neulich gerufen
wurde vom Oberarzt an der medizinischen Abteilung, Pfannenstill.
Nachdem ich die Anamnese von Fall XIV A gehört hatte, antwortete
ich: ^Patientin muß binnen 2 Stunden operiert werden. Wartet man
bis morgen Vormittag, kann es nach meiner Meinung leicht den Tod
zur Folge haben, weil ich vermute, daß es zur Geburt in der Nacht
kommt, wenn man nicht operiert, und weil ich glaube, daß ein freies
serös-eiteriges Exsudat den Proc. vermiformis umgibt. Unter solchen
Verhältnissen kann die Geburtearbeit leicht das Exsudat über die ganze
Bauchhöhle verbreiten, so daß es morgen zu einer allgemeinen Bauch-
fellentzündung gekommen sein kann, die dann ein operativer Eingriff
nicht mehr aufhalten kann. Sollte das Exsudat wider Vermutung ab-
gekapselt sein, dann ist es wahrscheinlich, daß die Geburtsarbeit die
Adhäsionen sprengt, so daß das Resultat dasselbe wird, als wenn keine
Abkapselung vorhanden wäre.^
Mein Rat wurde befolgt. Die Patientin, sofort in das Lazarett
von Falun übergeführt und unmittelbar nach ihrer Ankunft daselbst ope-
riert; sie wurde gesund. Für die Erlaubnis, diese interessante Kranken-
geschichte zu publizieren, bin ich meinen Kollegen Söderbaum und
Pfannenstill Dank schuldig.
Fall XIVA. Appendicitis acuta cum peritonitide sero-
purulenta incipiente libera sab fine graviditatis. 26. März
1903. Exstirpatio proc. vermiformis; pneumonia acuta
dextra et sin. 13. April. Partus; solutio manualis partis
placentae. Synovitis coxae sin. Pleuritis dextra. Cystitis
acuta. Heilung.
Hausfrau, 26 Jahre, aus Falun, aufgenommen im Lazarett zu Falun
am 25. März 1903. Fat ist im allgemeinen gesund gewesen; sie hatte
im Sommer 1898 einen Anfall von Bauchschmerzen, die damals in der
linken Seite lokalisiert waren und vermutlich auf Nierensteinkolik be-
ruhten und 14 Tage lang dauerten. Im übrigen vollständig gesund. Sie
hat 2 Kinder geboren und ist wieder schwanger seit 21. Juli 1902. Am
21. — 23. März hatte Pat allgemeines Unbehagen im Bauche und auch
eine dünne Stahlentleerung, doch war sie in voller Tätigkeit und im
ganzen munter bis zum 24. März abends, wo Bauchschmerzen begannen
mit Erbrechen, es wurde aber nur sehr wenig erbrochen. Um 8 Uhr
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 357
«bende trat Frost auf und die Fat fröstelte die ganze Nacht. Gegen
Morgen lokalisierten sich die Schmerzen in der rechten Seite. Der Puls
wechselte am 25. März von OS«— 110. Die Temperatur stieg allmählich
bis 38,2 <> am Abend. Die Uebelkeit dauerte fort. Im Laufe des Tages
haben sich deutliche Geburtswehen eingestellt Am 25. März abends 8 Uhr
war der Puls gut, um 100. Schmerzen nicht besonders heftig, aufier wenn
die Wehen kamen. Fat ist empfindlich über der rechten Seite des
Uterus in gleicher Höhe mit der Crista ilei und von da rückwärts
bis in die Lendengegend, wenn man von hinten nach vorn drückt. Nur
•eine fingerdicke Resistenz in der Höhe der Crista ilei kann wahrge-
nommen werden. Portio mitten im Becken, der Kanal läßt 2 Finger pas-
sieren. Der Kopf liegt vor und wird gefühlt. Am 25. März ^/2l2 Uhr
nachts wird nach vorhergegangener Kochsalzinfusion (1000 g) und sub-
kutaner Anwendung von Kampfer und Str3'^chnin die Laparotomie längs
<ler Crista ilei von der Spina ilei ant superior nach hinten zu gemacht.
Nach Durohschneidung des Peritoneum kam seropurulente Flüssigkeit
heraus und danach die geschwollene Salpinx und das rechte Ovanum.
Lateral davon traf man den stark angeschwollenen Proc. vermiformis, der
auf die gewöhnliche Weise losgelöst und nach vorhergegangener proximaler
Ligatur mit dem Thermokauter abgebrannt wurde. Dann wurde die Am-
putationsstelle mit einem Paar Catgutnähten vernäht Am Proc. vermiformis
fand man Beläge, aber übrigens keine Adhärenzen. Meeulioe' Beutel
wurde eingelegt. Der resezierte Proc. vermiformis war 8 cm lang, er-
schien nicht perforiert und enthielt 3 Fäkalsteine und "eine schleimig-
blutige Flüssigkeit. Die Breite der Schleimhaut war 2^/, cm, sie war
injiziert und mehr oder weniger tief ulceriert in ihrer ganzen Länge.
30. März. Zustand im ganzen genommen befriedigend. Nach der Ope-
ration stieg die Temperatur nur 2mal bis über 38^, nämlich am Morgen nach
<ler Operation 38,5 <> und gestern Abend 38,1 <^; etwas Husten, Expektorat
blutig. Am 28. März konnte Pneumonie im rechten unteren Lappen kon-
statiert werden und am 29. März im linken unteren Lappen. Reichliche
Därmen tleernng nach Klystier gestern und heute. Am 27. März trat
Aufstoßen von saurem Wasser auf. Da man den Magen im Epigastrium
gespannt fühlte, wurde er ausgespült, wonach die Spannung aufhörte.
Der Verband wurde am 28. März gewechselt. Es zeigte sich etwas
Eiter an den Bändern der Wunde, aber übrigens war alles in guter
Ordnung. Am 30. März waren die Salpinx und das Coecum in die
Wunde vorgefallen und die Gaze war mit seröser Flüssigkeit durch-
tränkt nach einem 1 Stunde vorher aufgetretenen Hustenanfalle. Auch
das Omentum lag vor und bei der Ablösung desselben von der Bauch-
wand fand sich eine eiterig infiltrierte Stelle von der Qröße eines
Zehnpfennigstückes. Dabei war der vorgefallene Teil des Omentum im
ganzen angeschwollen und ödematös, weshalb diese Stelle nach vorher-
gegangener Ligatur reseziert wurde. Nun wurde die vordere Hälfte der
Wunde mit 2 Beihen Catgutnähten vereinigt. Die Haut wurde nach vorn zu
mit 2 Nähten genäht, wodurch die Wunde bedeutend kleiner wurde. In die
Peritonealhöhle wurde Gaze eingelegt, sonst keine Tampon ade. Schwache
<3^ebartsschmerzen kamen an jedem Tage vor, wurden aber durch eine
Morphinmdose gestillt. 1. April. Verbandwechsel; die Gaze war serös
durchtränkt, die in die Bauchhöhle eingelegte wurde herausgenommen
und statt derselben Xeroformgaze eingelegt. Geringe Wehenschmerzen
stellten sich nach dem Verbandwechsel ein, wurden durch Morphium be-
ruhigt und kehrten ein paarmal in der Nacht wieder, wurden aber
358 K. G. Lennander,
wieder durch Morphinm gestillt. Der allgemeine Znstand war gut. Am
2. April Resolution der Pneumonien. Am 3. April wurde die Xeroform-
gaze aus der Bauchhöhle genommen. 6. April. Beim Verbandwechsel
zeigte sich nicht ganz wenig Eiter in den vordersten Suturen. Die
Suturen wurden entfernt, wobei Eiter in reichlicherer Menge herauskam..
Es zeigte sich, daß der Eiter teils subkutan, teils unter den Muskeln
auf dem Peritoneum lag. Am 8. April war die Absonderung ganz,
unbedeutend und seropurulent. Schmerzen stellten sich täglich 2mal
ein, waren aber meist nicht von schwererer Beschaffenheit, jedoch sind
schwere Schmerzen am 4. April und in der Nacht zum 10. April ver-
zeichnet. Im allgemeinen sind sie durch 1 cg Morphium subkutan ge-
stillt worden ; wenn sie schwerer waren, durch 25 Tropfen Opiumtinktur. •
Am 10. April dauerten die Schmerzen den ganzen Tag fort und wichen
nicht nach Morphium. Am 11. April morgens ^/,3 ühr begannen richtige
Wehen und dauerten bis 6 Uhr 15 Min. früh an, wo ein wohlgebildeter,
3 kg schwerer Knabe geboren wurde. Das Kind erschien ausgetragen.
Die Placenta ging unter Wehen um 6 Uhr 45 Min. früh ab. Indessen
begann Schüttelfrost unter dem Austreibungsstadium und dauerte bis gegen
8 Uhr vorm. fort und die Blutung dauerte unaufhörlich fort, wenn auch
nicht sonderlich reichlich. Pat. bekam eine Injektion von 1 g Extract^
fluidum secaL com. in das rechte Bein. Etwas mehr Blutung 8 Uhr
15 Min. vorm., wobei die Pat. cyanotisch wurde ; die Blutung nahm immer
mehr zu, so daß Pat. 8 Uhr 30 Min. pulslos war. Bei der Untersuchung
fand sich keine Läsion in der Vulva, Vagina oder an dem Os uteri. Der
Uterus stand eine quere Hand über der Nabelebene. Es wurden erst
2 Finger in den Cervikalkanal eingeführt, sie stießen aber am Os uteri
intemum auf einen starken Widerstand und Pat. klagte über heftigen
Schmerz. Nach einer Weile wurde ein 3. Finger eingeführt, wonach die
Uterushöhle palpiert werden konnte. Dabei fühlte man an der vorderen
Wand eine Blase, die entfernt wurde und sich als Eihautrest erwies^
der im Durchmesser 6 X ^ c™ ^^^ ^^^ x^i^ einer ziemlich dicken Schicht
Decidua bedeckt war. Pat. war immer noch pulslos, weshalb eine intra-
venöse Kochsalzinjektion von 1100 g gemacht wurde, nachdem vorher
ungefähr 1000 g subkutan eingespritzt worden waren. Pat. bekam eine
2. Injektion voti Extract. fluidum secal. corn. in das rechte Bein. Darauf
besserte sich der Zustand offenbar und die Pat. konnte 10 Uhr 30 Min»
vorm. wieder in ihr Bett gebracht werden. Etwas Blutung, obwohl nicht
von Bedeutung, zeigte sich am 15. April. Am 13. April war die Harnblase
ausgedehnt Pat. hatte zwar Harn gelassen, aber seit der Entbindung
die Blase nie ganz entleert. Der Harn wurde abgezapft und die Blase
mit steriler Kochsalzlösung ausgespült am 13., 14. und 15. April. Dann
ging der Harn normal ab, obwohl mit etwas Brennen. Am 16. April
begann Pat. Schmerzen im linken Beine zu empfinden, die sich steigerten
und bei Bewegungen ganz schwer waren. Sie war empfindlich oberhalb
des Trochanter major, ungefähr in der Ausdehnung der Gelenkkapsel und
in der Fovea ovalis. 18. April. Die Schmerzen im linken Bein haben
abgenommen. Uterus eine Hand breit über der Symphyse. 21. April. Die
Pat befindet sich relativ wohl. Die Bauchwunde zieht sich zusammen^
die Sekretion ist unbedeutend. Harn klarer, wässerig, jedoch fortwährend
getrübt. An den Stellen am rechten Bein, wo Seeale injiziert worden
ist, finden sich haselnußgroße Herde mit gangränösem Zerfall. 30. ApriL
Die Pat. verläßt das Krankenhaus und reist heim.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 359
Pleuritis dextra; am 26. April klagte Pat. über heftige Schmerzen
in der rechten Seite, die bei allen Bewegungen und bei der Atmung zu-
nahmen. Keine Temperatursteigerung. Bei genauer Untersuchung wird
keine vermehrte Dämpfung beobachtet, dagegen fand sich am 27. April
abends eine (ungefähr 2 Finger breite) Dämpfung rechts unten. Bei der
Punktion kam klares Serum in geringer Menge heraus. Temperatur-
steigerung am Abend und den ganzen folgenden Tag. Am 29. April
wurde schwaches Reibegeräusch nach hinten über der Basis der rechten
Lunge gehört Die Schmerzen verschwinden und der Zustand ist gut. In
der rechten Leiste sind die L3rmphdrüsen geschwollen infolge einer Lymph-
adenitis, von den Injektionsstellen für das Seeale ausgehend, von denen
die oberste rein ist, die unterste noch unbedeutend sezemiert. 15. Mai.
Nach der Heimkunft der Pat. ist die Temperatur erhöht gewesen bis zum
13. Mai, wo sie in der Nacht ziemlich intensive Schmerzen in der rechten
Seite hatte, die am Morgen abnahmen. Beim Verbandwechsel wurden ein
paar Eßlöffel von Eiter am Verband gefunden. Bei der Sondierung fand
sich, daß der Absceß der Eichtung der Narbe nach hinten folgte, aber
diese nicht wesentlich nach irgend eine Eichtung überschritt, weshalb die
Eiterbildung sicherlich von einer Stelle in dem zusammengenähten Schnitt-
rande ausging. Nachdem der Absceß sich entleert hatte, wurde die Eiter-
bildung eben so unbedeutend wie vorher und das Fieber verschwand. Das
pleuritische Exsudat fand sich noch, nahm aber täglich ab. 1. Juli. Mutter
und Eind vollständig gesund.
Was die leichteren Krankheitsfälle betrifft, die ich unter Punkt 2
meiner Indikation 1893 aufgenommen habe, d. h. die Fälle, in denen
nichts auf Sepsis oder fortschreitende Peritonitis deutet, so werden diese
derselben strengen exspektativen Behandlung (vollständige Enthaltung
von Essen und Getränk) unterworfen, wie früher beschrieben worden
ist. Sie werden operiert, wie ich 1893 schrieb, wenn nicht unter einer
regelrecht durchgeführten „medizinischen Behandlung" (s. oben) „eine
solche Besserung eintritt, die wir als typisch bei einer gutartigen
Appendicitis zu betrachten pflegen", oder sobald man Eiterung um den
Appendix herum annehmen kann, d. h. nachdem man eine Resistenz
wahrgenommen hat, die nicht verschwindet, sondern eher zunimmt,
trotz der medizinischen Behandlung. Spricht irgend ein Symptom:
Druckempfindlichkeit, Puls, Temperatur, Eiweiß im Harn oder große
Leukocytenzahl im Blute für Verschlimmerung oder für Suppuration,
so wartet man natürlich nicht darauf, daß die Resistenz an Größe
zunimmt, sondern operiert sofort. Man muß sich daran erinnern,
was besonders Riedel sehr stark hervorgehoben hat, daß, wenn
der Proc. vermiformis in der Nähe der Leber liegt oder zwischen
den Dünndärmen medial am Coecum oder im oberen Teile des kleinen
Beckens, man in manchen Fällen keine Resistenz fühlen kann. Die
Druckempfindlichkeit kann auch fehlen oder unbedeutend
sein, sowohl von vorne aus wie vom Rectum, wenn kein
oder nur ein geringer Teil der Parietal serosa ergriffen ist.
360 K. G. Lennander,
Ich strebe danach, bei Operationen während des An-
falles den Appendix, wenn irgend möglich, zu exstirpieren :
1) weil ich gefunden habe, daß man nie sicher sein kann, daß man
alle peritonealen Eiterherde eröffnet hat, wenn man sich nicht des
Appendix versichert hat, und
2) weil ich in manchen Fällen Rezidive gesehen habe, in denen er
nicht entfernt worden ist.
Suppurative Peritonitiden tief unten im kleinen Becken öffne ich
womöglich von der Vagina oder vom Rectum aus und stehe also in
diesen Fällen von jedem Gedanken ab, den Appendix während des
Anfalls zu exstirpieren.
Eine gefährliche Lage des Appendix, wie zwischen den Dünndärmen,
am Rande des kleinen Beckens vor den Vasa iliaca oder oben unter
der Leber, sehe ich in jedem Falle als ein Plus zu den übrigen Indi-
kationen für eine frühzeitige Operation an.
Die Gegenwart von Eiweiß im Harn (verdünnter Harn, Hellers
Probe) sehe ich stets als ein Warnungszeichen an, daß Gefahr
im Anzüge ist. Ich glaube, daß ich meinen Kollegen einen Dienst
erweise, wenn ich den Fall mitteile, der es mir klar machte, daß das,
was wir Fieberalbuminurie zu nennen pflegten, ein Beweis dafür ist,
daß Toxine oder Mikroben in das Blut übergegangen sind und eine
akute Nephritis hervorgerufen haben (Fall XV).
Fall XV. Mann, 27 Jahre alt, No. 330 A, 1893. Aufgenommen am
22. Okt., gestorben am 1. Nov. 1893. Appendicitis acuta gan-
graenosa perforans cum periappendicitide purolenta pu*
trida circumscripta. 22. Okt. Laparotomie; Proc. vermi-
formis exstirpiert nach ungefähr 60 Stunden. Tod am
1. Nov. Akute Nephritis, Bronchopneumonien.
Im Verlauf einiger Jahre hatte Pat hie und da Unbehagen in der
Blinddarmgegend gefühlt; im Herbst 1893 chronische Diarrhöe. Am
19. Okt. war Pat. am Tage vollkommen gesund, am Abend 11 Uhr war
plötzlich Unwohlsein (auf der Strafe) aufgetreten. Nach der Heimkehr
fühlte Pat. heftige Schmerzen um den Nabel herum und besonders nach
links von ihm; sie nahmen bald einen sehr heftigen Charakter an und
wurden von heftigem Erbrechen begleitet. Wiederholte Gaben von Opium
im Laufe der Nacht stillten die Schmerzen nicht, die am Morgen jedoch
einigermaÜen durch Morphium subkutan gemildert wurden. 20. Okt. Das
Erbrechen hörte am Vormittage auf. Der Puls war um 80 herum. Die
Schmerzen waren fortwährend geringer, wurden aber in der Fossa iliaca
dextra lokalisiert, ausstrahlend nach dem rechten Beine. Am Abend be-
sonders heftige Schmerzen in der rechten Lendengegend. In der Nacht
auf den 21. Okt. keine besonders heftigen Schmerzen. 21. Okt. Temp.
38,3 <>, Puls 90. Am Morgen konnte Pat. keinen Harn entleeren, sondern
er mußte katheterisiert werden Um 11 Uhr vorm. bekam er einen starken
Schüttelfrost, der über ^/j Stunde lang dauerte. Danach Temp. 39,6 •,
Puls 116. Kein Abgang von Blähungen am letzten Tage; der Bauch ist
jetzt gespannt; die Leberdämpfung ist in der Mamillarlinie so gut wie
Meine Erfahrungen über Appendicitis» 361
verschwunden. Am Nachmittag Abgang von Blähungen durch ein Darm-
Tohr; Pat kann Harn lassen. Am Abend fühlt er sich bedeutend besser.
Temp. 38,6^, Puls 112. Die Untersuchung des Bauches (auch vom Rectum
aus) zeigte, daß er nur in der Fossa iliaca deztra empfindlich war und
daß der intensivste Schmerz hervorgerufen wurde, wenn man medial von
der Spina ilei und vom Ligam. Poupartii nach hinten und innen drückte.
Der Perkussionsschall war über diesem Gebiete überall tympanitisch, wes-
halb man annehmen mußte, daß das Exsudat hinter dem Coeoum lag.
11 Uhr abends. Pat. mußte katheterisiert werden; der Harn gab deut-
liche Eiweißreaktion. In der Nacht vor dem 22. Okt. heftige Schmerzen
trotz Morphium. Am 22. Okt. morgens Temp. 39,6^, Puls 114, später
vormittags über 120.
Operation am 22. Okt., ungefähr nach 60 Stunden. Auch nach
eintretender Narkose konnte eine Resistenz nicht sicher gefühlt werden.
Incision längs der Crista ilei und des äußeren Teiles . des Ligam. Pou-
partii. Pat war sehr fett und hatte eine sehr kräftig entwickelte Bauch-
muskulatur. Das subseröse Fett bildete eine wenigstens zentimeterdicke
Schicht; zunächst dem Peritoneum war es von Oedem durchtränkt Das
Peritoneum war lebhaft injiziert, es wurde etwas von der Fascia iliaca
gelöst und man fühlte nun ganz deutlich eine Resistenz nach innen zu
vom Peritoneum parietale. Dieses wurde durchschnitten, wobei man in
die freie Peritonealhöhle gelangte. Nachdem diese sorgfältig mit Kom-
pressen abgesperrt worden war, wurde das Coecum von der hinteren
Bauchwand in der Fossa iliaca abgelöst. Hierdurch wurde eine ziemlich
große Höhle hinter dem Coecum eröffnet Sie enthielt ein dünnes,
schmutzig-graues, stinkendes Exsudat Nach vielem Suchen fand man vor
dem Muse, psoas und der Oefäßscheide ein zusammengefaltetes Gebilde,
das sich dann als der distale Teil des Proc. vermiformis erwies. Er war
durch Gangrän losgetrennt Man entfernte danach ein kleineres Stück des
proximalen Stumpfs. Weil die Herztätigkeit gegen den Schluß der Ope-
ration hin sehr schlecht war (Aethernarkose) wagte man nicht, Jodoform-
gaze in der Höhle anzuwenden, sondern man tamponierte nur mit steriler
Gaze. Die ganze Wunde wurde offen gelassen.
Pat. starb am 1. Nov. Von seiten der Bauchhöhle oder der Wunde
hatte er nie beunruhigende Symptome nach der Operation. Am 26. Sept
«in sehr langwieriger Kollapsanfall. 27. Okt. Eiweißmenge im Harn sehr
vermehrt Am 29. und 30. Okt. Zeichen von Pneumonie. Im Sputum
eine Menge von Kapseldiplokokken. Temp. am letzten Tage zwischen
39,6 und 41,6 o. Puls 126—144.
Die Sektion zeigte in der rechten Fossa iliaca hinter dem Coecum
eine durch die Operation vollständig geöffnete Höhle, die einige gangränöse
Beste vom Proc. vermiformis enthielt Die Höhle war vollständig abge-
kapselt gewesen. Das retroperitoneale Bindegewebe zeigte keine krank-
haften Veränderungen. Die übrigen Teile der Bauchhöhle waren gesund.
Es bestand hochgradige akute Nephritis und katarrhalische Pneumonie
in beiden Lungen.
Epikrise. Dieser traurige Fall erinnert uns lebhaft daran, daß
man bei der Beurteilung der Aussichten für einen operativen Eingriff gegen
eine Infektion — sie mag nun eine eiterige Peritonitis, eine Bindegewebe-
phlegmone, einen Karbunkel oder etwas anderes hervorgerufen haben —
nicht nur mit den Mikroben und Toxinen zu rechnen hat, die sich in der
Eiterhöhle u. s. w. finden, sondern auch mit denjenigen, die bereits in
362 . K. G. Lennander,
das Blut übergegaDgen sind. Es ist deutlich, daß unser Fat. nicht
die Kräfte gehabt hat, diese zu überwinden. Es muß bemerkt werden^
daß er vor seiner letzten Krankheit keine Zeichen von Nephritis darbot.
Alle Erfahrung spricht dafür, daß er hätte gerettet werden können durch
eine Operation binnen 12 — 24 Stunden nach der ersten Erkrankung. Sie
wurde ihm am 20. Okt. vorgeschlagen, aber er schlug sie ab.
Die Albuminurie zeigt nicht an, daß Suppuration vorhanden ist,
sie sagt nur, daß Allgemeininfektion oder Intoxikation besteht. Man
kann, wie bekannt, eine gangränöse Appendicitis mit Suppuration im
Peritoneum haben, ohne daß sich eine Spur von Eiweiß im Harn zeigt.
Ein solcher Fall ist No. XVI. Hier sprachen indessen Temperatur,
Puls und vermehrte Leukocytose im Blute für Suppuration. Schon am
I. Tage betrug die Anzahl der Leukocyten 23000, am 2. Tage 22500.
Fall XVL Mann, 21 Jahre alt, No. 241B, 1902. Appendicitis
acuta gangraenosa perforans (Fäkalsteine) cum periappen-
dicitide purulenta circumscripta. Laparotomie mit Ex-
stirpation des Proc. vermiformis nach ungefähr 43 Stun-
den. Heilung. Während der Rekonvaleszenz akute Lymph-
adenitis in der rechten Leiste.
Pat. war vorher gesund gewesen, aber wegen eines beweglichen
Leistenbruches operiert worden am 19. März. Am Abend des 1. April
war seine Temperatur 38,8 <'. der Puls 83 und er fühlte Schmerzen in
der rechten Seite des Bauches. Er erwähnte das aber nicht eher als am
folgenden Vormittag, wo die Temperatur 39 '^ und die Pulsfrequenz 95
betrug. Am Mittag war die Temperatur 39,6 ^. Die Anzahl der Leuko-
cyten betrug am Vormittag 23000 und am Nachmittag 21500. Im Harn
fand sich bei Hellbrs Probe kein Ring; keine Uebelkeit, kein Erbrechen.
Der Bauch war nicht ausgedehnt, aber empfindlich über Monros und
Mac Burnbts Punkte und von da nach außen nach der Spina ilei hin
und in der ganzen rechten Lumbaigegend, am meisten um die Axillar-
linie. Man dachte an eine gangränöse Appendicitis, aber äußere Verhält-
nisse machten, daß die Operation bis zum 3. April nachm. 1 ühr aufge-
schoben werden mußte. Temperatur und Puls am Morgen desselben Tages
39,2® und 96. Puls vor der Operation 105; Leukocyten 22500. Die
Empfindlichkeit hatte sich nach oben und vorn ausgebreitet, so daß Pat.
deutlich die rechten Bauchmuskeln anspannte. Die Empfindlichkeit wurde
begrenzt nach vom und oben von einer Linie vom Thoraxrand in der
Mamillarlinie bis zum Nabel, nach vom und unten von einer Linie vom
Nabel bis zur Spina ilei.
Operation am 3. April 1 Uhr nachm., ungefllhr 43 Stunden
nach den ersten Symptomen der Appendicitis. Schrägschnitt zwischen dem
II. und 12. Interkostalnerven. Das Peritoneum parietale war ziemlich
stark injiziert und es sah aus, als wäre etwas vermehrte Flüssigkeit im
Innern des Bauches. Coecum und Colon ascendens zeigten in ihren
vorderen Teilen lebhafte Gefäßinjektion. Nach hinten zu fühlte sich die
Wand derselben sehr fest an und war hier ganz rot von Farbe. Als sie
von der hinteren Bauchwand losgelöst wurde, kam stinkender, schmutziger
Eiter in der Menge von ein paar Eßlöffeln hervor. Der Proc. vermiformis,
der etwas an seinem Abgange vom Coecum im Winkel gebogen war^
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 363
lag an der hinteren äoüeren Seite des Coecum und des Colon ascendens.
Er war gangränös und perforiert. Er wurde am Coecum exstirpiert. Die
ganze Eiterhöhle wurde mit Jodoformgaze austamponiert. Die ganze
Wunde wurde offen gelassen und mit steriler Gaze ausgefüllt. Der ex-
stirpierte Appendix war ungeftlhr 7 cm lang, ^/j cm von der Spitze des
aufgeschnittenen Organs fand sich eine Demarkationslinie in der Schleim-
haut und hier begann eine Gangrän, die sich über die ganze Schleimhaut
5 cm nach oben gegen das Coecum hin erstreckte. Auf einem geringeren
Umkreise war die ganze Wandung gangränös und hier fanden sich 2 Per-
forationen. Der Appendix war leer und enthielt nur einen geschichteten
kleineren Fäkalstein. Am nächsten am Coecum war der Proc. vermi-
formis von natürlichem Aussehen.
Nach der Operation bekam der Pat. sofort 1200 ccm Kochsalzlösung
subkutan und außerdem wurde die gewöhnliche Behandlung angewendet:
ernährende E^ystiere; Darmausspülungen, 0,20 Kampfer subkutan alle
3 Stunden. Darmgase und Faeces gingen ab. 23 000 Leukocy ten. 4. April.
Darmentleerung am Abend. 1000 ccm Kochsalzlösung subkutan. Im Harn
kein Eiweiß. 19600 Leukocyten. 6. April. Temp. afebril. 12000 Leuko-
cyten. 13. April. 7500 Leukocyten. Die Rekonvaleszenz wurde vom
19. April bis 2. Mai durch akute Lymphadenitis in der rechten Leiste
gestört, mit recht hohem Fieber. Man fand keine andere Ursache als die
Infektion auf dem Wege der Lymphbahnen vom Eiterherde im Bauche
aus. Die Drüsengeschwulst ging allmählich ohne Eiterbildung zurück.
Am 24. April wurde die Wunde sekundär genäht. Am 5. Juni wurde
Pat. geheilt entlassen.
Die Frage nach der Bedeutung, die das Verhalten der Leukocyten
im Blute hat, ist von großem Interesse und bei weitem noch nicht er-
ledigt. Man dürfte wohl darüber einig sein, daß eine vermehrte Leuko-
cytose bedeutet, daß Toxine in das Blut übergehen und daß der Körper
Kraft hat, gegen sie zu reagieren. Es ist deshalb zu erwarten, daß
man häufig vermehrte Leukocytose in relativ gutartigen Fällen finden
wird, d. h. akuten Appendicitiden mit begrenzter intraperitonealer Eiter-
bildung. Vermehrte Leukocytose muß ein in prognostischer Hinsicht
günstiges Zeichen sein.
Während des Jahres 1902 sind in der chirurgischen Klinik in einer
großen Anzahl Fälle Zählungen der Leukocyten vorgenommen worden.
Die Angaben hierüber finden sich in den Krankenjournalen der Dienst-
tuenden. Nur aus einem Teile derselben habe ich Zeit gehabt, Aus-
züge zu machen, weshalb die Zahlen, die ich hier angeben werde, nur
einen Teil der Untersuchungen repräsentieren. In üebereinstimmung
mit CüRSCHMANN, DA CosTA, WASSERMANN, Heaton u. a. haben wir,
wenigstens bisher^), gefunden, daß eine Leukocytenzahl von über 20000
1) Vgl. Emil Müllers Fall (weiter unten), in dem sich eine Tag für
Tag steigende Leukocytose bis zu 20250—25000 fand und keine ent-
sprechende Eiterung an irgend einer Stelle, weder bei der Operation noch
bei der Sektion gefunden wurde.
364 K. O. Lennander,
bei Appendicitis ein Zeichen von Suppuration außerhalb des Appendix
ist In 4 Fällen von sogenannten intraperitonealen Abscessen ist die
Leukocytenzahl vor der Operation zu resp. 23000, 25000, 27000, 2800O
berechnet worden. In 7 zum Teil sehr schweren Fällen von ein- oder
mehrkämmerigen intraperitonealen Abscessen ist jedoch das Resultat
zwischen 16000 und 19000 gewesen. In einem FaUe von großem intra-
peritonealen Absceß war die Zahl der Leukocyten von 12100 — 12700^
in einem anderen Falle 11800. Imal (Fall VI) 11000 bei Gangrän
im Proc. vermiformis und einer sehr geringen fibrinös-purulenten Peri-
tonitis zwischen Proc. vermiformis und Omentum. In einem Falle von
recht großem Absceß nahe am Promontorium wurden nur 4500 Leuko-
cyten gezählt. Eine Leukocytenzahl von ungefähr 12000 —
16000, ja sogar eine so geringe Zahl wie 4500 darf uns
deshalb nicht davon abhalten, zu operieren in Fällen von
Appendicitis und begrenzter Peritonitis, wenn ein oder
einige von den übrigen klinischen Zeichen es erfordern.
In 2 Fällen von akuter Appendicitis mit beginnender freier, eiteriger
(putrider) Peritonitis war die Leukocytenzahl in dem einen 16500—
17000, im anderen 12000—13900 (Fall XIII). In 2 FäUen von akuter
Appendicitis mit freier eiteriger Peritonitis im ganzen Bauche, den
linken subphrenischen Raum ausgenommen, betrug sie in dem einen
21000 (Fall I), im anderen 18000. In 4 Fällen von akuter Gangrän
des Proc. vermiformis, aber ohne Perforation und ohne eiterige Peri-
toniüs betrug die Leukocytenzahl in FaU II 16900, in Fall V 12000,
in Fall XI 5200 und in Fall XII 18000. Die Fälle II, V und XII,
bei denen sich vermehrte Leukocytose fand, zeigten alle eine Spur von
Albuminurie, im Fall XI war dies nicht der Fall. Man sieht, daß
diese Leukocytenzahlen nicht viel Aufklärung geben. Besonders bitte
ich den Leser, die Falle V, XI und XIII zu studieren.
In 4 Fällen, die als katarrhalische Appendicitiden oder Enteritiden
mit Appendicitis und seröser Peritonitis gedeutet wurden, ist die An-
zahl der Leukocyten 7800—10000 gewesen. Die Diagnose ist in
3 Fällen (darunter Fall IV) durch die Operation bestätigt worden.
Bei einem jungen Manne, der 6 Tage vor der Aufnahme am 5. No-
vember 1902 sehr heftig erkrankt war an Symptomen, die durchaus der
Appendicitis glichen, wurden die Leukocyten gezählt; es fanden sich
8200. Patient war deutlich sehr schwer krank und das Krankheitsbild
erinnerte bei der Aufnahme am meisten an eine doppelseitige Pleuritis
diaphragmatica. 12 Tage später war es deutlich, daß man einen Pyo-
pneumothorax subphrenicus vor sich hatte. Man fand bei der Operation
einen gangränösen Appendix und eine abgekapselte eiterige Periappen-^
dicitis, sowie, getrennt von dieser, einen kolossalen subphrenischen
Absceß. Der Eiter wurde auf 2 1 (?) geschätzt. Ein Erguß in beiden
Pleurahöhlen wurde später spontan resorbiert und eiire Pneumonie in
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 365
der linken Lunge hat sich allmählich gelöst, so dafi der Patient voll-
ständig gesund entlassen wurde. Hier stand ich mit Unrecht von einer
zeitigen Operation ab, hauptsächlich auf Grund des Verhaltens der
Leukocyten.
Von 2 Fällen von tuberkulöser Peritonitis, die unter der Diagnose :
akute Appendicitis mit Eiterbildung in das Krankenhaus geschickt
wurden, betrug die Leukocytose in dem einen 9900, im anderen, in
dem die Symptome auf Berstung eines Abscesses in die freie Bauch-
höhle hinein deuteten, 18000. In beiden Fällen wurde operiert. Der
letztere Kranke wurde geheilt und frei von Symptomen entlassen, der
erste starb nach 2—3 Monaten an Darmperforationen.
In 3 Fällen von perforierendem Magengeschwür mit
eiteriger Peritonitis in der ganzen Bauchhöhle war die
resp. Zahl der Leukocyten 7300, 10000, 11600—12000. Alle 3 Fälle
endeten tödlich.
Von 2 Fällen von akuter eiteriger (brandiger) Cholecystitis
war die Leukocytenzahl in dem einen 18000—18400, im anderen 12400»
Im ersten fand sich eine beginnende freie, seröse Peritonitis, im anderen
eine begrenzte Eiterbildung um die ganze Gallenblase herum mit
dickem, stinkendem Eiter.
In einem Fall von Ascites bei Krebs des Peritoneum mit
heftigen Symptomen, und deshalb als Peritonitis eingeschickt, wurden
21000 Leukocyten gefunden.
In einem Falle von sehr ausgebreiteter, multilokularer Strepto-
kokkenperitonitis, von einer doppelseitigen Pyosalpinx ausgegangen»
fanden sich bei einer ersten Zählung am 27. November (5., 6. Krank-
heitstag) 25000 Leukocyten und bei einer anderen am 2. Dezember
9 Uhr 30 Minuten vormittags 9300 und bei einer dritten an demselben
Tage 9 Uhr abends 15200. Am Tage darauf, am 3. Dezember, wurden
alle Eiterhöhlen entleert und unter Aortenkompression die inneren
Genitalien vollständig exstirpiert. Im Februar 1902 war die Kranke
geheilt. Bei anhaltender oder, wie in diesem Falle, ver-
mehrter Suppuration findet man also nicht immer an
einem späteren Tage dieselbe hohe Leukocytenzahl wie
bei einer vorhergehenden Zählung (vgl. Cürschmann). Bei
erneuten Leukocytenzählungen hat man darauf zu achten, daß das Blut
von derselben Stelle des Körpers genommen wird wie beim ersten
Male (Fingerspüze , Zehenspitze, Ohrläppchen) und daß es zu der-
selben Tageszeit und in demselben Verhältnis zu einer vorherge-
gangenen Mahlzeit entnommen wird.
Es ist demnach klar, daß wir zur Zeit eine brauch-
bare Aufklärung durch die Zählung der Leukocyten im
Blute gerade in denjenigen Fällen nicht erhalten, wo
wir sie am meisten brauchen könnten, nämlich bei zei^
366 K. G. Lennander,
tigen Operationen wegen Appendicitis, wo es gilt, durch
Exstirpation eines kranken Proc. vermiformis einerPeri-
tonitis vorzubeugen. Hier sind noch fortgesetzte Studien nötig,
die sich auf die Formen und Färbungsverhältnisse der Leukocyten er-
strecken müssen.
Folgender Fall von Emil Müller i) mahnt zu großer Vorsicht,
wenn man die therapeutische Bedeutung einer sogar von Tag zu Tag
steigenden Leukocytenzahl zu beurteilen hat. Er zeigt, daß die von
CuRSGHMANN, Cazin uud Gros ^) uud mehreren anderen vorher und
nun neuerdings beim deutschen Chirurgenkongreß im Juni 1903 aus-
gesprochene Ansicht, daß eine anhaltend hohe und noch mehr eine Tag
für Tag zunehmende Leukocytose ein sicherer Beweis von Suppuration
sei, unrichtig sein kann und deshalb therapeutisch irreleiten kann.
Ein 32 J. alter Mann hatte am 19. Mai 1903 Schmerz in der Gegend
der Cardia, schlief dann gut in der Nacht, hatte aber am 20. Mai Schmerz
in der rechten Seite des Unterleibes. Temperatur am 20. Mai 40,0® —
39,0 0. Albuminurie. 21. Mai Temp. 38,1—37,80, Puls 92. Spuren von
Eiweiß. Leukocyten 8100. 22. Mai Temp. 37,2—37,80, kein Eiweiß im
Harn, Leukocyten 11400. 23. — 30. Mai. Temperatur zwischen 36,7 und
38,3 0 nur 2mal über 37,9 <>; 28. Mai starke Eiweißreaktion, Puls die
ganze Zeit um 90 herum. Allgemeinbefinden gut. Die Leukocytenzahl
ist von Tag zu Tag gewesen 13600, 11400, 19200; 26. Mai 12000
—20300; 27. Mai 19400—19600; 28. Mai 26000, 29. Mai 26 600—26000;
30. Mai 19300. Auf Grund der Albuminurie, aber besonders auf Grund
der hohen Leukocytenzahl wurde die Operation gemacht am 30. Mai. Der
Proc. vermiformis lag in frische Adhärenzen eingebettet. Es fand sich
kein Eiter. Der Proc. vermifornus wurde exstirpiert, die Bauch wunde
geschlossen ohne Drainage. Die Schleimhaut in dem exstirpierten Appendix
war geschwollen und injiziert, aber ohne Zeichen von Nekrose, Abend-
temperatur 39,7», Leukocyten 23 750. 31. Mai Temp. 39,2» Puls 132.
Anurie. Abends Temp. 40,8®, Puls 180, Leukocyten 16 600. Tod abends
11 Uhr. Sektion am 1. Juni. Peritoneum überall von natürlichem Aus-
sehen. Amputationsstelle am Goecum verklebt. Kleine Lymphdrüsenge-
schwülste im Mesenterium in der Nähe. Nieren hyperämisch. Nirgends
im Körper wurde irgend welche Eiterbildung angetroffen.
Zuletzt bitte ich, meine Kollegen wieder auf Riedels sowie auf
Payrs ^) und Sprengels*) Abhandlungen über Frühoperationen bei
Appendicitis hinweisen zu dürfen. Diese definieren den Begriff „Früh-
operation" in Uebereinstimmung mit anderen deutschen Autoren als
1) Hospitalstidende, 1903, No. 25.
2) Semaine m6d., 1903, No. 18.
3) Payr, Beiträge zur Frage der Frühoperation bei Appendicitis.
Arch. f. klin. Chir., Bd. 68, 1902, p. 306.
4) Spbkngbl, Versuch einer Sammelforschung zur Frage der Früh-
operation bei akuter Appendicitis nach persönlichen Erfahrungen. Arch.
f. klin. Chir., Bd. 68, p. 346.
Geheilt
Todesfälle
Summe
230
2
232
227
57
284
39
8
47
9
9
21
1
22
9
7
16
188
49
237
11
11
165
19
184
12
30
42
Meine £rfalirtmgen über Appendicitis. 367
Operation binnen 48 oder höchstens 60 Stunden nach der Erkrankung.
Sprengel hat in seiner Arbeit eine wichtige Statistik, die die Fälle
umfaßt, die im Verlaufe von 16 Monaten, 1. Dez. 1900 bis 31. März 1902,
in den von Rehn, Riedel, Sghnitzler, Sonnenburg und Sprengel
geleiteten Anstalten operiert worden sind.
Sie hat folgendes Aussehen:
I. Operationen im freien Intervall
II. Operationen während des Anfalles
• a) Zeitig, in den ersten 2X24 Std.
davon ohne Peritonitis
mit begrenzter Peritonitis
mit freier Peritonitis
b) Spät, nach den ersten 2 X 24 Std.
davon ohne Peritonitis
mit begrenzter Peritonitis
mit freier Peritonitis
Die Summe der Operationen während des Anfalles, 284 mit 57 Todes-
fällen oder 20 Proz. Todesfälle, stimmt gut mit dem Resultate der Klinik
in üpsala von 1888—1902, 283 Operierte mit 57 Todesfällen = 20 Proz.
Todesfälle.
Ich glaube, daß Frühoperation als Bezeichnung für eine binnen
den ersten 48, höchstens 60 Stunden ausgeführte Operation ein un-
glücklich gewählter Ausdruck ist, der den Begriff nur verwirren kann.
Frühoperation darf nach meiner Meinung nur eine solche Operation
genannt werden, die ausgeführt wird, ehe es xu Peritonitis gekommen
ist, wenigstens ehe es zu eiteriger oder putrider Peritonitis gekommen
ist. Ihre Aufgabe ist es, der Peritonitis zuvorzukommen.
Es kommt zu keiner Verminderung dieser 20 Proz. Todesfälle
nach Operationen wegen akuter Appendicitis, bevor nicht die inneren
Aerzte gelernt haben, daß sie in jedem irgendwie ernsten Falle
von Appendicitis — es mag das allgemeine Aussehen des Patienten
oder irgend ein einzelnes Symptom sein, was beunruhigend wirkt —
präzis so zu handeln haben, wie bei einem eingeklemmten Bruche,
d. h. unverzüglich einen Chirurgen zu rufen, oder noch besser, den
Kranken so schnell als möglich in eine chirurgische
Klinik zu schaffen. Hier können der innere Arzt und der Chirurg
den Kranken gemeinsam studieren und in aller Ruhe die Bestimmung
über eine eventuelle Operation fassen. Bei verständiger Anordnung
des Transportes unmittelbar nach der Erkrankung habe ich auch bei
recht langen Reisen keine Ungelegenheiten gesehen. Es dürfte von
großer Bedeutung sein, wenn der innere Arzt oft Gelegenheit hat, bei
liitt«U. a. d. OmxgeMflten d. Medixtn n. Chiraivie. Xm. Bd. 24
368 K. G. Lennander,
der Operation seiner an akuter Appendicitis leidenden Kranken gegen-
wärtig zu sein.
Zum Vergleich mit Sprenoels Tabelle teile ich 2 Tabellen mit,
die alle Fälle umfassen, die in der Klinik in Upsala bis zum De-
zember 1902 in den ersten 2X24 Stunden nach der Erkrankung ope-
riert worden sind.
Tabelle II. Fälle aus der Gruppe B, binnen 48 Stunden nach
dem Auftreten der ersten Symptome operiert, zusammengestellt nach
der Anzahl Stunden, die zwischen dem Auftreten der ersten Symptome
und der Operation verlaufen sind.
Stunden 0-12 12-24 24—36 36-48
Heilung 15 4 3
Tod 0 0 0 1^)
15 4 4
Tabelle III. Fälle der Gruppe A, operiert binnen 48 Stunden nach
dem Auftreten der ersten Symptome, zusammengestellt nach der Anzahl
Stunden, die zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der
Operation verlaufen sind.
Stunden 0—12 12—24 24-36 36-48
Heilung 3 12 4
Tod 0 12 6
3 2 4 10
Man sieht, daß man wegen der freien, fortschreitenden
Peritonitis sofort operieren muß. Die Indikation zur Operation ist
mindestens ebenso dringend, wie bei einem eingeklemmten Cruralbruch.
Von 16 Fällen, die operiert worden sind, nachdem die ersten 12 Stunden
verflossen waren, haben 9 einen tödlichen Ausgang gehabt.
In Tabelle IV und V habe ich die Fälle von freier, fortschreitender
Peritonitis zusammengestellt, in denen binnen 48 Stunden operiert
worden ist vom Zeitpunkte einer diagnostizierten Berstung frei in die
Bauchhöhle entweder eines kranken Proc. vermiformis oder eines peri-
appendikulären Abscesses. Wir sehen, daß von 9 Fällen, die binnen
24 Stunden nach einer solchen Perforation operiert worden sind, nur
2 gerettet werden konnten.
Tabelle IV. Fälle aus der Gruppe A, operiert binnen 48 Stunden
nach einem vor der Operation vermutetem Durchbruche eines mit
Eiter gefüllten Proc. vermiformis oder eines begrenzten periappen-
dikulären Abscesses, zusammengestellt nach der Anzahl Stunden, die
zwischen dem Zeitpunkte der Perforation und der Operation ver-
flossen sind:
1) Todesursache: Volvulus intestini tenuis, siehe oben.
Meine Erfahrungen über Appendicitis. 369
Stunden 0—12 12—24 24—36 36-48
Heilung 0 2 11
Tod 16 0 0
18 11
Die Tabelle V enthält dieselben Fälle wie Tabelle IV. In Paren-
thesen findet man die Zeit in Tagen (T.) oder Stunden (St.) ausge-
drückt, die zwischen dem Beginne der Erkrankung und dem Auftreten
der Perforationssjrmptome verflossen ist.
Es wäre also Zeit gewesen, wenigstens 3, wahrscheinlich 5 oder 6
von diesen 7 Kranken vor der todbringenden Berstung in die freie
Peritonealhöhle hinein zu retten, wenn der erste Beginn der Krankheit
beachtet worden wäre.
Stunden 0-12 12—24 24—36 36—48
Heilung 0 2 (2V„ 3 T.) 1 {6% T.) 1 (8V, T.)
Tod 1 (27 T.) 6 (1, 12, 24, 29 St., 0 0
S% 5V, T.)
Summa 18 11
Das Studium meiner akuten Fälle von Appendicitis
hat mich gelehrt, daß es am besten für den Kranken ist,
wenn er im Verlaufe einer der nächsten Stunden operiert
wird, nachdem man die Diagnose auf akute Appendicitis
hat stellen können, sobald entweder sein allgemeines
Aussehen oder irgend eines von den Symptomen Veran-
lassung zu Beunruhigung gibt. Dieser Ausspruch geschieht
unter der Voraussetzung, daß es ein in der Bauchchirurgie erfahrener
Chirurg ist, der operiert.
Findet sich keine Gelegenheit zu chirurgischer Behandlung, dann
kann viel gewonnen werden durch Bettruhe und vollständige Ent-
haltung von Speise und Trank in der ersten Zeit. Diese
Behandlung findet sich beschrieben in meinen Aufsätzen ^om appendicit*^
im Nord. med. arkiv, 1893 (lieber Appendicitis. Wien 1895), und „ora
akut (varig) peritonit" (Upsala läkarefören. förh., N. F. VI, 1900—1901.
— Dtsch. Zeitschr. f. Chir., 1902. — Encyklopädie der Chirurgie, heraus-
gegeben von Kocher und de Quervain). Im letzteren Aufsatze findet
sich auch eine ausführliche Darstellung der Operationstechnik und Nach-
behandlung bei den verschiedenen Formen von Peritonitis.
Von einem Paar Modifikationen der Nachbehandlung hoffe ich, daß
sie sich als wertvoll erweisen werden. Statt steriler Gaze zur Tampo-
nade und Drainage der Bauchhöhle habe ich oft Dochte angewendet,
am häufigsten nur sterile Dochte, am Appendixstumpf jedoch nicht selten
Jodoformdochte (Billroth). In die Dochte lege ich 1 oder 2 Drain-
röhre» ein. Diese können nach 1 oder 2 Tagen herausgenommen werden,
nachdem man vorher mit einer Wundspritze Glycerin mit oder ohne
24*
370 K G. Lennander,
Zusatz von Wasserstoffsuperoxyd eingegossen hat. Danach beginnt man
die einzelnen Fäden der Dochte auszuziehen. Man beginnt mit den
in der Mitte, zunächst an den Drainkanälen liegenden und zieht jeden
Tag einige aus. Damit die Fäden nicht mit der Bauchwunde und den
zunächst liegenden Teilen des Peritoneum parietale verwachsen sollen,
werden sie mit einem abgeschnittenen Condom oder mit Guttapercha-
papier umgeben. Nach 5 — 7 Tagen sind gewöhnlich alle Dochte
herausgenommen. Man muß zusehen, daß der Docht hinlänglich
grob und stark ist. Die Dochte drainieren gut. Durch die einge-
legten Drainrohre wird die Drainage sehr locker. Durch Eingießung
von Wasserstoffsuperoxydglycerin kann die Drainage noch wirksamer
gemacht werden. Da das Guttaperchapapier das Verwachsen der
Dochte mit der Bauchwunde unmöglich macht, können sie verhältnis-
mäßig schmerzlos (oft fast ganz schmerzlos) herausgenommen werden.
Ich suche im allgemeinen die schräge Bauchwunde medial von der
Spina ilei ant. sup. zusammenzunähen, die Drainage wird so lateral
von diesem Punkte herausgeleitet. Das Peritoneum und die Muskeln
werden mit 2 oder 3 Reihen von Nähten aus gröberem Catgut zu-
sammengenäht Die Hautwunde und das subkutane Fett werden sekundär
genäht. Bei spät operierten Fällen, hochgradiger Darmparese u. s. w.
lasse ich stets die Bauchwunde ganz und gar offen. Mit Docht zu
drainieren, lernte ich in Billroths Klinik. Ich gab das indessen
nach einigen Jahren auf, als ich ein schlechtes Garn bekommen hatte;
manche Fäden zerrissen, als sie herausgenommen werden sollten. Man
muß auch genau darauf achten, wie man die Fäden im Verhältnis zu
den Därmen legt. Es ist denkbar, daß ein verirrter Faden beim Heraus-
nehmen ein Loch in einen Darm schneiden kann. Den Docht mit
Guttaperchapapier in so großer Ausdehnung wie möglich in der Bauch-
wunde und längs des parietalen Peritoneum zu umgeben, ist nur eine
selbstverständliche Konsequenz meiner Studien über das Gefühl in der
Bauchhöhle.
Nach den meisten Appendicitisoperationen — sowohl während des
Anfalles als auch während des freien Intervalles — - wird unmittelbar
nach der Operation, ehe der Patient aus der Narkose erwacht, eine
Eingießung in das Rectum von 1 I physiologischer Kochsalzlösung
mit ungefähr 5 Proz. Traubenzucker und 3 Proz. Alkohol gemacht,
um dem Darme etwas Arbeit zu geben. Digitalisinfus, Liqu. am-
monii anis. werden zugesetzt, wenn diese Mittel für nötig erachtet
werden. Die allermeisten Patienten behalten eine so große Eingießung,
wenn sie unmittelbar nach der Operation gemacht wird. Nach 5 bis
6 Stunden wird ein Darmrohr in das Rectum eingeführt, das gewöhnlich
keine Flüssigkeit enthält, ein Beweis dafür, daß wenigstens der Teil der
Eingießung, der im Rectum sich befand, resorbiert worden ist. Dei^Darm
wird danach mit mehreren Litern Wasser, Salzwasser oder Seifenwasser
Meine ErfahruDgen über Appendicitis. 371
ausgespült. Gewöhnlich gehen sowohl Flatus als auch Faeces dabei ab.
Das deutet noch nicht darauf hin, daß die Darmperistaltik in Gang ge-
kommen ist. Es ist nur ein größerer oder kleinerer Teil des Colon, der
entleert wird. Dann wird eine neue Eingießung von physiologischer
Kochsalzlösung mit Traubenzucker und Stimulantien und Tonids nach
Bedarf gegeben. Es ist gewöhnlich, daß die Patienten nach V2 1 oder
weniger ^Halt"^ sagen. Man fährt mit den Darmausspülungen und
Darmeingießungen jede fünfte, sechste Stunde fort, bis die Darm-
peristaltik in Gang gekommen ist. Am 2.— -4. Tage werden eine oder
mehrere Kochsalz-Traubenzuckereingießungen oft mit solchen von Oel,
mit oder ohne Zusatz von Ricinusöl vertauscht. Oeleingießungen haben
ja großen Wert bei der Behandlung von Coliten mit symptomatischer
Verstopfung. Sie müssen deshalb auch Nutzen bringen können bei dem
ähnlichen Zustande nach Operationen. Das Oel bleibt nicht im Rectum
stehen. Es wird durch das ganze Colon aufwärts transportiert bis
zum Coecum und möglicherweise auch weiter. Bei einem Patienten
mit Cökalfistel sahen wir beständig Oel aus der Fistel rinnen in der
folgenden Nacht oder am Morgen, wenn er am Abend eine Eingießung
von 50—100 ccm Oel in das Rectum bekommen hatte.
Bei schwacher Herztätigkeit und drohendem Lungenödem haben wir
Nutzen von subkutanen Strychnininjektionen gesehen. Es ist möglich,
daß sie auch die Darmperistaltik vermehren.
Um der Darmparese entgegenzuwirken, haben wir während der
letzten 2 Jahre in manchen Fällen Physiostigmininjektionen versucht, wie
es scheint, nicht ohne Nutzen. Das Wichtigste sind indessen ohne Frage
die mechanischen Maßregeln : locker sitzender Verband, wechselnde Lage
im Bette, Darmrohr, Darmeingießungen, Darmausspülungen, wenn nötig
Magenausspülungen einmal oder mehrere Male im Laufe eines Tages.
Es ist notwendig, mit allen zweckmäßigen Mitteln dahin zu arbeiten,
daß sobald als möglich nach jeder Bauchoperation die natürliche
Darmperistaltik in Gang kommt, weil ja auf diese Weise am
sichersten Verwachsungen in der Bauchhöhle vermieden
werden. Hierzu ist es auch von Bedeutung, daß die Bauchserosa
normal feucht erhalten wird, d. h. daß dem Körper eine der Herz-
tätigkeit und Diurese entsprechende Feuchtigkeitsmenge zugeführt wird
— per rectum, per os, subkutan oder intravenös, je nach dem Zu-
stande des Patienten.
Um den Zweck zu erreichen, daß nach Operationen in der
Bauchhöhle keine Verwachsungen entstehen, müssen wir das
Peritoneum während der Operation schonend behandeln. Wir dürfen
nichts anderes in die Bauchhöhle einlegen, als Salzwasserkompressen, und
mit nichts anderem darin trocknen. Jedes Eingeweide, das während der
Operation nach vorn in die Bauchwunde zu liegen kommt, soll sofort
mit Salzwasserkompressen bedeckt werden. Wir dürfen das Peritoneum
372 K. O. Lennander, Meine Erfahrungen über Appendicitis.
parietale nicht vornähen an die Ränder der Bauchwunde, sondern wir
müssen im Gegenteil während der Operation die Parietalserosa sich so
weit als möglich zurückziehen lassen. Bei der Bauchnaht sollen wir
die beschädigten Ränder der Serosa womöglich extraperitoneal legen.
Das Omentum muß man im allgemeinen nicht hinter der Bauchwunde
ausbreiten. Die Dünndärme sollen sich da frei bewegen können. Sie
verwachsen nicht leicht mit der lädierten Bauchwand. Anders verhält
es sich, wenn die vordere Parietalserosa in größerer Ausdehnung als
die Bauchwunde beschädigt oder exstirpiert worden ist Da ist es
am besten, das Omentum mit feinem Catgut an die vordere Bauch-
wand zu nähen, so daß alle geschädigte Parietalserosa vom Omentum
bedeckt oder ersetzt wird. Hierbei achte man auf die Lage des
Colon! Im Peritoneum parietale und im Omentum dürfen wir nur
leicht resorbierbaren Catgut versenken.
Aus dem pharmakolog. Institute in Heidelberg (Prof. R. Gottlieb).
Nachdruck verboten.
XVL
Hat die Gelatine einen Einfluss auf die
Blutgerinnung?
Kritische nnd experimentelle Untersuchungen.
Von
Dr. Hermann Ejtposi,
Privatdozent und Assistent der chirurgischen Klinik.
Die zahlreichen Mitteilungen über glückliche Erfolge bei Anwendung
der Gelatine in Fällen unstillbarer Blutungen aller Art beweisen die
Bedeutung eines derartigen Mittels, denn gar mancher Kranke, bei
dem eine schwere, chirurgisch nicht zugängliche Blutung auf keine
Weise zum Stehen gebracht werden konnte, verdankt der Gelatine
sein Leben. Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, welche die Wirkung
überhaupt leugnen und dem nach ihrer Ansicht zweifelhaften Erfolge
die großen Gefahren der Embolie, der Tetanusinfektion u. a. entgegen-
halten.
Es hängt dieser Widerspruch wohl vor allem damit zusammen, daß
uns noch jede Kenntnis von der Wirkungsweise der Gelatine abgeht,
und daß es bisher nicht gelungen ist, die Wirkung im Tierexperimente
einwandsfrei zu demonstrieren. Aber selbst die skeptischesten Beob-
achter können die Fülle der günstigen klinischen Erfahrungen nicht
hinwegleugnen; dazu sind diese zu zahlreich und die Autoren zu ein-
wandsfrei, als daß man in allen Fällen von „Beobachtungsfehlem^
sprechen oder das Aufhören der Blutung auf den Kollaps schieben
könnte, in dem bekanntlich Blutungen spontan zum Stehen kommen.
Klinisch steht daher die Wirkung der Gelatine fest; um so auf-
fallender mußte es sein, daß uns das Experiment am Tier so inkon-
stante Resultate ergab. Es ist, wie wir sehen werden, bisher von
keinem Experimentator einwandsfrei nachgewiesen worden, daß
Gelatine im Tierversuche wirkt. Es schien daher eine dankenswerte
Aufgabe, der Gelatinefrage nochmals näherzutreten, die Experimente
historisch und kritisch zu prüfen und neue, beweisende an ihre Stelle
zu setzen.
374 Hermann Kaposi,
Meine Versuche sind im Heidelberger pharmakologischen Institute
ausgeführt, und ich bin Herrn Prof. Gottlieb, sowie Herrn Dr. Jakobt
für ihre vielfachen Ratschläge zu größtem Danke verpflichtet.
Wenn wir zuerst die kasuistischen Erfahrungen der Klinik Revue
passieren lassen, so wird uns diese Arbeit durch das ausgezeichnete
Sammelreferat von v. Boltenstern^ wesentlich erleichtert. Für die
therapeutische Anwendung am Menschen kommt selbstverständlich nie-
mals die intravenöse, sondern nur die örtliche Applikation der Gelatine
in Anwendung, dann die Darreiqjhung per os (per rectum) und die sub-
kutane Injektion, v. Boltenstern folgend, zähle ich von bekannt ge-
wordenen Fällen auf^):
1. Oertliche Anwendung.
Am häufigsten Stillung von Nasenbluten durch Gaze, die
mit Gelatine getränkt, und mit der die Nase tamponiert wurde, und
zwar mit „fast augenblicklichem Erfolge, selbst wenn Hämophilie, Leuk-
ämie oder Arteriosklerose zu Grunde lag".
Ferner vaginale, intrauterine, hämorrhoidale Blutungen,
Blutungen nach Zahnextraktionen, Schnittwunden der Finger,
postoperative Larynxblutung, Gelenkblutung bei einem Hä-
mophilen, Blasenblutungen, endlich auch eine Nachblutung
aus der Leber nach Punktion eines Leberabscesses.
Im Tierexperiment wurden parenchymatöse Blutungen aus Leber-
und Milzwunden durch einfache Applikation 10-proz. Gelatinelösung
binnen 2 Minuten gestillt
2. Innerliche Anwendung.
Per os mehrmals bei Magenblutungen infolge Ulcus rotundum ;
bei einem Hämophilen mit Nierenblutungen gab Hahn^)
200—250 g Gelatine, worauf die Blutung sofort stand. Hesse*) gab
bei einem hereditär belasteten 8-jähr. Knaben mit Hämophilie täglich
200 g einer 10-proz. Gelatinelösung mit Beimengung von Himbeer- oder
Zitronensaft. Die Darreichung mußte 6 Monate lang erfolgen (== 36 kg
Gelatine 1); eine vorhergegangene nur 4-wöchentliche Kur war erfolglos
geblieben.
Bei Hämorrhoiden, bei Melaena neonatorum wurde teils per
os, teils per rectum erfolgreich Gelatine gegeben.
1) BoLTENSTBRN, Uebsr die Behandlung innerer Blutungen mit be-
sonderer Berücksichtigung der Gelatineanwendung. Würzburger Abhandl.^
Bd. 3, Heft 5.
2) In Bezug auf Details sowie die Namen der Autoren muß auf die
genannte Arbeit verwiesen werden.
3) Hahn, Münch. med. Wochenschr., 1900, No. 42.
4) Hesse, Therapie der Gegenwart, 1902, 9.
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 375
Im ganzen wurde die Gelatine innerlich selten gereicht, weil sie
im Magen so verändert wird, daß ihre hämostatische Wirkung kaum
zur Geltung kommen dürfte.
Um so häufiger sind die Mitteilungen über günstige Erfolge bei
3. subkutaner Anwendung.
Zahlreich sind die Berichte der Kliniken über den Effekt bei Lungen -
blutungen, und zwar auch bei schweren profusen und wiederholten
Blutungen ; „selten waren mehr als eine Injektion erforderlich*' (Cürsch-
MANN, Klemperer) bei Haematemesis (Curschmann u. a.), bei
typhösen und anderen Darmblutungen, mehreren Fällen von
Melaena neonatorum, bei Nieren- und Nierenbeckenblu-
tungen. Ebenfalls zahlreich sind die Erfolge bei den Bluterkrankungen^
bei Hämophilie, bei Purpura haemorrhagica, cholämi-
sehen Blutungen und überhaupt dort, „wo es sich um profuse,
protrahierte, oft sich wiederholende Blutungen, namentlich auf der
Grundlage einer Blutdissolution handelt**.
Auch an unserer Klinik hatten wir mehrmals Gelegenheit, Gelatine
zur Blutstillung zu benutzen, und zwar fallen die meisten Fälle in die
Zeit vor der Einführung der Gelatina sterilisata Merck. Bei lokaler
Applikation, so z. B. in wenigen Fällen von Epistaxis, dann bei einem
stark blutenden Ulcus carcinomatosum des Ohres i¥ar ein Erfolg unver-
kennbar.
Die subkutane Anwendung erfolgte bei Kranken mit schweren
cholämischen Blutungen; nur bei einem dieser ist ein sicherer Erfolg
zu konstatieren gewesen, bei den übrigen war der Erfolg zweifel-
haft und der Exitus trat ein; allerdings waren es stets hochgradig
kachektische Individuen, die viele Monate ikterisch gewesen waren.
Der positive Erfolg betraf eine 55-jähr. Dame, die seit Y2 Jahre
intensiv ikterisch war, und die mehrere von Schüttelfrösten begleitete
Gallenkoliken gehabt hatte. Bei der Operation wurde die Gallenblase ver-
wachsen gefunden, eine größere Anzahl von Steinen extrahiert 8 Tage
nach der Operation trat eine schwere Nachblutung auf, es blutete aus dem
Netz an mehreren Stellen ; diese wurden umstochen, dann 2mal an diesem
Tage 200 g 2-proz. (gewöhnlicher) Gelatine injiziert (also 8 g Gelatine).
Die Blutung stand und wiederholte sich nicht mehr.
Gutes Resultat hatten wir ferner, und zwar mehrmals, in dem-
selben Falle von Hämophilie.
Es betraf ein 14-jähr. Mädchen, hereditär belastet, das eben die Periode
bekommen hatte; die 1., 2. und B. war sehr stark, die 4. aber so heftig,
und zugleich von Nasenbluten begleitet, daß Fat. in die Klinik gebracht
wurde. Das Mädchen war hochgradig ausgeblutet, Puls kaum fühlbar.
H&moglobingehalt betrug 20 Proz., keine Leukocytose. Es trat am Auf-
nahmetage Nasenbluten und Vaginalblutung auf. Neben Nasen- und Vaginal-
tamponade wurde in den nächsten Tagen 200 com 2-proz. Gelatinelösung
376 Hermann Kaposi,
subkutan injiziert, daneben aber Seeale comutum gegeben, worauf nicht
nur die Blutung stand, sondern Fat. sich rasch so erholte, daü sie nach
4 Wochen wesentlich gekräftigt entlassen werden konnte. Zu Hause wurde
sie nicht weiter mit Gelatine behandelt. Nach 2 Monaten kam sie wieder
wegen einer heftigen Menstrualblutung. Nebst Seeale comutum, Tampo-
nade, gab man 2mal 100 com 2-proz. Lösung von Gelatine. Wieder stand
die Blutung, Fat. wurde gebessert entlassen. Sie starb nach Y, J^^^
zu Hause an profuser Blutung bei der wieder eingetretenen Feriode.
Aerztliche Hilfe war aber erst am letzten Tage eingeholt worden.
Endlich war der günstige Erfolg unverkennbar bei einer schweren,
mehrmals sich wiederholenden Nachblutung nach gewöhnlicher Eol-
porrhaphie.
Es handelte sich um eine 32-jähr. Frau, die zwar anämisch war, in
deren Anamnese aber von Hämophilie nichts nachgewiesen werden konnte.
Nach einem Fartus war ein Dammriß zurückgeblieben, der nicht genäht
wurde, und der nach einer weiteren Geburt zum Totalprolaps mit Cysto-
cele nnd Bectocele führte. Die sonst ungestörte Operation bestand in
vorderer und hinterer Kolporrhaphie mit Dammplastik. Am 2. und 4. Tage
post operationem trat heftige Nachblutung auf, die aber auf Gelatineein-
spritzung (2mal 100 ccm 2-proz.) stand. Infolge der Vaginaltamponade
waren die Nähte geplatzt, und so mußte nach 14 Tagen Sekund&maht
gemacht werden. Aber auch nach dieser trat heftige Nachblutung auf.
In 3 Tagen 2mal je 200 g 2-proz. Gelatinelösung stillte die Blutung
definitiv.
Die Gelatina sterilisata Merck wurde seit 1 Jahr vereinzelt be-
nützt. Lokal war ihre Wirkung ziemlich identisch der früher ange-
wandten gewöhnlichen Gelatine. Subkutan ist mir speziell ein Fall
von schwerer Magenblutung in Erinnerung, die bei Lösung des Mürphy-
Knopfes nach Gastroenterostomieoperation auftrat, und die nach Injektion
von 2 Tuben (=» 8 g) Erfolg zu haben schien. Allerdings war schon
schwerer Kollaps eingetreten. Im ganzen sind unsere Erfahrungen mit
der genannten Gelatina sterilisata nicht allzu groß.
Der Erfolg bei der Behandlung der Aneurysmen ist ein sehr zweifel-
hafter und soll hier nicht weiter besprochen werden.
Diese vielen, sicher schon mehrere Hundert Fälle betragenden kli-
nischen Beobachtungen beanspruchen unser ganzes Interesse und lassen
einen Zweifel an ihrer Richtigkeit höchstens bei manchem Einzelfalle
berechtigt erscheinen. Für die Tatsache der Wirksamkeit der Gelatine
spricht auch seine Geschichte. Es ist ein „altes" Blutstillungsmittel.
Nach v. BoLTENSTERN soll schou in den ältesten Zeiten der Leim als
hämostatisches Mittel gegolten haben: „Im Anfang des vergangenen
Jahrhunderts ist diese Verwendung des Leimes empfohlen worden.
Hecker (1888) rühmte nach Zibell eine Auflösung von Hausenblase
bei Nasenbluten und Mutterflüssen. Osiander bezeichnet als Volks-
arzneimittel bei Blutungen nach Verwundungen den warmen Tischler-
leim, welcher auf die blutende Wunde gestrichen wird."
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 377
Von Interesse ist auch, was wir von der Verwendung der Gelatine
in Japan und China lesen [ich zitiere wörtlich]^).
„Die Anwendung der Gelatine als Haemostaticum ist nicht neueren
Datums. In der europäischen Literatur findet sie sich erst im Anfange
und Mitte des vorigen Jahrhunderts erwähnt; in China dagegen ist
schon im Anfange des 3. Jahrhunderts n. Chr. Gelatine als Haemo-
staticum vielerlei in Gebrauch. So findet sich in dem — wenigstens
in China und Japan — berühmten Buche San-Han-Ron (eine Art von
Pathologie und Therapie) des damals in China angesehenen Arztes
Chian Chiyun Kiton, zwischen 204 und 219 n. Chr. chinesisch ge-
schrieben, Gelatine als Haemostaticum bei Blutungen aller Art empfohlen.
Auch in der japanischen alten Literatur finden sich viele Mitteilungen
Qber dasselbe Thema.
Da, wie bekannt, die japanische Medizin im Altertum aus China ein-
geführt wurde, so ist natürlich in Japan die Gelatine als Haemostaticum
etwas später in Gebrauch genommen, mit großer Wahrscheinlichkeit seit
ca. 1000 Jahren. Die Gelatine heißt chinesisch 0-Kiu, japanisch Nikawa
(d. h. Lederdekokt). Solcher Nikavasorten gibts in Japan viele; ge-
wöhnlich bereitet man sie aus Bos taurus (Bindsleder).
In China und Japan war die subkutane und intravenöse Anwendung
unbekannt; hauptsächlich war die Gelatine in Wasser gelöst, seltener in
Pulverform angewandt, z.B. zu Einblasungen bei Nasenblutungen.
Chinesen und Japaner brauchten sie bei Lungenblu-
tnn gen (Hämoptoe), Magenblutung, Blutungen aus dem Uro-
genitalapparate, der Gebärmutter (besonders bei Abortus), dem
D a r m mit dem Mastdarm, bei Anämie, und zwar nicht rein, sondern
meist mit verschiedenen Droguen versetzt, in ziemlich großen Dosen.
So z. B. Gelatine und Coptis brachypetala etc., Pulver aus dem Hörn
des Nashorns . . .
Außerdem brauchen die Chinesen und Japaner die Gelatine als
Stärkungs- und Blutbereitungsmittel, ähnlich dem Eisen . . .''
Das lange vergessene Mittel hat dann 1896 Carnot zur lokalen An-
wendung empfohlen. Im gleichen Jahre haben Dastre und Floresgo
ihre Experimente über intravenöse Einspritzung veröffentlicht und 1897
haben Langereaux und Paulebco Versuche über subkutane Applikation
publiziert. Aber wie bereits eingangs kurz erwähnt wurde, fanden die
Resultate der Tierexperimente vielfachen Widerspruch ; bald folgten be-
stätigende, bald ganz negative Veröffentlichungen, und so kam es, daß
eine Reihe von Forschern auf Grund der Tierversuche trotz der sicher-
gestellten Wirkung bei klinischen Fällen, der Gelatine jeden beschleu-
nigenden Einfluß auf die Blutgerinnung absprachen.
1) Dr. Y. MiuRA, Beiträge zur Geschichte der Gelatine als Haemo-
staticum. Centralbl. f. Chir., 1902, No. 9.
378 Hermann Kaposi,
Wie ist nun diese Differenz der klinischen Tatsachen niit dem Tier-
experiment zu deuten?
Ich hoffe in folgendem eine befriedigende Erklärung geben zu
können, muß aber dazu auf die ersten Versuche von Dastre und
Floresco, sowie auf die Experimente der anderen Forscher etwas ge-
nauer eingehen.
Carnot hatte zwar schon 1896 die Gelatine als lokales Haemo-
staticum wieder empfohlen, fand aber zunächst keine weitere Beach-
tung. Dastre und Floresco, welche den eigentlichen Anstoß zum
weiteren Ausbau der Gelatinefrage gaben, machten nun, wie das Studium
der Originalarbeiten ^) lehrt, die Entdeckung von der Wirksamkeit der
Gelatine bei intravenöser Anwendung nur zufällig. Nach Abschluß
gleich zu erwähnender Vorstudien über natürliche und künstliche Gela-
tineverdauung wollten sie den Einfluß der Gelatine auf den Stoffwechsel
untersuchen und machten zu diesem Zwecke unter anderem Gelatine-
injektionen in die Blutgefäße. Sie suchten dann in den diversen
Exkreten des Tieres nach der Gelatine oder ihren Stoffwechselprodukten.
Bei diesen Einspritzungen beobachteten sie nun das fast momentane
Gerinnen des Blutes und verfolgten dieses Phänomen in zahlreichen
Versuchen.
Nicht allein die Gerinnungsversuche, auch die genannten Vorver-
suche sind für unsere Frage von großem Interesse. In der erstge-
nannten Arbeit verfolgten Dastre und Floresco den Zweck, einen
Vergleich anzustellen zwischen der natürlichen und der künstlichen
Gelatineverdauung besonders beim Zusammenbringen der Gelatine mit
neutralen Salzlösungen. Die Eigenschaften der Gelatine werden zu-
nächst besprochen. Sie erstarrt nur in mehr als 1-proz. Lösung. Ich
zitiere wörtlich : „Die Lösung ist um so starrer, je konzentrierter sie ist,
und der Erstarrungsprozeß geht um so rascher vor sich, je höher pro-
zentig die Lösung ist, so daß man ungefähr aus der Erstarrungszeit
einen Schluß auf den Eonzentrationsgrad der Lösung ziehen darf. Z. B.
eine 1-proz. Lösung von 40® auf 22® abgekühlt, erstarrt erst in 50 bis
70', eine 2,5-proz. in 40—50', eine 5-proz. in 20—30'.
Dieses Erstarren bei Abkühlung einer Gelatinelö-
sung ist das für uns sinnfälligste und zugleich charak-
teristische Symptom der Gelatine. Geht die Gelatine
Modifikationen ein, so ist das auffallendste Zeichen der
Spaltungsprodukte der Verlust der Erstarrungsfähig-
keit (la perte de la facult6 de se gölifier). Dastre und Floresco
erörtern weiter, daß man solche Modifikationen aus der Gelatine er-
halten könne
1) Dastrb u. Floresco, Arch. de physiol., 1895, p. 701, und ebenda
1896, p. 402.
Hat die G-elatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung?
379
1) durch MagenverdauuDg ;
2) Pankreasverdauung;
3) durch Fäulnis;
4) Einfluß von Mikroorganismen;
5) hohe Temperaturen.
Die Produkte, welche durch die vorgenannten Prozeduren aus der
Gelatine entstehen, lassen sich in völlige Analogie bringen mit den
Spaltungsprodukten der sonstigen Eiweißkörper. Dastre und Floresgo
stellen folgende Tabelle auf:
Gelatine
Proto-
gelatose
Deutero-
gelatose
Gelatine-
Peptone
entarrbar
nicht e.
nicht e.
nicht e.
wird durch Ammonenlfat gefällt
wird durch gesättigte Kochsalzlösung
gefäUt durch Kochsalz + 30-proz.
Essigsäure
gefäUt durch Platinchlorür
do.
idem, aber un-
Yollständig
idem
idem
do.
nicht gefällt
nicht gefönt
nicht gefäUt
do.
nicht gefällt
nicht gefallt
nicht gefällt
Es gelingt also, die Gelatine von ihren nicht erstarrenden Spaltungs-
produkten zu differenzieren. Von aUen Methoden, solche Spaltungs-
produkte zu erzielen, interessiert uns am meisten Punkt 5, die Ein-
wirkung hoher Temperaturen, denn durch solche sterilisieren wir ja
die Gelatine vor ihrer Anwendung zur Blutstillung.
Zu diesem Punkt 5 bemerken Dastre und Floresco wörtlich:
^11 sufiit de chauffer un instant la Solution de g^latine a la temp4rature
de 140® en tube scell6 ou dans l'autoclave pour lui faire perdre
döfinitivement la facult^ de se prendre en gel6e par le refroi-
dissement. La mgme chose se produit (d apr^s Hofpmeister) lorsque
Ton maintient ä rebullition la Solution de g^latine ä la pression ordi-
naire, pendant 24 heures."
Also Erhitzen der Gelatine bei über 100® im Autoklaven, oder
Kochen durch 24 Stunden verändert die Gelatine zur nicht erstarrbaren
Gelatose. Es drängt sich wohl von selbst die Frage auf, ob dieser
Mangel der Erstarrungsfähigkeit von Einfluß auf die Eigenschaft der
Gelatine ist, die Blutgerinnung zu beschleunigen, und ich werde noch
zu zeigen haben, daß dies in der Tat der Fall ist.
Auf den zweiten Teil der Arbeit von Dastre und Floresgo,
worin sie zeigen, daß gewisse Neutralsalze ähnlich der Verdauung auf
Gelatine wirken und sie in Gelatose verwandeln, so daß sie geradezu
von einer Digestion saline sprechen, brauche ich als nicht hierher-
gehörig nicht einzugehen. Dies war die Vorarbeit zu Stoffwechsel-
untersuchungen, in deren Verlaufe Dastre und Floresco auf die
rapide Blutgerinnung bei intravenöser Einspritzung aufmerksam wurden.
Diese Entdeckung wurde nun eifrig verfolgt und durch zahlreiche Ex-
380 Hermann Kaposi,
perimente zu sichern gesucht. Die Versuche der genannten Autoren
wurden das Paradigma für die Nachprüfenden. Mit geringen Modifi-
kationen und Verbesserungen haben alle folgenden Experimentatoren
eine ähnliche Versuchsanordnung gewählt; Gelatine wurde intravenös,
später (durch Langereaux und Paulesco angebahnt) auch subkutan
injiziert und aus einer Arterie, in welche eine Kanüle eingebunden
wurde, das Blut entnommen, oder man setzte das Blut erst in vitro
der Gelatine zu. Immer wurde die Zeit bestimmt, welche das der Ader
entnommene Blut brauchte, um zu gerinnen, und aus den Differenzen
vor und nach Gelatineanwendung wurden dann die Schlüsse gezogen.
Daß diese Schlüsse viele Fehlerquellen aufweisen, soll sogleich gezeigt
werden.
Dastre und Floresco injizierten an Hunden und Kaninchen von
einer 5-proz. Lösung ihrer Gelatine in Kochsalz so viel in die Tibialis-
vene, daß 8 dg auf 1 kg Tier kamen. Die Injektion erfolgte mit dem
^Thermostat injecteurs" bei Körpertemperatur. Aus der Arteria cruralis
wurde mit dreiteiliger Kanüle das Blut entnommen. Aus der einen
floß es in Gelatinelösung, aus der zweiten in physiologische Kochsalz-
lösung, und aus der dritten un vermischt; die erste Probe gerann
am raschesten. Oder es wurde vor der Gelatineinjektion das Blut
^nativ^ auf seine Gerinnungszeit geprüft, und dann das aus derselben
Kanüle fließende Blut nach der Injektion ebenfalls. Läßt sich gegen
die erstgenannte Versuchsanordnung schon das einwenden, was Sacktjr
ihr vorwarf, daß „bei dem kleinen Kaliber der dreiteiligen Kanüle leicht
schon innerhalb derselben Gerinnselbildung sich einstellen könnte^, so
gilt dies noch viel mehr für die zweite Versuchsreihe. Bei Verwendung
derselben Kanüle vor und nach der Gelatineinjektion läßt sich ein
Zurückbleiben von Blutgerinnseln gar nicht vermeiden, und die müssen
den Versuch stören. Aber man könnte wohl sagen : Bei der Anordnung
mit der dreiteiligen Kanüle gerinnt das in die Gelatinelösung fließende
Blut doch am schnellsten, da sind ja für alle 3 Röhren dieselben Ver-
suchsfehler vorhanden?
Sehen wir uns die von den Autoren angegebenen Zeiten an.
Tube A (natives Blut). Beginn der Gerinnung nach 6' 20"; voll-
endet nach 13' 20".
Tube B (Kochsalz). Beginn der Gerinnung nach 5* 20"; vollendet
nach 10' 20".
Tube C (5-proz. Gelatine). Beginn der Gerinnung nach 4'; voll-
endet nach 8'.
Das ergibt eine Differenz von 2' 20" für den Beginn, und von
5' 20" für das Ende der Gerinnung in Bezug auf das native Blut,
aber in Bezug auf das Kochsalzblut nur 1' 20", resp. 2' 20"; und
daraus schließen Dastre und Floresco, das Blut in Gelatine gerinne
beaucoup plus rapidement! Diese geringe Zeitdifferenz beweist
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 381
mit Rücksicht auf die später zu besprechenden Schwankungen in der
Norm nicht einwandfrei genug die Wirksamkeit der Gelatine, und so
erscheint es begreiflich, daß dieser „Grundversuch" der genannten Autoren
viele Nachuntersucher nicht überzeugt hat.
Beweisend erscheint mir hingegen der Antagonismus der Wirkung
von Pepton Witte und Gelatine, den Dastre und Floresco auch
festgestellt haben, in der Hoffnung, auf diesem Wege eine Erklärung
für die Art der Gelatinewirkung zu bekommen. Es zeigte sich, daß
Blut, welches durch 0,80 g Pepton per Kilogramm Tier ungerinnbar
gemacht worden war, seine Gerinnbarkeit schon bei nachheriger Injektion
von 0,4 g Gelatine pro Kilogramm Tier wieder erlangt hatte. Eine Er-
klärung für die Gelatinewirkung vermochten die Autoren uns zwar aus
dieser Tatsache des Antagonismus nicht zu geben. Genau wissen wir
ja auch heute nicht, wieso Pepton gerinnungshemmend wirkt; daß Bei-
mengungen der Albumosen, und nicht die Albumosen selbst im soge-
nannten Pepton die wesentliche Rolle dabei spielen, haben Spiro und
Ellinger gezeigt. Der Antagonismus beweist aber meiner Ansicht
nach einwandfrei, daß Gelatine eine Wirkung auf die Blutgerinnung
ausüben muß.
Merkwürdigerweise sind diese Versuche, die gerinnungsbefördernde
Eigenschaft der Gelatine durch ihre Gegenwirkung gegenüber ge*
rinnungshemmenden Agentien zu prüfen, nicht weiter verfolgt worden.
Vielmehr findet man als Kriterium der Wirkung oder Nichtwirkung der
Gelatine bei allen Experimentatoren (mit Ausnahme von Gebele) die
vor und nach der Injektion von Gelatine kontrollierte Gerinnungszeit
aufgestellt. Und auf Grundlage der Gerinnungszeit haben Camus und
GleyO der Gelatine jede Wirkung abgesprochen, Lancereaux und
Paülesco*) sie wieder zu beweisen gesucht, so haben auch die ita-
lienischen Forscher Gaglio*) eine geringe Beschleunigung, Moriani*)
bei seinen intravenösen und subkutanen Einspritzungen und Giordano ^)
bei lokaler Applikation auf Leberwunden keine Beschleunigung der Ge-
rinnung zu konstatieren vermocht Von russischen Forschern hat Do-
BROCHOTOw ^) ebenfalls aus der Beobachtung der Gerinnungszeit sogar
eine Verlangsamung der Blutgerinnung herauslesen wollen, und von
Deutschen hat Sackür ') in seinen Experimenten auch keine auffallende
Verkürzung der Gerinnungszeit erhalten können, Sorgo hat große
Mesenterialvenen abgebunden und vor und nach der Gelatineinjektion
die Gerinnungszeit bestimmt.
Jedoch haben sich auch hier schon ohne Injektion nach wenigen
1) Camus et Qley, Arch. de physiol., 1897, p. 764.
2) Lancersaux et Paulesco, Bull, de l'acad. de Paris, 1897.
3) 4) 5) Gaglio, Moriani, Giordano, zit. nach Centralbl. f. Chir., 1901.
6) Dobrochotow, zit nach Centralbl. f. d. Grenzgeb., 1900, p. 841.
7) Sackur, Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 8, p. 188.
382 Hermann Kaposi,
Minuten die ersten Anfänge der Gerinnung gezeigt. Gebele hat zur
Kontrolle der Gerinnungszeit noch die in der Zeiteinheit (10") vor und
nach der Injektion aus der Arterie fließenden Blutmengen aufgefangen
und gewogen und unter bestimmten noch zu erläuternden Bedingungen
(gewisser Grad von Anämie) positive Resultate erhalten.
Erst vor kurzer Zeit ist eine Arbeit von L'Abb£ und Froin ^) er-
schienen, die auf Grund höchst mangelhafter Beobachtungen und Ex-
perimente der Gelatine ganz kategorisch jeden Wert absprechen will.
Zur Charakteristik der Schlüsse, welche die Autoren aufstellen, möchte
ich die Arbeit kurz referieren. Einleitend bemerken sie, daß nichts
schwieriger sei, als den therapeutischen Effekt einer Medikation bei der
Blutstillung zu beurteilen, denn jede Blutung stünde schließlich von
selbst. Man könne überhaupt den Wert eines neuen Mittels nur schwierig
bemessen, da jedes neue Medikament von selten derjenigen, die damit
experimentierten, stets günstig beurteilt werde (!). Die Erfahrungen
der Autoren erstreckten sich nun auf 5 klinische Fälle und 5 (!) Ver-
suche an Kaninchen. Bei den klinischen Fällen wurden 1-proz. Lösungeu
verwendet, und zwar, kurz zusammengefaßt, bei folgenden.
Bei einer Purpura haemorrhagica ... in 6 Tagen 3mal 60 ccm der
Lösung.
Bei einer tuberkulösen Hämaturie . . . 4mal 50 ccm in 4 Tagen; am
5. 180, am 6. 100 ccm.
Bei einem Icterus gravis in 2 Tagen je 100 ccm.
Bei einer Typhusblutung 1 Injektion & 100 ccm.
Bei einem Aneurysma der Aorta vom 17. Dez. bis 20 Jan. 17 In-
jektionen k 50 ccm.
Die Tierversuche sind:
Kaninchen I — IV 10 ccm einer 2-proz. Lösung einmal injiziert.
Kaninchen V 2 mal 5 ccm derselben Lösung.
Und aus diesen Erfahrungen heraus schließen die Autoren folgender-
maßen: „Aus unseren Beobachtungen (5) und Experimenten (5) folgt,
daß die subkutanen Injektionen von Gelatinelösung nicht den geringsten
Effekt auf die Gerinnung des Blutes und die Stillung einer Blutung
haben. Gelatine wird nicht resorbiert. Wenn man dagegen hält, daß
die Einspritzungen schmerzhaft sind, daß man mehrmals nach denselben
Tetanus gesehen hat, so kann man nur wünschen, die Gelatine aus der
Reihe unserer Blutstillungsmittel auszustoßen.*'
Aus derartigen „klinischen Beobachtungen" und „Experimenten",
welche nicht nur in ganz ungenügender Zahl, sondern vor allem mit
viel zu geringen Mengen Gelatine angestellt sind, in einer so wichtigen
1) L'Abbä et Froin, Presse med., 1903, No. 40.
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 383
Frage ein Urteil abgeben zu wollen, kann wohl nicht scharf genug ge-
tadelt werden.
Neue Erfahrungen über die Gelatinefrage haben wir durch die
Arbeiten von Sackur^) und Gebele=^) gewonnen; sie müssen noch
mit einigen Worten gestreift werden, ehe ich meine eigenen Versuche
beschreibe.
Sagkur hat den Versuchsfehler von Dastre und Floresgo, der
eine und dieselbe Kanüle zur Blutentnahme anwandte und dadurch
möglicherweise schon im Röhrchen Gerinnung bekam, ausgeschaltet,
dadurch, daß er stets eine frische Glaskanüle in die Carotis einband
und zwar bei jeder neuen Blutentnahme mehr zentralwärts ; so kam
das Röhrchen auch stets an eine intakte Gefäßwand zu liegen. Er ent-
nahm ferner, um den Einfluß der Anämie auszuschalten, nur wenige
Tropfen Blut, nicht wie die französischen Autoren 8—10 g. Als Kriterium
der erfolgten Gerinnung galt ihm allerdings auch die mit der Uhr kon-
trollierte Gerinnungszeit.
Von seinen Resultaten interessiert uns, daß er außerhalb des Tier-
körpers (in vitro) negative Resultate bekam, bei intravenöser In-
jektion ebenfalls, bei subkutaner Injektion bei 5 Kaninchen 3mal
positive, 2mal negative, bei Hunden aber nur negative Resultate hatte.
Nach Sagkurs Untersuchung wäre daher der Wert der Gelatine-
injektion ein sehr problematischer. Volle Beachtung verdient seine
Beobachtung der Gefäßverlegungen. Da alle Tiere nach intravenöser
Gelatineinjektion starben, so hat Sagkur mit der im Breslauer pharma-
kologischen Institute geübten Methode der Selbstfärbung der Tiere
durch intravenöse Indigokarminlösung und nachheriger Ausspülung mit
physiologischer Kochsalzlösung auf solche Gefäßverlegungen gefahndet
und dieselben auch sichtbar gemacht. Es zeigte sich, daß in Lungen,
Nieren, dem Herzen, aber auch in anderen Organen solche Gefäßver-
stopfungen in der Tat bestanden.
Aber auch bei subkutaner Gelatineinjektion konnte Sagkur
die Gefäßverlegungen bei Hunden in einigen Fällen nachweisen, bei
Kaninchen hingegen nicht. Sein Verdienst ist es ferner, zuerst unter
dem Mikroskop die Veränderungen des Blutes bei Gelatinezusatz ver-
folgt zu haben. Die Bilder, die er beschreibt, kann ich durchaus be-
stätigen ; ich werde bei Beschreibung meiner Experimente darauf zurück-
kommen müssen.
Gebele verdanken wir endlich die weitere Tatsache, daß die Gela-
tinewirkung erst eklatant im Experiment nachweisbar wird, wenn wir dem
Tiere eine bestimmte Menge Blut entziehen. Dies entspricht auch mehr
den Tatsachen am Krankenbette, wo wir es fast stets mit ausgebluteten
1) Saokur, 1. c.
2) Gbbblb, Münch. med. Wochenschr., 1901, No. 24.
3fitt0lL ft. d. Ormxffobletfln d. Medizin o. CUrarcla. Xm. Bd. 25
384 Hermann Kaposi,
und schwer Anämischen zu tun haben. Gebele hat gezeigt, daß zwar
mit der Zunahme der Anämie das Blut an und für sich rascher gerinnt,
daß diese Beschleunigung aber höchstens 10 Proz. beträgt, während sie
bei Gelatinezusatz 40—50 Proz. ausmacht. „Die Blutverluste mflssen
Vi — Vs des Gesamtblutes ausmachen, wenn die Gelatine prompt wirken
soll, was ja in praxi oft zutrifft.'* Zur Bestimmung der Gelatine-
wirkung diente Gebele, wie bereits erwähnt, sowohl das Ablesen der
Gerinnungszeit, als das Wägen der in gleichen Zeiten ablaufenden
Blutmengen.
Eigene Versuche.
Die schwankenden Resultate der vorstehenden experimentellen Unter-
suchungen und ihre Differenz mit den Erfahrungen der Klinik mußte
sofort auffallen; sie mußten eine gemeinsame Ursache haben, und die
konnte nur in der Unsicherheit liegen, die Gerinnungszeit präzise zu
fixieren. Es steht uns nämlich keine exakte Methode zur Verfügung,
um den Zeitpunkt der Gerinnung zu bestimmen und die Zeiten, welche
wir schon bei normalem Blute ohne Gelatinezusatz gewinnen, schwanken
in so gewaltigen Grenzen, daß ein Zeitunterschied von 5—10 Minuten
nicht den geringsten Wert für uns haben kann.
Vergleichen wir nur die Zeiten bei der Gerinnung des „natlren^^
Blutes, welche Dastre und Floresgo und Sackur, sowie Gebele,
die ja am exaktesten gearbeitet haben, uns angeben :
Dastre und Florbsco: Beginn 6* 20", vollendet 13' 20".
Sackur: Beginn 2' 45", vollendet 8' 45" (im Wasserbad).
Sackur: Beginn 6' 05", vollendet 8' 55" (bei Zimmertemperatur).
Gkbblb: Beginn 7' 40", vollendet U»/^'.
Also schon bei unverändertem Blute Differenzen von 5 bis
10 Minuten!
Vergleichen wir damit die Zeiten nach Gelatinezusatz:
Dastbb und Florbsco : Beginn 4 ', vollendet 8 ' i).
Sackur: Beginn 1' 30"* vollendet 2' 10" (im Wasserbad).
Sackur: Beginn 2* 35", vollendet 4' 35" (bei Zimmertemperatur).
Gbbble: Beginn 1^2'» vollendet 4^
Nehme ich dazu die Erfahrungen, die ich bei meinen Versuchen
(über 50 Kaninchen) gewonnen habe, und die mir Gerinnungszeiten
von 3—15' bei nativem Blut ergaben, so braucht es wohl keines
weiteren Beweises mehr, daß unsere Methode, die Gerinnungszeiten zu
bestimmen, eine ungenaue sein muß. Die Zeiten, welche wir bis zu
vollendeter Gerinnung erhalten, stehen in geradem Verhältnis zur Menge
1) Als Beginn der Gerinnung wird allgemein das erste Sichtbar-
werden von Fibrinflocken im Gefäß bezeichnet; als vollendet, wenn
man dasselbe umkehren kann, ohne daß noch ein Tropfen abfließt.
Hat die Oelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 385
des entnommenen Blutes und zur Weite des Gefäßes, in dem wir das
Blut auffangen, d. h. je größer die entnommene Blutmenge ist, und je
weiter das Kaliber des Röhrchens, in welches wir das Blut fließen
lassen, um so mehr Zeit vergeht bis zur vollendeten Gerinnung.
Da ich mir also klar gemacht hatte, daß die alte, oft versuchte
Methode keine sicheren Resultate ergeben konnte, so mußte ich einen
neuen Weg einschlagen. Ich suchte nach einem Mittel, das Blut des
Experimentaltieres intra vitam ungerinnbar zu machen ; wenn dies gelang
und wenn ich dann Gelatine, sei es intravenös, sei es subkutan, dem
Tiere zuführte und das Blut wurde dadurch gerinnbar, so wäre eine
Wirkung der Gelatine zweifellos erwiesen. Solche, die Gerinnung auf-
hebende, Mittel kennen wir eine große Zahl: Die Albumosen, z. B. Pepton
Witte resp. die diesen anhaftende gerinnungshemmende Substanz,
gallensaure Salze, Oxalate, Neutralsalze der Alkalien und Erden, niedrige
Temperaturen, den Blutegelextrakt, Aalblutserum, Krebsmuskelextrakt,
Extrakte aus den verschiedensten Organen (Leber, Eingeweide etc.) u. a.
Von diesen Mitteln haben, wie wir sehen, Dastre und Floresco
schon das Pepton Witte benützt ; für länger dauernde Versuche ist es
nicht gut verwendbar, weil es den Blutdruck so stark herabsetzt, daß
die Tiere zu Grunde gehen, die anorganischen Salze wirken nur kurze
Zeit, zerstören die Blutkörperchen, Oxalsäure macht durch Fällung der
Kalksalze schwere Störungen des Blutes. Meine ursprüngliche Absicht,
in Anlehnung an die Blutdissolution bei schwer Ikterischen Tiere chol-
ämisch und damit hämophil zu machen, scheiterte an der Erwägung,
daß die Tiere vorher zu Grunde gehen würden. Ich wandte mich daher
dem Blutegelextrakt zu, dessen gerinnungshemmende Wirkung bekanntlich
von Haycraft*) zuerst festgestellt wurde, und dessen Eigenschaften
zuletzt Pekelharino ^) genau studiert hat. Es traf sich gerade günstig,
daß Friedrich Franz ^) in Göttingen zur selben Zeit den wirksamen
Bestandteil des medizinischen Blutegels isolierte. Er gewann ihn „aus
dem vordersten Teile des Körpers, aus dem Schlundring samt dem an-
haftenden Muskelgewebe, vor allem der Mundlippe.^' Nach mühsamen,
hier nicht weiter zu erörternden Versuchen fand er, daß durch Zer-
kleinern der Mundteile des Tieres, Verreiben mit Sand und Extrahieren
mit Chloroform die Substanz sich rein isolieren lasse. Dieses Präparat
bringt die Fabrik E. Sachsse in Leipzig*) unter dem Namen Hirudin
1) Haycraft, Arch. f. experiment-Pathol. u. Pharm., Bd. 18, 1884,
p. 209.
2) Pbkblhabino, Untersuchungen über Fibrinfei-ment. 1892.
3) Friedrich Franz, Ueber den die Blutgerinnung aufhebenden Be-
standteil des medizinischen Blutegels. Arch. f. experimeut. Pathol. u.
Pharm., Bd. 49, Heft 4 u. 5.
4) Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle den Herren der Fabrik
meinen Dank für ihr stets coulantes Entgegenkommen auszusprechen. Die
25*
386 Hermann Kaposi,
in bequemer Form in Glastuben eingeschmolzen in den Handel. Mit
dieser Substanz habe ich meine Versuche gemacht.
Das Hirudin besteht aus grauen bis braunroten, glänzenden Schüpp-
chen und Plättchen. Es löst sich in physiologischer Kochsalzlösung
vollständig zu einer leicht opalisierenden Flüssigkeit.
Nach der Vorschrift der Fabrik, welche die Wirksamkeit des je-
weilig frisch dargestellten Präparates vor der Versendung im Göttinger
pharmakologischen Institute prüfen läßt, ist 0,1 g der Substanz in
25 ccm Kochsalzlösung zu lösen. Ein Milligramm der Substanz vermag
5 ccm Blut ungerinnbar zu machen, also 0,1 g 500 ccm Blut. Bei
meinen Versuchen nahm ich nun stets die im Versuchstiere enthaltene
Blutmenge auf ^lo des Gesamtgewichtes an (eher zuviel, da andere
Autoren die Blutmenge mit Vu — Vis des Gewichtes berechneten). Hatte
ich z. B. ein Kaninchen von 2000 g, so wurde das Blut auf SfoO g ge-
schätzt und 0,04 Hirudin = 10 ccm der Lösung injiziert, also 1 ccm
der Lösung == 20 ccm der angenommenen Blutmenge gesetzt.
Zu jeder der zu schildernden Versuchsreihe wurden 15—20 Kaninchen
benützt.
Versuche mit Hirudin allein.
Bevor ich an die Prüfung des Antagonismus der Gelatine gegenüber
ungerinnbar gemachten Blute ging, mußte die Zeit ausprobiert werden,
innerhalb welcher die gerinnungshemmende Wirkung des Hirudins eine
absolut sichere ist. Die Versuche wurden stets so ausgeführt, daß in
eine oder meistens in beide Karotiden Glaskanülen, in die Vena jugularis
aber eine sogenannte (mit Kochsalz zu füllende) Venenkanüle einge-
bunden wurde. Durch die Vene wurde die Substanz (Hirudin, Gelatine)
dem Kreislauf zugeführt, aus den Karotiden wurde das Blut in be-
stimmten Zeitabschnitten in kleinen, ^/j ^^ ^^ Durchmesser haltenden
Reagenzröhrchen in Menge von 2—3 ccm entnommen. In beide Karo-
tiden abwechselnd wurden die Kanülen deshalb eingebunden, um den Ein-
fluß des im Gefäß stagnierenden Blutes auf die Gerinnung der nächsten
Probe auszuschließen. Es wäre aber in keinem Falle, wo ich mit Hirudin
allein arbeitete, nötig gewesen, denn wenn auch aus einer Kanüle in
einer halben Stunde 8 — 10 Proben Blut entnommen waren, so blieb
das Blut dennoch völlig flüssig, und beim Entfernen der Kanüle aus
der Ader floß das in der Kanüle gebliebene Blut, ohne irgend eine
Spur von Gerinnsel darin zu lassen, glatt ab.
Ich fand nun zunächst, daß tatsächlich die oben angegebene Menge
von 0,02 des von mir angewandten Hirudinpräparates (= 5 ccm Lösung)
genügten, um nach der Injektion etwa 100 ccm Blut innerhalb des
Substanz hat mich nie im Stich gelassen. Der Preis, der anfangs 10 M.
für 0,1 g betrug, hat sich schon auf 8 M. ermäßigt und dürfte noch
billiger werden.
Hat die Gelatine einen Einfluß anf die Blatgerinnnng ?
387
Organismus ungerinnbar zu machen, so daß entnommene Blutproben
lange ungeronnen bleiben. Die Wirkung beginnt sofort nach
der Injektion, sicher ist schon das in der ersten Minute entnommene
Blut dauernd ungerinnbar.
Nur das in der ersten halben Stunde nach der Ein-
spritzung der Carotis entnommene Blut bleibt stunden-
lang ungerinnbar. Das nach dieser Zeit untersuchte Blut zeigt
zwar eine Verlängerung der Gerinnungszeit, die auch am anderen Tage
noch nachweisbar ist, die aber ganz inkonstant ist, bald eine Stunde,
bald nur 10—15 Minuten beträgt, mit der jedenfalls nicht gerechnet
werden darf.
Nur das in der ersten halben Stunde post injectionem
aufgefangene Blut darf also für die Beurteilung des An-
tagonismus der Gelatine berücksichtigt werden.
Aus den zahlreichen Versuchen wähle ich folgende besonders cha-
rakteristische aus:
rönnen
Kaninchen XIII. Gewicht 2000 g. NormaleB Blut entnommen 6^ 20'; ge-
rn 6'' 25' bis e»- 28'. Hirudin 0,04 (= 10 ccm Löeung) 6" 23'.
No. d.
Probe
Zeit
6»" 24'
6^ 30'
6»» 35'
6" 40'
ö"» 46'
6" 50'
Entnommen nach
1' nach der Injektion
12' . .
17' . ,
23' , ,
28' , „
Bemerkungen
AUe Proben
nach 24 Standen
YöUig flüssig
oder
Kaninchen XLI.
ronnen 3»» 33' bis 3»» 36'.
Gewicht 1550 g. Normales Blut entnommen 3** 27'
Hirudin 0.032 (= 8 ccm Löeung) 3" 29'.
ge-
No. d.
Probe
Zeit
Entnommen nach
Bemerkungen
1
2
3
4
5
6
3^ 31'
3»> 35'
3»» 40'
3" 45'
3^ 50'
3'' 53'
2' nach der Injektion
6' . „
11' « .
16' „ .
21' . .
23' , ..
Alle Proben
nach 24 Stunden
flüssig
Es war ein naheliegender Gedanke, das Hirudinblut unter dem
Mikroskope zu betrachten. Ich habe dies sowohl in gewöhnlicher Weise
gemacht, indem ich einen Tropfen des ungerinnbaren Blutes auf den
Objektträger brachte und mit dem Deckglas bedeckte (ohne zu ver-
dünnen, wie es Sackür tat), oder, indem ich mich der HoUundermark-
methode von J. Arnold bediente. Ich ließ dann das Blut vom HoUunder-
markplättchen aufsaugen, das auf einem an seinen Rändern vaselinierten
388 Hermann Kaposi,
Deckgläschen lag. Nachdem das Plättchen beschickt war, wurde es auf
den hohlen Objektträger gebracht; so hielt sich das Blut lange Zeit
beobachtungsfähig.
Am Hirudinblut fiel nun vor allem eine sehr geringe Geldrollen-
bildung auf, die größte Menge der roten Blutkörperchen schwamm
isoliert in der Blutflüssigkeit umher, die Blutkörperchen selbst zeigten
sich kaum verändert, es kam nach einiger Zeit fast an allen zu Stech-
apfel- und Morulaformen, man sah auch Blutplättchen in nicht geringer
Zahl, aber niemals konnte ich Fibrinfäden entdecken. An den weißen
Blutzellen war nichts auffallend Charakteristisches, etwa für Hirudin-
wirkung Spezifisches, woran man sie zu diagnostizieren imstande wäre.
Ich kann an dieser Stelle gleich das mikroskopische Bild schildern,
das ich beobachten konnte, wenn diesem ungerinnbar gemachten Blute
Gelatine zugesetzt wurde. Es stimmt genau mit dem Bilde überein,
das uns Sag kür von dem normalen Blute nach Gelatinezusatz ent-
worfen hat. Dort, wo der Gelatinetropfen einfließt, kommt sofort eine
starke Strömung in die Blutzellen, in wenigen Augenblicken sind die
roten Blutkörperchen zu mehr als ihrem doppelten Volumen aufge-
quollen, in Mengen von 30 — 40 klumpen sie sich aneinander und bilden
grobe Schollen und Balken, die ich am ehesten in ihrer äußeren Form
mit den Kernen der Knochenmarksriesenzellen vergleichen möchte.
Das Herangezogenwerden und Verkleben immer neuer quellender roter
Blutzellen an die groben verklumpten Balken ist stets sehr schön zu
verfolgen. Ich stimme vollkommen mit Sackür^) überein, daß man
den Eindruck hat, die Erythrocyten konglutinierten, sie würden förmlich
„zusammengeleimt", dabei fließen ihre Zellleiber anscheinend größten-
teils ineinander.
Für diese vorwiegend mechanische Wirkung scheint mir auch zu
sprechen, daß man ganz dasselbe Bild wie mit Gelatine auch mit
Gummi arabicum bekommen kann. Auch dieses, dem Hirudinblut
unter dem Deckgläschen zugesetzt, macht dieselben Bilder des Auf-
quellens und Verklebens, wie ich mich mehrmals überzeugt habe.
Versuche mit Hirudin und nachfolgender intravenöser
Gelatineinjektion.
Das Hirudin sowie die Gelatinelösung wurden durch die Venen-
kanüle eingespritzt, das Blut stets beiden Karotiden entnommen, und
zwar niemals mehr wie 2 — 3 Proben einer und derselben Kanüle, um
die Gefahr der Gerinnselbildung innerhalb der Kanüle möglichst aus-
zuschließen. Injiziert wurden zwei verschiedene Gelatinesorten.
Ich begann mit der jetzt fast allgemein angewendeten Gelatina ste-
rilisata Merck, die bekanntlich in Tuben zu 40 g, entsprechend 4 g
1) Sackub, I. c.
Hat die Oelatine einen Einflaß auf die Blutgerinnung?
389
Gelatine, in den Handel gebracht wird. Diese Gelatinelösung ist
bei gewöhnlicher Temperatur (Zimmertemperatur) flüssig. An-
ÜBings injizierte ich nach Angabe der Autoren 0,8 g Gelatine pro Kilo-
gramm Tier und bekam folgendes Resultat:
Kaninchen X. Ge?ncht 1375 g. Normales Blut eutnommen 3" 16'; gerinnt
3»« 25' bia 27'. Hirudin 0,028 (= 7 ccm Lösung) 3" 16S','-
No. d.
Probe
Zeit
Entnommen nach
Bemerkungen
1
2
3" 17'
3»» 20'
1' nach der Hirudininjektion
* »» tt 11
1 Die Proben sind
/nach 24 Std. flüssig
1
2
3
4
5
3 *> 20' bis 3" 22' 12V, ocm Gelatine Mebck intravenös.
nach Hirudin
3»' 23'
3»' 25'
3'' 30'
3" 35'
3»» 40'
1' nach Gelatine, 7'
3' „ „ 10'
8' „ „ 15'
13' „ „ 20'
18' „ „ 25'
Alle Proben nach
24 Stunden flüssig
geblieben (zeigen
die gleich zu schil-
dernde Schichtung)
Ich wiederholte diesen Versuch mehrmals, stets mit dem gleichen
Resultate ; ich injizierte statt 0,8 g pro Kilogramm Tier in mehreren
Versuchen eine halbe Tube der MERCKschen Gelatine = 20 ccm oder
2 g Gelatine. Stets fand ich dasselbe: Sowohl das Hirudinblut allein,
wie die Blutproben, die nach Injektion von Gelatine entnommen wur-
den, blieben flüssig. Auf die Wiedergabe der Protokolle kann ich ver-
zichten, da sie dem obigen gleichlauten und kein weiteres Interesse
haben.
Den gleichen Versuch machte ich mit gewöhnlicher käuflicher Ge-
latine in 2-proz., dann in 5-proz. und 10-proz. Lösung, und zwar auch
hier beginnend mit 0,8 g pro Kilogramm Tier, später, wie bei der
MERGKSchen Gelatine, mit größeren Mengen, und da war das Resultat
der Versuche ein wesentlich anderes. Die ersten Proben nach der
Hirudineinspritzung blieben wie gewöhnlich flüssig, und zwar auch nach
24 Stunden. Die nach der Gelatineinjektion entnommenen Blutmengen
zeigten ungefähr von der 5. Minute ab eine deutliche, rasch zunehmende
Schichtung, d. h. man sah, daß sich die zelligen Bestandteile am Boden
des Reagenzröhrchens anhäuften und über ihnen stand eine klare, durch-
sichtige Flüssigkeitsschicht, die nach und nach erstarrte. Die Erstar-
rung erfolgte verschieden rasch, je nach der Menge der injizierten Ge-
latinelösung, so daß z. B. bei 0,8 g pro Kilogramm Tier IV« —2 Stun-
den vergingen, während bei l*/« — 2 g pro Kilogramm schon nach
^/j Stunde, einige Proben schon nach Vi Stunde starr wurden. Als
Beispiel führe ich den Versuch Kaninchen XV (vgl. p. 390) an.
Die erwähnte Schichtung der Blutproben zeigt sich übrigens in
gleicher Weise nach der Einspritzung von Gelatine Merck; auch hier
sieht man je nach der Menge der injizierten Gelatine früher oder später
(^/^ — V» Std.) die festen Blutelemente zu Boden sinken und darüber
390
Hermann Kaposi,
Kaninchen XV. Gewicht 1770 g. Blutentnahme S** 30'; geronnen in 10'.
Hirudininjektion 3" 31', 0,036 -= 9 ccm Lösung.
No. d.
Probe
Zeit
3" 33 '
3»» 36 '
3'» 40'
Entnommen nach
2 ' n. d. Hirudininj.
'S '
Q '
Bemerkungen
Die Hirudinproben
blieben alle am an-
deren Tage flüssig
5-proz. Gelatineinjektion 30 g (in 5').
3»- 46'
3»» 50'
3" 53'
3^ 55'
4" 00'
15 'n.
d.
Hirudininj.
19'..
1t
>»
522 '„
n
n
24'..
1»
>»
'2Ö',.
1*
i>
Die Gelatineproben
zeigt, nach ^/, Std.be-
ginnende Schichtg.,
um 6'*, also ca. 2 Std.
p. inj. waren allestarr
das klare Plasma, das aber auch nach längerer Zeit (12 — 24 Std.)
flüssig bleibt.
Es ist selbstverständlich, daß ich auch diese Proben unter dem
Mikroskope betrachtete. Das Bild war, was ja nicht weiter wunderbar
ist, identisch dem früher geschilderten: verklumpte, verklebte, ver-
quollene Blutschollen ; die Gelatine hatte eben auch innerhalb des Tier-
körpers als „Blutkörperchenleim^ gewirkt.
Für die am meisten bei den vorgenannten Versuchen auffallende
Erscheinung, daß bei der Gelatine Merck das Blut flüssig bleibt, bei
der unreinen, gewöhnlichen käuflichen aber eine Erstarrung eintritt,
scheint die Erklärung eine sehr naheliegende zu sein. Erstere ist eben
bei Körper- und Zimmertemperatur flüssig, letztere erstarrt aber bei
der genannten Temperatur. Man könnte also vermuten, daß das Blut
nach Injektion käuflicher Gelatine gar nicht wirklich gerinne, sondern
daß die Gelatine im Blute nur erstarre. Dieser Einwand, den sich
schon Dastre und Floresoo, die das Phänomen der Schichtung auch
sahen, selbst gemacht haben, läßt sich sehr einfach dadurch widerlegen,
daß man die Reagenzröhrchen, sofort nachdem das Blut aufgefangen
ist, ins Wärmebad bei 38^ C stellt. Tut man dies, und ich habe die
Probe mehrmals wiederholt, so tritt die Erstarrung in der gleichen
Weise ein, wie bei Zimmertemperatur.
Die Versuche, auf intravenösem Wege den Antagonismus zwischen
Gelatine und Hirudin zu prüfen, führten also zu dem Ergebnis, daß
die Wirksamkeit der Erstarrungsfähigkeit des injizierten Mittels parallel
geht. Die bei Zimmertemperatur flüssige MERCKSche Gelatine führt
wohl zur Eonglutinierung der zelligen Elements des Blutes, aber nicht
zur Gerinnung, die unreine Gelatine hingegen macht die Blutzellen
sowohl konglutinieren als das Plasma erstarren. (Ob wir dies eine
echte Gerinnung nennen dürfen, bleibt fraglich.) Diese merkwürdige
DiflFerenz bei Anwendung der beiden Gelatinesorten mußte unser ganzes
Interesse auf die zu gewinnenden Resultate bei subkutaner Anwendung
lenken.
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung? 391
Versuche mitHirudin und subkutaner Gelatineinjektion.
Die Frage, ob die Gelatine bei subkutaner Applikation überhaupt
in den Kreislauf gelangt, ja selbst ob dies bei intraperitonealer Injektion
der Fall sei, wurde von manchen Forschern zwar geleugnet, ist aber
jetzt wohl zu Gunsten der Resorption entschieden. Man kann sich
durch die Autopsie des Tieres, und auch ich habe dies wiederholt ge-
tan, davon überzeugen, daß an der Einspritzungsstelle nichts mehr von
der Gelatine zu finden ist. Wenn man z. B. unter die Tierhaut ein
Gelatinedepot setzt, das sich durch einen deutlichen Buckel nach der
Einspritzung markiert, und diese Vorwölbung ist nach 24 Stunden
verschwunden, so muß die Gelatine sich zum mindesten verteilt haben,
und wenn sie bei der Sektion nicht mehr zu sehen ist, so ist eine
Resorption nicht wegzuleugnen. Allerdings muß man, wie ich kon-
statieren muß, sehr vorsichtig sein. Ich habe öfters bei meinen
Kaninchen eine größere Menge Gelatine unter die Rückenhaut ein-
gespritzt (z. B. 50—60 ccm) und war dann, besonders anfangs, wo ich
keine Massage der deponierten Gelatine machte, sehr erstaunt, am an-
deren Tage am Bauche des Tieres einen oder mehrere große Buckel
vorzufinden, welche sich bei näherer Untersuchung als große Gelatine-
mengen herausstellten. Die Gelatine hatte sich, der Schwere folgend,
dem subkutanen Gewebe entlang an die tiefste Stelle gesetzt und fand
sich dort vor. Es scheiterten daher meine ersten Versuche der sub-
kutanen Applikation an der offenbar zu geringen spontanen Resorption,
und erst nachdem ich das Gelatinedepot ca. 10 Minuten kräftig massiert
hatte, oder wenn ich, was allerdings für das Tier sehr schmerzhaft ist,
intramuskulär injizierte, fielen meine Versuche positiv aus.
Daß die Gelatine resorbiert wird, soll übrigens nach v. Bolten-
STERN auch dadurch festgestellt sein, ^daß sie als solche wieder aus-
geschieden wird, zum Teil durch den Harn, während der andere Teil
im Körper verbrannt wird". Vielleicht auch wird nicht in allen Fällen
Gelatine wieder ausgeschieden. Lewandowski beobachtete in einem
Falle, „daß ein Fat. nach 2 Injektionen von je 1 g Gelatine dauernd
Spuren von Leim ausschied, nachgewiesen durch den Niederschlag,
welcher nach Tanninzusatz oder durch Kochen mit Essigsäure nach
Sättigung mit Kochsalzlösung auftritt". Für die Nachprüfung der nun
zu schildernden Versuche möchte ich auf die oben erwähnte, länger
dauernde künstliche Verteilung der Gelatine mit Massage besonders
aufmerksam machen, weil man sonst, wie es auch mir anfangs ging,
nur zweifelhafte oder negative Resultate erhalten wird. Auch die Ein-
haltung der Zeitintervalle zwischen Gelatineeinspritzung und Hirudin-
injektion ist von Wichtigkeit, da vielleicht das Blut erst eine bestimmte
Menge Gelatine aufgenommen haben muß, ehe sich der Antagonismus
der beiden Substanzen in eklatanter Weise äußert.
392
Hermann Kaposi,
Die Versuche gelingen dann da am besten, wenn die Hirudinlösung
frisch bereitet ist, eine mehrere Tage aufbewahrte Lösung verliert
an Wirksamkeit.
Zuerst versuchte ich, die Gelatinewirkung zu prüfen, indem ich
Blut durch Hirudin ungerinnbar machte und gleich nach der
Hirudininjektion Gelatine subkutan einspritzte.
Ich begann auch in dieser Versuchsreihe mit der vielfach als aus-
reichend angegebenen Menge von 0,8 g auf 1 kg Tier.
Um den Versuchsfehler auszuschalten, der durch eventuelles
Zurückbleiben von Blutgerinnseln in der Kanüle sich hätte einstellen
können, wurden bei allen Subkutanversuchen die ersten 3—4 Proben
der einen Kanüle, die 5. Probe aber der anderen, frischen, in die
zweite Carotis eingeführten Kanüle entnommen. Wie zu erwarten
war, fielen diese Versuche nicht beweisend aus. Hirudin wirkt ja
nur sicher gerinnungshemmend während der ersten 30 Minuten, und
bis zur Resorption der Gelatine vergeht immerhin eine längere oder
kürzere, jedenfalls nicht genau bestimmbare Zeit. Trotzdem konnte in
einigen Versuchen bei den Blutproben, welche in der 15. bis zur
30. Minute nach der Hirudininjektion entnommen waren, beginnende
Gerinnung nachgewiesen werden, was bei den Kontrolltieren mit
Hirudineinspritzung allein, wenn die genau gleiche Menge injiziert
wurde, niemals der Fall war.
Ich erhielt z. B. folgendes Resultat :
Kaninchen XVIII. 1550 g. NormaleB Blat entnommen 4'* 28'; gerinnt
von 4»» 35' bis 40'. Hirudin 0,032 («= 8 ccm Lösung) 4»» 29'.
No. d.
Probe
Zeit
I
Entnommen nach
Bemerkungen
1 4»>31
2 4" 33
3 4" 36
2' nach Hirudininjektion
6; „
8 ,t 11
Alle Hirudinproben blieben nach
24 Stunden flCissig
Subkutane Injektion von 25 ccm käuflicher Gelatinelösung (5 Proz.
A^ 37' bis 4»» 39'.
1,25 g Gelatine)
4h
41'
4h
44'
4"
48'
4»-
52'
4»«
55'
2 ' nach Gelatine, (12 ' nach Hirudin)
5 jt ii (lo M »I }
9 ;i 11 (19 „ 11 )
13 „ „ (do tf I, )
16' „ „ (26' „ „ )
Probe 1—3 der Gelatineproben
blieben ebenfalls flüssig. Proben
4 und 5 zeigten um 8^ abends
beginnende Gerinnung, am an-
deren Morgen waren sie erstarrt
Ich will gleich vorwegnehmen, daß ich eine solche Andeutung einer
Gerinnung bei Injektion von MERCKScher Gelatine gleich nach
der Hirudineinspritzung nie fand.
Eine sicher beweisende Beschleunigung der Gerinnung durch
Gelatine, sowie eine deutliche, immer mehr zu Tage tretende Differenz
zwischen Gelatina sterilisata und der käuflichen gewöhnlichen Gelatine
bekam ich aber erst, als ich die Gelatine vor der Hirudinlösung sub-
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blutgerinnung!
393
kutan injizierte und besoDders als ich die Mengen, welche injiziert
wurden, steigerte.
Ich stelle zunächst folgende 2 Versuche einander gegenüber:
Kaninchen XXII. Gewicht 1600 g. S^ 20' normaleti Blut; gerinnt in 7'.
3** 25' 25 ocm 10-otoz. Gelatine (» 2,5 g gelöst unrein) subkutan, 3'' 50' 0,036 g
(« 9 ccm Lösung) Hirudin eingespritzt :
Bemerkungen
Probe 1 nach 24 Std. flüssig.
Proben 2—5 zeigen um 5»» be-
finnende Gerinnung (auch Probe
, frisches Böhrchenl) um 6**
alle fest geronnen
Der gleiche Versuch mit Gelatina sterilisata Merck lautet:
Kaninchen XXI. Ge?richt 1510 g. 3** 15' natives Blut, geronnen in 8'.
8^ 20' 25 ccm Gelatina Mebck (« 2^ ccm gelöst) subkutan, 3» 40' 0,03 (» 7,5 ccm
Lösung) Hirudin:
p^l^- Zeit Entnommen nach
1 13»' 55'
2 4>'00'
3 ,4*05'
4 '4" 10'
5 ,4 " 15 '
30' nach Gelatine, 5' nach Hirudin
3o „ „ 10 „ „
4o; „ „ 15; „
40 „ „ dy) „ „
60' „ „ 25' „
No. d.l
Probe!
Zeit
Entnommen nach
Bemerkungen
j3M2'
i3 »• 45 '
!3*50'
|3»'55'
k^oo'
4»'05',45'
22' nach Gelatine, 2'
25' „ „ 5
30' „ „ 10
35' „ „ 16
40' „ ., 20
nach Hirudin 'Alle Proben nach 16 Stunden
I noch flüssig!
25'
Nicht bei allen in gleicher Weise angestellten Versuchen ist die
Differenz so eklatant, wie in den beiden angeführten. Es trat mitunter
in den mit Meroks Gelatine angestellten Proben nach 5—7 Stunden
(in den Blutproben 4 — 6) leichte Gerinnung auf, die bis zum anderen
Morgen stärker wurde, manchmal auch zur Erstarrung führte. Vor
der 5. Stunde aber sah ich diese Gerinnsel nie, während nach der
gleichen Menge gewöhnlicher Gelatine die Gerinnung meist nach 1 bis
3 Stunden vollendet war. Nur die erste (1 Minute nach Hirudin-
injektion) entnommene Probe, einige Male auch die 2. (3—5'), blieben
stets flüssig. Die gerinnungshemmende Wirkung des Blutegelextraktes
kam da offenbar noch voll zur Geltung.
Es ist wohl überflüssig, alle Versuche anzuführen, die ich anstellte,
um die beste Zeit und die nötige Menge der wirksamen Gelatine aus-
zuprobieren. Die sichersten Resultate erhielt ich, wenn die Gelatine
3V9~4 Stunden vor dem Hii'udin eingespritzt wurde, und wenn sie
mindestens 4 g pro Kilogramm Tier betrug. Es erscheint diese Menge
enorm im Vergleich zu den beim Menschen therapeutisch empfohlenen
und angewandten Gelatinemengen. Mir kam es aber auch auf keine
therapeutischen Wirkungen an, ich arbeitete, wenn ich so sagen darf,
am künstlich hämophil gemachten Tiere, und der Zweck meiner Arbeit
war nur, den Antagonismus zwischen den gerinnungshemmenden Hirudin
394
Hermann Kaposi,
und der Gelatine festzustellen, um dadurch die oft angezweifelte Wirk-
samkeit der Gelatine zu beweisen.
Arbeitete ich nun mit vorgenannten Mengen und Zeiten, so erhielt
ich folgende Befunde (ich vergleiche wieder unreine Gelatine mit
Gelatina sterilisata) :
Kaninchen XXX. Gewicht 1620 g. 1* P/, Tuben MEBCK-Gelatioe H 6g
Gelatine) sabkntan. 4*> 0,036 (^ 9 ccm) Hirodin:
No. d.
Probe
Zeit
Ehitnommen nach
Bemerkungen
1
2
3
4
5
6
4 »«02'
4>'05'
4" 10'
4M5'
4*20'
4''25'
2'
5'
10'
15'
20'
25'
12 «^ nachts aUe
flüseig
Im Gegensatz dazu:
Kaninchen XXXIV. Gewicht 1300 g. '/.l"* 60 ccm lO-pros. unreine Gela-
tine (= 6 Gelatine). 3»' 07' 0,026 Hirudin (= 67, ccm):
No. der
Probe
1
2
3
4
andere f 5
Zeit
3M0'
3* 15'
3»» 20'
3 »»25'
?.''30'
Caroti8l6 3''35
Entnommen nach
3'
8'
13'
18'
23'
28'
Bemerkungen
\ 4»' 15' XT" fest
/bcginnend/5* 30' „
1 um 4* 15' fest ge-
I rönnen
oder
Kaninchen XXXV. Gewicht 1440 g. "AI'' 60 ccm 10-proz. Gelatine unrein.
4^ 23' Hirudin 0,03 (6\', ccm):
No. d.
Probe
Zeit
4^25'
4»' 30
4*35
4''40
4" 45
4 "50'
Entnommen nach
frische Kanüle|
andere CarotlBl
Bemerkungen
5»» 10' geronnen
4** 50' geronnen
5* 10' geronnen
Es gelingt also, durch meine Versuchsanordnung nachzuweisen:
1) daß die Gelatine zweifellos eine gerinnungsbefördernde Wirkung hat,
und 2), daß der bei Zimmertemperatur flüssigen Gelatina sterilisata
eine geringere Wirkung zukommt, als der unreinen, für gewöhnlich
starren Gelatine. Es bleibt die Frage zu beantworten: Wie ist dieser
Unterschied der Wirksamkeit zu erklären? und was für eine Vor-
stellung von der Art der Wirksamkeit der Gelatine können wir uns
aus vorstehendem machen?
Auch hier darf ich nicht verschweigen, daß in einigen Versuchen
mit der Gelatina sterilisata Merck in Proben 3—6 (niemals in 1—2)
Hat die Oelatine einen Einflaß auf die Blntgerinnong ? 395
nach 5—6 Stunden (jerinnselbildung auftrat, die stets sehr langsam
zunahm, so daß erst nach 4—6 weiteren Stunden die Gerinnung kom-
plett wurde. In eklatanten Fällen — ich habe von jeder Reihe fast
2 Dutzend untersucht — verliefen die Versuche so, wie sie oben
einander gegenübergestellt wurden.
Die erste Frage beantwortet sich relativ einfach. Der Grund liegt
wahrscheinlich in dem großen Gehalt der Gelatina sterilisata Merck
an Gelatosen. Zur Abspaltung dieser aus der Gelatine muß es ja
bei der Art der Darstellung kommen. Wie aus dem jeder Tube bei-
gegebenen Prospekte hervorgeht, wird die Gelatine folgendermaßen dar-
gestellt 0:
„Knochen und Bindegewebe notorisch gesunder, unter Kontrolle
eines beamteten Tierarztes geschlachteter Kälber werden mehrere Stunden
im Autoklaven erhitzt und von da ab unter der strengsten aseptischen
Vorsichtsmaßregel behandelt Nach Kochsalzzusatz wird die Lösung
neutralisiert, filtriert und in Glasröhren abgefüllt, welche evakuiert, zu-
geschmolzen und aufs sorgfältigste durch mehrfaches Erhitzen im
Autoklaven sterilisiert werden. Nach dem Sterilisieren werden die
Röhren noch eine Reihe von Tagen bei Brut- und Zimmertemperatur
auf Sterilität beobachtet.''
Dieses Erhitzen im Autoklaven ist eine der sichersten Me-
thoden, um aus der Gelatine ihre Spaltungsprodukte, die Gelatosen, zu
gewinnen (s. Untersuchungen von Dastre und Floresco p. 379).
Gelatosen aber haben, wie vielfach festgestellt wurde (Hammarsten
u. a.), gerade die entgegengesetzte Wirkung, sie verlangsamen die
Blutgerinnung.
Auch Brat^, welcher mit Gl u ton (einer reinen Gelatose) arbeitete,
fand, daß „die Wirkung der Gelatine mit der des Peptons qualitativ
identisch ist^ das heißt die Blutgerinnung aufhebt resp. verlangsamt
Seine Tierversuche, welche die Vermehrung der Fibrinausscheidung
dartun sollen, sind schon in der Methode anfechtbar und auch die von
ihm gegebenen Abbildungen der gewonnenen Gerinnsel weisen für mich
keine auffallende Differenz auf.
Um so schwieriger ist die Beantwortung der zweiten Frage. Wir
müssen da meiner Ansicht nach die Wirkung bei lokaler (intra-
venöser) Applikation von der bei subkutaner trennen. Beim Kontakt
von Gelatine mit dem Blute spielt zweifellos die unter dem Mikroskope
1) Die vor beschriebenen Versuche wurden mit einer Gelatina sterili-
sata (Mbrgk) abgestellt, welche, wie erwähnt, bei Zimmertemperatur flüssig
ist. Nach einer mir zugekommenen Mitteilung der Fabrik bringt dieselbe
jetzt sterile Gelatine in den Handel, welche bei derselben Temperatur er-
starrt. Mit dieser habe ich keine Versuche gemacht, kann daher kein
Urteil über dieselbe abgeben.
2) Brat, Berl. klin. Wochenschr., 1902, No. 49 u. 60.
396 Hermann Kaposi,
zu verfolgende Quellung, Zusammenleimung, Eonglutinierung eine Haupt-
rolle, und es ist wohl a priori verständlich, daß ein solches Verkleben
der Blutkörperchen die Blutgerinnung befördern muß.
Die Wirkungsweise bei subkutaner Einverleibung wird nicht
sicher erklärt werden können, so lange man nicht weiß, in welcher
Form die Gelatine in den Kreislauf gelangt. Sollte sie als solche re-
sorbiert werden (was nicht wahrscheinlich ist), so könnte ihr Vermögen,
die Blutkörperchen zu konglutinieren, sich überall dort, wo Blut die
normale Gefäßwand verläßt, oder die Zirkulation eine verlangsamte ist,
besonders geltend machen. Vielleicht wird die Entdeckung Molls^
zur Lösung der Frage beitragen. Er fand, daß das Blut von Tieren,
die mit wiederholten subkutanen Injektionen von Eiweißkörpern aller
Art behandelt worden waren, neben Veränderungen der Eiweißkörper
des Serums auch andere Gerinnungsverhältnisse zeigten; es fiel ihm
auf, daß der Blutkuchen eines solchen Tieres viel fester war, als bei
normalem Tier. Quantitative Untersuchungen ergeben nun, daß das
Fibrinogen in einem solchen Blute im Vergleiche zu dem Fibrinogen-
gehalte vor der Eiweiß(Gelatine)injektion sehr erheblich vermehrt war.
Am intensivsten zeigte sich diese Erscheinung im Blute von Tieren,
denen Gelatine subkutan verabreicht worden war. Die Zunahme
war erst nach 12 — 24 Stunden konstatierbar und betrug gewöhnlich
das Doppelte des ursprünglichen, normalen Fibrinogengehaltes.
Meine Versuchsanordnung wird zur Erklärung der Gelatine-
wirkung auf normales Blut nicht ohne weiteres herangezogen werden
können, weil ich ja durch die vorhergehende Hirudininjektion das
Fibrinferment im Blute unwirksam machte. Wenn das Blut bald wieder
gerinnen soll, so muß das Ferment wieder frei werden oder hinzu-
gefügt werden. Vielleicht läßt sich eine Erklärung meiner Resultate
auf folgende Weise geben. Durch Pekelharing ist folgendes fest-
gestellt worden : Trennt man im Blutegelblute, das spontan nicht gerinnt^
durch Zentrifugieren das Plasma von den Blutkörperchen, behandelt
die letzteren dann mit Wasser, so werden sie zerstört, das Zymogen
des Fibrinfermentes wird frei, und fügt man diese Flüssigkeit jetzt dem
Blutegelplasma zu, so tritt sofort Gerinnung ein. Die Rolle des Wassers
in dem vorgenannten Versuche könnte in meinen Versuchen die Gelatine
spielen. Vielleicht weisen die mikroskopischen Befunde auf eine Beein-
flussung der Blutkörperchen durch Gelatine hin und vielleicht würde
so dem Blute, das kein Fibrinferment mehr besaß, wieder solches resp.
dessen Zymogen zugeführt. Vielleicht geschieht dies auch bei der An-
wendung der Gelatine zu therapeutischen Zwecken, unfl man könnte
dann annehmen, daß nicht nur Fibrinogen (Moll 1. c), sondern auch
das Fibrinferment dem Blute zugeführt resp. neugebildet wird. Selbst-
1) Moll, Wien. klin. Wochenschr., 1903, No. 44, p. 1215.
Hat die Gelatine einen Einfluß auf die Blatgerinnung ? 397
verständlich kommt dieser Erklärung vorläufig höchstens der Wert einer
Hypothese zu.
Darstellung wirksamer, steriler Gelatine.
Da aus meinen Versuchen erhellt, daß die im Autoklaven sterili-
sierte und dadurch sicher keimfrei gemachte Gelatine infolge ihres Reich-
tums an Gelatosen weniger wirksam ist, als die gelatosefreie, so handelte
es sich darum, eine sicher keimfreie Gelatine an ihre Stelle zu setzen.
Ich brauchte nicht lange nach einer solchen zu suchen. Paul Krause ^)
hat nicht nur nachgewiesen, daß in den meisten Fällen, welche an
Tetanus nach Gelatineeinspritzung gestorben waren, die Gelatine gar
nicht oder höchst mangelhaft sterilisiert war, sondern er gab auch ein
Verfahren an, das ein einwandsfreies Sterilisieren der Gelatine garan-
tiert. Nach zahlreichen, hier nicht weiter ausgeführten Versuchen kann
ich auch behaupten, daß diese „Krause sehe Gelatine**, welche am
Menschen ohne Gefahr anwendbar ist, sich auch im Tierexperimente
wirksam erwies. Allerdings ist ihr die gewöhnliche, rohe Gelatine an
Wirksamkeit überlegen. Eine geringe Einbuße der gerinnungsbeför-
dernden Eigenschaften wird man wohl bei jeder Sterilisation in Kauf
nehmen müssen. Das KRAUSEsche Verfahren lautet wörtlich:
„1 — 5 g bester Gelatina alba werden in etwa 40^ C warmer, steriler,
0,5-proz. Kochsalzlösung vollständig aufgelöst, darauf in den Dampftopf
in strömenden Dampf von 100® C V2 Stunde gebracht; am zweck-
mäßigsten erscheint es mir, die Gelatine von Anfang an in einer weit-
halsigen Flasche mit eingeschlilfenem Glasstöpsel aufzubewahren und
zu sterilisieren. Die Sterilisation wird an 5 aufeinanderfolgenden Tagen
je V2 Stunde wiederholt; es ist darauf zu achten, daß der Dampf stets
die Temperatur von 100^ C habe, ehe die Gelatine in den Dampftopf
gesetzt wird. Nach der 3. Sterilisation wird jede Gelatine kulturell
und mittels Tierversuches auf ihre Sterilität geprüft.
Wird an Stelle der sauren Gelatine eine alkalische vorgezogen^
was entschieden Vorteile bietet, da die schwach alkalisch gemachte
Gelatine schneller und schmerzlos resorbiert wird, so empfiehlt sich die
Alkalisierung mittels Vio Normalnatronlauge oder Sodalösung vor
der ersten Sterilisation vorzunehmen. Wird die Gelatine danach trübe^
so kann sie, wenn es gewünscht wird, durch wiederholte Filtration oder
Klärung mittels Eiweißlösung (mit kurzem Aufkochen) und nachfolgender
Filtration sehr leicht wasserklar gemacht werden. Nach der letzten
Sterilisation wird der Stöpsel der Flasche mit sterilem Pergamentpapier
fest verbunden; die Gelatinelösung ist monatelang haltbar."
Die nach der angegebenen Methode sterilisierte Gelatine enthält
wenig Gelatosen und erstarrt bei Zimmertemperatur.
1) Kbause, P., Berl. klin. Wochenschr., 1902, No. 29.
398 H. Kaposi, Hat die Gelatine einen Einfluß anf die Blutgerinnung
Zur Prüfung der Sterilität habe ich einige Tierversuche gemacht.
Aus dem hygienischen Institute bekam ich durch die Güte des Assistenten
Herrn Dr. Marschall virulente, frisch angelegte Tetanuskulturen. Ihre
Wirksamkeit wurde bei 2 Meerschweinchen und 2 Kaninchen ausprobiert,
dann setzte ich vor dem Sterilisieren der Gelatine in unserer Apotheke
eine frische Agarkultur meines Tetanus hinzu, und nach Ablauf der
vorgeschriebenen 5 Tage injizierte ich wieder 2 Kaninchen und ebenso
viele Meerschweinchen mit einigen Kubikcentimetem der Gelatine, die
in warmem Wasser bis zur Verflüssigung erwärmt worden war. Die
Tiere zeigten keine Reaktion.
Die KRAüSEsche Methode der Sterilisation erscheint mir durchaus
empfehlenswert, da sie nach meinen Tierexperimenten die gerinnungs-
befördernde Wirkung der Gelatine nicht zer3tört
Schlußsätze.
Die Gelatine hat eine die Blutgerinnung beschleunigende Wir-
kung, die sich im Tierexperimente durch den Antagonismus gegen das
gerinnungshemmende Hirudin einwandsfrei nachweisen läßt
Zur lokalen Applikation kann wohl die bei Zimmertemperatur
starre, wie die gelatosenreiche, bei dieser Temperatur flüssige „Gelatina
sterilisata^' Anwendung finden, da ihre Wirkung nach Sagkur eine we-
sentlich physikalische, Blutkörperchen konglutinierende ist.
Zur subkutanen Anwendung empfiehlt sich die gewöhnliche,
erstarrende Gelatine vor der weniger wirksamen flüssigen „Gelatina
sterilisata".
Die Sterilisation der Gelatine hat nach der Methode von
P. Krause zu geschehen, d. h. an 5 aufeinanderfolgenden Tagen bei
100« C im Dampftopf je V2 Stunde lang.
Diese Art der Sterilisation genügt, hebt aber weder das Er-
starrungsvermögen noch die Wirksamkeit der Gelatine auf.
Aus der chirurgischen Klinik (Geh.-Rat von Mikulicz)
und dem pharmakologischen Institute (Geh.-Rat Filehne) zu Breslau.
Nachdruck Terboten.
XVIL
Zur Pathologie des oifenen Pneumothorax
und die Grundlagen meines Yerfahrens zu
seiner Ausschaltung.
Von
Dr. SauerbruclL,
wissenschaftlichem Assistenten der Klinik.
(Hierzu 9 Abbildungen und 12 Kurven im Texte, und 2 Kurvenbeilagen.)
I. Einleitung.
Der gewaltige Fortschritt, den die allgemeine Anerkennung der
Asepsis in der Medizin bedeutet, beruhte in erster Linie darauf, daß
unter ihrem Schutze neue Gebiete des Körpers, speziell die Körper-
höhlen, dem Messer des Chirurgen zugänglich wurden. Ganz besonders
gilt dies von ider Bauchhöhle. Die Scheu vor ihrer Eröffnung schwand,
und heute gibt es wohl kaum ein Organ des Abdomens, das nicht ge-
legentlich operativ behandelt würde.
Die meisten Erkrankungen der Brustorgane haben noch bis heute
dem Chirurgen getrotzt. Wir. haben keine Thoraxchirurgie, die sich
der abdominalen ebenbürtig an die Seite stellen könnte. Zum Teil
liegt es in der Art der Erkrankung, von der die Brustorgane befallen
werden — Emphysem, Vitium cordis — , daß hier die innere Therapie
allein zu Worte kommt; aber auch Tumoren und Verletzungen, ja selbst
diejenigen mit gefährlichen Blutungen, die bei allen anderen Organen
eo ipso dem Chirurgen gehören, sind ihm hier nur unter besonders
günstigen topographischen Verhältnissen erreichbar. Daneben spielen
die Schwierigkeiten der Diagnose eine große Rolle. Die starre Brust-
wand verhindert eine zuverlässige Palpation. Auskultation und Per-
kussion haben nur einen bedingten Wert, und die RÖNTGEN-Durchleuch-
tung liefert auch keine unzweideutigen Befunde, zumal sie im wesentlichen
nur die in verringertem Maße lufthaltigen Partien der Lunge von den
normal lufthaltigen differenziert. Eher kommt sie für das Maß der
respiratorischen Beweglichkeit, in erster Linie des Zwerchfells, für die
Herzgrenzen u. a. in Frage. Die indirekten Symptome, Fieber, Art und
HittflU. a. d. ONDSfebletan d. Madisln u. Chirnrcle. 2UL Bd. 26
400 Sauerbruoh,
Menge des Auswurfes, Schmerzen etc. haben noch weniger Wert für die
Lokaldiagnose; wir sind meistens nur in der Lage, die Art des Leidens
sicher zu diagnostizieren, aber nicht immer mit der wünschenswerten Ge-
nauigkeit seinen Sitz und seine Ausdehnung. Das ist aber für jede
erfolgreiche chirurgische Behandlung eine conditio sipe qua non!
Den Hauptgrund für diese Reserve der Chirurgen den Erkrankungen
der Brustorgane gegenüber bilden aber die besonderen physikalischen Ver-
hältnisse des Brustraumes. Die physiologische DruckdüFerenz zwischen
Lungen und Brustfellraum wird durch das Eindringen der atmo-
sphärischen Luft in den letzteren gestört; die Lunge kollabiert, ihrer
Elastizität folgend; ein Pneumothorax mit seinen Gefahren entsteht
Die durch das Tierexperiment und auch beim Menschen immer wieder
gemachte Erfahrung, daß durch den Kollaps einer Lunge das Leben
bedroht, durch den beider so gut wie ausgeschlossen ist, machte bisher
fast aUe Eingriffe unmöglich, bei denen mit dieser Komplikation sicher
zu rechnen war.
Aber trotzdem hat man auch dieses Gebiet sich zu erringen ver-
sucht. In erster Linie hat sich darum Quincke, der vielleicht der
Begründer der modernen Lungenchirurgie genannt werden darf, Ver-
dienste erworben. Vor Quinckes grundlegender Arbeit „lieber die
Pneumotomie** (Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med., 1896) ist allerdings
schon hier und da ein Absceß oder Gangränherd der Lunge geöffnet
worden; seitdem Quincke dann aber eine ganz spezieUe Technik für
Lungenoperationen ausgebildet hat, haben sich die Mitteilungen über die
operative Behandlung der Lungenerkrankungen gehäuft. Ich erinnere
an die Arbeiten von Garr^, Korteweo, W. Müller, Bardenheuer,
Lenhartz u. a. Besondere Erwähnung verdient auch noch der Vortrag
von R£cLUS auf dem französischen Chirurgenkongreß zu Paris 189Ö:
^La Chirurgie du poumon''.
Immerhin war aber das Arbeitsfeld des Chirurgen an den Or-
ganen der Brusthöhle eng begrenzt Die Verletzungen des Herzens
sind nach Rehns kühnem Beispiele von Parrozoni, Kosinski,
Paoenstecher u. a. chirurgisch behandelt worden; subpleurale Tu-
moren sind nach vorheriger Verklebung der Pleurablätter entfernt,
Gangrän- und Absceßhöhlen eröffnet und drainiert worden. Von
einer Naht des Zwerchfells berichtet Farinatto in einem Falle, wo
Darm in die Pleurahöhle getreten war (Operation nach Postemskt-
Rüdiqer) ; auch bei der Operation von Brustwandtumoren wurden Teile
des Zwerchfells reseziert (v. Mikulicz). Alle Eingriffe an dem Brust-
teile der Speiseröhre haben letal geendet, mit Ausnahme eines einzigen
Falles von Enderlen, dem es gelang, ein verschlucktes Gebiß aus der
Speiseröhre auf transpleuralem Wege zu entfernen. In der Hauptsache
aber wurden Pleuraerkrankungen, vor allem das Empyem, operativ be-
handelt.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 401
Bei diesen wenigen bisher möglichen operativen Eingriffen ist es,
trotz Asepsis und der verbesserten diagnostischen Hilfsmittel, geblieben.
An dem Stillstande auf diesem Gebiete ist eben ein anderer Faktor
schuld: die Pneumothoraxgefahr, die man nicht zuverlässig aus-
schließen konnte.
IL Pathologie des Pneumothorax.
Zum Verständnis der Pathologie des Pneumothorax ist eine Klar-
legung der physiologischen Verhältnisse notwendig, auf die ich des-
halb vor Besprechung meiner eigenen Untersuchungen in Kürze ein-
gehen will.
Das Herz und die großen Gefäße sind gemeinsam mit den Lungen
luftdicht in den Brustraum eingefügt. Die Lungen werden durch den
von der Luftröhre her auf ihre innere Oberfläche wirkenden Atmo-
sphärendruck in ausgedehntem Zustande erhalten. Auf der äußeren
Brustwand lastet ebenfalls der Druck von einer Atmosphäre, der aber
von dem Brustkorbe vollständig getragen wird, so daß er für den
intrathorakalen Raum nicht mehr in Betracht kommt Gegen alle
Organe innerhalb der Brusthöhle würde also die Lunge mit dem durch
die Luftwege auf ihre innere Oberfläche wirkenden Druck von einer
Atmosphäre wirken, wenn dieser sich ungeschwächt auf jene Organe
fortpflanzen würde. Das ist nicht der Fall. Die Lungen haben nämlich
kraft ihrer elastischen Gebilde das Bestreben, dem Atmosphärendruck
entgegen sich nach der Lungenwurzel hin zusammenzuziehen, da ihre
Ruhelage der sogenannte Kollapszustand ist. Diese elastische Kraft
der Lunge, die am deutlichsten zur Anschauung kommt, wenn bei Er-
öffnung des Thorax das ausgedehnte Organ kollabiert, schwächt also den
atmosphärischen Druck, der ohne sie auf die Organe neben der Lunge
wirken würde. Das Herz, die großen Gefäße und die anderen intra-
thorakalen Organe stehen also unter einem Atmosphärendruck, der um
diese elastische Kraft der Lungen vermindert ist. Diese bestimmte be-
reits DoKDERS bei Leichen und fand, daß sie in der Exspiration 7,5, bei
einer gewöhnlichen Inspiration 9, bei einer möglichst tiefen Inspiration
30—40 mm Hg beträgt. Die Spannung der Luft in den Lungen ist
aber selbstveränderlich (vergl. Hermann, Handbuch der Physiologie).
Sie steigt bei der Exspiration und sinkt bei der Einatmung, weil die
Erweiterung des Brustraumes die Lungen ausdehnt. Unter normalen
Verhältnissen ist wegen des schnellen Ausgleiches der Luft diese
Schwankung gering. Nach I. K Ewald beträgt der normale At-
mungsdruck in der Inspiration 0,1 mm Hg, in der Exspiration
0,13 mm Hg. Es hält sich also der intrathorakale Druck auf Herz
und Gefäße innerhalb sehr enger Grenzen, aber so, daß er in beiden
Phasen unter einer Atmosphäre bleibt. Wird aber die Aus- oder Ein-
atmung forciert oder z. B. durch Verschluß eines Nasenloches erschwert,
26*
402 Sauerbruch,
oder wird nach vorausgegangener Inspiration bei verschlossenem Munde
und Nasenöffnung kräftig ausgeatmet (VALSALVAscher Versuch), oder
nach vorausgegangener Exspiration ebenso eingeatmet (Müllers Ver-
such), dann wird die Spannung der Luft im Lungenraume bedeutend
erhöht oder herabgesetzt und damit denn auch der intrathorakale Druck
beträchtlich verändert Er kann im ersten Falle stark ansteigen, im
letzten stark negativ werden^). Daraus folgt: Das auf der inneren
Oberfläche der Lungenalveolen liegende Eapillarnetz ist dem in den
Bronchien herrschenden Drucke ausgesetzt. Beim ruhigen Atmen ist
der Druck, welcher auf die Kapillaren wirkt, größer als der auf die
großen Gefäße wirkende intrathorakale Druck. Beim VALSALVAschen
Versuche steigt der Druck auf die Kapillaren ebenso wie der Druck
auf die Gefäße, immer aber bleibt der letztere um den der elastischen
Kraft der Lunge äquivalenten Druck kleiner als der erstere. Beim
Mt^LLERschen Versuche nimmt der Druck auf die Kapillaren be-
trächtlich ab, der Druck auf die großen Gefäße ebenfalls, aber
wiederum ist der letztere um den der elastischen Kraft der Lunge
kleiner. Die Differenz zwischen intrathorakalem und intrapulmonalem
Druck ist im zweiten Falle größer als im ersten. Das Blut wird also
fortwährend aus den Kapillaren der Lunge in der Richtung nach den
Venen zum Herzen mit einer gewissen Kraft befördert, da die rück-
gängige Bewegung nach den Arterien durch die Systole des rechten
Ventrikels und den Schluß der Pulmonalarterienklappen gehindert ist
Der negative intrathorakale Druck wird ^ sich aber auf die dünnwandigen
Venen leichter fortpflanzen, als auf die Arterien, wodurch die Druck-
differenz zwischen beiden gesteigert und so wiederum der Blutkreislauf
durch die Lungen gefördert wird (nach Hermann). Die außerhalb des
Brustkorbes verlaufenden Venei) (die Körpervenen) stehen mittelbar
oder unmittelbar mit der oberen bezw. unteren Hohlvene in Verbindung.
Diese letzteren stehen nun unter dem negativen Drucke des Brustraumes.
Die Körpervenen selbst dagegen sind durch die umliegenden Gewebe,
auf denen der Druck einer Atmosphäre lastet, und die Muskeln, die
bei ihrer Kontraktion den Atmosphärendruck noch vermehren, einem
positiven Drucke ausgesetzt. Es resultiert daraus eine wesentliche Unter-
stützung des Körperblutkreislaufes durch den negativen Druck des
Brustkorbes.
Der Grad der elastischen Dehnung der Lunge kann unmittelbar
an der Leiche gemessen werden, indem man ein Manometer luftdicht
in der Trachea befestigt und dann beide Pleurahöhlen eröffnet. Sofort
ergibt sich ein Ausschlag dadurch, daß jetzt der Ueberdruck von innen
durch den Druck von außen ausgeglichen wird und die Lunge sich, ihrer
1) VON Mikulicz bestimmte durch manometrische Messung im Brust-
ösophagus den maximalen Exspirationsdruck auf 180 mm Hg.
Zur Pathologie des oflfenen Pneumothorax etc, 403^
Elastizität folgend, zusammenziehen kann; man mißt so die elastische
Spannung der Lunge bei der betreffenden Größe der Lunge, also in un-
serem Falle derjenigen, welche sie bei der Normalstellung im Thorax bat
Man kann aber vorher die Lunge auch bis zu einem beliebigen Grade auf-
blasen, dann die Verbindung mit dem Manometer herstellen und so den
Druck messen, welcher einem jeden Ausdehnungsgrade entspricht. Nach
dieser Methode haben Carsow, Donders, Hutghison, Harms Be-
stimmungen über den Lungendruck gemacht. Donders Werte fielen
zwischen 6—30, Hutghison fand 13,5—37,6 (cit. bei Hermann). Siehe
über die Messung des Druckes am Lebenden unter Abschnitt IV.
Dieser negative Druck ist im intrauterinen Leben noch nicht vor-
banden, und ebenso fehlt er bei Kindern, die tot geboren werden oder
kurz nach der Geburt, ohne geatmet zu haben, sterben. Der negative
Druck entsteht also mit dem ersten Atemzuge. Bernstein (Arch. f.
d. ges. Phys., Bd. 17, 1878, p. 617) fand, daß man auch bei totgeborenen
Kindern durch Aufblasen der Lunge einen manometrisch nachweisbaren
negativen Pleuradruck erzeugen kann, ferner, daß der Thorax nach der
Aufblasung nicht mehr in seine alte Lage zurückkehrt, sondern erweitert
bleibt. Aehnlich verhält es sich auch bei dem ersten spontanen Atem-
zuge. Den Grund für das Verharren des Thorax in der neuen Stellung
sieht er in einer sperrzahnartigen Einrichtung der Costovertebralgelenke,
infolgedessen die Rippen nach der Aufblasung bezw. Einatmung der
Lunge nicht mehr in die alte Stellung zurückgehen können. Hermann
erklärt nach den Versuchen von Keller (Arch. f. d. ges. Phys., Bd. 20,
p. 365) die Sache anders. Er nimmt an, daß die atelektatischen Lungen
infolge einer ziemlich starken Adhäsion der aneinanderliegenden kleinsten
Bronchialwände und Alveolen der Aufblasung der Lungen einen Wider-
stand entgegenstellen müssen, welcher größer ist, als das Aequivalent
ihrer elastischen Kraft. Der erste Atemzug, der durch starke inspira-
torische Thoraxbewegung zu stände kommt, überwindet diesen Wider-
stand. Da nun die Elastizität der Lunge kleiner als die zur Aufblähung
angewandte Kraft ist, bleiben Thorax und Lunge in ausgedehntem Zu-
stande. Dieser Auffassung schließt sich auch Rosenthal an. (Nach
Hermanns Handbuch der Physiologie.)
Bei allen unseren operativen EingrüBFen, die ein breites OeflFnen
der Brusthöhle zur Voraussetzung haben, wird dieses physiologische
Verhältnis, wie schon oben erwähnt, gestört: Die atmosphärische Luft
dringt in den Brustraum; die Lunge kollabiert und wird funktionell
ausgeschaltet; ein Pneumothorax entsteht. Diese Komplikation wird
vielleicht noch ertragen, wenn sie einseitig ist; wird aber im Verlaufe
der Operation noch die andere Pleura eröffnet, — und bei vielen Ein-
griffen ist das nicht zu vermeiden — so ist der Tod die sichere Folge.
Die inneren Kliniker beobachten eine häufigere Form des Pneumo-
thorax. Es ist in diesen Fällen meist durch Zerfall von tuberkulösen
404 öauerbruch,
Herden oder durch Gangrän eines Lungenabschnittes zur Perforation
der Lungenoberfläche gekommen; es dringt die Luft von dem Bronchial-
raume her in die Pleurahöhle ein; dadurch wird auch hier ein Druck-
ausgleich zwischen der Pleurahöhle und dem Bronchialraume erreicht
und die Lunge kollabiert. Diese Form des Pneumothorax hat von jeher
ein besonderes Interesse für den internen Kliniker gehabt. Sehr viele
Forscher haben sich infolgedessen theoretisch wie experimentell mit
seiner Pathologie befaßt und auch die Abarten dieses Haupttypus,
speziell den Ventilpneumothorax, bei ihren Arbeiten berücksichtigt.
Fast alle machen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Formen des Pneumothorax und sprechen von einem offenen,
einem geschlossenen und einem Ventilpneumothorax; die meisten ver-
stehen aber unter einem offenen einen solchen, bei welchem die Luft durch
eine ganz kleine Oeffnung, z. B. eine Punktionsöffnung, in die Pleura-
höhle eingedrungen ist. Allgemein wird betont, daß schon der einseitige
Pneumothorax, namentlich der offene, recht bedrohliche Erscheinungen
zur Folge hat, daß der doppelseitige sicher tödlich wirkt.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf diese zahlreichen Arbeiten
hier referierend einzugehen, dagegen werde ich bei Besprechung meiner
eigenen Resultate die Literatur, soweit nötig, kritisch berücksichtigen
und gebe hier ihrem Inhalte nach nur die wichtigsten wieder.
Der erste, der über den Pneumothorax arbeitete, war Guttmann.
Er berichtet über 2 Versuche, bei denen nach Anstechung der rechten
Brusthälfte eine starke Abnahme der Atemfrequenz und ein Sinken des
Minaten Volumens auf den 3. — 4. Teil der ursprünglichen Größe eintrat.
Es ist zu betonen, daß Guttmann zu seinen Atemmessungen den Hutchinson-
schen Spirometer benutzte, in dem die Tiere aber nach wenigen Minuten
asphyk tisch wurden, so daß die Versuche ausgesetzt werden mußten.
Aehnliche Resultate wie Güttmann hatte Leiohtenstern.
Er ließ seine Tiere durch Voixsche Ventile und eine Gasuhr atmen
und fand nach Anlegung eines offenen Pneumothorax in 2 Untersuchungen
ein Sinken des Minutenvolumens um mehr als die Hälfte. Die Atem-
frequenz blieb im ersten Versuche unverändert, im zweiten stieg sie.
Die ausgedehntesten Untersuchungen haben Weil und später dieser
Autor in Verbindung mit Thomas gemacht.
Sie experimentierten an geschlossenem und offenem Pneumothorax und
in Verbindung damit am Hydrothorax. Sie fanden, daß alle Faktoren der
Atmung, die näher bestimmt werden konnten, eine oft sehr beträchtliche
Herabsetzung erfuhren. Das Minuten volumen nahm um 27,4 — 76,0 Proz.,
durchschnittlich um 47,4 Proz. ab. Eine etwas geringere Herabsetzung, im
Mittel nur 38,3 Proz., erlitt die Atemtiefe, während die Atemfrequenz im
ganzen noch weniger, aber immerhin noch sehr beträchtlich herabging. In
nur zwei Fällen fanden sie allerdings eine mäßige Steigerung.
Außerdem fugt Weil über die Ergebnisse seiner ersten Arbeit noch
folgendes hinzu:
Zur Pathologie des offeaeu Pneumothorax etc. 40&
1) Die Atmungsfrequenz steigt am wenigsten beim geschlossenen, am
meisten beim Ventilpneumothorax. Zwischen beiden steht, was die Atmungs-
frequenz betrifft, der offene Pneumothorax.
2) Die Atmungsexkursionen der Thoraxwand sind beim Ventilpneumo-
thorax und bei geschlossenem Pneumothorax geringer, bei offenem größer
als in der Norm. Kaninchen und Hunde zeigen steigende Atmungsfrequenz
bei geschlossenem und Ventilpneumothorax und eine enorme Vergrößerung
der Atmungsexkursion der Thorakalwand bei offenem Pneumothorax. Beide
Tierarten führen beim Ventilpneumothorax kleinere, aber öftere Atmungs-
ztige aus, als beim offenen Pneumothorax. Während der offene Pneumo-
thorax beim Kaninchen eine Verlangsamung der Atmung hervorruft, be-
wirkt er beim Hunde eine Vermehrung der Atemzüge, so daß diese die
Atmungsziffer bei geschlossenem Pneumothorax übersteigen.
Sehrwald, der auch Untersuchungen über den Pneumothorax an-
gestellt hat, faßt seine Resultate folgendermaßen zusammen:
1) Die Wirkung eines einseitigen, nach außen offenen Pneumothorax
auf die Respiration hängt nicht ab von der absoluten Weite seiner Oeff-
nung, sondern von dem relativen Verhältnis zwischen der Größe dieser
Oeffnung und der Weite der zuführenden Luftwege.
2) Der zweite wesentliche Faktor fOr das Zustandekommen einer
Ventilation der gesunden Lunge beim offenen Pneumothorax ist die Be-
schaffenheit des Mediastinums. Ist dasselbe sehr zart und sehr leicht aus-
dehnbar, so wird es bei der Inspiration so stark gegen die gesunde Lunge
hin aspiriert, daß es dieselbe an der Entfaltung hindert. Ist es sehr
derb und straff gespannt, so bietet es einen festen Stützpunkt für die Er-
weiterung der gesunden Lunge und ermöglicht einen ausgiebigen Ghas-
wechsel.
8) Sehr jugendliehe Individuen und ebenso vorher an den Brust'
Organen völlige Gesunde ertragen wegen der Zartheit und Dehnbarkeit
ihres Mediastinums daher den offenen Pneumothorax viel schwerer als
Patienten, bei denen durch starke Schwartenbildung das Mediastinum in eine
derbe, unnachgiebige Membran verwandelt worden ist. Die Schwarten-
bildung ist in diesem Palle ein Vorteil für den Organismus.
4) Außer dem anatomischen ist auch der funktionelle Zustand des
Mediastinums hierbei ftlr den Atemmechanismus von großer Bedeutung.
Bei der Inspiration wird durch das Abwärtssteigen des Zwerchfelles und
der Größenzunahme des sagittalen Durchmessers des Thorax das Media-
stinum bedeutend angespannt und die Atmung der gesunden Seite dadurch
wesentlich erleichtert.
5) Dieser Faktor ist beim offenen Pneumothorax um so wirkungs-
voller, da bei diesem die inspiratorische Thorax- und Zwerchfellbewegung
um das 4 — 5-fache an Größe zunimmt.
ß) Um die völlig kollabierte Lunge der offenen Thoraxseite wieder zu
einer gewissen Entfaltung und Teilnahme an der Respiration zu zwingen,
empfiehlt es sich, die Thoraxöffnung am Ende einer forcierten Exspiration
mit einem Verband luftdicht zu verschließen.
M. Kreps machte an Hunden über die Atmungsbewegungen beim
Pneumothorax Versuche:
Nach ihm tritt bei der Erzeugung des offenen Pneumothorax eine
Veränderung der normalen Atmung ein, die, an den Thoraxexkursionen
406 Sanerbrncli,
abgelesen, in einer Zunahme der Frequenz und Tiefe sich kund gibt.
Beide Faktoren, Frequenz und Tiefe, erfahren gegenüber dem expiratorisch
geschlossenen Pneumothorax beim offenen eine Zunahme, während beim
üebergang eines durch Injektion einer abgemessenen Lufbnenge erzeugten
Pneumothorax in den offenen die Frequenz steigt und die Tiefe sinkt.
Die im Anschluß an die EREPSsche Arbeit von Blumenthal vorge-
nommenen Untersuchungen des Lungengaswechsels ergeben:
Die Atemfrequenz erleidet bei allen Formen des Pneumothorax eine
beträchtliche Zunahme gegen die Norm. Am stärksten ist diese Zunahme
bei dem expiratorisch geschlossenen Pneumothorax, weniger bei dem
inspiratorisch geschlossenen ausgeprägt. Die Mittelstellung behauptet der
offene Pneumothorax. Die Atemgröße erflühirt bei dem in- und expiratorisch
geschlossenen Pneumothorax eine regelmäßige Steigerung beim offenen
ebenfalls, und zwar ist hier die Atemgröüe und Größe der Oeffnung
proportional. Erst bei ganz großen Oeffnungen sinkt sie unter die Norm,
sonst steht sie hoch über derselben. Die Atemtiefe erleidet bei neuen
Formen des Pneumothorax eine Abnahme. Bei dem offenen Pneumothorax
ist die Atemtiefe ungefllhr umgekehrt der Größe der Thoraxfistel pro-
portional.
Gilbert und Roger stellten ihre Versuche an nicht narkotisierten
Hunden an. Den Pneumothorax erzeugten sie mittelst einer Hohlsonde
oder eines Troikarts.
Sie fanden, daß die Respirationskurve, abgesehen von der ersten ver-
längerten und unregelmäßigen wellenförmigen Inspiration und nachfolgenden
heftigen Exspiration, normal verläuft. Bei offenem Pneumothorax fanden
sie die Atmung beschleunigt und vertieft, bei geschlossenem verlangsamt
und die einzelnen Atemzüge noch verstärkt. An der Blutzirkulation konnten
sie nach Erzeugung des Pneumothorax keine auffällige Veränderung kon-
statieren. In gewissen Fällen glauben sie, daß im Momente des Luftein-
trittes in den Pleuraraum ein Seltenerwerden der Herzkontraktionen eintritt.
Nach Ueberwindung dieser Initialphase findet wiederum ein Ausgleich in
der gestörten Zirkulation statt.
Beinahe gleichzeitig mit den genannten Autoren veröffentlichten
Rodet und Poürrat ihre Untersuchungen. Sie studierten sowohl die
dabei auftretenden Zirkulations- als auch Respirationsstörungen.
Sie fanden bei nicht narkotisierten Hunden mit geschlossenem Pneumo-
thorax beschleunigte, bei (mit Morphium und Chloroform) narkotisierten
Hunden verlangsamte und oberflächliche Respiration. Nach erfolgter Durch-
schneidung der Vagi wurde die Atmung weniger frequent und tiefer. Bei
offenem Pneumothorax — sie öffnen die Brusthöhle durch einen großen
Lappenschnitt — stellte sich nach kurz vorübergehender Beschleunigung
eine fortschreitende Verlangsamung und baldiger Stillstand der Respiration
bei vermehrter Amplitude ein. Die Verlangsamung der Atmung geht —
ihren Angaben zufolge — Hand in Hand mit einer Verlangsamung des
Pulses, welche in vollständigen Herzstillstand endet. Vor dem Eintritte
der Atmungsverlangsamung können die einzelnen Pulswellen „ineinander-
fließen^*, und das tritt gewöhnlich gleichzeitig mit der Inspirationsphase ein.
(Sie zählten in der Periode der Pulsre tarda tion 10 — 15 Schläge pro Minute.)
Zur Pathologie des ofiPenen Pneumothorax etc. 407
Einige der späteren Arbeiten berücksichtigen auch die Verhältnisse
des Blutdruckes.
So experimentierte Libyen an Hunden mittlerer Größe und mitt-
leren Alters, denen er 0,04—0,06 g Morphium subkutan injizierte. Jedes
Tier wurde tracheotomiert , unter Druck mit dem FiOKschen Peder-
manometer gemessen. Er untersuchte ebenso wie Wbtl die verschiedenen
Arten des Pneumothorax. Seine Resultate sind: Weder ein offener noch
ein geschlossener Pneumothorax verändert den Blutdruck. Wurde in den
Pleuraraum bis zu einem gewissen Grade Luft geblasen, so blieb der Blut-
druck auf normaler Höhe stehen. Wurde dabei eine gewisse Grenze
überschritten, so stieg der Druck, solange Luft eingeblasen wurde, all-
mählich an, um dann zur normalen Höhe zurückzukehren. Bei Erzeugung
eines Ventilpneumothorax verhält sich der Druck ähnlich, nach einer ge-
wissen Zeit sinkt er aber und das Tier erstickt.
Sackur, auf dessen Arbeiten wir unten nach näher eingehen werden,
untersuchte sowohl die Respirations- als auch die Blutdruckänderungen.
Den Pneumothorax erzeugte er auf einer Seite. 17 Versuche wurden
an Kaninchen, 4 an Hunden ausgeführt. Er fand die Lungenkapazität
nach der Operation so groß, wie unter normalen Verhältnissen, die Fre-
quenz aber und die Tiefe der Atemzüge erschien vergrößert. Weiterhin
fand er, daß der Druck in der Carotis bei einseitigem Pneumothorax nicht
steigt, hingegen macht sich ein Anstieg im venösen Kreislaufe bemerkbar.
Die Sauerstoffmenge im Blute dagegen nimmt konstant, oft bis um die
Hälfte ab.
Zu einer grundverschiedenen Anschauung gelangte Aron.
Er konstatierte ein Anwachsen des Blutdruckes mit Zunahme der
in den Pleuraraum eingeblasenen Luft. Bei offenem Pneumothorax sank
der Blutdruck ein wenig, blieb jedoch immerhin höher als normal. Wurde
der Pneumothorax geschlossen, so änderte sich der Blutdruck nicht weiter.
Bei einseitigem Pneumothorax konnte ein Steigen des intrathorakalen
Druckes auf der Gegenseite bewiesen werden.
Dann möchte ich noch eine experimentelle Arbeit von HnXtek
erwähnen, dessen Resultate mit den meinigen zum Teil übereinstimmen.
An den betreffenden Stellen wird dies erwähnt.
Die Reihe der hierhergehörigen Arbeiten ließe sich noch vergrößern,
überall finden wir aber widersprechende Angaben. Der Grund hier-
für liegt meines Erachtens hauptsächlich darin, daß die einen nur
am geschlossenen, die anderen nur am offenen Pneumothorax experi-
mentierten. Dabei verstehen die meisten unter einem offenen Pneumo-
thorax einen solchen, bei dem die Pleurahöhle durch einen Troikart
mit der atmosphärischen Luft in Verbindung steht. Nur wenige machen
größere Oeffnungen in die Brustwand. Ferner ist nicht immer ange-
geben, wie die Atmung gemessen ist, ob an den Brustkorbexkursionen,
oder an den Schwankungen des Lungenvolumens.
Meine Untersuchungen über den Pneumothorax gingen aus dem
408 Sauerbruch,
praktischen Bedürfnis hervor, ein Verfahren zu finden, das die be-
kannten lebensbedrohlichen Erscheinungen, die mit dem Kollabieren
der Lunge fast immer eintreten, Dyspnoe, Herzschwäche und Kollaps
beseitigt. Der für den Chirurgen bei seinen Operationen in Frage
kommende Pneumothorax ist stets ein offener; und zwar handelt es
sich um große Oeffnungen, die gestatten, mit Instrumenten, ja sogar
mit der Hand, im Inneren der Brusthöhle zu arbeiten. Meine Ver-
suche beziehen sich infolgedessen ausschließlich auf den
Pneumothorax mit breiter Oeffnung der Brustwand.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig zu betonen, daß
zwischen verschiedenen Tierarten bezüglich der Bedeutung des Pneumo-
thorax ein wesentlicher Unterschied besteht; Kaninchen vertragen ihn
z. B. viel besser als Hunde und zeigen infolgedessen auch lange nicht
in so hohem Maße die resultierenden Atmungs- und Zirkulationsstö-
rungen; femer, daß ich die experimentellen Untersuchungen über die
Atmungsänderung und den Blutdruck ohne Narkose vorgenommen
habe. Um ein ganz reines Bild der Pneumothoraxwirkung zu haben,
ist es unbedingt nötig, für einige Versuche auf die Narkose zu ver-
zichten, damit die reflexhemmende Wirkung der Narkotika, speziell des
Morphiums und des Opiums wegfällt. Hierin weiche ich von den meisten
anderen Untersuchern wesentlich ab, die mit Chloroform, Opium oder
Morphium das Versuchstier einschläferten.
Wenn man experimentell einen offenen Pneumothorax erzeugt, so
sieht man zunächst als Reflex des Schmerzes, den der Hautschnitt ver-
ursacht, abgesehen von heftigen Abwehrbewegungen des Tieres, eine
ziemlich beträchtliche Beschleunigung der Atmung. Es ist deshalb
nötig, daß man sich die Pleura freipräpariert in dem ganzen Bereiche,
in dem sie geöffnet werden soll, daß man dann das Tier sich erholen
läßt und jetzt erst die Pleura spaltet. In dem Augenblick, wo das zarte
Brustfell mit der Schere durchtrennt wird, dringt mit einem scharfen,
zischenden Geräusche die atmosphärische Luft in den Brustraum; die
Lunge fällt ganz plötzlich zusammen, und die schöne hellrosarote Farbe des
Parenchyms ist einer schmutzig dunkelgrauroten gewichen. Der Kollaps
der Lunge beim Eröffnen der Pleurahöhle ist kein vollständiger; die Lunge
ist keineswegs auf ihre natürliche Größe zurückgekehrt, denn die natürliche
Größe, d. h. diejenige, in der das Gewebe gar keine Elastizitätsspannung
mehr besitzt, ist der Zustand der Atelektase. Zu diesem können die
Lungen nicht kommen, weil beim Zusammenfallen die Bronchioli an
ihrer engsten Stelle, d. h. am Uebergang ins Infundibulum, sich voll-
ständig schließen und so der noch in den Alveolen befindlichen Luft
den Ausgang versperren. Diese Erklärung stammt von Traube und
ist später von Rosenthal bestätigt worden. Rosenthal machte fol-
gendes Experiment: Er öffnete bei einem lebenden Kaninchen eine
Pleurahöhle, und ließ nun das Tier am Leben. Er beobachtete es
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc.
409
1
€
g
'V
a
o
<
i
1
9
S
a
d
o
1
OD
I
§
<
I
I
60
s
Q
GQ
s^v»
I
O
a
bO
TS
a
-a
«'
410 Sauerbruch,
etwa 8 — 10 Stunden und fand, daß von der Eröffnung an die Lunge
immer weiter in ihrem Volumen abnimmt und schließlich vollständig
atelektatisch wird. Zur Erklärung dieser Beobachtung nimmt er an,
daß die in den abgesperrten Alveolen eingeschlossene Luft allmählich
von den Alveolargefäßen resorbiert wird. Beweisend för die Richtigkeit
dieser Auffassung ist auch ein Experiment von Hermann und Keller;
sie vermochten nicht durch mechanischen Druck die Lunge atelektatisch
zu machen.
Unmittelbar nach der Eröffnung der Pleura und dem Kollaps der
Lunge tritt ein ganz kurzer Atmungsstillstand ein, an den sich sofort
heftige ausgiebige Atmungsstöße anschließen (s. Kurve 1 p. 409).
Wir sehen das Tier etwa 15—20 Sekunden lang mit Anstrengung
aller Hilfsmuskeln atmen^ der Thorax hebt und senkt sich über der
unbeweglich in seinem Innern liegenden Kollabierten Lunge; Frequenz
und Tiefe der Atmung, soweit man an den Thoraxexkursionen sehen
kann, wachsen, (lieber die Größe des Gasaustausches siehe unten.)
Gleichzeitig wird der Typus der Atmung ein unregelmäßiger. Nach
etwa 90 Sekunden wird die Atmung ruhiger, regelmäßiger, nur gegen
die Norm verlangsamt, dafür aber tiefer. Diese Verlan gsamung nimmt
zu, namentlich durch Verlängerung der Exspirationsphase (s. Kurve 2),
schließlich entstehen nur noch ab und zu in großen Intervallen kurze
Inspirationen, und ganz allmählich kann diese Verlangsamung der At-
mung in Stillstand übergehen. In diesem letzten Stadium treten beim
rechtsseitigen Pneumothorax, der infolge des Wegfalles des größeren
Teiles der Lunge gefahrlicher ist, schon die HsiDENHAiNschen Mit-
bewegungen der Extremitäten als Zeichen größter Dyspnoö auf; Krämpfe
stellen sich ein; das Herz schlägt eine Zeit lang ruhig weiter; ab und zu
folgt dann noch eine ganz schwache Exkursion des Brustkorbes, schließ-
lich treten Herzstillstand und Tod des Tieres ein. Bei doppelseitigem
Pneumothorax ist dieser Verlauf sehr viel stürmischer, die einzelnen
Phasen lassen sich aber auch hier deutlich unterscheiden.
Man hat die schädliche Wirkung des doppelseitigen Pneumothorax
stets als eine direkte Folge des Ausfalles beider Lungen angesehen,
und diese Auffassung ist ja auch auf den ersten Blick verständlich:
Beide Lungen sind durch ihren Kollaps funktionell vollständig aus-
geschaltet; der zur Oxydation des Blutes unbedingt notwendige Luft-
wechsel in den Lungen hat aufgehört. Das Blut wird dadurch mit
Kohlensäure überladen, das Atmungszentrum (Vagus) gereizt und re-
flektorisch die Atmungsänderung angeregt. Der eintretende Tod ist
dann die Folge einer KoMensäurevergiftung.
Anders liegt die Sache beim einseitigen Pneumothorax; hier gehen
die Erklärungsversuche doch sehr weit auseinander. Am naheliegendsten
ist die Annahme, daß durch den Wegfall der einen Lunge die Respi-
rationsfläche fast auf die Hälfte (auf der rechten Seite sogar mehr) ver-
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 411
mindert, daß dadurch wiederum der Gasaustausch geringer werde und,
ähnlich wie beim doppelseitigen Pneumothorax, reflektorisch die Atmungs-
änderung zu Staude komme. Daß zweifellos der Sauerstoffgehalt des
Blutes beim einseitigen Pneumothorax sinkt, ist experimenteU durch
Sackur nachgewiesen (siehe nnten). Er fand in seinen 21 Versuchen,
die er über diese Frage anstellte, eine bedeutende Herabsetzung des
0-Gehaltes fast bis auf die Hälfte. Wir werden sehen, daß daran noch
andere Ursachen schuld sind. Andererseits wissen wir aber aus der kli-
nischen Erfahrung, daß selbst relativ kleine Teile einer Lunge ffir den Be-
darf des Organismus ausreichen, ohne daß Dyspnoä eintritt. Nach einer
weitverbreiteten Ansicht sind diese Störungen bezw. der Tod die Folgen
der Verlagerung des Herzens und der großen Gefäße. Diese, insbesondere
die untere Hohlvene, sollen abgeknickt werden ; das Herz würde dadurch
von der venösen Zufuhr abgeschnitten und man müßte die bedenklichen
Folgen darauf zurückführen. Nach einigen kommt noch die Raum-
beengung der gesunden Lunge durch das Mediastinum, das von der
Pneumothoraxseite her gegen die andere Brusthälfte gedrückt wird,
hinzu. Schon die Tatsache, daß große Exsudate das Herz beträchtlich
verlagern, ohne daß diese schweren Erscheinungen eintreten, sollte da-
gegen sprechen; allerdings haben die Organe bei allmählichem Ent-
stehen Zeit, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Wie gut aber
das Herz und die Gefäße selbst starken plötzlichen Druck vertragen,
werden wir unten sehen, wo ich zur Besprechung der Versuche in
meiner Kammer komme. Hier mag nur angeführt werden, daß man
bei linksseitigem Pneumothorax das Herz bis an die rechte Thoraxwand
pressen kann, ohne wesentliche Störung hiervorzurufen. Auch Garr6
wendet sich in dem jüngst erschienenen Buche über Lungenchirurgie
gegen diese Ansicht und erklärt seinerseits die Dyspnoe folgender-
maßen : „Anders gestalten sich die mechanischen Verhältnisse bei weiter
Pleuraöffnung. Ist eine solche vorhanden, durch die bei der Inspiration
und Exspiration die atmosphärische Luft in den Pneumothorax unge-
hindert ein- und ausströmen kann, so wird natürlich die Lunge der
betreffenden Seite sofort funktionell ausgeschaltet. Bei jeder Inspiration
wird nun der Druck in den beiden Pleuraräumen ein verschiedener
sein : im Pneumothorax Atmosphärendruck, auf der gesunden Seite ein
negativer Druck (normale inspiratorische Druckschwankung — 7 mm Hg).
Die Folge davon wird sein, daß die Scheidewand der Pleuren, das
Mediastinum, nach der gesunden Seite zu angezogen wird, sich dahin
ausbuchtet und vorwölbt. Unter solchen Umständen kann sich die
gesunde Lunge nicht genügend entfalten. Bei normaler Exspiration
hält der Atmosphärendruck rechts und links sich das Gleichgewicht.
Bei jedem exspiratorischen Pressen, beim Husten, Stöhnen, bei reflek-«
torisch „gepreßtem Atem" mit , Verengerung der Glottis (z. B. bei
Schmerz) wird ein positiver, intrathorakaler Druck der gesunden Seite
412 Sauerbrach,
das Mediastinum nach dem Pneumothorax zu vorwölben (wo kein posi-
tiver Druck herrscht) und dadurch resultiert hinwieder eine ungenügende
exspiratorische Entleerung der Lunge. Die eine gesunde Lunge genügt,
wie die tägliche Erfahrung uns zeigt, völlig den Ansprüchen des ruhenden
Körpers unter der Voraussetzung ungehinderter physiologischer Funktion.
Wo aber, wie bei weit offenem Pneumothorax, sowohl die inspiratorische
£nt£altung wie die exspiratorische Entleerung eine ungenügende ist, da
müssen Dyspnoe und schließlich Herzkollaps eintreten.^ Auch Sehr-
wald (siehe oben) hat schon auf dieses Schwanken des Mediastinums
ausdrücklich hingewiesen.
Das Mediastinum wird in der Tat bei offenem Pneumothorax in
der Inspiration nach der gesunden Seite hingezogen und in der Ex-
spiration nach der Pneumothoraxseite vorgewölbt. Wie stark dieses
Flottieren des Mediastinum sein kann, mag eine Beobachtung zeigen,
die ich gelegentlich einer Oesophagusresektion machte:
Nach breiter Eröffnung der linken Pleura unter Kollaps der Lunge
traten die typischen Aenderungen der Atmung bei Pneumothorax
ein. Das Mediastinum bildete bei jeder Inspiration ein Eugelsegment,
dessen Höhe etwa 4 cm betrug, und wurde bei jeder Exspiration etwa
bis zu ^/4 der Breite der linken Pleurahöhle vorgebuchtet; nach ca.
2 Minuten riß bei forcierter Exspiration das Mediastinum auf der Höhe
der Wölbung und ein doppelter Pneumothorax entstand; unter stürmi-
schen fruchtlosen Exkursionen des Brustkorbes starb das Tier nach 12 Se-
kunden. Die Beeinträchtigung der gesunden Lunge in ihrer physio-
logischen Funktion durch dieses Schwanken des Mediastinums ist klar,
und die Erklärungen Garr^s, daß, „wo sonst die inspiratorische Ent-
faltung wie die exspiratorische Entleerung eine ungenügende ist, Dys-
pnoe und schließlich Herzkollaps eintreten müssen^, scheint berechtigt.
Aber dennoch kann ich sie nicht als richtig anerkennen, seitdem
ich gesehen habe, mit wie wenig „Lunge^ ein Tier auskommen kann.
So genügt bei einem Hunde, der durchschnittlich 800 ccm in der Minute
atmet, ein Gasweehsel von nur 70 ccm. Es ergibt sich dieses geringe
At^nbedürfnis aus den Versuchen, die weiter unten beschrieben werden.
Auf Grund dieser Versuche kann man mit Sicherheit behaupten, daß
nicht die Behinderung der unversehrten Lunge durch das
Mediastinum schuld an der Dyspnoö sein kann. Außerdem ist
tatsächlich diese Behinderung der gesunden Lunge gering, denn es tritt
nur eine kleine Differenz der Atmungsgröße beim Pneumothorax gegen-
über der Norm ein.
Die Atmungsgröße ist abhängig von der Atmungsfrequenz und dem
Atmungsvolumen. In der ersten Zeit nach Eintritt des Pneumothorax
wird diese Konstanz der Atmungsgröße durch eine Zunahme der Atmungs-
frequenz erreicht; aber auch in der 2. Phase, wo die Frequenz sogar
vermindert ist, ist die Atmungsgröße annähernd dieselbe geblieben.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc.
413
Diese Kompensation wäre ausgeschlossen, wenn die Be-
hinderung der Lunge durch das Flottieren des Media-
stinums nennenswert wäre.
Versuche.
Zur Messung des Atemvolumens habe ich mich folgenden Ver-
fahrens bedient:
Das Tier wird in Rückenlage gefesselt und tracheotomiert. Die
beiden freien Enden der T-f5rmigen Trachealkanüle werden mit je
einem Ventil so verbunden, daß eine Scheidung der In- und Exspi-
rationsluft herbeigeführt wird. Erstere muß den Weg durch eine Gas-
uhr nehmen. Auf der einen Thoraxseite des Tieres (abwechsebid rechts
und links) wird vom 5.-7. oder —8. Interkostalraum Haut und Mus-
kulatur in einem n-förmigen Lappen durchtrennt, so daß die Pleura
costalis freiliegt. Zur Kontrolle der Temperatur des in Watte und
Decken gut eingepackten Tieres wird ein Thermometer im Rectum be-
festigt. Sobald das Tier sich beruhigt hat, liest man minutenweise den
Stand der Gasuhr ab und zählt die Atemzüge. Wenn die Atmung
gleichmäßig geworden ist, das heißt, sobald die Zahl der Atemzüge in
der Minute eine bestimmte und die von der Gasuhr abgelesenen Zahlen
dauernd ungefiihr gleich geworden sind, wird die Pleura in einem Inter-
kostalraume durch schnellen Stich mit dem Skalpell gespalten, und
von hier aus im Bereiche des Hautmuskellappens weit eröfinet. Un-
gefähr 15—20 Minuten nach Beginn der Beobachtung tritt diese Gleich-
mäßigkeit der Atmung ein.
1. Kaninchen, 2100 g.
Atemvolumeo pro Minute
normal 1 1. Pneumothorax
Atemfrequenz
normal
480 I 530
2. Kaninchen, 2400 g nach 10 Minuten
58
1. Pneumothorax
74
Atemvolumen pro Minute
normal
L Pneumothorax
460
3. Kaninchen, 2050 g.
470
Atemirequenz
normal 1 1. Pneumothorax
54
48
El
Atemvolumeo pro Minute
normal 1 r. Pneumothorax
525
4. Kaninchen, 2300 g.
480
Atemfrequenz
normal 1 r. Pneumothorax
62
70
P^S
Atemvolumen pro Minute
normal I r. Pneumothorax
430
460
Atemfrequenz
normal
48
r. Pneumothorax
46
414
Sauerbruch,
Die oben beschriebene Aenderung des Atmungstypus beim Pneumo-
thorax hat also eine auEfSllige Rückwirkung auf die Atmungsgröße:
die gesunde Lunge hält durch Mehrarbeit den Luftwechsel in den Lungen
in demselben Umfange aufrecht, wie er normalerweise von beiden
Lungen geleistet wird. Angesichts dieser Tatsache muß es wunder
nehmen, daß trotzdem gelegentlich, namentlich beim rechtsseitigen
Pneumothorax, die Tiere sehr bald eingehen. Es kann also un-
möglich dieser ausgiebige Luftwechsel in genügender
Weise für die Ventilation des Blutes ausgenutzt werden.
Es vollzieht sich durch den Wegfall der einen Lunge der
Oasaustausch auf einer viel kleineren Oberfläche; das
Blut hat andererseits eine sehr niedrige Absorptions-
grenze für den Sauerstoff, so daß es nur einen ganz ge-
ringen Prozentsatz der Sauerstoffmenge, die ihm durch
den ausgiebigen Luftwechsel in den Lungen zur Verfü-
gung steht, in sich aufnehmen kann. Ich glaube, daß diese
Behinderung des Oasaustausches bei der Pathologie des Pneumothorax
zu berücksichtigen ist.
Bei der Bedeutung, die der Nervus vagus für die Tätigkeit der
Lunge und des Herzens hat, könnte man erwarten, daß sein Einfluß
beim Pneumothorax in Frage kommt. Wir wissen, daß dieser Nerv
gewissermaßen ein Regulator ist, der, aufs genaueste eingestellt, auf
kleinste Reize mit Aenderung der Funktionen der von ihm versorgten
Organe antwortet. Es wäre möglich, daß durch den heftigen mecha-
nischen Reiz, den der Lungenkollaps auf die feinsten Vagusfasern
ausübt, reflektorisch die Vertiefung und Beschleunigung bezw. die spä-
tere Verlangsamung der Atmung angeregt würde.
Versuche.
1. KanincheD, 2700 g.
Atemvolumen pro Minute
1. nor-
mal
2. nach Durch-
schneidung d. Vagi
3. 1. Pneumo-
thorax
1. nor-
mal
Atemfrequenz
2. nach Durch-
schneidung d. Vagi
3. 1. Pneumo-
thorax
430 460
2. Kaninchen, 1800 g.
4Ö5
60
40
56
Atemvolumen pro Minute
1. nor-
mal
2. nach Durch-
schneidung d. Vagi
3. l. Pneumo-
thorax
Atemfrequenz
1. nor- I 2. nach Durch- |3. 1. Pneumo-
mal I schneidung d. Vagi! thorax
510 530
3. Kaninchen, 3100 g.
520
52
41
48
Atemvolumen pro Minute
normal I 1. Pneumothorax
Atemfrequenz
normal 1 L Pneumothorax
510
495
I
60
66
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc.
415
4. Nach DuichBchnddung der linken Vagi.
Atemvolumen pro Minute
510
Atemfrequenz
56
^. Kaninchen, 2500 g.
Atemvolumen pro Minute
normal L Pneumothorax
435
Atemfrequenz
normal 1 1. Pneumothorax
445
42
56
6. Nach Durchschneidung der linken Vagi.
Atemvolumen pro Minute Atemfrequenz
440
48
7. Kaninchen, 3200 g.
Atemvolumen pro Minute
normal 1 r. Pneumothorax
560
530
Atemfrequenz
normal
46
r. Pneumothorax
50
S, Nach Durchschneidung der linken Vagi.
Atemvolumen pro Minute Atemfrequenz
520
40
"Q.-Kaninchen, 2455 g.
Atemvolumen pro Minute
normal 1 r. Pneumothorax
480
450
Atemfrequenz
normal r. Pneumothorax
52
58
10. Nach Durchschneidung der linken Vagi.
Atemvolumen pro Minute Atemfrequenz
420
46
11. Kaninchen, 2&K) g.
Atemvolumen pro Minute
normal 1 1. Pneumothorax
Atemfrequenz
normal
« 520 { 555 I 52
12. Nach Durchschneidung der linken Vagi.
I. Pneumothorax
58
Atem Volumen pro Minute
560
Atemfrequenz
50
13. Kaninchen, 2480 g.
Atemvolumen pro Mioute
normal
490
1. Pneumothorax
480
Atemfrequenz
normal l. Pneumothorax
50
54
lUttilL a. d. OrtnzgeMftten d. Medisia a. Ohirarcl«. ZIU. Bd.
27
416 Sftuerbruoh,
14. Nach DurchBchneiduDg der linkeD Vagi.
Atemvolumen pro Minutei Atemfrequenz
485 I 45
Diese Versuche ergeben, daß die Durchschneidung der Vagi auf
die Respirationsstörung des Pneumothorax nur einen bescheidenen
Einfluß hat. Bei der Beobachtung eines vagotomierten Tieres hat man
den Eindruck, als ob die Veränderung der Respiration weniger scharf
einsetze. Das ist erklärlich, weil jetzt von vorneherein der Atmungs-
modus schon im Sinne einer Vergrößerung und Verlangsamung der
Atmung verändert ist. Man hat den Eindruck, als ob die Tiefe der
Atmung noch zunähme ; die genauen volumetrischen Zahlen zeigen aller-
dings, daß das kaum der Fall ist Jedenfalls werden aber die Exkur-
sionen des Brustkorbes bedeutend größer und stürmischer. Daneben
kann man nach Durchschneidung der Vagi und einseitigem Pneumo-
thorax beobachten, daß die Eonstanz der Atmungsgröße mehr durch
Vergrößerung des Atmungsvolumens erzielt wird, während die Frequenz
gleich bleibt oder gar abnimmt.
Trotzdem muß man aber erwarten, daß ein für die Atmung so
wichtiger Nerv unbedingt beim Zustandekommen dieser merkwürdigen
Kompensation beteiligt sein muß. Hauptsächlich scheint mir die Schnellig-
keit, mit der die Atmungsveränderung eintritt, dafür zu sprechen, daß
nervöse Einflüsse im Spiele sind.
Die kollabierte Lunge erweitert sich nicht mehr, wie
wir gesehen haben. Diese Untätigkeit schaltet einen
spezifischen Reiz auf die feinsten sensiblen Fasern, die
ja in der ganzen Lunge zu finden sind, aus. Vielleicht
ist dieser vom wechselnden Volumen der Lunge abhän-
gige Reiz auf das Respirationszentrum eine Vorbedin-
gung für die normale Atmung. Das ist eine Vermutung!
Sicher aber ist, daß die Atmungsstörung bei Pneumo-
thorax sehr an die nach Vagusdurchschneidung erinnert.
In beiden Fällen wird von der Lunge aus dieser spezi-
fische Reiz dem Zentrum nicht mehr übermittelt. Die
Erregung fällt beim Pneumothorax durch die Untätigteit
der Lunge, nach derVagotomie durch Unterbrechung der
Leitungsbahn fort.
Zu berücksichtigen sind ferner auch Reflexe, die von der Pleura
ausgelöst werden können ; ich meine, daß der Lufteintritt für die feinsten
sensiblen Nerven einen Reiz bedeutet, den man nicht vernachlässigen
darf. Inwieweit dieser aber in Frage kommt, läßt sich experimentell
wohl kaum feststellen. In tiefer Narkose ist er ausgeschaltet (siehe
unten), und als Resultat dieses Wegfalles ergibt sich eine geringe
Aenderung der Atmung. Von anderer Seite ist die Bedeutung des
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 417
Vagus und der anderen Nerven (Sympathicus) sehr verschieden be-
urteilt worden. Aron z. B. nimmt an, daß der Vagus in dieser Be-
ziehung überhaupt keine Rolle spielt, während Taützk geradezu ihn
allein dafür verantwortlich macht. Er hält die Vertiefung der Inspi-
ration für eine reflektorische Wirkung des Vagus, und nach ihm soll
Durchschneidnng desselben an der Kollapsseite diese Erscheinung nicht
zu Stande kommen lassen. (?)
An dieser Stelle will ich gleich eine Beobachtung über die Funktion
des Vagus für die Lunge niederlegen:
Eröfltoet man in meiner Kammer auf beiden Seiten die Brusthöhle
und zwar derart, daß die vordere Brustwand abgetragen wird, so atmet,
wie wir unten sehen werden, das Versuchstier ruhig weiter. Durch-
schneidet man jetzt auf beiden Seiten die Vagi, so sieht man, daß im
Vergleich zu vorher die Inspirationsausdehnung der Lunge größer wird.
Auch auf andere Weise läßt sich diese Zunahme des Lungen volumens
nach Wegfall des Vaguseinflusses feststellen. Oeffnet man bei einem
Versuchshunde beide Pleurahöhlen in der Kammer bei einem bestimmten
Drucke (— 10 mm Hg), verbindet jetzt die Luftröhre luftdicht mit einem
Gasometer und läßt jetzt den Druckausgleich zwischen Außenluft und
Kammerinnerem eintreten, so kollabieren die Lungen, und die vorher
in ihnen enthaltene Luft wird in die Gasuhr hineingetrieben, so daß
wir hier ihr Volumen ablesen können. Tötet man das Tier jetzt, stellt
wieder denselben Druckunterschied her, so daß die Lungen sich wieder
ausdehnen, und läßt jetzt den Druckausgleich von neuem eintreten, so
daß wiederum die Lungen zusammenfallen und alle Luft in das Gaso-
meter entweicht, so findet man, daß die Lungen jetzt ein größeres Luft-
volumen faßten. Daraus folgt, daß die rein mechanische Aufblähung
der Lungen — die im Tode allein in Frage kommt — größer ist, als
diejenige, die bei unversehrten Vagi vorgenommen wird; d. h., beim
lebenden Tiere besteht ein Tonus des Lungengewebes, der von dem
Vagus abhängig ist.
Nach der Durchschneidung der Vagi fSllt der Tonus der Lunge
fort; die Ausdehnung durch die Luft von der Trachea her kann infolge-
dessen größer werden, d. h. die Inspirationen nehmen zu. Es verschiebt
sich jetzt die Atmungsbreite, und zwar so, daß sich die Atmung zwischen
tieferer Inspiration und schwächerer Exspiration vollzieht. Eine direkte
Folge der Inspirationszunahme ist die Verlangsamung der Atmung. Reizt
man dagegen den Vagus, so nimmt der Tonus zu; die Ausdehnungs-
möglichkeit durch die äußere Luft wird geringer, d. h. die Inspirationen
werden kleiner, und damit wird die Atmung frequenter. Die Bedeutung
des Vagus für den Tonus der Lunge werden wir weiter unten noch
näher kennen lernen.
Gelegentlich einer Oesophagusresektion bei einem Hunde, die ich
unter künstlicher Atmung mit einem Blasebalge vornahm, machte ich
27*
418 Sauerbruch,
folgende Beobachtung: Das Tier bekam nach lappenförmiger Eröffnung
der linken Brusthöhle hochgradige Dyspnog und entsprechende Aende-
rung der Atmung. Mit der künstlichen Atmung wurde begonnen, die
kollabierte Lunge rhythmisch aufgeblasen. Auf der Höhe einer solchen
Aufblähung rückte die Kanüle plötzlich aus der Trachea heraus, ge-
rade als ich in der Nähe des Lungenhilus operierte und offenbar
einen Druck auf den Hauptbronchus ausübte. Der Bronchus wurde
so verschlossen, und die Lunge der eröfltoeten Brustseite fiel nicht
zusammen; zu meiner Ueberraschung trat jetzt trotz Wegfall der
künstlichen Atmung infolge des Herausgleitens der Kanüle keine
Dyspnoö ein. Die Frequenz der Atmung, die ich vorher leider nicht
gezählt hatte, schien mir nicht verändert gegen vorher, und die Be-
wegungen des Brustkorbes hielten sich innerhalb der gewöhnlichen
Grenzen. Auch fehlten alle jene Mitbewegungen (Nasenflügelatmen),
die sonst beim Eintritt der Dyspnoö gewöhnlich beobachtet werden. Im
Anschluß an diese Beobachtung habe ich nun folgende Versuche gemacht:
Nach lappenförmiger Eröffnung einer Brustseite wurde die kollabierte
Lunge durch einen Blasebalg aufgeblasen ; ich präparierte mir den
Bronchus frei und klemmte ihn mit einer Arterienklemme ab. Dann
wurde die Verbindung mit dem Blasebalge unterbrochen und das Tier
beobachtet. Später habe ich diesen Versuch dahin abgeändert, daß
ich in meiner Kammer eine einseitige Eröffnung der Brusthöhle vor-
nahm, jetzt den Bronchus wiederum abklemmte, und nun den Druck-
ausgleich zwischen atmospärischer Luft und Kammerinnerem eintreten
ließ. Ich gebe in folgendem die Resultate der Versuche wieder: Die
Luftvolumina wurden wie in den obigen Versuchen mit einem genau
eingestellten Gasometer gemessen und Mittelzahlen in der Minute aus
einer längeren Beobachtungsreihe genommen.
Versuche.
1. Mit künstlicher Aufblähung der kollabierten Lunge und Abklemmung
des Bronchus.
Atemvolumen pro Miaute
normal 1 1. Pneumothorax
Atemfrequenz
normal 1. Pneumothorax
1. Kaninchen, 2300 g.
480 I 360 I 52 I 54
2. Kaninchen, 2100 g.
495 I 340 I 58 { (jO
3. Hund, 6 kg.
1260 I 695 I 22 I 24
4. Hund, 6 kg.
1340 I 700 I 28 I 30
Zar Pathologie des offenen Fneomodioraz etc.
419
2. In meiner Kammer.
AtemTolnmen pro Minute
normal 1. Pneumothorax
Atemfrequenz
normal L Pneumothorax
460
5. Kanincheo, 1800 g.
290 52
46
435
320 46
52
900
7. Hund, 4,375 kg.
530 26
30
1110
a Hflndin
640
, 4ß20 kg.
20
21
Diese Zahlen zeigen einen wesentlichen Unterschied gegenüber den-
jenigen, die wir oben bei den Pnenmothoraxversnchen verzeichneten:
dort eine Zunahme des Atmungsvolumens und der Frequenz, hier eine
ziemlich betrachtliche Abnahme des Volumens bei konstanter Frequenz.
Im Gegensatz dazu im ersten Falle alle Zeichen der unzureichenden At-
mung trotz vermehrter Größe, im zweiten eine ruhige ausreichende Venti-
lation der Lunge. Bei diesen Versuchen ist jeder Gasaustausch in den
Alveolen der Lunge ausgehoben, die Lunge also genau so funktionell
ausgeschaltet in Bezug auf die Atmung, wie bei ihrem Kollaps. Der
Druck im Brustraume auf das Mediastinum ist derselbe, wie beim
Pneumothorax; es hat sich allein das Volumen der Lunge gefindert Die
Atmungsstörungen und die anderen Erscheinungen der
hochgradigen Dyspnoe beim Zustandekommen des Pneu-
mothorax mflssen also lediglich eine Folge des Zu-
sammenfallens der Lunge sein, d. h. mit ihrer Volumens-
abnahme sindVorgänge verbunden, die die Dyspnoe und
ihre Folgen bedingen.
Es liegt auf der Hand, daß bei dieser Versuchsanordnung der spe-
zifische Reiz, der durch die Ausdehnung der Lunge normalerweise dauernd
auf den Vagus ausgeübt wird, trotz Eröffnung der Brusthöhle bestehen
bleibt; da nun dieser konstante Reiz, wie wir sahen, vielleicht eine
Vorbedingung fQr die normale Atmung bedeutet und diese Regulation
durch seinen Wegfall, der ja beim Kollaps der Lunge eintritt, auf-
hört; so könnte man geneigt sein, darin den Grund fUr den Eintritt
der Atmungsänderung beim Pneumothorax zu suchen. Wenn man bei
so behandelten Tieren den Vagus der Pneumothoraxseite durchschneidet,
also wiederum den spezifischen Reiz auf das Atmungszentrum aus-
schaltet, so müßte genau wie bei gewöhnlicher Eröffnung der Brust-
höhle die Atmungsänderung eintreten. Das ist nicht der Fall. Es
nimmt zwar auch jetzt das Atmungsvolumen zu, aber nicht im Vergleich
zur Norm, sondern nur im Vergleich zu dem verminderten Luftwechsel,
420 Sauerbruch,
wie er vor der Durchschneidung des Vagus bestand. Es müssen also
unbedingt hier noch wichtigere Faktoren eine Rolle spielen.
Kommt es zu Kreislaufstörungen? Und was haben wir von ihnen
zu erwarten? Die Störungen des Lungenblutstromes haben ganz andere
Folgen, als die des Körperkreislaufes; die Unterschiede sind begründet
und verständlich durch die zahlreichen anatomischen 'und funktionellen
Verschiedenheiten, welche zwischen beiden Teilen bestehen. Man denke
an die geringen arteriellen Widerstände, die Zartheit der Gefäß-
wände, vor allem auch an den geringen Einfluß der Vasomotoren ; wird
z. B. die Arteria femoralis zugebunden, so steigt der arterielle Blut-
druck nicht; denn vasomotorische Einflüsse in anderen Gefäßgebieten
— im Sinne einer Erweiterung der Gefllßbahn — gleichen sofort die
Verkleinerung der Strombahn aus. Anders ist es in der Lunge: Wird
hier z. B. der Durchfluß durch die Gefäße eines Oberlappens erschwert,
so wächst der Druck in den zuführenden Arterien. Durch ihn er-
weitern sich die weit dehnbaren Gefäße sämtlicher anderer Bezirke,
und durch diese Gefäßdilatation und verstärkte Herzaktion wird das
Hindernis ausgeglichen. Alle Aenderungen in der Lungenbahn werden
bis zu einem gewissen Grade vom rechten Ventrikel ausgeglichen, aller-
dings wie alle Kompensationen im kleinen Kreislaufe nie ohne Aende-
rungen des Atmungsmodus (zit. nach Krehl). Wenn es also durch
den Kollaps der Lunge wirklich zu Störungen, im Kreislaufe kommt, so
finden wir vielleicht darin den Grund für die Dyspnoö.
Im allgemeinen wird angenommen, daß mit dem Kollabieren einer
Lunge eine Verkleinerung des Gesamtquerschnittes in der Lungen-
blutbahn einhergehe. In der Zeiteinheit würde demnach weniger Blut
durch den Gesamtquerschnitt fließen, als in der Norm ; die Lunge würde
also mit dem Verluste ihrer Atmungsfunktion auch einen Teil des Blutge-
haltes einbüßen. Die gesunde Lunge bekäme demnach mehr Blut, denn
entsprechend wird angenommen, daß mit der Vergrößerung der Inspiration,
die ja, wie wir sahen, beim Pneumothorax regelmäßig eintritt, auch der
Gesamtgefäßquerschnitt der Lungengefäße wächst. Da nun die gesunde
Lunge durch kompensatorische Tätigkeit fast so ausgiebig arbeitet, wie
beide Lungen in der Norm, so könnte bei einem regeren Blutwechsel
trotz der besprochenen Verkleinerung der Oberfläche auch mehr Blut
arterialisiert werden.
Diese angenommene Verkleinerung des Querschnittes gilt aber nur
für den Kollaps oder besser ausgedrückt, für die Exspirations-
stellung der Lunge, so lange sie unter normalen Verhält-
nissen in der Pleurahöhle liegt. In der Inspiration findet man
dann in der Tat eine Zunahme, in der Exspiration eine Abnahme des
Gefäßquerschnitts. Sobald aber die Brusthöhle eröffnet wird und die
Druckdifferenz zwischen Innerem und Oberfläche der Lunge fortfällt,
ändern sich die Verhältnisse erheblich.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 421
Die Durchströmung der Lunge hängt unter normalen Bedin-
gungen ab
von der Kraft der rechten Herzkammer,
von der Druckdifferenz zwischen der Lungenarterie und der Lungen-
Tene, die sich, wie wir wissen, mit der Vergrößerung des negativen
Druckes im Brustkorb steigert,
von dem Druck in den Lungen,
von der Veränderung des Gefilßquerschnittes, bei der Veränderung
<les Lungenvolumens.
Angenommen, die Kraft des rechten Herzens sei konstant, so haben
wir bei einer jeden Inspiration eine Zunahme des negativen Druckes,
also eine Vergrößerung der Druckdifferenz zwischen der Arterie und
Vene, sowie eine Verdünnung der Luft in den Lungen und damit eine
Abnahme des Druckes in denselben, schließlich eine freiere Entfal-
tungsmöglichkeit der Alveolargef&ße durch die Abnahme des Druckes
und ein Wachsten des Querschnittes. Alle diese Umstände unter-
stützen sich, so daß daraus während der Inspiration eine Zunahme
der Kapazität und der Geschwindigkeit des Blutes in den Lungen
folgt. Dazu kommt nun noch eine Vergrößerung des Stromgefälles
Yon den peripheren Körpervenen zu dem rechten Herzen, so daß
während der Inspiration das Herz in der Diastole mehr Blut erhält
und somit auch in der Systole mehr Blut entleeren kann als in der
Exspiration, bei welcher durch die Abnahme des negativen Druckes
<iie Zufuhr zum rechten Herzen erschwert wird und mit jeder Kontrak-
tion desselben weniger Blut in die Gef&ße gelangt. Außerdem nimmt
nach den Untersuchungen von Einbrodt und Kühn die Frequenz des
Herzschlages während der Einatmung zu, während der Ausatmung ab, ein
zusammengesetzter regulatorischer Vorgang, der nach Hering von ner-
vösen Einflüssen unabhängig ist (zit. nach Hermann). Die Vergrößerung
des Schlagvolumens und der Schlagfrequenz in der Inspiration kommen
noch zu den oben erwähnten Momenten hinzu und unterstützen ihren
Erfolg: Die Vergrößerung der strömenden Blutmengen in den Lungen.
Dagegen bewirkt die durch die Exspiration bedingte Steigerung
des intrathorakalen Druckes
eine Verringerung des Druckunterschiedes zwischen der Arteria und
Vena pulmonalis,
eine Zunahme des Druckes in den Lungen,
eine Verkleinerung des Gefäßquerschnitts.
Dazu kommt:
die reflektorisch bedingte Abnahme des Schlagvolumens und der
Frequenz des Herzschlages. Hieraus folgt dem Dargelegten nach eine
Abnahme der strömenden Blutmenge.
Beim Entstehen eines Pneumothorax tritt ein Druckausgleich
zwischen der äußeren und inneren Lungenoberfläche ein. Es fällt dadurch
422 Sanerbrach,
erstens die Druckdifferenz zwischen Arteria und Vena pulmo-
nalis fort,
zweitens stehen jetzt die Alveolargefäße nicht mehr unter einem
wechsehiden, sondern unter einem gleichmäßigen Druck von einer Atmo-
sphäre, und
drittens kommt es zu einer bedeutenden Vergrößerung des Gefäß-
querschnittes.
Daß die Gefäße der aufgeblähten Lunge einen geringeren Durch-
messer zeigen, als die der kollabierten Lunge, ferner, daß die Durcb-
strömungszeit bei aufgeblasener Lunge größer ist, als bei koUabier-
ter, hat zuerst Poissüeille experimentell bewiesen. Quinoke und
Pfeiffer, Funke und Latsghenberoer haben dies später bestätigt
(nach Hermann, Handbuch für Physiologie). Poissüeille injizierte die
Gefäße einer ausgeschnittenen Lunge zuerst im Kollaps, dann eben-
falls im aufgeblasenen Zustande, und fand, daß sie in letzterem Falle
einen geringeren Durchmesser zeigen, als die der kollabierten Lunge.
Voraussetzung für die Richtigkeit dieses Experimentes wäre natOrlich^
daß jedes Mal unter gleichem Druck die Iiyektionsmasse eingespritzt
worden wäre. Die Methode erscheint mir aber auch aus anderen
Grflnden nicht einwandsfrei zu sein, denn wir wissen, daß solche
Messungen von kleinsten Gefäßen — auf diese kommt es ja nur an
— sehr schwierig sind; ferner ändert sich an der herausgenommenen
Lunge der Gewebsturgor derart, daß wir nicht ohne weiteres solche Re-
sultate auf die noch lebende Lunge übertragen dürfen. Dagegen hat
Sagkur im hiesigen pharmakologischen Institute auf Grund von 0-Be-
stimmungen des Carotisblutes vor und nach Erzeugung eines ein-
seitigen Pneumothorax die Strömungsverhältnisse der kollabierten Lunge
berechnet und kommt zu dem Schluß, daß beim einseitigen
Pneumothorax durch die kollabierte Lunge mehr Blut
fließt, als durch dieselbe Lunge vor Erzeugung des
Pneumothorax.
Aus rein physikalischen Gründen kann man sich diese Tatsache
theoretisch ableiten:
Wir wissen, daß die Vasomotoren auf die Lungengef&ße nur einen ge-
ringen Einfluß haben, daß lediglich mechanische Einflüsse ihre Kapazität
bedingen. Normalerweise stehen die Gefäße von der Lunge her unter
dem Drucke von einer Atmosphäre. Je größer der Unterschied zwischen
Bronchial- und Pleuradruck ist, desto stärker werden die Alveolargefäße
komprimiert. Bei vollständigem Druckausgleich zwischen Lungeninnerem
und Pleurahöhle entfalten sich die Gefäße bis zur Erreichung der Elastizi-
tätsgrenze, d. h. der Querschnitt wird größer, die Widerstände werden
geringer und die Druckströmungsverhältnisse leichter; und daraus erklärt
sich beim Eintritt des Pneumothorax der Abfluß zur kollabierten Lunge.
Zar Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 423
In dieser Hyperämie liegt meines Erachtens der
Schlüssel ffir das Verständnis der Dyspnoe bei einsei-
tigem Pneumothorax; die gesunde Lunge mit all ihrer
kompensatorischen Tätigkeit vermag eben nur den Teil
des Blutes zu arterialisieren, der ihr mit jeder Systole
zuströmt, und das ist weniger als in der Norm. Die un-
tätige kollabierte Lunge nimmt den größeren Teil des
Lungenblutstromes auf und gibt ihn dem linken Herzen
unarterialisiert zurück. Es kommt also zu keiner wirk-
lichen, sondern nur einer seh einbaren Kompensation. Die
gesunde Lunge arbeitet eben nur mit beschränktem Er-
folge; das Blut wird nicht genügend arterialisiert, der
Sauerstoffmangel reizt das Atmungszentrum, und die
Dyspnoe entsteht. Beim künstlichen Aufblasen der Lunge
und Abklemmen des Bronchus wachsen die Widerstände
in den Lungen dadurch, daß die Gefäß quer schnitte kleiner
werden; die gesunde Lunge bekommt jetzt mehr Blut;
sie kann in folgedessen mehr arterialisieren, undeskann
ihre Mehrarbeit jetzt im Sinne einer wirklichen Kom-
pensation ausgenutzt werden. Die Dyspnoö nimmt ab
und kann sogar verschwinden.
Sehr wichtig scheint mir eine Beobachtung zu sein, die W. Müller
gelegentlich der Exstirpation eines mit der Lunge verwachsenen Osteo-
sarkoms der Rippen gemacht hat. Ich zitiere diese nur nach Garr&
(Grundriß der Lungenchirurgie, p. 42): . . . „Die Pleura riß ein und es ent-
stand eine reichlich handtellergroße Oeffnung der Thoraxwand. In diesem
Augenblick sank der losgelassene Tumor mit der Lunge ein Stück
zurück in die Brusthöhle, was sofort einen Zustand des bedenklichsten
Kollapses zur Folge hatte. Die Atmung sistierte, der Puls war nicht
fühlbar, aber die Erscheinungen änderten sich, sobald der Tumor wieder
ge&ßt und nach vorn gezogen wurde. Jetzt' wurde es klar, daß er mit
dem rechten Unterlappen der Lunge untrennbar verwachsen war. Als
die Lunge darauf, losgelassen, plötzlich kollabierte, trat sofort wieder
ein Zustand tiefen Kollapses ein. Die rasch wieder gefaßte und an-
gezogene Lunge füllte sich bei der Inspiration sogleich wieder, und die
Kollapserscheinungen schwanden.^
Diese Erfahrung scheint mir indirekt die Richtigkeit meiner Auf-
fassung über die Art der Pneumothoraxwirkung zu beweisen. Die
Lunge kam durch das Hervorziehen in Inspirationsstellung, ähnlich wie
wir es durch Aufblasen und Abklemmen des Bronchus bei unseren Ex-
perimenten erzielten.
Die Veränderungen des Atmungstypus bei einsei-
tigem Pneumothorax sind also die Folge eines Sauer-
424 Sauerbrach,
stoffmangels des Blutes, der dadurch eintritt, daß die
kollabierte Lunge mehr Blut bekommt als die gesunde
und daß diese trotz ihrer Mehrarbeit und bei einem an sich
vollständig genügenden Luftwechsel den Ausfall nicht
kompensieren kann. Vergrößert wird dieser SauerstoflFmangel
noch durch die bereits oben erwähnte Oberflächenbeschränkung der
Lunge. Es vollzieht sich durch den Wegfall der einen
Lunge der Gasaustausch auf einer viel kleineren Ober-
fläche; das Blut hat andererseits eine sehr niedrige Ab-
sorptionsgrenze für den Sauerstoff, so daß es nur einen
geringen Prozentsatz der Säuerst off menge, die ihm durch
den ausgiebigen Luftwechsel in den Lungen zur Verfü-
gung steht, in sich aufnehmen kann.
Den Einfluß des Vagus, der auch nicht zu vernachlässigen ist,
hatten wir oben schon besprochen.
Mit den Aenderungen der Zirkulation in der kollabierten Lunge
kommen wir zu den Zirkulationsstörungen überhaupt. Von vorneherein
steht zu vermuten, daß die Strömung im großen Keislaufe Aende-
rungen erfahren muß. Man denke an den Wegfall bezw. die Behin-
derung der Aspiration des Brustraumes, — die Aspiration der rechten
Vorkammer bleibt ja unverändert — die beim linksseitigen Pneu-
mothorax schon eintritt und beim rechtsseitigen beträchtlich wird,
ferner an die Aenderungen des Stromgefälles von den Lungen zum
linken Vorhof — die dünnwandigen Lungenvenen werden stark kom-
primiert — .
Die Arbeit des Herzens ist das Produkt von arteriellem Druck und
ausgeworfener Blutmenge und abhängig von der Zahl der Einzelkontrak-
tionen in der Zeiteinheit. Das Herz hat vielleicht von allen Organen am
meisten die Fähigkeit, sich veränderten Verhältnissen und Ansprüchen an-
zupassen : Wenn wähfend einer Diastole die Kammern mehr Blut erhalten,
so wird mit der nächsten Systole entsprechend mehr ausgeworfen;
steigen im Stromkreis die Widerstände, so vermag das Herz durch
kräftigere Kontraktion sie prompt zu überwinden. Der Druck steigt;
und umgekehrt stellt sich auf Verminderung der Blutzufuhr und Ab-
nahme der Widerstände das Herz sofort mit entsprechender Abnahme
der Triebkraft ein. Diese Anpassungsfähigkeit des Herzens, die, wie
wir jetzt mit Sicherheit wissen, eine rein muskuläre Eigenschaft, unab-
hängig vom Nervensystem ist (nach Krehl), spielt bei allen Zirku-
lationsstörungen die größte Rolle, so daß wir sogar oft bei großen
Kreislaufshindernissen ihre Gefahr für den Körper nach der Leistungs-
fähigkeit des Herzmuskels beurteilen. Beim Pneumothorax fällt, wie
wir wissen, die Aspiration des Herzens fort; eine Stase im venösen
System resultiert. Messungen des Venen drucks in der Vena femoralis
ergeben in der Tat eine Steigerung des Druckes.
Zar Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 425
Versuche:
1) Hund 9,8 kg Gewicht. Es wird eine Kanüle in die Vena femoralis
eingebunden und durch einen mit Magnesiumsulfatlösung gefüllten Schlauch
mit einem Quecksilbermanometer verbunden. Das Manometer zeigt keinen
Ausschlag. Jetzt' wird die rechte Pleurahöhle breit geöffnet : in demselben
Augenblicke ein positiver Ausschlag des Manometers von 3 mm Hg.
2) Hund 7,3 kg. Versuchsanordnung wie in Versuch 1. Um Kon-
traktionen der Bauch- und Schenkelmuskulatur, die durch den entstehen-
den Druck auf die Vene auch zu einem positiven Ausschlag führen
können, auszuschalten, wird das Tier mit Chloroform narkotisiert; auch
jetzt nach Eröffnung der rechten Pleura ein positiver Ausschlag von
2,5 mm. Diese Versuche habe ich an zwei anderen Hunden mit negativem
Erfolg gemacht; in dem einen Falle trat durch eine frühzeitige Gerinnung
des Blutes eine Verstopfung der Kanüle ein.
Bestimmungen des Blutdruckes in den Venen sind schwieriger und
komplizierter, als in den Arterien; es liegt dies hauptsächlich an der
dünnen Wandung, die dem leisesten Druck nachgibt. Besonders in den
Teilen, in denen die Venen Klappen fühlen, können ganz geringe Be-
wegungen des Tieres einen positiven Ausschlag durch die Kompression
der Vene, durch die umgebende Muskulatur herbeiführen, der sonst
fehlt. Die Ergebnisse solcher Venendruckversuche sind nicht immer
einwandsfrei. Tiefe Narkose ist unerläßlich.
Die rechte Kammer erhält also weniger Blut und wirft deshalb bei
jeder Systole auch weniger in die Lungen. Mit der üeberfüllung des
venösen Systems kommt es zu einer abnormen Verteilung des Blutes
und, da die arterielle Spannung nicht beeinflußt wird, so müssen Ge-
fälle und Geschwindigkeit des Kreislaufs sinken. Nach diesen physio-
logischen Voraussetzungen haben wir also eine Aenderung der Kreis-
laufverhältnisse beim Pneumothorax unbedingt zu erwarten.
Ich gebe in folgendem drei Kurven wieder, die ich alle von
Kaninchen gewann, nachdem das eine Mal zuerst ein linksseitiger, dann
ein doppelseitiger, das andere Mal zuerst ein rechtsseitiger, dann
wiederum ein doppelseitiger Pneumothorax erzeugt würde. Die Kurven
wurden in der üblichen Weise mit dem LuDwioschen Kymographion
gewonnen und zwar durch Verbindung mit der rechtsseitigen Carotis.
Zur Verhütung der Blutgerinnung wandte ich 5-proz. Magnesiumsulfat-
lösung an (vgl. Kurve 3, 4 u. 5).
Aus diesen Kurven, denen ich noch andere gleichlautende an-
fügen könnte, geht unzweideutig hervor, daß nach Eröffnung der
Brusthöhle ein mäßiges Steigen des Blutdruckes, eine Verlangsamung
des Herzschlages und ein Größerwerden der einzelnen Wellen ein-
tritt. Sind diese Aenderungen nun lediglich Folgen der veränderten
Zirkulation?
Wir wissen, daß die Herzaktion abhängig ist von dem qualitativen
426
Sauerbrach,
II
So-«
5-51
Ig-
5*2.
BS
5 5
i
I
8 IT
P o
"'S
SS*
Zar Pathologie des ofifenen Pneumothorax etc.
427
^5?
w o
r »
g O CT
H>
S'g-g'
s
S.3
D O
SS
o
OD 5*
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc.
429
^ «
430 Sauerbruch,
Zustand des Blutes und namentlich auch von nervösen Einflüssen.
Aenderungen der Blutbeschaffenheit — Ueberladung mit Kohlensäure
kann hier nur in Frage kommen — als Dyspnoe im engeren Sinne,
bewirken eine Steigerung des Blutdruckes und verlangsamte Schlag-
folge des Herzens. Von den nervösen Einflüssen kommt die Reizung
des Vagus in Frage, die ja auch Verlangsamung des Herzschlages,
also zugleich mit einer Schwächung der Herzschläge macht. Die Dys-
pnoe läßt sich durch künstliche Ventilation, der Vaguseinfiuß durch
Kurve 7. Linksseitiger Pneumothorax. Bei a Durchschneidunff der Vagi: Herab-
sinken des Blutdruckes und FortfaU der Pulsretardation. (Oben aas Heraminken des
Blutdruckes sehr deutb'ch.)
Resektion des Nerven beseitigen. Zunächst eine Kurve (6), die die
Wirkung der künstlichen Atmung auf den Blutdruck beim Pneumo-
thorax zeigt.
Die Wirkung der künstlichen Atmung ist klar: Schnelles Sinken
des Blutdruckes, allerdings nicht bis zur Norm; es bleibt eine ge-
ringe Steigerung übrig; außerdem werden die einzelnen Ausschläge
geringer.
Ebenso verändert die Durchschneidung der Vagi das Bild der
Pneumothoraxwirkung auf das Herz wesentlich. Man vermißt jetzt
die stets eintretende Verlangsamung des Herzschlages, der Puls bleibt
von normaler Frequenz ; außerdem fehlt die Steigerung des Blutdruckes
(Kurve 7), ja es tritt eher eine Senkung ein.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax eto. 431
Es wQrden also künstliche Atmung und Vagotomie den durch den
Pneumothorax gesteigerten Blutdruck herabsetzen; die künstliche At-
mung mehr als die Vagotomie (Aehnliches fand auch HnAtek). Läßt
man schließlich bei einem Tiere mit Pneumothorax künstliche Atmung
einleiten und reseziert jetzt die Vagi (Kurve 8), so fehlt jede
Aenderung des Blutdruckes.
Die Veränderungen, der Blutdruckkurve lassen sich also durch
künstliche Atmung und gleichzeitige Vagotomie beseitigen. Künstliche
Atmung allein bewirkt ebenso wie die Vagotomie allein lediglich eine
Abnahme der Steigerung des Druckes und Verminderung der Herzkon-
traktionen. Der Einfluß der künstlichen Atmung ist größer als der der
Vagotomie. Wenn Einige also das Hauptgewicht auf die Dyspnoä als
Ursache der Blutdruckänderung legen, wie z. B. Rodet und Poürrat
es tun, so läßt sich nichts dagegen sagen. Es kommt aber unzweifel-
haft noch die durch den Vagus vermittelte Einwirkung eines Reizes
hinzu. Daß der Vagus Pulsverlangsamung und Blutdrucksteigerung
vermitteln kann, wissen wir aus Bezolds ersten Untersuchungen
(Bezold, üeber die Innervation des Herzens, Würzburg 1863). Der
Vagus führt zentripetale Fasern, die dem Zentrum Reize übermitteln
können; daß aber die eindringende atmosphärische Luft für den Vagus
einen Reiz bedeutet, kann man wohl mit Sicherheit annehmen.
Die Ursache fü r die Blutdrucksteigerung und Retarda-
tion des Pulses liegt also in zwei Momenten, in der Kohlen-
säureüberladung des Blutes und in der Reizung des Vagus. Daß
der Sauerstoffmangel tatsächlich den Blutdruck zu erhöhen und die Puls-
frequenz herabzusetzen vermag, ist eine schon lange erwiesene Erfahrung.
Wir wissen aus zahlreichen Experimenten, daß durch Sauerstoffmangel
die vasokonstriktorischen und die Vaguscentra gereizt werden, infolge
hiervon der Blutdruck steigt und die Verlangsamung des Pulses unter
Erhöhung der Pulswellen eintritt Der Reiz auf die Vagi, der zweitens in
Frage kommt, wird in dem Eindringen von Luft und in den veränderten
Widerständen und Reibungsverhältnissen liegen. Zentripetale regulatori-
sche Fasern übermitteln dem Zentrum einen Reiz, der durch Pulsver-
langsamung und Drucksteigerung beantwortet wird.
Die erste experimentelle Arbeit, die sich mit dem Blutdruck bei
Pneumothorax befaßt, stammt von Lieven. Er experimentierte an
Hunden mittleren Alters und mittlerer Größe, denen er 0,04 oder 0,06 g
Morphium subkutan injizierte; jedes Tier wurde tracheotomiert und der
Druck mit dem FiCKschen Federmanometer gemessen. Lieven unter-
suchte ebenso wie Weil verschiedene Arten des Pneumothorax, seine
Ergebnisse sind folgende:
Weder ein offener noch ein geschlossener Pneumothorax verändert
den Blutdruck ; wurde in den Pleuraraum bis zu einem gewissen Grade
Luft eingelassen, so blieb der Blutdruck auf normaler Höhe stehen;
MttUdl. a. d. GrensfeUetea d. Medizin n. Chirarfto. XUI. Ud. 28
432
Sanerbruch,
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 433
wurde dabei eine gewisse Grenze überschritten, so stieg der Druck, solange
Luft eingeblasen wurde, •allmählich an, um dann zur normalen Höhe zu-
rückzukehren. Bei Erzeugung eines Ventilpneumothorax verhält sich der
Druck ähnlich ; nach einer gewissen Zeit sinkt er, aber das Tier erstickt.
Von den zahlreichen Arbeiten, die dieser gefolgt sind, kommt für
den offenen Pneumothorax nur noch eine von Hnätek in Frage,
alle anderen beziehen sich auf den Pneumothorax mit punktförmigen
Oeffnungen. Hnätek fand, daß bei ganz offenem Pneumothorax der
Blutdruck erhöht, die Wellen groß und der Puls verlangsamt sind,
Resultate, die mit den unserigen übereinstimmen.
Alle diese Störungen des Blutdrucks und der Schlagfolge des Her-
zens sind nicht als wesentlich zu bezeichnen. Der Herzschlag bleibt
regelmäßig und äqual; nur vollzieht er sich gewissermaßen in einer
anderen Breite. Von allen Beobachtern, mögen sie nun von einer Stei-
gerung, einem Gleichbleiben oder einem Sinken des Blutdrucks be-
richten, wird kein großes Gewicht auf diese Aenderungen in der Zir-
kulation gelegt. Andererseits muß man vor der Annahme warnen, daß
Gleichbleiben des Blutdrucks identisch ist mit Gleichbleiben der Zir-
kulation überhaupt. Trotzdem der arterielle Mitteldruck anscheinend
unverändert bleibt, können in kleinen wie in größeren Bezirken venöse
Hyperämie oder arterielle Anämie bestehen. Vor allem wird das Herz
durch Vergrößerung seines Schlagvolumens mehr Arbeit zu leisten
haben; die verstärkte Arbeitsleistung ist zwar geeignet, einen Teil der
ungünstigen Folgen, die aus dem Kollaps der Lunge für den Kreislauf
sich ergeben, durch Erhaltung eines mittleren Druckes zu kompensieren,
dagegen wohl kaum, die Zirkulation in normaler Weise aufrecht zu er-
halten, da neben der Konstanz des Druckes nicht auch eine gleiche
Geschwindigkeit wie vorher und ein gleiches Schlagvolumen des Herzens,
also eine allen Bedürfnissen entsprechende Grundlage für die Tätigkeit
der Gewebe erzielt werden kann (Rosen bach); ich erinnere an die oben
erwähnte Stase im venösen System. Es war mir leider im pharma-
kologischen Institute keine Stromuhr zugänglich, so daß ich auf Unter-
suchungen über die Geschwindigkeit verzichten und sie den Physiologen
überlassen muß.
Die Störungen der Atmung und der Zirkulation haben wir damit
erledigt ; es bleibt noch ein Wort über den doppelseitigen Pneumothorax
zu sagen. Ich erwähnte schon, daß hier die Erscheinungen gewisser-
maßen Verstärkungen derjenigen bei einfachem Pneumothorax sind.
Die stürmische, ausgiebige Atmung, die erhebliche Blutdrucksteigerung,
schließlich der Stillstand der Atmung und das Sinken des Blutdrucks
bis . zum Exitus letalis sind lediglich Folgen des Lufthungers, der ja
bei vollständigem funktionellen Wegfall beider Lungen erklärlich ist.
Trotz aller Anstrengungen des Tieres bleibt die Verstärkung der Atmung
eine rein muskuläre ; die Ventilation der Lunge ist gleich Null. Selbst-
28*
434 Sauerbruch,
verständlich kommt auch hier der Fortfall des spezifischen Vagusreizes
in Frage (s. oben); der doppelte Wegfall dess*elben wird auch doppelt
stark die entsprechende Aenderung der muskulären Atmung bedingen.
Soweit ich aus der Literatur ersehe, ist bisher bei allen experi-
mentellen Arbeiten über den Pneumothorax weder der Wärmeverlust
noch die Infektionsgefahr berücksichtigt worden. Wir wissen, daß Tem-
peraturerniedrigung auf die Respiration einen ziemlich starken Einfluß
hat, und bei Versuchen, bei denen es auf genaue Werte ankommt, muß
man diesen berücksichtigen. Deshalb haben wir, nachdem uns durch
die folgenden Versuche klar geworden war, wie hoch der Temperatur-
verlust anzuschlagen ist, für eine ausreichende Erwärmung, die diesen
Verlust deckt, nach unseren Untersuchungen über die Atmung und den
Blutdruck Sorge getragen. Dies ist nicht von Seiten anderer Forscher
geschehen; jedenfalls erwähnen es nur Sagkur und Hnätee ausdrücklich.
Versuche.
1) Kaninchen, 2100 g, Körpertemperatur 39,4 <>. Eröffnung der linken
Pleurahöhle durch Resektion von ca. 3 qcm Brustwand, Temperatur des
Zimmers 20« C. Nach i/. Stunde mißt das Tier 37,4 <>. Nach «/^ Stunden
Temperatur 35,8 ^ Nach 1 Stunde Exitus.
2) Kaninchen, 2700 g. Zimmertemperatur 22 ^ C. Körpertemperatur 40 ^,
Eröffnung der rechten Pleurahöhle in derselben Weise. Temperatur nach
1/, Stunde 37,2 <>, nach 1 Stunde 36,5 ».
3) Hund, 4,700 kg, Temperatur 37,9 «. Eröffnung der rechten Pleura-
höhle durch Lappenschnitt von 5 qcm Größe. Temperatur nach 20 Mi-
nuten 36,4 Kurz darauf Exitus des Tieres.
4) Hund, 7 kg. Temperatur 37,6 ^ Zimmertemperatur 18«. Links-
seitiger Pneumothorax in derselben Weise erzeugt. Temperatur nach
1/^ Stunde 35,6« In V2 Stunde 35,6«. Verschließen der Wunde. In
1/2 Stunde Temperatur 36«, nach 1 Stunde 37,2«.
5) Kaninchen, 3000 g. Körpertemperatur 38,9 «. Zimmertemperatur 19 «.
Laparotomie: Schnitt vom Querfortsatz bis zur Symphyse. Eventeration
der Därme. Temperatur nach */j Stunde 38«, nach »/^ Stunde 37,6«.
6) Hund, 4,375 g. Temperatur 37,9« Zimmertemperatur 22« C.
Laparotomie: in derselben Weise, wie in dem vorhergehenden Versuche.
Temperatur nach »/^ Stunde 37,3« nach »/^ Stunden 36,9«.
Der Wärmeverlust bei einem offenen Pneumothorax ist also be-
trächtlich, weit größer, als bei breiter Eröffnung der Bauchhöhle. Der
Grund in dieser Verschiedenheit liegt meines Erachtens in dem großen
Gefäßreichtum der Lunge und der direkten Abkühlung des Herzens.
Alle diese Versuche wurden ohne Narcoticum mit peinlichster Blut-
stillung ausgeführt. Für praktische Eingriffe käme noch die Wärme
herabsetzende Wirkung des Chloroforms, bezw. Aethers und des Blut-
verlustes hinzu. Wir haben also mit aller Wahrscheinlichkeit unter
diesen Umständen einen noch größeren Wärmeverlust zu erwarten, der
unter Umständen den Eingriff wesentlich kompliziert.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 435
lieber die direkten Folgen der Abkühlung, sind von Reineboth ex-
perimentelle Untersuchungen gemacht worden. Er wies nach, daß durch
die Wirkung der Außentemperatur auf die Pleura organische Verände-
rungen in dieser entstehen. Er fand bei Kaninchen regelmäßig im An-
schluß an das Eindringen der Außenluft subpleurale feinste Blutungen.
Auch wir sahen fast regelmäßig, namentlich bei Operationen, die wir
mit künstlicher Atmung vornahmen, solche kapilläre Blutungen entstehen.
Ich glaube, daß sie eine besondere Komplikation bedeuten, insofern als
von hier nach meinen Erfahrungen sehr gerne lobulär-pneumonische
Herde ausgehen. Solche hat Reineboth nicht beobachtet, dagegen
Atelektasen, Thrombosen und Embolien der Blutgefäße. Nebenbei fand
er nach 48 Stunden bei einem Tiere Albuminurie, bei einem anderen
Zuckerausscheidung. Nach Reineboth entstehen die Sugillationen
der Pleura nach Abkühlung dadurch, daß ^anfänglich durch den Reiz
des abkühlenden Mediums, dann aber wahrscheinlich durch die infolge
der Erkältung auftretende Blutschädigung speziell die Hämoglobinämie
eine Erregung des vasomotorischen Zentrums stattfindet. Diese ver-
anlaßt ein Bersten der feinsten subpleuralen und endopulmonalon Ge-
fäße, die ihrerseits durch das Zurückdrängen des Blutes von der er-
kältenden Oberfläche ins Körperinnere stärker mit Blut gefüllt sind.
Eine augenblickliche Schädigung der Gefäßwände oder vielleicht auch
direkte nervöse Irritation derselben infolge der Hämoglobinämie läßt
sich dabei nicht von der Hand weisen; Eine Schädigung im Sinne
einer sogleich entstehenden Brüchigkeit infolge Gewebsveränderung bei
Epithelien ist weniger wahrscheinlich. Es ist schließlich noch möglich,
daß die in jeder Inspiration auftretende Veränderung der Blutmasse
innerhalb des Thorax die Entstehung der Ekchymosen begünstigt. Bei
künstlicher Atmung, wo das Schwanken des Lungen volumens und damit
auch die Füllung der Gefäße sehr wechselnd ist, spielen sicher mecha-
nische Veränderungen eine Rolle."
Daß die Pleurahöhle mit ihrem Reichtum an Lymphgefäßen leicht
infizierbar ist, steht zu erwarten. Die Infektionsgefahr ist in der Tat
hier eine sehr große und übertrifft bei weitem die des Peritoneums.
Schon die einfache Eröffnung eines Interkostalraumes ohne aseptische
Kautelen führt oft zu einem blutigen bezw. eiterigen Exsudat, an
dem die Tiere am zweiten, dritten, oft schon am ersten Tage zu
Grunde gehen. Ja selbst bei strenger Asepsis kommen Fälle vor, wo
auf die Eröffnung der Pleurahöhle das Tier sehr bald an Sepsis
stirbt. Ganz besonders gilt dies für die Hunde, die ein im hohen
Maße empfindliches Brustfell besitzen. Hunde, die einen, ich möchte
sagen, rohen, operativen Eingriff in der Bauchhöhle ohne alle aseptische
Vorsichtsmaßregeln glatt vertragen, gehen im Anschluß an eine mit
peinlichster Sauberkeit ausgeführte Eröffnung des Pleuraraumes an In-
fektion zu Grunde. Diese Erfahrung habe ich den letzten Winter immer
436 Sauerb rnch,
wieder machen müssen, und ich bin der Ueberzeugung, daß hier noch be-
sondere Verhältnisse vorliegen, die man vorläufig noch nicht übersieht.
Die Pathologie des Pneumothorax setzt sich also zusammen aus
einer Reihe von Gefahren bezw. Störungen, die verschiedene Ursachen
haben: Dyspnoe, Wärmeverlust, Infektionsgefahr der
Pleura und schließlich Kreislaufstörungen. Bei weitem
überwiegt die akute Gefahr der Dyspnoö, die das Leben unter Um-
ständen direkt bedroht. Sie ist nur zum Teil pulmonalen Ursprunges,
d. h. nicht eine Folge des funktionellen Wegfalls der Lunge; haupt-
sächlich ist sie die Folge der Hyperämie der kollabierten Lunge. Der
Einfluß des Vagus muß schließlich auch berücksichtigt werden. Wärme-
verlust und Infektionsgefahr spielen für den Theoretiker eine unter-
geordnete Rolle ; sie haben mehr ein praktisches Interesse für den Chi-
rurgen, der bei seinen Operationen sehr mit ihnen zu rechnen hat.
Um diese Gefahren der Brusthöhleneröffnung auszuschalten, hat
man eine Reihe von Verfahren angewandt, von denen ein jedes eine
gewisse praktische Bedeutung erlangt hat. An der Spitze steht die
künstliche Atmung, die ich zunächst ausführlich besprechen möchte.
III. Die künstliche Atmung.
Von den Gefahren des Pneumothorax überwiegen entschieden die
Dyspnoe und ihre Folgen. Man erklärte sie sich, wie wir gesehen
haben, durch den funktionellen Wegfall der Lunge. Es lag deshalb
nahe, die Arbeit der Pneumothoraxlunge durch periodisches rhyth-
misches Einblasen von atmosphärischer Luft mit Hilfe eines Blase-
balges zu erzielen. Die aktive Tätigkeit des Thorax und der Lungen
wird auf diese Weise durch die Arbeit eines Respirationsapparates er-
setzt. Diese Form der künstlichen Atmung ist sehr alt. Schon Vesal
hat diesen Kunstgriff angewandt, um seine Tiere nach Eröffnung der
Brusthöhle am Leben zu erhalten. (Vesalius, de humani corporis
fabrica, p. 824, Basileae 1559) (Inflato igitur semel atque iterum pul-
mone, cordis motum visu tactuq; quantum lubet examinas et arteriae
magnae caudicem . . . quo aliquandiu observato, pulmo rursus inflandus
est: hocq; artificio, quo mihi gratius in anatome nullum comperi,
magna pulsuum differentiarum cognitio paranda venit.) Gewöhnlich wird
aber das Verfahren auf Hook zurückgeführt, dessen Mitteilung aus
dem Jahre 1667 stammt (nach Rosenthal, Hermanns Handbuch für
Physiologie). Er verbindet die Trachea direkt mit einem Blasebalg,
der abwechselnd gefüllt und geleert wird. Durch regelmäßige Luft-
einblasung wird der Hund länger als eine Stunde am Leben er-
halten; wenn die Einblasungen ausgesetzt werden, verfällt der Hund
in Krämpfe ; erneute Einblasungen beleben ihn wieder. Hundert Jahre
Zur Pathologie des offenen Pneamothorax etc. 437
später benutzte Fontana die künstliche Atmung, um zu untersuchen,
wie das Viperngift auf geköpfte Tiere wirkt (Fontanas Abhandlung
über das Viperngift, a. d. Französ. übersetzt, p. 218, Berlin 1787).
Nach ihm weist Goodwin (zit. bei Le Gallois, Exp^riences sur le
principe de la vie, p. 335, Paris 1812) darauf hin, daß die künstliche
Atmung das beste Mittel zur Behebung der Asphyxie ist. Oefters
hat erst Le Gallois die künstliche Atmung verwandt. Er benutzte
«ine zinnerne Spritze, die an ihrem unteren Ende eine Seitenöffnung
hat und in eine Trachealkanüle ausläuft, deren Mündung etwas enger
sein muß als das erwähnte Loch. Die Kanüle wird in die Luftröhre
«ingeschoben. Dann treibt er die Luft aus der Spritze in die Lunge
und saugt sie unmittelbar wieder aus, indem das erwähnte Loch mit
dem Finger verschlossen wird. Nun wiederholt er die Hin- und Her-
bewegung des Spritzenstempels bei unverschlossenem Loch, wodurch
die Lungenluft aus der Spritze entfernt und frischer Ersatz in sie ein-
gesogen wird, worauf wieder die Eintreibung in die Lunge erfolgt.
Trotz aller Vorsicht hat er bei dem Verfahren öfter Zer-
reißungen der Lunge und Eintritt der Luft in die Pleurahöhle
gesehen (nach Hermanns Handbuch für Physiologie).
Magendie, der Begründer der experimentellen Physiologie und
Pathologie, hat die künstliche Atmung wohl zuerst für physiologische
Versuche seit dem Jahre 1811 regelmäßig angewandt. Nach ihm haben
sich fast alle Forscher, hauptsächlich die Physiologen, dieser Methode
bei ihren Tierexperimenten mit Erfolg bedient; denn sie erwies sich
auch für ihre Zwecke als ausreichend; kam es ihnen doch wohl immer
nur darauf an,, dem Beobachtungstier für eine Zeit über die Er-
stickungsgefahr hinwegzuhelfen, bis zur Beendigung des Versuches. Es
hat sich im Laufe der Zeit eine ganz besondere Technik der künst-
lichen Atmung herausgebildet, die ich kurz beschreiben will.
Um die aktive Respiration des Tieres vollständig auszuschalten,
wird es vor Beginn des Versuches kurarisiert; dann wird eine weite
I Kanüle in die Luftröhre eingeschoben; das eine Ende steht in
Verbindung mit einem Blasebalg, das andere ist durch ein Müller-
sches Ventil geschlossen. Durch rhythmische Kompressionen des Blase-
balges werden auch die Lungen rhythmisch aufgeblasen. Um gleich-
zeitig dem Tiere Aether oder Chloroformdämpfe zuzuführen, kann man
das Zuleitungsrohr des Blasebalges durch einen Seitenansatz mit einer
Flasche verbinden, in der Aether oder Chloroform verdunstet. Oder
aber man bedient sich des KiONKAschen Narkoseapparates, der es
gestattet, das Narcoticum selbst in kleinsten Dosen exakt der zu-
führenden Luft beizumischen. Natürlich kann man den Blasebalg auch
durch eine Cylinderdruckpumpe ersetzen; das ist kein prinzipieller
Unterschied. Im Breslauer pharmakologischen Institut wird die künst-
liche Atmung mit Hilfe einer solchen Pumpe vorgenommen, die für
438 Sauerbruch,
die Narkose mit einem KiONKAschen Apparate in Verbindung steht-
Auf diese Weise läßt sich sehr bequem die künstliche Atmung vor-
nehmen. Uebrigens ist zur Ausschaltung der aktiven Atmung die
Kurarisierung des Tieres nicht nötig. Bei ausgiebiger Ventilation der
Lungen durch die künstliche Atmung tritt bald ein Zustand von Apnoe
ein, wodurch von selbst jede Tätigkeit der Atmungsmuskulatur wegfällt.
Auch beim Menschen sind schon Versuche mit der künstlichen
Atmung gemacht worden; so hat sie Dr. Fell im Jahre 1893 bei einer
Opium Vergiftung mit Erfolg angewandt. Die Luft wurde durch eine
Trachealkanüle oder vermittelst einer über Mund und Nase gestülpten
Maske mit einem einfachen Blasebalg eingeblasen. Tuffi£r und Hallion
sind große Anhänger der künstlichen Atmung auch für operative Zwecke
beim Menschen. O'Dwyer hat durch Einfügung seiner Intubations-
kanüle die Tracheotomie vermieden und dadurch den Apparat wesentlich
verbessert. In neuester Zeit hat R. Matas den Blasebalg auch für den
Menschen durch eine Cylinderdruckpumpe ersetzt. Die Hahnstellung
für Inspiration und Exspiration geschieht automatisch vermittelst eines
parallellaufenden Stempels mit Winkelhebel (zit. nach Garrä).
Als fernere Verbesserung ist zu nennen die Einschaltung eines
Luftfilters, eines Hg.Manometers und einer Vorrichtung für Zuführung
von Aether oder Chloroform zur Narkose (GarrS).
QüfiNü und LoNGüET, vor allem aber Tüffier und Hallion haben
in einigen Publikationen sich mit der Bedeutung der künstlichen Respira-
tion experimentell beschäftigt. Sie kommen in ihren Arbeiten alle zu dem
Schluß, daß tatsächlich die künstliche Ventilation als ein vollständiger
Ersatz der normalen Atmung zu betrachten ist, und sind der Meinung^
daß man sich mit Erfolg in der Praxis dieser Methode auch beim
Menschen bedienen könne. Auf den ersten Blick scheint ja in der
Tat die hauptsächliche Gefahr, die ungenügende Ventilation des Blutes,
beseitigt. Und da auf ihr sekundär, wie wir sahen, ein Teil der
Aenderungen der Blutzirkulation beruht, so wird man auch für sie
eine Besserung erwarten können; aber dennoch erscheint der Wert
der künstlichen Atmung zweifelhaft für die Fälle, wo es darauf an-
kommt, die Tiere am Leben zu erhalten. Sie birgt eben doch eine
Reihe von Gefahren, die man kennen muß, um ihre Unbrauchbarkeit
für EingriflFe am Menschen einzusehen. Trotz der enthusiastischen
Empfehlung von Tuffier und Hallion: „Les exp6riences que nous
venons d'indiquer achdvent, pensons-nous, de justifier Tapplication k
Thomme des proc^d^s, qui nous ont r6ussi chez le chien; elles
contribuent k d^montrer Tinoculit^ de la respiration artificielle sous
pression, et pr^cisent les conditions qu'on doit r6aliser pour rendre
efficace et inoffensive Tinsufflation destin^e ä supprimer un pneumo*
thorax accidentel ou opöratoire'*, ist meines Wissens noch kein Ver-
such mit dieser Methode am Menschen zu operativen Zwecken gemacht
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 439
worden. Ich bin überzeugt, daß nur wenige Chirurgen das nötige Zu-
trauen zu diesem Verfahren haben und sich deshalb scheuen, es
praktisch anzuwenden. Ich wies in einem kurzen Artikel der No. 6
des Centralblattes für Chirurgie bereits auf 8 Punkte hin, die nach
meinen Erfahrungen und Untersuchungen bei der künstlichen Atmung
schädlich wirken. Ich betonte als solche
1) die Abänderung des Atmungsmodus,
2) das interstitielle Lungenemphysem als Folge des künstlichen
Einpumpens der Luft in die Lunge,
3) die Rückwirkung auf die Zirkulation,
4) das Zurückbleiben eines Pneumothorax beim Aussetzen der
künstlichen Atmung,
5) den großen Wärmeverlust,
6) die größere Infektionsgefahr der Pleura durch den ausgiebigen
Luftwechsel im Pleuraraum,
7) die Notwendigkeit der Tracheotomie,
8) die Schwierigkeit der Narkose, alles Gründe gegen die künstliche
Atmung, die ich im Folgenden näher besprechen möchte.
Nach dem Entstehen des Pneumothorax haben die Lungen kraft
ihrer Elastizität das Bestreben, sich nach dem Hilus zu retrahieren.
Um diesen Kollaps der Lungen zu verhindern , muß also der intra-
bronchiale Druck wenigstens der elastischen Kraft der Lungen das
Gleichgewicht halten, d. h. 1 Atmosphäre + ca. 10 mm groß sein.
Um nun die für die Respiration nötige Bewegung der Lunge zu er-
zielen, muß man jetzt entweder mit dem Drucke nachlassen, so daß
die Lunge sich verkleinern kann, oder aber man macht die eigentliche
Inspirationsstellung zur Exspirationsstellung und bläht auf diese Weise
die Lunge von der Inspirationsstellung aus auf. Die Atmung vollzieht
sich jetzt durch ziemlich beträchtliche Schwankungen des Lungen-
volumens innerhalb des starren, jetzt inaktiven Brustkorbes. Man
kann den Grad der Aufblähung der Lunge durch ein Manometer, das
mit dem Zuführungsrohr in Verbindung steht, prüfen und durch Nach-
lassen des Druckes abändern. Es ist möglich, die Lunge mit der
Kraft, die sie normalerweise expandiert erhält, aufzublähen. Aber es
gelingt nur schwer, so allmählich und schonend, wie es nötig wäre,
die Aufblähung vorzunehmen.
Die normale Atmung vollzieht sich dagegen ganz anders. Die In-
spiration geschieht stets durch Muskelwirkung. Es kommen in Frage:
Zwerchfell, Scaleni und Intercostales, namentlich die Externi, nur bei
absichtlich tiefer oder angestrengter Inspiration treten noch die soge-
nannten accessorischen Inspirationsmuskeln in Tätigkeit, zunächst die
Serrati postici superiores und die Levatores costarum, bei höchster
Atemnot die Sternocleidomastoidei, Pectorales, Serrati antici etc. Das
Zwerchfell erweitert den Thoraxraum, indem es sich bei seiner Kon-
440 Sauerbruch,
traktioD namentlich an den muskulösen Partien, abflacht und sich an
seinen Rändern, mit denen es in der Ruhe der Thoraxwand anliegt, sich
von ihr abhebt. Die übrigen Muskel wirken erweiternd durch Hebung
der Rippen (Hermann).
Die Exspiration geschieht in der Regel passiv, das heißt dadurch,
daß die Thoraxwandungen, die bei der Inspiration ihre Gleichgewichtslage
verlassen hatten, nach dem Aufhören der Inspirationskräfte durch Schwere
und Elastizität wieder in sie zurückkehren. Die Schwere zieht die ge-
hobenen Rippen in ihre alte Lage, der Elastizität der Lungen folgt das
Zwerchfell dadurch, daß es in die Höhe steigt, und die Thoraxwände
passen sich ebenfalls dem neuen Volumen der Lunge an. Bei ange-
strengter Exspiration (bei manchen Tieren stets) treten außerdem Muskel-
kräfte in Tätigkeit, und zwar haben die Exspirationsmuskeln im allge-
meinen die Richtung von hinten und unten nach vom und oben. Die
hauptsächlichsten Exspirationsmuskeln sind die Bauchmuskeln, welche
bei ihrer Kontraktion den Bauchinhalt zusammenpressen und dadurch
das Zwerchfell in die Höhe treiben; auch ziehen sie die Rippen nach
unten; dasselbe tun die Quadrati lumborum (Hermann).
Da die Lungen durch die Art ihrer Einpassung in den Brustraum
jeder Bewegung der Thoraxwand nachfolgen müssen, so bewirkt jede In-
spiration eine Vergrößerung der Lungen im Querschnitt und in den Längs-
durchmessern. Letzteres ist mit einem Herabrücken der ganzen Lunge
längs der Thoraxwände verbunden und bedingt schon für sich, auch ohne
Erweiterung des Thoraxquerschnittes, eine Vergrößerung des Lungenquer-
schnittes, da durch das Herabrücken in dem kegelförmigen Thorax jede
Lungenschicht in einen tieferen, also größeren, Thoraxquerschnitt gelangt.
Das Herabrücken der Lungen zieht auch Luftröhre und Kehlkopf bei der
Inspiration etwas nach unten, was man leicht von außen bemerkt (Her-
mann). Die Lungen werden ganz allmählich und sanft durch die
Exkursionen des Thorax beeinflußt; es richtet sich der Grad ihrer
Volumenschwankung nach dem Atmungsbedürfnis des Tieres. Es kommt
dabei niemals zum vollständigen Kollaps der Lunge, und Ueberdehnungen
des Gewebes werden vermieden. Anders bei der künstlichen Atmung.
Zunächst entsprechen Tiefe und Frequenz dabei nicht mehr dem
Atmungsbedürfnis, sondern der jeweiligen Funktion des Respirations-
apparates. Die Höhe des Drucks, der bei der künstlichen Aufblähung
angewandt wird, richtet sich, wie wir sahen, nach der Größe der
elastischen Kraft der Lunge. Er muß also mindestens ca. 10 mm Hg
betragen. Für den Fall, daß nur eine Pleurahöhle eröffnet und ohne
Curare die künstliche Atmung vorgenommen wird, und das wird für
praktisch-chirurgische Zwecke wohl gewöhnlich der Fall sein, erwächst
aus der künstlichen Atmung für die Lunge der un eröffneten Brustseite
eine Schwierigkeit der Atmung. Genau wie beim VALSALVAschen Ver-
such, kommt es zu einer erschwerten Exspiration. Fällt nun zufällig
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc.
441
-a
eine Exspirationsphase der normalen Lunge mit der Aufblähungspbase
der künstlichen Atmung zusammen, so wirken zwei Kräfte entgegen-
gesetzt (siehe Fig. 1). Dadurch wird der Druck in der Lunge noch
mehr erhöht, so daß sehr leicht Schädigungen des Lungengewebes
eintreten können. Wenn man nun bedenkt, daß sehr oft der Druck —
derselbe läßt sich nur schwer regulieren — größer ist als 10 mm Hg,
und außerdem nicht allmählich, sondern ruckweise und forciert auf die
Lunge wirkt, so kommen wir damit zu einer ferneren Schädlichkeit
der künstlichen Atmung, nämlich: dem
interstitiellen Lungenemphysem.
Ich denke, seine Entstehungsursache
ist nach dem oben Gesagten so klar, daß
wir nicht näher darauf einzugehen brau-
chen. Das Lungengewebe wird eben zu-
nächst gedehnt, dann überdehnt und reißt
in dem Augenblicke ein, wo die Elasti-
zitätsgrenze überschritten ist. Diesen
Punkt haben meiner Ansicht nach die
Anhänger der künstlichen Ventilation,
namentlich die Franzosen und Ameri-
kaner, zu wenig berücksichtigt; ich gebe
in folgendem einige Sektionsberichte aus
meinen Versuchen wieder, die das Ge-
sagte illustrieren mögen.
1. 14. Nov. Hund, 6 kg. Thoraco-
tomia, künstliche Atmung. Freilegen der
Speiseröhre, Vagolysis, Resektion der Speise-
röhre, Verschluß der Wunde, Naht der
Trachea. Sektion am 15. Nov.: Doppel-
seitiger Pneumothorax, doppelseitiges blu-
tig-eiteriges Exsudat rechts 300, links
200 ccm. Linker Unterlappen atelekta-
tisch, unterer Teil des rechten Unterlappens
ebenfalls ; zahlreiche subpleurale
Hämorrhagien, Emphysema bullosum des rechten Ober-
lappens. Naht undicht.
2. 17. Nov. Hund, 4 kg. Operation wie 1. Sektion 18. Nov. Pleuritis
fibrinosa links, subpleurale Hämorrhagien des linken Oberlappens, kleine
Luftbläschen im linken Unterlappen. Größere im rechten
Mittellappen. Naht undicht.
3. 5. Dez. Hund, 7 kg. Operation wie oben. Sektion 8. Dez. Links-
seitiges Empyem, im rechten Unter- und Mittellappen zahlreiche bis pfennig-
stückgroße lobulär pneumonische Herde, Suggillationen der Pleura des linken
Oberlappens. Naht undicht.
Diese Befunde zeigten sich fast regelmäßig an den Tieren, denen
ich unter künstlicher Atmung die Speiseröhre resezierte. Ganz be-
Fig.l. a ZuführuDgsschlauch
für die künstliche Atmung. 1
Druck der ExspiratiooBlmifte auf
die Lunge. 2 Druck der ein-
eeblasenen Luft von innen auf
die Lunge.
442 Sauerbrach,
sonders häufig entstand das interstitielle Lungenemphysem in der Lunge
der uneröffneten Seite, aus Gründen, die ich oben auseinandersetzte.
In einem Falle, wo offenbar die Aufblähung der Lunge unter zu starkem
Drucke geschehen war, bestand im rechten ünterlappen ein Emphysem-
herd von etwa Eirschkerngröße, umgeben von zahlreichen bis steck-
nadelkopfgroßen kleineren Herden. Außerdem fanden sich vereinzelt
in der linken Lunge auch ähnliche, aber viel kleinere Stellen.
Die Störungen der Zirkulation halten Tüffier und Hallion für
geringfügig und glauben sie deshalb bei der praktischen Verwertung
der Methode vernachlässigen zu dürfen. Die Forscher machen den
schon oben erwähnten Fehler, aus der Konstanz des Blutdruckes ein
Gleichbleiben der Zirkulationsverhältnisse zu schließen.
Wir hatten gesehen, daß die Durchströmung der Lungen normaler-
weise abhängt
1) von der Kraft der rechten Herzkammer,
2) von der Druckdifferenz zwischen Lungenarterie und Lungenvene,
3) von der Veränderung des Gefäßquerschnittes bei der Veränderung
des Lungenvolumens.
Wir nehmen der Einfachheit halber für die folgende Deduktion
die Herzkraft als konstant an und finden bei der Lispiration durch
die Zunahme des negativen Druckes eine Vergrößerung der Druck-
differenz zwischen der Arteria und Vena pulmonalis, ferner eine
Verdünnung der Luft in den Lungen, eine Abnahme des Druckes
und schließlich eine freiere Entfaltungsmöglichkeit der Alveolargefäße
und ein Wachsen des Querschnittes. Hinzu kommt noch die oben
näher beschriebene Zunahme der Frequenz des Herzschlages in der
Inspiration. Alle diese Kräfte wirken in demselben Sinne, so daß wir
in der Inspiration eine Zunahme der Kapazität und der Geschwindigkeit
des Blutes in den Lungen haben. Die Exspiration dagegen bedingt
1) eine Verringerung der Druckdifferenz zwischen der Arteria und
Vena pulmonalis,
2) eine Zunahme des Druckes in den Lungen,
3) eine Verkleinerung des Gefäßquerschnittes und
4) eine Abnahme des Schlagvolumens und der Frequenz des Herz-
schlages, d. h. in der Exspiration nehmen Kapazität und Geschwindigkeit
des Blutstromes in den Lungen ab. In der Inspiration steigt der Blut-
druck, in der Exspiration fällt er.
Anders sind die Verhältnisse bei der künstlichen Atmung:
hier wird mit dem Verschwinden des negativen Druckes in der
Pleurahöhle auch die Druckdifferenz zwischen Lungenarterie und Lungen-
vene verringert,
ferner haben wir jetzt in der Inspiration (Aufblasung) einen grö-
ßeren Druck im Bronchialbaume, als in der Exspiration (Kollaps der
Lunge); daraus folgt, daß die Alveolargefäße in der Inspiration stärker kom-
primiert werden, ihr Lumen kleiner wird und ihre Kapazität abnimmt,
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 443
während in der Ex8piration umgekehrt mit der Abnahme des Druckes die
Alveolargefäße an Querschnitt und Inhalt zunehmen; also das entgegen-
gesetzte Bild der normalen Zirkulationsverhältnisse in den Lungen.
Wenn es trotz dieses prinzipiellen Unterschiedes in der Strömung
des Blutes durch die Lunge bei normaler und künstlicher Atmung in
beiden Fällen zu respiratorischen Schwankungen des arteriellen Blut-
druckes kommt, so darf daraus nicht mehr als ein Einfluß der Volumens-
änderung der Lunge auf die Zirkulation geschlossen werden; keines-
falls aber ein Gleichbleiben der Kreislaufverhältnisse. Hat man es
doch mit ganz anderen Ursachen zu tun. In der Inspiration (bei der
Einblasung) steigt der Blutdruck, in der Exspiration (beim Kollabieren
der Lungen) sinkt er. Also, wie gesagt, man hat es bei der künst-
lichen Atmung mit einer Erscheinung ganz anderer Natur zu tun, als
wir es bei der normalen Atmung kennen lernten. Ich gebe im fol-
genden die Darstellung Herrmanns über das Zustandekommen dieser
Schwankungen wieder:
„Werden bei geöffneter Brusthöhle die Lungen ausgedehnt durch
Einblasen und darauf ausgedehnt erhalten, so sieht man nach einer vor-
übergehenden Steigerung des Blutdruckes in den Arterien diesen beträchtlich
sinken und während der Dauer der Atmungssuspension aber auf dem nie-
deren Stande verharren (Kowalbwsky und Adamük, Kuhn, Kowalewsky).
Diese Druckherabsetzung während der Suspension der aufgeblasenen Lungen
hat Kowalbwsky als negative Welle bezeichnet. Läßt man dagegen die
Lunge kollabieren und suspendiert jetzt die Atmung, so steigt der Blutdruck
In den Arterien, wie dieselben Experimentatoren konstatierten. Diese
Steigerung bei koUabierter Lunge ist Kowalbwskys Orundwelle. Wird
die Suspension bei einem beliebig durch AufblasuDg entfalteten Lungen-
volumen vorgenommen, so verharrt der Blutdruck auf dem niederen
Werte, den er am Ende der Aufblasung erreicht hat (Kuhn), und zwar
ist dieser Druck niedriger als der Druck bei koUabierter Lunge, aber
höher als bei stärkerer Aufblasung der Lunge. Es ergibt sich aus diesen
Versuchen, daß die Höhe des arteriellen Druckes mit dem jeweiligen Zu-
stande der Lungen sehr innig zusammenhängt. Da aber die Ausschaltung
aller nervösen Einflüsse an den angeführten Erscheinungen nichts ändert,
ao kann die Wirkung verschiedener Ausdehnungsgrade der Lunge auf den
Blutdruck nur in mechanischen Ursachen gesucht werden, welche bei der
Ausdehnung der Lungen den Blutzufluß zum linken Herzen beschränken.
Wir haben diesen Moment bereits früher bei der Besprechung des Blut-
stromes in den Lungen kennen gelernt. Es ist der positive, intrapulmo-
nale Druck, der beim Aufblasen der Lungen entsteht und die Kapillaren
der Lunge komprimiert. Folgen nun die Einblasungen wie bei einer regel-
mäßigen künstlichen Respiration in bestimmten Perioden aufeinander, so
daß die Lunge nur für einen Moment oder nur während einer kurzen
Pause im kollabierten Zustande verharrt, oder sogar diesem Zustande sich
nur annähert, so wird die Grundwelle niemals in der vollen Höhe sich
entwickeln können. Es wird vielmehr der mittlere Blutdruck in den
Arterien immer unter der Höhe der Grundwelle zurückbleiben. Jede
einzelne der sich folgenden Aufblasungen wird aber zur Folge haben, daß
das Blut, welches während der Entlastung der Kapillaren beim Kolla-
bieren der Lunge in die Kapillaren gelangt ist, durch den bei der Auf-
444 Sauerbrach,
blasnng steigenden intrapulmonalen Druck aus den Kapillaren wieder aus-
gepreßt wird, und dadurch wird die inspiratorische Steigerung des arte-
riellen Druckes bei der künstlichen Atmung bedingt, während die exspira-
torische Herabsetzung des arteriellen Druckes sich daraus erklärt, dai^
während des KoUabierens der Langen sich das Blut in der vom hohen
intrapulmonalen Drucke entlasteten Kapillaren ansammelt Die beschrie-
benen Wirkungen der künstlichen Bespiration auf den arteriellen Blutdruck
sind in derselben Weise, auch bei uneröffnetem Pneumothorax, vorhanden
(Kuhn, Kowalbwsky)/^ ,,Die künstliche Atmung kann, von mechanischer
Seite betrachtet, keineswegs als ein förderndes Moment für den Kreislauf,
sondern eher als eine Hemmung betrachtet werden (Kowalbwsky).^^
Wichtig erscheint mir auch der Umstand, daß trotz künstlicher
Atmung die Aspiration des Thorax auf die großen Körpervenen weg-
fällt Wir hatten gesehen, daß daraus sich eine Stase im venösen System
ergiebt, die wir manometrisch nachweisen konnten. Ich habe an
mehreren Versuchstieren mit einseitigem Pneumothorax den Druck in
der Vena femoralis bei künstlicher Atmung gemessen und fand keine
Steigerung. Dagegen gelang es mir in 2 Fällen von doppelseitigem
Pneumothorax, trotz ausgiebiger künstlicher Atmung,
einen positiven Druck in den Venen nachzuweisen»
Zweifellos ist diese Störung der Zirkulation, wenn sie sich auch nicht
durch schwere Erscheinungen kundtut, bei etwaigen Eingriffen am
Menschen zu berücksichtigen.
Eine weitere Schwierigkeit, über die uns die künstliche Atmung
nicht hinweghilft, ist die Beseitigung des Pneumothorax nach Beendi*
gung der Operation. In dem Augenblicke, in dem man die künstliche
Atmung unterbricht, tritt der Pneumothorax mit seinen Gefahren ein.
Die Lunge kollabiert und ist wieder funktionell ausgeschieden. Tüffier
und Hallion schlugen vor, durch Aufblasungen die Lunge längere
Zeit in stärkster Inspirationsstellung zu halten und währenddessen
die Wunde zu verschließen. Für einige Sekunden kann man tatsächlich
die Atmung in Inspirationsstellung der Lungen ohne Gefahr für das
Tier unterbrechen. Aber schon nach 6—10 Sekunden tritt Dyspnoe
mit ihren Folgen ein, so daß die künstliche Atmung wieder in ihre
Rechte treten muß. Andere haben vorgeschlagen, ohne Rücksicht auf
den Pneumothorax die Wunde zu verschließen in der Annahme, daß
die Luft bald resorbiert und die Lunge wieder ausgedehnt werde. Es
liegt auf der Hand, daß überall da, wo während der Operation (Oeso-
phagusresektion) die zweite Pleura eröffnet wurde, dies Verfahren aus-
geschlossen ist, denn es bleibt ein doppelseitiger Pneumothorax zurück,
der sicher ad exitum führt. Fr. König berichtet zwar von einem doppel-
seitigen Pneumothorax, der gelegentlich einer Brustbeinresektion ent-
standen sein soll und von der Patientin glücklich überstanden wurde.
Er hatte durch Gaze die Risse in der Pleura tamponiert. Er dürfte dies
ein Ausnahmefall sein, der vielleicht dadurch erklärlich ist, daß Teile
Zur Pathologie des offesen Pneumotliorax etc. 445
der Langen an der Brustwand adhärent waren und auf diese Weise
ein völliger Kollaps der Lunge ausgeschlossen war. Herr Prof. Filehne
schlug Yor, die Luft in der Pleurahöhle durch Sauerstoff zu ver-
drängen, indem man nach Schluß des Pneumothorax durch eine enge
Oeffnung der Brustwand unter Druck 0 einläßt und diese Oeffnung
dann verschließt. Der Sauerstoff wird sehr leicht resorbiert. Mit
seiner Resorption wird die Brusthöhle wieder leer und die Lunge kann
sich wieder ausdehnen. An sich ist die Methode brauchbar, leidet nur
an dem Fehler, daß der Pneumothorax immerhin nach Beendigung der
Operation noch eine Zeit lang besteht, und zwar gerade in der Zeit,
wo wir alles Interesse daran haben, mit möglichst physiologischen Be-
dingungen im Körper zu rechnen. Denn nach der Operation, wo so
viele ungünstige Rückwirkungen derselben für den Organismus zu-
sammenkommen, erscheint mir die Beseitigung des Pneumothorax sehr
wichtig, und jedes Verfahren, welches das erzielt, ist der Sauerstoffin-
jektion vorzuziehen. Bei vielen Operationen habe ich auf folgende Weise
den Pneumothorax zu beseitigen versucht. Ich schloß nach Beendigung
der Operation die Pleurahöhle durch eine Etagennaht bis auf eine kleine
Oeffnung in einem Wundwinkel. Auch hier legte ich 2—3 Nähte und
machte sie zum Knüpfen fertig. Dann führte ich ein Drain von ca. 4 mm
Durchmesser in die Pleurahöhle, setzte die künstliche Atmung aus und
ließ durch das Drain mit Hilfe einer Wasserluftpumpe die Luft aus der
Pleurahöhle absaugen. Im Moment, wo die Pleurahöhle leer war, die
Lunge sich wieder ausdehnte, zog ich unter Verschluß des Fingers das
Gummirohr aus der Pleurahöhle heraus, gleichzeitig knüpfte der Assistent
die Fäden. Auf diese Weise gelang es in einigen Fällen, den Pneumo-
thorax zu beseitigen, in anderen versagte dieser Weg.
Die Eröffnung des Pleuraraumes war, wie wir sahen, mit einer
sehr starken Temperaturerniedrigung verbunden, ein üebelstand, der
durch die künstliche Atmung noch vergrößert wird. Auf diese starke
Abkühlung der Tiere bei der künstlichen Atmung hat vor 100 Jahren
schon Le Gallois (s. oben) hingewiesen. Die größeren Exkursionen
der Lunge führen zu einem ausgiebigeren Luftwechsel in der Pleura-
höhle. Dazu kommt die Beschleunigung der Zirkulation, so daß im
Querschnitt in der Zeiteinheit mehr Kalorien abgegeben werden können.
Versuche.
1. KanincheD. 2100 g. Körpertemperatur 40^, Zimmertemperatur
19® C. Breite Eröffnung der rechten Pleurahöhle und Einleiten der künst-
lichen Atmung. Temperatur nach ^/j Stunde 36,6 <>, nach »/^ Stunden 35,8 <>.
2. Kaninchen, 2300 g. Körpertemperatur 38,9®, Zimmertemperatur
17 ® C. Eröffnung wie oben. Künstliche Atmung. Temperatur nach
20 Min. 36,3® nach »/^ Stunden 36 0.
3. Hund, 7 kg. Körpertemperatur 38®, Tracheotomie. Chloroform-
narkose. Künstliche Atmung. Eröffnung der 1. Pleurahöhle. Freipräpa-
446 Sauerbruch,
rierung der Speiseröhre, Vorziehen derselben, Resektion von 2 cm. Naht
des Oesophagus, Naht der Pleura- und Hautwunde. Dauer 40 Minuten.
Temperatur 35,3 ö.
Selbst bei höheren Außentemperaturen ist der Abfall der Temperatur
keineswegs gering, wie folgender Versuch beweist:
Kaniuchen 240() g. Körpertemperatur 39,4 <^, Temperatur des Kastens,
in welchem die Operation vorgenommen wurde,* 28® G. Eröffiiung der
rechten Pleura wie oben. Temperatur nach ^/^ Stunde 37,2®, nach
»/^ Stunden 36,8®.
Wir kommen zur Infektionsgefahr der Pleura. An sich ist die-
selbe als seröse Haut schon durch ihren Reichtum an Lymphbahnen
mit offenen Stomata sehr empfindlich, vielleicht noch empfindlicher als
das Peritoneum, das ja ziemlich viel verträgt. Die an sieh schon beste-
hende große Infektionsgefahr wird nun durch die künstliche Atmung noch
erhöht Die Lungen befinden sich in einer fortwährenden ausgiebigen
Bewegung, bei der die Lymphgefäße bald weit klaffen, bald komprimiert
werden. Die Keime, die sich an der Oberfläche oder in den Anfangs-
teilen der Lymphbahnen befinden, können dadurch angesaugt und schließ-
lich mechanisch weiter massiert werden. Darüber wissen wir noch nichts
Näheres. Experimentelle Untersuchungen wären sicher hier sehr lohnend.
Was die Tracheotomie angeht, die eine Vorbedingung für die künst-
liche Atmung ist, so ist sie nicht nur eine unnötige Komplikation des
Eingriffs, sondern bedeutet unter Umständen geradezu eine Gefahr. Ich
erinnere daran, daß durch das Einpumpen der Luft bei der künstlichen
Atmung sehr leicht Gewebsverletzungen (interstitielles Emphysem) auf-
treten können (s. oben).
Wir wissen ferner, daß im Anschluß an Tracheotomien gern Ent-
zündungen der Lunge auftreten, die meist die Folge von Sekundär-
infektionen sind. Die zahlreichen Stellen der Gewebszerreißungen sind
für die Infektion besonders prädisponiert, und wir sehen fast regelmäßig
im Anschluß an die künstliche Atmung multiple lobuläre Pneumonien
auftreten, in deren weiterem Verlauf es zur Verschmelzung der einzelnen
Herde und funktionellem Ausfall eines ganzen Lungenlappens kommen
kann. Oft, namentlich wenn die primären Lungenherde subpleural
liegen, kommt es zu fibrinöser Pleuritis und Empyem. Daß gerade
die Lunge der gesunden Seite besonders von solchen lobulär
pneumonischen Herden befallen wird, darf nicht wunder nehmen, da
ja auch hier die Parenchymzerreißungen, infolge des starken Ueber-
druckes mit Vorliebe auftreten (vergl. oben.). Man hat durch Sterili-
sieren der eingepumpten Luft die Gefahr der Infektion beseitigen wollen,
wahrscheinlich aber ohne wesentlichen Erfolg; denn einmal erscheint
mir zur Verhütung von Infektionen die Hauptvorbedingung die Un-
versehrtheit des Lungengewebes zu sein, die durch dieses Ver-
fahren nicht gewährleistet wird, dann werden immerhin durch den Druck
Zar Pathologie des ofifenen Pneumothorax etc. 447
der eingepumpten Luft die Keime, die in der Trachea und den Bron-
chien sich befinden, in die Alveolargebiete der Lungen hineingepreßt
und reichen für die Infektion vollständig aus. Eine gewisse Verbesse-
rung ist ja allerdings der Ersatz der Trachealkanüle durch den O'dwter-
schen Tubus. Sie erspart die Tracheotomie, schaltet aber nicht die
Gefahren des Einpumpens der Luft in die Lungen und die sekundären
Oewebszerreißungen aus; außerdem werden bei der Durchführung des
Tubus durch die Mundhöhle leicht Keime in den Kehlkopf und den
oberen Teil der Trachea gebracht und von hier aus mit dem Ein-
pumpen der Luft weiter befördert bis zu Stellen, wo sie zur Infektion
führen können.
Schließlich kommen wir zu den Schwierigkeiten der Narkose. Wir
sind gewohnt, unter normalen Druckverhältnissen das Narkotikum in
geringen Mengen der Einatmungsluft beizumischen und haben die Durch-
führung der Betäubung zuverlässig in unserer Hand. Vor allen Dingen
können wir verhüten, daß die Kranken zu viel von dem Einschläferunge-
mittel aufnehmen. Bei der künstlichen Atmung ist das anders. Die Gase
des Chloroforms oder Aethers werden in den Zuführungsschlauch für die
Luft hineingeleitet und gelangen unter demselben Druck wie die Respi-
rationsluft in das Lungeninnere. Wir wissen, daß die Narkose auf einem
osmotischen Gasaustausch beruht und wesentlich vom Druck, unter dem
das Gas steht, abhängig ist. Bei der künstlichen Atmung ist der Druck
wenigstens in der gesunden Lunge vergrößert, damit wird die Resorp^
tion des Gases in das Blut erleichtert. Kionka hat die Gefahr einer
zu starken Wirkung dadurch umgangen, daß er den Zuführungsschlauch
mit einem Apparat verband, der die genaue Dosierung des Narkotikums
2uläßt (s. unten). Es genügen also weit geringere Mengen als unter
normalen Verhältnissen.
Andererseits wird allerdings die Gefahr einer zu starken Resorption
durch ausgiebigere Ventilation gemildert.
An der Hand der Kurve 10 möchte ich nachweisen, wie man an der
Pulskurve sich von der Ausgiebigkeit der künstlichen Atmung überzeugen
kann; gleichzeitig ist die Kurve ein nochmaliger Beweis dafür, daß die
Blutdrucksteigerung beim Pneumothorax zum Teil durch die Djspnoö des
Blutes bedingt ist. Solange die Einblasung der Luft unter zu schwachem
Drucke geschieht, oder in zu großen Zwischenräumen, sind die Exkur-
sionen der Lunge zu klein bezw. zu selten, und die Ventilation des
Blutes ist also nicht genügend ; so lange bleibt aber auch die Blutkurve
bezüglich des arteriellen Druckes gesteigert, bezüglich der Fre-
quenz verlangsamt. Bei Zunahme der Ventilation sinkt der Blut-
druck, bis wir bei vollständig ausreichender Respiration
aus der Kurve eine regelmäßige gleichmäßige Herztätigkeit
herauslesen, die nur etwas verlangsamt ist gegen die Norm und
«twas höhere Wellen zeigt, Veränderungen, die, wie wir sahen,
MittiU. ft. d. OrmscoMeten d. IfedIxlB o. Chlrarfle. XIII. Bd. 29
448
Sauerbruch,
1:1=
Sil
5-5-0
3
B
B
g3&
Hl
P O
2:00
00g
r1
S o-
5
00
5
5
r
4 ^
Ss.
Bf
et (t
5
B
M
I
.g- CO
" B
B
Sco
5^
OS
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 449
auf Vagusreizung zurückzuführen sind. Zu bemerken ist, daß ein Ex-
pansionsdruck von 10 mm bei einem Hunde nicht genügt, um eine
ausgiebige Ventilation selbst bei ziemlicher Frequenz (30—40 in
der Minute) yorzunehmen. Wir sehen in der Kurve erst bei 13 mm
und 20 Einblasungen in der Minute eine ausreichende Ventilation des
Blutes.
Den acht Punkten möchte ich schließlich noch eine Schattenseite der
künstlichen Atmung anfügen, die in erster Linie praktisch chirurgisches
Interesse hat Alle, die in der Brusthöhle unter künstlicher Atmung
operiert haben, werden wissen, wie unangenehm man durch das Schwan-
ken des Lungenvolumens in seinen Manipulationen behindert wird. Mit
jeder Aufblähung verdeckt die Lunge das Operationsfeld und verdrängt
förmlich die Hand des Operateurs. Ein Zurückhalten der Lunge ist
erstens sehr schwierig, zweitens aber setzt es die Respirationsgröße
herab, die bei dieser Form der Atmung nicht verkleinert werden darf.
Einen Vorteil hat die künstliche Atmung dadurch, daß sie die Ge-
fahren, die jedes Narkotikum für die Respiration mit sich bringt, ver-
mindert Atmungsstillstand kann nicht eintreten, und das Herz, das ja
in hohem Maße von der Funktion der Lunge abhängig ist, wird auch
weniger bedroht als sonst.
Immerhin bleibt die künstliche Atmung ein Verfahren, das bei
aller Brauchbarkeit für das Tierexperiment beim Menschen sich nicht
genügend erprobt hat und dem solche Mängel anhaften, daß ihre An-
wendung von vornherein mindestens bedenklich sein muß. Die Chi-
rurgen haben sich infolgedessen bisher meist auf andere Weise geholfen.
GARRiK gibt in seiner Arbeit über die Technik der Lungenoperationen
einen Ueberblick. Am häufigsten haben sich die Chirurgen wohl der
Tamponade bedient, die namentlich von Krause warm empfohlen wird;
andere haben auf Grund der Experimente von Bardenheuer mit Erfolg
die Pleuraöffnung durch Einnähen der Lunge verschlossen. Insbesondere
für Lungenoperationen hat sich eine andere Methode herausgebildet,
die von Quincke begründet ist und darin besteht, die beiden Pleura-
blätter vor dem eigentlichen Eingriff zu vereinigen. Entweder hat man
sie nach Injektion von Chlorzink verkleben lassen und zweizeitig ope-
riert, oder man hat sie vernäht und ist innerhalb des abgeschlossenen Ge-
bietes eingegangen. Eine wirkliche Eröfihnng des Pleuraraumes wird da-
durch umgangen und die Gefahren des Pneumothorax vermieden. In
der Art der Operationsmethode liegt schon ihre Beschränkung auf ge-
wisse Fälle. Es kommen in Frage subpleural gelegene Tumoren, Gan-
gränherde und Abscesse der Lungen, kurz, diejenigen Erkrankungen
der Brusthöhle, bei denen es genügt, von einer umschriebenen Stelle
in die Tiefe zu dringen. Wo aber als Vorbedingung für die eigent-
liche Operation eine breite Oeffnung der Brusthöhle nötig ist, wie z. B.
bei der Resektion der Speiseröhre, ferner wo ein eventuelles Abtasten
29*
450 Sauerbruchy
für die Diagnose noch in Frage kommt — and das wird gerade in
der Brusthöhle sehr oft nötig sein — da lassen die Methoden der Tam-
ponade und der Fixation durchaus im Stich. Sie yerhindern die Uebersicht
und beschränken die Orientierung und die Operationstechnik.
Alles in allem, haben wir also fOr die Eröffnung der Brusthöhle
nur Mittel, die unter Umständen brauchbar sein können ; aber ein Ver-
fahren, das erlaubte, systematisch wie in anderen Körpergebieten opera-
tive Eingriffe vorzunehmen, war bisher nicht vorhanden.
IV.
Die Ausschaltung desPneumothorax durch Beibehaltung
der physiologischen Druckdifferenz zwischen Pleura-
und Interbronchialraum (unter- und Ueberdruckverfahren).
Diese ganzen Studien über den Pneumothorax und seine Beseiti-
gung durch die künstliche Atmung machte ich im Auftrage meines
Chefs, Herrn Geheimrats v. Mikulicz. Er hatte bei seinen Versuchen,
die Speiseröhre auf transpleuralem Wege zu resezieren, die Schatten-
seiten der künstlichen Atmung zur Genüge kennen gelernt. Auf Grund
seiner Erfahrung im Tierversuche kam er zu der Ueberzeugung, daß
die künstliche Atmung nur ein Notbehelf und für praktisch chirurgische
Zwecke am Menschen vollständig unzureichend sei. Die Vorbedingung
für erfolgreiche Brustoperationen sah er in einer zuverlässigeren Methode
des Atmungsersatzes. Ihm verdanke ich die Anregung zu der Arbeit
und zwar speziell in dem Sinne, auf die künstliche Atmung ganz zu
verzichten und auf anderem Wege zum Ziele zu gelangen.
Zunächst bemühte ich mich also festzustellen, worin die Pathologie
des Pneumothorax besteht, warum er eine so gefährliche Komplikation
unserer operativen Eingriffe bedeutet. Die Ergebnisse meiner Ver-
suche habe ich oben niedergelegt Man kann sie dahin zusammenfassen :
Alle Schädlichkeiten des Pneumothorax gehen in der
Hauptsache aus dem Lungenkollaps hervor, und zwar
sind sie weniger auf den funktionellen Fortfall derLunge
zurückzuführen, als auf die Veränderung, die mit ihrer
Volumenabnahme unmittelbar zusammenhängt (Hyper-
ämie, Vagus ref lex.) Ich glaube, diese wichtige Tatsache geht aus
meiner obigen Darstellung zur Genüge hervor.
Wenn es also gelang — das ist die direkte Folge meiner Ver-
suche — beim Oeffnen der Brusthöhle den Kollaps der Lunge zu ver-
meiden, so war anzunehmen, daß die Pneumothoraxgefahr wesentlich ver-
ringert würde. Damit war die Fragestellung meiner Aufgabe genauer
geworden: Wie verhindere ich beim Oeffnen der Brusthöhle
den Kollaps der Lunge?
Wie ich schon ausgeführt habe, hängt die Ausdehnung der Lunge
von drei Umständen ab, nämlich 1) von dem auf ihrer Innenfläche
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 451
lastenden vollen Lnftdrncke, der durch die frei mit der Atmosphäre
in Verbindung stehenden Bronchien vermittelt wird, 2) von dem auf die
Außenfläche (Pleura pulmonalis) der Lunge wirkenden Druck und 3)
von der eigenen Elastizität des Organs. Da nun aber unter normalen
Verhältnissen ein solcher Außendruck nicht besteht, weil die knöchernen
und muskulösen Wände des Thorax, in den die Lunge luftdicht ein-
gefügt ist, die Last der Atmosphäre tragen, so kommen nur zwei
Faktoren, der Innendruck und die Elastizität, in Betracht, welche in
entgegengesetzter Richtung wirken; denn während der erstere das
Organ zu dehnen bestrebt ist, wirkt letzteres konzentrisch verkleinernd
und sucht die Lunge auf das Volumen zurückzuführen, welches sie nach
ihrer Entfernung aus dem Thorax einnimmt.
Es ist demnach klar, daß infolge dieser luftdichten Einfassung der
Lunge in den Thorax der Ueberdruck auf die Innenfläche sie zwingt,
der Erweiterung der Thoraxwände im ausgedehntesten Maße zu folgen,
und daß erst, wenn dieser Innendruck durch den entsprechenden
Außendruck — unter exspiratorischen Zurücksinken der Thoraxwand
— gewissermaßen ausgeglichen wird, die Wirkung der Lungenelastizität
eine Verkleinerung des Organs herbeiführen kann.
Eine solche Kompensation findet aber natürlich nur statt, wenn
ein positiver Druck in der Pleurahöhle auftritt, so daß die Lunge, der
Elastizität folgend, einen kleineren Raum einnehmen kann. Je stärker
der auf die Pleura ausgeübte Druck ist, in desto größerem Umfange
erfolgt der Ausgleich des Innendruckes und desto mehr kommt die Wir-
kung der Lungenelastizität zur Geltung, und umgekehrt, je geringer dieser
Druck, desto geringer wird die Wirkung der Elastizität zur Geltung
kommen können. Ueberwiegt also der Innendruck über die Kraft der
Lungenelastizität, so kann kein Kollaps der Lunge eintreten (Rosenthal).
Mit anderen Worten : Behalte ich bei Eröffnung des Thorax die physio-
logische Druckdifferenz bei, so bleibt die Lunge aufgebläht; das war selbst-
verständlich. Ferner konnte ich hoffen, daß damit die Pneumothoraxgefahr,
die ja direkt an den Kollaps geknüpft ist, fortfällt Ebenso blieb die Lunge
allerdings funktionell ausgeschaltet wie vorher, aber die andere würde
ja für den Gasaustausch genügen, das wußte ich aus meinen Versuchen.
An irgend welche Leistung der Lunge konnte man nicht denken, lehren
doch die Physiologen, daß die Vorbedingung für die Atmung die unver-
sehrte Pleurahöhle ist, ohne die der ganze mechanische Atmungsapparat
seine Saug- und Druckwirkung auf die Lunge nicht ausüben kann. So-
lange man sich auf die Eröffnung der Pleura auf einer Seite beschränkte,
konnte man sie in der ausgiebigsten Weise vornehmen, ohne mit Dyspnoö
und dergleichen Gefahren zu rechnen. Damit wäre also schon viel ge-
wonnen gewesen : Die Möglichkeit einer einseitigen Thorax-
eröffnung ohne die schädlichen Wirkungen des Pneumo-
thorax und ohne künstliche Atmung.
452
Sauerbrach,
Um experimentell die Richtigkeit dieser Ueberlegung feststellen zu
können, brauchte ich also nur unter Beibehaltung der physiologischen
Druckunterschiedes die Eröffiiung der Pleurahöhle vorzunehmen. Zu
dem Zwecke konstruierte ich zunächst einen ganz primitiven Apparat
(Fig. 2).
Ein beiderseits offener Glascjlinder wurde auf beiden Seiten durch
ein Stück Guttaperchapapier verschlossen. Auf der einen Seite be-
fanden sich in dem Guttaperchapapier 3 Löcher (2 kleinere und ein
größeres), auf der anderen Seite nur ein größeres Loch. Durch die
beiden größeren Löcher wurde das Versuchstier hindurchgezogen, so
^tmfjnn.
Fig. 2. üreprüDglicher Apparat zur Eröffnung der Brusthöhle. (Die Hände
sind durch luftdicht schließende Manschetten in den Cy linder gesteckt; Kopf und
Bauch des Tieres sind draußen ; im Cylinder Luftdruck — 10 mm Hg.)
daß der Kopf auf der einen, Hinterbeine und Unterleib auf der anderen
Seite heraussahen, während Thorax und obere Bauchgegend sich im
Cylinder befanden. Nach Einbringung der nötigen Instrumente ging
ich dann mit beiden Händen in die kleineren Löcher ein. Nachdem
dann alle Oeffnungen durch Gummibinden und Klebstoffe luftdicht ab-
geschlossen waren, wurde von einem Gehilfen mittels eines in das
Innere des Cylinders führenden und ebenfalls luftdicht umschlossenen
Drainrohres (Gummischlauches) Luft abgesaugt, so daß im Inneren des
Cylinders ein negativer Druck entstand, der einer Quecksilbersäule
von ca. 10 mm Länge entsprach. Nun eröflFhete ich beiderseits den
Thorax : Die Lungen kollabierten nicht, und die Atmung des Tieres ging
ohne Dyspnoö ungestört weiter. Nach etwa 3 Minuten riß eine Stelle
der Verschlußmembran, und unter angestrengten Atembewegungen und
Kollaps der Lungen trat der Tod des Tieres ein.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 453
Der Ausfall dieses Versuches ermutigte mich, einen Apparat von
«inem Mechaniker herstellen zu lassen, in welchem der Verschluß
durch Gummipelotten nach demselben Prinzip bewerkstelligt wurde.
Darin stellte ich zahlreiche Versuche über die Möglichkeit der
Thoraxöffoung an. Die Versuche zeigten, daß es möglich ist, doppel-
seitig ausgedehnt den Thorax zu eröffnen, ja selbst Brustbein und
Kippen bis auf kleine Stümpfe an der Wirbelsäule abzutragen, ohne
daß das Tier unter den Folgen der Brusthöhleneröffhung zu leiden hat.
Immer wieder hatte ich den Eindruck, daß nicht nur auf diese Weise
die Pneumothoraxgefahr mit Erfolg beseitigt, sondern daß sogar mehr
'erreicht war: Das Tier blieb unter physiologischen Be-
dingungen und atmete ruhig weiter. Wie die Atmung
trotz Wegnahme von ausgedehnten Abschnitten des
Brustkorbes noch möglich war, blieb mir vorläufig ein
Eätsel (siehe unten).
Von dem Bau dieses Apparates, der nur physiologische Unter-
suchungen, aber keine genauere Ausführung von Operationen zuließ,
war nur ein Schritt zur Herstellung einer Art Operationskammer, die
angehindert Operationen nach chirurgischen Regeln gestattet. Ich ließ
mir eine Kammer bauen von 1,5 m Länge, 1 m Breite und 1,3 m
^öhe (Fig. 3). Die Kammer ist aus festen, 2 cm dicken Brettern zu-
sammengefügt, innen mit Blech ausgeschlagen, das an den Uebergangs-
teilen verlötet ist, und oben durch eine dicke Glasplatte (d) verschlossen.
Die Tür, ca. 1,15 m hoch, 0,60 m breit, ist durch Gummieinlagen luft-
dicht verschließbar. An der der Tür gegenüber liegenden Wand befindet
sich in Sitzhöhe ein kreisrundes Fenster (f) von 55 cm Durchmesser,
in das eine Gummimanschette eingesetzt werden kann. Durch die Oeff-
nung der Manschette wiirdvder Kopf des Tieres durchgesteckt, der
dadurch luftdicht abgeschlossen ist.
Die Kammer bietet bequem Platz für den Operationstisch (f), auf
dem der Rumpf des Tieres festgebunden wird, und zwei Sitzplätze zu
heiden Seiten für Operateur und Assistent. Außerdem führen 2 etwa
markstückgroße Oeffnungen in die Kammer, von denen die eine (a)
mit einer Saugpumpe, die andere (6) mit einem Ventil (F) in Ver-
bindung steht. Dieses Ventil läßt beim Absaugen der Luft durch die
Saugpumpe stets so viel Außenluft nachströmen, daß in der Kammer
ein gleichbleibender und durch das Ventil regulierbarer Minusdruck er-
halten wii^d.
Das Ventil ist leicht aus Fig. 3a zu verstehen.
Ein Glascylinder (c) von ca. 6 cm Durchmesser und 75 cm Länge
ist durch einen Gummipfropf (p) luftdicht verschlossen. Durch den
Pfropf geht ein langes verschiebliches, beiderseits offenes Glasrohr (/)
von ca. 1 cm Durchmesser, . von ca. 90 cm Länge, außerdem noch ein
zweites (A;), das nur in den Anfangsteil, des Cylinders ragt. Schließlich
454
Sauerbruch,
steht mit dem Raum a noch ein Quecksilbermanometer {m) in Verbindung.
Es ist also dem Prinzip nach das einfache Wasserdruckventil, wie es
jeder Physiker zu seinen Versuchen braucht. Dieses Ventil wird mit
dem Rohr, das nach b führt, verbunden. Wird nun mit der Pumpe
bei a abgesaugt, so wird die Luft im Kasten verdünnt; da nun Kasten-
inneres und Ventilraum r durch k kommunizieren, wird der Grad der
Fig. 3.
Dr. Löschmann,
Fig. 3a.
Fig. 3. OperatioDskaminer f iir Tierversuche, d Glasplatte, f Fenster, m Gmnmi-
manschette. i OperatiODstisch. a Saagöffnung. h Ventilöffnung.
Fi^. 3 a. Wasserdnickventil. c Glascylinder. p Gummipfropf, t offenes ver-
schieblicnes Glasrohr, k Glasrohr, m Manometer, r Ventilraum. s Wassersaule in e.
8 Wassersäule im Cylinder. V VentiL
Verdünnung sich an dem Stand der Quecksilbersäule des Manometers
anzeigen. Vor Eintritt der Luftverdünnung steht das Wasser in dem
Glascjlinder und dem Rohre gleich hoch. Sobald im Kasten, und da-
mit auch in dem Räume a der Druck nachläßt, drückt der äußere
Luftdruck die Wassersäule {s) um so viel herunter, wie die Diffe-
renz des Druckes zwischen Atmosphäre und r beträgt. Bei gehöriger
Verdünnung in r wird der Fall eintreten, daß die ganze Säule ^
aus dem Rohre / gewichen ist, d. h. die äußere Luft kann jetzt
durch das Rohr l in die Wassersäule S und damit auch in den
Raum r und den Kasten treten. Es ist also eine Verbindung zwischen
Zur Pathologie des o£fenen Pneumothorax etc. 465
äußerer Luft und Easteninnerem hergestellt Von der Stärke der Saug-
kraft der Pumpe hängt die Geschwindigkeit, mit der die Druckver-
minderung eintritt, ab. Mit der Zunahme des Druckes in a läßt die
Differenz nach, d. h. der äußere Luftdruck vermag jetizt nicht mehr,
der ganzen Wassersäule das Gleichgewicht zu halten. Diese steigt in
das Rohr / zurück und verschließt damit den Ventilraum r aufs neue.
In dem Augenblick, wo derselbe niedrige Manometerstand wie vorher
erreicht ist, wird in derselben Weise die Wassersäule, s fallen und
Luft in den Ventilraum r und die Kammer eintreten. Durch Ver-
längerung bezw. Verkürzung der Wassersäule «, d. h. durch Einschieben
bezw. Ausziehen des Rohres l habe ich es in der Hand, den Druck in
der Kammer beliebig zu regulieren. Empirisch kann ich den Stand
des Rohres bei einem bestimmten Druck x finden. Ich stelle das
Rohr / auf diese Marke ein; das Ventil arbeitet dann so** zuverlässig,
daß kaum Schwankungen von 1 mm Hg selbst bei stärkster Absaugung
in a eintreten. Es ist damit möglich, unter Beibehaltung eines kon-
stanten Druckes in ausgiebigster Weise die Kammer zu ventilieren.
Wie vertragen Operateur und Assistenten den Aufenthalt in der
Kammer?
Von den zahlreichen Teilnehmern an Operationen in unserer
Kammer hat kaum einer irgend welche unangenehmen Nebenwirkungen
verspürt; und nach unseren Erfahrungen über den Aufenthalt auf
Bergen ließ sich das auch nicht erwarten. Wir wissen, daß wirklich
ernsthafte Störungen der Luftverdünnung die sogenannte Bergkrank-
heit immer erst bei einer Höhe von 3000 m eintritt, bezw. einer Luft-
verdünnung von über 200 mm Hg. Eine Luftverdünnung von 10 mm
Hg entspricht etwa einer Luftsäule von 300 m, d. h. man befindet sich
bezüglich des Luftdruckes bei einer Verdünnung von 10 mm unter
denselben Bedingungen, wie auf einem 300 m hohem Berge oder dem
Eiffelturm. Bei den meisten Menschen macht sich dieser Wechsel im
Druck der umgebenden Luft überhaupt nicht bemerkbar, und erst bei
höheren Graden der Luftverdünnung bis zu 100 — 120 mm treten bei
einigen Erscheinungen ein, die etwas an die Bergkrankheit erinnern.
Pulsbeschleunigung, Schwindel etc. Bei einer Verdünnung bis zu 20 mm
hat man höchstens das angenehme Gefühl der erleichterten Atmung, und
objektiv läßt sich bei einigen, aber keineswegs allen Menschen nur
eine geringe Steigerung der Pulsfrequenz nachweisen. Wenn man
durch forcierte Absaugung der Operationskammer die Luftverdünnung
zu schnell herbeiführt — bei einem Raum von 2 cbm in einigen
Sekunden — so empfindet man höchstens dadurch, daß das Trommel-
fell sich nicht sofort diesen neuen Druckverhältnissen akkommodiert,
das bekannte Knacken im Ohre, das nach einmaligem Schlucken sogleich
verschwindet. Uebrigens kann man die Absaugung durch langsames
Anlassen der Pumpe so vornehmen lassen, daß ganz allmählich in
456 Sauerbruch,
einigen Minuten der normale Druck auf den gewünschten vermindert
wird. Umgekehrt haben wir es in der Hand, nach Schluß der Ope-
ration den Druckausgleich zwischen atmosphärischer Luft und Kammer-
inneren so allmählich eintreten zu lassen, daß dieses erwähnte Einziehen
des Trommelfells ausbleibt. Jedenfalls tritt durch die Luft-
verdünnung mit Sicherheit nicht die geringste unange-
nehme Wirkung auf den Körper ein.
Eher könnte man die Wärmestauung, die leicht bei dem Auf-
enthalte von 2 Personen in einem so kleinen Räume eintritt, als
unangenehme Zugabe empfinden. Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft
nimmt zu und erschwert unsere Transpiration, aber diese Schattenseite
kommt kaum ernstlich in Frage. Wir sind zu dreien bis 2 Stunden
in der Kammer gewesen und haben keine unangenehmen Wirkungen
der Tempefatur verspürt, und in manchen großen Operationsräumen
wird durch die Dämpfe der Sterilisatoren Temperatur und Feuchtigkeits-
gehalt der Luft kaum geringer sein. Durchschnittlich betrug bei einer
Operation von etwa 1—2 Stunden die Temperatur in unserer Kammer
28^ C. In größeren Räumen, wie z. B. in der Operationskammer der
Klinik, welche im März 1904 fertiggestellt wurde, wo die Lüftung
durch eine große Pumpe bedeutend ausgiebiger ist, können 5—6 Per-
sonen bis zu 2 Stunden sich aufhalten, ohne daß die Temperatur we-
sentlich ansteigt. Uebrigens hat die Wärmestauung auch einen nicht
zu unterschätzenden Vorteil. Die Gefahr der Abkühlung der Pleura
durch die Eröffnung der Brusthöhle wird beschränkt auf geringere Grade.
Der Wärmeveriust fällt fort oder nimmt wenigstens keine größere Aus-
dehnung an. Ferner ist der Feuchtigkeitsgehalt der Luft auch der Ver-
stäubung von InfektionsstoflFen hinderlich^).
Da die Anlage unserer großen Operationskammer wohl für viele
von Interesse ist, will ich an dieser Stelle eine genaue Beschreibung
von der Konstruktion und Einrichtung derselben geben : Die pneumatische
Kammer (Fig. 4) ist ein 14 cbm großer Raum, der nach demselben Prinzip
des oben beschriebenen Holzkastens hergestellt ist. Boden, Decke und
Unterbau sind aus massivem Eisenblech, in der Höhe von 1,30 m be-
ginnt eine Glasbekleidung (s. Fig. 4). Die Längswand des Kastens be-
trägt 2,50 m, die Breite 2,25 m, die Höhe 2,50 m. Alle Verbindungs-
stücke zwischen dem Eisenblech sind luftdicht genietet, außerdem aber
noch mit einem festen Kitt verstrichen. Eine Längswand und die Decke
sind vollständig massiv, dagegen beginnt in der Höhe von 1,30 m ein
Eisengestell, welches so konstruiert ist, daß einzelne quadrätförmige Felder
durch Eisenschienen abgeteilt werden. Diese Eisenschienen tragen
Rinnen und dienen zur Aufnahme von entsprechend großen Glasplatten.
Die Glasplatten sind 12 mm dick und können eine Druckdifferenz von
1) Nach mündlicher Mitteilung des Herrn Geh.-Rat Flügge spielt die
üeberladung der Luft mit Coj keine Rolle bei dem Aufenthalte in ge-
schlossenen Räumen.
Zur Pathologie des ofifenen Pneumothorax etc.
457
ca. 70 mm Quecksilber aushalten. Im Anfange hatten wir große
Schwierigkeiten, die Glasplatten luftdicht in die Rinnen einzusetzen.
Wir hatten mit Gummieinlagen die Abdichtung vorgenommen und
mußten, um den Gummi fest an die Glasplatten anzupressen, von beiden
Seiten die beweglichen Eisenschienen zusammenpressen. Da dieses
Einpressen nicht leicht gleichmäßig gemacht werden kann, wird die
Glasplatte verschieden belastet und springt infolgedessen. Deshalb
haben wir später zum Abdichten ein Gemenge von Glaserkitt, Zement
^rmf//r^l^f^
Dr, t^sckmann*
Fie. 4. Pneumatische Operatiooskammer der chirurgischen Klinik zu Breslau:
Man siät durch die geöffnete Doppeltür in das Innere des Kastens, a Absauge-
öffnung, t Telephon, m Kopfmanschette.
und Mennige benutzt, und erzielten einen zuverlässigen luftdichten Ver-
schluß. Die Kopföffnung, die sich an einer Breitenwand in einer Höhe
von 92 cm befindet, ist von ovaler Form, 35 cm hoch und 50 cm lang
In sie ist eine Doppelgummiraanschette eingesetzt, ähnlich wie wir sie für
Tierexperimente verwandt haben. An der Außenseite der Kammer ist
eine entsprechende bewegliche Kopfstütze (s. Fig. 4) angebracht. Eine
große Bogenlampe, deren Konstruktion aus Fig. 4 ersichtlich ist, ist
luftdicht von oben durch die Decke in die Kammer eingelassen und
sorgt für ausreichende Beleuchtung; außerdem sind im Innern der
Kammer 4 Steckkontakte angebracht, an die wir Glühlampen anbringen
458
Sauerbruch,
Fig. 5. Ventil der pnemnatischeD Kammer der chirurgischen Klinik zu Breslau.
Ha Hahn für Zuführungsluft Hb Hahn für Uebcrdruck. W Wasserleitung, a Ab-
laßhahn.
Zar Pathologie des ofiFenen Pneumothorax etc.
459
K a m m e t*
können. Das Ventil (s. Fig. 5) für die Regelung des Druckes besteht aus
einem etwa 1 m hohen Kupfercylinder von ungefähr 25 cm Durchmesser,
der durch ein Eisenrohr von 12 cm Durchmesser mit der Außenluft in
Verbindung steht. Die Regulierung des Ventils geschieht hier nicht
durch Verschieben eines Rohres, wie bei dem erstem Kasten, sondern
durch Zu- und Ablassen des Ventilwassers. Der Innenraum des Cy-
linders ist zu dem Zwecke mit der Wasserleitung verbunden, außerdem
aber auch mit einem Abflußrohre. Durch einen I Hahn kann ich
das Ventil so mit der Kammer verbinden, daß es auch ffir den Fall,
daß in der Kammer ein Ueberdruck erzeugt wird (s. unten), funktioniert.
Für die Luftverdünnung arbeitet eine Saugpumpe, die bei höchster
Arbeitsleistung in der Minute etwa 300 1 absaugt. Sie wird von einem
Elektromotor von einer Pferdekraft betrieben. Die Pumpe kann als
Saug- und Druckpumpe benutzt werden und ist durch zwei getrennte
Röhrensysteme mit dem Innern des
Kastens verbunden. Ventil, Motor und
Pumpe sind alle vom Innern des Ka-
stens aus zu regulieren. Um allen Even-
tualitäten, die mit dem Versagen des
mechanischen Betriebes zusammenhän-
gen, vorzubeugen, ist außerdem noch
eine zweite, allerdings kleinere. Pumpe
(100 1 pro Minute) aufgestellt, die auch i^iTVi^rir
für Handbetrieb eingerichtet ist. Die
Türe der Kammer in der der Kopföff-
nung gegenüberliegenden Breitenwand
ist 75 cm breit, so daß bequem ein Ope-
rationstisch durchgefahren werden kann.
Um das Verlassen des Raumes während einer Operation zu ermöglichen,
ist vor dieser Tür ein Schleußenraum angebracht von 53 cm Länge und
58 cm Breite im Grundriß (s. Fig. 6). Dieser Raum wird durch eine zweite
luftdicht verschließbare Tür abgeschlossen. Die Abdichtung der Tür er-
zielen wir dadurch, daß wir sie durch einen 8-armigen Hebel gegen den
Türrahmen pressen, der mit einer weichen Gummiplatte bedeckt ist
(s. Fig. 4). Dieser kleine Vorraum ist seinerseits unabhängig von der
großen Kammer mit der Pumpe verbunden und kann genau auf den
Druck, der in der großen Kammer herrscht, gebracht werden, anderer-
seits aber auch unabhängig von der eigentlichen Kammer Atmosphären-
druck au&ehmen.
In unserer großen Operationskammer befindet sich nun der Kopf-
öfhung gegenüber noch ein großer Hohlcylinder, der mit der Außenluft
in Verbindung steht; diese Abänderung fehlt an dem ursprünglichen
Kasten, ist aber meines Erachtens für chirurgische Zwecke am Menschen
unbedingt nötig, und zwar aus folgenden Gründen:
Vorraum
r 77t ü r»
Fig. 6.
460
Sanerbrnch,
Wenn ich, mit Ausnahme des Kopfes, den ganzen Körper unter
Minusdruck bringe und jetzt die Pleurahöhle öffne, so fehlt zwar der
Kollaps der Lunge und die Atmung geht ruhig weiter, aber von selten
der Zirkulation treten Störungen ein. Das Herz, der rechte Vorhof,
speziell die großen Hohlvenen, stehen unter demselben Druck von
— 10 mm Hg wie die Körpervenen. Das StromgefUle, das normaler-
Fig. 7.
Fig. 8.
Fig. 7. Schema der yenöeen Stase bei Unterdruck des ganzen Körpers.
Fig. 8. Schema des Blutkreislaufes bd Unterdrück aosschliefilicii über den
Lungen.
weise zwischen den Körpervenen und dem Herzen besteht, nimmt ab,
oder fällt sogar ganz fort und eine Stase tritt ein (s. Fig. 7).
Diese Stase des Blutes kann nur durch eine Mehrarbeit des linken
Herzens überwunden werden, bedeutet also einen Umstand, der nicht zu
vernachlässigen ist. Während bei meinen ursprünglichen experimentellen
Eingriffen in einem Glascylinder, wo nur der Brustkorb unter Minus-
druck stand, dagegen der übrige Körper sich in der Atmosphäre befand,
niemals eine solche Stase eintrat, sah ich sie des öfteren bei Operationen
Zur Pathologie des ofiPenen Pneumothorax etc.
461
in meiner Kammer. Durch den Cylinder (s. Fig. 4) ermögliche ich die
Beibehaltung der Druckdifferenz zwischen Körpervenen und rechtem
Vorhof (s. Fig. 8). Das Herz bekommt auf diese Weise dieselbe Blut-
menge und kann genau so viel abgeben, d. h. die Zirkulation bleibt
konstant. Auf diese Weise ist die ganze Kammer wirklich weiter nichts,
als eine wesentlich vergrößerte Pleurahöhle. Da der Hohlcylinder sehr
viel Platz wegnimmt und auch seine Anpassung an den Patienten das
Verfahren etwas kompliziert, haben wir jetzt einen einfachen Gummi-
Fig. 9. Lagerung eines Patienten in der Kammer zur Operation nach dem
phyBiologiflchen Unterdruckverfahren.
sack angebracht, in den der Patient mit den Beinen und dem Bauche
bis zum Rippenbogen hineingesteckt wird. Das andere Ende des Sackes
endigt in einen dicken Gummischlauch, der seinerseits mit einem in die
Außenluft mündenden Metallrohr verbunden ist. Um die Aufblähung
des Sackes zu verhindern, wird er mit einem straifen Leinensacke
überzogen. Auf diese Weise läßt sich sehr bequem die Beibehaltung
des Körpervenendruckes erzielen. In 8 Fällen hat sich diese Einrich-
tung bereits tadellos bewährt Fig. 9 gibt die ganze Einrichtung wieder.
Diese große Operationskammer arbeitet genau so zuverlässig wie der
ursprüngliche Holzkasten. Der Patient wird mit dem Kopfe durch die
Kopfmanschette gesteckt, die den Hals ganz lose umschließt. Ich möchte
462 Sauerbruch,
hier betonen, daß eine Reihe von Versuchspersonen (Aerzte und andere
Personen der Klinik), welche in die Lage eines zu Operierenden gebracht
wurden, nicht einmal den leisesten Druck geschweige denn irgend eine
Belästigung empfanden ; irgend welche Binden zum luftdichten Verschluß
sind gänzlich unnötig, so daß von Schwierigkeiten des Abschlusses gar
nicht die Rede sein kann. Es macht bei der Art unseres Betriebes
gar nichts aus, wenn wirklich durch diese Manschette Nebenluft in die
Kammer kommt. Die Pumpe saugt so ausgiebig, daß trotzdem der
Druck konstant bleibt. Die Regulierung durch das Ventil ist bei der
großen Kammer ebenso zuverlässig wie in der kleinen ; es kommt auch
hier kaum zu Schwankungen von 1 mm Hg.
Wir werden weiter unten sehen, daß wir jetzt unter fast physio-
logischen Verhältnissen die Eröffnung der Brusthöhle vornehmen können.
Zu diesem Verfahren gehört ein ziemlich großer Apparat, der nicht
ohne weiteres für ein jedes Krankenhaus zu beschaffen ist, und da die
Methode lediglich auf der Beibehaltung der physiologi-
schen Druckdifferenz zwischen Luftröhren und Pleura-
druck beruht, so lag es nahe, in einfacherer Weise dieselbe herzu-
stellen. Wir haben sehr bald damit begonnen, die Druckdifferenz dadurch
zu erzeugen, daß wir von der Trachea her die Lunge unter konstanten
Ueberdruck setzten, während wir die Operation unter normalem Luft-
druck vornahmen. Der Kopf des Tieres wurde jetzt in die Kammer
gebracht, der Körper blieb draußen, und in der Kammer wurde ein
Ueberdruck von ca. 10 mm Hg hergestellt. Es ergab sich sofort, daß auch
auf diese Weise die Eröffnung der Brusthöhle ohne die Komplika-
tionen eines Pneumothorax möglich war. Diese Umkehr hat auf den
ersten Blick infolge ihrer Einfachheit etwas Bestechendes, sie erspart uns
die große Operationskammer. Der Kopf des Patienten kann in einem
viel kleineren Räume unter Ueberdruck gesetzt werden und wir haben
die Annehmlichkeit, im großen Operationssaal frei hantieren zu können.
Wäre diese Methode meiner ursprünglichen gleichwertig, so wäre sie
ihr vorzuziehen. Auf Grund meiner Experimente (s. unten) bezweifle
ich das, und zwar aus folgenden Gründen :
EiNBRODT (zit. nach Hermann), der eingehende Studien über den
Einfluß der Atembewegungen auf den Blutdruck gemacht hat, beschäf-
tigte sich ebenfalls mit der Wirkung der Atmung verdichteter und ver-
dünnter Luft. Er setzte die Trachea von Hunden mit einem abge-
schlossenen Lufträume in Verbindung, in welchem die Luft verdichtet
wurde; durch eine Hahnvorrichtung konnte dann schnell die Luftröhre
wieder mit der normalen Luft verbunden werden. Ebenso konnte die
Luft dieses Raumes auch beliebig verdünnt werden.
Er beobachtete nun beim Atmen von komprimierter Luft, daß ganz
regelmäßig zunächst mit dem Steigen des Respirationsdruckes auch der
Blutdruck anstieg. Hatte nun der Respirationsdruck eine bestimmte
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax eto. 463
Höhe erreicht, so wurden die Atembewegungen sehr erschwert, und
der arterielle Druck sank merklich, während er in den Venen und
dem rechten Vorhof beträchtlich zunahm. Schließlich erhielt das linke
Herz und das Aortensystem nur sehr wenig Blut, die Pulse wurden
infolge dieser Anämie kleiner, und die Blutdrucklinie wurde eine
gerade Linie. Sobald aber während der Zeit des Bestehens des
positiven Respirationsdruckes eingeatmet wird, nimmt der Blutdruck
vorübergehend wieder zu. Waldenburg (Berl. klin. Wochenschrift,
1873, 40, 41, 46, 47), der sich sehr viel mit der Wirkung ver-
änderter Respirationsluft auf die Zirkulation beschäftigt hat, kommt
auf Grund theoretischer Ueberlegung und Pulsbeobachtung zu dem
Schluß, daß die Einatmung komprimierter Luft den Blutdruck steigert;
und zwar erklärt er diese Erscheinung folgendermaßen : „Bei der In-
spiration komprimierter Luft wird der Druck in den Lungen, der bei
normaler Inspiration ein erheblich negativer ist, verstärkt. Wenn die
Luft hinlänglich komprimiert ist, wird sogar der negative Druck in einen
positiven umgewandelt. Es ist also eine entsprechende Luftkompression
erforderlich, um diesen negativen Druck vollkommen au&uheben, und
eine noch größere Kompression, um denselben in einen positiven zu ver-
wandeln. Indes, gleichviel ob derselbe nur vermindert oder in einen
positiven verwandelt wird, in jedem Falle werden das Herz und die
großen Gefäße bei Inspiration komprimierter Luft entlastet (?) und zwar
in um so höherem Maße, je stärker die Kompression ist, so daß bei ge-
nügend starker Luftverdichtung sogar die Lungen noch einen Druck
auf den im Thorax eingeschlossenen Zirkulationsapparat auszuüben
vermögen. Die Folge hiervon ist:
1) Erhöhung des Druckes im Aortensystem. Der Puls wird ent-
schieden gespannter, selbst hart, während die Inspiration
vollzogen wird.
2) Der Zufluß des Blutes ins Aortensystem wird gesteigert. Der
Puls wird voller.
3) Der Abfluß des Blutes aus den Venen ins rechte Herz wird ge-
hemmt, indem die aspirierende Kraft der Inspiration vermindert ist, oder
fortfallt, oder sogar in eine entgegengesetzte, das Blut zurückdrängende
Bewegung umgewandelt ist. Deutlich erkennt man dies bei der Be-
obachtung des Halses der betreffenden Personen. Ich fand bei In-
spiration komprimierter Luft, daß die Jugularvenen nicht in normaler
Weise zusammenfielen, sondern turgescent blieben, ja sogar bei starker
Luftverdichtung deutlich gefüllt hervortreten.
4) Der vermehrte Ausfluß aus der linken Herzhälfte und der gleich-
zeitig verminderte Abfluß des Blutes aus den Venen in das rechte Herz
bedingt notwendig einerseits eine vermehrte Blutfülle im
großen Kreislauf und dementsprechend einen verminderten Blutgehalt
im kleinen Kreislauf, namentlich in den Lungen.
Mitteil. a. d. Oraaxfebieten d. Medlxln a. Chtrurcie. XIII. Bd. 30
464 Sauerbruch,
5) Was die Pulsfrequenz angeht, so wird diese am wenigsten
erheblich modifiziert; sie schien mir meist deutlich verlangsamt zu
werden.
Exspiration in komprimierter Luft. Schon bei gewöhnlicher Ex-
spiration ist der negative Lungendruck erheblich geringer, als bei der
Inspiration. Es bedarf hier demnach nur einer viel geringeren Druck-
steigerung der Atmungsluft, um den negativen Lungendruck selbst in
einen positiven zu verwandeln. Alle bei der Inspiration beschriebenen
Wirkungen machen sich deshalb bei der Exspiration in komprimierter
Luft noch in viel höherem Maße geltend, oder, was dasselbe ist, schon
geringere Grade der Luftkompression, vermögen eine gleiche Wirkung
auf den Zirkulationsapparat auszuüben, wie höhere Grade bei der In-
spiration ; auch hier zeigt sich:
1) Der Druck im Aortensystem wird erhöht, der Puls wird ge-
spannt und hart.
2) Der Blutzufluß ins Aortensystem wird gesteigert, der Puls wird
voller.
3) Der Abfluß des Blutes aus den Venen wird in hohem Maße
gehemmt, indem au Stelle der Aspiration eine Rückstauung des Blutes
tritt. Die Venen am Halse treten als dicke Stränge hervor, ähnlich
wie bei starken Hustenstößen oder wie beim VALSALVAschen Versuch.
4) Das Blut wird im großen Kreislauf angestaut; der Blutgehalt der
Brustorgane, speziell im kleinen Kreislauf, vermindert.
5) Die Pulsfrequenz wird mehr oder weniger verlangsamt.^
Droschoff und Botschetsghkoff (Centralbl. f. d. med. Wissen-
schaft, 1875, p. 65, 713, 785), die bei Anwendung des Waldenbürg-
schen Apparates den Blutdruck in den Arterien von Hunden gemessen
haben, sprechen sich gegen die Auffassung Waldenburgs aus. Sie
erhielten Resultate, die mit denjenigen Einbrodts fast ganz überein-
stimmten. Ebenso kamen Dugrocq, Cambert, Kuss und Zuntz zu
denselben Resultaten wie Einbrodt (Rollet, Physiol. d. Blutbewegung,
Hermann, Handb. f. Phys.).
Mittelst des Plethysmographen gelangte Basoh auch am Menschen
über die Wirkung des Atmens komprimierter Luft zu Ergebnissen, die
mit denen von Einbrodt übereinstimmen. Trotz der beim Atmen
komprimierter Luft sichtbaren venösen Stauung fand Basoh doch das
Armvolumen kleiner, was seiner Ansicht nach nur durch ein Sinken
des arteriellen Blutdrucks erklärt werden kann.
Es ist nun mit Recht die Wirkung der Atmung komprimierter Luft
mit derjenigen beim Valsalv Aschen Versuch auf den Blutdruck ver-
glichen worden. In der Exspiration ist dieser Vergleich zweifellos ganz
zutreffend; insofern als sich in beiden Fällen aus der Erschwerung
der Ausatmung die Druckwirkungen auf die Zirkulation ergeben (Zu-
nahme des intrapleuralen Drucks und des Drucks auf die Alveolar*
Zur Pathologie des oiFenen Pneumothorax etc. 465
gefäße). Die zahlreichen beim Menschen während der Ausübung des
VALSALYAchen Versuches vorgenommenen sphygmographischen Messungen
haben folgendes ergeben:
Aufblasungen der Lungen eines Tieres unter hohem Druck, Aus-
atmen in komprimierter Luft, der VALSALVASche Versuch beim Men-
schen, haben einen sehr konstanten Einfluß, sowohl auf die Pulskurven-
reihe als auch auf die einzelnen Pulse. Die Höhe der Kurve steigt
allmählich empor, wenn die Luft in den Lungen allmählich komprimiert
wird, rasch und plötzlich, wenn die Kompression plötzlich einsetzt ; die
Pulse werden dann bald stark dikrot, sehr klein, sehr frequent, und
unter zunehmender Kleinheit tritt bei zunehmendem Druck Pulslosigkeit
ein. Wird die Atmung wieder freigegeben, so sinkt die Kurvenreihe
plötzlich wieder herunter, die Pulsgröße nimmt aber nur allmählich zu,
ebenso die Frequenz, und ebenso schwindet nur allmählich der Dikro-
tismus (s. Kurve 11, nach Hermann, Handbuch d. Physiologie).
Kurve 11. Pulskurve von der Badialarterie des Menschen während des Valsalva-
schen Versuches. (Nach Mabey aus Hermanns Handbuch der Ph^rsiologie.) Das
Hervortreten des Dikroüsmus spricht trotz Hebung der Welle für ein Sinken des
Blutdruckes.
Von Rollet ist nun darauf hingewiesen worden, daß an den Puls-
kurven die gesteigerten Abschnitte einen starken Dikrotismus und eine
starke Zunahme der Frequenz zeigten. Er sieht darin einen Beweis
fQr eine bedeutende Drucksenkung mit auffallender Zunahme der Ge-
schwindigkeit des Herzschlages, und glaubt, daß man die Elevation der
Pulskurvenreihe nicht durch eine Zunahme des Druckes in den Arterien
deuten könne. (Weichteile und Muskeln können eine Pelottenerbebung
bewirken.) Selbstverständlich bezieht sich das alles in erster Linie auf
die Atmung bei uneröffneter Pleurahöhle, gilt aber natürlich auch für
die Fälle, wo nur eine Brusthöhle eröffnet ist, wie das in der Praxis
meistens der Fall sein wird. Die ungünstige Wirkung der Atmung
komprimierter Luft betrifft dann in erster Linie die Lunge der uneröff-
neten Seite.
Unsere Versuche über die Wirkung komprimierter Luft auf die
Zirkulation sind nicht sehr zahlreich gewesen ; wir haben sie bei ungeöff-
neter Brusthöhle und bei einseitigem Pneumothorax vorgenommen. Wir
fanden im ersteren Falle stets eine geringe Steigerung des arteriellen
Druckes mit Abnahme der Pulsfrequenz, später ein Sinken mit Zunahme
der Frequenz. Bei höheren Druck werten von 20 — 30 mm Hg und mehr
tritt gleich eine ziemlich starke Erhöhung des arteriellen Druckes ein, die
30*
466 Sauerbrnoh,
meiner Ansicht nach etwas an die dyspnoische Steigerung des Blutdrucks
erinnerte. Eigentümlicherweise war im zweiten Fall (einseitige Eröff-
nung der Brusthöhle) die Rückwirkung auf die Zirkulation auffälliger:
venöse Stase, bald Steigen, bald Sinken des Blutdruckes und deutliche
Verlangsam ung des Pulses mit größeren Ausschlägen (Dyspnoe?).
Die venöse Stase ist leicht zu erklären : durch die Einatmung kom-
primierter Luft wird auf der un er öffneten Seite der Brust die Lunge
stark gedehnt, der intrapleurale Druck nimmt zu und die Aspiration
wird vermindert.
Durch die intrapneumonale Druckerhöhung werden die Alveolargefaße
komprimiert, ihr Querschnitt wird kleiner, der Widerstand größer und
die Zirkulation im kleinen Kreislauf wesentlich erschwert.
Das bedeutet für das Herz schon eine wesentliche Mehrarbeit. Dazu
kommt, daß genau wie bei meinem ursprünglichen Verfahren dadurch,
daß Pleurahöhle und Körperoberfläche unter demselben Druck stehen,
wie wir sahen, die Aspiration des rechten Herzens fortfällt und auf
diese Weise schon eine Komplikation für das Herz entsteht. Zur Not
könnte man diese letztere durch Anbringung eines Hohlcylinders, in
dem ebenfalls ein Ueberdruck erzeugt wird, ausschalten; dann wäre
aber dieses einfache Verfahren schon komplizierter geworden. Die
Störungen des Lungenkreislaufes durch die Wirkung des Ueberdruckes
und die durch die Zunahme des intrathorakalen Druckes bedingte rück-
läufige Stase im rechten Herzen und in den Körpervenen kann man
manometrisch sehr schön nachweisen.
Versuch.
Hund, 7,4 kg. Kopf kommt in den Operationskasten, der Körper
bleibt draußen. Im Kasten wird ein Ueberdruck von etwa 10 mm erzeugt.
Ein Manometer ist vorher in die Vene des Oberschenkels eingebunden.
In dem Augenblick, in welchem das Tier komprimierte Luft atmet, kommt es
ab und zu in der Exspiration zu ganz geringen Schwankungen. Jetzt wird
die rechte Brustseite eröffnet; es entsteht sofort ein positiver Ausschlag
von etwa 6 mm, der anhält.
Ich habe diesen Versuch mit dem gleichen Erfolge bei mehreren
Tieren wiederholt.
Durch die doppelseitige Eröffnung der Brusthöhle wird infolge
des Wegfalles des negativen Druckes in der Pleurahöhle die Erschwe-
rung der Exspiration fortfallen, also die Atmung nicht mehr im Sinne
des VALSALVASchen Versuches behindert sein ; was diesen Punkt angeht,
wäre also eine doppelte Eröffnung eher günstiger.
Man könnte geneigt sein anzunehmen, daß auch dem Unterdruck-
verfahren bei einseitiger Pleuraeröffnung derselbe Uebelstand an-
hafte, insofern als die Lunge der uneröffneten Seite im relativen Sinne
komprimierte Luft atme, dadurch daß der Körper unter Unterdrück
gesetzt wird, während die Lunge unter normalem Druck bleibt. Das
Zur Pathologie des oiSenen Pneumothorax etc. 467
ist nicht der Fall; denn der Unterdruck, der auf dem Thorax lastet,
ist infolge der relativen Unnacbgiebigkeit des Brustkorbes fast ohne Ein-
fluß auf die Pleurahöhle, so daß sich ihr Druck nicht ändert und die
Differenz zwischen Pleura und intrapulmonalem Druck dieselbe bleibt
wie in der Norm,
Selbst bei doppelter Pieuraeröffhung, bei der in beiden Ver-
fahren, bezüglich des inthrathorakalen und intrapulmonalen Druckes
die gleichen Verhältnisse bestehen, ist noch ein wesentlicher Unter-
schied zwischen Unter- und Ueberdruck zu berücksichtigen. Dieser
beruht darauf, daß die Lunge im ersten Falle nicht aufgeblasen, son-
dern durch Aspiration expandiert gehalten wird. Die Alveolargefäße
werden nämlich bei der InsufBation der Lungen zweifellos mehr kom-
primiert. Die Gefäßveränderungen und sekundären Zirkulationsstörungen,
die sich daraus ergeben, habe ich oben bereits besprochen.
Für die Tiere mit ihrem anpassungsfähigen Herzen
und dem widerstandsfähigen Zirkulationssystem mögen
diese groben Störungen weniger in Betracht kommen.
Beim Menschen aber, wo das gesunde Herz schon weit
empfindlicher und das kranke sehr oft solchen Mehr-
ansprüchen nicht gewachsen ist, gehen daraus Bedenken
gegen die Anwendung der Umkehr meines Verfahrens
hervor^).
Daneben kommen noch andere Schwierigkeiten in Frage. In
erster Linie die Narkose. Entweder wird sie von einem Arzte in
einem kleinen Räume vorgenommen, und dann wird dieser durch
die Narkosendämpfe wesentlich belästigt. Dafür haben wir ein ekla^
tantes Beispiel erlebt. Herr Geheimrat v. Mikulicz eröffnete unter
Herrn Dr. Ansghütz' und meiner Assistenz unter Ueberdruck die
Pleurahöhle eines Hundes. Der Kopf des Tieres befand sich in der
von mir angegebenen Abschlußvorrichtung im Kasten, der Körper
draußen. Im Kasten wurde jetzt ein Ueberdruck von 10 mm Hg er-
zeugt, so daß die physiologische Druckdifferenz nach Eröffnung der
Pleurahöhle beibehalten blieb. Das Tier atmete genau wie bei der
ursprünglichen Methode ruhig weiter trotz seines doppelten Pneumo-
thorax. Es ergab sich somit das, was wir erwarteten, nämlich das
ungestörte Weiteratmen bei völlig entfalteten Lungen trotz breiter Er-
öffnung beider Pleurahöhlen. Dagegen stellten sich andere Schwierig-
keiten heraus. Herr Dr. Heile, der in dem Kasten die Narkose vor-
nahm, empfand bereits nach 20 Minuten Beschwerden der Ghloroform-
wirkung. Beim Oeffhen der Kammer strömte uns ein so intensiver
1) Während des Druckes dieser Arbeit ist von Ebllimq (Centralbl. f.
Chir., No. 20) auch betont worden, daß die beiden Methoden, Unter- und
Ueberdruck, nicht gleichwertig sind. Er weist speziell auf Zirkulationsstö-
rungen bei dem Ueberdruckverfahren hin, die er für ziemlich bedenklich hält.
468 Sauerbruch,
Geruch von Chloroform entgegen, daß wir einen längeren Aufenthalt
in einem so kleinen Räume für ausgeschlossen hielten.
Der Aufenthalt in komprimierter Luft wird an sich schon schlechter
vertragen, als der in entsprechender Verdünnung. Verminderung der
Atmungsfrequenz, Zunahme der Tiefe der einzelnen Atemzüge, Herunter-
sinken des Zwerchfells, Hebung der Rippen, das sind die Folgen. Die
Einatmung geschieht schneller, die Ausatmung langsamer; bei längerem
Aufenthalt tritt leichter Kopfschmerz und Atembeschwerden ein (COj-
Retention?).
Nach Vorschlag des Herrn Geheimrat v. Mikulicz kann man sich
dreier anderer Wege bedienen, um das Ueberdruckverfahren praktisch
zu verwerten: eines Taucherhelmes, einer Lachgasmaske oder aber der
Tracheotomie.
Anstatt der Kammer, in der sich der Kopf des Patienten abge-
schlossen befindet, wird eine Art Taucherhelm konstruiert, der am Halse
ebenso dicht abschließt, wie die Gummimanschette der Kammer. In
derselben Weise wie bei der letzteren würde man unter einem ent-
sprechenden Ueberdruck Luft zu- und abführen und zugleich mit der
zuführenden Luft das narkotisierende Gas. Durch eine eingefügte Glas-
platte bliebe das Gesicht des Patienten der Beobachtung zugängig.
Viel einfacher in der Handhabung wäre eine Narkotisierungsmaske,
welche wie die Ansatzstücke bei der Lachgasnarkose Mund und Nase
luftdicht abschließt. Diese müßte auch, wie bei der Lachgasnarkose,
mit einem Luftreservoir in Verbindung stehen, durch das die einzu-
atmende Luft mit dem narkotisierenden Gas gemischt und unter
Ueberdruck den Luftwegen zugeführt würde. Das Ausatmen müßte
natürlich auch unter Ueberdruck geschehen, und zwar durch einen
Abzugsschlauch. Der zu- und abführende Schlauch müßte sich durch
Ventile automatisch öffnen und schließen.
Für die Tracheotomie käme im wesentlichen dieselbe Anordnung
wie bei 2. in Frage. Nur wird die einzuatmende Luft samt dem nar-
kotisierenden Gas nicht durch eine Maske der Mund- und Nasenöffnung
zugeführt, sondern durch eine luftdicht schließende Kanüle unmittelbar
der Luftröhre.
Bei den beiden ersten Methoden verzichtet man auf eine exakte
Kontrolle der Narkose und auf die Möglichkeit, bei Störungen derselben
schnell eingreifen zu können. Man denke nur an Erbrechen während
der Narkose, die Gefahr der Aspiration, ferner Zurücksinken der Zunge
und Glottisverschluß. Es würde also unter Umständen nötig sein, die
Maske bezw. den Taucherhelm zu lüften oder gar zu entfernen, um
die Störung der Narkose zu beseitigen; damit setzt man sich der Ge-
fahr aus, daß durch den Wegfall des Ueberdrucks die Lunge kollabiert
und alle Folgen eines Pneumothorax eintreten. Man könnte durch zwei
Gummimanschetten, die an dem Taucherhelm angebracht würden, aller-
Zur Patholojfie des offenen Pneumothoarx eto. 469
dings die Hände einführen und auf diese Weise Narkosestörungen be-
seitigen. Immerhin bleibt zu bedenken, wie behindert man dadurch
ist und gerade in Fällen, wo ein schnelles Eingreifen so sehr not tut.
Was die Tracheotomie angeht, so ist sie schon deshalb unsym-
pathisch, weil sie eine Operation mehr bedeutet und keineswegs eine
geringe Komplikation in den Fällen ist, wo Lunge und Atmungswege
nicht gesund sind. Ihre Schattenseiten habe ich bei der künstlichen
Atmung ausführlich besprochen.
Schließlich ist der Wärmeverlust, der bei der Eröffnung der Brust-
höhle, wie wir sahen, eine wichtige Rolle spielt auch größer in einem
freien Operationsraume, als in einer geschlossenen Kammer.
Aber diese rein technischen Bedenken treten zurück
gegenüber den physiologischen, die ich für wesentlicher
halte. Die Technik würde sicherlich bald einen Weg finden, diese
Schwierigkeiten zu beseitigen und die Methode praktisch brauchbar zu
machen, wenn die Erfahrung lehren sollte, xiaß meine Bedenken un-
gerechtfertigt sind.
Auf meine Mitteilung in No. 6 des Centralblattes für Chirurgie hin
haben sich auch die Herren Professoren Brauer und Petersen aus
Heidelberg mit der Umkehr meines Verfahrens beschäftigt. Brauer
ist im Anschluß an meine vorläufige Mitteilung unabhängig von uns zu
einer ganz bestimmten Versuchsanordnung für das Ueberdruckverfahren
gekommen. Er tracheotomiert die Tiere, setzt eine T-Kanüle ein und
verbindet das eine Ende mit einer Sauerstoffpumpe, das andere zunächst
mit einer 10 Liter-Flasche und diese dann mit einem Ventil, das
den Druck regelt. Dem Zuführungsrobr kann man dann noch ein
zweites anfügen, das mit einer Flasche verbunden ist, in der sich ein
Narkotikum befindet. Ich habe mich selbst gelegentlich des medizini-
schen Kongresses Leipzig 1904 von der Einfachheit und praktischen
Brauchbarkeit dieses Verfahrens überzeugt und glaube, daß man auf
diese Weise sehr leicht und bequem* zu experimentellen Zwecken eine
Eröffnung der Brusthöhle vornehmen kann. Für praktisch chirurgische
Zwecke aber wird man hoffentlich zunächst bei dem Unterdruckverfahren
bleiben und das Ueberdruckverfahren vielleicht für Notfälle reservieren.
Man bedenke die Annehmlichkeit, in einem freien Raum narkotisieren
zu können ohne die Schwierigkeiten der Luftzuführung, wie sie ja doch
dem Ueberdruckverfahren anhaften. Außerdem halte ich es für
wünschenswert, daß wenigstens für die ersten Ope-
rationen, wo durch unsere mangelnde Erfahrung der
Eingriff an sich schon so viel Komplikationen, die ge-
fährlichwerden können, mitsich bringt, unter möglichst
physiologischen Bedingungen gearbeitet wird; das Unter-
druckverfahren entspricht aber zweifellos mehr den
normalen Verhältnissen.
470 Sauerbruch, ,
Uebrigens hatte ich den Eindruck, als ob die Tiere bei der Ver-
sucbsanordnung des Herrn Prof. Brauer nicht mehr wie bei meinem
ursprünglichen Verfahren regelmäßig wie in der Norm atmeten, sondern
daß infolge der konstanten Sauerstofifzufuhr eine Apnoe erzeugt wurde,
die fQr das Tier die Atmung überflüssig machte. Jedenfalls sah ich
nur in großen Zwischenräumen einige Atemzüge, die mir auch kürzer
und oberflächlicher zu sein schienen als in der Norm. Wegen aller
näheren Fragen verweise ich auf die in diesem Hefte erscheinende
Arbeit Brauers.
Durch eine Mitteilung des Herrn Prof. Korteweg an meinem Chef
wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß schon vor einigen Jahren
die Amerikaner nach dem Ueberdruckverfahren operierten. Die von ihm
angeführten englischen Autoren waren mir bekannt, und ich habe sie
auch bei der Besprechung der künstlichen Atmung berücksichtigt, bis
auf einen (Bryants operative surgery, 3. edition [1900 und 1901 J, Vol. II,
p, 1032). In allen Publikationen wird die große Bedeutung des Fell-
O'DwTERschen Apparates betont: it is an essential part of the operativ
armamentarium, „intended to revolutionaire this field of surgery^.
Wie gesagt, bei der künstlichen Atmung habe ich diese Methode
besprochen, denn da gehört sie hin. Es ist weiter nichts als eine
künstliche Atmung durch rhythmisches Aufblasen der Lunge, die sich
wesentlich von dem „Ueberdruckverfahren^ unterscheidet. Es handelt
sich dort nicht um eine konstante Druckdififerenz, bei der das Tier
aktiv atmet, sondern es wird die Atmungstätigkeit durch den Apparat
ersetzt. Beim Schluß der Wunde haben allerdings die Amerikaner*
übrigens auch Tuffier und Hallion, den Zuleitungsschlauch auf der
Höhe einer Insufflation zugedrückt, wodurch natürlich die Lunge aus-
gedehnt erhalten wird, und der Pneumothorax auf diese Weise beseitigt
wird. Das ist nur auf Sekunden möglich. In gewissem Sinne ist dies
ja auch ein „Ueberdruckverfahren^, das sich jedoch wesentlich von dem
unsrigen unterscheidet.
Nach den Auseinandersetzungen über die Pathologie des Pneumo-
thorax darf das Fehlen jeder Dyspnoe bei Eröffnung der Brusthöhle
bei meinem Verfahren nicht wunder nehmen. Die Hauptgefahren be-
standen ja erstens in der durch den Kollaps bedingten Hyperämie»
ferner dem Wegfall des spezifischen Vagusreizes. Die Lunge bleibt in
ihrem physiologischen Expansionszustande, der die gefährliche Hyper-
ämie derselben verhindert. Der durch die Expansion bedingte Reiz auf
die feinsten Vagusfasern bleibt erhalten ; die andere Lunge arbeitet aus-
reichend für den Luftwechsel, so daß trotz des funktionellen Fortfalles
der Pneumothoraxlunge kein Grund für Dyspnoe und ihre Folgen vor-
liegt. Aber nicht nur, daß diese Komplikationen der Eröffnung der
Brusthöhle beseitigt werden, das Verfahren leistet weit mehr: Das
Ähitml a. d. Qrenx^eh. d. Med, u. CäiV., Bd, Xlll
m p. 471.
Kurve 12. Puls und Atmirngskiirve eineB tTaninfihAna vor and nach der ^^ ^^ ^
Sauerhruch.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 471
Tier regelt seineAtmung nach seinem Atmungsbedürfnis
genau wie in der Norm durch die Exkursionen des Thorax,
soweit er noch vorhanden ist. Beide Lungen beteiligen
sich an der Atmung. Es ist auffällig, wie wenig Einfluß eine schon
ziemlich beträchtliche Resektion der Brustwand auf die AtmungsgröBe
bei konstanter Atmungsfrequenz hat. Bei einer Eröffnung der linken
Brusthöhle eines Hundes von 4,6ö0 kg durch einen Lappenschnitt von
6 qcm Größe konnte ich durch gasometrische Messungen nachweisen,
daß sich die Atmungsgröße nicht geändert hatte: Das Tier atmete vor
Eröffnung während einer Beobachtungszeit von 20 Minuten durch-
schnittlich 600—900 ccm in der Minute. Nach Eröffnung der Brust-
höhle trat als Reflex auf den Operationsschmerz zunächst eine Zu-
nahme von durchschnittlich 800—1100 ccm in der Minute ein; dann ging
die Atmungsgröße auf dasselbe Maß wie vor der Eröffnung zurück.
Bei einem narkotisierten Tiere habe ich eine Eröffnung unter Kon-
trolle von Puls und Atmung der Brusthöhle vorgenommen und gebe
die gewonnene Kurve (12) wieder.
Die Kurven wurden folgendermaßen gewonnen:
In die eröffnete Luftröhre des Versuchstieres wurde eine gewöhn-
liche Kanfile zur Atmung eingebunden; an das freie Ende derselben
wurde ein Gummischlauch gebracht, der ^einerseits mit einer Maret-
schen Trommel in Verbindung stand. In dem Gummischlauche befand
sich nun ein kleines Loch, dessen Größe in einem bestimmten Ver-
hältnis zu dem Querschnitt des Qummirohres stand, und zwar so, daß
die Oeffnung zur Erhaltung einer ausgiebigen Atmung gentigte, anderer-
seits aber immer noch so viel Luft an dem Loche vorbei in das obere
Ende des Schlauches bis zur MARETSchen Trommel gelangt, daß die-
selbe dadurch beeinflußt wurde. Alle Schwankungen der Luftsäule in
der Trachea werden auf diese Weise auf die MARETsche Trommel über-
tragen. Brachte ich nun an den Schreibhebel eine Begistriertrommel,
so konnte ich durch Aufzeichnen dieser Schwankungen ein getreues Bild
der Atmung gewinnen.
Ich war erstaunt, daß überhaupt kaum eine Aenderung eingetreten
ist, mit Ausnahme einer ganz kurzen im Augenblick der Eröffnung
der Pleurahöhle (Kurve 12). Es fiel mir schon im Anfange auf, daß
diese Konstanz der Atmungsgröße keinesfalls durch die Mehrarbeit der
anderen Lunge bedingt sein könne, denn im Gegensatze zu der ge-
wöhnlichen Eröffnung der Brusthöhle kommt es ja bei diesem Ver-
fahren nicht zu jenen Atmungsstörungen, die wir als charakteristisch
für den Pneumothorax kennen gelernt hatten, ich meine: Zunahme der
Frequenz und der Größe der Atmung. Im Gegenteil,, die Atmung
vollzieht sich so ruhig und regelmäßig wie in der Norm. Diese Kon-
stanz der Gesamtatmungsgröße ist auf eine Leistung beider Lungen zu
beziehen. Man sieht, wie gesagt, in der Tat, daß auch die bloßgelegte
472 Sauerbruoh,
Lunge an der respiratorischen Tätigkeit beteiligt ist. Sie schwankt
zwischen Exspiration und Inspiration selbst bei großem Defekt der
Brustwand. Im Anfange war ich auf Grund dieser Tatsachen von einer
spontanen und aktiven Respiration der Lunge überzeugt und wurde in
dieser Auffassung noch dadurch bestärkt, daß selbst nach Wegnahme
des größten Teiles des Brustkorbes die Atmung weitergeht und keine
Störungen eintreten. Es war mir bekannt, daß von vielen Forschern
angenommen wird, daß sich in den kleinsten Bronchen, ja sogar noch
in den Alveolen (Fürbringer) Muskelfasern finden, die einer aktiven
Kontraktion fähig sind. Zudem sind ja die Lungen bei manchen
Amphibien, z. b. den Schildkröten, mit aktiver Beweglichkeit aus-
gestattet. (Nach Untersuchungen von Fano und Fasola nach Her-
mann.) Den Einfluß des Vagus hatte ich bei meinen Versuchen kennen
gelernt, und in Verbindung mit diesen letzten Beobachtungen schien
mir die Deutung dieser aktiven Eontraktionsfähigkeit im Sinne einer
Exspiration und ihr Erschlaffen im Sinne einer Inspiration gerecht-
fertigt. Den ganzen mechanischen Atmungsapparat faßte ich als ein
unterstützendes Moment auf« das, die Expansion der Lungen voraus-
gesetzt, unbeschadet einer ausgiebigen Atmung, fortfallen könnte.
Die logische Folge dieser Auffassung war, daß man von dem Thorax
noch mehr wegnehmen könne ohne Funktionsstörungen der Lunge,
ja daß man auf alle muskulösen Hilfsapparate (Zwerchfell) verzichten
könne. Daraufhin resezierte ich einem Tiere allmählich den Brustkorb
und nahm gleichzeitig eine Atmungskurve auf (Kurve 13).
Diese Kurve zeigt uns sehr deutlich, wie die Atmungsgröße eng ge-
bunden ist an den Grad der Einbuße des mechanischen Atmungsappa-
rates. Mit seiner Verkleinerung ist eng verbunden eine konstante Ab-
nahme der Ausgiebigkeit der Atmung, die meines Erachtens direkt die
Unrichtigkeit meiner ursprünglichen Auffassung beweist. Schon bei a
haben die Ausschläge abgenommen, bei b sind sie bereits sehr gering
geworden, und bei c fehlt jeder Ausschlag des Hebels. Hier treten denn
auch bald Dyspnoe, Krämpfe ein, Erscheinungen, welche die Folge des Aus-
falles der Atmung sind. In dem Augenblick, wo also der ganze
muskuläre Atmungsapparat wegfällt, hörtauch die „spon-
tane^ Atmung auf. Die Lungen bleiben wie zwei aufgeblasene Säcke in
der dem Außendruck entsprechenden Expansionsstellung ohne jede aktive
oder passive Bewegung stehen und sind funktionell dadurch vollständig
ausgeschaltet. Solange noch ein kleiner Rest von mechanischem
Atmungsapparat vorhanden ist, so lange haben wir auch noch Exspi-
ration und Inspiration.
Herr Geh.-Rat Filehne glaubte von vornherein nicht an eine spon-
tane Atmung der Lunge, sondern erklärte ihre scheinbar aktiven Bewe-
gungen rein mechanisch. Auf Grund zahlreicher Beobachtungen habe
ich mich dieser Auffassung angeschlossen und erkläre die Tätigkeit der
Zu p. 472.
Zur Pathologie des offenen Pneomothorax etc. 473
Lunge trotz Wegfall des größten Teiles der mechanischen Hilfsapparate,
wie folgt:
Die expandierte Lunge liegt eng dem Rest des mechanischen Atmungs-
apparates an, so daß sich ihr die geringste Bewegung desselben mit-
teilen muß. Sie ist ein mit einem bestimmten vom Vagus abhängigen
Tonus begabtes Organ, das jedem leisen Drucke nachgibt. Nehmen
wir z. B. an, die Rippen und das Brustbein seien fortgefallen und nur
das Zwerchfell übrig geblieben. Durch die exspiratorische Bewegung
des Zwerchfells wird die Lunge, die der Kuppel desselben eng aufliegt,
zunächst gehoben. Der obere Teil der Lunge kann nicht ausweichen,
die Hebung des Zwerchfells dauert fort, und dadurch wird eine leichte
Kompression der Lunge erzeugt. Bei dieser Kompression wird die
Luft aus dem unteren Teile des Lungenlappens ausgetrieben ; ein Teil
gelangt in normaler Weise durch die Bronchen und die Luftröhre nach
außen, ein Teil geht auf dem Wege der Bronchen in andere frei-
liegende Lungenabschnitte, die infolge der Fortnahme der Brustwand von
jedem mechanischen Drucke frei sind und an der ^Exspiration^ nicht
teilnehmen. Diese Teile werden durch den Exspirationsstrom der unteren
Partien aufgebläht und kommen dadurch in Inspirationsstellung. In dem
Augenblicke, wo die inspiratorische Bewegung des Zwerchfells beginnt,
läßt sein mechanischer Druck auf den unteren Teil der Lunge nach ; der
intrabronchiale Ueberdruck kommt wieder zur Geltung und bläht die
Lunge langsam passiv wieder auf. Bei Tieren kann man sehr schön
sehen, wie diese scheinbare aktive Inspiration in Wirklichkeit in der
Exspiration zu stände kommt. Für den Fall, daß nur kleine Teile des
Brustkorbes weggenommen werden, ist die Atmung ganz normal. Die
Lunge schmiegt sich dem Brustkorbe eng an und folgt seinen Ex-
kursionen auf das genaueste; davon kann man sich sehr leicht über-
zeugen.
Und doch sind Inspiration und Exspiration nicht rein mecha-
nische Vorgänge. Ich erinnere an das oben gemachte Experiment:
Eröffnet man in meiner Kammer auf beiden Seiten die Brusthöhle, und
zwar derart, daß die vordere Brustwand abgetragen wird, so atmet
das Versuchstier ruhig weiter. Durchschneidet man jetzt auf beiden
Seiten die Vagi (siehe obige Versuche), so nimmt im Vergleich zu
vorher die Inspirationsausdehnung der Lunge zu. Diese Vergrößerung
ist ja auch dadurch zu erzielen, daß man ein Versuchstier, das in der-
selben W^eise behandelt ist, tötet, ohne vorheriges Durchschneiden der
Vagi; auch jetzt nimmt das Volumen der aufgeblähten Lunge zu.
Es kann diese vom Vagus abhängige Volumensänderung der Lunge
durch ein Zu- bezw. Abnehmen des Querschnittes der Bronchien oder
der Alveolen bedingt sein, so daß mehr bezw. weniger Luft in das
Innere der Lungen hineinströmen kann. Wo der Einfluß des Vagus
wirkt, ob lediglich auf die Bronchialmuskulatur, für die es von den Physio-
474 Sauerbruch,
logen ja wohl bewiesen ist, oder auch auf die Muskelfasern (?) der
Alveolen, vermag ich nicht zu entscheiden.
Dieser Tonus der Lunge ist bei der Atmung wichtig. Zu jeder
mechanischen Kompression durch das Zwerchfell kommt auf reflekto*
rischem Wege eine Zunahme des Tonus als Folge eines Reizes, den die
mechanische Erregung der feinsten Nervenfasern der Lunge erzeugt
Beim Nachlassen der Kompression tritt neben der Wiederausdehnung
der Lunge durch den Ueberdruck eine Erschlaffnung des Tonus ein,
der wiederum reflektorisch durch Fortfall des mechanischen Reizes zu
erklären ist. Daß dieser Einfluß des Tonus eine Rolle spielt, kann man
durch Durchtrennung des Vagus sehr hübsch nachweisen.
Versuch.
Kaninchen, 8200 g, reine Zwerchfellatmung, Kanüle in der Trachea
mit einer MABEYschen Schreibtrömmel verbunden. Der Zeiger zeigt einen
Kurve 14. Atmungskurve nach DurchBchneiduDg der Vagi. (Nur die ein-
tretende BeschJeuDigung wiedergegeben; das Stadium der Verlangsamung noch nicht
erreicht.)
bestimmten Ausschlag. Nach Durchschneiden des Vagus werden die re-
spiratorischen Schwankungen größer (s. Kurve 14).
Ob dieses durch nervöse Reflexe vermittelte Zusammenwirken der
mechanischen Atmung und der Aenderung des Lungentonus im Sinne
der HERiNG-BREUERschen Auffassung über das Zustandekommen der
Atmung gedeutet werden darf, steht dahin.
Wenn wir bei diesen Versuchen die Beobachtung machen, daß
Tiere nach Eröflfnung der Brusthöhle, ja nach vollständiger Verstümme-
lung des Brustkorbes und einer daraus sich ergebenden minimalen At-
mung ohne Dyspnoe weiter leben und auch sonst die Komplikationen, die
für gewöhnlich die Eröflfnung der Brusthöhle begleiten, wegfallen, so
können wir nur annehmen, daß das Atmungsbedürfiiis ein sehr geringes
ist. Es ergibt sich ferner die interessante Tatsache, daß wir experi-
mentell feststellen können, wieviel Luftwechsel für eine ausreichende
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 475
Arteriellisation des Blutes nötig ist. Man braucht nur allmählich so viel
von dem Thorax wegzunehmen, bis die ersten Zeichen der Dyspnoe
eintreten. Nach meinen Beobachtungen liegt die Grenze nach unten,
bei der die ersten Erscheinungen des Sauerstoffmangels eintreten, etwa
in dem 10.— 12. Teile des normalen Atmungsvolumens. Ein Hund, der
durchschnittlich 700 ccm atmet, kann seine Atmungsgröße ruhig auf'
70 ccm herabsetzen, ohne daß Lufthunger eintritt; Kaninchen scheinen
eine noch geringere Abnahme vertragen zu können.
Versuche.
1) Hund, 3,6 kg, wird in die Kammer gebracht. Atmungsgröße etwa
540. Allmähliche Resektion des ganzen Brustkorbes bis auf Rippenstümpfe.
Allmähliche Abnahme der Atmungsgröße von 540 — 500—440—800 — 220
—180—120—90-85—75—60. Das Tier wird unruhig; die Atmung fre-
quenter, — 50, Krämpfe, — ^30, Exitus letalis.
2) Bei einem Tiere habe ich Brustbein, alle Rippen, Zwerchfell und
schließlich die Bauchmuskulatur fortgenommen, und trotzdem blieb das
Tier am Leben, ja es traten nicht einmal hochgradige dyspnoische Er-
scheinungen ein. Der Ausschlag des Gasometers war sa 0. Das einzige
Moment, das einen zu geringen Gasaustausch anzeigte, war eine geringe
Steigerung des Blutdruckes, der ja, wie wir sahen, eine Folge einer zu
geringen Arteriellisation des Blutes ist. Da das Gasometer keinen Aus-
schlag zeigte, brachte ich die Trachea mit der MARBvschen Trommel in
Verbindung. Die verzeichneten Schwankungen waren kaum wahrzunehmen.
Ich bin geneigt, zu glauben, daß in diesem Falle die geringen
Schwankungen, die durch die Diastole und Systole des Herzens bedingt
sind, für einen zur £lrhaltung des Lebens genügenden Gaswechsel aus-
reichen ^). Ich habe diesen Versuch mehrfach an Hunden wiederholt mit
negativem Ergebnis, dagegen gelang es mir, bei einem Kaninchen genau
so wie in dem beschriebenen Falle, das Leben trotz Wegfall des ganzen
mechanischen Atmungsapparates aufrecht zu halten, und zwar lediglich
durch diese Schwankungen des Lungenvolumens, wie sie durch die
Tätigkeit des Herzens ausgelöst werden.
Dieses auffällig geringe Atmungsbedürfnis bei sonst gut erhaltenen
Funktionen beweist uns nochmals, daß, wie wir oben bei Besprechung
der Pathologie des Pneumothorax schon betonten, nicht der funk-
tionelle Wegfall der Lunge und die daraus resultierende Verminderung
der Atmungsgröße die Störungen herbeiführen können.
Wir kommen jetzt zu einer weiteren wichtigen Tatsache, die sich
bei Experimenten in meiner Kammer ergeben hat, das ist die Möglich-
keit, genauer als bisher den negativen Druck in der Brusthöhle zu be-
stimmen. Ein genauer Maßstab für die bestehende physiologische Druck-
verminderung der Brusthöhle ist das feste Anliegen der Lungenober-
fläche an der inneren Seite der Brustwand. Solange noch ein Raum
1) Vielleicht kommen auch geringe, durch die Tätigkeit der Pumpe
bedingte Luftdruckschwankungen in Frage.
476 Sauerbruoh,
I
zwischen Lunge und Brustwand besteht, solange ist die Druckverminde-
rung in der Kammer noch nicht ausreichend. Für die Exspirationsstel-
lung ist sie wiederum geringer als für die Inspirationsstellung, und
dadurch, daß wir den Druck für beide Phasen so gering machen, daß
die Lunge der Innenwand des Brustkorbes eng anliegt, haben wir die
"Möglichkeit, genau den unter gewöhnlichen Verhältnissen bestehenden
negativen Druck der Brusthöhle zu bestimmen. Es ergibt sich, daß
die bisherigen auf andere Arten gefundenen Werte von den jetzigen
abweichen, und zwar übereinstimmend so, daß sie zu gering angegeben
sind. Es liegt dies zum großen Teil wohl an der Unzuverlässigkeit der
früheren Methoden. Das luftdichte Einführen von Kanülen in die Brust-
höhle durch die Brustwand hindurch ist sehr schwierig trotz aller für
diesen Zweck besonderen Konstruktionen (z. B. das Manometer nach
Bt^DiNOER). Die Messung des Pleuradruckes in der Speiseröhre er-
gibt ebenfalls ungenaue Werte, die von der Kontraktion ihrer musku-
lösen Wand abhängen. Die Maße bei Menschen sind von Donders
zuerst experimentell gefunden worden, und zwar an der Leiche. Er
nahm als Durchschnittswert — 7,5 an. Diese Werte sind von Aaron
am Lebenden nachgeprüft, der einen etwas höheren Druck fand. Nach
unseren Beobachtungen herrscht in der Brusthöhle des Kaninchens ein
negativer Druck von etwa 4—6, bei kleinen Hunden 6—8, bei mittleren
von 7 — 9 und bei großen von 9—15 mm Hg. Beim Menschen scheint
nach unseren bisherigen Beobachtungen das Minimum der Verdünnung
in der Operationskammer 10—15 mm Hg zu betragen.
Wichtig für den Chirurgen, namentlich in praktischer Beziehung,
sind die Pleurareflexe. Ich verstehe darunter den infolge des Eindrin-
gens der Luft in die Pleurahöhle auf die feinsten Nervenendungen aus-
geübten Reiz, der reflektorisch durch ein schnelles forciertes Atmen
mit Sinken des Blutdruckes und Beschleunigung des Pulses beantwortet
wird. Es ist diese Aenderung der Respiration nicht zu verwechseln
mit derjenigen, die beim Pneumothorax eintritt und bei Eröffnung der
Brusthöhle in meiner Kammer ja vollständig fortfällt Der Unterschied
liegt darin, daß beim PneumoÜiorax auch in der Narkose diese Stö-
rungen bestehen bleiben, während sie im anderen Falle verschwinden.
Es erinnert die Form der Atmung sehr an eine Art Husten (Pleura-
husten) oder an das forcierte Atmen, wie es bei Stöhnen und Schreien
auch bei Menschen gelegentlich beobachtet wird: Langes Exspirium
mit Anstrengung aller Hilfsapparate und kurzes ruckweises Inspirium.
In tiefer Narkose habe ich nie diese Aenderung bei Eröfihung der
Brusthöhle beobachten können, weder am Pulse noch an der Form
der Atmung war die geringste Abänderung festzustellen. Sobald aber
die Tiefe der Narkose nachläßt, haben wir sofort mit dem Eintritt
dieser Pleurareflexe zu rechnen, die unter Umständen eine unangenehme
Komplikation bedeuten. Man hat geradezu in der Art der Atmung
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 477
einen Indikator für die Tiefe der Narkose. Ich glaube, daß mehr noch
als beim Tiere beim Menschen diese Reflexe zu berücksichtigen sind,
wie weit, das werden spätere Erfahrungen lehren. Jedenfalls möchte
ich für die Operationen am Menschen eine tiefe Narkose
empfehlen, solange die Pleurahöhle offen ist und Reflexe
durch das Eindringen derLuft und durch die mechanische
Berührung der Pleuraoberfläche ausgelöst werden können.
Nachdem wir gesehen haben, daß dieses Verfahren ohne jegliche
schädliche Rückwirkung auf den Organismus angewandt werden kann,
bleibt uns nur noch übrig, auf einige Vorteile gegenüber der künst-
lichen Atmung einzugehen. Es liegt auf der Hand, daß das intersti-
stielle Lungenemphysem, das wir als direkte Folge des künstlichen Ein-
pumpens der Luft in die Lungen kennen lernten, durch die Art unseres
Verfahrens wegfallen muß. Die fortwährend in normaler Stellung auf-
geblähten Lungen werden genau wie unter physiologischen Verhält-
nissen ausschließlich von dem mechanischen Atmungsapparat, der
Thoraxmuskulatur und dem Zwerchfell bewegt. Dabei werden die phy-
siologischen Grenzen eingehalten und alle Schädigungen des Lungen-
gewebes vermieden. Das für den Operateur hinderliche Schwanken des
Lungenvolumens zwischen vollständigem Kollaps und nötiger Blähung
ist ausgeschlossen.
Der Wärmeverlust, der, wie wir sahen, bei der künstlichen Atmung
ganz besonders groß war, ist bei uns allerdings auch vorhanden, aber
in weit geringerem Maße als dort Ich habe an vielen Tieren nach
vollständiger Resektion des Brustkorbes Messungen von über V2 Stunde
Dauer vorgenommen und nie mehr als Temperaturabnahmen von einem
Grad gefunden. Es hängt wahrscheinlich dieser geringe Wärmeverlust
damit zusammen, daß in der Kammer eine ziemlich hohe Temperatur
herrschte und Luftströmungen nur in geringem Maße vorhanden waren.
Die schädliche Rückwirkung der Eröffnung der Brusthöhle auf die
Zirkulation, die bei künstlicher Atmung besteht, habe ich oben eingehend
besprochen.
Durch mein Verfahren wird an den Druckverhältnissen in der Brust-
höhle gegen die Norm nichts verändert; die Differenz zwischen dem
Druck in der Pleurahöhle und auf ihre Gefäße, und dem Druck im
Lungeninneren und auf die Alveolargefäße bleibt dieselbe. Die Ver-
wendung des oben beschriebenen Hohlcylinders oder besser noch des
Sackes, der es uns ermöglicht, die Körperoberfläche unter dem physio-
logischen Atmosphärendruck zu lassen, gewährleistet auch bezüglich der
Aspiration der Brusthöhle auf die großen Körpervenen physiologische
Verhältnisse. Hier möchte ich noch einmal betonen, daß gerade für
den Menschen die Beibehaltung der normalen Zirkulationsverhältnisse
meines Erachtens ein nicht zu unterschätzender Vorteil meines Ver-
fahrens gegenüber der künstlichen Atmung ist.
478 Sauerbruch,
Für praktische Zwecke springt aber am meisten der Vorteil in die
Augen, daß wir nach Beendigung der Operation nicht mehr mit den
Schwierigkeiten der Pneumothoraxbeseitigung zu kämpfen haben. Wenn
man nach ausgedehnter Eröffnung der Brusthöhle mit Zurückdrängen
der Lunge und Abtamponieren des Operationsgebietes, genau so, wie
man es bei den Laparotomien tnacht, die Operation beendigt hat und
durch Entfernung des Tampons der Lunge Gelegenheit gibt, sich in-
folge des intrabronchialen Ueberdrucks wieder auszudehnen, so ist jeder
Pneumothorax verschwunden. Die Lunge legt sich mit ihrer Ober-
fläche eng an die Innenseite der Brustwand an, so daß jeder Zwischen-
raum zwischen den beiden Pleurablättern beseitigt wird, d. h. nor-
male Verhältnisse entstehen. Es bleibt jetzt nur noch übrig, für
einen sicheren luftdichten Verschluß der Wunde zu sorgen, eine Forde-
rung, die man nach unserer Erfahrung sehr leicht erfüllen kann,
wenn man zuerst die Pleura allein, oder aber, wo diese zu dünn ist,
die Pleura und die Interkostalmuskulatur vernäht und zwar am besten
fortlaufend, und wenn man darüber die Thoraxmuskulatur legt und sie so
vernäht, daß die Nahtlinie seitwärts von der ersten kommt, und schließ-
lich darüber die Haut durch fortlaufende Naht gut verschließt. So hat
man mit dieser Drei-Etagennaht eine wirklich sichere Garantie, daß
sekundär keine atmosphärische Luft in die Pleurahöhle eindringt ; jeden-
falls haben wir bei unseren zahlreichen Operationen am Tier niemals
später einen Pneumothorax beobachtet. Auch für die Fälle, wo eine
primäre Naht der Brustöffnung nicht möglich ist und die Drainie-
rung in Frage kommt, kann man sich vor dem Eintritt eines sekun-
dären Pneumothorax mit Sicherheit schützen. Man braucht nur, wie
Schede es bei seiner Empyembehandlung getan, die Wunde durch
einen luftdichten Verband abzuschließen ; am besten erreicht man diesen
Verschluß durch einen feuchten Verband, über den man noch eine
Lage Billrothbatist oder Guttaperchapapier legt und mit mehreren Mull-
binden fixiert. Einen eventuell nötigen Verbandwechsel müßte man
dann wie die Operation unter Minusdruck vornehmen. Oder aber man
bedient sich einer sehr praktischen Modifikation des PERTHESschen Ver-
fahrens, die Herr Geh.-Rat v. Mikulicz angab, lieber die offene Thorax-
wunde wird ein Glascylinder gestülpt, der oben durch eine Gummikappe
luftdicht geschlossen ist, und mit einer Wasserstrahlpumpe oder einem
MüLLERschen Ventil in Verbindung gebracht werden kann. Am anderen
Ende des Cylinders ist ein breiter Gummikragen angebracht, der sich
luftdicht auf die mit Lanolin bestrichene Haut legt und so einen sicheren
Abschluß gegen die äußere Luft garantiert. Wir haben uns bereits in
zwei Fällen von Lungengangrän mit Erfolg dieses Apparates bedient.
Außerdem haben wir eine Art Taucherhemd herstellen lassen, das auch
luftdicht um die Brust gelegt wird. Im Innern wird dann durch Aspi-
ration ein Minusdruck von etwa 10 mm Hg erzeugt.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 479
Nun noch einige Beobachtungen am Herzen. Zunächst kann man
sehr schön nach der Eröffnung der Brust in der Kammer seine Tätig-
keit beobachten. Die Art seiner Kontraktion, die Lageverschiebung,
die bei seiner Arbeit eintritt, seine Färbung und dergleichen mehr. Da-
rauf möchte ich aber in dieser Arbeit nicht eingehen, sondern nur einige
Tatsachen mitteilen, die für die Chirurgen Bedeutung haben. Zunächst
<iie Verschiebung des Herzens. Es ist eigentümlich, wie weit ich das
Herz zur Seite drücken kann, ohne daß es in seiner Tätigkeit gehemmt
wird; ja eine vollständige Luxation des Herzens aus der Brusthöhle
heraus kann man kurze Zeit versuchen. Das ist wichtig für Eingriffe hinter
dem Herzen (Mediastinum). Ferner wird die Kompression der Aorta und
der großen Hohlvenen auch für eine Zeitlang gut ertragen. Es besteht
allerdings ein wesentlicher Unterschied, welchen Teil der Aorta ich
komprimiere: vor Abgang der Halsschlagadern oder nachher; im ersten
Falle treten schon nach 2 — 3 Minuten Krämpfe ein, die wahrscheinlich
auf den Reiz des kohlensäureüberladenen Blutes auf das Gehirn zurück-
zuführen sind. Im anderen Falle kann man ruhig die Kompression bis
zu einer halben Stunde fortsetzen, ohne daß Störungen entstehen. Sehr
schlecht wird die Kompression der Lungengefäße vertragen. Es tritt
schon nach kurzer Zeit Dyspnoe ein, und im Anschluß daran kommt es
zu Krämpfen. Man kann dabei bemerken, wie das linke Herz, das sich
normalerweise durch seine hellrote Farbe scharf vom rechten abhebt,
immer dunkler wird und wie schließlich eine Farbendifferenz zwischen
beiden Seiten nicht mehr zu erkennen ist. Wenn man mit dem Drucke
wieder nachläßt, so erholt sich das Herz sehr bald; die Frequenz seiner
Tätigkeit und die Größe seiner Kontraktionen nehmen wieder zu, und
die normalerweise bestehenden Farbenunterschiede treten wieder zu Tage.
Ferner kann man beobachten, wie jede mechanische Berührung
des Herzmuskels durch einen ganz kurzen Herzstillstand mit folgender
Beschleunigung der Schlagfolge beantwortet wird. Schon die Eröffnung
des Herzbeutels wirkt in diesem Sinne.
Auch mit anderen physiologischen Fragen habe ich mich be-
schäftigt, auf deren Wiedergabe ich zunächst verzichte; es genügte mir
fürs erste, die physikalischen und physiologischen Grundlagen meines
Verfahrens niederzulegen. Alle speziellen Untersuchungen, denen man
durch dieses Verfahren jetzt näher treten kann, Untersuchungen über
die Herztätigkeit, über die Atmung der Lungen, über Nerveneinflüsse
u. s. w. müssen wir weiteren Arbeiten überlassen.
Ebenso verzichte ich auf eine Wiedergabe unserer chirurgischen
Erfahrungen am Tier, die übrigens Herr Geheimrat v. Mikulicz in
No. 15 und 16 der Deutschen Medizinischen Wochenschrift kurz be-
sprochen hat. Wenn wir erst Erfahrungen am Menschen ^) haben
1) Herr Prof. v. Mikulicz hat bis jetzt 10 Fälle in der Kammer operiert.
Mitten, a. d. OranxivbifltMi d. Medixin a. CUrorgl«. Xm. Bd. S\
480 Sauerbrach,
werden, so soll auch die rein praktisch chirurgische Seite berücksichtigt
werden.
Ich schließe mit dem Wunsche, daß meine Untersuchungen von mög-
liehst vielen anderen nachgeprüft bezw. erweitert werden. Es war in»
Anfang meine Absicht, alle sich ergebenden Fragen experimentell zu
untersuchen und möglichst vollständig dieses neue Gebiet zu behandeln.
Darauf habe ich verzichten müssen, einmal weil ich damit die vorher-
gehende Abhandlung noch weiter hätte herausschieben müssen, haupt*
sächlich aber deshalb, weil einer allein wohl kaum dieser Arbeit ge-
wachsen ist, andererseits man auch wünschen muß, daß möglicht voit
verschiedenen Seiten die Untersuchungen vorgenommen werden. Deir
Herren, die mit großer Ausdauer bei meinen Versuchen assistierten,,
den Kollegen von der Klinik, Herren Dr. Goebel und AnschOtz, und
ganz besonders Herrn Dr. Harms danke ich auch hier. Daß ich die
Arbeit ausschließlich der Anregung des Herrn Geh.-Rat v. Mikulicz
verdanke und sie nur durch die Liebenswürdigkeit von Herrn Geh.-Rat
FiLEHNE zu Ende führen konnte, habe ich schon in meiner vorläufigen
Mitteilung betont. Auch an dieser Stelle danke ich den Herren dafür.
Schließlich möchte ich noch die Ausdauer anerkennen, mit der der Me*
chaniker des pharmakologischen Institutes, Herr Klapper, mich während
des Winters bei dem technischen Teile der Arbeit unterstützte.
Literatur
der im Texte nicht näher angegebenen Arbeiten.
1) Aron, Experimentelle Studien über den Pneumothorax. Virchow»
ArcL, Bd. 145.
2) Bardbkhbübr, Verhandlungen deutscher Naturforscher und Aerzte^
Hamburg 1901.
3) Bardbnheubb-Arnold, Ein Fall von Pneumothorax wegen Fremdkörper^
ehe Eiterung eingetreten. Mitteil. a. d. Orenzgeb. d. Med. u. Chir.^
Bd. 4, 1899, 8. Heft.
4) Blümbnthal, Experimentelle Untersuchungen über den Lungengas-
Wechsel bei den verschiedenen Formen des Pneumothorax. Oes. Arb»
a. d. med. Klinik zu Dorpat, Wiesbaden 1898.
5) Bodingbn, Experimentelle Untersuchungen der normalen und patho-
logisch beeinflußten Druckschwankungen im Brustkasten. Arch. f. exp.
Patholog., Bd. 39, p. 245.
6) Endbrlbn, Ein Beitrag zur Chirurgie des hinteren Mediastinums. Dtsch»
Zeitschr. f. Chir., Bd. 61.
Zur Pathologie des offenen Pneumothorax etc. 481
7) Oarrä u. Sultan, Kritischer Bericht über 20 Lungenoperationen aus
der Rostocker und Königsberger Klinik. Beiträge z. klin. Chirurgie,
Bd. 32.
8) Gilbert et Eooer, £tude experimentale sur le pneumothorax et sur
les röflexes d'origine pleurale. Rev. de mM,, No. 288, Nov. 12,
p. 122.
9) OuTTMANN, Ein Beitrag zur Physiologie und Pathologie der Respiration.
ViRCHOws Arch., Bd. 39, p. 115 S.
10) Hermann, Handbuch der Physiologie.
11) — Lehrbuch der Physiologie,
12) Hnätek, Untersuchungen über die Störungen des Blutkreislaufes und
der Atmung beim Pneumothorax. Allg. Wien. med. Ztg., 1898, p. 267,
279, 301, 813.
13) KsLLiNG, Zur Technik der intrapleuralen Oesophagusresektion. Gentral-
blatt f. Chir., 1904, No. 20.
14) KoENio, Fr., Lungenchirurgie. Handbuch der praktischen Medizin,
Bd, 1, 1898.
16) Kortewbo, Fremdkörper in der Lunge. Weekblad van het Neederl.
Tydschr. voor Oeneeskunde, No. 22, ref. Münch. med. Wochenschr.,
Bd. 4, 1902.
16) Krbhl, Physiologische Pathologie.
17) Kreps, Ueber die Atmungsbewegungen bei den verschiedenen Formen
des Pneumothorax. Oes. Arb. a. d. med. Klinik zu Dorpat, 1898,
p. 413.
18) Lbichtenstbrn, Ueber den Pneumothorax. Zeitschr. f. Biol., Bd. 7,
p. 197.
19) Libvsn, Ueber den Blutdruck bei den verschiedenen Formen des
Pneumothorax. Diss. Dorpat (Karow), 1898.
20) Lbnhartz, Die übrigen Krankheiten der Lunge. Handbuch der prak-
tischen Medizin, 1898.
21) MOllbr, W., Thorax - Lungenresektionen. . Dtsch. Zeitschr. f. Chir.,
Bd. 37.
22) Matas, R., On the management of acute traumatic pneumothorax.
Ann. of surg., Vol. 29, 1894.
28) Quincke, Ueber die Pneumotomie. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med.,
u. Chir., 1896.
24) Reclüs, La Chirurgie du poumon. Bev. de chir., 1895.
25) Rbinbboth, Experimentelle Studien über die Wiederausdehnung der
Lunge bei offener Brusthöhle. Habilitationsschrift Halle, 1897.
26) — Experimentelle Untersuchungen über den Entstehungsmodus der
Sugillationen der Pleura infolge von Abkühlung. Dtsch. Arch. f. klin.
Med., Bd. 65, p. 68.
27) Rodet et Poür&at, Becherches experimentales sur le pneumothorax
par plaie p6n6trante de la poitrine. Arch. de physiolog. mouL et
patholog., 1892.
28) Sackür, Zur Lehre vom Pneumothorax. Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 29,
I u. n.
29) — Weiteres zur Lehre vom Pneumothorax. Virchows Arch., Bd. 150.
30) Sehrwald, Zum Atmungsmechanismus beim offenen Pneumothorax.
Dtsch. med. Wochenschr., Bd. 19, 1889.
31) Tautzk, Ueber den Einfluß der Lungenvagusfasern auf die künstliche
Atmung. Ung. Arch. f. Med., Bd. 1. p. 897—404.
31*
482 Sauerbruch, Zur Pathologie des oflPenen Pneumothorax etc.
32) TuFFiBR et Hallion, Operations intrathoraciques avec respiratoire
arteficielle par insufSation. Gompt. rend. Soc. de Biol., 21. Nov. 1896,
p. 961.
33) — Etüde experimentale sur la Chirurgie du poumon. Sur les eflfets
circulatoires de la respiratoire arteficielle par insufflation et
de rinsuMation maintenue du poumon. Ebenda, 12. Dez. 1896,
p. 1047.
34) — Sur la r^gulation de la pression intra-bronchique et de la narcose
dans la respiratoire arteficielle par Pinsufflation. Ebenda, 19. Dez.
1896, p. 1086.
35) Waldenbubg, Die pneumatische Behandlung der Bespirations- und
Zirkulationsstörungen. Berl. klin. Wochenschr., 1873, No. 46 u. 47.
86) Weil, Zur Lehre vom Pneumothorax. Dtsch. Arch. f. klin. Med.,
Bd. 25.
Aus der medizinischen Klinik zu Heidelberg (Direktor: Geh.-Rat Erb).
Nachdruck Terboten.
XYIIL
Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen
mit Hilfe des UeberdruckverfahrensO»
Von
Dr. li. Brauer,
a. o. Professor in Heidelberg.
(Hierzu 2 Abbildungen im Texte.)
Im Centralblatt für Chirurgie, 1904, Heft 6, gab Sauerbrugh
ein Verfahren zur Ausschaltung der schädlichen Wirkungen des Pneumo-
thorax bei intrathorakalen Operationen bekannt Der Autor bemühte
sich, da die bisher üblichen Methoden der künstlichen Atmung sich als
unzulänglich erwiesen hatten, die schädlichen Folgen des atmosphä-
rischen Druckes auf der Lungenaußenfläche dadurch auszuschalten, daß
er einen entsprechenden negativen Druck in demjenigen Teile des Ope-
rationsraumes herstellte, mit welchem die zu eröffnende Pleurahöhle in
oflfene Verbindung zu treten hat. Zunächst konstruierte Saüerbrügh,
wie er berichtet, einen primitiven Apparat, welcher diesen Anforde-
rungen gerecht wurde. Nach günstigen Erfahrungen bei diesem Vor-
gehen kam der Autor dann zur Konstruktion einer größeren Kammer,
welche einem Operationstische sowie zwei Operateuren Platz bot Dieser
Kammer wurde das Tier resp. der Mensch so eingedichtet, daß der
Thorax innerhalb, der Kopf außerhalb derselben sich befand.
Die Herstellung einer gewissen Luftverdünnung in der Kammer,
welche die Insassen in keiner Weise belästigte, ermöglichte es, die
1) In meinem Aufsätze „Ueber Operationen in der Brusthöhle mit Hilfe
der SAUBRBRucHschen Kammer" in No. 15 u. 16 der Dtsch. med. Wochen-
schrift 1904 habe ich der Prioritätsfrage Erwähnung getan, welche zwischen
Herrn Dr. Sauerbruch und Herrn Prof. Brauer bezüglich des üeberdruck-
yerfahrens, d. h. der Umkehrung des ursprünglich SAUERBRUCHschen Ver-
fahrens, entstanden ist. Ich benutze gern diese Gelegenheit, um ausdrücklich
hervorzuheben, daß durch die uns gegebenen Aufklärungen einwandsfrei
dargelegt ist, daß Herr Prof. Brauer ganz unabhängig und ohne von
unseren dahingehenden Versuchen Kenntnis zu haben, auf die Idee des
Ueberdruckverfahrens gekommen ist und dieselbe technisch durchzuführen
unternommen hat. Es ist kein Zweifel, daß, wenn sich das üeberdruck-
verfahren nicht nur im Tierexperiment, sondern auch für den Menschen
bewähren sollte, dies eine wesentliche technische Vereinfachung der ganzen
Methode bedeuten würde. v. Mikulicz.
484 L. Brauer,
Lungen, auf deren Innenfläche der gewöhnliche atmosphärische Druck
lastete, gebläht zu erhalten.
Die Erfolge, die Sauerbruch mit diesem Verfahren erzielte, mußten
nicht nur den Chirurgen, der von dieser Methode eine wesentliche För-
derung des chirurgischen Vorgehens erhoffen durfte, aufs äußerste fesseln,
sondern auch die Aufmerksamkeit des internen Mediziners speziell im
Hinblick auf experimentell pathologische Untersuchungen erregen.
Die Schwierigkeit des Verfahrens, wie Sauerbruch es in seiner
ursprünglichen Publikation angab, lag nun in der Herstellung der ge-
nannten Kammer, welche es ermöglichte, unter Anwendung eines ge-
wissen Unterdruckes die Lungen gebläht zu erhalten, ganz abgesehen
von den kleineren Belästigungen, über die Sauerbruch selbst be-
richtete und welche selbstverständlich als sekundär leicht in den Kauf
zu nehmen wären. Die Notwendigkeit einer solchen Kammer hätte es
wohl den meisten Physiologen unmöglich gemacht, das an sich so ein-
leuchtende Verfahren zur Anwendung zu bringen. So suchte ich denn
den eigenartigen Gedankengang Sauerbrughs in veränderter Weise zu
technischer Ausführung zu bringen^).
Das prinzipiell eigenartige dessen, was Sauerbruch in der oben-
genannten Publikation brachte, lag in folgendem:
Mit Hilfe der Kammer wurde eine konstante Druckdififerenz zwischen
Außen- und Innenfläche der Lungen hergestellt; hierdurch wurden die
Lungen in demjenigen Dehnungszustande erhalten, welcher ihnen unter
normalen Verhältnissen durch die Elastizität der Thoraxwand aufge-
zwungen wird. Es blieb ferner dem Vermögen des Tieres durchaus an-
heimgestellt, Modus und Schnelligkeit der Atmung selbst zu regulieren.
Diese beiden Bedingungen glaubte ich nun auch dadurch erfüllen
zu können, daß ich die konstante Druckdifferenz mittels intrabronchialer
Druckerhöhung*) herstellte.
Sauerbrugh^) hatte, wie sich später herausstellte, gleichfalls, und
zwar vor mir, mit Ueberdruck Versuche angestellt; er hatte auch im
Verein mit Mikulicz einen weiteren Ausbau dieses Vorgehens in
Ueberlegung gezogen, dieses aber im wesentlichen deswegen nicht
getan, weil er nach seinen Studien über das Verfahren die Anwendung
des Ueberdruckes nicht für so unbedenklich hielt, wie das Unterdruck-
verfahren. „Es kommt — so heißt es in der Publikation von Mikulicz*)
— zwar dabei nicht zu den hohen Druckwerten, wie sie bei der Ent-
1) Bbaubr und Petersen, Ueber eine wesentliche Vereinfachung der
künstlichen Atmung nach Sauerbruch, Hoppe-Seylers Zeitschr. f. physiol.
Chemie, Bd. 41, 1904, Heft 4.
2) Ueber die bisherigen Versuche, die künstliche Atmung der Physio-
logen (rhythmische Aufblähung der Lungen) am Menschen zu verwenden;
siehe bei Garr^ und Quimokb, OrundriE der Luugenchirurgie, p. 45 ff.
3) Centralbl. f. Chir., 1904, No. 14.
4) Dtsch. med. Wochenschr., 1904, No. 15, p. 530.
Die Ausschaltimg der Pneumothoraxfolgen etc.
485
-stehung der verschiedenen Luftdruckerkrankungen in den Caissons beob-
achtet werden. Trotzdem ist es denkbar, daß durch einen schon ge-
ringen Druck in den Atemwegen, zumal bei dem tief narkotisierten Pa-
tienten Zirkulationsstörungen (namentlich in den Lungen) leichter ent-
Fig. 1.
stehen als beim Unterdruck verfahren. Sicher folgt ein Sinken des
arteriellen Blutdruckes und eine Steigerung des Körpervenendruckes."
{Siehe hierzu meine Ausführungen p. 488 ff.)
Das Verfahren, welches ich^) bei der Anwendung des Ueberdruckes
zunächst einschlug und das sich zu Zwecken der experimentellen Patho-
logie mir und anderen vielfach bewährt hat, war das folgende (cf. Fig. 1) :
1) In der Münch. med. Wochenschr., 1904, p. 1172, £ndet sich eine
Diskussionsbemerkung von Kbllinq, in welcher dieser Autor sagt, er
habe schon vor 2 Jahren Versuche über die Chirurgie der Speiseröhre
gemacht und ein Verfahren der künstlichen Atmung ausgearbeitet, welches
im Prinzip dem Verfahren von Braubb und Pbtbrsbn gleicht.
Die diesbezügliche Notiz selbst lautet: Münch. med. Wochenschr.,
1903, p. 310: „Was die Frage der Zugänglichmachung des hinteren
Mediastinums anlange, so halte er (Kbllino) nach eigenen Operationen
am Tiere dieselbe technisch zwar für ausführbar, günstige Resultate aber
durch die stets eintretenden Infektionen für ausgeschlossen. Infolge der
Ansaugung des Gewebes während der Inspiration ist ein Scheitern des
Erfolges unausbleiblich. Nur zwei Wege gibt es, den tödlichen Ausgang
durch Infektion zu verhüten: 1) durch Einatmung komprimierter Luft und
Exspiration gegen Widerstand, und 2) durch Aspirationsdrainage.
Im Centralbl. f. Chir., 1904, No. 20, schreibt Kbllino: „ . . . bei
Operationen im Mediastinum dürfe kein negativer Druck vorhanden sein.
Es müsse im Gegenteil Ueberdruck vorhanden sein, damit die Lymphe
von den Wundflächen, anstatt angesaugt zu werden, abströmt. Zu diesem
JZ wecke müsse die künstliche Atmung so eingerichtet sein, daß bei ihr
gegenüber der gewöhnlichen künstlichen Atmung der Physiologen nicht
nur komprimierte Luft eiugeblasen wird, sondern auch die Exspiration
^egen Widerstand erfolgt. Ich (Kblling) hatte zu diesem Zwecke eine
kleine Kammer benützt mit Ventil und Manometer, welche mit der Trachea
durch eine Tamponkanüle luftdicht verbunden wurde. Es ist ganz das-
486 L. Brauer,
Eine Sauerstoffbombe mit Reduktionsventil liefert in bequemster
Weise die nötige Atemluft und den erforderlichen Druck; daß auch
eine Druckluftquelle, z. B. ein Wasserstrahlgebläse, sich verwenden
läßt, ist selbstverständlich. Die Luftleitung geht von hier zunächst
an ein Y-Rohr und von diesem entweder direkt an ein zweites Y-Rohr
oder durch eine Aetherflasche hindurch und erst von hier aus zu dem
zweiten die Leitungen wieder vereinenden Y-Rohr. Klemmen gestatten
es, der Atemluft entweder den direkten Weg oder den Weg durch
die Aetherflasche vorzuschreiben. Wir haben hier also den bekannten
Narkoseapparat vor uns. Nach Passage dieser Doppelleitung tritt die
Luft an eine T-förmige Trachealkanüle. Diese Kanüle ist so zu ge-
stalten, daß die senkrechte Abzweigung, welche in die Trachea einge-
bunden wird, möglichst kurz ist; das quer verlaufende Rohr ist der
Weite der ganzen Leitung entsprechend zu wählen. Es ist empfehlens-
wert, sich im Laboratorium eine größere Anzahl derartiger Kanülen
bereit zu halten mit verschiedenem Kaliber des Trachealteiles, so daß
man, je nachdem man an Hunden, Katzen oder Kaninchen arbeiten
will, stets die passende Stärke zur Hand hat. Das eigentliche Tracheal-
stück ist möglichst kurz zu halten, damit das Tier, welches bei be-
stimmten Experimenten, speziell bei Ausschaltung größerer Brustwand-
partien nur ein geringes Atemvolumen zur Verfügung hat, dieses nach
Möglichkeit ausnutzen kann und nicht eine allzu große Luftmenge
in dem Kanülenstück nutzlos hin- und herzuschieben hat. Das Lumen
der ganzen Luftleitung ist nicht zu eng zu nehmen; bis jetzt hat sich
ein Querschnitt von 1 cm als brauchbar erwiesen. Unter Umständen
aber dürfte es angezeigt sein, das Leitungsrohr noch weiter zu wählen,
damit in demselben für den Luftstrom keinerlei Hindernis gegeben ist.
Es ist dieses wichtig zwecks Erhaltung eines möglichst konstanten
Druckes in der Leitung. Diesem letztgenannten Zwecke dient auch
ein hinter die Kanüle geschalteter Ballon. Ich wählte hierzu große
Flaschen, gelegentlich z. B. einen alten Aetherballon. Es bestand
hierbei die Absicht, den Kubikinhalt des ganzen Systems nach Mög-
lichkeit zu vergrößern, damit die Druckschwankungen, welche in dem
System durch die Atembewegungen des Tieres hervorgerufen werden,
einen Ausgleich erfahren. Dem Ballon wurde ein Glashahn aufge-
setzt, der es ermöglichte, interkurrent nach Belieben den Druck
im System zum Absinken zu bringen. Es hat sich dieses Vorgehen
selbe Prinzip, welches, nur im Detail verändert, Brauer und Petsrsbn
neuerdings angegeben haben/^
Es dürfte zur Klärung der Sachlage genagen, die Ausführungen
Kellinos in dieser einfachen Weise einander gegenüber zu stellen ; das
Ziel, welches Herr Kblling verfolgte, sowie die Art seines Vorgehens —
80 weit dasselbe nach den kurzen Darlegungen des Autors überhaupt zu
verstehen ist — haben gar nichts mit dem von mir beschriebenen Ueber-
druck verfahren zu tun.
Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen etc. 487
mehrfach als nützlich erwiesen. Es ist möglich, auf diese Weise
temporären Lungenkollaps zu erzielen und nun an den Lungen selber
oder an der Hinterfläche derselben gewisse Eingriffe vorzunehmen,
z. B. das Aufsuchen der im Mediastinum verlaufenden Nerven oder
das Abklemmen einzelner Lungenlappen an ihrer Wurzel etc. Ein
Schluß des Hahnes setzt das System rasch wieder unter den früheren
Druck und bringt die Lunge wieder auf das gewünschte Volumen.
Die Tiere vertragen einen derartigen passageren Lungenkollaps sehr
gut, vorausgesetzt, daß derselbe nicht allzulange anhält.
Neuerdings habe ich an Stelle des Ballons mehrfach folgende Ein-
richtung verwandt ^). In die Leitung wird ein T-Rohr eingeschaltet und
an dem freien Schenkel desselben ein sogenannter Belastungscondom
der Gynäkologen aufgebunden, d. h. ein starkwandiger, ziemlich großer
Gummicondom. Mit Zunahme des Druckes bläht sich der Condom, er
folgt sehr gut allen Druckschwankungen und trägt vermöge seiner
Elastizität sehr viel dazu bei, den Druck im System konstant zu er-
halten, wovon man sich durch Anschaltung eines Manometers leicht
überzeugen kann. Außerdem ist das Verhalten dieses Condoms insofern
instruktiv, als man an den Pulsationen desselben das Einsetzen einer
Atembewegung sieht und ein Urteil über die Größe derselben hat. Es
dürfte somit im ganzen zweckmäßiger sein, den umständlichen Ballon,
wie er sich noch auf der Figur findet, durch einen derartigen Condom
zu ersetzen; es ist auch sehr wohl möglich, mit Hilfe desselben Regis-
trierungen der Atem- und Herzbewegungen vorzunehmen, nur muß
man, falls man dieses zu tun beabsichtigt, ein Druckventil verwenden,
welches der Luft einen kontinuierlichen Abstrom gestattet. Das
Wasserdruckventil läßt die Luft in Blasen brodelnd übertreten und die
hierdurch bedingten geringen Druckschwankungen genügen schon, um
den Gummiballon pulsieren zu lassen. Darüber, daß ein derartiger
elastischer Apparat den Druck konstanter erhält als die größere Luft-
menge in der Flasche, kann wohl kaum ein Zweifel bestehen. Von
diesem druckregulierenden Apparat tritt dann die Leitung zu einem
einfachen Wassermanometer, d. h. einem Glasrohr, das in einem Stand-
gefäß unter Wasser getaucht ist und in bestimmter Lage durch ein
Stativ fixiert wird. Im allgemeinen habe ich mit Hilfe dieses Wasser-
manometers, das zugleich als Druckventil der verbrauchten Luft den
Austritt gestattet, den Druck im System auf etwa 10 cm Wasser er-
halten. In dem ganzen System Ventile und Klappen anzubringen, die
dem Luftstrom einen bestimmten Weg vorschreiben, halte ich für über-
flüssig, wenn nicht gar für verkehrt. Es würde hierdurch 1) nur
wenig Nutzen geschafl'en werden und 2) gar zu leicht bewirkt, daß
bei extremen In- oder Exspirationsbewegungen Druckdifferenzen im
System entständen, die dem Grundprinzip, der konstanten Drucker-
1) cf. die Nebenzeichnung auf Fig. 1.
488 L. Brauer,
haltung, entgegenwirken würden, üeberflüssig ist die Einrichtung des-
wegen, weil es ja so wie so notwendig ist, daß stets neue atembare
Luft zuströmt; diese schafft dann die verbrauchte Luft fort. Im all-
gemeinen genügt es, bei Hunden 2—3 1 Sauerstoff pro Minute durch-
perlen zu lassen, vorausgesetzt, daß die Tiere Pneumothorax haben.
Legt man das System dem Tiere an, bevor ein Pneumothorax gesetzt
wurde, so sieht man, speziell wenn die Narkose eine schlechte ist und
das Tier infolgedessen sehr erregte Atembewegnngen macht, daß die
kleinere Lnftmenge im Zustrom nicht genügt. Das Tier saugt unter
diesen Verhältnissen dem System eine viel zu große Luftmenge durch
die Inspiration ab, es treten sehr ausgesprochene Druckschwanknngen
im System auf, die ihrerseits wieder Dyspnoe bedingen können. Es ist
daher alsdann besser, eine größere Menge Sauerstoff zutreten zu lassen.
Im allgemeinen wird es sich empfehlen, alle vorbereitenden Maß-
nahmen und Operationen an den Tieren vor Anlegung des Ueberdruck-
systems auszuführen und das letztere erst dann anzubringen, wenn der
Pneumothorax tatsächlich droht. Notwendig ist letzteres Vorgehen
aber nicht.
Die Tracheotomie ist durch Längsschnitt in die Trachea vorzunehmen,
und die Kanüle, welche eine Olive trägt, alsdann mit breiterem Bande
der Trachea einzubinden, damit eine möglichst geringe Verletzung der
Trachea stattfindet. Je passender das Trachealende für die Trachea ist,
um so geringfügiger sind Schädigungen, die von dem eingelegten Rohr
abhängen. Bei vorsichtigem Vorgehen läßt sich nachher die Tracheal-
wunde wieder nähen und bedingt in den meisten Fällen für das Tier
keine Schädigung. Bei der geschilderten Anordnung fallen die großen
Druckschwankungen im Bronchialbaum, wie sie bei den bisher üb-
lichen Methoden der künstlichen Atmung erzeugt wurden, fort und damit
auch die Infektionsgefahr, die mit letzterem Vorgehen verbunden war.
Die geschilderte Anordnung hat der Anwendung der Kammer gegen-
über zunächst den Vorteil großer Einfachheit und Billigkeit; sie ge-
stattet zudem, das Tier im ganzen zu übersehen, die Halsgefäße zu
entsprechenden Versuchen zu verwenden etc.
Ich glaube wohl, daß diese Versuchsanordnung sich zu einem
typischen Laboratoriums versuch entwickeln wird, da sie es er-
möglicht, nicht nur bei experimentellen Arbeiten, sondern auch bei phy-
siologischen Demonstrationen die verschiedenartigsten Versuche am Zir-
kulationsapparat und Respirationsystem auszuführen, ohne die vielen
Unbequemlichkeiten der künstlichen Atmung und die dabei oft nötige
Kurarisierung.
An die Frage, wie bei diesem Vorgehen die Ventilation der Lunge
zu Stande kommt, bin ich zunächst nicht herangetreten, da ich die an-
gekündigten Untersuchungen Sauerbruchs über diesen Gegenstand
abwarten wollte. An dieser Stelle möchte ich mich nur darüber äußern,
ob in der Wirkung auf den Zirkulations- und Respirationsapparat zwischen
Die Ausschaltung der Pneumothoraxfblgen etc. 489
dem Vorgehen, wie es Sauerbruch in seiner ursprünglichen Publikation
empfahl, und dem, welches ich eben schilderte, ein wesentlicher Unter-
schied besteht.
Meines Erachtens nach besteht ein solcher Unterschied nicht; so-
bald Pneumothorax besteht, sind die beiden Verfahren ceteris paribus
absolut wesensgleich. Es liegt alsdann in beiden Fällen, wenn ich so
sagen darf, die Lunge auf einem Luftpolster auf und wird von diesem
gebläht erhalten ; es ist in beiden Fällen die Druckdifferenz auf Außen-
und Innenfläche der Lunge, die diesen Effekt hervorbringt, und es
kommt tatsächlich auf das gleiche heraus, ob diese Druckdifferenz er-
zielt wird durch Steigerung des Innendruckes oder Verminderung des
Außendruckes auf den Lungen. In beiden Fällen ist es ein auf
die Innenfläche der Lungen ausgeübter Druck, der die-
selbe gespannt erhält. Ganz anders liegen naturgemäß die Dinge
dann, wenn unter normalen Verhältnissen der Pleuraraum beiderseits
geschlossen ist (siehe hierzu die gewichtigen Ausführungen Tendeloos).
Der sogenannte negative Druck nach Donders stellt keine reale
Saugwirkung auf die Lungenoberfläche dar, wie dieses bei Anwendung
des Unterdruckverfahrens von Sauerbrugh der Fall ist; unter nor-
malen Verhältnissen klebt vielmehr die Lunge dem Thoraxinnenraum
an. Es ist die Adhäsion, die Kapillarität des Pleuraraumes, die die
Lunge an ihrer Stelle erhält; der ^negative Druck^ nach Donders ist
ein virtueller Faktor, der erst dann real zu Tage tritt, wenn zwischen
die beiden Serosablätter Luft eintritt; somit wird unter normalen
Verhältnissen die Lungenelastizität nicht durch ein Drücken der Luft
auf die Innenfläche der Lungen überwunden, sondern durch die Elas-
tizität des Thorax. Es sind die beiden Größen: Zug der Lunge nach
innen, Zug des Thorax nach außen, im Gleichgewicht; die „Dehnungs-
größen^ der beiden Faktoren sind einander gleich, nur tragen sie um-
gekehrte Vorzeichen. Es ist somit unter normalen Verhältnissen nicht
ein Luftpolster derjenige Faktor, welcher die Lunge trägt, sondern es
ist eine direkte Spannung des Lungengewebes durch die eben genannte
Adhäsion dieser dehnende Faktor. Diese Verhältnisse sind wohl zu
merken, denn sie sind von ausschlaggebender prinzipieller Bedeutung.
Sobald wir einen Pneumothorax setzen, durchbrechen wir diese Relation
der Kräfte; wir schaffen alsdann — mögen wir Unter- oder Ueber-
druckverfahren anwenden — beide Male einen prinzipiell anders
gearteten Zustand, ein durchaus anders geartetes Moment für die
Erhaltung des normalen Lungenvolumens. Bei Ueberdruckverfahren,
sowie bei Unterdruck lastet die Lnngenelastizität auf der Innenluft in
den Bronchien, welche unter höherer Spannung steht als die Luft auf
der Außenfläche der Lunge. Ob nun, um Beispiele zu wählen, diese
Druckdifferenz 760—768 oder 752—760 lautet, ist prinzipiell und prak-
tisch vollkommen gleichgültig.
Der Einfluß, den die Saugung im normalen Thorax auf die Zirkulation
490 L. Brauer,
ausübt, fällt bei doppelseitigem Pneumothorax in beiden Fällen gleich-
mäßig aus. Sauerbruch hat die Angabe gemacht, daß in seiner Kammer
dieser Ausfall der Thoraxsaugung dadurch paralysiert werden könne^
daß man auf Bauch und Beine des zu Operierenden den normalen
Atmosphärendruck lasten läßt und nur den eigentlichen Thoraxraum
der Druck Verminderung aussetzt. Zweifellos erfüllt dieses Vorgehen die
Voraussetzung insofern, als dadurch die Körper- und Bauchvenen unter
einen Druck gesetzt werden, der entsprechend höher ist als der Druck,
welcher auf den intrathorakalen Teilen des Zirkulationsapparates lastet
Sollte die Erhaltung dieser Druckdifferenz sich praktisch als notwendig
erweisen oder bei theoretischen Versuchen wünschenswert sein, so ist
dies natürlich in durchaus analoger Weise auch bei dem Ueberdruck-
verfahren zu erreichen; man braucht nur den Bauch und die Beine
des Patienten unter denselben erhöhten Druck setzen, den man auf
der Innenfläche der Lungen zur Anwendung bringt. Dann haben wir
auch in diesem Punkte bei beiden Verfahren die gleichen Verhältnisse.
Das Resultat dieser Ueberlegung führt also dahin, da£ sowohl Unter-
wie Ueberdruckverfahren für die Zirkulation in den Lungen nicht mehr
die normalen Verhältnisse belassen, daß in beiden Fällen Verhältnisse
gesetzt werden, wie wir sie bei einer leichten Aufblähung der Lungen
zu erwarten haben, daß daher in beiden Fällen das Kapillarsystem der
Lungen einer geringen Druckwirkung ausgesetzt wird, die diesem Ka-
pillarsystem bei erhaltenem Thorax nicht zugemutet wird. Beide Ver-
fahren stellen somit leicht pathologische Verhältnisse her. Unter sich
aber sind sie bei doppelseitigem Pneumothorax absolut wesensgleich.
Es ist aus verschiedenen Gründen von der Hand zu weisen, daß
durch die leichte Drucksteigerung, welehe bei beiden Verfahren auf der
Innenfläche der Lungen lastet, eine irgendwie nennenswerte Behinde-
rung der Zirkulation eintritt. Das Zirkulationssystem verfügt über
derartige Ausgleichsvorrichtungen, daß ein Einfluß dieser Spannungs-
änderung auf die Zirkulation und den Blutdruck von vornherein aus-
zuschließen ist. Wie aus zahlreichen bekannten Tierexperimenten her-
vorgeht, sind beide Herz Ventrikel im stände, sich einer vermehrten
Arbeitsleistung ohne weiteres anzupassen; der linke Ventrikel hat
außerdem, wie durch die Versuche von Goltz und Gaule*) und
vielen anderen außer allem Zweifel sichergestellt ist, die Fähigkeit
einer so beträchtlichen Ansaugung, daß derselbe ohne weiteres im stände
ist, den Ausfall derjenigen Förderung, die der Zirkulation sonst durch
die Spannungsverhältnisse im Thorax zu Teil wurde, auszugleichen.
Immerhin ist die geringfügige Drucksteigerung von 8 — 12 mm Hg,
welche nötig ist, um den Lungenkollaps bei lieber- oder Unterdruck
zu verhüten, für den rechten Ventrikel und für die Zirkulation in
1) Siehe die ausführliche Bearbeitung dieser Fragen durch E. Ebstein,
Ueber die Diastole des Herzens, Ergeb. d. Phys., 1904.
Die Aasschaltung der Pneumothoraxfolgen etc. 491
den Lungen so gut wie bedeutungslos. Die beste Orientierung in
dieser Frage ist einerseits aus der zusammenfassenden Arbeit von
DE Jager ^) zu entnehmen, andererseits aus den Arbeiten von Light-
heim*) und neuerdings Tigbrstedt *). Die Arbeit de Jagers be-
schäftigt sich mit der Frage, inwieweit die Durchströmungsmöglichkeit
der toten Lunge durch Lungenkollaps und durch verschiedene Grade
von Lungenblähung beeinflußt wird. Der Autor kommt zu dem Be-
sultate, daß bei stärkerer Lungen blähung (etwa das 2— 4-fache des
Druckes, den wir bei unseren Versuchen benötigen) die Durchströmungs-
geschwindigkeit in den Lungen abnimmt, daß dagegen geringere Druck-
werte dieselbe eher fördern insofern, als die total kollabierte Lunge
dem Blutstrom nicht unbeträchtliche Widerstände bietet. Ist diesen
Untersuchungen zweifellos eine gewisse Bedeutung für die uns hier
interessierende Frage beizumessen, so dürfen dieselben auf der anderen
Seite nicht überschätzt werden, denn die Verhältnisse sind in vivo
doch wohl andere als in diesen toten Lungen. Daß starke Blähungs-
grade die Zirkulation in den Lungen auf das Schwerste schädigen,
darüber kann natürlich gar kein Zweifel sein, ist es doch sogar möglich,
wie aus den Untersuchungen von Tigerstedt und anderen hervor-
gehtr auf diese Weise eine Zirkulationshemmung zu bewirken.
Viel bedeutungsvoller sind für die hier obwaltenden Verhältnisse
die bekannten Untersuchungen von Lichtheim, dessen Ergebnisse von
Tigerstedt bestätigt wurden. Aus beiden Untersuchungsreihen geht her-
vor, daß die Strombahn in den Lungen beträchtlich eingeengt werden
kann, ohne daß dadurch für die Zirkulation nennenswerte Hemmnisse
entstehen; selbst die Ausschaltung einer ganzen Lunge mutet dem
rechten Ventrikel gar keine oder doch nur eine minimale Arbeitsver-
mehrung zu (Tigerstedt, p. 273). Auch die Einengung der Strom-
bahn, welche durch Zusammenfallen der einen (linken) Lunge hervor-
gebracht wird, verursacht in der Regel keine wesentliche Abnahme oder
Zunahme des Blutdruckes in den großen Gefäßen. Die weitgehende An-
passungsfähigkeit des Kreislaufapparates an Hemmnisse, welche in den
kleinen Kreislauf eingeschaltet werden, ist nach den genannten Arbeiten
eine sehr große, und dürften diese Resultate wohl auch dem Chirurgen,
der an den Lungen zu operieren gedenkt, der z. B. ganze Lungenlappen
zu resezieren versucht, von größter Wichtigkeit sein. Wie leicht we-
nigstens im Tierexperiment die Ausschaltung einzelner Lungenlappen
vorzunehmen ist, davon kann man sich leicht überzeugen; man kann z. B.
bei Anwendung des Ueberdruckverfahrens, wie schon oben erwähnt, den
1) DE Jaobr, Ueber den Blutstrom in den Lungen, Pflüobrs Arch.,
Bd. 20, 1879, p. 426.
2) Lichtheim, Die Störungen des Lungenkreislaufes und ihr Einfluß
auf den Blutdruck, Berlin, 1876.
d) TiGBBSTBDT, Ueber den Lungenkreislauf, Skand. Arch. f. Phys.,
Bd. 14, 1903, p. 259.
492 L. Brauer,
Druck im ganzen System abfallen lassen, auf diese Weise passageren
Lungenkollaps erzielen und den einen oder anderen kollabierten Lungen-
lappen an der Wurzel abklemmen (Petersen) und alsdann durch er-
neute Druckerhdhung die übrigen Lungenlappen rasch wieder zur Ent-
faltung bringen.
Eine weitere Frage ist die, ob bei einseitigem Pneumothorax
zwischen Ueber- und Unterdruckverfahren ein wesentlicher Unterschied
besteht. Es ist von Sauerbrüch auf dem Chirurgenkongreß dem
Ueberdruckverfahren entgegengehalten worden, daß bei einseitigem
Pneumothorax durch den Ueberdruck die nicht freiliegende Lunge über-
mäßig gebläht werde und daß durch diesen vermehrten Druck auf der
Innenfläche eine Behinderung der Zirkulation bewirkt werde.
Zunächst ist demgegenüber nochmals auf das hinzuweisen, was so-
eben als Resultat der LiCHTHEiMschen und TiOERSTEDTschen Unter-
suchungen betont worden ist, daß selbst Einengungen des kleinen
Kreislaufes — die weit das Maß dessen übertreffen, was durch das
Ueberdruckverfahren bedingt wird — ohne Schwierigkeiten überwunden
werden, so daß eine derartige Vermehrung des Druckes von 8—12 mm
Hg auf das Kapillarsystem einer Lunge bedeutungslos ist; tagtäglich
haben wir beim Singen, Pressen, Blasen von Instrumenten u. s. w. weit
höhere Druckwerte der Lungeninnenluft zu überwinden. Das wesent-
lichste für die gegenseitige Bewertung von Ueber- und Unterdruck-
verfahren bei einseitigem Pneumothorax liegt aber in folgendem: Es
wurde vorhin schon ausführlich dargelegt, und es sei für diejenigen,
welche sich mit diesen Dingen eingehender beschäftigen wollen, zudem
noch auf die wichtigen Ausführungen Tendeloos^ verwiesen, daß wir
zwischen Lungen- und Thoraxelastizität eine Gleichgewichtslage anzu-
nehmen haben und daß daher die Beeinflussung einer dieser beiden
Elastizitätsgrößen auch in gleichem Maße die andere Größe beeinflussen
muß. Wird eine Thoraxhälfte unter eine Druckerniedrigung von 10 cm
H,0 gebracht, so wird durch diese Druckerniedrigung auf diese Thorax-
hälfte eine recht beträchtliche Zugwirkung ausgeübt. Nehmen wir z. B.
als Höhe der Thorax^ 30 cm an und als Umfang der einen Thoraxhälfte
50 cm, so hätten wir, da auf jedem Quadratdecimeter bei 10 cm Wasser-
druckerniedrigung ein Kilo zieht, 15 kg Zug auf diese betreffende
Thoraxhälfte ausgeübt. Es wird somit die Dehnungsgröße des Thorax
beträchtlich vermindert, der Thorax wird sich erweitern. Bei dem
Ueberdruckverfahren haben wir auf der Innenfläche der Lungen eine
entsprechende Drucksteigerung, durch diese Drucksteigerung wird die
elastische Kraft der Lunge in gewissen Grenzen paralysiert. Dement-
sprechend wird hier ein Teil desjenigen Zuges fortfaUen, den die Lungen-
elastizität sonst auf den Thorax ausübt. Es wird daher auch in diesem
1) Tend£loo, Studien über die Ursachen der Longenkrankheiten.
Bergmann, 1902 u. 1903.
Die Ausschaltung der Pneiimothoraxgefahr etc. 493
Falle die Dehnungsgröße des Thorax kleiner werden, d. h. die betreffende
Thoraxhälfte erweitert sich um ein gewisses Maß und zwar so lange,
bis diese ThoraxhSlfte wieder ins Gleichgewicht kommt zu der restieren-
den Spannung im Lungengewebe. Wir sehen also auch hier Ueber-
und Unterdruckverfahren nicht wesentlich von einander unterschieden.
Endlich sei an das Folgende erinnert. Bei doppelseitigem, ziemlich
ausgedehntem Pneumothorax, bei welchem bei Unter-, sowie bei Ueber-
druck das Gesamtatemvolumen beträchtlich beschränkt ist, finden wir
trotzdem noch eine zur Erhaltung des Lebens vollkommen genügende
Ventilation der Lungen. Bei einseitigem Pneumothorax liegen die Ver-
hältnisse an sich aber viel günstiger, insofern, als die nicht freigelegte
Lunge viel ausgedehnter ventiliert werden kann, als unter obigen Ver-
hältnissen beide Lungen zusammengenommen. Man kann sich hiervon
leicht in jedem Experiment überzeugen. Wir finden eine vollständig ge-
nügende Luftzirkulation in den Lungen schon dann, wenn wir durch Unter-
oder Ueberdruck die Verhältnisse nur so gestalten, daß die Atemfähigkeit
der nicht freiliegenden Lunge in möglichst hohem Grade ausgenutzt
werden kann. Um dieses zu erreichen, brauchen wir aber nicht
Druckwerte, die groß genug sind, um die freigelegte Lunge auf das
volle Normalmaß zu blähen, sondern es genügen weit geringere Druck-
werte. Dieselben müssen nur größer sein, als der In- resp. Exspi-
rationsdruck, den das Tier anwendet. Bei guter Narkose sind diese
Druckwerte gering, und wir sehen dann ohne weiteres in unseren
Experimenten, daß die nur halbgeblähte freiliegende Lunge durch die
Atembewegungen der nicht freiliegenden nur sehr wenig beeinflußt
wird. Bei vollkommenem Lungenkollaps ^ infolge eines einseitigen
nicht korrigierten Pneumothorax liegt die Schädigung für das be-
treffende Tier zum größten Teil nicht darin, daß die kollabierte
Lunge von der Atmung ausgeschlossen ist, sondern in dem Umstand,
daß bei dem einseitigen Lungenkollaps 1) das Mediastinum stark ver-
zogen und verzerrt wird und auf diese Weise auch die nicht affizierte
Lunge teilweise zusammensinkt, und daß 2) bei der Exspiration die
aus der gesunden Lunge ausgeatmete Luft in die kollabierte Lunge
eindringt, diese entsprechend dem Exspirationsdruck bläht, und daß
nun bei der nächsten Inspiration die verbrauchte, in die Kollapslunge
eingepreßte Luft wieder herausgesaugt, resp. gepreßt wird und an erster
Stelle der atmenden Lunge zugeführt wird. Es findet dann ein Hin-
und Herschieben verbrauchter Luft aus einer Lunge in die andere statt,
so daß dadurch die Erstickungsgefahr beträchtlich gesteigert wird. Um
dieses zu verhüten, bedarf es — wie aus vielfachen, bei Garr£ und
Quincke größtenteils referierten Beobachtungen sich ableiten läßt —
aber nicht der vollen Blähung der Lunge, sondern nur einer partiellen.
Im Experiment sieht man bei guter Narkose und dadurch bedingter
1) cf. z. B. GarrA u. Quincke, Gbnmdriß der Lungenchirurgie, p. 40 fP.
494 L. Brauer,
ruhiger Atmung, daß eine Drucksteigerung genügt, die etwa halb so
groß ist, als wie zur vollen Blähung der Lunge nötig wäre.
Ganz anders liegen die Verhältnisse dann, wenn die Narkose
schlecht ist und das erregte Tier infolgedessen gewaltsame, krampf-
hafte In- und Exspirationen macht; in diesem Falle wird sowohl
bei lieber- als auch bei Unterdruckverfahren die freiliegende Lunge
extrem gebläht resp. in unerwünschter Weise leer gesaugt, so daß sich
dann zum Teil Störungen entwickeln, wie sie soeben für den Lungen-
kollaps geschildert wurden. Man kann sich durch entsprechende Ver-
suche aber leicht davon überzeugen, daß die schädliche Wirkung der
forcierten Atembewegungen bei entfalteter Pneumothoraxlunge nie so
groß ist, als wie bei Kollaps dieser Lunge. Hierbei ist es zudem wichtig,
daß eine Störung in der Konstanz der lungenblähenden Druckdifferenz
vermieden wird. Beim ünterdruckverfahren ist diese Konstanz unter
allen Umständen erhalten; bei Ueberdruck dagegen könnte die Druck-
differenz bei ungeeignetem Vorgehen gestört werden, und zwar dann,
wenn das Röhrensystem zu eng gewählt wurde und somit nicht den so-
fortigen Druckausgleich gestattet. Es ist hieraus ersichtlich, wie wichtig
es ist, die Verbindungswege des Systems möglichst weit zu gestalten.
Nachdem wir uns somit durch den praktischen Versuch, sowie die
theoretische Ueberlegung überzeugt haben, daß ein irgendwie
nennenswerter Unterschied zwischen dem Unter- und
Ueberdruckverfahren nicht besteht, sind wir berechtigt, der
Frage näher zu treten, in welcher Weise man das bedeutend einfachere,
die Kammer entbehrlich machende Ueberdruckverfahren für den Menschen
praktisch verwerten kann.
Das Vorgehen, wie ich es vorhin schilderte, wird bei Operationen
am Menschen wohl nur eine beschränkte Verwendung finden, und zwar
deswegen, weil dasselbe unter Anwendung der Tracheotomie vor sich
geht. Dennoch aber wird es auch für den Menschen Bedeutung haben ;
1) kann es dort zur Anwendung gelangen, wo so wie so tracheotomiert
werden muß, 2) wo ein Operieren am Halse notwendig ist, 3) wird
dieses Vorgehen mit Tracheotomie überall da sich einen Platz erwerben,
wo man intrathorakal operieren muß, ohne in der Lage zu sein, die
irgendwie umständlicheren Verfahren heranzuziehen, z. B. in kleineren
Spitälern, die der SAUERBRUCHschen Kammer oder meiner weiter unten
zu schildernden Vorrichtungen entbehren, endlich 4) in allen jenen Fällen,
die der Chirurgie der Notfälle zuzurechnen sind.
Für die Anwendung beim Menschen oder bei größeren Säugetieren
ist aber zu bedenken, daß eine Anordnung, wie die eben geschilderte,
einer gewissen Modifikation bedarf, falls dieselbe dem größeren Atem-
bedürfnis der größeren Tiere genügen soll; eine Luftzufuhr von 5 1
pro Minute, wie sie das Reduktionsventil liefert, dürfte nicht genügen,
auch sind bei der größeren Menge der hin- und hergeschobenen Luft
weitere Röhren zur Erhaltung der konstanten Druckdifferenz erforder-
Die AuBschaltiiBg der Pndumottioraxfolgen etc. 496
lieh. Man wird daher beim Menschen mehrere Sauerstoffbomben neben-
einander schalten müssen oder als Kraft- nnd Atemluftqaelle Gebläse
verwenden mflssen, welche größere Quantitäten Luft liefern.
Die Tracheotomie ist kein unbedingtes Postulat, um das lieber-
druckverfahren in nahezu gleicher Anordnung, wie hier skizziert, beim
Menschen anwenden zu können; es ist ein leichtes, mit den verschie-
densten Maskenapparaten (z. B. einer gut schließenden Waldenburq-
schen Maske oder dem Mundstück des ZxTNTz-GEPPERTSchen Apparates
bei gleichzeitigem Nasenabschluß) einen Menschen unter Ueberdruck
ein- und ausatmen zu lassen. Der Apparat, den ich mir zu diesem
Zwecke konstruierte, lehnt sich an den WALDENBUROschen Apparat zur
Einatmung komprimierter Luft an. Eine einfache Luftpumpe mit Hand-
betrieb oder ein kräftiges Wasserstrahlgebläse liefert die notwendige
Menge Atemluft Dieselbe wird in einem Gasometer gefaßt, welcher
eine beliebige Belastung gestattet und damit — dem gewünschten Druck
entsprechend — die Luft unter Kompression hält. Aus diesem Apparat
führt ein Leitungsrohr von 5 cm Durchmesser, in welchem ganz
leicht flottierende Ventile aus Gondomhaut eingeschaltet sind, dicht an
einer WALDENBtJROschen Maske vorbei; denn auch hier ist, wie oben bei
der Trachealkanüle, darauf zu achten, daß dem die Maske tragenden
Menschen stets frische Atemluft verfügbar ist. Die Ableitung von der
Maske geschieht gleichfalls durch etwa 5 cm weite Rohrleitungen, die
zum Teil aus Gummi bestehen. Den Abschluß bildet wieder ein Wasser-
druckventil. An diesem Apparat haben sowohl ich wie andere bei
einer Druckanwendung bis zu 15 cm Wasser lange und ruhig atmen
können. Bei Anwendung geringerer Druckhöhen ist von einer irgendwie
bemerkbaren Belästigung des Atmenden gar keine Rede, vorausgesetzt nur,
daß stets eine genügende Menge Luft die Maske durchströmt und somit
ganz frische Luft zur Respiration verfügbar ist Selbst bei sehr forcierten
Atembewegungen genügt dieser Apparat zur Erhaltung eines nahezu
konstanten Druckes im System ; die von dem atmenden Menschen rasch
abgesaugte Druckluft entströmt sofort durch die weiten* Röhren dem
Gasometer, während durch die Exspiration im System deswegen eine
nennenswerte Steigerung des Druckes nicht entsteht, weil das Druck-
ventil dem Ausströmen der Luft keine Hindernisse entgegensetzt.
Die Beschaffung eines solchen Apparates, der in technischer Hin-
sicht zweifellos noch besser auszugestalten ist, wird sich aus mehrfachen
Gründen wünschenswert erweisen; bei ungewollten Pleuraverletzungen
wird man mit Hilfe desselben die Lunge so lange gebläht erhalten
können, bis der Schaden wieder ausgeglichen ist; zur Nachbehandlung
von Patienten nach Thoraxoperationen wird man einen solchen Apparat
nötig haben, um Verbandwechsel vorzunehmen, auftretende Nachblu-
tungen zu bekämpfen; endlich dürfte sich diese Anordnung speziell
für die Ausgestaltung und Anwendung des Ueberdruckverfahrens auf
inneren Kliniken, wovon später noch die Rede sein soll, empfehlen.
MittBlL «. d. Ot«Bifebi«ttti d. MedteiD a. Chinirfto. Xm. Bd. Sg
m
L. Örau6f,
Ungeeignet ist ein solcher Maskenapparat dann, wenn der Ueber-
druck längere Zeit unter gleichzeitiger Anwendung der Narkose ein-
wirken soll, wenn somit typische SAUERBRUCHsche Operationen aus-
geführt werden sollen. Sauerbruch hat auf dem Chirurgenkongreß
berichtet, daß er mit Hilfe seiner Kammer üeberdruck zur Anwendung
brachte, indem er den Kopf des zu operierenden Tieres in den Kasten
nahm, den Körper dagegen draußen beließ. Zu Demonstrationszwecken
schien ihm dieses geeignet,
in praktischer Hinsicht aber
deswegen nicht, weil der
Narkotiseur, der sich selbst-
verständlich in diesem
Räume aufhalten mußte,
durch die Narkosendämpfe
in hohem Grade belästigt
wurde. Wenn es vielleicht
auch möglich sein wird,
diesen letztgenannten Fak-
tor zu umgehen, so er-
scheint es mir doch nicht
von praktischer Bedeutung,
und hierin stimme ich
Sauerbruch vollkommen
bei, das Ueberdruckver-
fahren mit Hilfe einer sol-
chen Kammer anzuwenden.
Doch glaube ich, daß in
folgender Weise das Ueber-
druckverfahren verwandt
werden sollte, da man da-
durch alle Vorteile der
SAüERBRUCHschen Idee
auf eine billige und ein-
fache Weise mit Hilfe eines
zudem leicht transportab-
len Apparates sich schaffen
kann. Figur 2 zeigt die Abbildung eines Kastens, welcher ungefähr
Vi cbm Inhalt hat; in diesen Kasten ist nach der Art, wie es Saüer-
BRUCH angab, der Kopf des Patienten unter Verwendung einer Gummi-
manschette einzudichten; der Körper des Patienten bleibt außerhalb
des Kastens. Man kann den Kranken vorher ruhig narkotisieren und
die Manschette erst dann dem Kasten auffügen, wenn die Pneumothorax-
gefahr als dicht bevorstehend zu erwarten ist. Um letzteres zu ermög-
lichen, ist die Krawatte mit einem Blechring versehen, der rasch an den
Kasten angeschraubt werden kann. Ueber dem Gesicht des Kranken ist
Fig. 2.
Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen etc. 497
ein aufklappbarer Glasdeckel angebracht; auch dieser -Deckel wird erst
dann geschlossen, wenn man die Wirkung des Ueberdruckes wQnscht.
Auf diese Weise ist es möglich, alle vorbereitenden Maßnahmen und
Operationen ohne irgendwelche Belästigung des Kranken vorzunehmen;
ebenso kann man, wenn die Pneumothoraxgefahr vorüber ist, den Kasten
wieder entfernen.
Die Druckanwendung und die Narkose ~ beide Maßnahmen
sind streng gesondert voneinander zu betrachten — geschehen wie
folgt: Zur Beschaffung des nötigen Luftdruckes und einer reich-
lichen Durchlüftung des Kastens ist derselbe mit zwei Hähnen ver-
sehen; durch den einen dieser Hähne wird die Druckluft zugeführt,
der andere gestattet derselben den Austritt und führt sie einem Druck-
ventil zu. Je nachdem es sich notwendig erweist, kann man durch
den Kasten verschieden große Luftmengen hindurchführen, so daß
der Patient in dem Kasten nicht nur stets eine genügende Menge
Atemluft verfügbar hat, sondern auch stets eine möglichst reine
Luft atmet, welche frei ist von allen Narkosegasen. Die Narkose-
dämpfe selbst werden durch zwei andere Wege zu- resp. abgeleitet.
Ein den Verhältnissen entsprechend modifizierter RoTH-DRÄOERscher
Chloroformapparat schafft die erwünschte Narkosemischung; diese
Mischung wird unter dem nötigen Druck, den die Sauerstoffbombe
leicht liefert, in den Kasten eingeleitet und mit Hilfe eines Schlauches
direkt in die Narkotisierungsmaske verbracht. Die Maske ist besser-
schließend zu gestalten als jene Masken, die gewöhnlich dem Roth-
DRÄGERschen Apparat beigegeben sind. Sie ist zudem mit einem
Ableitungsrohr und entsprechenden Ventilen zu versehen. Das Ab-
leitungsrohr tritt durch eine besondere Oeffnung aus dem Kasten
heraus gleichfalls an ein Druckventil. Man kann mit Hilfe dieses
Apparates dem Kranken das gewünschte Chloroformgemisch oder nach
Umständen auch reinen Sauerstoff' reichen. Die etwas besser schlie-
ßende Maske sowie das Ableitungsrohr haben dafür zu sorgen, daß
die Luft im Kasten selber möglichst wenig tiiit Chloroformgasen in-
fiziert wird; es läßt sich letzteres außerdem noch dadurch erreichen,
daß man das Druckventil, durch welches die Narkosedämpfe abströmen,
etwas niedriger stellt als jenes Ventil, durch welches die Kastenluft
aus dem System heraustritt, so daß sich auf diese Weise die Luft im
Kasten eher unter die Maske drängen wird und die Narkosedämpfe
heraustreibt, statt sie in den Kasten herübertreten zu lassen.
Um die Hantierungen, welche bei der Narkose nötig sind, zu er-
möglichen, ist der Kasten mit seitlichen Oeffiiungen versehen, denen
Gummimanschetten angedichtet sind. Durch diese Gummimanschetten
führt der Assistent beide Arme luftdicht ein. Bei dem Modell, wie es
die Figur 2 darbietet, ist es leicht, die erforderlichen Maßnahmen an
dem Kopf des Patienten vorzunehmen, da die Manschetten so gestaltet
sind, daß sie ausgiebige Armbewegungen gestatten; sollte dennoch be-
S2*
498 L. Brauer,
fGlrchtet werdra, daß die Narkose unter den genannten Verhältnissen nicht
mit genügender Sicherheit geleitet werden könne, so wäre es zu em-
pfehlen, an der gegenüberliegenden Seite des Kastens zwei weitere
derartige Armöffhungen anzubringen und so eine Unterstützung des
Narkotiseurs durch einen zweiten Assistenten zu ermöglichen. Der
ganze Kasten ist einem Gestell aufgesetzt und kann in verschiedene
Höhen und Lagen gebracht werden. Ein Versuch bat mich überzeugt,
daß es sich in dem beschriebenen Kasten sehr wohl aushalten läßt.
Die nötige Druckluft liefert eine Luftpumpe oder ein starkes Wasser-
strahlgebläse.
Es ist von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, daß es mit diesem ein-
fachen Apparat, der ja sicherlich noch in vielfacher Hinsicht zu ver-
bessern und praktischer zu gestalten ist, möglich ist, das Saübrbrügh-
sche Operationsverfahren auch denjenigen zugänglich zu machen, welche
nicht in der Lage sein werden, sich die große Kammer zu beschaffen.
Ob ein solcher Kasten die große Kammer vollkommen ersetzt, da-
rüber kann erst die praktische Erfahrung das Urteil fällen; für viele
Operationen aber wird der Kasten zweifellos vollkommen genügen. Für
manche Fälle dürfte er deswegen wertvoller sein, weil er ungeheuer
leicht zu transportieren ist, so daß vielleicht gerade der Kriegschirurg
bei der Behandlung von Brust- und Herzschüssen sich seiner wird be-
dienen können.
Das von Saüerbrugh beschriebene Vorgehen, sowie die eben ge-
geschilderte Modifikation dürften nicht nur der experimentellen Patho-
logie und der Chirurgie f5rderlich sein, sondern auch die innere Medizin
wird daraus Nutzen ziehen können.
Der Maskenapparat, der im vorhergehenden beschrieben wurde,
und dessen Verwendung in der Chirurgie wohl nur eine beschränkte
sein kann, wird in der inneren Medizin Berücksichtigung erwarten
dürfen. Zunächst ist in Aussicht genommen, mit Hilfe desselben den
tuberkulösen Pneumothorax und dessen Dyspnoe, sowie den Pneumo-
thorax bei Empyemoperation in Behandlung zu nehmen. Da ich zur Zeit
mit diesbezüglichen Versuchen beschäftigt bin, so seien an dieser Stelle
nur die leitenden Gesichtspunkte kurz skizziert und damit die Anregung
gegeben, auch anderorts derartige Versuche aufzunehmen.
Es ist bekannt, daß eine Reihe sehr wichtiger Untersuchungen sich
mit der Frage befaßt haben, auf welche Weise die Wiederausdehnung
der kollabierten Lunge nach Empyemoperaüonen zu stände komme und
wie diese Wiederausdehnung möglichst zu fördern sei. Die Arbeiten
von Schede, Reinbboth und Perthes sind an erster SteUe zu nennen.
Im Hinblick auf die die Literatur in ausführlicher Weise wiedergebende
Arbeit Schedes ^) erscheint es überflüssig, an dieser Stelle die nidbt ganz
1) Siehe Sghbdb, bei Pbntzoldt u. STiNTzmo, Handbuch der speziellen
Therapie, Bd. 3. Hierselbst ausführliche Literatm*angaben.
Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen etc. 499
einfache Frage nochmals eingehend zur Darstellung zu bringen. Der
wesentlichste Faktor, der nach den genannten Arbeiten für die Wieder-
ausdehnung der kollabierten Lunge verantwortlich zu machen ist, liegt
in der jeweiligen Bl&hung der kollabierten Lunge bei der Exspiration
und speziell während stärkerer Hustenstöße. Diese Kräfte führen
in unkomplizierten Fällen mit der Zeit meist zu tadeUoser Wieder-
ausdehnung der kollabierten Lunge und damit zu vollständiger Aus-
heilung des Pneumothorax. Nicht selten dagegen gelingt dies nicht, es
treten alsdann jene Schwierigkeiten auf, welche Perthes die Veran-
lassung gaben, seine Aspirationsmethode auszuarbeiten. Diesen Fällen
gegenüber wird das üeberdruckverfahren von Nutzen sein. Schon
Schede hat empfohlen, zur besseren Blähung der kollabierten Lunge
die Patienten gegen komprimierte Luft ausatmen zu lassen, weil hier-
durch die exspiratorische Blähung der Lunge gefördert werde. Es
dürfte nun ratsam sein, dieses Vorgehen so auszudehnen, daß nicht nur
gegen komprimierte Luft ausgeatmet wird, sondern daß man auch die
Inspiration sich unter denselben Druckverhältnissen vollziehen läßt, daß
mit anderen Worten die kranke Lunge durch konstante Druck-
erhöhung möglichst gebläht erhalten wird. Diesem Zwecke aber
vermag der oben geschilderte Maskenapparat in einfachster Weise zu
genügen. Bei Anwendung desselben muß vermieden werden, allzu
hohe Druckwerte zu erzeugen, vielmehr ist es ratsam, mit einer Druck-
steigerung von wenigen Zentimetern Wasser zu beginnen; schon hier-
durch wird, wie man am Tierexperiment sehen kann, die Lunge ziemlich
beträchtlich gebläht. Keinesfalls dürfen Druckwerte in Anwendung
kommen, die höher sind, als der normalen Druckdififerenz entsprechend.
So ein&ch wie die Indikationsbedingungen für die Anwendung
konstanten Druckes bei Operationspneumothorax liegen, liegen sie bei
der Behandlung des „inneren" Pneumothorax nicht. Dennoch steht es
aber wohl außer Zweifel, daß das Üeberdruckverfahren uns die Veran-
lassung sein muß, auch die bisherigen Behandlungsmethoden dieses
„inneren" Pneumothorax (speziell bei Lungentuberkulose) zu revidieren
und in Anlehung an bereits vorhandene Untersuchungen dasselbe weiter
auszubilden.
Dem vielfach üblichen exspektativen Verhalten bei Pneumothorax
der Phthisiker ist schon von verschiedener Seite entgegengetreten
worden, besonders die Arbeiten von ünverricht^, Aron*) und
Pichler^) bringen diesbezügliche Angaben und verfechten zum Teil
den Standpunkt, daß bei bestimmten Formen von Pneumothorax mit
Anlegung von Thoraxfisteln resp. BÜLAUscher Drainage vorzugehen ist.
1) Unvbrricht, Handb. d. prakt Medizin (Ebstein u. Schwalbb),
Bd. 1; femer: Dtsch. med. Wochenschr., 1896, p. 349.
2) Aron, Zur Behandlung des Pneumothorax. Dtsch. med. Wochen-
schrift, 1896, p. 677; femer: Virchows Arch., Bd. 126 u. 131.
3) PiCHLBR, Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 59, p. 490.
500 L. Brauer, Die Ausschal tuog der Pneumothoraxfolgen etc.
Dem Ueberdruckverfahren dfirfte hier zweifellos die Aufgabe zufallen,
diese dort geschilderten Methoden ausgestalten zu helfen und brauch-
barer zu machen. Das Ziel, welches wir bei unserem Vorgehen vor
Augen behalten müssen, ist ein mehrfaches. In erster Linie ist zu er-
streben, den verderblichen Folgen des Lungenkollapses und der Media-
stinalverdrängung vorzubeugen.
Bei „Pneumothorax acutissimus'' empfahl Unterricht eine Brust-
wandfistel anzulegen und diese alsdann durch entsprechende Ein-
richtungen dauernd offen zu erhalten; es sollte hierdurch der starken
Drucksteigerung im Pneumothoraxraum und damit der Mediastinalver-
drängung entgegen gearbeitet werden. Unterricht ist fernerhin der
Meinung, daß durch dieses Vorgehen auch eine völlige Ruhigstellung
der Lungenfistel erzielt werde und daß diese daher rascher zur Aus-
heilung gelangen kann. Mir erscheint es zweifelhaft, ob man mit diesem
Verfahren in der Tat diese Ruhigstellung der Lungenfistel erreicht.
Schon bei normaler Exspiration bläht die gesunde Lunge die kolla-
bierte etwas auf. (Siehe hierüber die oben zitierten Ausführungen
Schedes und anderer.) Speziell bei stärkeren HustenstöBen ist eine
derartige vorübergehende Aufblähung der Lunge unvermeidlich. Da
nun somit eine wirkliche Ruhigstellung der Lunge doch nicht durch
dieses Verfahren erreicht wird, so dürfte es empfehlenswert sein, das-
selbe mit vorsichtiger Anwendung des Ueberdruckverfahrens zu kom-
binieren und so die Lunge der kranken Seite dauernd in einem
leichten Zustande der Blähung zu halten. Das wäre jedenfalls auch
für die nachmalige völlige Wiederausdehnungsfähigkeit der Lunge von
Bedeutung. Eine mäßige Blähung der kranken Lunge stellt diese ohne
Zweifei ruhiger als völliges Kollabierenlassen und zwar deswegen, weil
erstens durch die mäßige Anwendung des Ueberdruckes der gesunden
Seite ein besseres Atmen ermöglicht wird, so daß die forzierten dyspno-
ischen Atembewegungen in Fortfall kommen und weil zweitens die je-
weilige Blähung in der Exspirationsphase und der Kollaps in der Inspi-
rationsphase bei der bereits gespannten Lunge beträchtlich geringer
sind, so daß dem berechtigten Postulate Unverrichts nach Ruhig-
stellung der Lunge in höherem Grade Genüge geleistet wird. Daß bei
bereits geschlossener Lungenfistel eine langsam zunehmende Blähung
der Peumothoraxlunge mit nachfolgendem Verschluß der Thoraxfistel
unter Umständen von heilsamster Wirkung sein kann, darüber dürften
kaum Zweifel bestehen.
FromnuuiBtche Bochdrackn«! (Hermanii Fohle) !■ Jena. — 2674
Nachdruck verboten.
XIX.
lieber die diagnostische und therapeutische
Bedeutung der Lumbalpunktion').
Von
D. Gerliardti
a. 0. Professor in Erlangen.
Die einfachste Verwertung der Lumbalpunktion zu diagnostischen
Zwecken ist die Berücksichtigung des im Rflckenmarkskanal herrschenden
Druckes.
Einen ungefähren Maßstab dafflr gibt die Schnelligkeit, mit welcher
die Flüssigkeit sich durch die Hohlnadel entleert. Daß sich das mit
der wirklichen Drucksteigerung nicht absolut deckt, daß insbesondere
langsames Abfließen sehr wohl bei meßbarer Drucksteigerung vorkommen
kann, sei gern zugegeben. Indes wird der Schluß, daß auffallend rascher
Abfluß auf vermehrten Druck hinweist, in der Regel zutreffen.
Genaueren Einblick ergibt die Druckmessung. Sie wird wohl
von den meisten Untersuchern in der einfachen, von Quincke vor-
geschlagenen Weise ausgeübt, daß man die Punktionsnadel mit einem
Steigrohr verbindet und mit dem Maßstabe die Druckhöhe mißt. Es
ist richtig, daß hierbei ein Fehler unterläuft, weil das Abfließen der ins
Steigrohr übertretenden Flüssigkeit natürlich eine Veränderung des ur-
sprünglichen Druckes zur Folge hat, indes hat die exaktere Messungs-
weise von WiLMS *) doch jenen einfacheren Modus nicht zu verdrängen
vermocht. Beim normalen Erwachsenen schwankt die Höhe d^s Druckes
im Arachnoidalraum nach Quincke zwischen 4 und 13, nach Krönig
zwischen 6 und 15 cm Wasser (5—12 mm Hg.).
Steigerung des Druckes findet sich regelmäßig während forcierter
Exspiration (wohl infolge Anschwellung der periduralen Venenplexus),
1) Referat, erstattet auf der 29. Versammlung südwestdeutscher Neuro-
logen und Irrenärzte zu Baden-Baden.
2) WiLMB, Münch. med. Wochenschr., 1897.
. d. OnnscBMfltan d. Madtxin a. Ohinirite. ZIIL Bd. 33
502 D. Gerhardt,
deshalb auch während aller Krampfzustände, so bei epileptischen, ur-
ämischen Krämpfen, aber auch gelegentlich bei allgemeiner Stauung
infolge von Herzschwäche.
Drucksteigerung bei Ausschaltung dieser Fehlerquellen weist auf
abnorme Flüssigkeitsmenge, auf entzündliche Vorgänge im weitesten
Sinn oder auf raumbeengende Prozesse im Zentralnervensystem (Tu*
moren, Blutungen) hin.
Notwendige Voraussetzung hierbei ist die freie Kommunikation von
Hirn- und Rückenmarkshöhle und natürlich eine gewisse Dünnflüssig*
keit des Liquors, sowie Zugänglichkeit des Subarachnoidalraumes für
die Kanüle. Die beiden letzteren Momente können bei schwer ent*
zündlichen Prozessen im Bereich der Pia mater spinalis, das erstge-
nannte bei Verklebung von Ependym oder Arachnoideamaschen oder
bei Kompression durch Geschwülste, zumal Geschwülste in der hinteren
Schädelgrube, vereitelt werden (Stadelmann). Man darf deshalb aus
dem Ausbleiben der Drucksteigerung nicht ohne weiteres auf normale
Druckverhältnisse in der Schädelhöhle schließen.
Feinere Beobachtung des Druckes erlaubt unter Umständen, noch
weitere diagnostische Schlüsse zu ziehen. Niederer Druck im spinalen
Liquor neben anderweitig festgestellter Drucksteigerung im Schädel
(Hirndruckerscheinungen, namentlich StauungspapiUe) macht es wahr-
scheinlich, daß die Kommunikation zwischen Schädel- und Rückenmarks-
höhle unterbrochen ist, und spricht nach Quincke, falls das ganze
Krankheitsbild auf einen Hirntumor hinweist, dafür, daß der Tumor im
hinteren Teil des Schädels sitzt Hoher Druck bei Beginn der Punktion^
aber auffallend rascher Abfall nach Abfluß von wenigen Kubikcenti-
metern deutet nach Noelke ^) darauf hin, daß die vor der Punktion
noch bestehende Kommunikation beider Höhlen während des Ausfließen»
verschlossen wurde, also vorher verengt war. Krönio^) benutzt zur
Erkennung der offenen Verbindung beider Höhlen die pulsatorischen
Druckschwankungen des Liquors; Fehlen dieser Schwankungen soll
auf Störung dieser Verbindung hinweisen. Wilms^) sah bei einer
sehr gefäßreichen, in den Seitenventrikel hineinragenden Hirngeschwulst
abnorm große Pulsschwankungen des Liquors.
Hoher Druck mit relativ leichten klinischen Erscheinungen spricht
nach Quincke für chronische, mäßige Druckhöhe neben beträchtlichen
Hirndrucksymptomen für akute Drucksteigerung.
Nächst der Druckhöhe und der Menge der entleerten Flüssigkeit
ist ihr Aussehen, ob klar oder trüb, ob bluthaltig oder sonstwie ge-
färbt, von Bedeutung.
Trübe Beschaffenheit des Liquors ist ein Zeichen für Entzün-
1) Deutsche med. Wochenschr., 1897.
2) Kongr. f. inn. Med., 1899.
3) Mtinch. med. Wochenschr., 1897.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumpalpnnktion. 603
dang, und zwar in der Mehrzahl der Fälle für eiterige Entzündung der
Meningen. Daß derartige Fälle gelegentlich günstig verlaufen können
[Stadelmanks Fall 13, Ruprecht O]« ist wohl kaum als Gegenbeweis
anzuführen.
Dagegen sind neuerdings aus der ScHWARTZEschen Klinik von
Braunstein«) und Sohultze^ einige Fälle mitgeteilt worden, die
zeigen, daß Trübung des Liquors doch nicht eindeutig ist. 2mal soll
trotz der Trübung keine Leukocytenvermehrung bestanden haben, in
2 anderen Fällen wurden zwar Leukocyten, aber keine Bakterien ge-
funden, und die nachher ausgeführte Trepanation ergab nur Vermehrung
des Liquors, nichts von eiteriger Meningitis.
Ganz feine, wie durch Sonnenstäubchen bedingte Trübung ist nach
Oroelmeister^) charakteristisch für tuberkulöse Meningitis.
Bei dieser Affektion sieht man, worauf zuerst Lichtheim ^) hinwies,
noch häufiger den anfänglich klaren Liquor nach ein paar Stunden trüb
werden durch Ausscheidung eines feinen spinnwebartigen Gerinnsels.
Es kommt vorwiegend bei tuberkulöser (widersprochen von Fried-
jung^, viel seltener bei eiteriger (Schiff^ oder syphilitischer Menin-
gitis, Hirnabsceß mit meningaaler Reizung, Hirntumor (Lightheim) vor.
Blutige Farbe des Liquors fand man bei Blutungen in die
Rückenmarkshäute®), bei Schädelbrüchen mit Blutinfiltration der Pia^),
bei Sinusthrombose ^^), am häufigsten bei Durchbruch von Hirnblutungen
in die Ventrikel oder (seltener) in die weichen Häute der Konvexität.
Von Blutbeimengong infolge von Verletzung der subdoralen Venen-
plexus beim Einstechen unterscheiden sich diese Fälle dadurch, dal{ bei
solcher artifiziellen Blutung gewöhnlich nur die ersten Portionen der ab-
gelassenen Flüssigkeit stark bluthaltig, die späteren deutlich heller sind, und
daß dieses frische Blut bald gerinnt, während nach Beobachtungen von
Hbnnbbbbg ^^), Bard^^, MATTmsu Blut, das längere Zeit mit dem Liquor
in Berührung war, ungerinnbar wird.
1) RüPRBCHT, Arch. f. Ohrenheilkd., Bd. 60.
2) Braunstbin, AroL f. Ohrenheilkd., Bd. 64.
3) ScHULTZB, ebenda, Bd. 58, p. 18.
4) Orqblmbistbb, D. Arch. f. klin. Med., Bd. 76.
5) LiCHTHBiM, Deutsche med. Wochenschr., 1893, No. 47. — Froh-
MAKN, 15. Kongr. f. inn. Med.
6) Fribdjuno, Wien. klin. Wochenschr., 1901, No. 44.
7) Schiff, ebenda, 1898.
8) Strauss, Char. Ann., 1900. — Conobtti, ref. Neurol. Centralbl.,
1899, p. 1048. — Jakobt, New York med.joum., 1895 u. 1896. — Kiliani,
ebenda, 1896.
9) FüRBRiNGBR, KougT. f. inu. Med., 1896. — Cbouzon, Sog. Neur.
Paris, ref. Neur. Centralbl., 1908, p. 886. — Boutibr, Th^se de Paris,
1902. — GüÄGNBN, dto., 1902.
10) FiNKBLSTBiN, ChaT. Auu., 1898.
11) Hbnnbbbrg, NeuroL Centralbl., 1900, p. 374.
12) Bard, Sem. m6d., 1901, p. 228.
33*
504 D. Gerhardt,
In sweifelhaften Pällen wird ein Einstich an einer anderen Stelle die
Entscheidong bringen.
Noch sicherer als Beimischung frischen Blutes weist die Anwesen-
heit von verändertem Blut auf hämorrhagische Vorgänge im Bereich
des Arachnoidalraumes (inkl. Hirnventrikel) hin. Bald findet man ge-
löstes Hämoglobin (Bard), bald theerfarbene Massen (Strauss, Jakobt),
bald bräunlichgelbe Flüssigkeit.
Derartige Färbung sah ich in einem Fall 8 Tage nach einer in den
Ventrikel durchgebrochenen Hirnblutung; das Spektroskop zeigte aufier
den beiden Hämoglobin- den Hämatinstreifen, das Mikroskop Zellen mit
zahlreichen gelben Schollen und Kugeln im Innern, ähnlich den „Herz-
fehlerzellen^ im Sputum, doch ohne Eisenreaktion.
Andere Male zeigt der Liquor nach Hirnblutungen andere Färbungen
von noch unbekanntem Charakter. Bard ^), Tuppibr '), Widal *) berichten
überstimmend, nach Hirnblutungen mit Ventrikeldurchbruch intensiv gelbe
oder grünlich gelbe Farbe des Liquors gesehen zu haben, die sich weder
chemisch (Guajakprobe) ncfch spektroskopisch als Blutfarbe verriet. Sie
soll schon am 2. und 8. Tag nach der Blutung zu beobachten sein und
etwa bis zum 18. Tage dauern. Die diagnostische Bedeutung dieses
Momentes wird aber vermindert durch die Erfahrung, daß ganz ähnliche
Färbung auch bei einzelnen Fällen eiteriger [Nbttbr^)] und tuberkulöser
Meningitis [Widal ^)] und bei Bückermarksgesch Wülsten [Bindfleisch ^)]
vorkommt Daß Gelbfärbung des Liquors auch in seltenen Fällen von
Ikterus gesehen wurde, sei hier nur nebenbei erwähnt; sie soll nach
Widal, Sicard und Bavaut^ nicht immer durch Bilirubin bedingt sein.
Vermehrung des Eiweißgehaltes weist immer auf patholo-
gische Verhältnisse. Der normale Liquor enthält nur Spuren von Eiweiß,
nach Quincke 0,2—0,5 %o, nach Riecken bis zu 1,0 7oo; unter patholo-
gischen Verhältnissen kann der Eiweißgehalt auf das 4 — 5-fache, ja in
extremen Fällen auf das 10-fache des oberen physiologischen Grenz-
wertes steigen. Während aber Trübung der Flüssigkeit regelmäßig auf
entzündliche Prozesse hindeutet, findet sich Vermehrung des Eiweißes
auch bei einer Reihe von Zuständen, die unter der Schwelle der Ent-
zündung liegen, bei Hydrocephalus, Hirntumoren, Hirnlues, ja nach
den Arbeiten der letzten Jahre ^) auch bei Paralyse ; und die eigentlich
entzündlichen Meningitiden, die tuberkulöse und die eiterige, zeichnen
sich von den oben genannten Krankheiten nicht einmal durch wesentlich
1) Bard, Sem. m6d., 1901, p. 228.
2) Tuppibr, Soc. Kop., 12. Juli 1901, ref. Sem. möd., 1901, p. 328.
8) Widal, Diskussion ssu Babds Vortrag, Sem. m^d., 1901, p. 228.
4) Nbttbr, ebenda.
6) Bindflbisoh, W., Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkd., Bd. 26.
6) Widal, Sioard, Ravaüt, Soc. Biol., 3. Nov. 1900, ref. Sem. möd.,
1900, p. 387; 1902, p. 52.
7) SohAfbr, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 59 ; Nissl, Centralbl.
f. Nervenheilk. u. Psych., 1904.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 506
höheren Eiweißgehalt des Liquors aus; gelegentlich war er bei ausge-
sprochener Meningitis überhaupt nicht vermehrt.
Man darf danach sagen, daß geringer Eiweißgehalt nicht gegen
Meningitis spricht; daß Vermehrung des Eiweißes zwar das Bestehen
eines pathologischen Zustandes anzeigt, für dessen nähere Diagnose da-
gegen kaum zu brauchen ist.
Und das gibt, wie mir scheint, auch die Berechtigung, auf exakte
Wägemethoden des Eiweißes zu verzichten und sich mit der unsicheren
aber einfachen EsBACH-Fällung zu begnügen ; ja für die rein diagnosti-
schen Zwecke reicht es wohl die einfache Eochprobe mit Zusatz von
ein paar Tropfen verdünnter Essigsäure anzuwenden. Eine hierbei
entstehende diffuse Trübung, welche auch innerhalb der nächsten
Minuten diffus bleibt, wird als das normale, rasch auftretende Flocken-
bildung, die sich bald zu deutlichem Bodensatz sammelt, als Zeichen
vermehrten Eiweißgehaltes anzusehen sein.
Die Versuche französischer Autoren ^), auch die Art der Eiwei£körper
zur Diagnose zu verwerten — normalerweise soll nur Globulin, bei
Paralytikern außerdem Albumin vorkommen — scheinen mir kaum von
Wert. Wie Nissl') und Sibmsrling^; muß ich nach eigenen Untersuchungen
das alleinige Vorkommen von Albumin als die Regel bezeichnen; Nissl
fand nur bei wenigen seiner Paralytiker Spuren von Globulin.
Auch die Bestimmung des Zuckergehaltes, so interessant sie
(wegen der Beziehungen zu zuckerzerstörenden Einflüssen) vom theo-
retischen Standpunkt aus ist, hat für die Diagnostik trotz mancher an-
sprechenden Befunde keine Bedeutung erlangt.
Es ist zuzugeben, daß bei tuberkulöser und eiteriger Meningitis
häufig der Zucker fehlt, aber auch bei anderen Zuständen, Tumor
(Lenhartz^), Stadelmann), Meningitis serosa (Quincke) wurde Ver-
minderung des Zuckergehaltes doch so oft beobachtet, daß der Zucker-
nachweis für die Diagnostik nur ein recht unsicheres Hilfsmittel dar-
stellt.
Gegenüber der verbreiteten Auffassung, daiS Zucker und Eiweiß im
umgekehrten Verhältnis stünden, kann ich einen Fall von Meningitis serosa
eigener Beobachtung anfflhren, wo sowohl EiweilS wie Zucker nur in
Spuren nachweisbar waren. Aehnliches zeigten Beobachtungen von
Brasoh *).
Zu den Untersuchungen der chemischen Bestandteile des Liquors
kommt in neuerer Zeit noch die Bestimmung des Chol ins. Sie hat als
diagnostisches Mittel wohl kaum Anwendung gefunden, trotzdem die
1) Guillain et Parant, Eev. Neurolog. cit b. Nissl.
2) Nissl loo. cit
3) Sidmbbling, Berl. klin. Wochenachr., 1904, No. 21.
4) Lbnhartz, Münch. med. Wochenschr., 1896.
6) Brasgh, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 86.
506 D. Gerhardt,
Angaben von Mott und Halliburton ^), daß es bei solchen AflFektionen,
die mit Zerstörung von Nervensubstanz einhergehen, bei Paralyse,
Tabes, kombinierter Sklerose, multipler Sklerose, im Liquor nach-
gewiesen werden könne, zu derartigen Untersuchungen auffordern.
Allerdings wurde die Aussicht, durch den Nachweis von Cholin im
Pnnktat des Bestehen einer organischen AfFektion des Zentralnerven-
systems wahrscheinlich zu machen, wesentlich abgeschwächt durch die
Mitteilung von Gumprbght 2), daß es ein normaler Bestandteil des Liquors
sei, und die von Donath s), wonach es regelmäßig bei Epilepsie, deren
noch hypothetische, anatomische Grundlage wir doch kaum im Untergang
wägbarer Teile des Gehirns suchen werden, gefunden werde.
Noch in anderer Weise hat man die chemische Untersuchung des
Liquors für die Diagnostik heranzuziehen gesucht: durch den Nach-
weis des Uebertritts von künstlich in den Säftestrom eingeführten
Substanzen. A. und E. Cavazzani^) haben zuerst an Tieren gezeigt, daß
zwei sonst so leicht in alle Körpersäfte übertretende Salze, wie Jodkali
und Ferrocyankali im Liquor cerebrospinalis nicht oder nur unter ganz
extremen Umständen erscheinen.
Dasselbe fand Lbwandowski ^) für Ferrocyannatrium und ftlr Strychnin,
und analoge Beobachtungen aus der Pathologie lieferten Läri®) für Me-
thylenblau, SiOARD ^ für das Bilirubin (das allerdings auch in Drüsen-
sekrete nur ausnahmsweise übertritt), Widal und Sicabd^) und Lbw-
Kowicz^) für die agglutinierende Substanz bei Typhus, Milian und Lbgbos^^)
für die krampferzeugende Eigenschaft bei Tetanus (im Gegensatz zur Lyssa,
deren Gift nach DBXiGäs und Sabraz&s im Liquor enthalten ist, eine für
die Theorie des Liquors bemerkenswerte Tatsache).
Das Fehlen der Jodreaktion im Liquor trotz großer Jodkalidosen
wurde am Krankenbett vielfach bestätigt Nur bei eiteriger und tuber-
kulöser Meningitis wurde mehreremale Jod in der Punktionsflüssigkeit
nachgewiesen, und deshalb schlugen besonders französische Autoren
[LoüQUEs^^), LfiRi^*)] vor, das Vorkommen von Jod nach Jodkalidar-
reichung als ein diagnostisches Mittel zur Erkennung der Meningitis
zu verwenden.
1) MoTT und Halliburton, Lancet, 13. April 1901 ; Procced. Roy.
Soc, Bd. 45, 1899.
2) GuMPBBCHT, Kongr. f. innere Med., 1900.
3) Donath, Zeitschr. f. physiol. Chemie., Bd. 39.
4) Gavazzani, Gentralbl. f. Physiologie, 1892.
6) Lbwandowski, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 40.
6) LAbi, Arch. de m6d. ezper., 1897.
7) SiCARD, ref. Sem. m6d., 1900, p. 387.
8) Widal et Sicard, Ann. de Tlnst. Pasteur, 1897.
9) LbwkoWicz, Jahrb. f. Kinderheilk., Bd. 55.
10) Millan et Legros, Sem. m^d., 1901.
11) SoüQUBS, Sem. m6d., 1901, p. 212.
12) Läri, Arch. möd. Enf., 1902.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 507
Ich kann bestätigen, daß Jod selbst bei Luetikern, die wochenlang
Jodkali bekommen hatten, im Liquor nicht nachweisbar ist, während es
bei einem Falle eiteriger Meningitis prompt erschien. Dieser Uebertritt
von Jod scheint aber bei Entzündungen doch nicht so regelmäßig vor-
zukommen, daß ihm viel Bedeutung für die Diagnostik zukäme.
Nur kurz erwähnt seien die Versuche, die Giftigkeit der Funktions-
flüssigkeit für Versuchstiere diagnostisch zu verwenden, wie sie Widal
und Dblillb-Achabd ^) für den Liquor bei tuberkulöser Meningitis (von
81CARD nicht bestätigt), PBLLEQaiNi ') für Epilepsie, zumal in der Zeit un-
mittelbar nach den Anfallen, angaben. Ebenso brauche ich die Ver-
49uche Cbisafbs^), die Oxydationskraft des Liquors mit Tetrapapier zu be-
fitimmen, nur flüchtig zu erwähnen.
Und auch die Gefrierpunktbestimmungen geben unsichere
Resultate. Widal, Sicard und Ravaüt ^), welche zuerst die Cryoskopie
des Liquors methodisch verfolgten, fanden bei 8 von 10 Fällen tuber-
kulöser Meningitis abnorm geringe Gefrierpunktserniedrigung ( — 0,48
bis —0,45), während sie beim Normalen und bei verschiedenen ander-
weiten Krankheiten auffallend hohe Zahlen (—0,6 bis —0,75), also
stärkere Molekularkonzentration als im Blut, erhielten. Sie glaubten
deshalb in der geringen Gefrierpunktserniedrigung ein Charakteristikum
der tuberkulösen Meningitis gefunden zu haben. Souqües und Achard
machten ähnliche Angaben, und Bard ^) brachte durch die Beobachtung,
daß der Liquor einiger Fälle von tuberkulöser Meningitis leichter als
der Liquor anderer Patienten rote Blutkörperchen auflöse, eine Bestäti-
gung; aber andere Autoren, so Läri, erhielten widersprechende Re-
sultate.
Ich selber muß den Wert dieses diagnostischen Mittels bezweifeln.
Von 12 Fällen, in denen ich die Bestimmung ausführen konnte, erhielt
ich in 8, welche verschiedene chronische Erkrankungen betrafen, den
Gefrierwert ebenso wie den des Blutes, —0,56; nur 2mal wesentliche
Erhöhung, —0,66 und — 0,62; in beiden Fällen war die Punktion un-
mittelbar nach dem Tode ausgeführt worden, es ließen sich zwar post-
mortale, aber nicht agonale Einflüsse als Ursache der abnormen Mole-
kularkonzentration ausschließen ; und in den beiden letzten Fällen, in denen
die Molekularkonzentration abnorm gering war, A = — 0,51 und —0,52,
handelte es sich nicht um tuberkulöse, sondern im einen Falle um
seröse, im anderen um eiterige Meningitis neben Otitis interna.
Viel sicherere diagnostische Handhaben, als diese chemische und
1) Dblillb, Sem. m^d., 1902, p. 236.
2) Pbllborini, Rif. med., 1901, ref. Centralbl. f. Med., 1901, p. 984.
8) Cbisafb, Riv. Clin. Ted., 1903, ref. Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 69,
688.
4) Soc. Biol., 20. Okt. 1900, ref. Sem. möd., 1900, p. 872.
5) Bard, Soc. biol., 9. Febr. 1901, ref. Sem. m6d, 1901, p. 60.
508 D. Gerhardt,
physikalische, liefert natürlich die, zuerst von Lightheim erprobte,
bakteriologische Untersuchung der Punktionsflüssigkeit Die An-
gaben, wie oft die Krankheitserreger bei infektiösen Meningealaffektionen
im Liquor nachweisbar sind, gehen zwar auseinander, aber darin
stimmen doch fast alle Untersucher überein, daß die Wahrscheinlichkeit,
sie zu finden, groß genug ist, um die bakteriologische Untersuchung
der Lumbalpunktionsflüssigkeit als ein wichtiges Mittel zur Diagnose der
Meningitis erscheinen zu lassen.
Das gilt sowohl für die tuberkulöse wie für die eiterige Form.
Wenn auch nicht alle Forscher so glücklich waren, wie Breuer Oi
Lichtheim ') und Heubner ^, die nach sorgsamem Suchen in jedem
Fall die Tuberkelbacillen auffinden konnten, so berichten doch die
meisten über positives Ergebnis in Vi bis "/^ ihrer Fälle.
Der Nachweis der Tuberkelbacillen ist um so leichter zu erbringen,
in je vorgerückterem Stadium sich die Krankheit befindet Pfaundler ^)
gelang er bei Meningitis im Stadium der Reizung in 33, des Hirn-
druckes in 50, der Hirnlähmung in 75 und bei Punktion unmittelbar
nach dem Tode in 100 Proz.
Das Auffinden der Bacillen wird erleichtert, wenn man nach Licht-
heims und Langbss ^) "Vorgang das spinnwebartige Oerinnsel, das sich bei
Meningealtuberkulose gewöhnlich nachträglich abscheidet, zur Untersuchung
verwendet
Da wo die einfache mikroskopische Untersuchung im Stich ließ, konnte
durch Züchtung (Langbb), durch subkutane, intraperitoneale (Slawick und
Manicatidb) oder, nach Hkllkndalls ^ Vorschlag, intraspinale Injektion
des Punktats bei Meerschweinchen noch des öfteren der Krankheitserreger
nachgewiesen werden, allerdings meist erst zu einer Zeit, wo die Diagnose
bereits durch die Sektion bestätigt war.
Besonderes Interesse verdienen die Fälle geheilter Meningitis, in
denen die Lumbalpunktion Tuberkelbacillen nachwies. Wenn ihre Zahl
auch bisher, meines Wissens, nur 4 beträgt^), so haben sie doch den Be-
weis für die Möglichkeit einer wirklichen Ausheilung dieser Krankheit er-
bracht, die früher doch nur bis zu gewissem Grad wahrscheinlich gemacht
werden konnte.
Regelmäßiger noch, als bei den tuberkulösen, gelang der Nachweis
der Krankheitserreger bei den eiterigen Meningitiden. Der alte Streit^
ob der FRÄNKELsche oder der WEiCHSELBAUMsche Coccus der Erreger
1) BaBUER, Wien. klin. Wochenschr., 1901.
2) LiCHTHBiM, D. med. Wochenschr., 1896.
3) Hbubnbr-Slawice u. Manicatidb, Berl. klin. Wochenschr., 1898.
4) Pfaundler, Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 49.
5) Langer, Zeitschr. f. Heilkd., 1899.
6) Hbllbndall, Dtsch. med. Wochenschr., 1901.
7) Frbyhan, Dtsch. med. Wochenschr., 1894, p. 707. — Henkel,
Münch. med. Wochenschr., 1900, p, 799. — Barth, ebenda, 1902, p. 877.
— Gross, Berl. klin. Wochenschr., 1902, p. 776.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 509
der epidemischen Meningitis sei, ist vorwiegend durch die Ergebnisse
der Lumbalpunktion geschlichtet worden, und zwar in dem Sinne, daß
beiden diese Rolle zukommt, daß aber bei der eigentlich epidemischen
Form gewöhnlich der WEiCHSELBAUMsche intracelluläre Diplococcus 0«
bei den sporadischen Fällen nicht selten der Pneumococcus gefunden
wird.
Interessant and noch genauerer Untersuchung wert ist die Beobach-
tung von HüKBBMAKN^), daß auch der Meningococcus in zweierlei, durch
F&rbungs- und Wachstumseigentümlichkeiten charakterisierte Formen vor-
kommt, deren eine der ursprünglich WBiCHSXLBAUMschen, deren andere
der JAoBR-HsuBNSRSchen Beschreibung entspricht
Jedenfalls kann man in akuten Fällen mit ziemlicher Sicherheit
darauf rechnen, die Diagnose der epidemischen Meningitis durch den
Befund der intracellulären Kokken in der Punktionsflüssigkeit zu ent-
scheiden. Das gilt allerdings nur für die ersten Wochen. Nach
ca. 14 Tagen sind die Kokken nicht mehr nachweisbar, und auch in
den chronischen Fällen sucht man meist vergebens [Wentworth ^),
CouNCiLMAKK, Mallort Und Wrioht*)].
Eine Erweiterung der Diagnostik liefert die bakteriologische Unter-
suchung auch für jene allerdings seltenen Fälle von Mischinfektion, wo
neben dem Meningococcus der Pneumococcus (Hüxbbmann, KrOnig), der
Staphylococcus (Sjiönio), Colibacillus [Sacq^p^b ^)] oder sogar der Tuberkel-
bacillus (Lbwcowicz) gefunden wurde.
Auch die eigentlich eiterige, metastatische Meningitis hat sich
relativ oft durch den Nachweis der Erreger diagnostizieren lassen.
Staphylo- und Streptokokken, Influenza-^, Typhus-, Kolibacillen ^,
Tetragenus, Actinomyces wurden gefunden, abgesehen von anderen,
teilweise noch wenig studierten Formen (Stadelmann).
Für die wenigen Fälle, wo trotz Bakterienbefund im Liquor durch
die Sektion keine Meningitis nachgewiesen wurde [Lesni^b, Finxblstbin ®)],
ist wohl Pfaundlbrs Erklärung anzunehmen, da£ hier die Bakterien nur
firüher als die anatomischen Veränderungen nachweisbar wurden.
1) Vgl. HsuBNER, Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 43.
2) HüxBRMANN, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 85.
3) Wbntworth, Lancet, Oct 1898.
4) CouNCiLMANN, Majjlory uud Wrioht, Epidem. cerebrosp. meningitis,
Boston 1898, ref. Centralbl. f. innere Med., 1898, p. 1138.
5) Sacqüäpäb, Soc. höp., 11. Juli 1902, ref. Sem. m^d., 1902, p. 236.
6) Mbunibb, ref. Sem. m^d., 1901, p. 17. — Stbfanbscü, citiert
Schmidts Jahrb., 280, 185. — Trailescu, cit. ebenda, 275, 57. —
Lanobr, Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 53. — Slawyck, Zeitschr. f. Hyg.,
1899. — JuNDBLL, Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 59, T3L 6.
7) Achard, Soc. höp., 15. März 1903. — Simonis, Soc. höp., 19. Juli
1901. — NoBficoüRT et du Pasqubb, ref. Neurol. Centralbl. 1903, p. 132.
8) FiNKBLSTBiN, Bori. kliu. Wochenschr., 1897, No. 44.
510 D. Gerhardt,
Von mehr theoretischer als praktisch-diagnostischer Wichtigkeit
sind die Befunde von Eiterkokken im Liquor bei akuter metastatischer
Myelitis, wie sie von Strümpell i), und von Meningkokken bei Kinder-
liüimung, wie sie von Fr. Schültze*) und F. Engel*) erhoben
werden konnten.
Ich komme zur Besprechung der histologischen Untersuchung
des Sedimentes, desjenigen Punktes, welcher in den letzten Jahren be-
sonders eifrig studiert worden ist, und welcher der Anwendung und
Verwertung der Lumbalpunktion entschieden neue Bahnen geöffnet hat.
Die Cytologie des Liquors cerebrospinalis geht aus von den
Arbeiten Widals, der seine Studien über die Zellbeschaffenheit der
Pleuraergüsse bald auf die Spinalflüssigkeit übertrug und zuerst im
Herbst 1900*) berichtete, daß er bei 3 Fällen tuberkulöser Meningitis
reine Lymphocytose beobachtet habe.
Weitere Untersuchungen von Widal selbst, zum Teil in Gemeinschaft
mit SiCARD und Ravaut, bestätigten die damals ausgesprochene Ver-
mutung, daß ganz ähnlich, wie in den serösen Flüssigkeiten der Körper-
höhlen, so auch im Liquor cerebrospinalis bei den tuberkulösen Ent-
zündungen vorwiegend Lymphocyten, bei den eiterigen (oder den akuten
nicht eiterigen) vorwiegend Leukocyten im Sediment gefunden werden ^).
Widal war nicht der erste, welcher der Beschaffenheit der Zellen
im Sediment seine Aufmerksamkeit zuwandte. Vor ihm haben Kor-
czYNSKi und Wernicki^), Bernheim und Moser ^ und besonders
Pfaundler ^) dieselben Beobachtungen gemacht und auf den diagnosti-
schen Wert mit aller Bestimmtheit hingewiesen. Ich führe Pfaundlers
Worte an: „Wichtig ist es namentlich, das Zahlenverhältnis der ein-
und mehrkernigen Leukocyten zu beachten; erstere werden nur bei
tuberkulöser Hirnhautentzündung in größerer Menge getroffen.^
Aber diese Angaben fanden in Deutschland wenig Berücksichtigung,
während Widals Mitteilungen in Paris außerordentlich anregend wirkten
und bald durch eine große Zahl von Untersuchungsreihen der fran-
zösischen Kliniker bestätigt wurden.
1) V. Stbümpbll, Kongr. f. inn. Med., 1901.
2) ScHULTZB, Fr., Münch. med. Wochenschr., 1898, p. 1197 u. Rhein.-
westf. Ges. f. Med. u. Neurol., 1904, ref. Münch. med. Wochenschr., 1904,
No. 23,
3) F. Engel, Prag. med. Wochenschr., 1900, No. 12.
4) Congr. intemat. zu Paris, ref. Sem. m^d., 1900, p. 298.
5) Ausffihrliche Literaturgaben s. in Brions Sammelref. im Centralbl.
f. aUgem. Pathol., Bd. 14, 1903.
6) KoRCziNSKi u. Wbrnicki, cit. b. Lbwkowioz, Jahrb. f. Kinderheilk.,
Bd. 65.
7) Bbrnhbim u. Mosbr, Wien. klin. Wochenschr., 1897.
8) Pfaundler, Jahrb. f. Kinderheilk., Bd. 49.
Diagnostische und therapeutiscbe Bedeutung der Lumbalpunktion. 511
Die Folgezeit hat zwar gelehrt, daß diese Regel auch Ausnahmen
bat, die sich nur zum Teil durch besonders akuten Verlauf der tuber-
kulösen oder abnorm chronischen Verlauf der eiterigen Meningitis er-
klären ließen ^), sie hat aber den diagnostischen Wert der WiDALschen
Regel nur wenig eingeschränkt. Namentlich aus den Pariser Spit&lern
kamen viele Berichte, welche Widals Befunde bestätigten ; aus Deutsch-
land fließen derartige Mitteilungen viel spärlicher; die erste stammt von
Bendix') aus Minkowskis Abteilung.
Außer bei eiteriger und tuberkulöser Meningitis fand man Ver-
mehrung der zelligen Elemente im Liquor bald auch bei Zuständen,
bei welchen es sich mehr um eine Reizung als um eigentliche Ent-
zündung der Meningen handelte, so bei Herpes zoster^, bei Hitz-
schlag^), nach Kokaineinspritzung in den Arachnoidalsack ^), nach Schädel-
brüchen ^), ja nach der einfachen Lumbalpunktien selbst ^).
Bei all diesen Zuständen wurden in den schweren Fällen anfangs
überwiegend polynukleäre, späterhin mononukleäre, in den leichteren
Fällen gleich von Anfang an Ueberwiegen der mononukleären Zellen
gefunden, ganz entsprechend der WiDALschen Regel von der Bedeutung
dieser Zellen.
Schon in den ersten Mitteilungen über die Cytologie der Cerebro-
spinalflüssigkeit tritt mehrfach die Angabe auf, daß vorwiegende Lym-
phocytose auch bei luetischen Erkrankungen des Zentralnerven-
systems vorkomme®), und zwar sowohl bei chronischen als bei akut ein-
setzenden Formen. Späterhin wurde das vielfach bestätigt und in der
letzten Zeit in geradezu erstaunlicher Weise erweitert. Nicht nur die
Fälle mit ausgesprochenen Symptomen der Lues cerebrospinalis, sondern
auch solche, wo außer intensivem Kopfweh nichts auf eine Ailektion des
Hirnes hinweist^), zeigten diese Lymphocytose ; ja nach Untersuchungen
von Thibierge und Ravaut ^^) findet man bei sekundärer Lues zu der
Zeit, wo sie an der Haut frische Erscheinungen macht, fast regelmäßig
1) Lit., 8. bei Brion, Loc. cit — Lbwkowicz, Jahrb. f. Kinderheilkd.,
Bd. 55. — Orgblmeistbr, Arch. f. klin. Med., Bd. 76.
2) Bbndix, Deutsche med. Wochenschr., 1901, und LBYDBN-Festachr.,
1902.
3) Brissaud et Sicard, Bull. soc. böp., 1901, p. 260. — Widal. et
LB Sourd, ebenda, p. 997. — Brandbls, Soc. Biol., 1904, p. 234, ref. Sem.
med., 27 avril 1904. — Weitere Citate bei Brion.
4) DoPTBR, Gaz. höp., 1903, p. 1410.
6) Ravaut et Aubourg, Soc. höp., 15 juin 1901.
6) Rbndu, Soc. höp., 5 juill. 1901, ref. Sem. m6d., 1901, p. 227.
7) NissL, CentralbL f. Nervenheilkd. u. Psych., 1904, No. 171.
8) Brissaud et Bräcy, BulL soc. höp., 1902. — Pbllbrin et TäMOiK,
ebenda, 1901. — Widal, ebenda, 1902.
9) Babinski u. Nagbottb, ebenda, 1901, p. 587. — Milian, Sem. m^d.,
1902, p. 60.
10) Soc. höp., 1902; Gaz. höp., 1903, p. 1170.
512 D. Gerhardt,
Lymphocytose des Liquors, auch wenn kein Symptom auf das Zentral-
nervensystem hinweist (während Gesunde, sowie Luetiker des II. und
III. Stadiums ohne frische Symptome zellfreien Liquor haben).
Danach scheint die Cytodiagnose des Liquors in der Tat schon
recht geringfügige Veränderungen luetischer Natur im Bereich des
Zentralnervensystems aufzudecken.
Noch bedeutsamer wurde die durch diese Befunde veranlaSte Aus*
dehnung der Lumbalpunktion auf die chronischen Erkrankungen
des Hirnes und Rückenmarkes und auf die Psychiatrie.
Bald nach der Veröffentlichung der ersten cytologischen Studien
teilten Monod, Widal, Sicard^) mit, daß sie auch bei Tabes und
Paralyse regelmäßig Lymphocytose im Liquor nachweisen konnten, wäh-
rend die meisten anderen chronischen Rückenmarksleiden, insbesondere
Alkoholismus, sowie einfache Atheromatose der Gefäße, keine Zell-
vermehrung im Liquor liefern.
Auch diese Angaben wurden an den Pariser Spitälern vielfach
nachgeprüft und wurden dabei im allgemeinen bestätigt^. Freilich
sprachen sich nicht alle Untersucher mit derselben Bestimmtheit für
die Allgemeingültigkeit jener Regel aus, namentlich Joffroy, Abadie,
Maillard vermißten die Zellvermehrung relativ häufig bei Paralyse,
Armand, Delille und Camus ^ bei Tabes.
Aber das Ergebnis des sehr zahlreichen Beobachtungsmaterials aus
den französischen Instituten, das hauptsächlich von Marie, Ratmond,
Brissaüd, Devaüx, Nageotte, beigebracht wurde, war doch im ganzen
das, daß die Lymphocytose bei Lues cerebrospinalis, Tabes und Para-
lyse so regelmäßig beobachtet wird, daß sie sehr wohl diagnostische
Bedeutung beanspruchen kann.
Dieser diagnostische Wert erscheint um so größer, als sich mehr-
fach^) bei Patienten, die lediglich die Pupillenphänomene darboten,
bereits eine deutliche Lymphocytose nachweisen ließ. Damit scheint sie
tatsächlich den Wert eines Frühsymptoms des Tabes zu bekommen.
Bei anderen chronischen Hirn- und Rückenmarksleiden, bei Tumoren,
Hydrocephalus, arteriosklerotischen Veränderungen, Alkoholismus, sogar
dem alkoholischen Delirium, Hemi- und Paraplegien, funktionellen Neu-
rosen und ebenso bei allen übrigen Formen psychischer Erkrankungen
fehlte die Lymphocytose in der Regel. Ausnahmen kommen allerdings
1) Sem. med., 1901, p. 27.
2) Lit. bei Brion a. a. 0.; dann bei Schobnborn, NeuroL Central bl.,
1903, p. 610. — Dbvato, Centralbl. f. Nervenheilkd. u. Psych., 1903,
No. 161. — SiBMBRLiNG, Berl. klin. Wochenschr., 1904, No. 21.
3) Dblillb et Camus, Rev. neurol., 1903, ref. Neurol. Centralbl, 1903,
p. 788.
4) DüPOUR, See. neurol. de Paris, 4 d^c. 1902. — Widal, Sog. höp.,
25 juill. 1902. — Naobottb, ebenda.
Diagnostische und therapeutische Bedeutang der Lumbalpunktion. 513
vor ; am zahlreichsten scheinen sie zu sein bei der multiplen Sklerose ^) ;
auch in 1 von 3 Fällen von multipler Sklerose aus der Erlanger Klinik
üand sich recht deutliche Lymphocytose, während 3 Fälle von Hirnlues
und 3 Tabesfälle ausgesprochene Lymphocytose aufwiesen.
In Deutschland hat zuerst S. Sghoenborn') im Frfihjahr 1903
über Resultate der Lumbalpunktion bei chronischen Nervenkrankheiten
berichtet; seitdem haben Frenkel^), Abraham und Ziegekhaoen ^),
E. Mater ^), Nissl^, Siemerlino^ ihre Erfahrungen darüber mit-
geteilt, und die an die Vorträge von Frenkel und Siemerlikg sich
anknüpfenden Diskussionen zeigen das wachsende allgemeine Interesse.
Am meisten Beachtung unter diesen Arbeiten verdient die Mitteilung
von NissL.
Sie zeichnet sich besonders durch die Exaktheit der Technik aus.
Während die ersten Untersucher sich auf Sch&tzung der Leukocjtenzahlen
verlassen hatten, hatte Bavaut zuerst durch möglichst gleichmäßiges Ar-
beiten gesucht, zu bestimmten Abgrenzungen zu kommen. Nissl ist darin
wesentlich weiter gegangen und hat unbestritten das Verdienst, so gut
es möglich ist, Exaktheit in die Cytologie gebracht zu haben. Er zentri-
fugiert eine natürlich immer gleich große Menge des Liquors ^/^ Stunden
in einem spitz ausgezogenen Glas, gießt dann vorsichtig die Flüssigkeit
ab, führt nun in das unverändert mit dem offenen Ende nach unten ge-
gehaltene Olas eine sorgfältig senkrecht abgebrochene Eapillarpipette ein,
welche den geringen Bodensatz selbsttätig ansaugt, sorgt durch wieder-
holtes vorsichtiges Zurückblasen und Wiederaufsaugenlassen des Sediments
für möglichst vollständige Mischung, bringt den Inhalt der Pipette dann
als kleine Tropfen auf den Objektträger, fixiert und fkrbt. Zentrifugier-
glas und Kapillarpipette werden nur einmal benutzt
Es ist klar, daß man auf diese Weise zu sehr scharfen Besultaten
kommt, die zumal da, wo prinzipielle Fragen statistisch entschieden
werden sollen, sehr begrüßenswert sind. loh möchte aber doch beifügen,
daß es mir für die rein diagnostische Anwendung der Cytologie kaum
notwendig erscheint, in dieser subtilen Weise zu arbeiten; denn für die
Diagnostik werden doch wohl immer nur die Fälle mit ganz zweifellosem
Befund Verwertung finden können (ähnlich wie etwa bei der Leukämie
die Fälle, wo die Leukocytenvermehrung erst gezählt werden muß, dia-
gnostisch doch zweifelhaft bleiben).
NissL stützt sich auf 166 Fälle der verschiedensten psychischen
Krankheiten, darunter 28 sichere und 9 zweifelhafte Paralysen. Er
fand bei den Paralysen regelmäßig (mit einer Ausnahme) Lymphocytose,
meist recht beträchtlichen Grades. Diejenigen Fälle, bei denen er
1) Carri&rb, Soc. Biol., 23 mars 1901.
2) Neurol. Centralbl., 1908, p. 610.
8) Frbnkbl, Neurol. Centralbl., 1908, p. 1135.
4) Abraham u. Zibgbnhagbn, Psychiatr. Ver. zu Berlin, 19. März 1904.
6) E. Matbr, Berl. klin. Wochenschr., 1904, No. 5.
6) Nissl, Centralbl. f. Neur. u. Psychiatr., 1904, No. 171.
7) SiBMBRLiNO, Berl. klin. Wochenschr., 1904, No. 21.
514 D. Gerhardt,
außerdem noch Lymphocytose fand, waren teils der Paralyse verdilchtig,
teils waren es anderweite Psychosen, bei welchen aber das Bestehen
von Lues nicht auszuschließen war, teils ganz unklare Fälle. Bei senilen
und arteriosklerotischen Himerkrankungen, epileptischer Geistesstörung,
manisch depressivem Irresein, Dementia praecox, Idiotie und bei Ge-
sunden fehlte die Lymphocytenvermehrung regelmäßig.
Ganz ähnlich lauten die Ergebnisse von Frenkel und Ernst
Meter und Sibmerliho, etwas minder sicher die von Abraham und
ZiEOENHAOEN aus der Dalldorfer Anstalt, welche bei nicht ganz Vs
ihrer Paralytiker (14 von 25) Lymphocytose feststellen konnten.
Wenn auch fiberall Ausnahmen vorkommen, so darf man nunmehr
als genügend sicher annehmen, daß bei der Paralyse tatsächlich die
Lymphocytose eines der konstantesten somatischen Symptome darstellt;
und damit ist der Lumbalpunktion ihre Bedeutung fQr die Psychiatrie
gesichert.
üeber die nähere Ursache der Lymphocytose bei all diesen Zuständen
gehen die Meinungen noch auseinander. Das häufige, fast regelmäßige Vor-
kommen der Lymphocytose bei Hirnlues, Tabes und Paralyse legte es
nahe, diese Zellvermehrung als direkten Effekt luetischer Prozesse im
Zentralnervensysteme zu deuten. Widal selbst hat dem bei jeder Gelegen-
heit widersprochen; er nimmt einen mehr generellen Standpunkt ein und
faßt die Lymphocytose als Ausdruck einer mäßigen, die Leukocytose als
den einer intensiveren meningealen Reizung auf, und zwar einer Reizung
der Meningen, nicht der Nervensubstanz selbst
Seiner Vorstellung filgt sich gut ein die von Widal selbst herrührende
Beobachtung, daß bei Exacerbationen jener chronischen Prozesse, so nach
den paralytischen Anfällen, vorübergehend die polynukleären überwogen,
sowie die von D^j^rine, Marie, Naoeotte und Jamet stammende Beob-
achtung, daß bei Remissionen von Paralyse die Zellen allmählich abnehmen,
andererseits die Erfahrung, daß nach leichten Eingriffen, nach Einspritzung
von Kokain und anderen Stoffen, ja nach der einfachen Lumbalpunktion
selbst zunächst die vielkemigen, mit dem Abklingen der Erscheinung die
einkernigen Zellen vermehrt sind.
Es lassen sich aber auch leicht Gründe gegen diese Auffassung von
der rein entzündlichen Natur der Lymphocytose finden. Dahin ist das
Ausbleiben der Erscheinung bei Alkoholismus, vor allem aber bei Kom-
pressionsmyelitis, was ich in 2 Fällen bestätigen konnte, zu rechnen. Und
in der neueren Zeit scheint sich doch wieder die Auffassung von der spe-
zifisch syphilitischen Natur der Lymphocytose Bahn zu brechen. Von
den deutschen Autoren neigt ihr Schobnborn zu, während Meter und
NissL der vorsichtigeren WiDALSchen Fassung sich anschließen«
Daß die Natur der gemeinhin als Lymphocyten bezeichneten klein-
kernigen Zellen des Liquors noch keineswegs klar erkannt ist, geht deutlich
hervor aus den Ausführungen Nissls.
Neben dem Studium der weißen Blutzellen tritt die Bedeutung der
übrigen Formelemente jetzt entschieden zurück; trotzdom können
auch sie für die Diagnose wichtig werden. Krönig beobachtete bei
Erweichungen Körnchenkugeln, bei Blutungen mit Ventrikeldurchbruch
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 51Ö
Hämosiderin- und Hämotoidinkristalle, bei Durchbruch von Abscessen
Myelintropfen.
Bei dem erwähnten Fall von Ventrikelapoplexie fand ich in der rötlich-
braunen Flüssigkeit reichliche große Zellen mit scholligem gelben und
braunen Pigment, ähnlich etwa den sogenannten Herzfehlerzellen im
Sputum, doch ohne Eisenreaktion.
Auffallend selten hat man in der Flüssigkeit Zellen beobachtet, die
mit einiger Sicherheit als Tumorzellen zu deuten gewesen wären. Nur
ein Fall aus der LiCHTHEiMSchen Klinik^) ist hier anzuführen.
Nach diesem Ueberblick über den Wert der einzelnen Anomalien
des Liquors möchte ich kurz im Zusammenhang über die Bedeutung
der Lumbalpunktion für die Diagnostik sprechen.
Sie ist fürs erste von großem Wert für die Diagnose der tuber-
kulösen und eiterigen Meningitiden, wo die Kombination von
bakteriologischer Untersuchung, Cytologie und Eiweißbestimmung in
der großen Mehrzahl der Fälle nicht nur die Frage, ob Meningitis oder
nicht, sondern auch die nach der Art der Meningitis entscheiden kann.
Bei akut febrilen Krankheiten, namentlich Pneumonie,
Typhus, Influenza, hat die Lumbalpunktion relativ häufig dazu gedient,
die durch den Infekt selbst oder durch alkoholisches Delirium bewirkten
schweren cerebralen Symptome von eiteriger Meningitis zu unterscheiden.
Sie hat bei Rheumatismus^) und Typhus^) häufiger die reine Fieberwirkung,
bei croupöser und Bronchopneumonie häufiger^) die komplizierende
Meningitis erkennen lassen.
Minder bestimmt ist die Antwort, welche die Lumbalpunktion auf
die Frage nach dem Bestehen einer serösen Meningitis gibt, der-
jenigen Krankheit, deren Kenntnis wir überhaupt erst der Lumbal-
punktion verdanken. Eiweiß- und Lymphocytengehalt wurden bald ver-
mehrt, bald normal gefunden; das einzige konstante war die Druck-
steigerung. Der Wert der Punktion liegt hier mehr auf der negativen
Seite, indem sie das Bestehen einer eiterigen Entzündung ausschließen
läßt Für die Abgrenzung gegen Tumor, Lues, ja gegen tuberkulöse
Meningitis wird sie wenig Anhaltspunkte liefern ; hier muß meist erst
der Verlauf der Krankheit entscheiden. Und auch die Abgrenzung
gegen einfachen Hydrocephalus ist kaum durchführbar; ich fand bei
einem angeborenen Hydrocephalus Lyrophocytose und geringe Eiweiß-
1) Rindfleisch, Zeitschr. f. Nervenheilkd^ 26.
2) Fbrrihr, Soc. höp., 28 f6v., 1902, ref. Sem. m6d. 1902, No. 76.
3) WiiiMS, Mtinch. med. Wochenschr., 1897, p. 63. — Salomon, Berl.
klin. Wochenschr., 1900. — Dagegen Jbimma, ref. Centralbl. f. innere Med.,
1898, p. 965.
4) Spitta, Brit med. j., 1902, 11, p. 1679. — Nobäcourt u. Voirin,
Rev. mens. mal. Enf., April 1903, ref. Sem. m6d., 1903.
616 D. Gerhardt,
Vermehrung, bei einem Fall seröser Meningitis bei Ohreiterung starke
Drucksteigerung, aber sonst normale Verhältnisse.
Besondere praktische Bedeutung hat die spezielle Frage: Kann die
Lumbalpunktion darüber Auskunft geben, ob neben anderen eiterigen
Prozessen im Hirn oder im Bereich der Dura auch eine eiterige
Meningitis bestehe. Sie tritt am häufigsten auf in der Otologie.
Gegenüber dem mehr zurückhaltenden Standpunkt von Stadel-
mann, KÖRNER^), Zeroni') ist die ScHWARTZEsche Schule^ immer
wieder lebhaft ftir die große Bedeutung der Lumbalpunktion in dieser
wichtigen Frage eingetreten, und zwar läßt sich nach der ScHWARTZEschen
Lehre nicht nur das positive Resultat, Trübung, Leukocytose, Bakterien-
gehalt für, sondern auch umgekehrt der Nachweis von normaler Be-
schaffenheit des Liquors gegen die Meningitis verwerten, letzteres
allerdings nur unter der Voraussetzung, daß durch die Menge der ab-
gelassenen Flüssigkeit deren Herkunft aus der Schädelhöhle gesichert ist.
Unter dieser Bedingung schreibt Schwartze dem normalen Ver-
halten des Liquors bindende Beweiskraft gegen die diffuse Meningitis
zu; etwas skeptischer steht er der Deutung des entgegengesetzten Be-
fundes, der Trübung und dem Leukocytengehalt, gegenüber, denn erstere
kann in seltenen Fällen durch andere Dinge, nicht durch Eiterkörper-
chen, bedingt sein, und Leukocytose fand sich einigemale in Fällen,
wo die Operation nur seröse Meningitis aufwies; sicheren Beweis des
Bestehens von eiteriger Meningitis lieferte deshalb nur der Bacillen-
nachweis.
Ich selbst kann nur berichten, daß in zwei einschlägigen Fällen die
auf Ghmnd normalen Verhaltens des Liquors gehegte Erwartung, daß
keine Meningitis bestehe, durch den Verlauf der Fälle best&tigt wurde,
während in einem dritten die Trübung des Liquors leicht die Diagnose
der Meningitis erlaubte.
In einer weiteren Gruppe von Fällen gründet sich die diagnostische
Verwertbarkeit der Lumbalpunktion auf den Blutgehalt der Flüssig-
keit: Er kann zur Diagnose des Durchbruches eines apoplektischen
Herdes in die Ventrikel, oder zu der einer Hii-nläsion bei Schädelbruch,
seltener zur Erkennung einer spinalen Blutung verwendet werden.
Besondere Wichtigkeit kommt aber, soweit es sich heute übersehen
läßt, der Lymphocytose zu bei den luetischen Affektionen des Zentral-
nervensystems. Es ist als entschiedener diagnostischer Fortschritt zu
bezeichnen, daß durch die Cytologie in Fällen, wo etwa nur Kopf-
schmerz oder wo überhaupt nur unsichere Hirnsymptome bestanden.
1) Körner, Die otit. Erkrankungen des Hirns, 1902, 8. Aufl.
2) Zbboni, Aerztl. Mitteil. f. Baden, 1902.
3) Lbütert, Münch. med. Wochenschr., 1897 — Braunstein, Arch.
f. Ohrenheükd., Bd. 54. — Gbunert und Sghultzb, ebenda, Bd. 54. —
Orünbrt, ebenda, Bd. 55. — Schultzb, ebenda, Bd. 58.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 517
der Nachweis von dem Bestehen anatomischer Veränderungen (im
weitesten Sinne) im Hirn-Rückenmarksraum erbracht und daß damit
die syphilitische Natur dieser Veränderungen wenigstens in hohem
Maße wahrscheinlich gemacht werden kann.
Ob es, wie Nissl ho£Ft, gelingen wird, durch den Nachweis der
Lymphocytose die entzündliche von der nicht entzündlichen Form der
Himlues zu trennen, bleibt abzuwarten.
Daß die Diagnostik der Tabes aus der Cytologie nennenswerten
Nutzen ziehe, scheint mir dagegen fraglich, eben weil jede Form lueti-
scher Veränderung am Rückenmark ebensogut wie die Tabes Lympho-
cytose bewirkt. Dasselbe gilt für die Diagnose der Paralyse, soweit
es sich um die Untercheidung von Hirn- oder Rückenmarkslues handelt.
Wohl aber scheint die Cytologie und die mit ihr gleichsinnige Eiweiß-
bestimmung berufen, zur Abgrenzung der Paralyse von anderen Formen
der Demenz sowohl wie von Alkoholpsychosen ganz wesentlich beizu-
tragen.
Als weitere Errungenschaft der Lumbalpunktion, die sich allerdings
weniger auf die Diagnostik als auf die Pathologie bezieht, ist zu be-
zeichnen, daß sie zur Aufklärung der Entstehungsursache einiger
Affektionen beigetragen hat. Das gilt, freilich erst an wenigen Fällen
erprobt, für die bakterielle Natur der akuten Myelitis und anscheinend
auch für die der Einderlähmung.
Auch das mehr negative Resultat, daß bei Urämie nicht immer
Drucksteigerung des Liquors vorkommt *), ist von Wert für die Theorie
der Urämie.
Der therapeutische Wert der Lumbalpunktion läßt sich wesent-
lich kürzer besprechen als der diagnostische. Handelt es sich dort
darum, das fast überreiche Material kritisch zu sichten und zu ordnen,
so muß man, wenn von therapeutischem Effekt gehandelt werden soll,
geradezu suchen, ob nicht doch — entgegen der herrschenden Meinung
— da und dort den Kranken durch den Eingriff wirklich genützt
worden ist.
Hier ist in erster Linie die seröse Meningitis zu nennen.
Quincke und seine Schüler 2) haben eine Reihe von Fällen mitgeteilt,
wo an dem günstigen Erfolg der Lumbalpunktion auf das Befinden des
Patienten nicht gezweifelt werden kann, auch wenn für viele seiner
Fälle der Einwand richtig sein mag, daß der Eingriff nicht lebens-
rettend gewesen sei, weil die Krankheit an sich die Tendenz zum
1) Gbbhardt, C, Internat. Kongr. zu Moskau. — Wilms, Münch. med.
Wochenschr., 1897.
2) h. bes. Quincke, Zeitschr. f. Nervenheilkd., Bd. 9. — Ribkbn, Arch.
f. kHn. Med., 56.
Mitten, a. d. Oronzgebieton d. Medizin u. Ohirargle. zm. Bd. 34
518 D. Gerhardt,
Heilen besitze. Wenn auch in FOrbrinoers ^), Potts*), Fleisch-
manns ^) Fällen der therapeutische Effekt der Lumbalpunktion ausblieb
und MÜNZER ^) die Indikation zur Lumbalpunktion bei Meningitis
serosa sogar nur auf die ganz hartnäckigen, chronischen Fälle be-
schränken wollte, so konnten doch späterhin Lenhartz^), Seiffer^)^
GoLDSCHEiDER ^, CoNCETTi^, Zeroni^) die QuiNCKEscheu Angaben
bestätigen.
Der serösen Meningitis nahestehend, ja eigentlich nur dem Grad nach
von ihr unterschieden, sind offenbar die Fälle von Chlorose, die
sich durch intensives Kopfweh auszeichnen, und bei denen, wie Len-
HARTZ gezeigt hat, die Lumbalpunktion so deutlichen Nutzen bringen
kann.
Quincke selbst meint, daß bei akuteren Prozessen die Aussichten
von vornherein günstiger seien als bei chronischen. Es sind aber doch
auch chronische Fälle von Hydrocephalus bekannt geworden, wo
durch wiederholte Punktionen deutliche Besserung erzielt wurde;
Quincke selbst, dann namentlich Grober *®) und Bokay ^^) haben über
solche Fälle berichtet Einigemale wurde bei cerebralen und spinalen
Meningealappolexien deutliche Besserung nach Lumbalpunktion ge-
sehen ").
Recht wenig scheint die Lumbalpunktion therapeutisch da zu leisten^
wo man wohl am ehesten einen Nutzen erwartet hatte, bei der tuber-
kulösen Meningitis und bei Hirntumoren. Selbst vorübergehende
Erleichterung wird hier verhältnismäßig selten beobachtet ^^), wenn auch
gelegentlich nicht nur subjektive Besserung, sondern sogar Wiederkehr
der Sehnenreflexe ^^), Zurückgehen der Stauungspapille^^), Steigen der
PulszahP^) konstatiert werden konnte.
1) FOrbrinqbr, Dtsch. med. Wochenschr., 1896.
2) PoTT, 67. Naturf.-Ver8.
3) Flbischmakn, Zeitschr. f. Nervenheilkd., Bd. 9.
4) MüNZBR, Prag. med. Wochenschr., 1899.
5) Lbnhartz, Kongr. f. innere Med., 1896.
6) Seipfer, Charit^-Annal., 1899.
7) GoLDSCHBiDBR, Berl. klin. Wochenschr., 1895.
8) CoNCBTTi, ref. Neun Centralbl., 1900, p. 322.
9) Zeroni, Aerztl. Mitteil. f. Baden, 1902.
10) Grober, Münch. med. Wochenschr.
11) Bokay, Jahrb. f. Kinderheilkd., Bd. 57.
12) Froik und Chaufpard, Sog. höp., Oct. 1903, ref. Dtsch. med.
Wochenschr., 1903, p. 388. — Jakoby, New York med. journ., 1896. —
Kiliani, ebenda, 1896 (cit. bei Braun).
13) So WiDAL, Soc. höp., 14. fev. 1902, bei Tumor. — Frbthan, 1. c
u. RocAZ, ref. Neurol. Centralbl., 1903, p. 135, bei Meningitis tub.
14) FiNKLENBUBG, Dtsch. med. Wochenschr., 1902, V.-B., p. 38.
15) Peters (Goldschbider), Dies. Berlin, 1897.
16) Grunbrt u. Schultze, Arch. f. Ohrenheilkd., Bd. 54.
Diagnostische and therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 519
Bei den eiterigen Entzündungen sind die Chancen natür-
lich von Haus aus gering. Doch haben Wilms*), Roths 2) Koplik 5)
bei epidemischer Meningitis deutliche Besserung nach der Punktion ge-
sehen; ähnliches berichten Grunert und Schultze von otitischer,
Mta^) von 3 Fällen eiteriger Meningitis mit Influenzabacillen im Ex-
sudat. Bertelsmann ^) brachte eine eiterige Meningitis nach Ohreiterung
durch Lumbalpunktion zur Heilung.
Bei den chronischen Prozessen, bei Tabes, Sklerose, Para-
lyse ist nichts von therapeutischen Erfolgen zu berichten. Nur eine
AfFektion macht hier eine Ausnahme; die heftigen Kopfschmerzen
der sekundären und tertiären Lues wurden in einer ganzen Reihe
wesentlich gebessert^, und ich kann den bisher veröffentlichten, meist
der französischen Literatur entstammenden Fällen einen aus der Er-
langer Klinik hinzufügen, in dem Quecksilber, Jod und alle möglichen
symptomatischen Mittel vorher versagt hatten.
Ich glaube danach, daß man mit einiger Aussicht auf Erfolg zur
Lumbalpunktion schreiten kann bei den akuten und subakuten Fällen
von seröser Meningitis der Erwachsenen und bei jenen Fällen alter
Lues mit hartnäckigen Kopfschmerzen. Geringere Aussicht bietet der
chronische, erworbene und angeborene Hydrocephalus, doch ist hier der
Versuch entschieden gerechtfertigt. Und dasselbe gilt von den akuten
eiterigen Entzündungen, der epidemischen, der Meningitis nach Pneu-
monie, Typhus, Influenza; recht gering ist die Wahrscheinlichkeit eines
Nutzens bei der tuberkulösen Form und am geringsten ist sie bei
Hirngeschwülsten.
Da, wo vom Nutzen der Lumbalpunktion gehandelt wird, muß
auch von der Möglichkeit des Schadens gesprochen werden. Gum-
PRECHT^) hat vor 4 Jahren aus der Literatur 15 Fälle gesammelt und
ihnen 2 selbstbeobachtete hinzugefügt, wo die Kranken rasch nach der
Lumbalpunktion starben: Matstre^) hat 6 weitere zusammengestellt
(2 davon allerdings nicht nach einfacher Punktion, sondern nach intra-
spinaler Kokaininjektion) und einen eigenen beschrieben; zu ihnen
kommen noch 1 von Friedjüng ^), 2 von Braunstein ^®) und 3 von
1) WiLMS, a. a. 0.
2) K0HT8, Therap. Monatsh., 1900.
3) Koplik, New York med. News, 1901.
4) Mya, Gaz. osped., 1903.
6) Bertblsmaütn, Dtsch. med. Wochenschr., 1901, p. 18.
6) MiiiiAN, Marie et Guillain, Soc. höp., 14 f(6v. 1902. — Bblätre,
Thfese Paris, 1902.
7) GuMPRECHT, Münch. med. Wochenschr., 1900.
8) Maystre, Thfese Montpellier, 1903.
9) Friedjung, Wien. klin. Wochenschr., 1901.
10) Braunstein, Arch. f. Ohrenheilkd., Bd. 54.
34*
520 D. Gerhardt,
Nonne ^) mitgeteilte. Unter diesen 30 Fällen befinden sich einige, wo
der Tod erst 2 — 3 Tage nach dem Eingriff erfolgte, andere, wo der
plötzliche Tod wohl mit demselben Recht der Krankheit selbst, wie der
Lumbalpunktion zugeschrieben werden konnte. Aber es bleiben doch
mindestens 12 Fälle übrig, wo kaum ein Zweifel an dem Zusammen-
hang bestehen kann. FOrbringer weist darauf hin, daß es sich zu-
meist um Fälle von Hirntumoren, zumal solchen der hinteren Schädel-
grube handelte. Er schließt sich Stadelmanns Vermutung an, daß
ein Verschluß des Foramen Monroi bestanden habe, daß deshalb nach
dem Ablassen der Arachnoidalflüssigkeit der Druckausgleich von den
Ventrikeln her erschwert war und das Hirn deshalb gleichsam an die
Schädelkapsel angesogen wurde, und glaubt, daß zumal die gegen die
unnachgiebigen Ränder des Hinterhauptloches angepreßte Hirnsubstanz
nachhaltige Ernährungsstörungen erleide.
Für derartige Schädigung des Hirns spricht die von Gumprecht
betonte Tatsache, daß bei einer auffallend großen Zahl jener Fälle die
Atmung vor dem Herzschlag erlosch, ein Verhalten, das sonst vor-
wiegend bei Hirnkrankheiten beobachtet wurde.
Wenn diese Deutung richtig ist, dann wird man voraussichtlich
solche ernsten Folgen der Lumbalpunktion verhindern können dadurch,
daß man Fälle mit Verdacht auf Hirntumor, zumal auf Kleinhirntumor,
womöglich von der Punktion ausschließt und daß man als Regel nur
wenige Kubikzentimeter Flüssigkeit entnimmt und diese recht langsam
ablaufen läßt.
Wenn nun auch Todesfälle im Verhältnis zu der großen Zahl von
Lumbalpunktionen, die im Laufe des letzten Decenniums ausgeführt
wurden, seltene und hoffentlich in Zukunft vermeidbare Vorkommnisse
sind, so werden doch leichtere, aber für den Kranken immerhin zu-
weilen recht unangenehme Folgeerscheinungen relativ häufig mitgeteilt.
Zwischenfälle bei der Punktion selbst, Blutungen oder vorüber-
gehende Erscheinungen, die offenbar auf Läsion von Nervenfasern zu
beziehen sind, plötzlicher Schmerz, Taubheitsgefühl, Zucken in einem
Bein (FOrbringer, Quincke, Wilms) kommen selten vor und haben
praktisch keine große Bedeutung. Wesentlicher ist das Kopfweh, das
seltener während der Operation selbst, meist erst 5—6 Stunden danach
beginnt und einige Stunden, manchmal aber Tage lang andauert; nicht
selten kommen Schwindel und Erbrechen hinzu; alle Symptome sind
stärker beim Sitzen und Gehen als beim Liegen. Nissl vergleicht sie
treffend mit der Seekrankheit.
Nissl sah solche Erscheinungen bei V4 seiner Punktionen, merk-
1) Nonne L d. Diskussion zu diesem Vortrag auf der Badener Ver-
sammlung. 2 seiner Fälle sind mitgeteilt von Lbo Müller in den Mitteil,
a. d. Hamb. Staatskrankenanstalten.
Diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion. 521
i^ürdigerweise sogar nach 6 von seinen 7 Punktionen an Gesunden^
Andere Autoren haben sie viel seltener erlebt. Bei 22 Fällen der
Erlanger Klinik^) wurden sie 4mal beobachtet.
Der eine dieser 4 Patienten litt an multipler Sklerose, die 3 anderen
bemerkenswerterweise an Hirntumor.
Bei einem derselben, bei welchem ein außerordentlich heftiger Kopf-
schmerz 8 Tage lang anhielt, war der Eingriff selbst besonders glatt und
rasch verlaufen, es waren nur 5 ccm Liquor, der unter hohem Druck stand,
entleert worden, Pat. hatte während und unmittelbar nach der Punktion
keinerlei Beschwerden, bis nach 6 Stunden die heftigen Kopfschmerzen
einsetzten.
Ein anderer Fall bettaf ein Mädchen mit Hirntumor, bei dem nach
einer Palliativoperation eine faustgroße Meningocele über dem Scheitelbein
bestand. Punktion dieser Meningocele mittels Probepunktionsspritze und
Entleerung von ca. 10 ccm Flüssigkeit hatte keinerlei üble Folge, während
8 Tage später auf eine Lumbalpunktion, die viel weniger Liquor ent-
leerte, heftige Kopfschmerzen folgten.
Auch aus den Mitteilungen anderer Autoren (Stadelmann, Für-
bringer, Lenhartz, Jakobt) geht hervor, daß bei Hirngeschwülsten
derartige unangenehme Folgen der Punktion am häufigsten eintreten,
ein neuer Hinweis darauf, daß bei dieser Krankheitsgruppe Lumbal-
punktionen besser unterbleiben.
Die Ursache dieser merkwürdigen nachhaltigen Störungen, die im
Anschluß an die Lumbalpunktion vorkommen, ist kaum in den Druck-
schwankungen des Liquors an sich zu suchen: hiegegen spricht 1) der
Umstand, daß der Kopfschmerz zumeist erst 5 — 6 Stunden später einsetzt,
2) die mehrfach ^) erwiesene rasche und fast unbegrenzt große Regenerations-
fähigkeit des Liquors. Es liegt nahe, an Beizzustände im Bereich der Meningen
zu denken. Dafür spricht die von mehreren Beobachtern gemachte Beobach-
tung, daß in den der Punktion folgenden Tagen die Zahl der Leukocyten
im Liquor vermehrt sein kann; femer die Angabe von Mujak^) und
ScHWARTZ*), daß eine erneute Punktion die Beschwerden linderte.
In manchen Fällen mag eine Blutung aus einer angestochenen Vene
zu derartiger E.eizung beitragen; nach Maystrbs Tierversuchen können
auch ganz geringfügige Gefkßverletzungen zu immerhin deutlichen Nach-
blutungen fahren.
Daß solche Blutungen gelegentlich recht erheblich werden können, hat
Hbnnbbbro^) an 2 Fällen, die zur Sektion kamen, demonstrieren können.
Ossipow^ sah bei Hunden nach allerdings relativ ergiebigen Punk-
1) Für die freundliche Erlaubnis, diese Fälle mit beobachten und in
der vorliegenden Arbeit verwerten zu dürfen, bin ich Herrn Prof. Penzoldt
zu großem Danke verpflichtet.
2) Schilling, Münch. med. Wochenschr., 1896. — Matthibu, ref. Sem.
m6d. 1901, p. 363. — Giss, Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 8.
3) MiLiAN, Sem. m6d., 1902, p. 201.
4) ScHWARTZ, Soc. Chir., 2. Febr. 1902.
5) Heknbbbro, Neurol. Centralbl., 1900, p. 43.
6) Ossipow, Zeitschr. f Nervenheilkd., 1903.
622 D. Gerhardt, Diagnostische und therapeutische Bedeutung etc.
tjonen regelmäßig deutlich Hyperämie der Meningen, nach wiederholten
Punktionen punktförmige Blutungen im Grau der Lenden- und Gervical-
anschweUung und Läsionen der Ganglienzellen.
All diese Erfahrungen mahnen zur Vorsicht. Aber, soweit man die
Dinge heute überblicken kann, muß man doch sagen, daß die Lumbal-
punktion, mit gehöriger Vorsicht angewandt, keine ernsten Folgezu-
stände herbeifuhrt. Jedenfalls stehen den leichten vorübergehenden
Nachteilen weit größere Vorteile gegenüber, welche sie für die Er-
kennung von Krankheiten auf dem Gebiet der Neurologie und, wie
wir bestimmt zufügen können, der Psychiatrie, gebracht hat, welche
sie, wenn auch nur in vereinzelten Fällen, auch für die Behandlung
der Kranken leistet, und welche dem Einblick in die Entstehung krank-
hafter Prozesse im Bereich des ganzen Zentralnervensystems durch sie
erwachsen sind.
Literatur.
Die Literatur, soweit sie nicht im Text berücksichtigt, findet sich zu-
sammengestellt in folgenden Arbeiten:
Stadblmann, MitteiL a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Ohir., Bd. 2.
Nburath, Centralbl. f. d. Grenzgeb., Bd. 1.
Braun, Arch. f. klin. Ohir., Bd. 54.
Quincke, lieber Lumbalpunktion in „Deutsche Klinik^^, Lfg. 54 — 56.
Die französische Literatur über Cytologie s. bei Brion, Centralbl. f.
allg. Path. u. path. Anat., Bd. 14, u. bei Sibmbrx.ing, Berl. klin. Wochen-
schrift, 1904, No. 21.
Aus dem Bürgerhospital zu Köln.
Oberarzt: Geh.-Rat Prof. Dr. Bardenheüer.
Nachdruck verboten.
XX.
lieber die primäre Tuberkulose der Milz.
Von
Dr. Josef Bayer.
In seiner Abhandlung ^Die Krankheiten der Milz^ hat Litten den
apodiktischen Satz ausgesprochen : ^Die Tuberkulose der Milz als solche
kann niemals Gegenstand der Therapie werden." Diesen Worten
LiTTENs, die doch gewiß nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig
lassen, glaubte kürzlich Laspetres eine gewisse Einschränkung geben
zu können, indem er 5 Beobachtungen zusammenstellte, in welchen die
isolierte Tuberkulose der Milz durch Exstirpation dieses Organs geheilt
und die Patienten vor der drohenden allgemeinen Tuberkulose oder
anderen Komplikationen bewahrt wurden. Bardenheuer hatte vor
kurzem ebenfalls Gelegenheit, einen Fall von primärer Milztuberkulose
durch Splenektomie zur Heilung zu bringen, und wenn ich neben dieser
Beobachtung Bardenheuers noch den von Laspetres nicht er-
wähnten, ebenfalls geheilten Fall von Quänü und Baudet hinzurechne,
so verfügen wir über 7 Beobachtungen, die vollauf den Beweis er-
bringen, daß die Tuberkulose der Milz wohl einer Therapie und dazu
noch einer erfolgreichen zugänglich ist und wäre es auch eine so ein-
greifende, wie sie die Entfernung des ganzen Organs darstellt.
In der deutschen Fachliteratur habe ich nun eine umfassende Dar-
stellung der primären Milztuberkulose und eine Zusammenstellung ihrer
Kasuistik nicht gefunden, und schon aus diesem Grunde sei mir zu-
nächst gestattet, die einzelnen Fälle im Zusammenhang mitzuteilen.
Aber auch zur Stütze mehrerer Behauptungen, die im folgenden ver-
treten werden sollen, erscheint mir eine gedrängte üebersicht der Be-
obachtungen unerläßlich.
524 Josef Bayer,
A. Operierte Fälle (9).
1) Marriot (1897). Es handelte sich um eine d2-jähnge, im übrigen
gesunde Frau, die seit 2 Jahren von einer stetig wachsenden Gheschwulst
in der linken Seite gequält wurde. Syphilis, Malaria lagen nicht vor;
Drüsenschwellungen waren nicht vorhanden. — Bei der Laparotomie zeigte
sich, daß der Tumor der Milz angehörte, die deshalb exstirpiert wurde.
Die Milz, die bei allgemeiner Vergrößerung multiple Knoten aufwies, war
20 cm lang, 15 cm breit und 7,5 cm dick. Auf dem Durchschnitt traten
überall kleine, wenig verkäste Knötchen hervor, die für Tuberkel gehalten
wurden, aber ungewöhnlich große Zellen um die zentralen Riesenzellen
herum enthielten. Die spätere Blutuntersuchung ergab nichts Abnormes.
Heilung.
2) Bland-Suttons Fall, der wegen seiner Heilung gelegentlich er«
wähnt wird, ist nicht ausftlhrlich veröffentlicht worden.
3) QuÄNü und Baudbt (1898). Eine 21-jährige Frau hatte seit
2 Jahren in der linken Bauchseite eine Anschwellung bemerkt, die sich
unter Schmerzen immer mehr vergrößerte. Wegen ihrer starken Be-
schwerden wünschte die Frau dringend die Operation. Die Zahl der
roten Blutkörperchen betrug 4495000. — Ein Schnitt auf der Höhe des
Tumors in der Verlängerung der linken Axillarlinie offenbarte eine be-
trächtliche Milzgeschwulst von grauweißer Farbe und von so deutlicher
Fluktuation, daß sie eine Echinococcuscyste vortäuschte. In Wahrheit
aber war nur der untere Pol von dieser Verfllrbung ergriffen, während
gegen die Mitte hin die natürliche Farbe wieder vorherrschte. An der
oberen Hälfte und an einer kleinen mit der Geschwulst zusammenhängen-
den Stelle des unteren Pols war die Milz durch zahlreiche Adhäsionen
mit den Nachbarorganen verwachsen, so daß an eine regelrechte Exstirpa-
tion nicht zu denken war. Da aber der untere Pol so weit beweglich war^
wurde dieser in den Bereich der Peritonealöffnung hereingezogen und
hier durch Nähte fixiert. Nach Incision des extraperitoneal gelagerten
Teiles entleerten sich zunächst einige Tropfen einer dünnen gelben
Flüssigkeit; der eingeführte Finger forderte aber fibrinöse Gerinnsel in
großer Menge zu Tage und konnte eine Tasche bilden, in welche zwei
Drainröhrchon eingelegt wurden. In der Folge entleerten sich fötide
Massen, und 10 Tage nach Eröffnung war die Wunde mit grünlich ge-
färbten Gewebsfetzen angefüllt, die mit der Schere, zum Teil mit dem
Thermokauter abgetragen wurden. Die Untersuchung der ausgeschiedenen
Massen ergab die Anwesenheit von Tuberkelbacillen. Die Abstoßung
der abgestorbenen Milzteile dauerte 4 Monate, worauf die Wunde sich
schloß.
4) Lannblongub und Vitbac (1898). Eine 38-jährige Frau kam
wegen unbedeutender Verdauungsstörungen zur Aufnahme. Sie hatte in
der linken Bauchseite eine faustgroße, gut von vorn nach hinten ver-
schiebliche Geschwulst. Keine Malaria, keine Leukämie. — Wegen der
ungewissen Diagnose Laparotomie. Längsschnitt an der Außenseite des
M. rectus. Der Tumor gehörte der Milz an, die sich leicht hervorwälzen
ließ. Die Exstirpation bot keine Schwierigkeiten. 10 Tage lang nach
der Operation bestand Fieber (bis 39% das von der Wunde jedoch nicht
ausging. Die Milz wog 300 g, war von normaler Konsistenz und etwas
blasser Farbe. Unmittelbar unter der Kapsel Tuberkel in großer Anzahl,
auch auf der Schnittfläche wurden Biesenzellen und Tuberkelbacillen ge-
üeber die primäre Tuberkulose der Milz, 525
funden. Ebenso waren die Drüsen am Hilus tuberkulös. Fat wurde
in guter Ghesundbeit entlassen.
5) Gablb (1901) exstirpierte eine stark vergrößerte Milz, die sich als
tuberkulös herausstellte. Die Kranke genau vollkommen und machte später
noch zwei Entbindungen durch.
6) Grillo (1901). Bei einer 19-jährigen Frau, die 10 Monate vor
der Aufnahme ihr erstes Kind geboren, hatte sich schon 2 Monate vor
der Niederkunft unter Schmerzen und einem Geftihl von Schwere eine
Geschwulst im linken Hypochondrium entwickelt Malaria oder Syphilis
lagen nicht vor. Die Geschwulst reichte bei der Aufnahme bis 1 Quer-
iinger breit von der Mitte, nach unten 2 cm unter die Nabelhöhe. Das
Verhältnis der weißen und roten Blutkörperchen war 1 : 592, der Hämo-
globingehalt 80 Proz. — Von einem medialen Bauchschnitt aus wurde der
Milztumor exstirpiert. Die Leber war normal. Nach der Operation
Bronchopneumonie, die mehrere Wochen lang Fieber mit abendlichen
Steigerungen bis 39,5 ^ zur Folge hatte. Die Milz wog 1075 g, war glatt
und von normaler Konsistenz. Sie war durchsetzt von zahlreichen grauen
Knötchen, die sich mikroskopisch als typische miliare Tuberkel erwiesen
und teils in den Follikeln, teils in der Pulpa gelegen waren. Die Unter-
suchung auf Tuberkel bacillen war negativ. 5 Wochen nach der Operation
zeigten die Blutkörperchen das Verhältnis von 1:818; der Hämoglobin-
gehalt betrug 65 Proz. Die Pat blieb 2 Monate in Behandhing und
wurde dann geheilt entlassen. Ein Jahr später fühlte die Frau sich recht
wohl und ging ihrer zweiten Entbindung entgegen.
7) Eigene Beobachtung.
Karl G., 58 Jahre, Fabrikarbeiter. 15. Sept. bis 8. Nov. 1908.
15. Sept. 1903. Eltern an Altersschwäche gestorben. Drei Kinder leben
und sind gesund. Früher ist Patient niemals krank gewesen. Seit
6 Wochen hat er Drücken in der Magengegend und will in der letzten
Zeit stark abgemagert sein.
Ernährungszustand ist mittelmäßig. Schleimhäute etwas blaß, keine
Pigmentablagerungen in der Haut. Lymphdrüsen nirgends geschwollen.
Keine Knochenerkrankungen.
Herz und Lungen gesund. Leberdämpfung schneidet mit dem Rippen-
bogen ab. Unter dem linken Rippenbogen ein harter, rundlicher Tumor
fühlbar, der nach der Mitte bis zum Nabel und nach unten bis 2 Quer-
finger breit über das Lig. Poupartii reicht Man kann sich die Geschwulst
leicht von vorne nach hinten und umgekehrt entgegenschieben, wobei sich
deutlich der stumpfe Rand fühlen läßt, an dem jede scharfe oder derbe
Lappenbildung fehlt. Das aufgeblähte Querkolon verläuft unmittelbar
unter der Geschwulst.
Urin ohne Eiweiß und Zucker, ohne morphologische Bestandteile;
auch früher ist in demselben niemals Blut bemerkt worden. Auch im
Stuhl kein Blut, ebenso sind niemals Zahnfleisch- oder Nasenblutungen
beobachtet worden.
Bei der Blutuntersuchung zeigen sich die weißen Blutzellen nicht ver-
mehrt, eher vermindert, in jedem Gesichtsfeld (gefärbtes Präparat) höch-
stens 2 — 3; hauptsächlich polynukleäre, ganz vereinzelte kleine Lympho-
cyten, keine großen mononukleären Zellen. Zahl der roten Blutkörperchen
etwa 6000000. Verhältnis annähernd 1:800. Hämoglobingehalt 40 Proz.
Wenn auch der Urin früher und jetzt keine pathologischen Bestand-
teile aufwies, konnte doch ein Hydronephrom in Präge kommen, zumal die
526 Josef Bayer,
Form der Geschwulst von der Gestalt der gelappten Milz abwich. Frei-
lich sprach gegen einen der Niere anhaftenden Tamor die Lagerung des
Dickdarms. Trotzdem der Blutbefund ein negativer war, mußte doch an
einen Milztumor gedacht werden. Hierbei kam Amyloid in Betracht, Lues
war auszuschließen. Da aber ein tuberkulöser Herd und ebenso alte
Prozesse in den Lungen nicht nachweisbar waren, außerdem im Urin
weder Eiweiß noch Cylinder gefunden wurden, war für Amyloid kein
Anhaltspunkt zu gewinnen. Abgesehen davon, daß der Tumor fUr Anaemia
splenica und für eine Milzschwellung bei Girrhosis hepatis zu groß er-
schien, fehlte außer einer Veränderung der Leber (Vergrößerung oder
Schrumpfung) auch der Ascites. Einen Fingerzeig für die Diagnose
glaubten wir aber in der schnellen starken Abmagerung zu sehen; es
wurde deshalb an einen malignen Tumor gedacht, der, da ein anderer
primärer Herd sich nicht ermitteln ließ, in der Milz primär aufgetreten war.
24. Sept. Operation. In der linken Seite extraperitonealer Lumbai-
schnitt, der an der 11. Rippe beginnt und in senkrechtem Verlaufe an der
Crista ilei endigt Bei Spaltung der Fascia transversa zeigt ein Gri£f
nach der linken Niere, daß dieselbe an ihrem Platze liegt und unversehrt
ist Daß der Tumor der Milz angehörte und der Respiration unterlag,
ließ sich jetzt durch das Peritoneum hindurch feststellen; die Milz schim-
merte bläulich durch und schob sich auf- und abwärts. Da Pat. in der
Narkose kollabierte, wurde die Operation abgebrochen und in einer zweiten
Sitzung am 7. Okt. der Lumbaischnitt etwas nach oben verlängert und in
der Mitte desselben ein 6 cm langer Querschnitt nach dem Nabel zu hin-
zugefügt. Nach Eröffnung des Peritoneum ließ sich die Milz leicht aus
ihrer Nachbarschaft herauswälzen. Die im Pankreasschwanz verlaufenden
Gefäße wurden, nachdem die Milz vorsichtig vor die Bauchwunde gelagert
war, zur größeren Sicherung der Blutstillung durch Fäden, die teils durch
die Pankreassubstanz verliefen, teils dieselbe umfaßten, abgebunden. Der
Pankreasstumpf wurde, nachdem der Peritonealraum hinsichtlich blutender
Stellen revidiert und völlig geschlossen war, in die oben und unten durch
Oatgutnähte verkleinerte Bauchwunde zwischen die Mm. obliqui eingenäht.
Darüber wurde, unter Drainage auf den extraperitonealen Stumpf, die
Haut durch Nähte vereinigt.
Die ohne jede Zerreißung exstirpierte Milz war 25 cm lang, 12,5 cm
breit und 8 cm dick; sie wog 1750 g.
Die Vergrößerung derselben ist gleichmäßig, die Farbe normalrot und
die Konsistenz mittelweich. Die Kapsel ist glatt, nirgends getrübt und
verdickt und läßt an drei Stellen stecknadelkopfgroße Erweichungsherde
durchschimmern.
Das Parenchym ist auf dem Durchschnitt mit zahlreichen miliaren
grauen, etwas prominenten Knötchen durchsetzt, die makroskopisch den
Eindruck verdickter Lymphknötchen machen. Die Pulpa ist dunkelrot,
etwas abstreifbar. Die Septen sind undeutlich. Kein Amyloid nach-
weisbar.
Mikroskopisch zeigen sich die Knötchen als miliare Tuberkel, zentral
verkäst, von einer epitheloiden Zone umgeben. Viele Riesenzellen. Die
Untersuchung auf Tuberkelbacillen war negativ.
Einige Tage nach der Operation trat wieder ein leichter Kollaps ein,
der sich in Irregularität und Beschleunigung des Pulses (bis 170 Schläge
in der Minute) äußerte. Auf den Lungen geringe Hypostase ; im Auswurf
keine Tuberkelbacillen. Urin zeigt vorübergehend eine Spur Eiweiß.
22. Okt. Die Blutuntersuchung ergab einen Hämoglobingehalt von
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 527
40 Proz. ; Verhältnis der Blntkörpercben 1 : 320. Drüsenschwellungen
nirgends festzustellen.
Der Wundverlauf war völlig normal. Pat. konnte am 30. Okt. das
Bett verlassen. Sein Appetit hob sich und sein Aussehen wurde zusehends
besser. Am 8. Nov. fuhr er in vollem Wohlbefinden nach Hause.
Auf eine Anfrage gab der Pat. am 3. April 1904 den Bescheid, daß
er am 16. Nov. 1903 seine Arbeit in der Fabrik wieder aufgenommen
habe und sich vollkommen wohlfühle. Sein Körpergewicht ist das gleiche
geblieben.
Diesen 7 glücklich verlaufenen Milzexstirpationen füge ich noch
2 Fälle hinzu, in welchen die Operation einen ungünstigen Ausgang
nahm.
8) BuRKE (1889). Eine 27-jährige Frau hatte 5 Monate nach ihrer
Niederkunft eine schmerzhafte Geschwulst in der linken Leibeshälfte be-
merkt. Eine gleichzeitig bestehende Anämie wurde durch Eisen und
Chinin günstig beeinflußt. Da jedoch die Oeschwulst zunahm und die
heftigen Schmerzen anhielten, entschloß sie sich zur Operation. — Die
exstirpierte Milz war höckerig und wog 1500 g; sie war 28 cm lang und
6,5 cm dick und erwies sich deutlich als tuberkulös. Sofort nach der
Operation trat eine große Pulsbeschleunigung ein, die auch am folgenden
Tage anhielt. Bei hoher Temperatur und frequenter Respiration erfolgte
der Tod im Kollaps.
9) CoMiNOTTi (1900). Eine 39-jährige Frau, die schon seit langen
Jahren an Menstrualbeschwerden gelitten hatte, war mit einem beträcht-
lichen, bis zur linken Leistenbeuge reichenden Milztumor behaftet; auch
die Leber war vergrößert. Die Zahl der roten Blutkörperchen betrug bis
7 500000, die der weißen schwankte zwischen 6000 und 7200. — Die
exstirpierte Milz wog 4200 g, war 33 cm lang und maß 40 cm im Um-
fang. In derselben sehr beträchtliche Bindegewebswucherung ohne makro-
skopisch sichtbare Tuberkel; die mikroskopische Untersuchung wurde
nicht vorgenommen. Die Zahl der roten Blutkörperchen fiel nach der
Splenektomie auf 6Y2 Millionen. — 52 Tage nach der Operation ging die
Pat. an Sepsis zu Grunde. Die Lungen waren normal; in der Leber
einige kleine Knötchen. Caries der Wirbelsäule.
B. Obduzierte Fälle (19).
1) GoLBT (1846). Ein einjähriges Kind wurde mit einer beträcht-
lichen Milzgeschwulst aufgenommen. Das Kind hatte einen wahren Heiß-
hunger und wurde von seiner skrofulösen Mutter genährt. Später traten
Oedeme und Ascites, sowie Lebervergrößerung hinzu. Tod nach 8 Mon.
— Die tuberkulöse Milz wog 11 Unzen und war mit dem Pankreas ver-
wachsen. Leber sehr groß. Lungen und Darmkanal frei von Tuber-
kulose.
2) MoKNBBET (1859). Ein 67-jähriger Mann bemerkte seit 8 Monaten
Schmerzen im linken Hypochondrium. Gleichzeitig Appetitlosigkeit und
Abmagerung. Keine Malaria, keine Leukämie. Später Koliken und Durch-
filUe. Tod im Coma nach 4 Monaten. — Die Milz war 27 cm lang, 8 cm
dick und am oberen Pol 19 cm, am Hilus 16 cm breit. Auf dem
Durchschnitt 8 — 10 käsige tuberkulöse Herde. In den übrigen Organen
keine Metastasen.
528 Josef Bayer,
3) Brut^ (1881). Ein 9-jähriger Knabe wird in schwachem, kachekti-
schem Zustande eingeliefert. Es besteht Pieber, Dyspnoe und Diarrhöe.
Tod an Entkräftung. — Die Langen sind gesnnd. Die Milz ist sehr
groß und mit zahlreichen gelben Massen angeftQlt. Auch die Leber ver-
größert.
4) ScHAROLDT (1883). Ein 25-jähriger Maurer wurde mit hohem
Fieber aufgenommen, dem Schtlttelfröste mit profusen Schweißansbrüchen
voraufgegangen waren. Abdomen aufgetrieben. Die Leber ist normal,
dio Milz stark vergrößert und leicht palpabel. Starke Cyanose ; die Haut-
farbe wechselt zwischen rot und tiefblau. Nasenbluten. Urinverhaltung.
Durchfälle. Tod nach 17 Tagen. — Die Milz ist um das Dreifache ver-
größert. Auf der Oberfläche und im Durchschnitt zahlreiche kleine
Tuberkel. Leber normal. Im Unterlappen der rechten Lunge ein kleiner
Infarkt.
5) CoLLiBR (1895). Ein G-jähriges Kind war bis zum Alter von 8 Mon.
stets gesund gewesen. Dann kränkelte es und nach 2 Jahren bemerkte
die Mutter eine Anschwellung des Leibes. Mit Bronchopneumonie ein-
geliefert — Sektion. Lungen frei von Tuberkulose. Die Milz wog
4 englische Pfund und zeigte die Sjrmptome einer tuberkulösen Eruption.
6) Haydbn (1898). Eine 24-jährige Frau litt an einer schmerzhaften
bis zum Nabel reichenden Milzgeschwulst. Eine Probelaparotomie zeigte
einen weichen, grau gefärbten Tumor, bei dessen Incision sich Eiter ent-
leerte, in dem Tuberkelbacillen gefunden wurden. Da Hayden sich zur
Splenektomie nicht entschließen konnte, begnügte er sich mit der Aus-
kratzung der tuberkulösen Massen. Der Tumor wuchs jedoch weiter.
Tod durch Haemoptoö und allgemeine Tuberkulose. — Die stark vergrößerte
Milz war mit verkästen, teilweise vereiterten Herden durchsetzt Zahl-
reiche Tuberkel im Pankreas und in der Leber.
7) Rendu und Widal (1899). Zuerst im Alter von 31 Jahren be-
merkte der Kranke Schmerzen im linken Hypochondrium. Hier entwickelte
sich dann eine Geschwulst, die langsam größer wurde und nach Verlauf
von 8 Jahren die ganze linke Hälfte des Unterleibes anfüllte und bis zur
Leistengegend herabreichte. Der Tumor, der der Milz angehörte, fühlte
sich hart und vielgelappt an. Während der 6 Monate vor dem Tode
zeigten sich Ulcerationen an den Kändern und auf der Hinterfläche der
Zunge, sowie auf der Innenseite der Oberlippe. Gleichzeitig bestand aus-
gesprochene Cyanose, besonders an den Extremitäten. Die Zahl der roten
Blutkörperchen war auf 6200000 gestiegen, die der weißen betrug 6000.
Keine kernhaltigen Blutkörperchen, auch keine Aenderung im Verhältnis
der verschiedenen Arten von Leukocyten. Bis zum Tode war Ascites
nicht aufgetreten. — Die Milz wog 3780 g, hatte eine Länge von 30 cm,
eine Breite von 18 cm und einen größten Umfang von 47 cm. Das Milz-
gewebe war an einzelnen Stellen fibrös entartet und im übrigen von mehr
oder weniger großen käsigen Herden durchsetzt. Die Untersuchung auf
Tuberkelbacillen verlief negativ. — Die Leber wog 2680 g und zeigte
mikroskopisch zahlreiche tuberkulöse Knötchen; auch im Pankreas und
in den Nieren einige tuberkulöse Narben.
8) Moutabd-Mabtin und Lefas (1899). Es handelte sich um eine
49jährige Frau. Ihre Mutter war an Lungenphthise gestorben, sie selbst
war im Alter von 7 Jahren an Typhus erkrankt, seitdem immer gesund
gewesen. 8eit einem Jahre hatte sie Schmerzen im linken Hypochondrium,
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 529
die von einem langsam wachsenden Milztumor ausgingen. Die Zahl der
roten Blutkörperchen betrug 8200000, die der weißen 31428. Keine
Oyanose. Im weiteren Verlauf starkes Erbrechen und etwas Husten. Der
Tod trat plötzlich ein, als sich die Frau im Bett aufrichten wollte. —
Die Milz war 1750 g schwer, 32 cm lang, 17 cm dick und am oberen
Pol 14 cm breit. Sie bot deutlich die Anzeichen einer primären chroni-
schen Tuberkulose. Spätere Infektion der Leber, die 2000 g wog. In
beiden Lungen alte tuberkulöse Narben.
9) Achard und Castaignb (1899). Der 38-jährige Fat. war gestorben
infolge Phlegmasia alba dolens des Oberschenkels. Die Blutuntersuchung
während des Lebens batte 3200000 rote und 6200 weilte Blutkörperchen
ergeben. — Die stark vergröfierte, höckerige, 1250 g wiegende Milz war
mit kleinen grauen Knötchen durchsetzt, in welchen mikroskopisch Riesen-
zellen und Tuberkelbacillen festgestellt wurden. Die Leber wog 1800 g,
auch die Nieren waren vergrößert, doch ließ sich in keinem anderen
Organe Tuberkulose nachweisen.
10) E.BINHOLD (1899). Ein 61-jähriger Arbeiter, der wegen Appetit-
losigkeit und Abmagerung, wegen Husten mit Auswurf die Arbeit auf-
geben mußte, starb einige Zeit darauf eines plötzlichen Todes. — Die
Milz war 15 cm lang und 11 cm breit und bis auf einen schmalen Spalt
mit der Umgebung allenthalben fest verwachsen. Auf dem Durchschnitt
zeigten sich zwischen sehr spärlichem dunkelroten Milzgewebe eine große
Anzahl von länglich-runden, meist mit dickem Eiter gefüllte Hohlräume,
deren Wand käsig infiltriert war; mikroskopisch zahlreiche Tuberkel,
teils sehr kleine, teils größere, in starker Verk&sung begriffen. In der
Umgebung der Käseherde Anhäufungen von Leukooyten. Teilweise waren
Biesenzellen zu sehen. Auch in den Lungen primäre Tuberkulose. Doch
trat die Tuberkulose der Milz der Erkrankung der Lungen gegenüber
ihrer Stärke nach so sehr in den Vordergrund, daß die Milztuberkulose
als das Primäre anzusehen war.
11) CoLLET und Gallavbrdin (1901). Bei einem 60- jährigen Manne
hatte sich seit 2 Jahren ein kaum schmerzender, bis zur Spina ant. sup.
reichender Milztumor mit buckliger Oberfläche entwickelt; gleichzeitig be-
stand Hypertrophie der Leber. Malaria und Syphilis waren ausgeschlossen.
Die Leukocyten waren nicht vermehrt; eine Zählung der roten Blut-
körperchen unterblieb. Es bestand Fieber. Gesichtsfarbe fhschrot bei
starker allgemeiner Abmagerung. Erst einen Monat nach der Aufnahme
traten Verdauungsstörungen und Zeichen von Anämie hinzu. Tod an
Entkräftung. — Die Milz war 2000 g schwer, hatte am unteren Pol
mehrere große Höcker und war auf dem Durchschnitt mit großen, derb-
käsigen Tuberkelknoten durchsetzt Die Leber wog 3150 g; entlang den
Pfortaderästen Tuberkelaussaat. Auch in den Lungenspitzen einige
kleinere fibröse und verkalkte Knötchen.
12) AucHä (1902). Ein 38-jähriger Kammerdiener hatte seit 8 Jahren
Beschwerden im linken Hypochondrium. Vor 6 Jahren wurde daselbst
eine Anschwellung bemerkt, die langsam größer wurde, aber kaum ernst-
liche Schmerzen machte. In der letzten Zeit gesellte sich Ascites hinzu.
Pat., der seit den 8 Jahren seiner Krankheit in jedem V^inter stark ge-
hustet, aber niemals Blut ausgeworfen hatte, befand sich bei der Auf-
nahme in einem sehr schlechten Gesundheitszustande. Er war stark ab-
gemagert und litt sehr unter Atemnot. Der Ascites nahm schnell zu und
530 Josef Bayer,
der Tod trat bald ein. — Im Abdomen 8—10 Liter klarer Flüssigkeit.
Das Peritoneum mit zahlreichen grau-weißen Knötohen besetzt Die Milz
wog 1250 g, war 22 cm lang und 17 cm breit; die Oberfläche kastanien-
braun. Auf dem Durchschnitt zahlreiche, teilweise zusammenfließende
graue Tuberkel knötchen. Tuberkelbacillen und Biesenzellen wurden nicht
gefunden. Neben den frischen auch alte, fibrös verhärtete Herde. — Die
Lungen waren vollständig frei von Tuberkulose. Die Leber hatte ein
Gewicht von 2200 g und bot das Bild einer diffusen interstitiellen Hepatitis ;
in derselben ebenfalls tuberkulöse Granulationen mit Tuberkelbacillen,
aber ohne Riesenzellen.
18) BiG&s (1902). Bei einem 9-jährigen Kinde i^nden sich in der
Milz große käsige Herde, die als tuberkulös angesprochen wurden. In den
anderen Organen keine Tuberkulose.
14) SiMONiN und DoPTBR (1902). Bei einem 19-jährigen Soldaten
fand man eine zweilappige Milz und in dem unteren Lappen drei große
käsige Herde, in denen sich Tuberkelbacillen nachweisen ließen. Auch
in den Nieren und in der Leber an den Pfortaderästen einige miliare
Knötchen.
15) Romanow (1902). Ein 80-jähriger Mann, der mit schweren Er-
scheinungen ins Krankenhaus kam, starb nach 4 Tagen. — Die Milz wog
2085 g, war 21 cm lang, 15 cm breit und 10 cm dick. Zwei Neben-
milzen, von denen die eine kugelförmig war und einen Durchmesser von
1,8 cm hatte, die andere 2,7 cm lang und 1,5 cm breit war. In der
Milz und den Nebenmilzen fanden sich außer zahlreichen kleinen Tuberkeln
anscheinend trocken-käsige Herde bis 1 cm im Durchmesser. Mikroskopisch
in der Milz typische Tuberkel, Riesenzellen und Tuberkelbacillen. — Die
Leber war normal groß, außen und auf den Schnittflächen mit Tuberkeln
besät, jedoch offenbar späteren Ursprungs. Die anderen Organe waren
frei von Tuberkulose.
16) ToLOT (1902). Bei einer 66-jährigen Frau war seit 4 — 5 Jahren
Abmagerung eingetreten. Später Verdauungsstörungen und Durchfälle.
Tod an Entkräftung. — Die Milz wog 480 g und zeigte auf dem Durch-
schnitt einige gelbe Knötchen; dieselbe Erscheinung in der 1150 g wiegen-
den Leber.
17) Lorrain (1903). Ein 39-jähriger Mann kam mit einer bedeuten-
den Milz- und Lebervergrößerung zur Aufnahme. Später führte eine
tuberkulöse Lungenaffektion zum Tode. — Die Milz wog 1650 g und war
25 cm lang und 15 cm breit Das Gewebe ist mit käsigen Herden von
Nuß- bis Eigröße durchsetzt; nach dem unteren Pol zu fließen die käsigen
Massen zusammen. Riesenzellen selten, Tuberkelbacillen in geringer An-
zahl vorhanden. Auch in der Leber käsige Herde, doch kleiner und
weniger zahlreich als in der Milz, frischere Granulationen mit weniger
Riesenzellen. In der rechten Lunge eine frische tuberkulöse Lifiltration,
im linken Unterlappen käsige Pneumonie.
18) Fbrrand und Rathbry (1903). Eine 34-jährige Frau fühlte sich
seit einem Jahre krank. Sie ist stark abgemagert und leidet an einer
schmerzhaften Leber- und Milzvergrößerung. Die Blutuntersuchung wurde
nicht gemacht. Cyanose bestand nicht. Tod an Kachexie. — Die Lungen
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 531
gesund. Die Milz wog 500 g und zeigte auf dem Durchschnitt zahlreiche
käsige Tuberkel. Auch auf der Mitralklappe frische tuberkulöse Granu-
lationen, in welchen sich Tuberkelbacillen nachweisen ließen.
19) Lefas (1903). Ein Mädchen von 14^, Jahren kam wegen einer
Lungen erkrankung ins Hospital. Es bestanden Fieber, Dyspnoe und
Durchfeile. — Bei der Obduktion wurde eine käsige Pneumonie des
rechten Unterlappens gefunden. Die Milz wog 150 g und hatte in ihrer
Mitte einen runden tuberkulösen Herd von mehreren Centimeter Durch-
messer. Um diesen Herd herum lagen noch mehrere andere Tuberkelherde
von Erbsengröße. In den anderen Organen keine Tuberkulose.
Das, was sich aus den aufgeführten Fällen über die Entstehung
der Milztuberkulose und ihre allgemeinen Erscheinungen im Organis-
mus ergiebt, stimmt mit Litteks Ansicht durchaus nicht überein.
Litten (1. c.) sagt ausdrücklich: ^Die Tuberkulose der Milz kommt
selbständig nicht vor, bildet vielmehr stets eine Teilerscheinung allge-
meiner Tuberkulose. . . . Immer tritt dabei die tuberkulöse Erkran-
kung der Milz sehr in den Hintergrund im Vergleich zu den sonst
vorliegenden tuberkulösen Organerkrankungen.** Unsere Fälle lehren
uns aber das gerade Gegenteil, nämlich, daß fast regelmäßig die Affek-
tion der Milz vor der Erkrankung der anderen etwa befallenen Organe
in auffallender Weise hervortritt und das Hauptinteresse in Anspruch
nimmt, und daß es tatsächlich eine primäre isolierte Tuberkulose der
Milz gibt: Ohne daß es sich, wie Litten fordert, um eine allgemeine
akute Miliartuberkulose oder um chronische Tuberkulose der Lungen,
des Darmes oder der Drüsen handelte, entwickelte sich bei Leuten,
die sich in guter Gesundheit befanden und nach keiner Seite hin eine
tuberkulöse Beanlagung boten, die Tuberkulose der Milz.
Die ersten Zeichen traten im linken Hypochondrium auf, wo lange
Zeit hindurch in immer zunehmendem Maße und mit wechselnder
Intensität sich stechende und ziehende Schmerzen zeigten in Verbin-
dung mit einem Gefühl von Schwere und Druck. Geraume Zeit treten
keine weiteren Symptome hinzu, höchstens zuweilen dyspnoische oder
dyspeptische Störungen und infolgedessen Appetitlosigkeit und Abmage-
rung. Im Verlaufe von 6 — 9 — 12 Monaten wächst dann der Milz-
tumor, ohne in toto herabzutreten ; er wird im Hypochondrium für die
Hand tastbar und bald auch für das Auge sichtbar, indem er in der
Gestalt einer derben, eiförmigen, länglichen und zuweilen höckerigen
Geschwulst Hypochondrium und Lumbaigegend, manchmal auch die
ganze linke Hälfte des Unterleibes bis zum Nabel hin vorwölbt. Selbst
wenn die Erkrankung schon in dieses Stadium getreten ist, kann sie
ohne oder mit Fieber mit abendlichen Steigerungen noch jahrelang
dauern und schließlich durch Entkräftung oder unter terminaler Tuberkel-
aussaat in andere Organe zum Exitus führen.
532 Josef Bayer,
Diese chronische Entwickelung der primären Milztuberkulose dürfte
nach der Kasuistik wohl als die Regel anzusehen sein; einen akuten
Verlauf beobachteten nur Scharoldt, Marriot und Stewart ^). Der
Patient Sgharoldts kam mit einer akuten fieberhaften Erkrankung
zur Aufnahme und starb nach 17 Tagen. Auch Marriot bezeichnet
seinen Fall, in welchem die allmählich wachsende Milzgeschwulst
2 Jahre lang beobachtet worden war, als akut, vielleicht deshalb, weil
zum Schlüsse eine akute Verschlimmerung eintrat, die dann zur Ope-
ration drängte. In unserem Falle hatte der Patient erst 6 Wochen
vor der Hospitalaufnahme die ersten ernstlichen Anzeichen seiner Er-
krankung gespürt.
Im allgemeinen beansprucht die chronische Entwickelung der pri-
mären Milztuberkulose eine längere Zeitdauer. In 10 Fällen, in welchen
genauere Angaben vorliegen, wurde 4mal 1 Jahr, 2mal 2 Jahre, je Imal
3 bezw. 4 — ^5 Jahre und 2mal sogar 8 Jahre vor der Aufnahme die
Milzgeschwulst zuerst bemerkt. Teilweise wurden die Patienten selbst
auf den Tumor dadurch aufmerksam, daß ihnen beim Zuziehen des
Leibgurtes oder beim Binden der Rockschnur die Vergrößerung des
Leibesumfanges auffiel.
Die beiden Geschlechter beteiligen sich fast gleichmäßig an der
Krankheit. Neben 4 Kindern im Alter von 1—9 Jahren finden wir
11 Männer und 12 Personen weiblichen Geschlechts.
Wenn wir die Fälle der Erwachsenen — bei Carle fand ich das
Alter der Frau nicht angegeben — zusammenstellen, so entfallen auf
das zweite Jahrzehnt 3, auf das dritte 4, auf das vierte 8, auf das
fünfte 1, auf das sechste 2 und auf das siebente 3 Erkrankungen; dazu
kommt noch ein Mann von 80 Jahren. Es scheint demnach, als wenn
das Lebensalter von 30 — 40 Jahren, in welchem je 4 Männer und
Frauen erkrankten, für die Entwickelung einer primären Milztuberkulose
besonders günstig sei.
Die Gewichtsvermehrung der Milz kann eine recht beträchtliche
sein. Bei Personen, die ohne vorherige Erkrankung durch einen Un-
glücksfall ums Leben kamen, fand Juncker*) das Milzgewicht im Durch-
schnitt bei Männern 159,8 g und bei Weibern 155,7 g. Nach Orth
schwankt das normale Gewicht der Milz zwischen 150 und 250 g.
Henle gibt das Durchschnittsgewicht auf 225 g an und Birch-Hirsgh-
FELD bezeichnet als Mittelgewicht 150 g oder 0,26 Proz. des Körper-
gewichtes.
1) Der Fall von Stewabt war mir in der Literatur nicht zugänglich ;
er ist deshalb auch in der Kasuistik nicht erwähnt worden.
2) Juncker, Beitrag zur Lehre von den Gewichten der menschlichen
Organe, Münch med. Wochenschr., 1894, No. 44, p. 870.
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 633
In 5 operierten Fällen finden wir das Gewicht der Milz angegeben und
zwar von 300 g bei Lannelongüe und Vitrac, von 1075 g bei Grillo,
von 1500 g bei Burke, von 1750 g in unserem Falle und von 4200 g bei
CoMiNOTTi. Die Zahlen bewegen sich also in großen Abstanden, zeigen
uns aber, wie beträchtlich die Gewichtsvermehrung werden kann.
Nicht minder schwankend sind die Gewichtsangaben auch in den
obduzierten Fällen, in denen ja der tuberkulöse Prozeß in seiner Aus-
dehnung nicht durch einen operativen Eingriff gehemmt wurde, sondern
bis zum letalen Ausgange sich ungehindert entwickeln konnte. Das
geringste Milzgewicht bot ein Mädchen von 14^2 Jahren (Lefas) mit
150 g; bei den ausgewachsenen Personen zeigte der Fall von Tolot
mit 480 g das niedrigste und der von Rendü und Widal mit 3780 g
das höchste Milzgewicht.
Der Gewichtszunahme entsprechend sind natürlich auch die Maße
der tuberkulösen Milz erheblich gesteigert. Naüwerck gibt die Länge
der normalen Milz auf 12—14 cm an, die Breite auf 8—9 cm und die
Dicke auf 3—4 cm ; Birch-Hirschfeld ermittelte ein Durchnittsver-
hältnis von 13 : 8 : 3 cm. Es entspricht den Beschwerden , die der
tuberkulöse Milztumor hervorruft, und dem Eindruck vom Umfange des
Organes, den uns die Palpation und Perkussion verschafft, wenn wir
Maße wie 32:14:17 cm (Moutard-Martin und Lefas), von 27:16
: 8 cm (Monneret), von 25 : 12,5 : 8 cm (Bardenheuer), von 21 : 15
: 10 cm (Romanow), von 20 : 15 : 7,5 cm (Marriot) verzeichnet finden.
Die von Cominotti exstirpierte Milz hatte einen größten Umfang von
40 cm, und Rendü und Widal fanden bei der Obduktion eine tuber-
kulöse Milz von 47 cm Umfang.
Die Tuberkulose zeigt sich in der Milz nun, je nachdem sie mehr
akut oder in chronischer Entwickelung auftritt, teils in Form von
grauen miliaren Knötchen, die sowohl unmittelbar unter der Kapsel
liegen und durch diese hindurchschimmern, als auch durch das ganze
Milzgewebe verstreut sein können, teils unter der Form von gelben,
käsig-eiterigen Tuberkelkonglomeraten ; die letzteren , die auch als
Solitärtuberkel auftreten, sind entweder in die Pulpa eingebettet oder
sie liegen der Milzoberfläche an und rufen dann auf dieser prominierende
Höcker von Kirschkern- bis Eigröße hervor. Auf der Schnittfläche
findet man häufig fibröses Gewebe mit käsigen Massen durchsetzt und
bei vorgeschrittenen Prozessen deutliche Höhlenbildung. Auch die
miliaren, für sich abgrenzbaren Tuberkelknötchen zeigen in der Regel
eine zentrale Verkäsung. Riesenzellen wurden sehr häufig gefunden,
dagegen gelang der Nachweis von Tuberkelbacillen nur in 8 Fällen.
5mal (Grillo, Reinhold, Rendü und Widal, Bardenheuer, Aüchä)
war die Untersuchung auf den KocHschen Bacillus von entschieden
negativem Erfolg. In den übrigen Fällen ist die Untersuchung nicht
gemacht oder das Ergebnis nicht mitgeteilt worden.
MittaU. SU d. (innzflrebictoD d. Medlxin u. Chirurfi«. XUL Bd. 35
534 Josef Bayer,
Bei der Mannigfaltigkeit der Deutungen, die ein solch langsam wach-
sender Milztumor zuläßt, ist die Stellung der Diagnose auf Milztuber-
kulose von vornherein eine Unmöglichkeit. Es ist demnach nicht zu
verwundern, daß die Zahl der ObduktionsfiQle bedeutend größer ist,
als die Zahl der Beobachtungen, in denen bei Eröffnung der Bauch-
höhle infolge einer Fehldiagnose oder bei einer Probelaparotomie aus
diagnostischen Gründen die tuberkulöse Art des Milztumors erkannt
wurde; hier, wo das Organ doch auch dem Auge und der Hand
unmittelbar zugänglich war, wurde mehrmals erst nach der Exstir-
pation der Milz die richtige Diagnose durch die mikroskopische Unter-
suchung gestellt.
In neuerer Zeit hat man deshalb, um eine Diagnose auch ohne
Probelaparotomie zu ermöglichen, einige Merkmale, die sich in einzelnen
Fällen von primärer Milztuberkulose übereinstimmend gezeigt hatten,
zu Hilfe genommen und sie mit dem Krankheitsbild in Einklang zu
bringen gesucht Ehe ich jedoch hierauf näher eingehe, muß ich zuvor
eine Beobachtung Rosknoarts in kurzem Auszuge wiedergeben.
Ein 41-jähriger Mann, der erblich nicht belastet ist und vorher nicht
ernstlich krank gewesen war, war 37 Jahre alt an Masern erkrankt.
Oegen Ende seiner lange dauernden Krankheit wurde eine Milzvergröße-
rung festgestellt, die auch noch fortbestand, als er von den Masern ge-
nesen war. Er litt in der Folge sehr an Magenbeschwerden, anhaltendem
Aufstoßen, fast täglichem Erbrechen, angehaltenem Stuhl und häufigem
Schwindelgefühl. Pat. ist sehr mager. Gesichtahaut rot bis bl&ulichrot
mit vielen gelben und violetten Tönen. Mund- und Rachenschleimhaut
von exquisit dunkel-kirschroter Färbung. Kurzatmig, beim Sprechen
dyspnoisch, Leber reicht in der Mamillarlinie bis 4 Finger breit unter
den Rippenbogen. Unter dem linken Rippenbogen tritt eine bis zur
linken ParaSternallinie reichende glatte Geschwulst hervor, an welcher eine
Einkerbung fühlbar ist und die sich leicht als die geschwollene Milz er-
kennen läßt. Projektionsmaße : 22 : 12 cm. — Das Blut ist von dunkel-
kirschroter Farbe und dickflüssiger Konsistenz. Spez. Gewicht: 1072,
Hämoglobingehalt: 190 — 200 (Sahli). Mikroskopisch waren die roten
Blutkörperchen von normaler Beschaffenheit, im Kubikmillimeter 10 Mill.
Femer fand sich eine mäßige Vermehrung der polynukleären neutrophilen
Leukocyten, wie bei der gewöhnlichen Leukocytose, und eine entschiedene
Verminderung der Blutplättchen. Spätere Untersuchungen zeigten die
Zahl der roten Blutkörperchen in derselben Höbe von 10 Mill., an weißen
1200 im Kubikmillimeter. — Im weiteren Verlauf blieben die Magen-
erscheinungen die Hauptbeschwerde. Das Herz arbeitet ständig mit ver-
mehrter Pulsfrequenz (88 — 96). Im Erbrechen etwas Blut. Auf beiden
Lungenspitzen sind Katarrhe aufgetreten; im Sputum keine Tuberkel-
bacillen. — Nach mehreren Aderlässen, unter Darreichung von Jod und
bei einer möglichst wenig Eisen enthaltenden Diät ist die Zahl der roten
Blutkörperchen auf 9 Mill. herabgegangen und der Hämoglobingehalt auf
150 gesunken. Die Beschwerden sind geringer geworden, dagegen ist
die Milz gewachsen und hat die Projektionsmaße 30:15 erreicht. Das
Köi'pergewicht hat zugenommen.
lieber die primäre Tuberkulose der Milz. 535
Zu dieser Beobachtung bemerkt Rosengart, der die Erkrankung
der Milz als das Primäre ansieht, daß er das ganze Krankheitsbild als
eine primäre Tuberkulose der Milz deuten möchte.
Rosengart glaubt sich zu dieser Annahme berechtigt, weil in
seinem Falle drei Hauptsjmptome — Milztumor, Hyperglobulie und
Cyanose — vorlagen, die auch in früheren Fällen, die bei der Obduktion
sich als primäre Milztuberkulose herausstellten, als die hervorstechend-
sten Merkmale im Krankheitsbilde hervorgetreten waren. Er beruft
sich dabei auf den Fall von Soharoldt und einige andere, hauptsäch-
lich von Franzosen gemachte Beobachtungen (Rendü und Widal,
Moütard-Martin und Lefas, Collet und Gallaverdin, Cominotti),
in welchen neben der durch die Tuberkulose hervorgerufenen Milzver-
größerung eine hochgradige Vermehrung der roten Blutkörperchen und
vereinzelt eine mehr oder weniger ausgesprochene cyanotische Ver-
färbung der Haut festgestellt worden war^).
Die Schlußfolgerungen Rosengarts dürften jedoch nicht ganz ein-
wandsfrei sein. Wir wollen zwar nicht die Möglichkeit leugnen, daß
Rosengart sich auf dem richtigen Wege befindet, aber bei der allge-
meinen Unsicherheit, die heutzutage noch auf dem Gebiete der Milz-
erkrankungen herrscht, genügen die genannten Symptome, die bei ver-
einzelten Fällen von Milztuberkulose aufgefunden wurden, die aber auch
in dem Symptomenkomplex anderer Milzaffektionen sich unterbringen
lassen, meines Erachtens durchaus nicht, um daraufhin eine primäre
Tuberkulose der Milz zu diagnostizieren.
Von dem Milztumor selbst wollen wir dabei vollkommen absehen.
Mag seine höckerige Form noch so deutlich palpabel sein, gerade des-
wegen wird es sich ebensogut um cystische Ausbuchtungen oder, zumal
wenn Fieber vorhanden ist, um multiple Abscesse anderer Art handeln
können. Und ist die Milz, wie in der Mehrzahl der Fälle, gleichmäßig
geschwollen und vergrößert und fühlt sich der Tumor derb und glatt
an, so bietet er erst recht nichts Charakteristisches für Tuberkulose,
da auch andere Milztumoren diese Eigenschaften besitzen.
Auch die Hyperglobulie können wir nicht als ein untrügliches
Merkmal der Milztuberkulose betrachten.
In einzelnen Fällen von nachgewiesener primärer Tuberkulose der
Milz, z. B. bei Achard und Castaigne, finden wir die Zahl der roten
Blutkörperchen sogar unter die Normalzahl von 5 Mill. herabgesetzt.
In anderen wieder (QufiNU und Baxjdbt, Bardenheüer, Rendu und
Widal) schwankt die Zahl der Erythrocyten zwischen den physiologi-
schen Grenzen von 4—7 Mill. Nur wenige zeigen eine hochgradige,
1) Neuerdings wurden auch von Osler, Lefas, TCrk und Preiss
Beobachtungen nichttuberkulöser Natur mitgeteilt, die fast das gleiche
Krankheitsbild zeigten.
36*
536 Josef Bayer,
auffallende VermehruDg der roten Blutkörperchen, bis 7500000 bei
CoMiNOTTi, bis 8200000 bei Moütard-Martin und Lefas. In seinem
eigenen Falle konnte Rosekoart bis 10 Mill. und TOrk zweimal in
fast gleichen Beobachtungen, in denen jedoch Tuberkulose ausgeschlossen
war, über 10000000 Erythrocyten nachweisen.
Aber wie erklärt Rosekoart selbst die Entstehung der Hyper-
globulie? Nicht etwa als einen direkten Reizungsvorgang in der er-
krankten Milz, sondern als eine gesteigerte Aktivität des Knochen-
markes, die sekundär deshalb eintritt, weil die Funktion der Milz ganz
oder teilweise ausgeschaltet ist Und wie Rosengart dies für die
tuberkulöse AfFektion der Milz annimmt, so können wir mit demselben
Rechte überhaupt für jede Affektion der Milz, durch welche ihre
Funktionstätigkeit mehr oder weniger lahmgelegt wird, eine sekundäre
Reizung des erythroblastischen Apparates annehmen und damit eine
erhöhte Produktion an roten Blutkörperchen uns erklären. Und solange
uns diese Möglichkeit der Deutung der Polycythämie bleibt, sind wir
wohl nicht im stände, die Hyperglobulie gerade auf die tuberkulöse
Erkrankung der Milz mit zu beziehen.
Unsere Ansicht stimmt übrigens mit der von Preiss überein, der
sich dahin äußert, daß die Hyperglobulie bei verschiedenen Verände-
rungen der Milz, nicht etwa nur bei Tuberkulose derselben, sich findet
und ihr Entstehen von noch unbekannten Faktoren abhängt.
Und wie verhält es sich mit der Cyanose? Bender hat schon vor
Rosekoart betont, daß bei den an primärer Milztuberkulose Ver-
storbenen mehrmals intra vitam eine schmutziggelbe, erdige Hautfarbe
beobachtet worden ist, die manchmal ins Bräunliche überging und der
Haut ein marmoriertes Aussehen verlieh. Von echter Cyanose (bis zur
tiefblauroten Verfärbung) finde ich nur Angaben bei Scharoldt, Rekdu
und WiDAL, sowie bei Cominotti, also in 3 Fällen von 28, in denen Milz-
tuberkulose nachweislich vorhanden war; außerdem bezeichnen Collet
und Gallaverdin bei ihrem stark abgemagerten und hinfälligen
Patienten die Gesichtsfarbe als frischrot Nun litt aber der Patient
RosENOARTs an einem Herzfehler und zugleich an starker Dyspnoö.
und hierin ist wohl neben der ausgesprochenen Polycythämie der Grund
für die mehr oder weniger deutliche cyanotische Färbung der Haut zu
erblicken. Auch TOrk spricht seine Meinung dahin aus, daß die Haut-
verfärbung keine eigentliche, wahre Cyanose sei und mehr ein acciden-
telles, auf der verschieden großen Weite der Hautgefäße beruhendes
Symptom sei, das außer durch die Polycythämie durch eine wirkliche
Vermehrung der Blutmasse hervorgerufen werde. Preiss glaubt, daß
in dem Falle Rosengarts und in seiner eigenen Beobachtung die
leichten Kompensationsstörungen (und damit auch die cyanotische Haut-
farbung) wohl als unmittelbare Folgen der Hyperglobulie und der durch
diese gesetzten Zirkulationshindernisse aufzufassen sind.
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 537
Aber weil nun auch Fälle beschrieben sind, in welchen alle drei
Symptome zusammen beobachtet wurden, ohne daß in der Milzgeschwulst
sich Tuberkulose nachweisen ließ, können wir nicht umhin, uns ebenfalls
auf den ablehnenden Standpunkt Türks zu stellen. Dieser kam zu der
Ansicht, daß eine primäre Tuberkulose der Milz nicht die notwendige
Vorbedingung für das Entstehen des geschilderten Symptomenbildes —
Milztumor, Hyperglobulie, Cyanose — darstelle. Umgekehrt ist also
auch nicht aus diesen drei Merkmalen die Diagnose auf primäre Milz-
tuberkulose angängig.
RosENGART hat aber für die Diagnose seines Falles ein Hilfsmittel
nicht benutzt, dessen Anwendung TtJrk und Preiss die Berechtigung
gab, für ihre Fälle, die ebenfalls auf eine primäre Affektion der Milz
hindeuteten, die tuberkulöse Erkrankung dieses Organs mit ziemlicher
Sicherheit auszuschließen: ich meine die probatorische Tuberkulin-
injektion. TtjRK sowohl wie Preiss hatte mit derselben ein negatives
Resultat, und hätte Rosengart ebenfalls ein solches erhalten, so würde
er, wie ich glaube, das abschließende Urteil, das er freilich einschrän-
kend noch weiteren Erfahrungen überläßt, nicht gefallt haben. Jeden-
falls wäre es zu bedauern gewesen, wenn R. seine interessanten Aus-
führungen nicht der Oeffentlichkeit übergeben hätte.
RosenGart hat nun nicht, wie man wohl annehmen könnte, den
Milztumor und die angenommene Milztuberkulose als die Hauptsache an-
gesehen, sondern die Hyperglobulie und die damit verbundenen Störungen
der Zirkulation, die ja weiterhin durch besondere Anforderungen an
den Herzmuskel auch die Ursache für die Dilatation und Insuffizienz
des Herzens bildeten. Obschon er die Milzaffektion für das primäre
hält, ist es ihm zweifelhaft, ob durch die Spleneictomie die Hyperglobulie
günstig beeinflußt wird ^). Er hat es deshalb vorgezogen, seinem Pa-
tienten fast eisenfreie Nahrung zu verordnen, und hat durch diese
Eisenverarmung des Organismus die Zahl der roten Blutkörperchen in
8 Monaten tatsächlich um 1000000 und ebenso den Hämoglobingehalt
herabgesetzt. Es hat dadurch die subjektiven Beschwerden vermindert
und das Körpergewicht seines Patienten gehoben; freilich ist die Milz
etwas gewachsen. TOrk gab hohe Arsendosen, steigend bis zu 30 Tropfen
der Solutio Fowleri, indem er von der Erwägung ausging, daß „diese
die Proliferation der blutbereitenden Gewebe ohne Zweifel herabzu-
drücken vermögen". Auch bei ihm sank die Erythrocytenzahl um
mindestens 1500000 unter den tiefsten früher erhobenen Wert. Die
Purpurfärbung der Haut verschwand fast ganz und die Milz wurde
1) CoMiNOTTi sah allerdings nach Entfernung der Milz die Erythro-
cytenzahl von 71/2 auf 6^2 Millionen herabgesetzt. Auch in unserem Falle
gestaltete sich das Verhältnis der weißen und roten Blutkörperchen, das
vor der Splenektomie 1 : 800 .betrug, nach derselben wie 1 : 320.
538 Josef Bayer,
wesentlich kleiner; freilich hatte Türk für seinen Fall auch keine pri-
märe Milztuberkulose angenommen.
Damit sind wir schon in die Erörterung der Therapie eingetreten.
Diese darf sich aber bei einer primären Tuberkulose der Milz keines-
wegs auf die Bekämpfung der Hyperglobulie beschränken, da diese doch
gewiß immer nur eine Sekundärerscheinung bleibt. Vielmehr drohen
den Kranken von seiten des primären Tuberkuloseherdes ganz andere,
zum langen Siechtum oder zu einem schnellen Tode fahrende Gefahren.
Am Schlüsse werden wir noch sehen, in wie mannigfacher Weise von
der Milz aus die Tuberkelsaat in die anderen Organe verstreut werden
kann. Vor dieser Gefahr gilt es die Patienten zu bewahren. Anderer-
seits darf man auch, wie Preiss sich ausdrückt, erwarten, daß nach
der Entfernung des primären, die schädigenden Stoffe produzierenden
Krankheitsherdes das sekundär erkrankte Knochenmark, auf dessen ab-
normer Tätigkeit alle anderen Erscheinungen beruhen, wieder zur nor-
malen Funktion zurückkehrt.
Gemäß unseren heutigen Anschauungen gilt als Grundsatz, tuber-
kulöse Herde gewissermaßen als maligne Geschwülste zu betrachten
und demgemäß ihre vollständige Ausschaltung aus dem Organismus zur
Hauptaufgabe der Therapie zu machen. Nicht anders können wir uns
der primären Milztuberkulose gegenüber verhalten. Durch eine große
Reihe von Beobachtungen ist die Berechtigung der Milzexstirpation
überhaupt erwiesen, und wenn wir eine traumatisch zerrissene, bis dahin
funktionell unversehrte Milz ohne nachteilige Folgen für den Organis-
mus entfernen können, so sind wir gewiß befugt, das erkrankte, in
seiner Funktion gestörte Organ fortzunehmen. In vielen Fällen, in
denen die Milz noch frei beweglich ist, wird die Operation trotz enormer
Vergrößerung des Organs leicht von statten gehen, dagegen können
perisplenitische Verwachsungen schon unangenehme Schwierigkeiten
machen und auch die Gefahr einer starken Blutung bieten. Sind
jedoch die Adhäsionen so ausgedehnt und fest, daß es unmöglich
erscheint, die Exstirpation ohne große Verletzung der Milz und ihrer
Nachbarschaft auszuführen, so wird man versuchen können, extraperi-
toneal die Herde anzugreifen und zur Ausheilung zu bringen. Der
Fall von QufiNU und Baüdet beweist, daß man auch auf diesem
Wege einen vollen Erfolg erzielen kann. Ist der Hauptherd unschäd-
lich gemacht, so bleiben die Patienten nicht allein vor der sekun-
dären Infektion anderer Organe bewahrt, sondern es kann ihnen, wie
die 7 Beobachtungen beweisen, auch die volle Gesundheit wiederge-
geben werden.
Wird hingegen die tuberkulöse Milz nicht entfernt und bleibt die
Tuberkulose ihrer weiteren Entwickelung überlassen, so gehen die
Kranken entweder durch langsamen Kräfteverfall zu gründe oder es
üeber die primäre Tuberkulose der Milz. 539
kommt zu einer UeberschiKremmung der anderen Organe mit Tuber-
kulose und damit zum beschleunigten Exitus.
Bei dem letzteren Ausgange wurde am häufigsten (lOmal) in der
fast regelmäßig stark vergrößerten Leber Tuberkulose nachgewiesen,
und zwar in verschiedener Ausdehnung. Gomikotti fand einige Knötchen
in der Leber, andere fanden solche in größerer Anzahl unter der Kapsel
oder im Lebergewebe, Gollet und Gallaverdin sahen Tuberkelaus-
saat entlang den Pfortaderästen. Das Pankreas fanden Hatden sowie
Rekdu und WiDAL sekundär befallen, die letzteren sowie Simonin und
DoPTER ebenfalls die Nieren. Avcut sah das Peritoneum mit miliaren
Knötchen übersät und Ferrand und Rathert die Mitralklappe mit
frischen tuberkulösen Granulationen besetzt. Ebenso auffallend jedoch
wie das konstante Freibleiben der Yerdauungswege ist die geringe
Beteiligung der Lungen ; mit Ausnahme von 4 Fällen werden dieselben
durchweg als gesund und frei von Tuberkulose bezeichnet. Moutard-
Martin und Lefas fanden in beiden Lungen alte Narben und Gollet
und Gallaverdin entdeckten in den Lungenspitzen einige kleine fibröse
und verkalkte Knötchen. Gegenüber diesen ausgeheilten Prozessen
stellte Lorrain in der rechten Lunge eine frische tuberkulöse Infil-
tration fest und Reinhold fand auch die rechte Lunge mit Tuber-
kulose behaftet, der gegenüber jedoch die Tuberkulose der Milz ihrer
Stärke nach so sehr in den Vordergrund trat, daß diese mit Sicherheit
als das Primäre anzusehen war.
Ueberhaupt wird in allen Fällen der piimäre Gharakter der tuber-
kulösen Milzaffektion und das Vorwiegen ihrer Erscheinungen im Ver-
gleich zu der gleichzeitig gefundenen Tuberkulose anderer Organe so
sehr betont, daß bei der Reichhaltigkeit der Beobachtungen ein Irrtum
wohl ausgeschlossen erscheint.
Wir können also nicht umhin, die primäre Tuberkulose der Milz
als zu Recht bestehend anzuerkennen und können mit demselben Rechte
für die Therapie den Grundsatz aufstellen, bei Verdacht auf primäre
Milztuberkulose durch Tuberkulininjektion oder durch eine Probelapa-
rotomie der Diagnose zu Hilfe zu kommen und nach ihrer Bestätigung
womöglich durch Entfernung des ganzen Organs den Primärherd aus
dem Organismus auszuschalten.
Literatur.
Achard u. Castaionb, Tuberculose primitive de la rate. See. m^d. des
höpit de Paris, 9 juin 1899; Sem. m^d., 1899, No. 25, p. 198.
AucHij, Taberculose primitive de la rate. Journ. de Medecine de Bordeaux,
1901, No. 22, p. 381.
540 Josef Bayer,
Bender, La tuberculose de la rate. Qaz. des höpit., 1900, No. 38, p. 375
u. No. 41, p. 407.
Bioos, Splenic tuberculosis of uDusual type. Proc. of the New Yoik
pathol. soc, 1901, p. 288; Medical record, 16. Febr. 1901.
Brühl, De^la Splenomegalie primitive. Arch. gen^r. de Med. 1891.
Brutä, La France m^dic, 1881, II, p. 5.
Burkb, Splenectomy in a case of tuberculosis of the spieen. Dublin
journ. of med. scienc, Bd. 87, 1889, p. 640.
Carle, Akad. der Medizin zu Turin, 12. Juli 1901. Münch. med. Wochen-
schrift, 1901, No. 50, p. 2028,
CoLBY, Tubercles in the spieen, Transact of the pathol. soc. of London,
1846, I, p. 276.
CoLLBT et Gallayerdin, Tuberculose massive primitive de la rate. Arch.
de m^d. expörim., 1901, No. 2, p. 191.
Collier, Transact. of the pathol. soc. of London, 1895, p. 149.
CoMiNOTTi, Hyperglobulie und Splenomegalie. Wien. klin. Wochenschr.,
1900, No. 39, p. 81.
Ferrand et Rathery, Tuberculose primitive de Tendocarde et de la rate.
Soc. m6d. des höpit. de Paris, 13. Febr. 1903; Soc m6d., 1903, No. 7,
p. 58.
Fevrier, Les spl^nomegalies idiopathiques et la tuberculose de la rate en-
visag^es au point de vue chirurgical. Gaz. hebdom. de m^d, et de chir.
1901, No. 84, p. 997,
GrillO} Sopra un caso di splenomegalia tubercolare. Gazz. med. di Torino,
1901, No. 37, p. 721.
GuiLLANi, Splenomegalie tuberculeuse primitive avec hyperglobulie. Th^se
de Paris, 1899.
Hayden, A case of tuberculosis of the spieen, with surgical treatment.
Americ. journ. of med. scienc, 2. April 1898.
Lanmblongüe et Vitrac, Tuberculose primitive de la rate, splöneotomie,
gu^rison. Journ. de M^decine de Bordeaux, 1898, No. 34.
Laspeyrbs, Die Tuberkulose der Milz. Centralbl. f. d. Grenzgeb. d. Med.
u. Chir., 1904, No. 3, p. 98.
Lefas, La tuberculose primitive de la rate; contribution k l'^tude de
Phyperglobulie. These de Paris, 1903 ; Rev. fran9. de m6d. et de chir.,
1904, No. 5, p. 107.
Litten, Die Krankheiten der Milz. Nothmaoels „Spezielle Pathologie und
Therapie", Bd. 8, 1898.
LoRRAiK, Grosse rate tuberculeuse. Bull, de la soc. anatom., 13 f6vr. 1903,
p. 150.
Marriot, Acute tuberculosis of the spieen, splenectomy, recovery, Lancet,
1897, II, p. 1293.
Monnebet, Arch. g^ner. de Med., 1859, Ser. 5, T. 14, p. 513.
Moutard-Martin et Lefas, Tuberculose primitive et massive de la rate
avec hyperglobulie, mais sans cyanose. Soc. m6d. des höpit. de Paris,
9. Juni 1899; Sem. m6d., 1899, No. 25, p. 198.
Osler, Chronic cyanosis with polycythaemia and enlarged spieen. Americ
journ. of med. scienc, Bd. 126, 1903, p. 187.
Preiss, lieber Hyperglobulie. Verein f. wissenschaftl. Heilk. in Königsberg,
30. Nov. 1903; Dtsch. med. Wochenschr., 1904, No. 6, p. 230.
— Hyperglobulie und Milztumor. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir.,
Bd. 13, 1904, p. 287.
Ueber die primäre Tuberkulose der Milz. 541
QufiNU et Baüdbt, La tuberculose primitive de la rate. Revue de gyn^col.
et de chir. abdom., T. 2, 1898, p. 317.
Bbinhold, Ein Fall von Milztuberkulose mit Verblutung durch den Magen.
Dissert. Kiel, 1899. >
REia)U et WiDAL, Splenomegalie tuberculeuse primitive sans leuc^mie,
avec hyperglobulie et cvanose. Soc m^d. des höpit. de Paris, 2. Juni
1899; Sem. m6d., 1899, No. 25, p. 198.
Romanow, Primäre Milztuberkulose. Wratsch, 1902, No. 11; Centralbl.
f. Chir., 1903, No. 1, p. 30.
RossNQART, Milztumor und Hyperglobulie. Mitteil. a. d. Grrenzgeb. d. Med.
u. Chir., Bd. 11, 1903, p. 495.
ScHABOLDT, Ein Fall von substantiver akuter Miliartuberkulose der Milz.
Aerztl. Intelligenzbl, 1883, No. 32, p. 252.
Simonin et Doptbr, Arch. de m6d. ezp^rim., 1902, p. 629.
Stewart, Acute splenic miliary tuberculosis. Americ. journ. of med.
scienc, Vol. 122, 1901, No. 3; Medic. record, 11. Mai 1901.
ToLOT, Un cas de tuberculose du foie et de la rate. Lyon medical, T, 99,
1902, No. 36, p. 323.
TüRK, Beiträge zur Kenntnis des Symptomenbildes: Polycythämie mit
Milztumor und „Zyanose^^ Wien. klin. Wochenschr., 1904, No. 6 u. 7.
Vanvbbts, De la spl6nectomie. Thöse de Paris, 1897; Gaz. des höpit.,
1898, No. 27.
Aus der chirurgischen Klinik und dem Privatlaboratorium
von Privatdozent Dr. Koeppe in Gießen.
Nachdrack veiiwten.
XXL
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung
der Aethernarkose^.
Von
Dr. G. Bngelliardt,
fr. Assistenten der chirurgischen Klinik.
Wenn auch als Angriffspunkt der Narkose in letzter Linie die Zelle
des Zentralnervensystems und zwar die Ganglienzelle des Großhirns zu
betrachten ist und die narkotische Wirkung zweifellos einer Alteration der
Ganglienzelle zugeschrieben werden muß, so werden doch auch eine ganze
Reihe anderer Zellen der menschlichen Organe, sei es direkt oder indirekt,
durch das Narcoticum beeinflußt. Einmal die Zellen, die dem Narcoticum
nur als Durchgangsstation dienen und vermöge ihrer Stellung im Organ-
system nicht Träger der narkotischen Wirkung sein können, dann aber vor
dlem das Blut, welches, wie ja jetzt allgemein angenommen, gerade
durch seinen Gehalt an fettähnlichen Substanzen, zu der Rolle eines
Trägers der narkotischen Wirkung wie berufen erscheint. Sowohl das
Plasma wie besonders die zelligen Bestandteile des Blutes, die roten
Blutkörperchen, sind Träger des Narcoticums und vermitteln während
der Narkose immer wieder von neuem dem Großhirn die schnell ver-
gängliche Rauschwirkung. Auch bei gestörter Narkose treten für ge-
wöhnlich schädliche Einwirkungen des Narcoticums auf die einzelnen
Organzellen nicht sichtbar zu Tage. Nur ein bisweilen, aber im ganzen
doch äußerst selten auftretender Ikterus nach der Narkose kann ein
sinnfälliges Zeichen sein, daß der Körperhaushalt durch das Narcoticum
schwer geschädigt worden ist. Diese Wirkung im Verein mit tief-
greifenden Stoffwechselstörungen tritt besonders beim Chloroform zu
Tage. Trotzdem ist das Blut, auf dessen Zerfall die erwähnte Störung
1) Auszugsweise vorgetragen auf der Naturforscherversammlung in
Kassel, 1903.
G. Engelhardt, Neue Gesichtspunkte etc. 543
hinweisen mußte und welches einer Untersuchung besonders zugänglich
erscheint, verhältnismäßig wenig zum Gegenstand einer solchen gemacht
worden. Die vorgenommenen Untersuchungen beziehen sich vornehm-
lich darauf, festzustellen, in welcher Weise die, Mengenverhältnisse der
roten und weißen Blutzellen durch die Narkose geändert werden, und
waren dann auf Formänderungen der roten Blutkörperchen gerichtet,
denen mit Becht als den Sauerstoffträgern eine weit wichtigere Rolle
für etwa im Gefolge der Narkose sich einstellende Störungen vindiziert
wurde, als den ja auch an Zahl unendlich zurücktretenden weißen. Man
konstatierte gewöhnlich nach längerer Narkose eine Abnahme der Zahl
der roten und Zunahme der weißen, ohne die vollkommene Ver-
schiebung zu beachten, die die Zahl der Blutzellen im Eubikmillimeter
durch die veränderte Flüssigkeitsabgabe aus dem Blut in das Gewebe
erfahren mußte, ein Faktor, der beim Chloroform vielleicht weniger wie
beim Aether in Betracht kommt Die Formänderungen der roten Blut-
zellen im zirkulierenden Blut wurden als Vorstufen eines Untergangs
der roten Blutkörperchen aufgefaßt, bleiben aber in ihrer Deutung
doch dunkel. Keinesfalls konnten sie ihre Erklärung in veränderten
osmotischen Verhältnissen zwischen Plasma und Blutkörperchen finden.
Von sonstigen Arbeiten, die sich von anderen Gesichtspunkten aus mit
dem Blut in der Narkose beschäftigen, ist mir nur eine neuere italieni-
sche bekannt, die von Baccarani-Solimei ^). Seine Untersuchungen
beziehen sich außer auf Formveränderungen und Alteration der Zahl
der roten Blutzellen auf Bestimmungen der Dichte des Blutes in der
Narkose, des Alkaligehaltes des Blutes und der Resistenz der roten
Blutkörperchen gegenüber hypisotonischen Lösungen. Aber noch von
anderen Gesichtspunkten aus schien das Blut in der Narkose einer
Prüfung zugänglich. Koppe ^) hat nachgewiesen, daß bei einer Reihe
verschiedener Stoffe, die blutkörperchenschädigende Einflüsse entwickeln,
eine gewisse Gesetzmäßigkeit dieser Schädigung sich feststellen läßt,
wenn bestimmte Faktoren: Temperatur, unter der das schädigende
Agens wirkt, Zeit der Einwirkung neben der Konzentration berück-
sichtigt werden. So ließ sich vor allem für bestimmte fettlösliche Stoffe,
zu denen auch Chloroform und Aether gehören, eine Gesetzmäßigkeit
in ihrem Verhalten roten Blutkörperchen gegenüber bei Berücksichtigung
der Konzentration des schädigenden Agens, der Temperatur, und der
Zeit feststellen. Von diesen Gesichtspunkten aus schien eine Prüfung
des Blutes vor, während und nach der Narkose einen Einblick zu ver-
sprechen in die Bedingungen, unter denen ein Untergang von roten
Blutzellen in der Narkose erfolgt. Daß Aether und Chloroform bei
1) Bagcaraki-Solimei, U., L'ematologia della Chloronarkosi. La clinica
chirurgica, 1902. Zitiert nach Hildbbrands Jahresbericht, 1902.
2) KÖPPB, Ueber das Lackfarbenwerden der roten Blutscheiben.
PflCqbbs Arch., Bd. 99.
544 G. Engelhardt,
direktem Einleiten in das Blut blutkörperchenzerstörend wirken, war
schon seit Hermanns ^) Untersuchungen bekannt. Unbekannt war aber,
unter welchen Umständen auch geringere Mengen des Narcoticunis
Blutkörperchen auflösen.
Ich habe auf Veranlassung von Dr. Koppe dieserhalb eine Reihe
von Versuchen angestellt und will ganz kurz darüber berichten.
Koppe ^) hatte -zunächst gefunden, daß in indifferenten Lösungen, deren
molekulare Konzentration der des Blutplasmas entsprach, bei einer be-
stimmten höheren Temperatur (zwischen 62 und 68^), die im Durch-
schnitt weit über den von anderen beobachteten lag, eine Abgabe des Hä-
moglobins an das Lösungsmittel erfolgte. Er kommt am Schluß seiner zi-
tierten Arbeit: Ueber das Lackfarbenwerden der roten Blutscheiben, zu
der Folgerung, daß der Austritt des Hämoglobins in die Lösung durch eine
Art Schmelzung der das Blutkörperchen umgebenden Hülle bedingt sein
muß. Daß man wirklich berechtigt ist, sich den dabei stattfindenden Vor-
gang in dieser Weise vorzustellen, beweisen neuere Arbeiten, die alle
das Vorkommen von Lipoiden in den roten Blutkörperchen betonen.
Daß diese Lipoide nun nicht den Inhalt, sondern gewissermaßen die
Hülle der roten Blutkörperchen bilden, spricht wohl wieder am schärf-
sten Albrecht *) aus: „Die Erythrocyten der Kalt- und Warmblüter
besitzen eine fettartige (myelinogene) Oberflächenschicht, welche für die
Form, Funktion und die Arten pathologischer Veränderung der roten
Blutkörperchen von fundamentaler Bedeutung ist." Der Schmelzpunkt,
wie Koppe die Temperatur nennt, bei der durch Lackfarben werden der
Flüssigkeit der Austritt des Hämoglobins gekennzeichnet ist, sinkt nun,
wenn man einer solchen indifferenten Flüssigkeit Aether in größeren
oder kleineren Mengen zusetzt und zwar proportional der Menge des
zugesetzten Aethers.
Als neuer Faktor tritt aber noch die Temperatur hinzu, unter der
die Aethersalzlösung gehalten wird, und zwar läßt sich da nicht nur
für den Aether, sondern auch für Chloroform und alle fettlöslichen
Stoffe folgender Satz formulieren : In einer ätherhaltigen Salzlösung er-
folgt die Auflösung eingebrachter roter Blutkörperchen bei um so
niederer Temperatur, je höher die Konzentration der Lösung an dem
Narcoticum ist und umgekehrt. Der Faktor Zeit spielt, wie sich in der
Folge ergab, nur bei Anwendung einer bestimmten Salzlösung und zwar
der 0,9-proz. und 0,75-proz. Kochsalzlösung eine Rolle. Voraussetzung
für alle diese Versuche war die, daß auch die „tote" Zelle ihr Hämo-
globin nicht an die umgebende Flüssigkeit abgibt. Da diese Versuche
1) Hermann, L., Ueber die Wirkungsweise einer Gruppe von Giften.
Pflügbrs Arch., 1866.
2) 1. c.
3) Albrecht, Die physikalische Organisation der Zelle. Vortr. auf dem
internat. Kongr. zu Madrid, 1903.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 545
die Grundlage unserer weiteren Untersuchungen bilden, seien sie aus-
führlich hier wiedergegeben.
Die Ausführung der Versuche war die gleiche, wie sie Koppe in
seiner vorhin zitierten Arbeit beschrieben hat. Die Auflösung der
roten Blutscheiben wurde wegen der Schwierigkeit einer exakten Be-
obachtung nicht in der eigenen Blutflüssigkeit untersucht, sondern in
verschiedenen durch ihren Salzgehalt mit dem Blutserum isotonischen
Salzlösungen; in je 5 ccm Lösung, die einen bestimmten Prozentgehalt
des Narcoticums enthielt, wurden 2 Tropfen Blut gebracht und nun die
Temperatur bestimmt, bei der Hämolyse erfolgte. Die mit dem Blut
eingebrachte Menge Serum kann, wie Koppe hervorhebt, gegenüber der
großen Menge des Lösungsmittels vernachlässigt werden.
Versuche mit Chloroform wollen wir nur kurz berühren. Genauere
Tabellen und Zahlenreihen finden sich in der Arbeit von Koppe. Es
wurden gesättigte Lösungen von Chloroform in dem indifferenten Lösungs-
mittel hergestellt, das Verhalten der roten Blutscheiben in der Stamm-
lösung und in Verdünnungen beobachtet, die mit verschiedenen Mengen
des gleichen indiflferenten Lösungsmittels hergestellt waren. Der Ein-
fluß des Wassers war damit, wie in den Versuchen von Koppe, aus-
geschaltet, der genaue Prozentgehalt der einzelnen Lösung an dem
Narcoticum ließ sich dagegen nur annähernd bestimmen. Es sei hier
als Beispiel ein Versuch herausgegriffen.
Chloroform gelöet in 1,42 Proz. Natriumsiilfatlöeung. Menschlichee Blut. Sätti-
gung hei 11*^ Außentemperatur.
Lösung menechlischer roter Blutkör- In Verdünnung 5:1 5:2 5:3 5:4 5:5
perchen erfolgt in der Stammlösung bei 30« 36^° 37° 40" 41 •
bei 15°.
Genauer beschäftigen sollen uns dagegen die Versuche mit Aether.
Das Verhalten des Aethers gegenüber roten Blutkörperchen wurde
zunächst geprüft in bei bestimmten Temperaturen äthergesättigten
Lösungen von Kochsalz, Bohrzucker, Magnesiumsulfat, Natriumsulfat
und in entsprechenden Verdünnungen, die mit verschiedenen Mengen
der jeweils benutzten indiflFerenten Salzlösung hergestellt wurden. Wenn
nicht besonders angegeben, wurde die Auflösung der roten Blutscheiben
sofort geprüft, öfter auch die Aufschwemmung in einem möglichst
kühlen Raum stehen gelassen, später durchgeschüttelt und dann in der
gleichen Weise geprüft. Die Aetherlösungen wurden stets frisch be-
reitet und in der Regel höchstens 3 Tage alt verwandt; auch für die
indifferenten Lösungen empfiehlt es sich, stets möglichst frische zu ver-
wenden, für die Rohrzuckerlösung ist es, wie wir uns später überzeugten,
absolut notwendig, wenn sie nicht sofort nach der Bereitung durch
äager es Kochen sterilisiert wurde.
Versuche mit gesättigten Lösungen von Aether in indiflFerenten
Salzlösungen.
546 O. Engelhardt,
Versuch I. Nentraie LSdung: 0,9 Proz. Kochsalzlöeung. Sättigung mit Aethcr
bei 10® B AußeDtemperatur. VerdÜDDungen mit der entsprecheDden Menge der
Neutrallösnng. Menectüiche rote Blutkörperchen.
8tammJd6ung 5 5 5 5 5 5
NeutraUösung 0 12 3 4 5
Hiervon je 5 ccm beschickt mit 2 Tropfen Fingerblut
Eprouvette No. 12 3 4 5 6
Blut wird lackfarben bei 14» 14,5« 23^» 29» 31^» 36»
Versuch II. Neutrale Lösung: 5^ Proz. Mafnesiumsulfiitlösung. Sättigung mit
Aether bei 6,8* B. Menschliche rote Blutkörperchen.
Stammlösung 5 5 5 5 5 5
Neutrallösung 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Fingerblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Bfut lackfarben bei 13,5» 22,5» 23,5» 30» 32,5» 33p»
Versuch III. Neutrale Lösung: 5,5 Ptoz. Magnesiumsulfatlösung. Sättigung
mit Aetiier bei 16» B. Kaninchenblutkörperchen.
Stammlösung 5 5 5 5 5 5
Neutrallösung 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Blut aus der Ohrvene
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Blut hickfarben bei 23,5» 29,5» 34» 35,5» 40,5 • —
Versuch IV. Neutrallösung: 9,4 Proz. Bohrzuckerlösung. Sättigung mit Aether
bei 20» B. 8 Tage alte Lösung. Menschliche rote Blutkörpäx^hen.
Stammlösung 5 5 5 5 5 5
NeutraUösung 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Fingerblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Blut lackfarben bei 20» 24» 30,5* 33,5» 37,5» 38»
Versuch V. Neutrale Lösung: 0,75 Proz. Kochsalzlösung. Sättigung mit Aether
bei 03* I^* Hundeblutkörperchen.
Stammlösung 5 5 5 5 5 5
Neutrallösung 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Ohrvenenblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Blut lackfarben bei 13» 16» 23» 28,5» 31» 33,5»
Versuch VI. Neutrale Lösung: 9,4 Proz. Bohrzuckerlösung. Sättigung mit
Aether bei 7,5» B. Kaninchenblutkörperchen.
Stammlösung 5 5 5 5 5 5
Neutrallösung 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Ohrvenenblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Sämtl. Böhrchen bei 7,5 » st^en gelassen — — "
Nach 18 Stunden Lackfarben Sedimentiert, beim Um-
schütteln Deckfarben
Versuch VII. Neutrale Lösung : 5,5 Ptoz. Magnesiumsulfatlösung. Sättigung mit
Aether bei 5» B. Hundeblutkörperchen.
Stamm lösung 5 5 5 5 5 5
Neutrallösune 0 12 3 4 5
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Ohrvenenblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Sämtl. Böhrchen bei 5 » B. stehen gelassen - '
Nach 18 Stunden Lackfarben Deckfarben
Da die Temperatur, bei der in äthergesättigten und entsprechend
verdünnten Lösungen Hämolyse erfolgt, erheblichen Schwankungen
unterliegen muß, je nach der Außentemperatur, bei welcher die Aether-
salzlösung hergestellt wurde (cf. Versuch II u. III), indem bei tiefer
Temperatur mehr Aether aufgenommen wird als bei höherer, gingen
wir nun dazu über, mit Lösungen zu arbeiten, deren Prozentgehalt
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 547
genau bekannt ist. Die Herstellung geschah in der Weise, daß die ge-
wünschte Anzahl Kubikzentimeter Aether abgemessen und mit der
Neutrallösung auf 100 aufgefüllt wurde; die gut durchgeschüttelten
Lösungen wurden nach V4~"V2"Stündigem Stehen sofort verwandt,
Vereuch VIII. 7 Proz. Aether-MgSO.löBUDg. Außentemperatur ?• R.
StÄramlöeung 10 10 10 10 10 10
NeutraUösuog 0 12 3 4 5
Prozentgehalt an Aether 7 6,4 53 5,4 5 4,7 Proz.
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6
Blut lackfiirben bei 28*» 31« 34,5« 38» 39,5« 42«
VerBuch IX. 6 Proz. Aether-Bohrzuckerlöflung. Außentemperatur 7« R.
8tammlöeuDg 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
NeutrallÖ8ung 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Prozentgehaltan 4 3,7 3,5 3,3 3,2 3 2,9 2,73 2,7 2,5 2,4 Proz.
Aether
Hiervon in je 5 com 2 Tropfen Fingerblut
Eprouvette No. 12 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Blut lackfarben bei 40<> 37« 38» 40,5° 40« 45° 49» 54« 56« 54° 59«
Versuch X, 6 Proz. Aether-Bohrzuckerlösung. Außentemperatur 15« R.
Stammlööung 10 10 10 10 10 10 10 10 10
NeutrallöBung 0 1 2 2,5 3 4 5 6 10
Prozent^halt an Aether 6 5,5 5 43 4,6 4,3 4 3,6 3 Proz.
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Fingerblut
Eprouvette No. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Blut lackfarben bei 39,5« 45,5« 46,5« 48,5« 50« 50,5« 51,5« 52« 54«
Versuch XI. 6 Proz. Aether-Eochsalzlösung. Außentemperatur 15« R.
Staramlösung 10 10 10 10 10 10 10 10 10
Neutrallösung 0 1 2 2,5 3 4 5 6 10
Prozent^ehalt an Aether 6 5,5 5 43 4,6 4,3 4 3,7 3 Proz.
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Fingerblut
Blut lackfarben bei 40« 44« 47« 47,5« 48« 49« 50,5« 61,75« 53,75«
Versuch XII. 6 Proz. Aether-MgSOJösung. Außentemperatur 15« R
Stammi5sung 10 10 10 10 10 10 10 10 10
NeutraUösung 012 2,5 3456 10
Prozent^ehalt an Aether 6 5,5 5 4,8 4,6 4,3 4 3,7 3 Proz.
Hiervon in je 5 ccm 2 Tropfen Fingerblut
Blut lackfarben bei 36« 43« 44^« 46« 47« 49« 52« 53,5« 55«
Versuch XIII.
Bei einem Aethergehalt von 6,5 7 7,5 8 Proz.
wird Blut lackfarben
in 0,9 Proz. Kochsalzlösung bei
„ 5,5 „ MgSOJöeung „
„ 9,4 „ Rohrzuckerlöeung bei 33«
üeberschaut man die angeführten Versuche, so läßt sich die früher
hervorgehobene Gesetzmäßigkeit zwischen Aetherkonzentration und
Temperatur für die Auflösung roter Blutkörperchen nicht verkennen.
Stimmen auch die Anfangszahlen in den verschiedenen Lösungen nicht
vollkommen überein, wie ja auch bei derselben Lösung und derselben
Aetherkonzentration der Schmelzpunkt nicht immer derselbe ist (wobei,
wie nochmals zu betonen, besonders auch das Alter der Lösung eine
Rolle spielt), so entspricht doch von der jeweiligen Lösung immer dem
niederen Konzentrationsgrad die höhere Temperatur und umgekehrt.
Vor allem ist, wie Kontrollversuche immer wieder von neuem zeigten,
der Schmelzpunkt für die jeweilige Lösung und Zeit der Untersuchung
36,5«
32«
30«
27« (Außentemp. 16« R)
32«
28«
26«
23« (Außentemp. 14« R)
33«
30«
27,5«
26« (Außentemp. 12,5« R)
548 G. Engelhardt,
immer konstant. Die Zuführung von Wärme geschah genau wie in
den Versuchen von Koppe durch Eintauchen der Eprouvetten in
mehrere nebeneinander aufgestellte, Wasser verschiedener Temperatur
enthaltende Gläser, in denen aufsteigend die Eprouvetten vorsichtig
erwärmt wurden. Die jeweilige Temperatur, bei der Lackfärbung ein-
trat, wurde an einem in die Lösung gehaltenen Thermometer abgelesen.
Von besonderem Interesse sind die Beziehungen zwischen Aether-
konzentration und Wärme in der Gegend der Körpertemperatur. In
den der Körpertemperatur nahegelegenen Wärmegraden entspricht
1 Grad Temperaturdifferenz Vio-proz. Konzentrationsänderung, wüirend
nach unten und nach oben die Unterschiede zwischen Konzentrations-
differenz und zugeführter Wärme sich mehr ausgleichen, indem ent-
sprechend einer Verminderung der Konzentration um Vio-proz. Aether
die Mehrzufuhr an Wärme nur Teile eines Grades zu betragen braucht
Suchen wir nach einer Erklärung für diese merkwürdigen Verhältnisse,
so kann dieselbe nicht gefunden werden in einer Veränderung des
osmotischen Druckes, noch in einer Abtötung der Zellen durch den
Aether, denn der Hämoglobinaustritt, das äußerlich sichtbare Zeichen
des Todes der Zelle, tritt bei geringen Aetherkonzentrationen auch
dann ein, wenn die zugeführte Wärmemenge die mit dem Leben der
Zelle vereinbare nicht übersteigt. Das wahrscheinlichste ist vielmehr,
daß in den ätherhaltigen Salzlösungen die Blutkörperchen entsprechend
dem Prozentgehalt der Lösung Aether aufnehmen bezw. Aether in den
Lipoiden gelöst wird und daß, je mehr Aether die roten Blutzellen
aufnehmen, um so tiefer sich ihr Schmelzpunkt erniedrigt, entsprechend
einem allgemeinen physikalischen Gesetz, daß, je mehr ein Fett von
einer fettlöslichen Substanz aufnimmt, um so tiefer der Schmelzpunkt
des betreffendes Fettes sinkt. Wahrscheinlich beruht auch das hie und
da etwas von den übrigen abweichende Verhalten der Rohrzuckerlösung
darauf, daß in älteren Lösungen aus dem Bohrzucker Alkohol abge-
spalten, dieser ebenfalls in den Lipoiden der roten Blutkörperchen ge-
löst wird und nun die Hämolyse bei geringeren Mengen Aether bezw.
bei einer niederen Temperatur erfolgt.
Nachdem nun die korrelativen Beziehungen zwischen Aetherkon-
zentration und Temperatur für die Auflösung menschlicher und tieri-
scher roter Blutkörperchen in vitro festgestellt waren, war die nächste
Frage, können sie eventuell Bedeutung für den Untergang der roten
Blutscheiben im kreisenden Blut während der Narkose gewinnen? Man
wird entgegenhalten, einmal lassen sich die Verhältnisse in vitro nicht
mit denen des Blutes innerhalb des Gefäßsystems vergleichen und dann
ist das Plasma keine einfache indifferente Salzlösung, wenn auch isosmo-
tisch mit den roten Blutkörperchen. Und schließlich kommen im Blut
noch eine Reihe anderer Faktoren in Betracht, die wir bei unseren
Reagensglas versuch ausschalten. Der wechselnde Gehalt an 0 und
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 549
CO,, an Alkali wird für die Auflösung roter Blutkörperchen bei sonst
gleichen Bedingungen nicht gleichgültig sein können. Doch waren das
alles Faktoren, die allerdings zum Teil nur in ihrem Einfluß abge-
wogen und berücksichtigt werden konnten. Das wichtigste war, festzu-
stellen: kann die Konzentration des Aethers im Blutplasma unter
normalen oder pathologischen Verhältnissen so ansteigen, daß die oben
geschilderten Wechselbeziehungen überhaupt Platz greifen können, mit
anderen Worten : wieviel Prozent Aether nimmt das Blutplasma während
der Narkose auf? Welche Angaben finden sich hierüber in der Lite-
ratur? Meistenteils beziehen sich dieselben nur auf die Menge Chloro-
form oder Aether, die das eingeatmete Luftgemisch enthalten muß, da-
mit eine dauernde gleichmäßige Narkose erzielt wird. Pohl ^) fand die
Gesamt-Chloroformmenge im Blut zu 0,03—0,05 Proz.; die roten Blut-
körperchen enthielten 2,5— 4mal so viel Chloroform als das Serum.
Spenzer *) bezieht sich auf frühere differierende Angaben von Snow,
Kronegker und Katimoff, Eroneceer und Cushnt und kommt
selbst zu dem Resultat, daß bei einem Gehalt von 3,5 Vol.-Proz. an
Aether das eingeatmete Luftgemisch stundenlange Narkose unterhalten
kann, während bei 4,5 VoL-Proz. nach 15 Minuten, bei 6 Vol.-Proz.
nach 8—10 Minuten Respirationsstillstand erfolgt, lieber die Konzen-
tration des Aethers im Plasma erfahren wir nichts. Winterstbin *)
stellte gelegentlich seiner Untersuchungen über Assimilation und Dissi-
milation in der Narkose fest, daß sich bei Fröschen beim Durchspülen
mit einer Aether-Kochsalzlösung 1 : 300 eine dauernde Narkose erzielen
lasse. Eine exakte Angabe über die Konzentration des Aethers im
Blutplasma haben wir nur bei Overton*) gefunden. Auf Seite 51
seiner „Studien über die Narkose^ sagt er: damit z. B. eine vollständige
Aethernarkose eintritt, muß die Konzentration des Aethyläthers im
Blutplasma fast genau Vi Gewichts-Proz. betragen, und zwar tritt die
Narkose augenblicklich ein, ohne sich in der Folge wesentlich zu ver-
tiefen. Gottlieb äußert sich in seinem Referat über Narkose in den
Ergebnissen der Physiologie Bd. I nicht über die Konzentration des
Aethers im Blutplasma, spricht aber die Vermutung aus, daß eine
bleibende Schädigung der einzelnen Organzellen und auch der roten
Blutkörperchen erst bei Konzentrationen des Narcoticums eintritt, die
lange vorher vom Nervensystem aus tödlich wirken. Die Ausbeute an
1) Pohl, Ueber Aufnahme und Verteilung des Chloroforms im tieri-
schen Organismus, Arch. f. exper. Pathol., 1890.
2) Spbnzsr, Ueber den Grad der Aethernarkose im Verhältnis zur
Menge des eingeatmeten Aetherdampfes, Arch. f. exper. PathoL, Bd. 33,
1894.
3) WiNTSRSTBiN, Zur Kenntnis der Narkose, Zeitschr. f. allgem.
PhysioL, Bd. 1, 1902.
4) OvBRTON, Studien über die Narkose, Jena, 1901.
MitteU. a. d. Onozfebietea d. Mcdixin a. Cblmrgie. 2in. Bd. 36
550 G. Engelhardt,
positiven Angaben ist mithin eine recht geringe ; hielt sich wirklich die
Konzentration des Aethers im Blutplasma in den von Oyerton ange-
gegebenen Grenzen, so konnten auch Aenderungen der Temperatur
des menschlichen Körpers, die sich immerhin nur innerhalb weniger
Grade bewegen, für akut hämolytische Vorgänge kaum von Einfluß
sein. Ein kurzer orientierender Versuch sollte uns darüber belehren.
Tierversuch I.
Am 22. Nov. 1902 wird ein 8 Pfund schwerer Foxterrier bei 1,8 <>
Außentemperatur 25 Min. mit JüLLiARDScher Maske narkotisiert. Aether-
verbrauch ca. 200 g. Die Narkose verläuft nach kurzem Excitations-
stadium sehr ruhig. Die Körpertemperatur sinkt von 37,2 auf 35,8®, die
Einatmungsluft innerhalb der Maske von 12® auf 4®. Der Hund wird
dann sofort in ein überhitztes Zimmer gebracht und direkt vor den Ofen
gelegt; die Temperatur vor dem Ofen beträgt zwischen 30 und 35® C.
Hier beschleunigte Atmung, ca. 40 Atemzüge in der Minute ; nach 20 Min.
Erwachen aus der Narkose. Nach weiteren 5 Minuten heftige, etwa
^/^ Stunde anhaltende Hustenstöße. Am anderen Tag vollkommen munter.
Der technisch, wir wir uns wohl bewußt waren, noch recht unvollkommene
Versuch war mithin im ganzen ergebnislos verlaufen. 3 Tage später,
nachdem man annehmen konnte, daß aller aufgenommene Aether ausge-
schieden worden war, wurde derselbe Hund einer erneuten Narkose unter-
worfen.
Am 25. Nov. 1902 zweite Narkose bei 7 ® Außentemperatur mit durch
Watte so viel wie möglich abgeschlossener Maske. Nach 20 Min. flache
Atmung, nach 25 Min. Atmungsstillstand. 10 Min. lange künstliche
Atmung ohne Erfolg, Aetherverbrauch 130 g.
Sektionsbefund : Blut in der Vena jugularis und dem Herzen (1. Ven-
trikel) ganz dunkel, in den Lungen hie und da frische Blutungen von
Kleinkirschengröße, dazischen kleine prominierende emphysematöse Partien.
Im rechten unteren Lungenlappen am scharfen Band unregelmäßig be-
grenzte ca. walnußgroße Blutung in das Lungenparenchym. Bronchial-
Schleimhaut ohne Veränderung. Mikroskopischer Lungen befund : Keine Pneu-
monie. Ausgedehnte Blutungen in die Alveolen hinein. Die spärlichen im
Lumen liegenden Alveolarepithelien sind vollgestopft mit Fettkömchen.
Die Blutungen in diesem Fall müssen als ganz frische, durch die
Einwirkung der zweiten Narkose entstanden, betrachtet werden. Auf-
fallend war bei diesem Versuch die Intoleranz gegen Aether in der zweiten
Narkose, obwohl man, wie gesagt, annehmen mußte, daß aller Aether, der
ja bekanntlich von den Geweben außerordentlich festgehalten wird, aus-
geschieden war, von einer Summierung der Wirkungen also nicht wohl
die Bede sein konnte. Auf die voraussichtliche Bedeutung der Lungen-
blutungen werden wir später zusammen mit entsprechenden klinischen
Beobachtungen kurz einzugehen haben.
Tierversuch IL
Am 27, Nov. 1902 wird ein 3150 g schweres Kaninchen 40 Min.
in gleicher Weise narkotisiert bei 3® Außentemperatur. Flache Narkose,
so daß der Kornealreflex dauernd erhalten war. Dann sofort in ein über-
hitztes Zimmer gebracht (vor dem Ofen 38 ®C!). Nach ^/j Stunde voll-
kommen munter.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 551
Tierversuch III.
Am gleichen Tag wird ein anderes 2600 g schweres Kaninchen bei
S^ AulSentemperatur 40 Min. lang tief narkotisiert. Aetherverbrauch bei
nicht durch Watte abgeschlossener freier Maske 150 g. Die Körper-
temperatur sinkt von 38,3 auf 36,7 ^, Nach 20 Min. Tracheairasseln, nach
40 Min. Exitus. Sogleich in 5,6-proz. MgSO^lösung aufgefangenes Blut wird
auch nach längerem Stehen nicht lackfarben. Die Sektion ergab: Lungen
ohne wesentliche Veränderung von blaß rosaroter Farbe, mit kleinen um-
schriebenen Blutaustritten. Keine Pletitablutungen. Mikroskopisch finden
sich hie und da in den von dicht aneinander gerückten Septen um-
schlossenen Alveolen einige rote Blutkörperchen. Keine abgestoßenen
Alveolarepithelien.
Waren die Experimente nun auch nicht vollkommen negativ aus-
gefallen, so konnte doch von akut hämolytischen Vorgängen im' narkoti-
sierten Tierkörper durch üeberführung des durch die Narkose unter-
kühlten Tieres in ein überhitztes Zimmer anscheinend keine Rede sein ;
durchaus zweifelhaft muß es allerdings bleiben, ob durch diese Art der
Wärmestauung es uns überhaupt gelungen ist, die Körpertemperatur
wesentlich zu erhöhen. Bei einer späteren Variation der Versuche
haben wir es deshalb auch vorgezogen, die Erhöhung der Körpertem-
peratur in rationellerer Weise (durch den sogenannten Wärmestich) her-
beizuführen.
Wurde nun wirklich in der Narkose durch die roten Blutkörperchen
Aether in nennenswerter Menge gebunden, so mußte man erwarten
können, daß die dem Tierkörper während der Narkose entnommenen
Blutscheiben eine Veränderung ihres Schmelzpunktes erkennen ließen.
Durch frühere Untersuchungen (z. B. die oben erwähnten von Pohl),
ferner durch die eingehenden von Overton*) und Meyer '0, die beide
auf Grund derselben unabhängig voneinander zu einer neuen Theorie
der Narkose gelangt waren, war festgestellt worden, daß Aether und
Chloroform besonders von den roten Blutzellen weniger vom Blut-
plasma gebunden werden, durch Overton und Meter war sogar ein
konstantes Abhängigkeitsverhältnis der gelösten Menge des Narcoticums
im Blutplasma und in den roten Blutkörperchen wahrscheinlich ge-
macht, ausgedrückt durch den sogenannten Teilungskoefüzienten. Dazu
war es aber zunächst notwendig, den Schmelzpunkt normalen Blutes,
und da auch dieser Schwankungen unterliegen kann, jedesmal des Blutes
des betreffenden Versuchstieres vor der Narkose kennen zu lernen. In
Uebereinstimmung mit Koppe ließ sich nun zunächst feststellen, daß
1) Overton, 1. c.
2) Meyer, H., a) Eine Theorie der Alkoholnarkose. Sitz.-Ber. d. Ges.
z. Bef. d. ges. Naturw. Marburg, 1899. b) Zur Theorie der Alkohol-
narkose. Welche Eigenschaft der Anästhetica bedingt ihre narkotische
Wirkung? Arch. f. exp. Path., Bd. 42, 1899. c) Baum: II. Mitteilung. Ein
physikalisch-chemischer Beitrag zur Theorie der Alkoholnarkose. Ebenda.
36*
552 G. Engelhardt,
Auflösung menschlicher und tierischer roter Blutkörperchen in den ver-
schiedenen isotonischen Salzlösungen bei annähernd gleichen Temperatur-
graden erfolgt. Das Lackfarbenwerden der roten Blutscheiben kann
auch hier nach Koppe als eine Art Schmelzung bezeichnet werden,
indem bei bestimmten Temperaturgraden die die Oberflächenschicht
bildenden fettartigen Substanzen verflüssigt werden und so das Hämo-
globin austreten lassen. Die Wärmegrade, bei denen diese Schmelzung
der roten Blutzellen eintritt, sind für die verschiedenen Salzlösungen
etwas verschieden. Als Durchschnittswerte (es kommen auch geringe
Abweichungen vor) haben wir gefunden: Rote Blutkörperchen werden
lackfarben in
9.4 Proz, Rohrzuckerlösung bei 67"
0,9 „ Kochsalzlösung „ 66^
0,75 „ Kochsalzlösung „ 66®
5.5 „ MgSOJösung ^ 68«
1,42 „ NajSO^lösung „ 67 «
1,3 „ K^SOJösung „ 67«
Die im ganzen durchaus einheitlichen Zahlen gelten sowohl für
menschliche wie für tierische rote Blutkörperchen (Kaninchen, Hund,
Schwein, Katze). Da sich nun der Schmelzpunkt der roten Blutkörper-
chen in den einzelnen indifferenten Lösungen als ein konstanter erwies,
so konnten wir nun dazu übergehen, Bestimmungen des Schmelzpunktes
narkotisierter roter Blutzellen in indifferenten Lösungen vorzunehmen.
Je nach der Menge des aufgenommenen Narcoticums war eine Herab-
setzung des normalen Schmelzpunktes nach der Narkose wahrscheinlich,
vorausgesetzt, daß eben überhaupt die aufgenommenen Mengen erheb-
lich genug waren. Voraussetzung dabei war ferner, daß die dem Tier-
körper entnommenen roten Blutscheiben in der indifferenten Lösung
sofort geprüft wurden, bevor sie den aufgenommenen Aether an die-
selbe abgaben. Es hätte auch a priori richtiger erscheinen können, im
Serum desselben Tieres oder eines Tieres derselben Art die Unter-
suchung vorzunehmen, aber einesteils wäre dadurch die Ausführung
außerordentlich erschwert und dann kann das abgepreßte Serum nicht
mehr die Eigenschaften der Blutflüssigkeit beanspruchen, in der die
roten Blutkörper zirkulierten ; es können neue unbekannte Eigenschaften
hinzugekommen oder ihm andere genommen sein, die wiederum Einfluß
auf die Hämolyse gewinnen konnten. Gleichzeitung verbanden wir damit
Versuche, das Verhalten der roten Blutkörperchen vor, während und
nach der Narkose in ätherhaltigen Salzlösungen festzustellen. Wir
hofften, indem wir diese Versuchsanordnung wählten, den tatsächlichen
Verhältnissen in der Narkose wenigstens näher zu kommen, verhehlten
uns aber nicht, daß ziemlich sicher die gewählten Aetherkonzentrationen
weit über den Prozentgehalt des Blutplasmas an Aether hinausgingen.
Auch bei Anwendung niederer Konzentrationen würde es, abgesehen
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 553
von den Eigenschaften des Blutplasmas, nur durch Zufall möglich sein,
annähernd ähnliche Verhältnisse wie im zirkulierenden Blut herzustellen.
Entsprechend dem konstanten Teiiungsverhältnis des Aethers zwischen
Plasma bezw. Lösung und Blutkörperchen werden die ätherisierten roten
Blutscheiben, wenn ihnen genügend Zeit gewährt wird, entweder Aether
abgeben oder aufnehmen und je nachdem wird sich der Schmelzpunkt
verschieben. Liegt die Aetherkonzentration unter dem Gehalt des Blut-
plasmas an Aether in dem jeweiligen Zeitpunkt der Narkose, so war
anzunehmen, daß sie Aether abgeben würden, liegt sie darüber, so war
noch eine Aufnahme von Aether zu erwarten. Wie die Aetherkon-
zentration aber auch war, so hatten gerade Vergleichszahlen der Schmelz-
punkte vor und in der Narkose hohes Interesse. Wir bringen im fol-
genden die Protokolle unserer weiteren Versuche, die das Verhalten
der dem Tierkörper vor, während und nach der Narkose entnommenen
roten Blutkörperchen dartun. Die Versuchtechnik war die gleiche wie
früher beschrieben. Soweit nicht ausdrücklich anders bemerkt, wurden
alle Proben ganz kurze Zeit nach der Entnahme untersucht. Es sei
noch erwähnt, daß wir uns von jetzt an zum Narkotisieren keiner
geschlossenen Maske bedienten, «sondern auf Vorschlag von Herrn
Prof. Geppert eine offene trichterförmige Maske aus Stahldraht be-
nutzten, über die verschieden weite schmale Binge aus Flanell ge-
zogen wurden, die direkt über die Nase zu liegen kamen. Das Ver-
halten der Reflexe konnte so besser beobachtet werden, andererseits
war die Atmung unbehindert. Eine Erstickungsnarkose und die Ein-
atmung stark unterkühlter Luft (cf. unsere ersten Versuche) wurde
vermieden.
Tierversuch IV.
5. Dez. 1902. Kräftiges, 3000 g schweres Kaninchen. 1 -stündige
Narkose. Aetherverbrauch 80 g.
£e erfolgt Hämoiyse in
Vorder
Narkose
Nach Schluß der Narkose
sofort
IV, Std.
18 Std. 1 Tg.
3 Tg,
9,4-prQz. BohrzuckerlöBung
5,5-proz. MagneBiumsulfat-
löSUDg
1,42-proz. Natriumsulf at-
löBung
0,9-proz. Kochsalzlösung
Traubenzuckerlösung
l,3*proz. KaliumBulfat-
lösung
7-proz. Aether-Magnesium-
sulfatlöBung
8-pTOz. Aether-Bohrzucker-
iösung
bei 69«
n 690
" ^'
„ 670
„ 650
„ 670
,, 290
„ 370
690
690
67-680
350
Bei 370
sedimentiert
670
330
390
64,50
650
690
170?
Zimmer-
temperatur
feo
690
360
400
35^0
430
21«
•
690
690
680
Bei 700
koagu-
liert
260
37i
554
O. Engelhardt,
Tierversuch V.
9. Dez. 1902. 3300 g schweres Kaninchen. IV^-stündige Narkose
bei 65 g Aetherverbrauch. Körpertemperatur sinkt auf 37,2 o.
Vorder
Narkoae
Nach der Narkose
£b erfolgt Hamolyse in
sofort
entn. Blut
sof. entn. Blut
nach 24 Std.
untersucht
nach nach
26 Std. 48 Std.
9,4-proz. Bohrzuckerlösunff
5,5-proz. MagDeeiumBulfatiöBUDg
0,9-proz. Kodisalzlöfiong
0,75-proz. KochsalzlöBUDg
13-pn>z. KaliumaulfatKysung
7-proz. Aether-MagneBiumsulfatlöeung
8-proz. Aether-RohrzuckerlöBung
68« (680)
680 (680)
670 (680)
670 (680)
690
230 (240)
390 (400)
680
680
680
620
250
420
680
680
650
lackfarben
700
lackfarben
640
690
690
650
700
25;5o
37^0
67«
69«
650
650
650
260
32,5«^
Tierversuch VI.
12. Dez. 1902. 2700 g schweres Kaninchen.
Aetherverbrauch 65 g.
2 Stunden narkotisiert
Blut wird lackfarben in
Vor der Narkose
^ 'o \ stehen ge-
S g hMS^,
S S jnach 24 Std.
§ I untersudit
In der
Narkose
1 Std.
nach
Beginn
Nach Schluß der Narkose
sofort
IStd.
17, Std.
l»/,8td
' 18V, Std.
18V, Std-' °*^ '^^'^
bteoen
untenadu
.9,4-proz. Eohrzucker-
losung
5,5-proz. Magnesiumsul
fatlOsung
0^-proz. Kochsalzlösung
0,75-proz. Kochsalzlösung
1,42-proz. Kaliumsulfat-
lösung
1^-proz. Natriumsulfat-
lösung
7-proz. Aether-Magnesi-
umsulfatlösung
8-proz. Aether-Rohr-
zuckerlösung
7-proz. Aether-Kochsalz-
lösung
670
10
650
650
65»
650
25,5<
310
660
690
650
650
bei Zimmer-
temperatur
nicht gelöst
640
62,50
640
650
650
650
65«
670
660
660
650
670
64,50
65»
650
600
650
650
650
650
nach 24 Stunden bei Zimmertemperatur nicht gelöst
260
30«
330
270
260
25,50
26«
320
310
30,50
310
320
31^0
300
29,50
250
300
29^0
25^0
280
300
NB. 1 Stande nach Beginn der Narkose deutlich erhöhte Gerinnbar-
keit des Blutes bei der Abnahme.
21 Stunden nach Schluß der Narkose Tod. Bei der 22 Stunden p. m.
vorgenommenen Sektion finden sich nur einige kleinlinsengroße Pleura-
blutungen und atelekta tische Randpartien in beiden Lungen. Mikroskopisch
findet man in beiden Lungen hie und da, in der Regel nur eine, selten
zwei oder mehrere Alveolen mit verfetteten Alveolarepithelien vollgestopft,
ohne Beimischung von Leukocyten. Bronchiolen ohne Exsudat.
Tierversuch VII.
15. Dez. 1902. Kräftiges, mittelschweres Kaninchen. 2 Stunden narkoti-
siert; Aetherverbrauch 70 g. Die Narkose wird mit hängendem Kopf
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 555
vorgenommen, um das Einfließen von Speichel in die Luftröhre zu ver-
meiden. Körpertemperatur am Schluß der Narkose 35,2 ^
£b trat Hämoljse
ein in
Vor
der
Nar-
kose
In der
Narkose
IV* 8td.
nach
B^nn
Nach Schlud der Narkose
sofort
IStd.
20Std.
2mtd.
458td.
5 Tg.
9,4-proz. Bohrzucker-
lösuDg bei
OyO-proz. Kochsalzlösung
0,75Kproz. Kochsalzlösung
1,42-proz. Kaliumsulfat-
lÖBung
1,3-proz. Natriumsulfiat-
lösung
7-proz. Aether-Magnesium-
sulfatlösung
8-proz. Aether-Bohr-
zuckerlösuDg
7-proz. Aether-Kochsalz-
lösung
67«
65«
28«
33,5°
63°
66°
66°
65°
61°
65°
65°
65°
66°
66°
66°
66°
Ö5°
65°
65°
65°
65»
bei Zimmertemperatur nach 24 Std. nicht gelöst
29,5°
32,5°
35°
32°
32°
—
29°
30°
a5°
35°
36.5°
36,5«
37°
34°
34°
36°
34,5°
38°
33,5°
33,5°
Tierversuch VIII.
17. Dez. 1902. 1800 g schweres Kaninchen. 1-stündige Narkose.
Aeth erver brauch 40 g.
Es erfolgt Hämolyse in
Vor der Narkose
mehrere
Tage
alte
Lösung
frische
Lösung
Nach Schluß der Narkose
sofort
HStd.
IfStd.
2iStd.
4i8td.
47 Std.
9,4-proz. Bohrzucker-
lösung
0,9-proz. Kochsalzlösung
1,42-proz. Kaliumsulfat-
lösung
Iß-proz. Natriumsulf at-
lösunR
7-proz. Aether-Magnesium-
sul&tlösung
8-proz. Aether-Bohr-
zuckerlösung
7-proz. Aether-Kochsalz-
lösung
(0,9-proz.)
67°
65°
29,5"
36°
66°
66°
30,5°
30°
34°
65°
66°
65°
66°
66°
63°
66°
58°
bei Zimmertemperatur nach 24 Std.
nicht gelöst
30,5°
30°
34°
31°
31°
30°
34°
30,5°
30°
32°
32°
33°
30°
34°
34°
34°
36°
33,5°
Tierversuch IX.
20. Dez. 1902. 800 g schweres Kaninchen wird ^/, Stunde bei Zimmer-
temperatur sehr tief narkotisiert; Aetherverbrauch 30 g. Nach l-stündiger
Pause zweite Narkose wieder von ^/, -stündiger Dauer; Aetherverbrauch 25 g.
Körpertemperatur am Schluß der 2. Narkose 36,6^. 16^/4 Stunden später
von neuem Narkose. Keine verminderte WiderstandsfUiigkeit. Schweres
Einschlafen. Nach 20 Min. Aussetzen der Herztätigkeit bei unveränderter
Atmung. Die Herztätigkeit kommt wieder für weitere 10 Min. in Gang,
läßt dann wieder nach und setzt schließlich aus, während die Atmung
bis zum Schluß unverändert bleibt. Dauer der dritten Narkose 40 Min.,
Aetherverbrauch 55 g.
556
G. Eogelhardt,
Blut aus dem 1. Ventrikel sofort nach dem Tod entnommen wird lackfarben in :
9,4-prpz. Bohrzuckerlösiing
0,9-proz. Kochsalzlösung
0,75-proz. Kochsalzlösung
7-proz. Aether-MagnesiumsulfatlÖsung
8-proz. Aether-RohrzuckerlÖBung
7-proz. Aether-Kochsaklösnng ^,9-proK.)
bei 65°
vollkommen geronnen, nicht zu prüfen.
33,5 <>
35«
Die Sektion ergab: An der vorderen Seite des 1. unteren Lungen-
lappens eine etwa 2 mm in die Tiefe reichende markstückgroße dunkelrote
Verfärbung des Lungenparenchyms. An der vorderen Seite des rechten
Unterlappens 2 stecknadelkopfgroße Blutungen. Kein Lungenödem. Mikro-
skopisch erweist sich die im 1. Unterlappen gelegene dunkelrote Gewebs-
partie als Atelektase ohne Blutungen; hie und da finden sich kleine Blut-
austritte in mehreren nebeneinander gelegenen Alveolen. Nirgends Ent-
zündungsherdchen.
Um den Einfluß verschiedener einseitiger Ernährungsweisen, durch
die bekanntlich die Beschaffenheit des Blutes beeinflußt wird, des
Hungerns ^) etc. auf den Verlauf der Narkose kennen zu lernen, wurden
verschiedene Tiere einer bestimmten Diät längere Zeit unterworfen und
dann zu einem oder wiederholten Malen narkotisiert.
Tierversuch X.
3600 g schweres weibliches Kaninchen wird vom 10. Jan. his
3, Febr. 1903 ausschließlich auf Grünfutter gesetzt. Am 3. Febr. Nieder-
kunft. Von da bis 24. Febr. Grünfutter und Kleie. Gewicht am 10. Jan.
3600, am 24. Febr. 3100 g.
Erste Narkose Ton l^-Btündiger Dauer. Aetherverbrauch 80 g.
Blut wird lackfarben in
Vor der
bei ge-
miBcnter
Narkose
am
Schluß d.
Diätzeit
In der
Narkose
1 Std.
nach
Beginn
Nach Schluß der
Narkose
Koet
sofort
24 Std.
46 Std.
66»
66«
66»
66»
—
—
29«
29,5 0
—
—
—
—
—
34»
—
—
—
—
—
—
41,5»
45.5»
43»
45»
43»
48»
43»
46,5»
42,5 •
47*
—
46»
47»
52»
48,5»
44,5 •
—
66»
. 66»
66»
65»
63»
—
66»
66»
67»
66»
66*
—
66»
66»
67»
66*
63,5 •
0,9-proz. Kochsalzlösung
0,75-proz. Kochsalzlösung
7-Droz. Aether-Magnesiumsulfat-
lösune
8-proz. Aether-Bohrzuckerlösung
7-proz. Aether-Kochsalzlösnng
(0,9-proz.)
4-proz- Aether-Magtaesiumsulfat-
lösung
4-proz. Aether-Bohrzuckerlösung
4-proz. Aether-KochsaLzlösung
(0,9.proz.)
V4-proz. Aether-Kochsalzlösung
(0,9-proz.)
V4-proz. Aether-Kochsalzlösung
(0,75-proz.)
V4-proz- Aether-Magnesium-
Bulfatlösung
1) KiBSBRiTZKY, G., Experiment. Untersuchungen übor den Einfluß der
Nahrungsentziehung auf das Blut. Dtsch. Aerzte-Ztg., 1902.
Neue Oesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 557
46 Stunden nach Beendigung der ersten Narkose Einleiten einer zweiten
von 1 -stund. Dauer. Aetherverbrauch 60 g. Körpertemperatur am Schluß
der Narkose 36,8 ^. Leichtes Einschlafen. Narkose verläuft ohne Störung.
Gewicht des Tieres 2800 g.
Blut wird lackfarben in
Nach Schluß der zweiten Narkose
sofort
25Std.
4 Tage
4-proz. Aether-Magneeiumsulfatlöeung
4-proz. Aether-Kohrzuckerlöeunff
4-proz. Aether-Kochfialzlösung (ü,9-proz.)
* / 4 -proz. Aether-Magnesiumsulf atlÖBung
V 4-proz. Aether-KochsalzlöBung (0,9-proz.)
V 4 -proz. Aether-KochBalzlösuDg (0,75-proz.)
43»
48,5»
49,5»
66»
66,5»
66»
43»
47»
49,5»
66»
67»
67»
43»
47»
49»
66»
65»
66»
Tierversuch XI.
2100 g schweres Kaninchen wird vom 11. Jan. bis 5. Febr. 1908
ausschließlich auf Körnerfutter gesetzt. Gewicht am 5. Febr. 2570 g.
An diesem Tage 2-stündige Narkose bei Zimmertemperatur. Körperwärme
des Tieres nach 1^/^ Stunden 84,4®, nach der zweiten Stunde 88,8®.
Aetherverbrauch 55 g.
Vor der Narkose
In der
Narkose
Nach Schluß der Narkose
Blut wird lackfarben in
beige-
miBcnter
NahruDg
am
1 Std.
8rhluß d.
Diätzeit
nach
Bofort
2V, Std.
20V, Std.
0,9-proz. EochBalzlöeung
66»
66»
0,75-proz. KochBalzlöBung
66»
66»
—
—
—
7-proz. Aether-Magnesium-
BUlfatJÖBUDg
30,5»
—
—
8-]>roz. Aether-Bohrzucker-
lÖBong
30,5»
—
—
—
—
7-proz. Aether-Kochsalz-
löBong (0,9-proz.)
4-proz. Aether-MagDeeium-
34»
—
—
—
—
BulfaUöBung
—
42»
43»
44»
43»
43»
4-proz. Aether-EochBalz-
lösune (0,9-proz.)
4-proz. Aether-Kochsalz-
lösung (0,75-proz.)
—
44»
45»
46,5»
46«
45»
—
45 »^
45»
46,5»
45«'
45»
V4-proz. Aether-Magne-
siumBulfatlöeuDK
V^-proz. Aether-Kochsalz-
löBung r0,9-proz.)
^/' -proz. Aether-Kochsalz-
löBung (0,75-proz.)
—
62»
63»
62»
62«
63»
—
60»
63»
62»
63»
63»
—
63»
64»
62»
63«
63»
201/j Stunden nach Schluß der ersten Einleitung einer zweiten
Narkose von 2 Stimden Dauer. Das Tier verträgt den Aether ent-
schieden schlechter als das erste Mal; Atmung mühsam. Aetherver-
brauch 60 g. Körperwärme am Schluß der Narkose 34,5®, Gewicht des
Tieres 2500 g.
558
O. Engelhardt,
Blut wird lackfarben in
In der Narkose
1 St nach 2 St. nach
Beginn Beginn
4-proz. Aether-Magnesiumsulfatlöfiung
4-pToz. Aether-Bofirzuckerlösang
4-proz. Aether-Kochflalzlööung (0,9-proz.)
Vi-proz. Aether-MagneBiumsulfatlöeung
V4-proz. Aether-Kociß«lz8(5euDg (0,9-proz.)
V4-proz. Aether-KochsalzlÖBaDg (0J5-proz.)
43«
45«
45*
62«
61«
61«
44«
50«
50«
67«
63«
Tierversuch XII.
20. Jan. 1903. 2000 g schweres Kaninchen wird nach S-tägigem
Hungern, wobei das Körpergewicht um 200 g abnimmt, ly^ Stunden bei
Zimmertemperatur narkotisiert.
ßlnt wird bickfarben in
Vor der Nar-
In der Nar-
kose
1 Std. nach
Beginn
Nach Schluß der Narkose
kose
sofort
3 Std.
26 Std.
0,9-proz. Kochsalzlösung
66«
66«
nach 24 Std. nicht
gelöst
63«
nach 24 Std.
nicht gelöst
0,75-proz. Kochsaklösung
66«
66«
nach 24 Std. nicht gelöst
60«
7-proz. Aether-Magnesium-
Bulfatlöeung
29,5«
29,5«
30«
28«
28«
28^"
8-proz. Aether-Bohrzucker-
löBung
7-proz. Aethe^Koch8alzlÖ8ung
28,5«
29,5«
29«
30«
29«
29,5«
(0,9 Proz.)
33«
34«
32«
33«
33«
34,5«
9,4-proz. Bohrzuckeriöeung
—
—
nach 24 Std.
nicht gelöst
—
—
—
Vom 11. Jan. bis 17. März 1903 ausschließlich mit Kartoffeln ge-
füttert. Das Körpergewicht steigt auf 2200 g.
Am 17. März 1-stündige Narkose. Aetherverbrauch : 40 g. Körper-
wärme am Schluß der Narkose: 36 o.
Blut wird lackfarben in
Vor der
Narkose
Nach Schluß der
Narkose
sofort
23Std.|47Std.
4-proz. Aether-Maffnesiumsulfatlösung bei
4-proz. Aether-Rohrzuckerlösung
4-proz. Aether-Kodisalzlösung (0,9 Proz.)
4-proz. Aether-Kochsalzlösung (0,75 Proz.)
45«
48«
49«
47«
44«
48«
49«
47«
45«
49«
50«
48«
45,5«
47«
49«
48«
47 Stunden nach Schluß der ersten Narkose Einleitung einer neuen
von 2 Stunden Dauer. Körperwärme nach 1 Stunde 35,1®, nach
IV2 Stunden So«
Blut wird lackfarben in
4-proz. Aether-Ma^esiumsulfatiösung
4-proz. Aether-Rohrzuckerlösung
4-proz. Aether-Kochsalzlösung (0,9 Proz.)
4-proz. Aether-Kochsalzlösung (0,75 Proz.)
In der Nar-
kose
l*/4 Std. nach
Beginn
46«
48,5«
49«
48,5«
Nach Schluß
der Narkose
22 Std.
46«
48«
49«
49«
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 559
d Stunden nach Beendigung der Narkose tot aufgeftinden. Obduktions-
befund negativ. Lungen blafi, keine Blutungen, kein Oedem. Auch mikro-
skopisch keine Blutaustritte in die Alveolen nachzuweisen; in den Alveolen
nur hie und da einige spärliche abgestoßene Epithelien.
Für die indifferenten Salzlösungen hat sich also folgendes ergeben.
In der 9,4-proz. Rohrzuckerlösung ist bei 3 Versuchen eine Herab-
setzung des Schmelzpunktes zu konstatieren gewesen, 2 Versuche ver-
liefen in der Hinsicht negativ. 2mal trat diese Herabsetzung während
der Narkose ein. Im 3. Fall war während bezw, direkt nach der Nar-
kose keine Alteration des Schmelzpunktes zu konstatieren, wohl aber
einen Tag später, und zwar um 4^ Das Maximum der Herabsetzung
betrug bei Kaninchen VII, am Schluß der 2-stündigen Narkose 5Vs^
In der Magnesiumsulfatlösung war in 3 Versuchen keine Herabsetzung
festzustellen. Da die Beobachtung bei dieser Lösung durch die dem
Lackfarbenwerden außerordentlich schnell folgende bezw. mit ihr zu-
sammenfallende Koagulation sehr erschwert ist, haben wir in der Mehr-
zahl der Versuche uns darauf beschränkt, nur das Verhalten der äther-
haltigen MgS04-Lösungen zu prüfen, in denen der Umschlag aus Deck-
in Lackfarben wie in allen ätherhaltigen Lösungen außerordentlich scharf
eintrat. Für die 0,9-proz. Kochsalzlösung gab gleich der erste Versuch
(IV) ein außerordentlich bemerkenswertes, mehrfach kontrolliertes und
über allem Zweifel stehendes Resultat, indem am Schluß der 1 -stündigen
Narkose der Schmelzpunkt auf 35^ herabsank, Vs Stunde später sich
sogar auf 17® erniedrigte, eine Herabsetzung, die noch 24 Stunden
später zu konstatieren war. Es trat also, anders ausgedrückt, bei ge-
wöhnlicher Zimmertemperatur in der indifferenten Salzlösung
eine Auflösung der ätherisierten roten Blutscheiben ein.
Nach 3 Tagen war der Schmelzpunkt wieder normal. Während in der
0,9-proz. Kochsalzlösung sich dieses merkwürdige Verhalten der ätheri-
sierten roten Blutkörperchen zeigte, war in dem gleichen Versuch in
MgSO^- und Rohrzuckerlösung keine Abweichung vom Normalen zu
entdecken. Die Blutaufschwemmungen blieben deckfarben. Hämolyse
trat erst bei Temperaturen über 60® ein. In der 0,9-proz. Kochsalz-
lösung war in allen Versuchen eine Herabsetzung des Schmelzpunktes
nach der Narkose zu erkennen, doch ist abgesehen eben von dem
Versuch IV das Maximum nur eine Erniedrigung um 4 bezw. 7®.
Letztere in Versuch VIII ist auffällig, da sie erst 2 Tage nach der
Narkose festzustellen war, während sie 1 Stunde nach der Narkose
nur 2® in dem betreffenden Versuch betrug.
Wir kommen nunmehr zu dem Verhalten in äthergesättigten Salz-
lösungen. Beginnen wir mit der Besprechung der niedrigstkonzentrierten,
der Vi-prozentigen. Wenn es auch aus früher erörterten Gründen nicht
geboten erscheint, aus dem Verhalten der roten Blutkörperchen in den
Vi-proz. Lösungen Schlüsse auf das Verhalten der Erythrocyten im
560 G. Engelhardt,
Plasma zu ziehen, so können diese Versuche doch vielleicht ein be-
sonderes Interesse beanspruchen, da sie den tatsächlichen Verhältnissen
eventuell am nächsten kommen und, vorausgesetzt, daß wirklich der
Aethergehalt des Blutplasmas in der Narkose V4 Gewichtsprozent be-
trägt, eine Aetherabgabe oder -aufiiahme durch die roten Blutscheiben
in der ätherhaltigen Salzlösung nicht erfolgen würde. Während nun
Versuch VIII keine Beeinflussung des Schmelzpunktes in und nach der
Narkose erkennen läßt, ergibt Versuch VII das auffallende Resultat,
daß Hämolyse nicht, wie a priori zu erwarten, bei niederer, im Gegen-
teil bei höherer Temperatur erfolgt. Am deutlichsten ist dies in der
Aether-Eochsalzlösung, in der die Erhöhung 1 Stunde nach Beginn der
Narkose 3^ beträgt. Genauer wie in den niederen haben wir in den
höher konzentrierten Aethersalzgemischen das Verhalten der roten Blut-
scheiben in und nach der Narkose verfolgt. In diesen war ebenfalls
eine Herabsetzung des Schmelzpunktes der Erythrocyten zu erwarten,
da ja die während der Narkose mit Aether beladenen Blutzellen in der
Lösung noch mehr Aether aufnehmen und eigentlich ihren Schmelz-
punkt erniedrigen müßten; aber das ist, wie die Tabellen erweisen,
nicht der Fall, im Gegenteil, der Schmelzpunkt ist während der Nar-
kose erhöht. Betrachten wir zunächst die 4-proz. Aethersalzgemische.
In der 4-proz. Aether-MgSO 4 -Lösung ist in 3 Versuchen, jeder mit
2maliger Narkose, diese Erhöhung um durchschnittlich 2 ^ nachzuweisen,
am deutlichsten nach Schluß der Narkose, aber auch noch 1 Tag später.
In der 4-proz. Aether-Rohrzuckerlösung ist in denselben Versuchen in
einem untersuchten Fall (X) die Erhebung nach Schluß der zweiten
Narkose (um 3Vs ^) sehr deutlich, im anderen ist keine Abweichung
zu konstatieren. In den 4*proz. Aether-Eochsalzlösungen ist in der
0,9-proz. die Erhebung in Versuch X und XI sehr deutlich, besonders
in letzterem, wo sie am Schluß der zweiten Narkose 6*' beträgt, wäh-
rend in Versuch XII vor und nach der Narkose kein deutlicher Unter-
schied zu bemerken ist. Gleich deutlich wie für die 0,9-proz. Koch-
salzlösung ist die Erhöhung in der Narkose in Versuch XI für die
0,75-proz. NaCl-Lösung. In der 7-proz. Aether-Kochsalzlösung (0,9 Proz.)
ist kein Unterschied vor und nach der Narkose festzustellen, mit Aus-
nahme von Versuch VII, in dem 2 Tage nach der Narkose eine Er-
höhung um 4® eingetreten ist. Dagegen war in 5 Versuchen in der
7-proz. Aether-MgSO 4 -Lösung eine Erhöhung des Schmelzpunktes direkt
oder kurz nach der Narkose bis zu 7 ^ bemerkbar. Der eine mit der
8-proz. Aether-Rohrzuckerlösung angestellte Versuch XII endlich zeigte
während und nach der Narkose keine Abweichung. Zusammenfassend
läßt sich mithin sagen : Der Schmelzpunkt der roten Blutzellen ist in
und nach der Narkose in indifferenten Salzlösungen herabgesetzt, dabei
gehen aber die einzelnen Lösungen einander nicht parallel. In äther-
haltigen Salzlösungen ist der Schmelzpunkt in und nach der Narkose
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 561
nicht erniedrigt, im Gegenteil vielmehr erhöht, und zwar lassen alle
von der V4- bis zu der 7-proz. Lösung diese Gesetzmäßigkeit erkennen«
Auch hier stimmt die Erhebung in den verschiedenen Lösungen mit-
einander nicht überein. Eine Erniedrigung trat nur ein nach der ersten
Narkose bei Versuchstier XI nach 3-tägigem Hungern und in Versuch
XI in den 7- bezw. 8-proz. Aethersalzlösungen. Auffallend ist, daß
gerade dieses Versuchstier 23 Stunden nach beendigter, nicht einmal
besonders tiefer Narkose zu Grunde ging. Der Obduktionsbefund war
bis auf einige kleine Pleurablutungen negativ. Die Schmelzpunkte der
Erythrocyten der längere Zeit auf einseitige Ernährung gesetzten Tiere
wichen weder vor noch nach der Narkose von den übrigen Ver-
suchen ab.
Nachdem nun die Verhältnisse beim gesunden Tier in der Narkose
genügend untersucht schienen, stellte sich als nächste Aufgabe, die
Schmelzpunkte der roten Blutzellen bei möglichst verändertem Blut zu
untersuchen. Da uns kranke Tiere nicht zur Narkose zu Gebote standen,
suchten wir eine veränderte BlutbeschaflFenheit durch gewaltsamere Ein-
griffe, als dies Hungern und einseitige Kost bedeuten, herzustellen,
nämlich einmal durch größere wiederholte Blutentziehungen und dann
durch reichliche Infusionen, teils von Kochsalzlösung, teils von anderen
auch praktisch in Betracht kommenden Infusionsflüssigkeiten. Zugleich
nahmen wir unsere früheren Versuche, die durch die Narkose ernie-
drigte Körperwärme, solange der Aether noch nicht aus dem Körper aus-
geschieden war, rasch um mehrere Grade in die Höhe zu treiben, wieder
auf, diesmal in rationellerer Weise, indem wir den Temperaturanstieg
nicht durch Wärmestauung, sondern durch den sogenannten Wärme-
stich zu erzielen suchten. Bei gelungenem Wärmestich ähnelt bekannt-
lich der Ablauf der Lebensprozesse im Organismus vollkommen dem
bei Fieber, indem erhöhte Stickstoff- und Kohlensäureausscheidung mit
der Erhöhung der Körpertemperatur einhergehen. Zu den Infusionsver-
suchen verwandten wir einmal die 0,75-proz. Kochsalzlösung. Es schien
von Interesse, das Verhalten des Schmel^unktes der roten Blut-
körperchen ätherisierter Tiere, die mit reichlichen Kochsalzinfusionen
vorbehandelt waren, festzustellen, da nach den Untersuchungen von
BiERNATZKi^) Kochsalzinfusionen im Stadium der sogenannten Blut-
verdichtung ausnahmslos einen Zerfall von roten Blutzellen zur Folge
haben. Biernatzki unterscheidet nach der Kochsalzinfusion 3 Stadien
der Blutbeschaffenheit, das erste 2 Tage währende der Blutverdünnung
mit gleichzeitig vermehrter Diurese, das zweite, in dem es zu einer An-
häufung von Salzen im Blut bei vermindertem Wassergehalt des Blutes
1) BfBBNATZKi, Ueber den Einfluß der subkutan eingeführten großen
Mengen von 0,7-proz. Kochsalzlösung auf das Blut und die Harnsekretion.
Zeitschr. f. klin. Med., 1891, Suppl.
562 G. Engelhardt,
und verminderter Diurese kommt, dessen Folge wiederum das dritte
Stadium darstellt, das der Blutkörperchenzerstörung von ungefähr 2 bis
3 Tagen Dauer. Vielleicht machte sich in Stadium III Blutkörper-
chenzerfall durch Blutverdichtung und Aetherwirkung in besonders
eklatanter Weise geltend. Es scheint aber, soviel ich aus der Literatur
ersehe, die experimentelle Arbeit Biernatzkis mit ihrer behaupteten
Wirkung auf die roten Blutzellen ziemlich vereinzelt zu stehen. Gleich-
wohl war eine solche Wirkung wiederholter Infusionen sehr wohl denkbar,
da danach tatsächlich Fälle von Hämoglobinurie, wenn auch äußerst
selten, beim Menschen beobachtet sind. Als Infusionsflüssigkeit ver-
wandten wir ferner die TAVELsche Sodalösung, deren Gefährlichkeit bei
subkutaner Infusion von Baisch^) und KOttner*) besonders hervor-
gehoben ist. Die nekrotisierende Wirkung dieser Lösung auf die Zellen
des Gewebes, speziell des subkutanen Gewebes, wurde von Baisgh mit
cytolytischen Vorgängen in Zusammenhang gebracht, Auflösung von in
die TAVELsche Lösung eingebrachten roten Blutzellen aber nicht beob-
achtet. Tatsächlich tritt nun Auflösung menschlicher roter Blutkörper-
chen schon bei Zimmertemperatur ein, wenn man die Blutaufschwemmung
(2 Tropfen Fingerblut in 5 ccm TAVELscher Lösung) nur genügend
lange (2—3 Stunden) stehen läßt Die Hämolyse ist zweifellos eine
Folge des Alkaligehaltes der Lösung, durch die wahrscheinlich die lipoide
Oberflächenschicht der roten Blutzellen gewissermaßen verseift wird, so
daß das Hämoglobin zum Austritt gelangt (cf. über den Einfluß alka-
lischer Lösungen auf die Lösung roter Blutzellen die Ausführungen
KÖPPEs in seiner erwähnten Arbeit). Eine ähnliche, wenn auch weniger
intensive Wirkung wird die Lösung auf die Gewebszellen ausüben können,
wenn sie wie bei subkutaner Infusion längere Zeit an Ort und Stelle
liegen bleibt. Es kommt zu einer trockenen Gewebsnekrose, wie wir
uns selbst überzeugt haben, während, wie das auch von Baisch hervor-
gehoben ist, bei intraperitonealer und intravenöser Einverleibung die
Lösung sich so schnell in den Körpersäften verteilt, daß sie vollkommen
unschädlich gemacht wird.
Tierversuch XIII.
6. Juli 1908. Sehr kräftiges, 3100 g schweres Kaninchen. In Nar-
kose FreileguDg der rechten Vena jugularis externa. Langsame Ent-
ziehung von 30 ccm sehr rasch gerinnenden Blutes. Dauer der Narkose
1 Stunde. Aetherverbrauch 50 g.
7. JulL Freilegung der linken Vena jugularis externa. Langsame,
nach 3 Min. beendete Infusion von 55 ccm TAVBLScher Lösung. Dauer
der Narkose, die ohne Störung verläuft, 40 Min. Aetherverbrauch 45 g.
1) Baisch, lieber die Gefährlichkeit der TAVELSchen Kochsalz-Soda-
lösung bei subkutaner Anwendung. Dtsch. med. Wochenschr., 1902.
2) KüTTNER, Ist die physiologische Kochsalzlösung durch die TAVBiiSche
Salz-Sodalösung zu ersetzen? Bruns' Beiträge, 1902.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 563
8. Juli 1-Btünd. Narkose. Aetherverbrauch 55 g. Infusion von 45 ccm
TAYELscher Lösung in die linke Schenkelvene.
9. Juli. Im Beginn der 1-stünd. Narkose (Aetherverbrauch 50 g)
werden dem Tier 30 ccm Blut entzogen. Keine erhöhte Gerinnbarkeit
des Blutes, dann langsame, nach 5 Min. beendete Infusion von 45 ccm
TAVELscher Lösung in die rechte Schenkelvene. Blut bei Beginn der
Narkose entnommen: In 9,4-proz. Bohrzuckerlösung bei Zimmertemperatur
bleibt deckfarben, ebenso in 5,5-proz. MgSO ^-Lösung und 0,9-proz. Koch-
salzlösung. In 0,5-proz. Kochsalzlösung nach 2 Stunden lackfarben.
12. Juli. Blut wird lackfarben in 5,5-proz. MgSO^-Lösung bei 67 • und
in 0,9-proz. Kochsalzlösung bei 67 ^. Blut dünnflüssig, zeigt keine erhöhte
Gerinnbarkeit.
17. Juli. Körpertemperatur morgens 40,1 ^. Am rechten Oberschenkel,
da wo bei der intravenösen Infusion etwas Lösung in das subkutane
Gewebe getreten ist, Haut abgehoben, unter derselben trockene wenig in
die Tiefe reichende Gewebsnekrose. Gewicht des Tieres 2990 g.
Tierversuch XIV.
10. Juli 1903. 3050 g. schweres Kaninchen. 1-stünd. Narkose mit einem
Aetherverbrauch von 55 g. Im Beginn derselben werden dem Tier zuerst
40 ccm Blut entzogen, dann 50 ccm 0,75-proz. Kochsalzlösung in die Vene
infundiert.
12. Juli. In 1-stünd. Narkose (Aetherverbrauch 35 g) intravenöse In-
fusion von 56 ccm 0,75-proz. Kochsalzlösung nach Entziehung von 30 ccm
dünnflüssigen, keine Neigung zu Gerinnung zeigenden Blutes. In der Nar-
kose, die sehr geringe Mengen von Aether erfordert, Zeichen von Asphyxie
und sehr schwache Herztätigkeit Im Beginn der Narkose entnommenes
Blut wird lackfarben in 5,5-proz. MgSO^-Lösung bei 63^ und in 0,9-proz.
Kochsalzlösung bei 63^.
18. Juli. Im Beginn der l^/^-stünd. Narkose (Aetherverbrauch 40 g)
Entziehung von 10 ccm Blut, dann intravenöse Infusion von 6ü ccm
0,75-proz. Kochsalzlösung. Temperatur am Schluß der Narkose 36,5^;
hierauf Wärmestich. Im Beginn der Narkose entnommenes Blut wird lack-
farben in 5,5-proz. MgSO^-Lösung bei 69 ® und in 0,9-proz. Kochsalzlösung
bei 68 0.
14. Juli. 1-stünd. Narkose (Aetherverbrauch 35 g). Blut, im Beginn
der Narkose entnommen, wird lackfarben in 5,5-proz. MgSO^-Lösung bei
69 0 und in 0,9-proz. Kochsalzlösung bei 68^. Da die Körperwärme
morgens nur 38,3 ^ beträgt, wird der Wärmetisch wiederholt, darauf
mittags Temperatur 38,8, abends 40,4 o.
15. Juli. Morgens Körpertemperatur 40 *. Blut wird lackfarben in
5,5-proz. MgSG^-Lösung bei 67 ^ und in 0,9-proz. Kochsalzlöeung bei 67 ^
Mittags Körperwärme 39,4 «, abends 39,6 <>.
16.. Juli. MitUgs Temperatur 39,2 o. Gewicht 2730 g, vollkommenes
Wohlbefinden.
Tierversuch XV.
15. Juli 1903. 2170 g schweres Kaninchen, l-stünd. tiefe Narkose.
Körperwärme nach ^j^ Stunden 36,3®, gegen Schluß der Narkose Wärme-
stich. Körpertemperatur mittags 39,7, abends 39,9®.
16. Juli. Morgens Körperwärme 40®. Ohrvenenblut wird lackfarben
in 5,5-proz. MgSO^ -Lösung bei 65,5® und in 0,9-proz. Kochsalzlösung bei
65,5 ®.
564 G. Engelhardt,
17. Juli. Mittags Körpertemperatur 39,6*^. Blut wird lackfarben in
5,5-proz. MgSO^-Lösung bei 68® und in 0,9-proz. Kochsalzlösung bei 68 ^
Es wurden somit in Versuch XIII an 3 aufeinander folgenden Tagen
im ganzen 145 ccm, also V21 des Körpergewichts an TAVELscher Lösung
injiziert, außerdem an 2 Tagen zusammen 60 ccm Blut entzogen und
an 4 aufeinander folgenden Tagen je 1 Stunde narkotisiert, ohne daß
dies auf den Schmelzpunkt der roten Blutkörperchen auch im Stadium
der Blutverdichtung einen Einfluß gehabt hätte. In Versuch XIV da-
gegen ergab sich in der zweiten Narkose eine außerordentlich große Em-
pfindlichkeit des Tieres gegen Aether mit gleichzeitiger Herabsetzung
des Schmelzpunktes in beiden Lösungen um 5^ In diesem Versuch
wurden im ganzen 225 ccm Kochsalzlösung injiziert, also ^/u des
Körpergewichts, 80 ccm Blut an 3 aufeinander folgenden Tagen ent-
zogen und in kurzen Zwischenräumen zusammen 4^/4 Stunden nar-
kotisiert, ohne daß dies, abgesehen von der 2. Narkose, den Schmelz-
punkt der roten Blutzellen dauernd beeinflußt hätte. Durch den zwei-
mal ausgeführten Wärmestich war außerdem . die Körpertemperatur
innerhalb kurzer Zeit um 4® in die Höhe geschnellt worden. Ver-
such XV beschränkte sich endlich darauf, die Wirkung des Wärme-
stichs auf den Schmelzpunkt der Erythrocyten nach tiefer einmaliger
Narkose zu untersuchen. In der Tat war 24 Stunden nach der Nar-
kose und dem Wärmestich, also zu einer Zeit, wo einerseits der Aether
zum großen Teil noch nicht ausgeschieden war, andererseits die Tempe-
raturerhöhung ihr Maximum erreicht hatte, in den beiden indifferenten
Lösungen eine Herabsetzung des Schmelzpunktes um 2Vi^ zu konsta-
tieren.
Ueberblicken wir somit nochmals die mit wiederholter Narkose im
ganzen an 7 Versuchstieren gemachten Erfahrungen, sowohl in ihrem
Einfluß auf das Befinden und Weiterleben der Tiere, wie in ihrer
Einwirkung auf den Schmelzpunkt der roten Blutzellen. Eine dauernde
Erniedrigung des Schmelzpunktes der roten Blutkörperchen erfolgte in
keinem der Versuche in indifferenten Lösungen trotz rascher Auf-
einanderfolge der Narkosen und teilweiser Summierung ihrer Wirkung.
Eine erhöhte Empfindlichkeit gegen das Narcoticum war nur zweimal
zu konstatieren, die sich aber in den späteren Narkosen in dem einen
Fall wieder vollkommen verlor. Bezüglich des ersten Punktes ist zu
bemerken, daß ein Tier (XII) 23 Stunden nach der zweiten Narkose starb
und ohne daß die Sektion einen genügenden Aufschluß gegeben hätte.
Ein zweites, mit sehr reduziertem Körpergewicht, welches in 3 schnell
aufeinander folgenden je ^/j -stündigen Narkosen im ganzen 70 g Aether
inhaliert hatte, ging in der dritten Narkose unter Zeichen der Herzin-
suffizienz zu Grunde. Die Einwirkung einer wiederholten Narkose ist
experimentell vorzüglich für das Chloroform geprüft, ich erinnere nur an
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 565
die Versuche von Ungar ^), Strassmann*) u.a.; aber auch die Einwir-
kung einer wiederholten Aethernarkose ist von verschiedenen Gesichts-
punkten aus zum Gegenstand experimenteller Untersuchungen gemacht
worden. Lindemann ^) konnte in seinem zweiten Versuch eine augenblick-
lich eintretende und rasch zum Atmungs-, dann Herzstillstand führende
Schädigung durch eine 24 Stunden nach der ersten eingeleitete zweite
Narkose nachweisen, während in seinem Versuch VII eine fünfmal
hintereinander ausgeführte Narkose ohne jede nachteilige Einwirkung
blieb. Aehnliche Erfahrungen machte Selbagh^) bei Hunden und
Katzen. Bald vertrugen die Tiere die wiederholte Narkose ohne jeden
Schaden, dann wieder trat, ohne genügende Erklärung auch durch
den Obduktionsbefund, der Exitus ein. Leppmann'^ suchte durch
Blutentziehung und Hungerkur vor der Narkose die betreflFenden Ver-
suchstiere unter vollkommen veränderte Bedingungen zu setzen. Der
Obduktionsbefund seiner spontan, nach wiederholter Narkose gestor-
benen Tiere war einmal derselbe wie bei den wiederholt narkotisierten
und dann getöteten Tieren (Verfettung der Epithelien der gewundenen
Harnkanälchen), zweimal fand er „fleckweise vermehrten Blutgehalt der
Lungen^. Alles in allem geben auch diese Versuche keinen Anhalt,
warum bei in derselben Weise durchgeführter wiederholter Narkose die-
selbe einmal ohne Störung verläuft, das andere Mal rasch tödlich wirkt.
Auf Blutveränderungen scheint bei allen diesen Versuchen nicht be-
sonders geachtet zu sein, wenigstens finden sich keine Bemerkungen
darüber. Auch in den mit Chloroform angestellten Versuchen fand ich
nur einmal bei Nothnagel^) in seinem zweiten Tierversuch eine auf-
fallend dünne kirschrote Beschaffenheit des Blutes nach 2V2-stündiger
Narkose notiert. Nothnagel sprach schon damals (1866) die Ver-
mutung aus, daß ein an sich unbedeutender Zerfall von roten Blutzellen
eine schwere Schädigung des Gesamtstoffwechsels bedeute, eine An-
nahme, die später durch die Untersuchungen von Käst und Mester ^ ®)
1) Ungar, Ueber tödliche Nachwirkung der Ghloroforminhalationen.
Zeitschr. f. gerichtl. Med., 1887.
2) Strassmann, Die tödliche Nachwirkung des Chloroforms. Vibchows
Arch., Bd. 115.
3) Lindemann, Ueber die Wirkung der Aetherinhalation auf die
Lungen. Centralbl. f. allgem. Path., 1898.
4) Selbach, Ist nach länger daaemder Aetherinhalation eine tödliche
Nachwirkung derselben zu befürchten? Arch. f. experm. Path., Bd. 84.
6) Lbppmann, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung der
Aethernarkose. Mitteil. a. d. Grenzgeb., Bd. 4, Heft 1.
6) Nothnagel, Berl. klin. Wochenschr., 1866.
7) 8) BLast, Ueber Beziehungen der Chlorausscheidung zum Gesamt-
stoffwechsel. Zeitschr. f. phys. Chemie, 1887. — Käst und Mester, Ueber
Stoffwechselstörungen nach länger dauernder Chloroformnarkose. Zeitschr.
f. klin. Med., Bd. 18, 1891.
Mittet], a. d. Orrnzfehfeten d. Medizin n. Chlnirfle. XIH. Bd. 37
566 G. Engelhardt,
eine wesentliche Stütze fand. In der Folge hat diese Anschauung teils
Zustimmung [Grübe ^) u. a.], teils Ablehnung [Ungar <)] gefunden,
wenigstens soweit dadurch auch die fettige Degeneration innerer Organe
erklärt werden sollte. Schließlich haben dann, wie schon früher er-
wähnt, die neuesten experimentellen Arbeiten Zahl- und Formverände-
rung der roten Blutscheiben, die aber durchaus keinen Rückschluß auf
das definitive Zugrundegehen der betreffenden Blutzellen gestatten, be-
rücksichtigt.
Auch auf die Gerinnbarkeit des Blutes hatte die wiederholte Nar-
kose in unseren Versuchen keinen Einfluß, nur zweimal war uns eine
Erhöhung bei der Blutabnahme, aber gerade bei der ersten Narkose,
aufgefallen, während bei den späteren Narkosen, auch ohne daß eine
Verwässerung des Blutes durch Eochsalzinfusionen damit in Zusammen-
hang zu bringen gewesen wäre, durchaus keine erhöhte Gerinnungs-
tendenz zu beobachten war. Eine länger bestehende erhöhte Gerinnungs-
fähigkeit des Blutes müßte sich besonders bei gestörter Zirkulation
äußern in Thrombenbildung. Klinisch ist eine solche Thrombenbildung
gerade in und nach der Aethernarkose anscheinend sehr selten in die
Erscheinung getreten. Riedel^), der zunächst an ein häufigeres Ein-
treten von Thrombose nach der Aethernarkose glaubte, ist dann doch
von dieser Annahme auf Grund weiterer eigener und fremder ErÜEih-
rungen zurückgekommen.
Nachdem nun durch das Tierexperiment der Einfluß einer längeren
Narkose auf den Schmelzpunkt der roten Blutkörperchen festgestellt
war, mußte die nächste Aufgabe sein, die Verhältnisse beim Menschen
in gleicher Versuchsanordnung nachzuprüfen. lieber Versuche mit
reiner Aethernarkose kann ich nun leider nicht berichten, da in der
Gießener chirurgischen Klinik außer der Ghloroformtropfmethode nur
die GEPPERTsche Mischnarkose zur Anwendung gelangt. Die im fol-
genden mitzuteilenden Versuchsergebnisse haben also, da die GEPPERT-
sche Narkose vorwiegend eine Chloroformnarkose ist, mehr Gültigkeit
für die Verhältnisse beim Chloroform als beim Aether. Auch die Be-
rechnung der Mengenverhältnisse des Chloroformäthergemisches war,
da gewöhnlich gleichzeitig von mehreren Hähnen aus demselben Apparat
das Narkosengemisch entnommen wurde, sehr erschwert. Die an sich
sehr einfache Berechnung an einem Hahn stieß durch die öfter wech-
selnde Stellung desselben auf einige Schwierigkeit. Jedenfalls sind
aber die Durchschnittsmengen des zugeführten Chloroformäthergemisches
weit geringere, als sie mit der Tropfmethode überhaupt erreicht werden
1) Grube, Zur Lehre von der Chloroformnarkose. Arch. f. klin. Chir.,
Bd. 66.
2) 1. c.
3) RiEDBL, Die Morphium- Aethernarkose. Berl. klin. Wochenschr., 1896.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 567
können. Wir beschränken uns beim Bericht über die Versuche auf
die Angabe: Großer Verbrauch = Groß. V.; mittlerer Verbrauch =
MitÜ. V.; geringer Verbrauch = gering. V. Die hinter der Lösung
angefahrten Wärmegrade beziehen sich auf die Temperatur, bei der
Lösung der dem Körper entnommenen und sofort oder kurze Zeit
später in den betreffenden Salzlösungen untersuchten roten Blutzellen
erfolgte. Die Blutentnahme geschah aus der Fingerkuppe, indem der
Einstich genfigend tief gefflhrt wurde, um das Blut frei und ohne
Pressen zu gewinnen. Wir prüften die Schmelzpunkte in 9,4-proz.
Rohrzucker-, 0,9-proz. Kochsalz- und 5,5-proz. MgSO^-Lösung vor und
nach der Narkose und außerdem in einigen wenigen Fällen in äther-
haltigen Salzlösungen.
1) Vs'Stündige Narkose.
22-jälir. Mädchen. Exstirpation tuberkulöser Halsdrüsen. Groß. V.
Vor der Narkoee
Kochsalzlöeung 67 ^
BohizuckerlöBung 69 *
Nach der Narkoee
67^
20-jähr. Mädchen. Auskratzung bei Tuberkulose der Fußwurzeelknochen,
MitÜ. V.
Vor der Narkoee
Kochsalzlöeung
MgSO^-Löeung
BonrzuckerlöBUDg
66,5°
69°
66,5°
Nach der Narkose
dieselben Werte
55-jähr. Frau. Probelaparotomie bei inoperabelem Gallenblasen- und
Pyloruscarcinom. Mittl. V.
Vor der Narkose
Nach der Narkose
Kochsalzlösung 67 °
MgSO.-Lösung 68,5°
Rohrzuckerlösung 66°
die gleicJien Zahlen
.50-jähr. Mann. Verletzung. Mittl. V.
Vor der Narkose
Nach der Narkose
Kochsalzlösung 67°
MgSO^-Lösung Ö8,5°
Eoiuxuckerlöeung 67 °
die gleichen Zahlen
2) V4-stündige Narkose.
dö-jähr. Prau. Probelaparotomie bei Magencarcinom.
Vor der Narkose
Nach der Narkose
Eohrzuckerlösung 66°
MgS0,-Lö6ung 67°
Kochsalzlösung 67 °
65°
67°
66,5"
3) 1-stündige Narkose.
50-jähr. Frau. Drainage der Gallenblase. Gering. V.
Vor der Narkose
Nach der Narkose
Rohrzuckerlösung 69 °
Mg80,-Lö8ung 69°
Kochsalzlösung 67 ,5 °
63°
68,5°
66,5°
Mittl. V.
37*
568
G. Engelhardt,
15-j&hr. Junge. Nabelhernie.
Vor der Narkose
Bohrznckerlösung 67 ^
MgS0,-Lö6iing 69 <"
Kochsalzlösung 67®
22-j&hr. Mädchen. Cholecystektomie. MittL V.
Gering. V.
Nach der Narkose
66*
67«
65«
Vor der Narkose
Bohrzuckerlösung
MgSO.-Lösung
Kochsalzlösung
67«
68«
67«
dO-jähr. Frau. Cholecystektomie.
Vor der Narkose
Eohrzuckerlösung 67 «
MgÖO^-Lösung 69«
Kochsalzlösung 67«
Nach der Narkose
65^«
68«
65«
Mitti. V.
Nach der Narkose
67«
68^«
67«
4) iVi-sttindige Narkose.
S5-jiLhr. Frau. Cholecystektomie. Groß. V.
Vor der Narkose ! Nach der Narkose
Bohrzuckerlösung 67« | 64«
Kochsalzlösung 67« | 64«
Lange, 2 Tage anhaltende Nachwirkung der Narkose.
75-jähr. Mann.
5) iVs-stündige Narkose.
Peniscarcinom mit Drüsenmetastasen.
Groß. V.
Vor der Narkose
Kochsalzlösung
Bohrzuckerlösung
dO-jähr. Mann.
6 Std. nach der Narkose
67«
64,5«
Tuberkulöse Halsdrüsen. Groß. V.
.67«
PRO
Vor der Narkose
Kochsalzlösung 67 <>
MKÖ0,-LÖ8ung 68«
B^irzuckerlösung 67 <»
Nach der Narkose
65«
68«
64,5«
20-jähr. Mann.
6) l»/4 -stündige Narkose.
Doppelseitige Leistenhernie. Mittl.
Vor der Narkose
Kochsalzlösung
Bohrzuckerlösung
67,5«
67«
Nach der Narkose
64«
64«
57-j&hr. Frau. Sarkom des Oberkiefers. Mittl. V.
Vor der Narkose
Kochsalzlösung
MgSO^-Lösung
BonrzuckerlÖsuDg
67,5«
68«
67«
52-jähr. Mann. Coecumcarcinonu
Vor der Narkose
Kochsalzlösung 68«
MeSü^-Lösung 68,5«
Rohrzuckerlösung 67,5«
Nach der Narkose
67«
68«
66«
Gering. V.
Nach der Narkose
66,5«
67,5«
65,5«
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 569
In indifferenten Lösungen nnd ätherhaltigen Salzlösungen wurde
der Schmelzpunkt bestimmt vor und nach der Narkose in folgenden
Fällen.
1-stündige Narkose.
37-jfthr. Frau. Cholecystektomie. Groß. V.
Vor der Narkose
KochsalzlösuDg 66"
EohrzuckerlöBUDg 66^ "
4-proz. Aether-Koch-
ealzlÖBUDe 49 "
4-proz. Aetner-Bohr-
zuckerlöeuDg 49 "
Nach der Narkoee
66"
65,5 •
49"
r)0«
1^/2-stfindige Narkose.
58-jähr. Mann. Rectamcarcinom. Groß. V. (schlechte Narkose).
Vor der Narkose I Nach der Narkose
Kochsalzlösung 67» 66"
BohrzuckerlösuDg 67"
4-proz. Aether-Koch-
salzlöBUDff 50"
4-proz. Aether-Bohr-
zuckerlösung 50" | 51,5
64"
52"
49-jähr. Frau. Empyem der Gallenblase. Choledochusverschluß (seit
5 Monaten hochgradiger Ikterus). Gering. V.
Vor der Narkose
Kochsalzlösung 67"
Bohrzuckerl öBUDg 61 "
4-proz. Aether-Koch-
salzlösuuR 50"
4-proz. Aether-Bohr-
zuckerlösuDg 46 "
Nach der Narkose
56"
50"
48"
Während somit der Schmelzpunkt nach kurzer Narkose nicht her-
abgesetzt ist (nur einmal zeigte er nach V2~stündiger eine Erniedrigung
um 3^), ist er nach längerer gewöhnlich erniedrigt, wenn auch nicht
entsprechend der Dauer der Narkose. Nach längerer Narkose geht die
Herabsetzung in den verschiedenen Salzlösungen so ziemlich parallel,
wenigstens in der Kochsalz- und Rohrzuckerlösung, während in der
MgSO 4 -Lösung nur einmal eine deutliche Herabsetzung zu beobachten war.
Andererseits fand sich des öfteren nur in der Rohrzuckerlösung
der Schmelzpunkt auf 64" auch bei kürzerer Narkose erniedrigt oder
wies von Anfang an allein eine derartige Erniedrigung auf, welch letztere
nach den Untersuchungen von Koppe 0 noch als in den Bereich des
Normalen fallend betrachtet werden muß. Bei der mikroskopischen
Untersuchung der lackfarbenen Flüssigkeit waren in allen Salzlösungen
neben zahlreichen geschrumpften und zerstörten roten Blutkörperchen
wenigstens einige der Form nach erhaltene, wenn auch etwas ver-
1) 1. c.
570 G. Engelhardt,
kleinerte, Blutzellen vorhanden. Es scheint somit, daß sich die Erythro-
cyten gegen die Erhitzung nicht alle gleich widerstandsfähig verhalten,
einige wenige wenigstens in ihrer Form durch Hitzegrade nicht beein-
flußt werden, denen die meisten erliegen. In den wenigen mit äther-
haltigen Salzlösungen ausgeführten Versuchen ergab sich in Analogie
mit unseren Tierversuchen keine Herabsetzung, eher eine, wenn auch
nur sehr geringe Erhöhung des Schmelzpunktes direkt nach der Nar-
kose. Wir möchten aber auf die letzten Befunde hier beim Menschen,
da die Versuche wegen der Verwendung des Narkosengemisches keine
genügende Beweiskraft besitzen können, keinen sehr großen Wert legen.
Gesunde, mit bösartigen Geschwülsten behaftete und schließlich Gallen-
blasenpatienten, zum Teil mit Ikterus, machen bezüglich des Schmelz-
punktes vor wie nach der Narkose keinen erheblichen Unterschied. Der
vorletzte Versuch einer 49-jährigen Frau mit schon lange bestehendem
Ikterus ergab nun, in der Rohrzuckerlösung wenigstens, schon vor der
Narkose einen außergewöhnlich tiefen Schmelzpunkt (61 ^). Es war
naheliegend, dies nicht als bloßen Zufall zu betrachten; vielleicht war
durch eine vermehrte Bindung der im Blute kreisenden Gallen-
säuren an die roten Blutkörperchen, die sich ja auch in den Lipo-
iden dieser Zellen lösen müssen, wenn die zur Narkose nötige Menge
Aether noch dazu aufgenommen wurde, eine Auflösung der roten
Blutzellen schon bei niederer Temperatur herbeigeführt worden. Er-
fahrungsgemäß brauchen aber nun gerade Patienten mit hochgra-
digem Ikterus für gewöhnlich auffallend wenig Chloroform oder
Aether; es wäre daher sehr wohl möglich, daß bei derartigen Kranken
eine geringere Menge des Narcoticums zur Narkose ausreichend ist
und wirklich aufgenommen wird. Hierdurch würde natürlich einem
ausgedehnteren Untergang der roten Blutkörperchen auch vorgebeugt
werden können.
Wir nahmen nunmehr bei verschiedenen Patienten Untersuchungen
vor, um zu sehen, ob bei bestimmten Erkrankungen schon vor der
Narkose ein abnorm tiefer Schmelzpunkt der roten Blutkörperchen zu
beobachten sei.
41 -jähr. Frau. Empyem der Gallenblase. Rezidivierender Ikterus,
zur Zeit nicht ausgeprägt.
Kochsalzldsang 67® | Mg80«-Lö8ung 68*
43-jähr. Trau. Choledochusverschluß. Ikterus seit 14 Tagen.
EochsalzlÖBimg 66^ 1 4-prQz. Aether-EochBalzIöeung 51°
BohrzuckerlÖeung d6® | 4-proz. Aether-BohrzuckerlösuDg 51*
58-jähr. Frau. Inoperables Oberkiefersarkom.
Kochsalzlösung 67° 1 4-proz. Aether-Kochsalzlösung 50*
Bohrzuckerlösung 64 '^ { 4-proz. Aether-BohrzuckerlÖsmig 50*
Neue Oesichtspunkte in der Beurteilung der Aethernarkose. 571
1^/2-jähr. Kind. Myelogene Leukämie.
Kochsalzlöeung 66^ 4-proz. Aether-KocbsalzlöBUDg 46®
RohrzuckerlÖBung 64° 4-proz. Aether-BohrzuckerlÖBUDg
(schon bei Zimmertemperatur)
Mikr. neben zusammengeballten Haufen deformierter roter Blutkörperchen zahl-
reiche einzeln liegende, wohlerhaltene weifie filutzellen.
23-jähr. Mädchen. Protrahierte Sepsis. Innerhalb 16 Tagen 20 Itr.
Kochsalzlösung (0,75-proz.). Blutuntersuchung 1 Tag nach Beendigung
der Infusionen.
Kochsalzlösung 66° 1 4-proz. Aether-Eochsalzlöeung 51°
Bohrzuckerlösung 66° | 4-proz. Aether-Bohrzockerlösung 49*
10-jähr. Junge. Schwere, aber ausheilende Osteomyelitis.
Kochsalzlösung 65 °
Bohrzuckerlöeung bei 48° lackiges Gerinnsel
„ „ 66° Tollkommen lackfarben
4-proz. Aether-Kochsalzlösung 49°
4-proz. Aether-Bohrzuckerlösung50°
10-jähr. Mädchen. Schwere, bald darauf letale Osteomyelitis.
Kochsalzlösung 66° 1 4-proz. Aether-Kochsalzlösung 46°
Bohrzuckerlöeung 65° | 4-proz. Aether-Bohrzuckerlöeung 45°
56-jähr. Frau. Inoperables ulceriertes Mammacarcinom mit Drüsen-
metastasen.
Kochsalzlösung 66° I 4-proz. Aether-KochsalzlöBung 50°
Bohrzuckerlösung 66° | 4-proz. Aether-BohrzuckerlÖeung 49°
39-jähr. Frau. Nephropexie. Cholecystektomie. 17 Tage nach der
l^js-stündigen, durch 2 kurz dauernde Asphyxien (bei ungestörter Herz-
tätigkeit) unterbrochenen Narkose Blutuntersuchung.
Kochsalzlösung 66° | 4-proz. Aether-Kochsalzlösung 50°
Bohrzuckerlösung 67° | 4-proz. Aether-Bohrznckerlöeung 48*
68-]&hr. Frau. Vor 8 Tagen 1 -stund. Narkose wegen Empyem der
Gallenblase (Cholecystostomie). Tod an Lungenembolie. 3 Stunden altes
Leichenblut (linker Ventrikel).
Kochsalzlösung 65 °
Bohrzuckerlösung bei Zimmertemperatur
4-proz. Aether-^xshsalzlöeung 46°
Abnorm tiefe Schmelzpunkte der roten Blutkörperchen vor der
Narkose haben wir bei der geringen Zahl der untersuchten Fälle nur
bei dem P/^-jährigen Kinde mit myelogener Leukämie und dem Jungen
mit Osteomyelitis, aber hier nur f&r die Rohrzuckerlösung gefunden,
während bei den Patienten mit Ikterus keine Herabsetzung des Schmelz-
punktes zu konstatieren war. Im Gegenteil war wenigstens in den
4-proz. Aethersalzgemischen der Schmelzpunkt hier gegen die Norm
etwas erhöht. Allerdings standen uns Fälle mit chronischem Ikterus,
bei denen am ehesten Veränderungen zu erwarten gewesen wären,
nicht zur Verfügung. Bei dem Kinde mit Myelämie war die Erniedri-
gung sowohl in der Rohrzuckerlösung wie in der 4-proz. Aether-Rohr-
zuckerlösung recht eklatant, wenn auch noch für die indifferente Lösung
572 G. Engelhardt,
innerhalb normaler Grenzen. Die Widerstandsfähigkeit der weißen Blut-
zellen gegen hohe Temperaturen trat hier unter dem Mikroskop sehr
deutlich zu Tage. Während die deformierten roten Blutkörperchen wie
agglutiniert in einzelnen Haufen zusammen lagen, fanden sich die
Markzellen vollkommen in ihren Konturen erhalten und einzeln liegend.
Es wäre nun des weiteren von großer Wichtigkeit gewesen, bei
einer Reihe von Krankheiten, bei denen das Blut, sei es nach Zahl
und Art der Blutzellen, sei es nach der Beschaffenheit des Blutplasmas,
in tiefgreifender Weise verändert ist, systematische Untersuchungen be-
züglich des normalen Schmelzpunktes der roten Blutkörperchen anzu-
stellen. Leider war uns dieses aus äußeren Grtlnden unmöglich. Gerade
auch für den Diabetes, bei dem des öfteren mit der Grundkrankheit
zusammenhängende Gangrän, Phlegmonen u. s. w. Anlaß zu bisweilen
wiederholter Narkose geben, dürften eingehendere Untersuchungen ein
Resultat versprechen. Berücksichtigt man, daß hier unter Umständen
das Blutplasma abnorme Mengen von Fett führt, so daß es zu einer
Art von Lipämie bezw. Cholesterämie kommt, so erscheint es sehr
wohl denkbar, daß in der Narkose durch Aufiiahme abnormer Mengen
des Narcoticums, die an das kreisende Fett gebunden werden, bei vor-
handener anormaler Blutbeschaffenheit der körperlichen Bestandteile
des Blutes, akut hämolytische Vorgänge ausgelöst werden können.
Auf die unberechenbare Wirkung der Narkose, sowohl der Chloroform-
wie der Aethernarkose, wies Becker^) hin und zwar besonders an der
Hand eines eigenen Falles, der einmal eine zur Untersuchung vorge-
nommene Aethernarkose von 20 Minuten glatt überstand, um 15 Tage
später einer zweiten, nur 10 Minuten dauernden unter den Erschei-
nungen des Lungenödems zu erliegen. Zur Erklärung wird der beim
Diabetes erhöhte Eiweißzerfall und die erhöhte Toxizität des Blutes
bezw. Urins herangezogen. Die Operationsgefahr für den Diabetiker
besteht nun nicht immer in der Allgemeinnarkose, wie von verschie-
denen Seiten mit Recht hervorgehoben wurde, da auch bei lokaler
Anästhesie dieselben Zwischenfälle beobachtet werden können und scheint
überhaupt übertrieben, da eben, was Körner^) besonders betont, nur
die ungünstig verlaufenen Fälle in die Statistik übergehen, während die
latenten Diabetiker, die als solche nicht erkannt werden und Narkose
und Operation glatt überstehen, der Statistik vollkommen entgehen.
KÖRNER berechnet, daß von 39 wegen akuter Mastoiditis operierten
Diabetikern nur 3 an postoperativem Koma zu Grunde gegangen sind.
Immerhin wäre es nicht undenkbar, daß in den übrig bleibenden Fällen
1) Becker, Die Gefahr der Narkose £üi die Diabetiker. Dtsch. med.
Wochenschr., 1894.
2) KöRNBB, Untersuchungen und Erfahrungen über den Einfluß von
Operationen auf den Verlauf und Ausgang des Diabetes melL, Mitteil,
a. d. Grenzgeb., XII, 5.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 573
derartige Faktoren eine Rolle spielen. Ein schnell eintretendes Koma
bildet nicht einmal die ausschließliche Operationsfolge; gerade in den
von Becker zitierten Fällen wird öfter Lungenödem, dessen Zusammen-
hang mit der Aetherwirkung noch plausibler auf der Hand läge, als
unmittelbare Todesursache genannt. Das^) nachträgliche (aber immer
schnell nach der Operation) Eintreten der den Exitus veranlassenden
Komplikation würde kein Gegengrund sein, da einmal der Aether oft
tagelang im Gewebe festgehalten wird und postoperative Fiebersteige-
rungen mit Erhöhung der Körpertemperatur um mehrere Grade die
Katastrophe eintreten lassen könnten. Wir sind aber weit davon ent-
fernt, hierin mehr als eine unter Umständen vielleicht in Betracht
kommende Möglichkeit sehen zu wollen. Des weiteren wären bei Alko-
holisten schon vor der Narkose beträchtliche Alterationen des Schmelz-
punktes der roten Blutzellen zu erwarten gewesen, da der Alkohol zu
einem erheblichen Prozentsatz im Blute kreist und an die Erythrocyten
gebunden wird, allerdings auch wohl rasch zur Ausscheidung gelangt.
Nun waren allerdings zum Teil unsere untersuchten Patienten Alko-
holiker mit unruhiger Narkose, aber immerhin doch mäßigen Grades.
Wieviel von dem aufgenommenen Chloroform oder Aetiier in der
Narkose bei Alkoholikern an die roten Blutkörperchen gebunden, wie
viel in dem bei ihnen gewöhnlich sehr reich entwickelten Fettgewebe
des Körpers aufgenommen wird, läßt sich auch nicht entscheiden. Es
ist auch hier sehr wohl denkbar, daß bei chronischen Alkoholisten in
der Narkose von den roten Blutzellen entsprechend weniger von dem
Narcoticum aufgenommen wird. Weiter wären Untersuchungen an
Patienten mit chronischem Gebrauch von Arzneimitteln, die blut-
körperchenzerstörend wirken können (Chloralhydrat, Chinin, Sulfonal),
bei Malariakranken etc. erwünscht gewesen. Schließlich würden aber
auch möglichst ausgedehnte Untersuchungen bei ganz gesunden Indi-
viduen von großem Wert sein. Wie oft wird wider alles Erwarten
eine Narkose durch schwere Zufalle gestört, ohne das man diese auf
Herzsynkope beziehen kann, während z. B. gerade die früher gefürch-
teten Narkosen bei Kranken mit Herzklappenfehlern in der Regel glatt
verlaufen. Daß an diesen Komplikationen des öftern ein abnormes
Verhalten der roten Blutzellen die Schuld sein könne, ist schon öfter
vermutungsweise geäußert, man redet dann von einer Idiosynkrasie der
betreffenden Individuen gegen Chloroform oder Aether, ohne diese
Zwischenfälle mit Rückwirkungen auf nervöse Organe in Zusammenhang
bringen zu können. Oder es wird ein verschiedenes Verhalten der
einzelnen roten Blutzellen gegen das Narcoticum angenommen [Landow^)],
indem ein Teil zu Grunde geht, andere erhalten bleiben. Erinnert sei
1) Landow, Zur Kasuistik der Magenblutung nach Bauchoperationen.
Arch. f. klin. Chir., Bd. 66.
574 G. Engelhardt,
auch an das von Zöge von Manteüpfel^ beobachtete Vorkommen
von schweren Zufällen nach Gebrauch einer besimmten Marke besonders
reinen Chloroforms, das wieder mit einer unter besonderen Umständen
zu Tage tretenden Giftwirkung des Narcoticums auf die roten Blut-
zellen in Zusammenhang gebracht werden kann.
Mußten somit eine Reihe von Fragen unerledigt bleiben, so sind
doch die Resultate der Experimente interessant genug. Vor allem die
Erhöhung der Resistenz der roten Blutkörperchen in der Narkose.
Daß wir mit der von uns durch die Experimente am Tier fast aus-
nahmslos festgestellten Erhöhung des Schmelzpunktes der roten Blut-
zellen in der Narkose es mit einem an sich sehr wunderbaren und
äußerst interessanten Vorgang zu tun haben, wurde schon erwähnt.
Man darf sich diesen Vorgang aber nicht als eine Art von vorüber-
gehend erworbener Immunität der Zellen vorstellen, denn es wäre
schwer einzusehen, wie eine Zelle gegen ein dem Körper einverleibtes
Gift für die Dauer der Narkose bezw. solange als dasselbe in den
Körpergeweben haften bleibt, immun werden könne, diese Eigenschaft
aber sofort nach dem Verschwinden des Giftes aus dem Körper ver-
lieren sollte, ohne daß das betreffende Gift chemisch an die Zelle des
Körpers gebunden wird. Schon dieser letztere Umstand, daß eben
keine feste chemische Bindung des Narcoticums an die roten Blut-
körperchen und an die Ganglienzellen des Gehirns stattfindet, schließt
es vollkommen aus, an eine Immunisierung im Sinne von Ehrlich u. a.
zu denken. Auch mit dem von Meyer-Ovbrton ^) aufgestellten und
wohlbegründeten Gesetz der auswählenden Löslichkeit, d. h. einer streng
gesetzmäßigen Verteilung des Narcoticums zwischen Blutplasma und
roten Blutzellen lassen sich diese Befunde etwas schwer in Einklang
bringen, da man annehmen müßte, daß die narkotisierten roten Blut-
scheiben in der Aethersalzlösung gegenüber den nicht narkotisierten
wegen ihres Mehrgehalts an Aether eine Herabsetzung ihres Schmelz-
punktes zeigen würden. Es sei aber nochmals die Schwierigkeit be-
tont, unsere Reagenzglasversuche mit den Vorgängen im Körper
während der Narkose in Vergleich zu setzen. Daß der Schmelzpunkt
in vitro ätherisierter roter Blutscheiben in indifferenten Lösungen er-
niedrigt, in ätherhaltigen nicht merklich verändert ist, haben uns andere
Versuche ergeben, von denen ein Beispiel hier angeführt sei.
Schweineblutkörperchen werden bei 15<> Zimmertemperatur 18 Stunden
lang in l-proz. Aether-Rohrzuckerlösung ätherisiert, 1 Tropfen der ätheri-
sierten roten Blutscheiben in 5 com der folgenden Lösungen gebracht und
sofort untersucht.
1) Zöge von Mantbuffel, Ueber Spättodesfälle nach Narkose. St. Peters-
burg, med. Wochenschr., 1895.
2) 1. c.
Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Aethemarkose. 575
£8 erfolgt Hamolyse der nicht ätherisierten roteui der ätherisierten Blutkörperchen
in Rohrzuckerlösung bei 68 • 67 •*
in 1-proz. Aether-BohrzuckerlÖsung 63^ 64^
2. Frische Katzenblutkörperchen */, Stunde bei 15^ R in 3-proz.
Aether-Erohrzuckerlösung ätherisiert, dann in gleicher Weise untersucht
Es erfolgt Auflösung der nicht ätherisierteD, der ätherisierten roten Blutkörperchen
in Rohrzuckerlösung bei 68 "* 66 <^
in 3-proz. Aether-Rohrzuckerlösung 56^° 56,5®
Wir glauben, in dieser Resistenzerhöhung der roten Blutscheiben
in der Narkose um so eher einen zweckmäßigen, wenn uns auch vor*
läufig absolut unerklärbaren Vorgang sehen zu dürfen, als wir nach Unter-
suchungen von Lang^) vermuten können, daß der Körper sich auch
gegen andere hämolytisch wirkende Gifte, wie die Toxine des Carcinoms
und der Sepsis, in eigentümlicher Weise schützt. Beim Carcinom und
bei septischen Zuständen konnte wenigstens nachgewiesen werden, daß
die roten Blutscheiben insofern an Resistenz zunehmen, als sie gegen
eine Erniedrigung des osmotischen Druckes weniger empfindlich werden,
d. h. weniger leicht aufquellen. Ein gleiches wurde nun für die roten
Blutkörperchen in der Narkose, wenigstens nach den Untersuchungen
von Bacgarani-Solimei ') nicht nachgewiesen, der im Gegenteil bei
langdauemder Narkose eine Herabsetzung des ^Isotonismus*^ des Blutes
fand. Beide Vorgänge, die Erhöhung der Resistenz gegen Aetherwir-
kung und gegen die Erniedrigung des osmotischen Druckes, haben
nichts miteinander zu tun, da ja die Aetherwirkung auf einer direkten
chemischen Inangriffnahme der snpponierten fettlöslichen Oberflächen-
scbicht der roten Blutzellen beruht, also die semipermeable Membran
der Erythrocjten direkt angreift und zum „Schmelzen^ bringt, aber
ohne daß für den Hämoglobinaustritt Druckunterschiede zwischen der
Außen- und Innenflüssigkeit verantwortlich zu machen wären. Auch
ist nicht anzunehmen, daß ein einmal eingeleiteter Zerfall von roten
Blutzellen die molekulare Konzentration des Blutplasmas so erhöht, daß
durch Unterschiede des osmotischen Druckes zwischen Blutplasma und
den erhaltenen roten Blutzellen ein neuer Untergang von Erythrocjten
herbeigeführt wird. Dagegen sind auch noch in anderer Weise schäd-
liche Einwirkungen auf die roten Blutkörperchen in der Narkose denk-
bar. KÖPPE hat nachgewiesen, daß, während im alkalischen Serum
die roten Blutscheiben sich unverändert erhalten, eine Auflösung er-
folgt, wenn in dem Serum die Zahl der hämolytisch wirkenden OH-
lonen eine abnorm hohe wird. Die Zahl der OH-Ionen im Serum wird
aber eine abnorm hohe werden bei starker Kohlensäureüberladung des
Blutes, wie sie z. B. bei der sogenannten Erstickungsmethode der Aether-
1) Lang, Ueber die Resistenz der roten Blutkörperchen gegen hyp-
isotonische Kochsalzlösungen bei Magenkrebs. Zeitschr. f. klin. Med., 1902.
2) 1. c.
576 G. Engelhardt,
narkose zu stände kommt. Der Vorgang beruht auf der Tatsache, daß
CO^haltige Blutkörperchen eine kochsalzhaltige Lösung, wie sie das
Blutserum darstellt, stark alkalisch machen. Bezüglich der näheren Er-
klärung dieses Vorganges sei auf Köppes Physikalische Chemie, p. 63
verwiesen. Also auch bei CO^-Ueberladung des Blutes könnte ähnlich
wie in der alkalischen TAVELschen Lösung, wobei auch wieder Zeit und
Temperatur eine Rolle spielen, Auflösung von roten Blutkörperchen zu
Stande kommen. In der Regel scheint dieser Faktor jedoch bedeu-
tungslos zu sein, da Bacgarani-Solimei in der Narkose gerade eine
Abnahme des Alkaligehaltes des Blutes fand.
Alle diese schädigenden Momente kommen aber nun in der Narkose
nicht nur für die roten Blutkörperchen, an denen wir sie allein prüfen
können, in Betracht, sondern auch für die übrigen Organzellen ^). Es
ist wahrscheinlich, daß die Zellen der großen parenchymatösen Organe,
die Leberzellen, Nierenepithelien etc. in ähnlicher Weise, wenn auch
für das Auge des Anatomen nicht immer erkennbar, geschädigt
werden können, wie die roten Blutkörperchen. Allerdings wird für
diese das Verhalten ein ganz anderes sein, da deren Gehalt an Lipoiden
ein anderer, in der Regel geringerer sein wird. Die Leberzelle wird
daher, wie Gottlieb') mit Recht sagt, in der Regel erst geschädigt
werden, wenn die Narkose vom Gehirn aus schon lange tödlich gewirkt
hat. Aber noch ein Organ kommt in Betracht, welches doch als Ein-
gangspforte des Aethers betrachtet werden muß, die Lunge. Hier ist
es wieder in erster Linie die Schleimhaut der gröberen, das Epithel
der feineren Luftwege, welches als Durchgangsstation dient, und dann
vor allem die Endothelien der die Alveolen umspinnenden Kapillaren.
Die sogenannte Reizwirkung des Aethers ist bekannt; bedeutungsvoll er-
scheint uns ein Befund, der sowohl klinisch von Zöge v. Manteüffel^),
wie experimentell an in der Narkose zu Grunde gegangenen Tieren
von uns und anderen erhoben wurde, Lungenödem und Lungenblutungen.
Gerade letztere als einziger Obduktionsbefund in Fällen, in denen nicht
mehr Aether als gewöhnlich verbraucht wurde, wiesen darauf hin, daß
unter Umständen die Kapillarendothelien so erheblich geschädigt werden
können, daß sie den roten Blutkörperchen den Durchtritt gestatten.
Auf den weiteren Befund, den wir nicht selten mikroskopisch in den
Lungen konstatierten, den einer ganz eng begrenzten desquamativen
Pneumonie (ein Alveolarbezirk, vollgestopft mit abgestoßenen, stark
verfetteten Alveolarepithelien), möchten wir kein großes Gewicht legen.
1) Vergleiche die Versuche von Bunoe (Dtsch. med. Wochenschrift
1898, Vereinsbeilage S. 254), der die Resistenz der gewöhnlichen Ver-
suchstiere gegenüber Allgemeininjektionen durch die Narkose herabge-
setzt fand.
2) 1. c.
3) 1. c.
Neue Oesichtspunkte in der Bearteilnng der Aethemarkose. 577
Aber das ganze Lungengewebe ist unter Umständen dieser Schädigung
durch die Narkose ausgesetzt, ohne daß eine Pneumonie die Folge
wäre oder die Schädigung sonst sichtbar zu Tage träte. Das beweisen
die hochinteressanten Experimente von Snel^), der in der Narkose die
baktericide Kraft der Meerschweinchenlunge beträchtlich herabgesetzt
fand, so daß die Tiere bei gleichzeitig eingeleiteter Narkose Infektionen
erlagen, die sie sonst überstanden, soweit diese Narkose durch fettlös-
liche Stoffe, Aether, Chloroform und Chloralhydrat herbeigeführt wurde,
nicht aber bei Verwendung von Morphin, muriaticum. Des weiteren
beweisen dies Befunde von „Aspirationspneumonie*^ beim Menschen
[Gbrulanos*)], „bei denen von Aspiration gröberer Massen keine Rede
sein konnte^. Daß auch hier unter Umständen Temperatureinflüsse in
dem von uns entwickelten Sinne eine Rolle spielen können, beweist
vielleicht die besondere Widerstandslosigkeit von Tieren, die während
der Narkose in überhitzten Räumen gehalten werden. Kommt es auch
hier nicht zur Cytolyse, so tritt doch eine so intensive Schädigung der
Gewebe ein, daß als Folge der Funktionsstörung bei negativem Obduk-
tionsbefunde der Tod erfolgt Um aber Gesetzmäßigkeiten bei diesen
Vorgängen erkennen zu können, wird man immer wieder die roten Blut-
körperchen zum Ausgangspunkte der Untersuchungen machen müssen,
und es ist hervorzuheben, daß bei der hohen Empfindlichkeit der roteü
Blutkörperchen auch geringe Reaktionsunterschiede von Bedeutung sind.
Außerdem lassen sich diese Reaktionsunterschiede noch mehr hervor-
heben durch weiteren Ausbau der Methode, indem nicht nur der Schmelz-
punkt der roten Blutscheiben, sondern auch die Gerinnungstemperatur
des Eiweißes der roten Blutscheiben und des Plasmas eventuell noch
in verschiedenen Neutrallösungen bestimmt wird.
1) Snbl, Immunität und Narkose. Berl. klin. Wochenschr., 19ü3.
1) GBBULANOSy Longenkomplikationen nach operativen Eingriffen. Dtsch.
Zeitschr. f. Chir., Bd. 67.
Aus der chirurgischen Klinik des Geh.-Rat Prof. Dr. v. Mikulicz und
aus dem Diakonissenhospital in Alexandrien.
Nachdruck verboteD.
XXIL
Ueber idiopathischen, protrahierten
Priapismus.
Von
Dr. Carl Goebel-Breslau.
Im Jahre 1900 konnte ich im Diakonissenhospital in Alexandrien
(Aegypten) einen Fall von Priapismus beobachten, der bei der Selten-
heit der Affektion eines gewissen allgemeinen Interesses nicht ent-
behrt. Eine Durchsicht der Literatur zeigte mir, daß zumal die deutsche
nur sehr wenige Fälle dieser Erkrankung aufzuweisen hat. Ob dieselbe
so selten vorkommt oder bei ihrer nicht gerade großen Wichtigkeit
einer näheren Beschreibung nicht fttr wert gehalten wird, wage ich
nicht zu entscheiden, neige mich aber der ersteren Annahme zu, da
ich selbst bei einer über 10-jährigen Erfahrung an großem chirurgischen
Materiale nur diesen einen Fall registrieren konnte.
Die Krankengeschichte meines Falles^) ist kurz folgende:
Pietro M., Italiener, Schuhmacher, 38 J. alt. Vater mit 60 Jahren
an Pneumonie, Mutter im selben Alter an Paralyse gestorben. Ein Bruder
und eine Schwester leben in guter Gesundheit. Der Kranke hatte 3 Kinder,
von denen das älteste 8 Jahre alt ist, und das jüngste im Alter von 18 Mo-
naten an Hydrocephalus gestorben ist. Keine vorhergehenden Krankheiten
oder Verwundungen, speziell keine Genitalinfektion, aber starker Alkoho-
lismus zugestanden. Pat. erinnert sich dunkel, aber ohne Details angeben
zu können, im Alter von 8 Jahren eine Attacke von Priapismus durch-
gemacht zu haben.
Status: Mittelgroßer, sehr muskulöser Mann, dessen innere Organe,
besonders auch das Nervensystem, keine Anomalie darbieten. Es bestehen
mäßige äußere Hämorrhoiden. Kein Fieber; ruhiger, regelmäßiger Puls,
Urin (täglich 1000 — 1500 g) ohne pathologische Bestandteile, außer einer
ziemlich großen Menge von mikroskopischem Harngrieß (wie er in
Alexandrien sehr oft beobachtet wird). Der Penis, von ziemlich großer
1) Eine kurze Krankengeschichte ist von mir schon publiziert in:
L^Egypte m6d., 1902, Nov., p. 200.
Carl Goebel, üeber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 579
Dimension, ist im Zustande permanenter maximaler Erektion, auf Berührung
äußerst schmerzhaft, wie auch das Urinieren von starken Schmerzen be*
gleitet ist. Das Praeputium hinter die Olans zurückgezogen. Kein Oedem.
Kein Urethralausfluß. Prostata nicht vergrößert. Appetit gut, trotzdem
der Kranke der Schmerzen halber kaum schläft. Es besteht Konstipation.
Die Therapie bestand zunächst in hohen Dosen Brom (Kai. brom. 2,0,
Natr. et ammon. brom. ää 1,0) bis zu 8 g pro die, protrahierten lauwarmen
Bädern, Vichy-C61estin und Salol. Dazu lokale feuchtwarme Umschläge.
Alles ohne Erfolg. Nachdem der Zustand ununterbrochen vom 16. Mai
bis 10. Juni 1900 bestanden hatte, machte ich die Operation der Hämor-
rhoiden nach Langenbeck. Selbst in der tiefen Chloroformnarkose blieb
die Erektion bestehen. Das legte natürlich die Annahme einer Thrombose
der Corpora cavernosa nahe. Aber, da der Kranke mir nicht die Er-
laubnis einer Penisincision gegeben hatte, wartete ich erst das Resultat
der Hämorrhoidaloperation ab. Sie blieb ohne Erfolg auf die Erektion.
Ich versuchte daher nach einigen Tagen eine Probepunktion des rechten
Corpus cavernosum, etwa in der Mitte des Penis. Es kam kein Tropfen
Blut. Die Punktionsstelle wurde mit einem Stückchen BsYERSDORFFschen
Zinkpflasters geschlossen. Um dieselbe bildete sich in einigen Tagen eine
kleine Anschwellung, die weder fluktuierte, noch gerade schmerzhafter als
die Umgebung war, aber doch — trotz peinlicher Asepsis — den Gedanken
an eine Absceßbildung aufsteigen ließ. Ich machte daher am 28. Juni in
Chloroformnarkose eine etwa 1 cm lange Incision in die kleine Anschwellung.
Es kam koaguliertes Blut. Unter Irrigation mit steriler Kochsalzlösung
gingen weiter Blutkoagula ab, die Trabekel des Corpus cavernosum wurden
nach und nach sichtbar und der Penis nahm allmählich seinen Zustand
der Ruhe ein. Nur geringe Blutung. Unter Jodoformgazeverband granu-
lierte die Wunde allmählich zu.
Ich sah den Kranken zuletzt 1 Jahr nach der Operation. Der Penis
zeigte an der Incisionsstelle eine kleine, strahlige Narbe. Der Coitus war
nach Angabe des Kranken normal und ohne Schwierigkeit ausführbar, ein
Zustand von Priapismus nicht wieder eingetreten.
Wir haben hier also einen Fall von anscheinend idiopathischem,
d. h. ohne Begleitung resp. nicht infolge einer nachweisbaren Krankheit
entstandenen protrahierten (fast 8 Wochen dauernden) Priapismus vor
Augen, dessen direkt nachweisbare Veranlassung anscheinend eine
Thrombose der Corpora cavernosa war. Ob nur die Corpora cavernosa
penis oder auch die der Glans und der Urethra thrombosiert waren,
wage ich nicht zu entscheiden. Ich habe keinen Unterschied in der
Erektion der einzelnen Teile des Penis bemerkt. Da die Corpora ca-
vernosa der einzelnen Teile nicht direkt miteinander kommunizieren,
so ist es a priori nicht anzunehmen, daß eine Incision und Entleerung
des Corpus cavernosum penis eine Entleerung auch der beiden anderen
Corpora bewirkte. Doch müssen wir wohl daran denken, daß zunächst
die Corpora cavernosa penis nicht im gewöhnlichen Sinne thrombosiert
waren. Dagegen spricht der Befund bei der Operation und die voll-
kommene Restitutio ad integrum. Bei der Operation gingen dunkel-
rote Blutkoagula neben flüssigem, eingedicktem Blute ab. Es bestand
580 Carl Goebel,
also nicht eine wirkliche Thrombose im geläufigen pathologisch -ana-
tomischen Sinne, sondern mehr nur eine Verdickung, Eindickung des
Blutes. Jedenfalls fehlte die mehr blasse, braunrote oder rostfarbene
Beschaffenheit, die ein fast 8 Wochen bestehender Thrombus sicherlich
schon aufweisen müßte. Ein wirklicher Thrombus würde in der langen
Zeit des Bestehens des Priapismus schon organisiert worden sein und
wäre danach durch eine kleine Incisionsöffnung nicht herausgerieselt,
wenn ich so sagen darf. Eine wirkliche Thrombose würde auch die
Wandung der Schwellkörper derart verändert haben, daß bindegewebige
Obliterationen und Verödungen der Bluträume nicht ausgeblieben wären,
also später die Erektion behindert oder nur partiell, etwa in Form der
Chorda penis, möglich gewesen wäre. (Näheres siehe weiter unten.)
Ich stelle mir nun vor, daß die Thrombose — im eben eingeschränkten
Sinne des Wortes — der Penisschwellkörper auch zu einer Stase, viel-
leicht auch Eindickung des Blutes im Corpus cavernosum urethrae und
der Glans geführt habe, indem bei Größenzunahme der Corpora caver-
nosa penis auch die der Urethra und Glans sich vergrößern und mit
Blut füllen müßten, ein Zustand, der auch ohne direkte pathologische
Veränderungen in diesen Organen zur Blutstase und dauerndem Be-
stehen ihrer Erektion Veranlassung gab.
Wodurch wurde aber nun in unserem Falle die Thrombose im
Corpus cavernosum penis veranlaßt? Von Symptomen irgend einer
Allgemeinkrankheit war nichts nachzuweisen, höchstens ein starker
Alkoholismus, der allerdings verschiedentlich als Grund von persi-
stierendem Priapismus angenommen wird. Doch scheint mir diese
Aetiologie als einzige für die vorliegende Affektion etwas aus der Luft
gegriffen zu sein.
Wie will man auf dem Wege des Alkoholismus zu Priapismus
kommen? Etwa weil Exzessen in Baccho erfahrungsgemäß solche in
Venere oft nachfolgen? Höchstens läßt sich hier ein ätiologisches
Moment in nervösen Erkrankungen auf alkoholischer Basis finden. Doch
diese vermissen wir absolut bei unserem Kranken.
Der einzige anamnestische Anhalt für die Krankheit dürfte bei
unserem Falle in einer geringen inneren Verletzung beim Coitus zu
suchen sein. Der Kranke gab großen Abusus desselben zu, nnd seit
einem Coitus ist der Priapismus bestehen geblieben. Es deckt sich
mit den Erfahrungen anderer, wenn wir eine Verletzung eines Penis-
gefäßes sub coitu annehmen. Die dadurch verursachte Hämorrhagie
in ein Corpus cavernosum verhindert den Rückfluß des Blutes, bringt
dasselbe zur Stase und eventuellen Koagulierung. Daß nach Entleerung
des koagulierten Blutes der Priapismus nicht rezidiviert, erklärt sich
ungezwungen entweder aus einem Wiederdurchgängigwerden der zu-
sammengepreßten Venen, oder aus der Etablierung von Kollateral-
bahnen.
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 581
Bevor ich noch näher auf diese Verhältnisse eingehe, möchte ich
eine kurze Uebersicht über die Literatur unserer Erkrankung geben,
soweit sie mir zugängig war.
Englisch (1) definiert Priapismus als eine Erektion mit mangelndem
Wollustgefühl. Der Priapismus ist nach ihm entweder ein andauernder
oder ein anfallsweise auftretender (Thaut). Ersteren bezeichnet Dabwin
als chronicus und fügt noch den amatorius hinzu, wie er nach Exzessen
im Coitus auftritt.
Taylor (2) stellt folgende Ursachen auf:
1) bei Kindern: Phimose, Blasen- und Urethralsteine, Mastdarm würmer,
2) bei Erwachsenen: Hamröhrenstrikturen , Cystitis und Hetentio
urinae, Blasensteine,
3) Gonorrhoe,
4) Intoxikation mit Kanthariden.
6) Verletzungen des Perineums und Rückenmarks, Erkrankungen des
zentralen Nervensystems, alkoholische und sexuelle Exzesse, Leukämie.
In keine von diesen Kategorien können wir unseren Pall ohne weiteres
einreihen. In den meisten PäUen handelt es sich um ßeizzustände, bei
denen nervöse Einflüsse, auf der Bahn der Nervi erigentes verlaufend,
angenommen werden. So sagt Erb (3), daß die Neuralgia penis et glandis
penis manchmal mit Priapismus und frequenten Ejakulationen einhergeht;
Lebbrt (4), daß man in seltenen Fällen von Cystitis und besonders bei
Blasenreizungen durch inneren Gebrauch von Kanthariden auch Fortleitung
der Reizung auf die äußeren Genitalien, welche sich bis zum Priapismus
steigern kann, beobachtet Endlich erwähnt Erb (3) Priapismus bei Rücken-
marksblutungen, bei mehr oder weniger vollständiger Unterbrechung der
Rückenmarksleitung und bei akuten traumatischen Rückenmarksläsionen«
Meist ist in allen diesen Fällen der Priapismus nur ein Symptom
der Allgemein- oder lokalen Harn-Genitalerkrankung und auch wohl niemals
80 andauernd, daß er als besondere Krankheit in die Augen &llt. Eine
speziellere Berücksichtigung haben dagegen die Fälle gefunden, welche
auf den ersten Blick als Priapismus sui generis auffielen, in denen die
Kranken gerade speziell oder nur dieses Leidens halber den Arzt auf-
suchten, und in denen der Priapismus zugleich von besonders langer
Dauer, besonderer Intensität und Schmerzhaftigkeit war, in denen endlich
gegen ihn besondere Medikationen sich notwendig erwiesen.
Eine allgemeinere Beachtung hat von je der leukämische Priapismus
gefunden. Derselbe scheint gelegentlich als erstes Symptom der Erkrankung,
das die Pat. zum Arzte treibt, aufzutreten.
LoNGUBT (5) beobachtete einen 29-jähr. Diener, der seit einem halben
Jahre häufig an dumpfen Schmerzen im Leibe und seit 3 Monaten an
Verstopfung litt. Bereits mehrmals nachts Erektionen Ya — ^ Stunde lang,
ohne Wollustgefühl; jetzt 3 Wochen lang dieselbe Erscheinung, große
Schmerzhaftigkeit. Bei der Untersuchung ergab sich bedeutende Milzver-
größerung, Axillar- und Cervikaldrüsenschwellung, allgemeine Anämie. Ver-
hältnis der roten und weißen Blutkörperchen 1 : 2. Therapie : Blutegel
ad anum, Eisklystiere, laue Umschläge von Herba Oicut.; Kampferbromür.
Allmählicher Nachlaß des Priapismus unter Schwächezunahme und Blu-
tungen aus Nase und Rectum. Der Penis blieb voluminös und teigig.
Der erste der von Vobstbr (6) publizierten Fälle betrifft einen 23-jähr.,
«iner Bluterfamilie entstammenden Aktuar, der seit dem 4. Lebensjahre
MitMl. a. d. Grenzgebieten d. Medizin n. Chinirgle. Xm. Bd. 38
582 Carl Goebel,
an heftigem unstillbaren Nasenbluten litt. Später profuse Blutungen nach
Zahnextraktionen. Aufnahme in das Krankenhaus wegen Epistaxis. Be-
drohliche Zeichen akuter Oehiman&mie : Heftiger Kopfschmerz, Erbrechen^
hochgradige Schwäche im rechten Arm und Bein. Milz deutlich fühlbar,
den vorderen Costalrand um 2 Querfinger überragend. Konvidsionen im
rechten Arm und Bein. Nach 18-tägigem Krankenhausaufenthalte zur
Nachtzeit bei einer etwas beschwerlichen Defäkation plötzliche Erektion.
Corp. cavem. penis, urethrae et glandis gleichmäßig hart und steif, ad
mazimum vergröüert, lebhafte Schmerzen. Einmal Temperaturerhöhung
auf 38,6 ^, zugleich heftige Schmerzen im Hinterhaupte, Nacken und Kreuz.
2 Tage lang rechtsseitige Abducenslähmuug vom 6. Tage an. Nach
12-tägiger Dauer Bewußtseinsstörungen, Toben etc. Allmählich bildet sich
ein Zustand von „atrophischer Paraphimose^* aus, der am 32. Tage operiert
wird durch einfache Längsincision und Vemähung. Aus den Stichkanälen
Blutungen. Nach 4 Tagen vollständige Erschlaffung, so daß also der
Priapismus 36 Tage andauerte. Die Blutuntersuchung war negativ, später
aber bildete sich Leukämie aus.
Aehnliche Fälle im Beginn der Leukämie haben Adams (7), Wabd (8),
Salzeb (9) publiziert, Klbmmb (10), Neidhabt (11), Matthias (12) solche
im Verlaufe der Erkrankung. Adams', Lokqubts und Klbmmes Fall weisen
öfteres und sehr heftiges Nasenbluten auf, Salzeb erwähnt nach Ver-
schwinden des Priapismus wiederholte Lungen blutungen. Nach Klbioik
„steht die Erektion in unzweifelhaftem ZusammenhaDge mit den BlutuDgen
in die verschiedenen OefUßprovinzen und ist wahrscheinlich von einer Blut-
ergießung in die Corpora cavemosa abhängig**.
LoNOUBT, dem sich Neidhart anschließt, nimmt neben der Neigung
zu Hämorrhagien eine durch die VermehruDg der weißen Blutkörperchen
begünstigte Zirkulationsstörung und Thrombose in den Corpora cavemosa
und den Venae afferentes an. Matthias glaubt von einem Bluterguß in
die Corpora cavemosa absehen und lediglich eine Verlangsamung und
Hemmung der Zirkulation beschuldigen zu müssen, welche durch die ab-
norme Blutbeschaffenheit (nach Mosler) hinlänglich erklärt würde. Ward
nimmt ebenfalls eine durch eine Erektion begünstigte spontane Thrombose
auf Grund der leukämischen abnormen Gerinnungsfähigkeit des Blutes an.
Ebenso erklärt Adams das Entstehen des Priapismus bei seinem Falle
und bezweifelt auch in den anderen Fällen, speziell dem Klbmmes, das
Bestehen einer Blutung, da keine äußeren Erscheinungen von solcher be-
schrieben werden, und in Salzbrs, Nbidharts und Matthias' Fällen einer-
seits sonstige Blutungen nicht beschrieben werden, andererseits in seinem
eigenen Falle, sowie den von Lonoubt und Salzer beschriebenen Erek-
tionen von ^/j — lYj-stündiger Dauer dem persistierenden Priapismus vor-
ausgingen, Erscheinungen, welche deshalb nicht auf einen Bluterguß zurück-
geführt werden könnten, da letzterer in so kurzer Zeit nicht resorbierbar
wäre. Der allmähliche Rückgang der Erektion — der in allen diesen
Fällen bis zu mehreren Wochen Dauer beobachtet ist — läßt sich nach
Adams vielleicht durch langsame graue Erweichung der Thromben erklären.
Einen anatomischen Anhalt für die Bichtigkeit der von Lonoubt und
besonders von Adams betonten Entstehungsursache des Priapismus ergibt
eine Publikation von Käst (13). Dieser Autor beobachtete einen 42 Jahre
alten Leukämiker, der 2 Monate an allmählich nachlassendem Priapismus litt.
Er fand als histologische Veränderung bei der Autopsie ziemlich starke
Ausdehnung sämtlicher Gefäßräume des Corpus cavem. urethrae und An-
füllung dieses Schwellkörpers mit Zellen, welche vorwiegend den Charakter
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 583
der mononukleären Lenkocyten zeigten und somit der Ausfüllungsmasse
eine Beschaffenheit verliehen, welche an den Blutbefund bei den leukä-
mischen Kranken erinnerte. Das Zwischengewebe war vollständig unver-
ändert. Der Sohwellkörper des Penis war in eine derbe, gleichmäßige Binde-
gewebsmasse umgewandelt, in welcher die Bluträume zu schmalen, spalt-
förmigen Kanälen komprimiert sind. Nur in der Peripherie hatten die
Bluträume noch normalen Umfang. Die Endothelien der kavernösen Räume
ließen nirgends gröbere Läsionen erkennen; in dem gebildeten Thrombus
konnte eine auffallend geringe Menge von Fibrin konstatiert werden.
Es fanden sich also als Ursache des Priapismus die
Reste einer weißen Thrombose der Schwellkörper des
Penis und der Harnröhre und als Erklärung für das Zu-
rückgehen des Priapismus sowohl das Unverletztbleiben
der Intima als die mangelnde Befestigung des Thrombus
infolge geringen Fibringehaltes.
Den vorstehend erwähnten Fällen leukämischen Priapismus' kann
ich einen neuen anreihen, der in der hiesigen chirurgischen Universitäts-
klinik und der Privatklinik des Herrn Geh.-Rat v. Mikulicz in letzter
Zeit zur Behandlung kam. Herrn Geh.-Rat v. Mikulicz bin ich für
die freundliche Ueberlassung des Falles zu großem Danke verpflichtet.
Die Krankengeschichte des Falles ist die folgende:
40-iähr. lediger Prokurist aus Breslau.
Anamnese: Vater an Kehlkopfschwindsucht, Mutter an Herzschlag
gestorben, 2 Schwestern gesund. Hat als junger Mann an Diphtherie und
chronischem Rachen- und Kehlkopfkatarrh, im Alter von 24->27 Jahren
an Kopfschmerzen, die von autoritativer Seite auf Blutarmut zurückgeführt
wurden, gelitten.
Mit 28 Jahren Lues, die zunächst 2 Monate lang mit Injektionen be-
handelt wurde. Schon nach wenigen Monaten Sekundär- und Tertiär-
erscheinungen in der Nase (Geschwüre), die jeder lokalen Therapie trotzten.
Auch auf Jod und Hg anfangs keine Besserung, eine Heilung trat viel-
mehr erst nach einer Bade- und Diätkur in einer Anstalt ein. Nochmals
mehrere Schmierkuren. Im Mai 1892 Entfernung der leicht vergrößerten
Leistendrüsen.
Ende 1893 stellten sich beim Gehen auftretende, leichte Schmerzen
in den Beinen ein, die bis vor kurzem anhielten. Pat. hielt sich deshalb
eine Zeit lang für einen Tabiker.
Im Jahre 1900 plötzlich Doppelbilder, Abweichen des linken Auges
nach rechts, stark vergrößerte Pupille rechts. Kur in Gräfenberg, wonach
sich Pat. wieder ganz wohl fühlte. März 1901 wiederum Augensymptome:
Differenz der Pupillen, Accommodationslähmung, Doppelbilder. Diese Sym-
ptome besserten sich erst Ende 1902.
Ende 1901 starke, plötzlich auftretende Schmerzen im rechten Beine
ohne Ursache; ob Fieber vorhanden, weiß Pat. nicht anzugeben. Der
Schmerz hinderte den Kranken am Gehen; ein Arzt verordnete vergebens
gegen supponierte Leisten drüsenansch wellung Umschläge und Bettruhe
3 Wochen lang. Ein anderer Arzt sprach von Venenentzündung. Seit
1901 ist auch eine Milzschwellung beobachtet, die von einigen Aerzten
auf Malaria, von anderen auf Syphilis zurückgeführt wurde. Da auch die
Augensymptome an Lues denken ließen, so suchte Pat. im Sommer 1902
38*
584 Carl Goebel,
Tölz anf, wo diese Leiden als auf Lues beruhend angenommen und sogleich
energisch mit Bädern in Angriff genommen wurden. Aber schon nach
mehreren Tagen war der Kranke so angegriffen, dafi er die Bäder aus-
setzen mufite; trotzdem setzte er Schmierkur und Jodgebrauch noch etwa
2 Monate fort, ging aber elender von Tölz fort, als er gekommen war.
Januar 1904 konsultierte der Kranke endlich Herrn Dr. Kühnau hier-
sei bst, der eine Leukämie konstatierte: Verhalten der weißen zu den
roten Blutkörperchen angeblich anfangs 1 : 3, später 1:12. Ln Urin sehr
viel Eiweiß, das nach 8-tägiger Bettruhe und Milchdiät rasch zurückging.
Nach 14 Tagen Injektionen von Atoxyl, etwa alle 3 Tage.
Schon seit 1902 wachte Pat. meist gegen 2 oder 3 Uhr morgens mit
länger andauernden Erektionen auf, die der konsultierte Arzt für physio-
logisch hielt. Dabei weder Schmerzen noch Wollustgefühle, auch keine
erotische Träume. Ueberhaupt hat Pat. die letzten Jahre keinen sexuellen
Umgang gepflogen. Seit März 1904 wurden die AnfUle häufiger und
dauerten länger. Der Pat. schlief nicht, wie früher, wieder ein und stand
dann morgens ohne Erektion auf, sondern die letztere blieb bestehen und
cessierte erst nach 2, 6 — 10 Stunden. Es wurden zuerst kalte, dann auf
Anraten des Arztes warme Umschläge und Bäder versucht. Einmal mußte
der Kranke z. B. mit erigiertem Gliede in sein Bureau gehen. Dortselbst
erst verschwand der Zustand, während Pat etwa eine Stunde lang mit
einem Geschäftsfreunde anregend verhandelte. Die Anfalle waren von zu-
nehmender Dauer, der vorletzte (am 3. Mai er.) bestand 10 Stunden.
Am 10. Mai früh um 3 Uhr wachte Pat. wieder mit erigiertem Penis
auf, der seitdem nicht abgeschwollen ist trotz prolongierter Bäder, Elek-
trisieren, Stuhlzäpfchen mit Opium, Bromkalium 3 g pro die. Am 12. Mai
suchte der Kranke daher die Klinik auf. Der Stuhl war immer regel-
mäßig, keine Obstipation, eher das Gegenteil. Die Miktion war nie be-
hindert, auch nicht während der Anfälle.
Status am 12. Mai 1904: Schwächlich gebauter, abgemagerter,
blaß und leidend aussehender, kleiner Mann. In den Leistenbeugen außer
Narben einige kleine derbe Drüsen, ebenso einige kleine Drüsen in den
Achselhöhlen. Puls 108, kräftig, regelmäßig. Temp. 39^, Resp. 32, Appetit
gut. Stuhl jetzt angehalten ; Urin hell, sauer, stark getrübt, enthält keinen
Zucker, aber Eiweiß, mikroskopisch: Harnsäurekrystalle, amorphes Sediment,
keine Cylinder oder Leukocyten. Pupillen gleich weit, reagieren auf Licht
und bei Accommodation. Das linke Auge etwas nach außen abweichend,
der Finger wird sowohl in der Mittellinie als auch bei Bewegungen nach
beiden Seiten doppelt gesehen, jedoch nicht konstant. Es scheinen bei
Führung des Fingers nach links Doppelbilder leichter aufzutreten. Patellar-
und Achillessehnenreflex beiderseits fehlend, Plantarreflex beiderseits ge-
steigert. Herz und Lungen ohne Besonderheit. Leber nicht vergrößert.
Die Milz reicht bis 10 cm nach unten und bis 6 cm nach rechts vom
Nabel, Länge des Milztumors etwa 36 cm, Breite 19 cm.
Verhältnis der Erythrocyten zu den weißen Blutkörperchen = 1820000
zu 340000= 1 : 5^2- Mikroskopisch (Triacid) finden sich neben normalen
neutrophilen Polynukleären sehr zahlreiche Myelocyten von wechselnder
Größe, teils mit großem runden, teils mit etwas eingebuchtetem Kern
(Uebergangsformen) und spärlichen Granulationen. Die Eosinophilen scheinen
nicht vermehrt ; vereinzelte mononukleäre Formen. Von Lymphocyten finden
sich kleine Formen nur vereinzelt, dagegen zahlreiche große Zellen mit großem,
schwach tingiertem Kern. Die Erythrocyten sind ziemlich gleich groß, keine
Poikilocyten. Zahlreiche kernhaltige, meist von normo blastischem Typus.
üeber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 585
Der Penis ist in maximaler Erektion, aber nach Angabe des Kranken
nicht größer, als stets in diesem Zustande, von 12 cm Umfang, in seinem
vorderen Teile stark ödematös, rosarot geiUrbt. In seiner basalen Hälfte
besteht eine zirkuläre derbe Schwellung, so daß der Umfang hier 16 cm
beträgt. Die Farbe ist hier dunkel blaurot. Keine Schmerzen, weder
spontan noch auf Druck.
Die Therapie bestand vorläufig in feuchten Umschlägen von essig-
saurer Tonerde. 13. Mai. Unter wiederholten Schüttelfrösten Temperatur-
anstieg auf 40 0. 2mal galliges Erbrechen. Auf Rizinusöl Stuhl. 14. Mai
nachts wiederholte Schüttelfröste, Temperatur um 40^. Allgemeinbefinden
schlecht Anschwellung des Scrotums, blaue Verfärbung an den tiefsten
Stellen desselben. Daher mittags
Operation (Prof. Kausch); Bromäthyl- Aethernarkose. 2 ca. 5 cm
lange Incisionen auf der Dorsalseite des basalen Penisteiles zu beiden
Seiten der Mittellinie. Haut ödematös, blutig suffundiert, schwarz ver-
färbt Die Corpora cavernosa, sehr starr und derb, werden beiderseits
geöffnet. Es entleert sich schwarzes, sehr übel (nach Bacterium coli)
riechendes Blut, ferner feine Luftbläschen. Tamponade mit Jodoanisol-
gaze, feuchter Verband von essigsaurer Tonerde, Suspension des Penis,
der bald nach der Incision weniger rigide wird und abschwillt.
Die bakteriologische Untersuchung des entleerten Blutes ergab eine
Beinkultur von Bacterium coli.
Verlauf: Nach der Operation sofort Temperaturabfall, nachmittags
38^. Allgemeinbefinden besser. 16. Mai. Nachts 0,01 Morph. Verband-
und Tamponadewechsel. Sehr übelriechendes Sekret. Bei leichtem Druck
auf das vordere Ende des Penis entleeren sich aus beiden Incisionsöff-
nungen Luftblasen. Urinentleerung ungehindert. Aus der Urethra ent-
leert sich ein Tropfen bräunliches Sekret.
18. Mai. Pat. klagt über den Erektionszustand des Penis. Temperatur
dauernd zwischen 38® und 38,8®. Hochlagerung des Penis durch unter-
geschobene Kissen und Umschläge mit essigsaurer Tonerde. 19. Mai.
Penis zeigt in seiner proximalen Hälfte stärkere, entzündliche Schwellung,
Sekretion der Wunde trüb-serös, etwas übelriechend. Klage über stärkeres
Spannungsgefühl.
20. Mai. Da die Rötung, teigige Schwellung und Schmerzhaftigkeit
an den abhängigen Partien der Peniswurzel zugenommen hat (Temp. 38,5 %
80 werden zwei weitere Incisionen unter ScHiiBiCHscher Anästhesie hier-
selbst und Entleerung viel stinkenden, grünlichen Eiters vorgenommen.
Jodoanisolgaze.
21. Mai. Katheten sierung mit N^laton wegen Unmöglichkeit der spon*
tanen Miktion. Urin klar, sauer.
23. Mai. Urinentleerung, nachdem sie die letzten Tage nur im Bade
unter Anstrengungen möglich war, jetzt ausschlieÜlich durch eine der
hinteren Incisionen. Starkes Vorhautödem. Temperatur bisher subfebril,
heute Temperaturanstieg.
24. Mai Schüttelfrost, 39,3 <>. Allgemeinbefinden sehr schlecht, Schlaf-
losigkeit. Penis noch immer von demselben Umfange, an der Basis viel-
leicht noch stärker durch entzündliche Schwellung. Die Corpora cavernosa,
die in den dorsalen Incisions wunden schon seit 6 — 6 Tagen schwärzlich
verfärbt erscheinen, bieten heute das Bild nekrotischer, schwarzer, stin-
kender Pfropfe. In den letzten Tagen hieraus zweimal starke Blutung,
die durch Ligatur gestillt wird. 29. Mai. In den letzten Tagen remittie-
rende Temperaturen (36,2 — 37,7^). Gangränös stinkende Sekretion. Penis
686 Carl Goebel,
kleiner, Oedem geringer. 30. Mai Entfernung der nekrotischen Pfropfe
der Corp. cavern. mit der Schere, es folgt eine reichliche Eitermenge.
8. Juni. Pat. erheblich besser, geht seit 1. Juni umher. Temperatur
normal.
Bisher ist der Milztumor dmal je ^/^ Stunde lang, der Penis einmal
1 Stunde lang den BöNTOBN-Strahlen ausgesetzt. Der Milztumor scheint
um ly, — 2 cm zurückgegangen. Der Hämoglobingehalt des Blutes ist
von 25 Proz. auf 50 Proz. gestiegen und das Verhältnis der weißen zu
den roten Blutkörperchen auf 141200:3264000, d. h. 1:23 herabge-
gangen.
Der Penis hat in den letzten Tagen stark an Größe abgenommen.
Von den oberen Wunden aus kommt man mit der Sonde ca. 8 cm in die
Tiefe bis gegen das zentrale Ende des Bulbus hin, peripher nach der
Glans zu etwa 4 cm tief. Die Wunden werden drainiert und sezemieren
noch sehr viel Eiter.
Bemerkenswert ist dieser Fall durch die Häufigkeit der Priapisinus-
anfälle und den lokalen Befund eines Bacterium coli enthaltenden zer-
setzten Blutes. Wir können uns die dem letzten Anfalle vorhergehenden
Erektionen mit Adams etc. wohl durch die besondere pathologische
Beschaffenheit des leukämischen Blutes erklären. Der letzte protra-
hierte Anfall aber ist wohl durch das Hinzukommen von Komplikationen
zu erklären, die ich in einer inneren Verletzung der Corpora cavernosa
und dadurch bedingte Undurchgängigkeit der abführenden Venen und
in der Infektion mit Bacterium coli suche. Auf eine besondere lokale
Veränderung der Basis des Penis weist die beobachtete zirkuläre, derbe
Schwellung und der größere Umfang (16 cm) hin. Diese Schwellung
läßt sich wohl kaum anders als durch eine blutige Infusion dieser Teile
erklären. In diesem Locus minoris xesistentiae haben sich dann die
Bacillen angesiedelt und die Schwellung wohl noch vermehrt. Wie die
Bacillen aber dahin gekommen sind, bleibt bei dem Mangel jeder
äußeren Verletzung dunkel.
Der leukämischen Thrombose am nächsten steht wohl der vielzitierte
Fall von Rokitansky (14). Der Priapismus hielt vom 15. März bis zum
26. April — dem Tode des 42-jähr. Mannes — an. In den letzten Tagen
wurde auf einen Druck auf die an ihrer Wurzel verhältnismäüig weicher
gewordenen Corpora cavernosa ziemlich viel Eiter aus der Harnröhre ent-
leert. 3 Tage vor dem Tode wurden am Perineum beiderseits neben der
ßaphe fluktuierende Abscesse entdeckt und geöffnet. Ursprünglich bestand
ein subkutaner Absceß im linken H3rpogastrium, später Dysenterie und ein
Absceß unter dem Kinn. Die Sektion ergab Bronchitis, Eiterherde in der
auf das 5 — 6-fache vergrößerten Milz, dysenterieartige Veränderungen im
Dickdarm, Eiterherde in der linken Niere. Corpora cavernosa geschwollen,
fluktuierend, das schwammige Gewebe von Eiter strotzend, in ausgebrei-
teten Strecken matsch, zu einer blaßrötlichen, zerreißlichen Pulpa zerfallen.
Nach hinten war ihre fibröse Hülle mehrfach durchbrochen und hier kom-
munizierten ihre Räume mit umfänglichen vor und unter der Prostata ge-
legenen, sie, die Pars membran. und den Bulbus ur. umfassenden und
bloßlegenden Eiterherden. Die CowPBRschen Drüsen vereitert, die Schleim-
lieber idiopathischen, protrahierten Priapismus. Ö87
haut und das Corpus cavem. ur. etwas gewulstet, erstere etwas mißfarben.
Es handelte sich hier also um einen Fall von pyämischer Throm-
bose der Corpora cavernosa und konsekutivem Priapismus. Es
ist allerdings nach dem Krankheitsbilde und dem Sektionsergebnis nicht
ausgeschlossen, daß ein leukämischer Prozeß mit Pyämie kompliziert war.
Dem Falle Rokitanskys analog scheint der von Dbmarquet (15) als
Penitis beschriebene, von Nbpvbu genau untersuchte Fall zu sein: Sämt-
liche Schwellkörper waren mit Eiter durchsetzt. Bei der mikroskopischen
Untersuchung fand man Zerstörung der zentralen Trabekel der Corp. cavem.,
eiterige Infiltration der wandständigen Trabekel und der kavernösen Räume,
die Arterien, Muskel und elastischen Fasern erhalten. Die Cavernitis war
in diesem Falle nach Incision eines Abscesses der CowpsRscben Drüsen
entstanden. Die Haut des Penis wurde rot, gespannt und im unteren
Teile schmerzhaft, dabei die Harnentleerung mühsam und mit Schmerzen
verbunden. Die Schwellung des Penis nahm zu bis zu Priapismus. Zahl-
reiche Schüttelfröste. Die Incision eines Abscesses am Penis vermochte
nichts gegen die manifeste, rasch tödlich endende Pyämie.
Für gichtische Thrombose hält Wbbbb (16) einen von ihm bei einem
42-jährigen Manne beobachteten Priapismus, der zur Zeit einer Gicht-
attacke 3 Wochen lang anhielt; der Mann litt außerdem an Bleiintoxi-
kation. Für Thrombose der Corpora cavernosa penis spricht nach Webbb,
daß das Corpus spongiosum und die Glans nicht mitaf&ziert waren. Ich
komme auf diesen Punkt noch unten zurück. In die Kategorie dieses
Falles gehört vielleicht auch der Weisbs (21), bei dem es sich um einem
45-jährigen Mann handelte, der mehrere Jahre durch Arthritis und fort-
währende schmerzhafte Erektion belästigt wurde, welche nach Heilung
der ersteren Krankheit ganz verschwand. Auch Mainzers Fall, den ich
weiter unten ausführlich referiere, litt an Rheumatismus.
Dem pyämischen Priapismus Rokitanskys andererseits dürften wieder
Fälle nahestehen, die, wie der von Scholz (18), auf Cavernitis durch Ent-
zündung der Lymphgeftlße beruhen, weiter die beiden Fälle Nbümanns (19),
von denen der eine neben Tumor (Krebs) der Blase mit konsekutiver
Cystitis und eiteriger Perforationsperitonitis Jauchehöhlen in der Pars
membran. urethrae und dem Corpus cavernosum penis aufwies, welch
letzterer 13 cm in der Länge, 12 cm in der Zirkumferenz maß, bläulich
verfärbt, ziemlich hart und mit einer rötlichen, dünnbreiigen Flüssigkeit
durchtränkt war. Vena dors. und prof. penis waren in ihrer ganzen Länge
von ziemlich derben, rötlichen Pfropfen verstopft. Der zweite Fall Nbü-
manns zeigte bei einem 58-jähr. Individuum im Anschluß an ein Geschwür
Entzündung und Vereiterung der Schwellkörper.
Dem sicher lokal entzündlichen Priapismus dürfte sich auch ein Fall
von BooTH (20) unterordnen lassen, bei dem der Autor Entzündung (rheu-
matische?) in der „Umgebung der Erektionsmuskulatur ^' annimmt. Nach
mannigfaltigen vergeblichen therapeutischen Versuchen und 5-wöchigem
Bestehen der Steifigkeit brachte Jodkalium dem 55-jährigen Seemanne in
2 Wochen Heilung. Man wird hier ex juvantibus an eine luetische Ent-
zündung denken müssen.
Nicht als Cavernitis, also Entzündung, wie Nbümann will, möchte ich
dagegen den Fall von Kaudbrs (19) aus BAHSBRaBss Klinik auffassen.
Der Priapismus war plötzlich entstanden, sehr schmerzhaft, der Penis
stark geschwollen und cyanotisch verfärbt. Die Sektion erwies ausge-
breitete Tuberkulose, Morbus Brightii, Thrombose der Corpora cavem.
penis et urethrae mit Oedem der Haut und des Präputiums und endlich
588 Carl Goebel,
ausgedehnte marantische Thrombose in den Venen des Plexus pudendus
und vesicalis. In diesem Falle liegt die Ursache des Priapismus als Folge
der marantischen Thrombose klar auf der Hand.
Ebenso klar liegen wohl die Verhältnisse bei traumatischer Ent-
stehung des Leidens. Ein derartiger Fall infolge Schußverletzung ist von
Dbmarqüat beschrieben. In einem Falle Johnson Smiths (22) handelte es
sich um einen 46-jähr. Fischer, starken Trinker, der 19 Tage vor Auf-
nahme ins Hospital auf Damm und Penis fiel und eine kleine Wunde an
der Eichel acquirierte, die bald heilte. Schon am nächsten Tage große
Härte und Schwellung des Gliedes, starker Schmerz und Schlaflosigkeit.
Bei der Aufnahme war der Penis gleichmäßig hart, wies aber an der
Wurzel einen prominenten Knoten auf. Urin normal. Kein Ausfluß aus
dem Orif. ext urethrae. Bromkali bis zu 10 g pro die vergeblich. Später
Merkurialsalbeeinreibung und innerlich Belladonna. Dies und die längere
Ruhe des Kranken scheinen nach 6 Wochen die Genesung herbeigeführt
zu haben. Die harte Stelle an der Wurzel verschwand. Eine Verletzung
des Bückenmarks war ganz ausgeschlossen.
Weiterhin gehört Vorsters zweiter Fall hierher: Ein 19-jähr. Mensch
erlitt einen Hufschlag gegen das Scrotum, Blutung aus dem Orif. extern,
urethrae, Anschwellung des Penis. Urinretention. Bei der Urethrotomia
externa wurde die mit Blut gefüllte Höhle des Corpus cavern. entleert^
so daß der Priapismus schwand. Derselbe war also nach Vorstbr ent-
standen durch Bluterguß und Druck desselben auf die Venen, welche dea
venösen Hückfiuß aus dem Corpus cavern. verhinderte.
In allen bisher zitierten Fällen haben wir eine greifbare Ursache
für das Entstehen des Priapismus finden können. Wir kommen endlich
zu einer Gruppe von Publikationen, die unserem ersten Falle mehr
oder weniger gleichen durch Fehlen einer ohne weiteres greifbaren
Ursache und, wenigstens teilweise, erwiesener Thrombosenbildung in
den Schwellkörpern des Penis, langer Dauer und anscheinend meist
erhaltener Erektionsfähigkeit nach Heilung. In einigen von diesen Fällen»
die ich im folgenden ausführlicher referiere, wird von den Autoren als
einziges ätiologisches Moment Alkoholismus, in anderen besonders Libido
angeschuldigt, ohne daß damit, wie wir sehen werden, die wirkliche
Ursache gefunden sein dürfte. Auf eine erschöpfende Literaturflbersicht
kann ich keinen Anspruch machen; es sind zweifelsohne besonders in
der älteren englischen Literatur noch mehr derartige Fälle registriert.
Soweit mir die Literatur zugänglich war, finde ich folgende Fälle
dieser Art sozusagen idiopathischen Priapismus:
1. V. WiNDiSH (23): 39-jähr. erschöpfter Kleidermacher. Rute wird
aus unbekannter Ursache plötzlich abends steif und nach Anwendung
kalter Umschläge bis zur Raserei schmerzhaft. 2 Tage darauf beim Ein-
tritt ins Hospital : Rute steif wie Eisen aufgerichtet, dünn und zu einer
ungemeinen Länge ausgedehnt, schmerzhaft und hochgerötet; der Kranke
ängstlich atmend, an Kopf und Gesicht stark schwitzend und heftig fiebernd.
An das Perineum gelegte 8 Blutegel, Umschläge, Oelklystiere und ähnliche
Emulsionen wirkten höchstens schmerzstillend ; ebenso verschafi'ten Kalomel,
Hyoscyamus, Kampfer in Pulvern, Ungt. althaeae mit Opiumtinktur nur
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 58&
ruhigere Nächte. Der Priapismus bestand unverändert 25 Tage lang, wa
dann ein Pulver von Opium, Kampfer und Sacch. ää 1 gran stündlich und
warme Breiumschläge mit Kampfer gemischt um das Glied, das Leiden
zum Verschwinden brachten, so daiS Pat nach 9 Tagen völlig geheilt ent-
lassen werden konnte.
2. BiRKBTT (24) : 44-jähr. Arbeiter. Ursache des Priapismus war der
vor 10 Tagen ausgeübte Coitus. Seitdem war der Penis in erigiertem
Zustande und höchst schmerzhaft. Nur das Corpus cavernosum war ge-
schwollen, nicht Glans und Corp. spongiosum. Der Kranke sah kachek-
tisch aus, war jedoch im übrigen gesund. Kaum Beschwerden beim Harn-
lassen. B. machte durch die fibröse Hülle in die Zellen des Corp. cavern»
auf jeder Seite an 2 Stellen Einschnitte, welche eine schwarze, dicke, blut-
ähnliche Flüssigkeit entleerten. Da trotzdem die Schmerzen und die
Schwellung des Penis sich nicht vermindert hatten, so wurden einige Tage
darauf die Einstiche wiederholt und warme Umschläge gemacht, worauf
die Erscheinungen nachließen. Der Penis wurde mit Pflasterstreifen um-
wickelt. Einige Wochen darauf bildete sich eine Eiterung im linken
Corp. cavem., in welches ein Einschnitt gemacht wurde. Die Eiterung
dauerte 8 Monate, erst dann erfolgte vollständige Heilung. (B. teilt noch
3 ähnliche Fälle in Kürze mit, die aber in dem Referat nicht weiter be-
rücksichtigt werden.)
3. Smith (25) : 28-jähr. Mann, der Priapismus entstand bei Ueberfüllung^
der Harnblase, dauerte viele Tage trotz Anwendung der heroischsten Mittel
(kalte Begießung, Brechmittel, Aderlässe, Chloroformnarkose, Morphium,.
Belladonna bis zur Narkose etc.), schwand endlich von selbst.
4. Hargis (26): 28-jähr. Mann. Der äußerst schmerzhafte Priapismus
wurde durch einen Coitus eingeleitet, alsbald durch einige Gaben Brom-
kalium & 15 g erleichtert, und endlich durch den fortgesetzten Gebrauch
kleiner Gaben desselben Mittels ä 5 g vollständig beseitigt.
5. Mackib (27): 70-jähr., in baccho et venere ausschweifender Mann.
Die Erektionen traten in den ersten 2 Tagen nur in Intervallen auf, dann
permanent während 21 Tagen trotz Mittel (kalte Umschläge auf den Penis
und Wirbelsäule, warme Bäder, Morphium, Chloralhydrat, Bromkali, Blut«
egel an die Peniswurzel etc.). Große Schmerzen Tag und Nacht und
Schlaflosigkeit. Vor Eintritt des Priapismus soll ein taubes, ziehendes
Gefühl im rechten Arm und Fuß, und ein heftiger Schüttelfrost vorhanden
gewesen sein, sonst weder in den Harnorganen, außer unbedeutender Striktur^
noch Mastdarm, noch Rückenmark etwas Krankhaftes nachweisbar. Nach
19 Tagen zeigte sich besonders im rechten Corpus cavem. penis ein ent-
ztlndlicher, pulsierender Schmerz mit ödematöser Anschwellung des Prä-
putiums. Endlich wurde 2 Tage später, als sich Paraphimose und Harn-
verhaltung hinzugesellt hatten, ein ergiebiger Einschnitt in das rechte
Corp. cavem. penis von der Corona glandis aus in einer Länge von 2 "
gemacht, worauf sich eine große Menge schwarzen, halb geronnenen Blutes
ergoß, der Penis zusammenflel und die ausgedehnte Blase sich entleerte.
Nach Applikation von warmen Umschlägen stießen sich Fetzen abgestor-
benen Zellgewebes mit koaguliertem Blute ab, die Wunde verkleinerte
sich und schloß sich bald. Vollkommene Genesung.
6. HiRD (28) : 55-jähr. notorischer Säufer, fast die halbe Pharmakopoe^
auch Chloral und Chloroformnarkose, vergebens versucht; Genesung eigent-
lich spontan.
590 Carl Goebel
7. Walkbr (29) : 26-jähr. Neger. Ohne Ursache und ohne wollüstige
Empfindung trat über Nacht Steifigkeit des Gliedes, mit Ausnahme der
Glaus, auf. Chloroformnarkose, Kälte, Bromkali, Belladonna ohne Wirkung.
Urin mußte mit weichem Katheter entleert werden. Nach 6 Tagen be-
trächtliche Erschöpfung, über Nacht profuser Schweiß. Heiße Bäder, Brech-
weinstein, Chloral ohne Erfolg. Am 18. Tage Veratramtinktur 3-stündlich
zu. 10 Tropfen bis die Pulsfrequenz auf 60 herabgegangen war. Nach
3 Tagen war die Belaxation beträchtlich. Bevor sie eintrat, war ein
schmaler harter Ring rings um die Corp. cavern. 2 " unterhalb der Eichel
fühlbar gewesen. Die Rekonvaleszenz machte nur sehr langsame Fort-
schritte, und sobald man das Veratrin aussetzte, wurde der Penis wieder
hart und schmerzhaft. Der harte Ring war verschwunden. Nachdem die
Heilung mehrere Wochen bestanden hatte, verspürte Pat. häufig geschlecht-
liche Neigung, aber ohne daß die jetzt erwünschte Erektion eintrat.
8. Weber (16): 46-jähr. Bäcker. Priapismus dauerte 4 Wochen, ent-
stand plötzlich morgens beim Erwachen, ohne Libido sexualis. Der Pat.
hatte in den letzten 2 Wochen keine sexuellen Beziehungen gehabt Vor
12 Jahren Lues, vor vielen Jahren Gonorrhöe. Jetzt keine Zeichen davon,
kein Alkoholismas, keine anderen Allgemein- oder Lokalleiden. Bleiches
Aussehen und untemormaler Ernährungszustand. Corpora cavernosa allein
hart, „wie Gips", Corpus spongiosum. Gl ans und Vena dorsalis weich.
Urin normal, 1018 spez. Gewicht 90 Proz. Hämoglobin. Behandlung
mit Bettruhe unter Vermeidung des Deckendruckes, mit Bleiwasserum-
schlägen und Jodkalium, Rizinusöl, Eisen und Chinin innerlich. Daraufhin
21 Tage nach Bestehen des Priapismus Besserung, die proximalen Teile
der Corp. cavern. wurden weicher und etwas biegsam. Nach 30 Tagen
war der Penis viel kleiner, aber noch etwas schmerzhaft, nach 33 Tagen
nahezu im Naturzustande. Eine gewisse Häi-te wurde noch nach 51 Tagen
beobachtet Keine Knoten (lokale Sklerose der Corp. cavern.) zurück-
geblieben.
9. Mainzbb (19): 42-jähr. Weber, keine Lokal- oder Allgemeinleiden,
außer Gelenkrheumatismus vor 5 Jahren, seitdem öfters leichte rheuma-
tische Beschwerden, etwas stärkere Attacke vor 8 Wochen. Starker
Alkoholismus. Seit 4 Jahren regelmäßig gegen Weihnachten Anfälle von
Priapismus, immer nachts, 10 — 14 Nächte durch. Vor 2 Jahren einmal
2 Tage und 2 Nächte lang. Diesmal auch zuerst nächtliche Priapismen,
bei Tage anfangs verschwindend. Allmählich nahm die Dauer der Erektion
zu, der Kranke konnte vor Schmerz weder sitzen noch stehen, nachts
Schlaflosigkeit, da dann der Schmerz am stärksten. Der Penis maximal
erigiert, am Dorsum penis an zirkumskripter Stelle unter der Haut Oedem.
Corpus cavernosum urethrae und Glans waren nur sehr wenig geschwellt
Perinealmuskulatur, zeitweise auch der Sphincter ani ext. hart gespannt
Geringer Tremor manus und früher zeitweise Parästhesien der Hände.
Druckempfindlichkeit des Medianus und Radialis beiderseits, des Ulnaris
rechts führt M. auf den Alkoholmißbrauch zurück. Auf protrahierte, warme
Bäder, Suppositorien mit Opium und Belladonna verloren sich zuerst die
Schmerzen und nach 9 Tage Bestehens der Priapismus.
Bezüglich der Ursache findet M. schließlich, daß dieselbe lediglich in
sexueller Ueberreizung besteht bei Vermeidung des normalen sexuellen
Verkehrs mit der Frau, da dieselbe wegen wiederholter Aborte nicht mehr
konzipieren sollte. Also: Summation der Reize bis zum Tonus, Erregbar-
keitsverlust, Erholung, dann Normalzustand.
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 591
Die vorstehend kurz referierten Fälle von idiopathischem Pria-
pismus ließen sich, wie schon gesagt, noch vermehren. So hat Ward (8)
12 Fälle von Priapismus im Alter von 26 — 55 Jahren zusammengestellt,
unter denen wohl auch solche von idiopathischem Priapismus sein
dürften. Unter den 12 Fällen war einer mit Leukämie, einer mit ver-
größerter Milz nach Malaria, einer mit Gicht kompliziert, in einem Falle
war schon vorher eine, in einem zweiten Falle waren zwei frühere
Attacken prolongierten Priapismus vorhanden gewesen, in 4 Fällen
begann der Zustand mit dem Coitus, in einem beim Drücken zur De-
fäkation, und in einem war ein Trauma die Ursache. In 3 Fällen
folgte dem Priapismus Impotenz.
Peabody (30) hat 32 Fälle von Priapismus zusammengestellt, von
denen 6 eine vergrößerte Milz hatten.
Welche Schlüsse können wir aus unserem Fall und
der gegebenen Literaturübersicht ziehen?
1) Als Ursache für protrahierten Priapismus, der Tage und Wochen
anhält, unter großer Schmerzhaftigkeit, Schlaflosigkeit und Prostration
verläuft ohne wollüstige Erregungen, finden wir die verschiedensten
Krankheiten: Leukämie, Pyäraie, Gicht, Trauma etc.
2) Es gibt außerdem eine Form protrahierten Pria-
pismus, die wir als idiopathische bezeichnen können, in
der eine Ursache ohne weiteres nicht anzunehmen ist.
Alkoholismus und Exzesse in venere sind angeschuldigt bei einigen
Fällen, einwandsfreier Beweis dafür ist aber nicht geführt und nach
dem oben Gesagten wohl auch nicht zu führen. Nur im Falle von
Mainzer ist es wohl als nachgewiesen zu betrachten, daß durch abnorm
gesteigerte und nicht befriedigte Libido — der Mann schlief mit seiner
Frau in einem Bette, befriedigte aber die sexuelle Erregung zur Ver-
meidung der Konzeption nicht — der Reizzustand so allmählich ge-
steigert wurde, daß er andauerte und zur 9 Tage anhaltenden Erektion
führte.
3) Als anatomisches Substrat der Erektion ist in allen
zur Autopsie in vivo oder mortuo gekommenen Fällen
eine abnorme Füllung der Corpora cavernosa nachge-
wiesen. Diese Füllung bestand bei Leukämie (Fall Käst) in einer
weißen Thrombose der Schwellkörper oder in zersetztem leukämischen
Blut (unser zweiter Fall), in den pyämischen Fällen (Rokitansky,
Demarquay) in Eitererfüllung derselben, und endlich in anderen (Fall
Kauders, Birkett, Mackie, Goebel I) in einer mehr oder weniger
ausgesprochenen Thrombose.
4) Wir haben wohl die Berechtigung, auch in den
nicht zur Autopsie in vivo oder mortuo gekommenen
592 Carl Goebel,
Fällen eine Thrombose der Corpora cavernosa anza-
nehmen. Am nächsten liegt das wohl bei dem leukämischen Pria-
pismus. Sie wird ja hier auch von den meisten Autoren (cf. oben)
zur Erklärung herangezogen und aus der bekannten Blutbeschaffenheit
derartiger Kranken hergeleitet. Viele Autoren (z. B. Weber) machen
sich die Sache aber wohl zu leicht, wenn sie als Hauptgrund für eine
Thrombose die isolierte Erektion der Corpora cavernosa penis angeben.
Henle (Handbuch der Anatomie) hält für die wesentliche Ursache
der Erektion einen tonischen Krampf des M. transversus perinei prof.
und gründet diese Vermutung auf das Verhältnis des genannten Muskels
zu den Venen der Corp. cavernosa penis et clitoridis.
„Die organischen Muskelfasern der Gefäße und der Balken der
kavernösen Körper", sagt er dortselbst (Bd. 2, p. 523), „sind bei der
Erektion beteiligt, aber nicht durch Kontraktion. Je mehr diese Muskeln
sich zusammenziehen, um so kleiner und fester werden die kavernösen
Körper; die Dehnung und Füllung der letzteren ist nur möglich durch
Erschlaffung sowohl der Gefäße als der Muskelbalken des kavernösen
Gewebes. Diese Erschlaffung ist die nächste Folge der geschlechtlichen
Erregung . . . Dadurch schwillt der Penis, aber er bleibt weich, bis
eine Ursache hinzukommt, die das angehäufte und ferner nachströmende
Blut in den Maschenräumen zurückhält und so die Hüllen der kaver-
nösen Körper spannt. Die Erschlaffung findet in allen drei kavernösen
Körpern des Gliedes gleichmäßig statt; die den Rückfluß hemmende
Ursache aber muß, da Glans und Corpus cavernos. urethrae unter allen
Umständen weich bleiben, ausschließlich auf die Corp. cavernos. penis,
oder doch in viel größerem Maßstabe auf diese, als auf das Corpus
cavernosum urethrae wirken."
Aus diesen Worten unseres großen Anatomen, die, soviel ich weiß,
nicht wiederlegt sind, folgt ohne weiteres, daß die Tatsache, daß in den
meisten Fällen des Priapismus Glans und Corpus cavernosum urethrae
weich bleiben, nur eben dem physiologischen Verhalten entspricht, und
also eher für einen dem physiologischen Vorgange der Entstehung
der Erektion analogen Prozeß bei den Priapismen spricht, als für
Thrombose !
Wir müssen also, wenn wir uns nicht mit einem einfachen Ana-
logieschluß zufriedengeben wollen, nach anderen Gründen für die An-
nahme einer Thrombose umsehen. Und das sind meines Erachtens vor
allem die enorme Schmerzhaftigkeit des Prozesses, die bei allen Fällen
mehr oder weniger hervorgehoben wird. Verschiedentlich oder meistens
sind die Kranken auch bei idiopathischem Priapismus als kachektisch
oder sonstwie in ihrer Ernährung herabgekommen geschildert. Wir
müßten in diesen Fällen also an eine marantische Thrombose denken.
Am ausgesprochensten zeigt dies der Fall von Kauders. Unser Fall
allerdings betrifft einen äußerst gesunden, blühenden Mann, aber hier
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 593
ist ja wiederum die Thrombose durch die Operation bewiesen! Vor
allem scheint mir aber für eine Thrombose das Bestehenbleiben des
Priapismus trotz Anwendung der verschiedensten Narkotica, selbst der
Narkose, zu sprechen. Dies ist jedenfalls der Hauptgrund, der für mich
gegen eine einfache Nervenreizung oder -Ueberreizung als alleinige Ur-
sache spricht.
Henle führt seine oben zitierten Darlegungen folgendermaßen weiter
aus: ^Es folgt daraus, daß wir sie (d. h. die den Rückfluß des Blutes
hemmende Ursache) nicht zu suchen haben an der Vena dorsalis penis,
die vorzugsweise Blut aus der Glans und den übrigen Abteilungen des
Corp, cav. urethrae zurückführt, sondern an den Venen, die direkt aus
den Corpora cavemosa penis stammen. Die Hauptabzugsquellen des
Blutes der Corp. cav. penis aber sind die Venae profundae, die aus der
Wurzel des Corp. cav. hervorkommen, sich seitlich von der Vena dor-
salis unter den Schambogen begeben und innerhalb des Diaphragma,
zwischen den Bündeln des M. transversus perinei hindurch zur Vena
pudenda verlaufen. Dieser Muskel kann sich nicht kontrahieren, ohne
die durch denselben rückwärts ziehenden Venen zu pressen . . . Der
M. transv. perinei prof. ist also dazu geeignet, durch tonischen Krampf
den Rückfluß des Venenblutes aus den kavernösen Körpern zu unter-
brechen und dadurch die unvollkommene Erektion, die in einer bloßen
Anschwellung ohne Erhärtung besteht, zu einer vollkommenen zu
machen. Er wird dies auch vermögen, wenn nicht alles Blut der kaver-
nösen Körper durch den M. transv. perinei prof. fließt, sondern ein Teil
desselben durch die V. dorsalis abgeleitet wird. Denn es kommt, um
die Erektion zu stände zu bringen, nicht auf absolute Hemmung des
Rückflusses, sondern nur darauf an, daß die Bahnen, durch die das Blut
zu den Venenstämmen zurückkehrt, im Verhältnis zu den zuführenden
Gefäßen erheblich beschränkt werden. Ja, es ist kaum denkbar, daß die
Hemmung des Rückflusses, wenn sie eine totale wäre, ohne Nachteil für
die Ernährung der Gewebe so lange Zeit bestehen könnte, wie die
Erektion, z. B. bei Paraplegischen, sich erhält."
Wenn wir von den anderen Ursachen der Erektion absehen —
Landois (Lehrbuch) erwähnt z. B. noch den M. ischio- und bulbo-
cavernosus, die Zusammenpressung des Ursprungs der Penisvenen, der
in den Schwellkörpern selbst liegt, durch die Härtung der letzteren, und
die Muskelbälkchen des SANTORiNischen Geflechts, die die Venenlumina
zum Teil versperren — so müßte sich also beim protrahierten Priapis-
mus eine fortdauernde Kontraktur des M. transv. perinei prof. finden.
Diese aber sollte wohl kaum einer tiefen Chloroformnarkose widerstehen !
Es spricht aber noch ein anderes Moment gegen nervöse Kontraktur
des M. transv. perinei prof., das ist die — wenigstens meistenteils —
beobachtete Nichtbehinderung der Urinentleerung bei unseren Kranken.
Denn, so sagt wiederum Henle, „der M. transv. perinei prof. ist nicht
594 Carl Ooebel,
eigentlich Sphinkter der Urethra ; wohl aber erklärt sich aus dem, wenn
man so sagen darf, zufälligen Verhältnis desselben zur Urethra, warum
während der Erektion die Harnentleerung unmöglich isf Zieht doch
^nebst den tiefen Venen der kavernösen Körper bei dem Manne die
Pars membranacea urethrae durch den M. transv. perinei prof. und wird
von den Bündeln desselben in einer Weise umfaßt, daß seine Kontraktion
nicht verfehlen kann, die Urethra zu verschließen^.
Auf andere Gründe, die eine lediglich nervöse Ursache ausschließen,
will ich hier nicht eingehen. Adams weist in seiner Dissertation die
von Salzer angenommene Hypothese einer Alteration des Nervensystems
durch das leukämische Blut mit guten Gründen zurück, auch unser Fall
von leukämischem Priapismus hat nach Anamnese und klinisch-ana-
tomischem Befund mit vervösen Einflüssen nachweisbar nichts zu tun.
Von den Fällen von idiopathischem Priapismus müssen meiner An-
sicht nach nur die von Hargis und Mainzer zu einigem Bedenken
Anlaß geben. Der erstere ist zu kurz referiert, als daß ich auf ihn näher
eingehen könnte, und ich muß zugeben, daß hier eine lediglich nervöse
Ueberreizung ohne das anatomische Substrat der Thrombose möglich
wäre. Ebenso scheint es im Fall Mainzer zu sein. Der Autor selbst
scheint nicht an eine Thrombose gedacht zu haben. Für einen tonischen.
Krampf des M. transv. perinei prof. spricht entschieden die konstatierte
Spannung der Perinealmuskulatur und des Sphincter ani ; für eine ledig-
lich nervöse Ursache die Anamnese des Kranken. Und doch möchte
ich bei der starken Schmerzhaftigkeit der Affektion und dem zirkum-
skripten Oedem der Haut des Dorsum penis die Möglichkeit einer
Thrombose nicht ausschließen.
Ich will natürlich, auch bei den anderen Fällen, nicht so verstanden
sein, als ob ich eine nervöse Ursache des Priapismus absolut negieren
wolle, auch wo er als „idiopathischer'' imponiert. Aber es scheinen mir
doch in fast allen Fällen auch andere Momente (cf. No. 5) speziell als
Ursache der langen Dauer mitzusprechen.
Als weiteren Grund für das Bestehen einer Thrombose gibt
Weber die Tatsache an, daß „in injuries and diseases of the central
nervous System, when priapism forms a clinical feature ot the case»
the erection of the penis is often only intermittent. In nervous casea
an intermittent priapism may be excited by the least recurrent Irritation^
such as movements of the bedclothes, the passage of a catheter, or
any friction to the skin of the thigh. In certain cases it is recorded
that a so-called priapism has lasted for very long periods, even years,.
but probably not without temporary intermittence and remittance
(abatement in degree) from time to time." Nun haben wir allerdings
— abgesehen von den anderen Arten des Priapismus, wo z. B. im Falle
Neidhart der leukämische Priapismus 2mal im Verlaufe der Krankheit
2—3 Wochen lang auftrat, wo in Salzers Fall auch mehrere schmerz-
Ueber idiopathischeD, protrahierten Priapismus. 595
hafte Erektionen dem Hauptanfall voraufgingen, und endlich in unserem
zweiten Falle ein chronischer intermittierender Priapismus vorlag —
unter den 10 Fällen von idiopathischem Priapismus einige, in denen
der Priapismus intermittierend resp. rezidivierend ist. So in unserem
eigenen Falle. Aber gerade hier — wenn wir wirklich auf die Anamnese
Wert legen wollen — ist gerade die Thrombose als Ursache des be-
obachteten Priapismus nachgewiesen. Weiter im Falle Mackie, aber
auch hier wies die Operation Thrombose im oben angedeuteten Sinne
nach. Endlich in Mainzers Fall. Betreffs dieses muß ich auf das
oben Gesagte verweisen.
5) Worin besteht aber nun das die Thrombose ver-
anlassende Moment?
Nach ZiEOLER (p. 147 seiner allgem. Pathologie) kommt die
Thrombusbildung zu stände durch Verlangsamung des Blut-
stromes oder andere Zirkulationsstörungen, durch lokale Ver-
änderungen der Gefäßwände und wahrscheinlich auch durch
pathologische Veränderungen des Blutes. ^Nach der Ver-
schiedenart der Bedingungen, unter denen Thrombose beim Menschen
vorkommt, müssen wir annehmen, daß bald das eine, bald das andere
Moment vornehmlich die Entstehung der Thrombose bedingt, oder daß
alle drei gleichmäßig zu ihrer Bildung beitragen können, daß dagegen
ein Moment allein zu dem Zustandekommen der Thrombose gewöhnlich
nicht genügt.**
Da wir in allen Fällen von Erektion eine Verlangsamung des
Blutstromes ohne weiteres gegeben haben, so ist ein Moment für die
Entstehung einer Thrombose also stets von vornherein vorhanden.
In den Fällen von Leukämie haben wir auch gleich ein zweites
Moment in der pathologischen Beschaffenheit des Blutes. Wir müssen
also sehr wohl zugeben, daß das dritte Moment Zieqlers hier nicht
nötig ist. Und doch scheint mir gerade hier auch manches auf lokale
Veränderungen der Gefäßwände, d. h. eine Verletzung oder Bluterguß,
wenigstens in einigen Fällen, hinzudeuten. Ich erwähne außer unserem
Fall II nur den Fall Klemme: der Patient wurde nachts durch hef-
tigen Schmerz in der Urethra geweckt, die Erektion des Penis war da ;
am folgenden Morgen Nasenbluten, Stuhl mit schwarzroten, teerartigen
Blutgerinnseln. Muß man da nicht ohne weiteres auf die Annahme
einer Hämorrhagie in den durch irgend eine Ursache während de^
Schlafs in Erektion befindlichen Schwellkörper kommen? In den aus-
gesprochen traumatischen Fällen liegt die Ursache ohne weiteres klar,
wie z. B. im zweiten Falle Vorsters, wo die Operation den die Ent-
leerung des Blutes aus dem Corpus cavernosum hindernden Bluterguß
entfernte, ebenso bei Johnson Smiths Fall. In diesen Fällen ist
aber wiederum von einer Thrombose nicht ohne weiteres gesprochen!
In einigen Fällen ist erschwerte Defäkation angeschuldigt, in einigen
596 Carl Goebel,
wenigen schließt sich der Priapismus direkt an den Coitus an. Wer
sollte da nicht an kleine Läsionen innerhalb der Schwellkörper denken ?
Es liegt doch nahe, aus den klarliegenden Fällen auf die weniger klaren
zu schließen. Und da finden wir doch recht oft einen Bluterguß und
<iie durch ihn behinderte Entleerung der Schwellkörper als unmittelbare
Ursache. Wenn Adams gegen die Annahme eines Blutergusses als
Mologisches Moment des leukämischen Priapismus den Mangel äußerer
Erscheinungen eines solchen geltend macht, so können wir dem, abge-
sehen davon, daß in unserem Fall II Andeutungen davon vorhanden
waren, nicht ohne weiteres beipflichten, denn innerhalb der Corpora
cavernosa kann sehr wohl ein Bluterguß auftreten, ohne daß die äußere
Haut affiziert ist. Hämorrhagische Diathese haben ja die meisten
Leukämiker. Daß — ich sehe von unserem Falle II hier ab — im Falle
LoNGüET, Salzer und Adams Erektionen von V2~lV2Stündiger Dauer
der länger dauernden Hauptattacke vorausgingen, spricht wohl weder
gegen einen Bluterguß, noch gegen weiße Thrombose. Adams meint,
daß ein Bluterguß in so kurzer Zeit nicht wieder aufgesaugt werden
könne. Aber könnte denn eine weiße Thrombose in so kurzer Zeit in
graue Erweichung übergehen? Ich glaube, daß diese vorhergehenden
Erektionen weder durch Bluterguß, noch durch Thrombose bedingt sind,
sondern daß diese Erektionen eher physiologisch waren, vielleicht aller-
dings schon protrahiert infolge der Klebrigkeit etc. des leukämischen
Blutes; daß nun der erigierte Penis eine Läsion erlitt, die einen sich
allmählich vergrößernden und abfahrende Gefäße komprimierenden Blut-
erguß — mag er auch noch so klein sein und noch so gering die
Ursache — verursachte, der dann wieder das zur Thrombose neigende
Blut zur Stase und konsekutiven Thrombose brachte. Sehr instruktiv
ist die Angabe Walkers, der einen schmalen harten Ring rings um
die Corp. cavern. 2" unterhalb der Eichel kurz vor Eintreten der Relaxation
fühlte. Man wird hier wohl, wie in unserem Falle II, an einen Blut-
Verguß denken dürfen.
Müssen wir nun auch in Fällen von marantischer Thrombose zu
-einem Bluterguß als Ursache derselben unsere Zuflucht nehmen?
A priori gewiß nicht. Die Erektion bedingt immer eine Stase. Und
•eine Stase allein kann bei kachektischen Individuen wiederum Throm-
bose bedingen. So ließe sich denn bei wirklich marantischen Individuen
^hne weiteres ein idiopathischer Priapismus erklären. Aber zunächst
war bei manchen dieser Kranken der Marasmus recht wenig aus-
gesprochen und andererseits: weshalb haben wir nicht mehr Fälle von
Priapismus bei marantischen Individuen, die in der Befriedigung der
Libido sexualis, ich erinnere nur an Phthisiker, selbst im letzten
Stadium, oft noch Erkleckliches leisten?
In einigen wenigen Fällen liegt endlich der Verdacht nahe, daß
Arteriosklerose in ursächlichem Zusammenhang mit einem Bluterguß
üeber idiopathischen, protrahierten Priapismus. 597
oder Thrombose der Schwellkörper, resp. Alterationen ihrer Gefäßwände
zu setzen ist. In dieser Beziehung könnte man dem Alkoholismus
gewiß eine ätiologische Wichtigkeit vindizieren. Mit Ausnahme von
drei sind alle referierten Fälle von idiopathischem Priapismus im Alter,
wo Arteriosklerose schon in Frage kommt. Dieselbe wird allerdings
nie besonders angegeben. Nur im Falle Machie ließe sich das ^taube,
ziehende Gefühl im rechten Arm und Fuß^ auf Arterienerkrankung
beziehen.
Kurzum: Das Vorkommen des Priapismus bei Blutern,
bei Leuten mit hämorrhagischer Diathese, die Beob-
achtungen der Krankheit nach Trauma, zu gleicher Zeit
mit Hämorrhagien in anderen Organen, das Entstehen
bei erschwerter Defäkation, nach Coitus bei sexuell
erregten Menschen legt den Gedanken eines ursächlichen
Blutergusses und konsekutiver Thrombose nach Behin-
derung des Blutabflusses sehr nahe.
Die Fälle von spontan oder so gut wie spontan nach Anwendung
verschiedener Medikamente zurückgehendem Priapismus sprechen ent-
schieden auch für einen Bluterguß als Ursache. Im Fall Windish
verschwand die Erektion nach 25 Tagen, im Fall Weber nach 4 Wochen,
im Fall Walker nach 21 Tagen. In dieser Zeit kann ein Bluterguß
gerade resorbiert oder bei Obliteration eines Gefäßes die Bildung von
Kollateralbahnen eingeleitet sein. Wenn wir freilich in der Anamnese
meist nähere Daten, die auf Entstehen eines Blutergusses hinweisen,
vermissen, so ist das bei einem so heiklen Leiden nicht wunderbar.
Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung der Fall Mainzers, bei dem
erst nach langem Bemühen des Arztes mit der wahren Ursache heraus-
gerückt wurde.
Endlich möchte ich noch einem Einwand begegnen, der dahin ge-
macht werden könnte, daß die Gründe, die ich für eine Thrombose als
anatomisches Substrat des Priapismus, auch des idiopathischen, ange-
führt habe, ebensogut nur für das Bestehen einer inneren Verletzung
der Schwellkörper oder eines Blutergusses sprechen. Das muß ich zu-
geben. Man könnte sogar sagen, daß die Fälle idiopathischen Priapis-
mus, die auf Medikamente, d. h. wohl spontan zurückgingen, auf Blut-
erguß ohne Thrombose, die erst operativ beseitigten oder, wie der Fall
Walker, mit Erektionsverlust einhergehenden auf Bluterguß mit kon-
sekutiver Thrombose beruhten. Aber wie soll bei einem Bluterguß
eine wirkliche Thrombose ausbleiben? Schon oben bei der Epikrise
meines Falles habe ich allerdings darauf hingewiesen, daß manches
dafür spricht, daß die Thrombose der Corpora cavernosa nicht dem
gewöhnlichen pathologisch-anatomischen Bilde einer solchen entspricht.
Dieselbe Erscheinung haben Birkett und Mackie bei ihren Incisionen
erlebt. Birkett spricht nur von einer schwarzen, dicken, blutähnlichen
Mtttdl. a. d. Gronzffebietea d. Medizin a. Chinufie. ZIII. Bd. 39
598
Carl Goebel,
Flüssigkeit, der Priapismus bestand hier aber noch nicht lange Zeit;
Mackie von einer großen Menge schwarzen, halbgeronnenen Blutes.
Wir müßten demnach dem Endothel der kavernösen Räume die Fähig-
keit zutrauen, eine feste Thrombose des Blutes lange verhindern zu
können, eine Eigenschaft, die möglicherweise auch bei der physio-
logischen Erektion eine Rolle spielt.
Jedenfalls aber folgt aus diesen Erwägungen, daß nicht, wie die
meisten Autoren annehmen, die Thrombose, sondern die Verletzung,
wahrscheinlich ein Bluterguß in die Corpora cavernosa
die primäre Ursache des idiopathischen, protrahierten
Priapismus zu sein scheint, und zwar stets, wie ich das voraus-
gesetzt habe, eine Verletzung während der Erektion, die dann wohl,
das kann man zugeben, bei Alkoholikern und sexuell erregten Indivi-
duen leichter erfolgen mag.
Zum Schluß habe ich die 10 Fälle protrahierten idiopathischen
Priapismus in einer kurzen Tabelle zusammengestellt Auf die näheren
Ersdieinungen lohnt es sich nicht einzugehen. Nur wäre die Berech-
tigung einer Incision wohl noch nachzuweisen. Dieselbe ist dreimal
gemacht In Birketts Fall läßt sich die Berechtigung nicht ohne
Fälle idiopathischen.
Na
Autor
Alter des
Kranken
(Jahre)
Beruf
Dauer
des
Pria-
pismus
Ursache
Therapie
1.
V. WlUDISH
39
Eldder-
macher
25 Tage
unbekannt
Medikamente (Blutegel,
Um8chlä«;e etc., schließL
Opium, Kampfer u. warme
Umschläge)
2.
BntKETT
44
Arbeiter
Ungefähr
14 Tage
Ck)itus
Incision auf jeder Seite des
Corp. cavem., nach einig.
Tagen wiederholt
3.
Smith
28
?
VieleTage
UeberfüUung
d. Harnblase
(Narkose, Aderläsae, Mor-
phium etc.) spont Heiig.
4.
Hakgis
28
?
?
?
Bromkalium
5.
Mackie
70
?
21 Tage
?
Ergiebiger Eioechnitt in
das rechte Corp. cavcm.,
2 " lang
6.
HlKD
55
?
6 Wochen
?
(Chloral und Chloroform-
narkose) spontane HeiJg.
7.
Walker
26
Neger
21 Tage
Nachts, ohne
Ursache
Chloroformnarkose, Kälte,
Brom , Belladonna etc.
Veratrumtinkturl
8.
Weber
46
Bäcker
4 Wochen
Morgens beim
Erwachen,
spontan
Bleiwasserumschläge, Jod-
kalium, Chinin und Eisen
etc.
9.
Mainzer
42
Weber
9 Tage
Sexuelle
üeberreizung
Warme Bäder , Opium
Belladonna
10.
Goebel
38
Schuh-
macher
Fast
8 Wochen
Coitus
Incision
Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus.
599
weiteres zugeben, da der Fall wohl noch expektativ hätte behandelt
werden können. Doch scheint, da vollständige Genesung eintrat^ ein
Schaden nicht eingetreten zu sein. Ob der „ergiebige'^ Einschnitt, den
Mackie ausführte, nötig war, scheint mir nach meiner Erfahrung auch
zweifelhaft, zumal sich dort, doch wohl infolge der Operation, noch
Fetzen abgestorbenen Zellgewebes abstießen.
Jedenfalls kommt man mit einer kleinen Incision, wie mein Fall
beweist, aus, und schadet dem Patienten sicher nichts. Die gefflrchtete
Folge, eine tiefe Narbenbildung und dadurch bedingte mangelhafte
Erektion, blieb ganz aus, wohl, weil der Schnitt ganz oberflächlicht
eben durch die Albuginea hindurch gemacht war, ohne Septen der
kavernösen Räume zu verletzen. Bei vollkommener Asepsis bleibt
denn auch konsekutive Eiterung, die das Endresultat sicher sehr modi-
fiziert, nicht zu fürchten.
Wann soll man nun incidieren ? Die Betrachtung der Fälle, welche
nach medikamentöser Behandlung heilten, ergibt, allerdings mit Aus-
nahme von HiRDs Fall, als Zeitraum der spontanen Relaxation die
3.-4. Woche nach Bestehen des Priapismus. Wir werden also so
lange, wenn nicht andere Ursachen uns dazu zwingen, mit einer In-
protrahierten PriapismuB.
Befand bei Incision
Bemerkungen
Schwarze , dicke,
blutahnl. Flüssig-
keit
Mense schwarzen,
halbgeronn. Blutes
Völlig geheilt
Vollständige Heilg.
Eoagoliertes Blut
Vollkommene Ge-
nesung
Recovery
Erektionsverlust
Keine Knoten (Skle-
rose) zurückgeblie-
ben
Anscheinend Erek-
tionsfähigkeit
Völlige Heilg. Erek-
tionsfähigkeit
Kachektisch aussäend
Kachektisch. Kaum Beschwerden beim Harn-
lassen
In baccho et venere ausschweifend. Para-
phimose und Harnverhaltung am Ende
Notorischer Säufer
Schmaler Bing um die Corp. cavem. vor der
KelaxatioD. Urin mußte mit weichem Ka-
theter entleert werden
Bleiches Aussehen. Früher Lues und Go-
norrhöe
Alkoholismus und Rheumatismus
Alkoholismus. Hämorrhoiden. Nierengries
39*
600 Carl Goebel, Ueber idiopathischen, protrahierten Priapismus.
cision zurückhalten. Nach dieser Zeit ist eine solche wohl sicher an-
gebracht.
Unser Fall von leukämischem Priapismus ist wohl der erste derart,
der operativ behandelt ist, wenn wir von dem in dieser Richtung
zweifelhaften Fall Rokitanskys absehen. Die Berechtigung des Ein-
griffs ist ohne weiteres klar. Der Effekt wird ja leider hier eine voll-
kommene Erektionsunmöglichkeit sein. Doch liegt die Ursache hierzu
ja nicht an der Operation, sondern an der Krankheit. Auch die anderen
an Leukämie leidenden Kranken haben trotz scheinbaren Intaktbleibens
des Gliedes, soweit das von den Autoren erwähnt ist, die Erektions-
möglichkeit verloren.
Literatur.
1) Englisch, Artikel Penis in Eulbnbubgs Beal-Encyklopädie. —
2) Taylor, Gauses of priapisme. Med. Bec, Jan. 7., 1899. Zit. nach
ViRCHOw-HiBSGHS Jahresbor., Bd. 34. — 3) Erb, ELrankheiten des Nerven-
systems und des Btickenmarks. v. Zibmssbns Handbuch. — 4) Lebert,
Krankheiten der Blase, v. Zibmssens Handbuch. — 5) Lonqübt, Progr^s
m6d. 1876. — 6) Vorstbr, Dtsch. Zeitschr. f. Chir., Bd. 27, p. 173. —
7) Adams, Diss. inaug. Bonn, 1894. — 8) Ward, A case of persistent
priapism. Lancet, 24. April 1897. Bef. im Centralbl. f. inn. Med., 1897,
No. 50, p. 1288. — 9) Salzbr, Berl. klin. Wochenschr., 1876, No. 11 u.
46. — 10) Elemmb, Inaug.-Diss. Marburg-Cassel, 1863. — 11) Nbidhabt,
Allgem. med. Centralztg., 1876. — 12) MATrmAS, Allgem. med. Centralztg.,
1876, beide zitiert nach Adams. — 13) Kast, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 28,
1895. — 14) BoKiTANSKT, Lehrbuch der pathologischen Anatomie, Bd. 3,
p. 407. — 15) Kaufmann, Dtsch. Chir., Bd. 50. — 16) Wbbbr, Persistent
priapism, from thrombosis of the Corpora cavernosa. Edinb. med. Joum.,
Sept. 1898. — 17) Mainzer, Dtsch. med. Wochenschr., 1903, p. 805. —
18) Scholz, Wien. med. Wochenschr., 1858, zit. nach Nbümann. — 19) Nbü-
mann, Ueber Priapismus und Cavernitis. Wien. med. Jahrb., 1882, p. 143.
Bef. in Schmidts Jahrb., Bd. 200. — 20) Booth, A case of persistent
priapism. Lancet, März 1887, p. 978. Bef. in Virchow-Hirschs Jahres-
bericht, 1887. — 21) Weise, Wien. med. Jahrb., Supl., 1840, p. 74, zit
nach Nbümann. — 22) Johnson Smith, A case of priapism lasting more
than four weeks; recovery. Lancet, 7. Juni 1873. — 23) v. Windish,
Schmidts Jahrb., Bd. 9, 1836, p. 214. — 24) Birkbtt, Case in which per-
sistent priapism was caused by extravasation of blood into the corpora
cavernosa of the penis. Lancet, 16. Febr. 1867. — 25) Jos. B. Smith,
Idiopathic priapism with a case. New Orleans Joum. of med., Jan. 1869.
Bef. in Virchow-Hirschs Jahresber., 1869. — 26) Hargis, ebenda, April
1869. — 27) Mackib, Edinb. med. Joum., Nov. 1872, p. 418. Bef. Virchow-
Hirschs Jahresber., Bd. 7, 1872. — 28) Hird, Lancet, 1873, 7. Juni. Ref.
in Virchow-Hirschs Jahresber., 1873. — 29) Walker, Americ. Joum.,
N. S. 146, April 1877, p. 565. Ref. Schmidts Jahrb., Bd. 175. — 30) Pbabody,
On persistent Priapism, not connected with Lesion of the Central Nervous
System. New York med. Journ., Vol. 31, 1880, p. 463, zit nach Wbbbr.
AÜt,^d.(hwnxffMetmd.Af0acütt^CAirt^ JOT.
(Aus dem Auguste- Viktoria-Krankenhaus vom roten Kreuz
Neu Weißensee-Berlin.)
Nachdruck verboten.
XXIIL
Lymphogene und hämatogene Eiterungen
bei Pneumonie.
Von
Dr. Artliiir Bloch,
Assistenzarzt des Krankenhauses.
(Hierzu 1 Kurvenbeilage.)
Als die durch den Diplococcus lanceolatus (Pneumococcus FrInkel-
Weichselbaum) verursachten metastatischen Eiterungen bekanntwurden,
hielt man sie anfangs alle für hämatogene. Weichselbaum (1) hat
zuerst darauf hingewiesen, daß die eiterige Meningitiden erzeugenden
Pneumokokken nicht immer auf dem Blutwege eingeschleppt werden,
sondern er teilt einige eklatante Fälle mit, wo Pneumokokken auf dem
Ljmphwege in die Meningen eingewandert waren. Seine Ansicht stützten
Ortmann und Samter (2) durch nicht minder beweiskräftige Be-
funde. Netter (3) bewies das Weiterwandern der Pneumokokken
auf dem Lymphwege von ihrem ursprünglichen Lokalisationsherd, den
Lungen, aus, ohne daß sie Eiterungen verursachten. Pfisterer (4)
erkannte zum erstenmal, daß metastatische Gelenk- und Knochen-
eiterungen bei Pneumonie wohl auch durch auf dem Lymphwege ein-
gewanderte Pneumokokken verursacht werden könnten, und führt zum
Beweis sowohl eigene Befunde als auch solche obiger Autoren an. In
meiner Inauguraldissert. (5) betonte ich, daß von Bronchien und Lungen
ausgehende eiterige Metastasen nicht immer auf dem Blutwege zu ent-
stehen brauchen, sondern daß sehr wohl eine mechanische Einschleppung
von Kokken, z. B. durch die Speichelgänge in die Parotis, oder eine
lymphogene Entstehung möglich sei. Im hiesigen Krankenhause kam
nun ein Fall zur Beobachtung, der die Möglichkeit auch multipler
eiteriger Metastasen auf dem Lymphwege bei Pneumonie sehr wohl
illustrieren kann. 7,
Der 18-jähr. Pat. M. wurde am \8. Febr. 1904 in die med. Station
des Krankenhauses (dirig. Arzt Prof. Dr. H. Wbbbr) eingeliefert.
602 Arthur Bloch,
Anamnese: Fat. gibt an, daß er tags zujiror bei der Arbeit plötzlich
mit heftigem Schüttelfrost und Stichen in der rechten Brustseite erkrankt
sei, so daß er die Arbeit niederlegen mußte. Er legte sich zu Bett, ver-
suchte jedoch am nächsten Morgen die Arbeit wieder aufzunehmen. Die
Beschwerden waren aber so stark, daß er um Aufnahme ins Ki-ankennaus
ersuchen mußte.
Fat. will früher immer gesund gewesen sein und gibt als Ursache
seiner jetzigen Erkrankung Erkältung an. Der Vater starb — nach des
Fat. und dessen Mutter übereinstimmender Angabe — an rechtsseitiger
Lungenentzündung mit folgender rechtsseitiger Eückeneiterung.
Status: Sehr kräftig gebauter junger Mann in gutem Ernährungs-
zustand; es besteht geringere subjektive, stärkere objektive Dyspnoe.
Bespirationsfrequenz 40. Der Fat. gibt prompte, ausführliche Antworten,
es fkllt jedoch eine besondere Unruhe auf: die Hände fahren ohne Ursache
über die Bettdecke, die Bewegungen sind etwas zitternd.
Der Thorax ist, entsprechend dem übrigen Körperbefund, kräftig
gebaut. Ferkussion ergibi r. h. u. eine etwa 4 fingerbreite absolute
Dämpfung; oberhalb der Dämpfung ist der Schall leicht tympanitisch ;
nach rechts reicht die Dämpfung bis zur vorderen Axillarlinie. In ihrem
Bereich ist das Atemgeräusch rein bronchial, der Stimmfremitus verstärkt.
Nur zwischen hinterer und vorderer Axillarlinie hört man leises krepi-
tierendes Bassein. Der Fat. expektoriert nicht ganz leicht, aber ziemlich
reichlich schleimig-eiteriges Sputum mit einzelnen rostfarbenen oder rein
blutigen Streifen.
Die Untersuchung des Herzens ergibt sowohl in Bezug auf Grenzen
wie Töne vollkommen normalen Befund. Der Fuls ist mäßig kräftig, gleich-
mäßig; Frequenz: 110, Temperatur 40,5. Die Zunge ist mäßig belegt
Abdomen ist weich, nirgends schmerzhaft, Leber nicht vergrößert, Milz
nicht fühlbar, aber perkutorisch wenig vergrößert. Stuhlgang und Urin ohne
Besonderheiten.
Klinische Diagnose: E^rupöse Fneumonie des rechten Unterlappens.
Beginnende Fneumonie des rechten Mittellappens.
Ordination: Mixtura solv. stibiat, Fbibssnitz scher Umschlag; trockne
Schröpfköpfe im Bereich der Dämpfung.
9. Febr. Die Dämpfung ist um einen Querfinger gestiegen. Tempe-
ratur 39,6. Fat. klagt über Schmerzen im Kreuz; beim Aufsitzen zeigt
sich eine solche Schmerzhaftigkeit und Steifigkeit in der rechten Kreus-
seite, daß die Untersuchung an dem auf der linken Seite liegenden Fat.
vorgenommen werden muß. Objektiv ist keine Ursache für die Schmerz-
haftigkeit nachzuweisen. Wegen Verdachts auf Influenzapneumonie wird
im Sputum auf Influenzabazillen gefahndet, sowie Armvenenblut bakterio-
logisch untersucht. Doch werden im Sputum nur Diplokokken mit deut-
licher Kapsel nachgewiesen, während die Untersuchung des Blutes negativ
ausfallt.
11. Febr. Auf der rechten Halsseite ist über Nacht eine ca. klein-
apfelgroße Anschwellung aufgetreten, die sich von der Umgebung nicht
scharf abhebt; Haut ist etwas glänzend, nicht gerötet. Der Tumor gibt
Zeichen deutlicher Fluktuation. Diagnose: metastatischer Halsabsceß;
Fat. wird auf die chirurgische Abteilung des E^rankenhauses (dirig. Arzt
Dr. Bode) verlegt.
Bei der von Herrn Dr. Bode am 12. Febr. ausgeführten Operation in
Aethemarkose werden 3 Incisionen gelegt; es entleeren sich etwa 100 com
hellgelben rahmigen Eiters; die Abceßhöhle erstreckt sich vor und unter
Lymphogene und hämatogene Eiterungen bei Pneumonie. 603
dem M. sternocloidomastoideus bis zur Clavicula, ist aber ohne Verbindung
mit dem Mediastinum. Jodoformgazetamponade, Verband.
13. Febr. Die Schmerzen im Kreuz bleiben dieselben, ohne daß außer
der abendlichen Temperatursteigerung von 40,0® eine Ursache ersichtlich
ist. Die Dämpfung hat sich in den abhängigen Lungenpartien etwas auf-
gehellt; ebenso ist hier wenig Knisterrasseln und vesikuläres Atmen mit
bronchialem Beiklang hörbar.
15. Eebr. Die Halswunden sezemieren reichlich. Bückenschmerzen
sind bei Lageveränderung besonders quälend. Knisterrasseln ist nunmehr
reichlich im Bereich der früheren Dämpfung hörbar, die sich jetzt aufge-
hellt hat. Auswurf ist reichlich eitrig. Husten ist mäßig reichlich; trotz-
dem bietet der Fat. in seiner passiven Bückenlage, dem fieberhaft ge-
röteten Gesicht, den etwas zitternden Bewegungen das Bild eines
Schwerkranken dar. Herztöne sind andauernd rein. Bakteriologische Blut-
untersuch ong wiederholt negativ.
19. Feb. Die schmerzhafte rechte Bückenseite ist jetzt deutlich ge-
schwollen. Die Stelle stärkster Schwellung gibt undeutliche Zeichen von
Tiefenfluktuation. Es besteht weder Hautödem nach Hautrötung. Diagnose:
Paranephritischer Absoeß.
20. Febr. Operation in Aethernarkose. Ca. 12 cm langer Schnitt,
parallel der Wirbelsäule; ünterhautbindegewebe ist unverändert. Die ober-
flächliche Eückenmuskulatur ist ödematös inflltriert; nach ihrer Durch-
schneidung ergießen sich in großem Strom ca. 400 cm hellgelben Eiters.
Von der großen Absceßhöhle zweigt sich ein etwa fingerdicker Gang nach
oben ab ; der hindurch geführte kleine Finger stößt mit der Kuppe an eine
rauhe Knochenfläche, die als Querfortsatz eines Lendenwirbels angesprochen
wird. Es folgt die Einführung eines dicken Drainrohres in den Fistel-
gang, Jodoformgazetamponade der Absceßhöhle und Verband. Bakteriolo-
gische Blutuntersuchung verläuft negativ.
26. Febr. In den nächsten Tagen bietet Fat. dasselbe Bild dar.
B^ichliche Sekretion aller Wunden, die einen täglichen Verbandwechsel
notwendig machen und abendliche Temperatursteigerung von 39,2 — 39,8 ^
Fat. ist zeitweise etwas benommen, jedoch ist das subjektive Befinden in
der übrigen Zeit ein ganz gutes.
Am 27. Febr. stellen sich nachts Schmerzen auf der Brust ein, nament-
lich in der Stemalgegend, und Fat. meint, auf das Sternum deutend, „daß
dieser Knochen ihn schmerze". Es besteht aber weder irgend welche
Schwellung oder Bötung noch eine besonders druckemfindliche Stelle
dieser Gegend.
Am 29. Febr. entwickelt sich im obersten Drittel des Stemums eine
etwa lO-Ffg.-Stück große, nicht eindrückbare Anschwellung; die Haut ist
darüber weder gerötet noch ödematös, dagegen ist diese Stelle sehr druck-
empfindlich.
Operation am 1. März in Aethernarkose: Nach Durchtrennung der
Haut sieht man das Periost durch die Anschwellung von der Unterlage
abgehoben; es wird völlig abgelöst, und man trifft auf eine Erweichung
im Sternum die aus grau-rötlichen und gelblich-eiterigen bröckeligen Gra-
nulationen besteht. Es erfolgt eine partielle Besektion des Sternums an
dieser Stelle, wobei das Mediastinum in einer Ausdehnung von 1 — 2 cm
freigelegt wird, da der Herd das Sternum in seiner ganzen Dicke durch-
setzt; aus dem Mediastinum entleert sich 'kein Eiter. — Jodoformgaze-
tamponade, Verband.
Vom weiteren Krankheitslauf w*äre hinzuzufügen, daß die Halswunden
604 Arthur Bloch,
tmd der Stemalherd sich langsam reinigen und ausgranulieren, während
die Bückenwunde reichlich Eiter entleert, der aus der Fistel stammt.
Daher am 17. März Spaltung dieses Fistelganges. Allmählich tritt in der
linken Bauchseite eine sehr druckempfindliche Resistenz auf, deren Pal-
pation eine starke Eitersekretion in den unteren Wundpol der Bückenwunde
bewirkt.
Am 25. März wird der bei Streckung des linken Beines sich stark
vorwölbende Absceß im linken H3rpochondrium eröffnet, worauf sich in
hohem Strahl eine überaus reichliche Menge Eiter entleert. — Tamponade
der sehr großen Absceßhöhle und Einführung eines dicken Drainrohrs.
Der Eiter der beiden Herde wie auch die Granulationen des Sternal-
herdes enthielten mikroskopisch nach Gram ^rbbare lanzettförmige Diplo-
kokken mit deutlicher nicht fkrbbarer Kapsel; diese läßt sich jedoch mit
verdünnter Essigsäure darstellen und wird besonders deutlich nach Färbung
des Präparates mit Gentianaviolettlösung, Entfärbung der Eiterkörperchen
durch absoluten Alkohol und Gegenftrbung mit Fuchsinlösung (A. FrInkel).
Impfung auf Fleischwassergelatine bei Zimmertemperatur und 22 ^
ergab in den ersten Tagen negatives Eesultat; nach 10 — 12 Tagen ent-
wickelten sich feine, perlschnurartig aneinandergereihte Kolonien längs des
Impfstiches ohne besonders charakteristischen Nagelkopf. Bei 37® ge-
züchtete Glycerin-Agarplattenkultur zeigt ganz feine tautröpfchenähnliche
Kolonien, die bei Iteagenzglasstrichkultur dieselbe Wachstumsform zeigen.
Eine in Milch gebrachte Kultur verursacht Gerinnung.
Mikroskopisch sind immer Diplokokken mit nicht färbbarer Kapsel
nachzuweisen. Nur aus dem Eiter des Bückenabscesses wurde neben dem
Diplococcus auch noch der Staphylococcus albus gezüchtet.
Tierversuche: Maus I wird mit 2 stecknadelkopfgroßen Kolonien (bei
88 ® gezüchtet) subkutan in der Gegend der Schwanzwurzel geimpft. Tod
nach 36 Stunden: Milz geschwollen, Augen verklebt, im Pleurasack ge-
ringes Exsudat, ebenso geringer Ascites; in der Impfstelle geringe Infil-
tration. Aus dem Blut und Exsudat werden Pneumokokken in. Beinkultur
gezüchtet.
Maus n mit ca. 3 stecknadelkopfgroßen (bei 37® gezüchteten) Ko-
lonien intraabdomineU geimpfl. Tod nach 12 Stunden. Im Abdomen eite-
riges Exsudat, Därme verklebt; aus Blut und Exsudat Pneumokokken in
Beinkultur.
Maus m intrapleural mit ca. 3 stecknadelkopfgroßen Kolonien (bei
37 • gezüchtet und 2 Tage bei 40 ® belassen) geimpft. Tod nach 4 Tagen.
Lunge der Einstichseite infiltriert, sinkt im Wasser unter; mikroskopisch
ist Pneumonie mit kleinzelliger Infiltration nachweisbar, daneben aber
erhebliche Blutung des Lungengewebes (wohl durch Einstich bewirkt),
außerdem pleuritischer Erguß, Verklebungen und beginnende Strangbildung.
Mikroskopisch im pleurit. Exsudat und Blut massenhaft Diplokokken mit
deutlicher Kapsel nachweisbar. Kultur ergibt dasselbe Besultat.
Maus IV geimpft mit 3 stecknadelkopfgroßen Kolonien (bei 37® ge-
züchtet). Tod nach 48 Stunden. Pleuritischer Erguß und Verklebungen
auf der Einstichseite; Pneumonie dieser Seite; Milz geschwollen. Aus
Erguß und Herzblut Pneumokokken in Beinkultup.
Kaninchen I subkutan geimpft mit 5 stecknadelkopfgroßen bei 38^
gezüchteten Kulturen. Tod nach 6 Tagen nach vorübergehender Tempe-
ratursteigerung. In beiden Pleurahöhlen reichliches seröses Exsudat: Milz
Lymphogene und b&matogene Eiterungen bei Pneumonie. 605
weich und geschwollen : Eeinkultur von Pneumokokken aus Blut und Pleura-
exsudat.
Kaninchen 11 mit ca. 3 stecknadelkopfgroßen, bei 37^ gezüchteten
Kolonien intrapleural geimpft. Tod nach 4 Tagen; Pleuritis mit Exsudat
und Verklebungen, sowie rechtsseitige Pneumonie des ünterlappens, die
makroskopisch und mikroskopisch nachweisbar ist; dann Milztumor, ge-
ringer Ascites; Beinkultur von Pneumokokken aus Lunge, Pleuraexsudat
und Herzblut.
Kaninchen in mit 5 stecknadelkopfgroßen Kolonien, die bei 37 ^ ge-
züchtet und bei 40® 6 Tage belassen waren, interpleural geimpft. Tod
nach 10 Tagen ; geringes pleui-itisches Exsudat auf der Einstichseite, starke
Yerklebungen und beginnende Verwachsungen ; Pneumokokken sind mikro-
skopisch nicht nachweisbar, dagegen ergibt Impfung aus Exsudat und Blut
anf Glycerinagar positives Resultat. Meerschweinchen verhalten sich re-
fraktär gegen die Infektion.
Wie aus den Kultur- und Tierversuchen zur Genüge hervorgeht,
handelte es sich bei dem Erreger der Eiterungen und des Erweichungs-
herdes im Sternura um den Diplococcus lanceolatus (Pneumo-
coccus FrInkel- Weichselbaum).
Werfen wir einen kurzen Rückblick auf den Erankheitsverlauf, so
handelt es sich um einen jungen kräftigen Mann, der an einer echten
rechtsseitigen krupösen Pneumonie erkrankt, am 4. Tage seiner Er-
krankung einen metastatischen Absceß in den Weichteilen der rechten
Halsseite erfährt, dem sich nach einigen Tagen eine Periostitis oder
Osteomyelitis eines Lendenwirbels mit rasch sich entwickelndem Senkungs-
absceß in die Rückenmuskulatur sich anschließt; die Erkrankung setzt
sich fort in einen vom Mediastinum ausgehenden Erweichungsherd im
Stemum und schließt mit dem von dem Knochenherd im Lendenwirbel
aus entstandenen nach vorn gesenkten Psoasabsceß.
Beurteilt man den Fall mit Berücksichtigung der klinischen Er-
scheinungen, der multiplen Eiterherde und der Fieberkurve, so wird man
anfangs geneigt sein, die Erkrankung für eine an die Pneumonie sich
anschließende Pyämie zu halten. Doch bestehen verschiedene Momente,
die es als sicher annehmen lassen, daß es sich um multiple Eiterungen
handelte, die sich von der rechten erkrankten Lunge aus auf dem
Lymphwege entwickelten.
Daß eine solche Unterscheidung wegen der prognostischen Bedeu-
tung von großer Wichtigkeit ist, bleibt später auszuführen.
Gehen wir auf die Gründe ein, die uns zu der seltenen Diagnose:
„Multiple lymphogene Eiterungen'' berechtigen, so ist es auf-
fallend,
1) daß alle eiterigen Herde die von der Pneumonie befallene
Seite betrafen und in nächster Umgebung der rechten Lunge sich aus-
breiteten: Der Halsabsceß reichte sogar bis zum Mediastinum und der
Senkungsabsceß der Rückenmuskulatur nahm von einem Herd unterhalb
606 Arthur Bloch,
des Zwerchfells seinen Ursprung und saß ebenfalls auf derselben Seite,
die die Pneumonie einnahm.
2) Es ist zweifellos, daß der Sternalherd vom Mediastinum aus
seinen Ursprung nahm, d. h. daß die Pneumokokken vom Medias-
tinum aus in Periost und Spongiosa einwanderten; daher verspürte
der Patient auch schon Schmerzen, bevor irgend welche objektive Sym-
ptome vorhanden waren; erst als der Prozeß das Sternum seiner ganzen
Dicke nach durchsetzt hatte und bis unter die Haut fortgeschritten war,
wurde eine Anschwellung sichtbar.
3) Im Blute wurden trotz mehrmaliger genauer bakteriologischer
Untersuchung, im Widerspruch zu der schweren Erkrankungsform, nar
einmal Pneumokokken nachgewiesen und zwar zu einer Zeit, als der
metastatische Halsabsceß und der periostitische Herd im Lendenwirbel
schon bestanden.
4) Während der ganzen Dauer der Erkrankung bestanden keine
endocarditische Symptomen.
5) Der Umstand, daß — nach übereinstimmender Angabe des Pat.
und dessen Mutter — der Vater ebenfalls an rechtsseitiger Lungenent>
Zündung mit folgender rechtsseitiger Rückeneiterung erkrankt war und
daran zu Grunde ging, ist wohl auch mehr als ein zufälliges anam-
nestisches Zusammentreffen, sondern es dürfte wohl bei unserem Pat.
eine ererbte Disposition zur Ausbreitung eitererregender Pneumokokken
auf dem Lymphwege vorhanden sein.
Vergleichen wir unsere Beweispunkte mit dem Befunde anderer
Autoren, so betont schon Pfisterer (4) bei den von ihm angeführten
Fällen die auffallende Tatsache, daß in 10 Proz. der Gelenkeiterangen
das Sternoklavikulargelenk befallen war, welches sonst äußerst selten
eiterig erkrankt, daß ferner von 7 einseitigen Lungen- und Schulter-
gelenksa£fektionen ömal die Lunge und das Schultergelenk der gleichen
Seite erkrankten. Es ist einleuchtend, daß diese auffallende Tatsache
nicht als zufällige zu betrachten ist, sondern daß vielmehr hier höchst-
wahrscheinlich nicht der Blut weg der von den Pneumokokken gewählte
war, sondern daß ein Weiterwandern in der Lymphbahn bis in die
gleichseitigen Sternoklavikular- und Schultergelenke eiterige Entzündung
dort verursachte. Betreffs des Rückenherdes der gleichen Seite wissen
wir aber auch aus den alten klassischen Untersuchungen Recklino-
HAUSENs und neuerer von KOttner (Brüns' Beitr. z. klin. Chir.,
Bd. 40), daß die perforierenden Lymphbahnen des Zwerchfells jeder Seite
ein für sich abgeschlossenes Lymphsystem bilden; also läßt sich eine
Weiterwanderung der Kokken in diesen Bahnen auch sehr wohl denken.
Für die Möglichkeit der Pneumokokkenwanderung durch die Lymph-
spalten des Mediastinalgewebes in die Weichteile des Halses und ins
Sternum gibt es mannigfache Belege: Netter (3) behauptete, bei jeder
Pneumoniesektion Pneumokokken im Peritonealraume und Mediastinal-
Lymphogene und bämatogene Eiterungen bei Pneumonie. 607
gewebe gefunden zu haben, ohne daß eine Erkrankung dieser Teile
vorlag. Ferner entstehen Empyeme ja auch durch Weiterverbreitung
per continuitatem ; Weichselbaüm (1) hat bei Pneumonie oft entzünd-
liches Oedem des Bindegewebes im Mediastinum, in den Jugular- und
Klavikulargruben gesehen und Pneumokokken darin gefunden.
Netter, Buschke (7), Gabbi und Uckmar (8) sahen Tonsillen
und Mundschleimhaut als Eingangspforten der Pneumokokken an; es
würde dann ein Zusammenhang zwischen ihrem Ansiedelungsort, den
Langen, und dieser Eingangspforte in dem Lymphwege zu suchen sein,
wie auch aus den überzeugenden Versuchen Zaüfals (9) hervorgeht
Ebenso spricht für einen solchen Zusammenhang der von Uckmar (8)
beschriebene Fall, dessen Verlauf dem unserigen ähnelt:
Bei einem jungen Manne, der an Pneumonie leidet, tritt 5 Tage nach
der Krise eine schmerzhafte Schwellung der Mundschleimhaut auf mit
zahlreichen kleinen Abscessen, auch in den Tonsillen, in welchen Pneumo-
kokken nachgewiesen werden konnten ; nach Heilung der Stomatitis begann
eine purulente Arthritis der Schulter. Der Pall verlief günstig.
Auch Weichselbaum (1) fand in einigen Fällen untrügliche Beweise
für die Weiterwanderung der Pneumokokken auf dem Lymphwege und
sah besonders viele sogenannte genuine Pneumokokkenmeningitiden
als auf diesem Wege entstanden an. So fand er einerseits bei Pneu-
monien, die ohne Komplikation verliefen, Pneumokokken in den nor-
malen oder entzündeten Oberkiefer-, Siebbein-, Keilbein-, Pauken- und
Stirnhöhlen, andererseits fand er dasselbe bei den genuinen Pneumo-
kokkenmeningitiden. Ortmann und Samter (2) schlössen sich seiner
Ansicht an, auf folgende Befunde gestützt:
Eine Frau mit Sarkom und eiterigem Ausfluß der Nase, welcher
Pneumokokken enthielt, ging plötzlich an Meningitis zu Grunde. Der In-
fektionsweg der Meningen war durch eine Eiterung gekennzeichnet, die,
vom linken Nervus olfactorius ausgehend, der Lamina cribrosa entlang
nach der orbitalen Fläche des Stimhirnes weiterging und seitlich weiter-
kriechend über die Konvexität des Scheitelhirnes sich ausbreitete.
Bekanntlich ziehen aber die Lymphbahnen der oberen Nasenhöhle
mit der Olfactoriusausbreitung zur Lamina cribrosa und kommunizieren
hier mit den Subdural- und Arachnoidalräumen.
Ein zweiter Fall betriflft ein 13j ähriges. Mädchen, welches an einer
Pneumokokkeneiterung der Gesichtshöhlen litt und an Meningitis zu
Grunde ging.
BoüLAY (10), Netter (11), Zaufal (9), Ppisterer (4) und Blecher
(12) fassen manche Meningitiden und Pneumokokkeneiterungen als
Metastasen von Otitiden auf; die Einwanderung der Pneumokokken
vom Mittelohr in die Meningen wird denn auch mehrfach als auf dem
Lymphwege geschehend gedacht.
Die Möglichkeit einer Knochenerkrankung vom Periost aus, d. h.
608 Arthur Bloch,
nach Einwanderung der Pneumokokken durch das zerstörte Periost in
die Spongiosa, illustrieren die primären Osteoperiostitiden, die von
Blecher (12), Lannelongue undÄCHARD (13), Ortmakn (2), Fischer
und Levt (4) und E. Mt^LLER beschrieben wurden. Ferner verdient
besonders der von Lexer (15) beschriebene Fall erwähnt zu werden:
Ein 9 Monate alter Knabe litt an einem Absceß des Fußes ohne
Enochenerkrankung; der Absceß wurde eröffnet, es kam jedoch zur
osteomyelitischen Erkrankung der Tibia und nach Suspension des
Beines sogar zur Anschwellung und Eiterung des Kniegelenks. Im
Eiter und später im Blut wurden Pneumokokken nachgewiesen. Es
fand sich dabei ein großes Loch im Periost, durch das die Pneumo-
kokken offenbar in die Spongiosa eingewandert waren, um sich von da
aus weiterzuverbreiten. «
Der bakteriologische Blutbefund war in unserem Falle mehrere
Male negativ, dagegen fanden sich für kurze Zeit Pneumokokken, als
schon zwei metastatische Herde bestanden. Bekanntlich treten in vielen
schweren Fällen von Pneumonie die Pneumokokken ins Blut über,
daher ist bei der Schwere der von uns besprochenen Erkrankung der
negative Ausfall der Blutuntersuchung auffallend und wohl durch die
bevorzugte Ausbreitung auf dem Lymphwege zu erklären. Denn nach
CoHN und A. Fränkel (16) müßte ein Uebergang immer dann er-
folgen, wenn Metastasen entstehen oder Exitus letalis erfolgt ; v. Le yden
(16) hält ebenfalls den parasitären Blutbefund bei schweren Erkran-
kungen dieser Art für gegeben; Sello (17) fand sogar bei 48 Blut-
untersuchungen von Pneumonikern (ohne Komplikationen oder letalen
Ausgang) 12mal positives Resultat, Casati (18) schließlich behauptet,
daß vom 2. Tag an bei jeder Pneumonie Kokken im Blut zirkulieren.
Jedenfalls kreisen in vielen Fällen die Pneumokokken im Blut,
ohne Komplikationen zu schaffen; es muß also eine prädisponierende
Ursache entweder im Gesamtorganismus oder in den einzelnen Organen
— namentlich in den Knochen und Gelenken — vorhanden sein, die
die Kokken veranlassen, ihre eitererregende Wirksamkeit auszuüben.
Das erstere Moment betont Pio FoX (19) bei Individuen, die kurz
vorher eine andere Infektionskrankheit überstanden haben oder von
einer solchen noch nicht ganz geheilt sind: es gibt sich dann die
Schwäche des Organismus durch schnellere Verbreitung der Pneumo-
kokken im Blut kund, und es entstehen infolgedessen die sekundär
nach der Pneumonie oder mit dieser kompliziert auftretenden Lokali-
sationen, unter denen die hauptsächlichste Cerebrospinalmeningitis ist.
Nach Lexer (15), Pfisterer (4) bietet ferner der jugendliche Or-
ganismus in den Bezirken der Wachstumszonen bevorzugte Stellen zur
Ablagerung der Pneumokokken dar, ebenso wie Jordan (20) die Prä-
disposition des wachsenden Knochens zur Lokalisierung des im Blut
kreisenden Mikroorganismus betont und Kraske ja schon vor 17 Jahren
Lymphogene und hämatogene Eiterungen bei Pneumonie. 609
auf dem Chinirgenkongreß die Ueberzeugung aussprach, daß sich bei
späteren Untersuchungen überhaupt jeder Mikroorganismus, der pyogene
Eigenschaft besitze, als fähig erweisen würde, für sich allein im jugend-
lichen Organismus eine Osteomyelitisform herbeizuführen. Daher be-
ziehen sich auch Lannelongues (13) Fälle auf ein Alter von 47^, 17
und 21 Monaten, die von Fischer und Levt (19) auf ein solches von
7 und 15 Monaten, der Fall von Lexer auf ein 9 Monate altes Kind.
Perutz (21) betont, daß außer den von Ullmann, Hauser und Letden
erwähnten Fällen keiner das 2. Jahr überschritten hätte.
Es kann ferner die Disposition angeboren oder ererbt sein.
Nicht anders ist der von Delestig (29) beschriebene Fall zu deuten:
Eine Schwangere im 7. Monat erkrankt an Hemiplegie und stirbt
kurz darauf nach eingetretener Frühgeburt. Die Autopsie ergibt doppelt-
seitige Pleuropneumonie und Meningitis purulenta. Das Kind stirbt am
3. Tage.
Autopsie: Pneumonie des linken Unterlappens, Meningitis; — aus
dem Herzblut, den Lungen, dem Meningealeiter der Mutter und des
Kindes werden Pneumokokken gezüchtet.
Einen ähnlichen Fall schildert Levt.
Ferner spricht für eine angeborene Disposition das häufige Vor-
kommen wiederholter Pneumonien im Kindesalter, Aufrecht (23);
ebenso hat Billaud (24) unter 17 Kindern, welche im Zustand von
Schwäche und Abmagerung zur Welt kamen, 6mal Pneumonie gefunden.
Außer diesen vom Gesamtorganismus geschaffenen Dispositionen
können nun auch lokale Verhältnisse vorliegen — besonders in den
Knochen und Gelenken -— die die Pneumokokken zu einer eiter-
erregenden Wirksamkeit veranlassen. Die Hauptrolle spielt hier, be-
sonders bei Erwachsenen, das Trauma. Unter 4 Fällen von Knochen-
erkrankung bei Pneumonie bezeichnet Pfisterer 3mal Trauma als
Gelegenheitsursache. Interessant ist in dieser Beziehung ein von
Netter (9) geschilderter Fall: Ein Alkoholiker stürzt die Treppe
herunter und erleidet eine subkutane Splitterfraktur der linken Darm-
beinschaufel und der 9. Rippe links; nach 6 Tagen entsteht eine
schwere Pneumonie und starke Eiterung der Frakturstelle ; nach weiteren
5 Tagen erfolgt Exitus letalis. Bei der Autopsie fand man graue
Hepatisation des Unterlappens und subkutane Eiterung des frakturier-
ten Knochens, aus dessen Eiter sich, ebenso wie aus der erkrankten
Lunge, Pneumokokken züchten ließen.
Einen ähnlichen Fall veröflFentlichten Fischer und Levy (14) ; hier
entstand nach Fall auf die rechte Schulter bei Pneumonie eine Osteo-
periostitis der rechten Scapula mit Pneumokokkenbefund. Daß selbst
kleinste Traumen zu Eiterungen führen können, beweist Zuber, der bei
subkutanen KoflFeininjektionen bei Pneumonie an den Einstichstellen
kleine Abscesse sah, aus denen sich Pneumokokken züchten ließen.
610 Arthur Bloch
Außer Trauma disponiert jede vorausgegangene oder momentane
Veränderung (Ppisterer) — besonders Gelenkrheumatismus
und Gicht — zur eiterigen Diplokokkenerkrankung des Gelenks.
Pfisterer (4) wies auch 6mai Gicht oder Gelenkrheumatismus als
Gelegenheitsursache späterer eiteriger Pneumokokkenarthritiden nach. —
WiDAL (25) fand bei einem Fall von Pneumokokkenpericarditis im
GroBzehengelenke neben eiteriger Erkrankung Uratablagerungen.
Haben die Pneumokokken ihre Fähigkeit, Eiterung zu erregen,
einmal im Körper betätigt, so behalten sie diese ihre Wirksamkeit bei ;
es kommt dann zu den die einfachen eiterigen Pneumokokkenerkrankungen
so schwer komplizierenden Meningitiden, Endokarditiden, Perikarditiden
etc. Dann entsteht also die echte Form der Pneumokokken py am ie,
sei es daß die Kokken auf dem Blutwege, dem Lymphwege oder
auch nach mechanischer Einwanderung durch eine Hautwunde zor
pyogenen Wirksamkeit in ein Organ gelangt waren. So zu erklären ist
auch seiner Entwickelung nach der von Netter (26) beschriebene FaU :
Ein junger Mann, Radfahrer, erkrankt nach einer großen Anstren-
gung an Pneumonie; zu gleicher Zeit entstand ein Pneumokokkenabsceß
an einer Stelle des Unterschenkels, an der ein kleines Angiom bestand,
welches durch den Beruf des Patienten mancherlei Schädlichkeiten aus-
gesetzt war; einige Tage darauf entwickelte sich eine Endocarditis. —
Weichselbaum (1) sah unter 7 Pneumokokkenendokarditiden 4 mit
Meningitis kompliziert; zweimal konnte er als primären Herd die Menin-
gitis nachweisen, die auf dem Lymphwege entstanden war; in den 2
übrigen Fällen ließ sich nicht entscheiden, welches der primäre Herd
war. Bei den 3 Endokarditiden ohne Meningitis schließlich ließ sich
die Eingangspforte* für die Pneumokokken nicht eruieren.
Wie bei jeder anderen septischen Infektion, so kann auch bei einer
Pneumokokkenpyämie sich eine pyämische Pneumonie entwickeln. So
berichtet Hentschel (27) über einen Fall von tödlich verlaufener Pneu-
monie im Anschluß an eine durch Pneumokokken entstandene Pseudovagi-
nitis des Zeigefingers, Heddäus (28) über einen Fall von metastatischer
Pneumonie nach Pneumokokkenstrumitis, Bouloche (29) schließlich
über eine Pneumonie durch Gelenk- und Muskelabscesse, in denen sich
Pneumokokken fanden. Doch ist diese Form der Pneumonie ihrer
Entstehungsweise dem klinischen Verlauf und der Prognose nach wohl
zu unterscheiden von der ebenfalls durch die Pneumokokken erzeugten
primären Pneumonie; es ist daher nicht angängig, die Ent-
stehungsweise jener sekundären Pneumonie als Beweis
anzuführen, für die in neuerer Zeit vielfach aufgestellte
Behauptung, daß im Blut kreisende Pneumokokken durch
ihr Eindringen in die Lungen die echte kmpOse Pneumonie
erzeugten.
Es bleibt noch übrig, die Prognose der Pneumokokkenerkrankungen
Lymphogene und hämatogene Eiterungen bei Pneumonie. 611
zu besprechen. Die lymphogenen Metastasen bei Pneumonie sind, so-
lange sie nicht lebenswichtige Organe betreffen und sofern sie einer so-
fortigen operativen Behandlung zugängig sind, prognostisch gün-
stig; bei den hämatogenen Metastasen ist die Prognose eine zwei-
felhafte, weil hier die Gefahr einer sekundären Pyämie größer ist,
und diese selbst eine durchaus ungünstige Prognose bietet. In un-
serem Fall sind trotz der Multiplizität der Eiterungen die Halsabscesse
und der Sternalherd ausgeheilt; die Prognose ist nur durch den Umstand
getrübt, daß dem Wirbelherd bisher operativ nicht beizukommen war.
Pfisterbrs Gesamtstatistik bietet wegen der Ueberzahl hämato-
gener Metastasen eine nicht günstige Prognose:
Von 31 Arthritiden erfolgte Exitus 17mal,
„ 13 Ostitiden „ „ 6 ^
Doch fanden sich bei diesen 23 Todesfällen
4mal schwere Pneumonie,
4 „ Empyem,
6 „ Meningitis,
3 ,, Endocarditis.
Also, es muß wiederholt werden, daß die lymphogenen Metastasen
wegen der geringeren Gefahr einer allgemeinen Pyämie noch die besten
Prognosen aller metastatischen Pneumokokkenerkrankungen liefern.
Resümieren wir daher zum Schluß:
Bei Pneumonie können Pneumokokkenmetastasen zustande kommen
A. auf dem Lymphwege: Eine besondere Disposition dazu
braucht nicht vorzuliegen, und es kann sogar zu multiplen, lympho-
genen Eiterungen kommen.
Die Prognose ist günstig, sobald
1) die Erkrankung keine lebenswichtigen Organe betrifft,
2) eine sofortige radikale operative Behandlung möglich ist,
3) keine echte Pneumokokkenpyämie sich anschließt (deren Gefahr
aber hier gering ist),
B. auf dem Blutwege: Zu ihrem Zustandekommen muß vor-
liegen :
1) eine allgemeine Disposition, die geschaffen sein kann durch
a) die Regionen der Wachstumszonen im jugendlichen Körper,
ß) eine überstandene Infektionskrankheit,
y) angeborene Disposition,
2) eine lokale Disposition (namentlich der Knochen und Ge-
lenke), die geschaffen sein kann durch
a) Trauma,
ß) Gelenkrheumatismus,
y) Gicht.
Die Prognose ist wegen der großen Gefahr eintretender sekundärer
Pyämie zweifelhaft.
612 Arthur Bloch,
Nachtrag.
Die zum Zwecke der VeröflFentlichung vorher abgeschlossene Kran-
kengeschichte zeigte noch die Rückenwunden und die Fistel des Psoas-
abscesses in reichlicher Sekretion, den Patienten stark abgemagert und
sehr elend.
Es ist nunmehr zur Krankengeschichte noch nachzutragen, daß
mittlerweile der Herd im Sternum völlig ausgeheilt ist. Ferner gelang
es schließlich, durch ausgiebige Tamponade der Rückenwunde dem osteo-
myelitischen Herde des Lendenwirbels beizukommen und die schmutzigen
Granulationen des rauhen Knochens mit dem scharfen Lö£fel auszu-
kratzen. Die Sekretion nahm hierauf rasch ab, die weite Fistel ver-
kleinerte sich allmählich und der Patient erholte sich sichtlich.
Vor 3 Tagen, am 27. Juli, konnte M. in vorzüglichem Ernährungs-
zustande nahezu geheilt entlassen werden. An der Stelle der früheren
Rückenwunde bestand nur noch eine etwa 2 cm tiefe Fistel, die gut
granulierte, ferner im linken Hypochondrium eine etwas tiefergehende
Fistel, die ebenfalls sehr wenig sezernierte.
Der trotz der langdauernden schweren multiplen Eiterungen so
günstige Verlauf der Erkrankung stützt die von mir behauptete gün-
stige Prognose derartiger — wenn auch multipler — lympho-
geuer Pneumokokkenmetastasen.
Es bleibt mir noch die angenehme Pflicht, meinen hochverehrten
Chefs, Herrn Prof. Dr. Weber und Herrn Dr. Bode für die Anregung
zu dieser Arbeit und das Interesse zu danken, das sie ihr entgegen-
brachten.
Literatur.
1) Wbichselbaum, Ueber seltene Lokalisation des pneumonischen Virus.
Wien. klin. Wochenschr., 1888.
2) Obtmann u. Samter, Beiträge zur Lokalisation des Diploc. pneumon.
ViRCHOws Arch., Bd. 120.
3) Netter, Fröqaence relative des aflFections k pneumococques. Compt
rend. de 1a soc. de Biolog., 1890.
4) Pfisterbr, Ueber Pneumokokken-Gelenk- und Knocheneiterungen. Jahrb.
f. Kinderheilkd., N. F., Bd. 55, 1902, p. 417.
5) Bloch, Metastatische Eiterungen als Folge von Bronchialerkrankungen.
Inaug.-Diss. München, 1903.
6) Netter, Un cas d'infection pneumoc. g6n6ralis6e avec endocardite.
Extr. des Bull., 1894.
7) BuscHKB, Tonsillen als Eingangspforten eitereixegender Mikroorga-
nismen. Dtsch. Zeitschr. f. Chir., 1894.
8) UcKMAR, Sur une forme special de stomatite etc. Sem. m^d., 1891.
9) Zaufal, zit. nach Pfistbrer (4).
10) BouLAY, zit. nach Pfisterer (4).
Lymphogene und hämatogene Eiterungen bei Pneumonie. 613
11) Nbttas et Mariaob, Notes sur deux cas de suppurations osseuses k la
suite de fractures non compliqu^s. Compt. rend., 1890.
12) Blbchbr, Zur Kasuistik der Pneumococcusosteomyelitis. Zeitschr. f.
Chir., 1890.
13) Lannblongue u. Achard, zit. nach Pfistbrbb (4).
14) FiscHBR u. Lbyy, Bakteriologische Befunde bei Osteomyelitis und
Periostitis. Zeitechr. f. Chir., 1893.
15) Lbxbr, Aetiologie und Mikroorganismen der akuten Osteomyelitis.
Samml. kHn. Vortr., N. F. Bd. 173, 1897.
16) CoHN, Bakteriologische Blutuntersuchung, insbesondere bei Pneu-
monie. Berl. klin. Wochenschr., 1896, No. 50, p. 1124.
17) Sbllo, sit. nach Pfistbrer (4).
18) Casati, Sulla presenza dei Diplococchi etc. Zit nach Baumgabtbn u.
EoLOFF, Jahresber. v. 1893, p. 48.
19) Pio FoA, lieber die Infektion durch den Diplococcus lanceolatus.
Zeitschr. f. Hyg., Bd. 15, p. 369. — üeber Bakterienbefunde bei
Meningitis cerebrospinalis und ihre Beziehungen zur Pneumonie.
Ebenda, 1886, No. 75, p. 249.
20) Jordan, Beitr. z. klin. Chir., Bd. 10, Heft 3.
21) Pbrutz, Zur Kasuistik der durch Pneumokokken bedingten akut-eite-
rigen Osteomyelitis. Münch. med. Wochenschr., 1898.
22) DäLäSTRE, Infect intrauterine par le pneumococque. B.ef. Sem. m6d.,
1898.
23) Aufrecht, Die LungenentztLndungen, p. 54.
24) BiLLAUD, Malad, des noaveaux-n^s. Zit nach Aufrecht (23), p. 54.
25) WiDAL, Arthrite tarso-phalang. k pneumoc. et p^ricardite de m^me
nature. Gaz. hebd. de m6d., 1896.
26) Nbttbe, zit nach Pfistbrer (4).
27) Hbntschel, Festschr. f. Benno Schmidt, Leipzig 1896. Zit. nach
Lbxer (15).
28) Hbddäus, Manch, med. Wochenschr., 1896, No. 21. Zit. nach Lexbr (15).
29) BouLocHB, Arch. de m^d. expörim. Zit nach Lbxer (15).
Glitten. ». d. OnmiceMetaD d. Mediito u. Chirarcia. XIll^ Bd. 40
Aus der chirnrgischen Abteilnng
des Krankenhauses Moabit -Berlin (6eh.-Rat Prof. Dr. SoKKfiNBüRa).
Diphtheriestation: Oberarzt Dr. Hermeb.
Nachdruck Terboteii.
XXIV.
Erfahrimgen über Serumbehandlung
der Diphtherie.
Von
Dr. Max Gohn,
Assistenzarzt.
(Hierzu 5 Kurven im Texte.)
Zehn Jahre sind ins Land gegangen, seitdem das Diphtherieheflserum
der Oeffentlichkeit übergeben worden ist. Seine Anwendung ist nicht
wie die anderer Sera auf vereinzelte klinische Institute beschränkt ge-
blieben ; das Diphtherieserum hat eine allgemeine Verbreitung und fast
auch allgemeine Anerkennung gefunden. Eine gewisse Opposition ist
indes nie verstummt. Zuerst wandten sich die Skeptiker gegen den
schrankenlosen Enthusiasmus, der sich in den Berichten der ersten
Monate und Jahre kundgab und in einem schier endlosen Strom von
Veröffentlichungen die medizinische Literatur bereicherte. Darauf be-
schäftigte sich die Kritik ebenso eingehend wie einseitig mit dem neuen
Gebiete der Heilkunde, der praktischen Serumanwendung. Hatten doch
die Gegner ein leichtes Spiel; denn alle neuen Sera, so schön sie sich
in der Theorie auch ausnahmen, gingen den Weg des schon vor dem
Diphtherieheilserum so enthusiastisch begrtlßten und später so viel ge-
schmähten Tuberkulins. Bei diesem Widerstreit der Meinungen müssen
wir uns fragen: Wie kommt es, daß die medizinische Welt sich über
den Wert eines Mittels in zehn Jahren nicht völlig klar geworden ist,
das fast allgemein angewendet wird und dem Volke und dem Gemein-
wesen große Kosten auferlegt hat? Die Diphtherie ist als Volksseuche
eine sehr schwer zu beurteilende Krankheit; ihr Auftreten, ihr Verlauf,
ihre Häufigkeit, ihre Bösartigkeit ist stets so ungleichmäßig gewesen,
daß die gewonnenen statistischen Resultate oft sehr variiert haben. Dazu
kommt, daß seit Einführung der Serumtherapie der bakteriologischen
Untersuchung der Diphtherie ein viel größeres Feld zugewiesen wurde
als früher. Es war klar, daß die Wirkung des Heilserums an das
Vorhandensein von Toxinen gebunden war, die von den Diphtherie-
Max Cohn, Erfahrungen üW Semmbeliandiung der l)iphtlierie. 6l5
badllen und nnr von diesen produziert wurden. Nun war man sich
schon vor Behrings Entdeckung darüber einig, daß das vielgestaltige
Krankheitsbild der Diphtherie durch den LöFFLERschen Bacillus her-
vorgerufen wurde. Es fehlte aber fOr den Praktiker sowie die meisten
Krankenanstalten das innere Bedflrfois, immer und immer wieder, von
Fall zu Fall, die Spezifität der Diphtherie nachzuweisen. Mit der Ein-
führung des Serums war dieses Moment gegeben, wollte man streng
sachlich in der Wertung des Heilerfolges vorgehen. Darum können
nur Zahlen statistischen Wert beanspruchen, die unter demselben ein-
heitlichen Gesichtspunkt gewonnen wurden. Auch jetzt noch gibt es
zahlreiche Diphtheriestationen, wo der klinische Befund ohne bakterio-
logische Untersuchung die Norm fflr die Diagnose abgibt; die dadurch
erhaltenen Zahlen können weder mit den früher gewonnenen verglichen
werden — denn der Serumtherapeut wird auch zweifelhafte Fftlle
spritzen und seinen DiphtheriefUlen zuzahlen — noch können sie Re-
sultaten gegenübergestellt werden, die auf Grund der bakteriologischen
Untersuchung gewonnen wurden. Aber auch ein Drittes ist nicht mög-
lich: Die Resultate beider Kategorien von Anstalten können als Sammel-
statistik nicht den Verhältnissen der Vorserumzeit entgegengehalten
werden. So sind zwar dem medizinischen Forum von Behring,
SiEOERT u. a. sehr große Zahlenreihen vor Augen geführt worden, die
fOr die Beurteilung der Diphtheriefrage sicherlich von Wert gewesen
sind. Allein sie sind von den verschiedensten Bedingungen und aus
den verschiedensten Orten gesammelt. Die Resultate haben nur als
Zahlen Beweiskraft; es geht ihnen der innere Wert ab, den einheitliche,
jahrelange Beobachtungen eines großen Krankenmaterials gewinnen. Aus
diesem Grunde flbergebe ich die vorliegende Arbeit der Oeffentlichkeit
auf die Gefahr hin, daß ich die vielen als gelöst geltende Diphtherie-
frage von neuem aufrolle und vielleicht vielen nichts Neues sagen werde.
Im Krankenhause Moabit ist das BBHRiKOsche Serum bereits im
Jahre 1893/94 sporadisch angewendet worden. Seit dem 1. Nov. 1894
ist jeder auf die Diphtherieabteilung aufgenommene Fall mit Heilserum
gespritzt worden. Wir besitzen keine Aufinahmestation f&r Infektions-
krankheiten; daher kommen viele zweifelhafte DiphtherieflQle auf die Ab-
teilung, die sich bei klinischer Beobachtung und bakteriologischer Unter-
suchung als Nichtdiphtherien herausstellten. Ich habe meiner Zusammen-
stellung, sicher zu Ungunsten der Mortalitfitsstatistik , nur die bak-
teriologisch sicheren Fälle supponiert, da nur diese Aber den Wert
des Serums entscheiden können. Ich will nicht verschweigen, daß die
Zahl der Aufiiahme-Fehldiagnosen, die sich feist nur auf den lokalen
Befund oder das Zeugnis des ins Krankenhaus schickenden Arztes
gründeten, eine ziemlich große war und sein mußte; denn, wie die
klinische Beobachtung der Diphtherie zeigt, läßt sich die spezifische
Erkrankung in den ersten Tagen häufig nicht von der nichtspezifischen
40*
616 Max Cohn,
unterscheiden. Zwei Anginen können sich bei der ersten klinischen Unter-
suchung vollständig gleichen, und trotzdem zeigt die eine eine Rein-
kultur von Diphtheriebacillen, die andere nur Saprophyten. Ich will
nicht auf die hieraus resultierende Streitfrage, die Spezifität der Diph-
therie, näher eingehen, denn sie hat fQr diese Arbeit keine größere Be-
deutung. Jedenfalls kann ich die Bemerkung Baginskis in seiner Mono-
graphie, daß in seinem Krankenhaus so gut wie keine Fehldiagnosen
vorkamen, nur so auffassen, daß die Kranken zur Feststellung der
sicheren Diagnose erst einer Untersuchungsstation überwiesen und, je
nach dem Ausfalle der bakteriologischen Untersuchung, der Diphtherie-
baracke zugeführt wurden. Ich habe meiner Arbeit die ersten 1000
klinisch-bakteriologischen Diphtherien zu Grunde gelegt; diese wurden
zwischen 1. Nov. 1894 und 23. August 1900 auf dem Pavillon beobachtet.
Eine strenge Einteilung bei der Aufnahme nach leichten, schweren und
schwersten Fällen, wie sie von vielen Autoren beliebt wurde, ist außer
Acht gelassen worden, da diese Registrierung meines Erachtens eine
ziemlich willkürliche ist. Die Diphtherie ist eine zu wechselvolle und
prognostisch unsichere Krankheit, als daß der Maßstab der Prognose
für die Beurteilung des Serums von einschneidender Bedeutung sein
könnte. Außerdem ist der Vorhersage schon Rechnung getragen durch
die Dosierung des Heilserums, die zwischen weiten Grenzen schwankte.
In den ersten Jahren überwogen die kleinen Dosen, in den folgenden
wurden die vorher großen Dosen zu den Normalwerten. Im allgemeinen
kann man sagen, daß die leichten Fälle mit 1000 I.E., die mittleren
mit 2000, die schweren mit 3000 — 5000 I.E. gespritzt wurden.
Seit der Einführung des Diphtherieserums ist eine geraume Spanne
Zeit verflossen : Wir hatten reichlich Gelegenheit, das klinische Bild der
Diphtherie zu studieren und glauben nun auf Grund dieser Beobach-
tungen berechtigt zu sein, ein Urteil zu fällen, wie sich die Verhältnisse
während der Serumzeit gestaltet und worin sie sich gegen früher ver-
ändert haben. Daraufhin werden wir uns schlüssig werden können, ob
dieser Wechsel auf unsere Behandlung oder andere Faktoren zurück-
zuführen ist Gehen wir von der Beobachtung aus, daß sich uns die
Fälle bei der Aufnahme als leichte, mittelschwere und schwere Typen
repräsentieren, so ist es bemerkenswert, daß sich aus einem leichten
Fall nur sehr selten ein schwerer entwickelt hat. Um so öfter sahen
wir es, daß ein schwerkrank aussehendes Kind in kaum einem Tage sich
zu einem Wesen veränderte, von dem man kaum glaubte, daß es krank
gewesen sei. Wenn Rose aus den Schreckenszeiten von Bethanien
schreibt : ^Ich habe Croupkinder mit höchster Laryngostenose so munter
spielen sehen, daß sich erfahrene Aerzte in der Diagnose dadurch haben
täuschen lassen. Trotz glatter Operation waren sie 24 Stunden später
schon tot an Group descendant!^, so kann ich nur sagen, daß zur Zeit
der Serumperiode solche Fälle nicht zur Beobachtung gelangt sind.
Erfahrungen über Serumbehandlung der Diphtherie. 617
Wenn ich .die Aufzeichnungen über, das reiche Material uoßeres
Krankenhauses durchmustere, so erscheint mir zunächst der Einwand,
daß das Krankheitsbild „Diphtherie** eine solche Verschiebung vor und
während der Serumperiode durchgemacht habe, daß von einem Ver-
gleich nicht die Rede sein könne, verfehlt. Die Krankheit ist dieselbe
geblieben; aber die Gruppierung der Fälle ist eine andere geworden.
Früher kamen nur immer wieder die schweren Fälle zur Beobachtung,
die in wenigen Tagen letal verliefen. Jetzt sehen wir, wenn wir
die Befunde bei der Aufnahme ins Auge fassen, sämtliche
Stadien der Diphtherie, wie sie vor Einführung der spezifischen Therapie
bei demselben Kinde während des Spitalaufenthaltes zu beobachten
waren. Jetzt ist der Verlauf der Krankheit im Krankenhause ein an-
derer geworden, und das ist das entscheidende Merkmal, weshalb wir
nicht schlechtweg von einem leichteren Charakter der Epidemie reden
können. Es ist in höchstem Grade auffallend, daß wir in vielen Hun-
derten von Fällen auf der Abteilung keine akuten Verschlimmerungen
— ich zähle dazu nicht die Späterscheinungen der Diphtherie —
gesehen haben. Die Prognose, die wir bei der Aufoahme günstig'
stellten, änderte sich nicht zum Schlechten; oft genasen anfangs fast
hoffnungslose Patienten. Kurz, wir konnten nicht mehr den „tückischen"
Verlauf von früher beobachten, wo ein Kind als leichtkrank auf die Ab-
teilung kam und binnen wenigen Tagen den toxischen Allgemeinerschei-
nungen oder dem Fortschreiten des lokalen Prozesses erlag. Diesem Ver-
halten entsprechend, war es möglich, Typen der Krankheit gesondert
aufzustellen. Bei der allgemeinen Betrachtung des Krankheitsverlaufes
schienen uns zwei Punkte hervorragende Wichtigkeit zu haben:
1) die Beurteilung, ob die diphtherische Infektion
bis zur Aufnahme ins Krankenhaus schon zu einer All-
gemeinvergiftung des Organismus geführt hatte, und
2) ob der lokale Krankheitsprozeß das Bestreben
hatte, rasch zu descendieren.
Ich kann mich kaum zu dem Glauben entschließen, daß die Eltern
ihre Kinder jetzt lieber und früher ins Krankenhaus* brächten als ehe-
dem, und meine, daß die Heilwirkung des Diphtherieserums während
der Beobachtungszeit von den beiden genannten Faktoren abhängig
war und bei Aenderungen im Charakter der Epidemie auch abhängig
bleiben wird.
Behring sagt in seiner „Geschichte der Diphtherie", daß ihm die
individuelle Statistik die beste scheine. Der eine ordnet sein Material
nach diesen, der andere nach jenen Gesichtspunkten. Der Kritiker
wird stets Mängel entdecken. Willkürliche Zusammenstellungen von
Zahlen aus Arbeiten anderer haben wenig Nutzen für die Klärung der
Diphtherieserumfrage gebracht. Ich habe das Material des Kranken-
hauses Moabit nach den verschiedensten Richtungen untersucht, um
o
(
»8
«n S
5
Max
Gohn,
g[ 8 fS
S £^
i"
-^_ » _
X[I "^-L, ^^
: , ^^3
H"1"t _Lji- "i
P-'
!
s
(
ki
tr
■ . Nv'k
iCi ^^ '^ 1
'
^
■ ^Ji*'— --^* -1
^ ^M mm
^«
-^ 1
»
».
SS
lb:
^r!i-;-^.<i
^^
1.
p4
^'-^^ .
^ ^
1« ■
^J*
^ '
h<
j Lm ■
^ !
^'^^1 _||_^
s
^
t: ^^^-:
* f^M
->*^
7
1
&
o
; ^'
* >__1_ _ L— -
»rf*
>
1
- ^ r _L
S-' ■ ^ -
^ 2t — p^^
j
8
J ^ IZ ZL4 * 1 - ►
L-"
^
■j
*. ;
^^^^T^^ 1
0
- G^li
*4j 1 1 j
&
^"
üZfi
1
'" m 3¥* ^
i \ i
rt -. ü«, ,,,, '
11
1
1 *1
.+::■{.-."- v.l.-- i
T^^ X
-^ ^ fln
NJ
■|--r-|*j.".r ::=.»>
s
g>
■'"4*'
-^
P
' "-L, -j'- -""
^ ^
1 s
"3' ^
, ^_J^t i
-^ '
j
^*
,
k-
l:|-
1 '^ 1
,
f
5 !"""•"'"':
-.1-
>■
- S< 1 '
1 ^„^^£l!
-*--i
^-
<
hl
V \
'."Z^^
_ 3^^-:
•■ -<>• !>■_.._ .,
Ä ■* L4
T _ ^
^
^-
,4 -
H.--.
JL,, -t,>-ü..u>
ä=.L^^y^:=! g
ST
-^
—
- J*5Bi*-.^
J -1 l- - ' -
^ ^
ft
,,<rT
. _J_ ^, ^-.-
S
n
- ' -^i"-
-^ ' u
>-
-^^^L
■-.wf ■
0
1
K >
>t
f ,
-— 33l4
n ^
1 ^ '
M
r'i
'Ti
: X^--H
TT :
J J
1
_tTjs£S
ix
J 1 1
,_±:;^-^
3^ ^^^
g ,
*^
hj;
■: -L
ijii^
'1
a
II
■KE-r^r:
■••:;
",
:;|m MMk
1 N-
1 1 W'^
,, .,:ip!'»>"^«j;
:^" [
s
s
■ 1»
1»'^ 1
Ä
Cm
-^ ^
■■-. i . ''
~r 1 ' j
— l ^
B
I^-'"^'
F*
' ][H S^ " '
■ ' ~l
i(^ T__;
:::
*^ — ' , — ^^
♦j^^rr,
^-, -..^L-i 1 j ■-
l
jo^-Hj .
^"^**t^-*fe-:fc'-'
3T^^^--
^ .. ' M J
1^
1
i - r
1*1
^:
:,i;
^±3"!
fc i
i ^
•i.^T^'"' """^L
._i i . .
0
'*^* ^ ifc
S
!
IM fc ^ ^ i
s
O
' ^^ 1
~i ^ ^r p^ ■ ■*
^-
s
^HpBQE
'7
'^ •
s
s
"'■ T ' ~
'«^-.rij^ ^,
*~ " *' ^m « i
, 0
5"
* "M^
■^ '^U A
:^
•t ■ ^^^M S '
'
r^C
:ir
"-J' 1
1 »»i'rrj^i
i 1 ' 1 ! 1 1 1 M 1
"
1 . L
^*T7j_|^
^4 ' , i
i m^ts:--zl
- '''3l1 •
1 ' 1 I
1 .1 : i I « 1 j
ep
■l-M- i- -1
* ^n* f ^ " ^ '^'
' rT-W'r- ■ 1
s
r.:^ L 1
■¥frt''i-'
_lI f- '" "■■ ■
'S
^
d.
11
r 1 '^T
^ — j ^
c
I
B
§
o
<
5
r
^ 8
c
f
Erfahrungen über Serumbehandlung der Diphtherie.
619
mich nicht dem Fehler der Einseitigkeit auszusetzen. In Kurve I
gebe ich eine Uebersicht über die Krankenbewegung unserer Diphtherie-
baracke vom November 1894 bis August 1900: die Beobachtung um-
faßt, wie eingangs erwähnt, 1000 Patienten.
Tabelle L
1894/95
1895/96
Nov.
Dez.
Jan.
Febr.
MSn
April
Mai
Juni
Davon starben:
2l{ii
3
21{}?
3
13{S
0
f
f
14{I
0
..(!
13{S
Tracheotomiert wurden:
8
6
1
2
4
2
3
1
Davon starben:
3
1
0
0
3
0
0
0
Erwachsene:
1
0
2
1
0
0
0
0
In Behandlung traten
am 1. Tage:
» 2. „
» 3. „
w ^ »
n 5. „
1, 6. »
2
6tl
8tl
2
Itl
2
7
5
3t2
3
0
9
2
0
6
2
3 + 1
1 + 1
1
Itl
1
4tl
1
0
5
5
4
1
6tl
1
2
1
5
1 + 1
5
2
Q
spater als am 8. Tage:
fraglich an welchem Tage:
2
0
Itl
0
1
1
0
1
1+1
Itl
0
0
0
Verhältnis zwischen Auf- }
nahmen und Todesfällen \
Verhältnis der Frühbehan- /
delten zu d. Spätbehandelten\
42T6
143 Proz.
30:12
1(
36:6
5,7 Pro
17:10
z.
38:2
5,3 Pro2
29:7
■•
iB9üm
Juli j Aug. Sept. Okt^
Nov. 1 Dez. Jim.
Febr.
März
Davon starben:
Tirach eotomiert wurden :
Davon starben:
Erwachfiene :
In Behandlung traten
am ]. Tage:
" t "
J* ^ ti
" k "
Bpät^ als am 8. Tage:
fraglich an welch. Tg,\
14{S
0
2
0
0
1
7
6
0
n{t
0
1
0
0
1
8
1
1
0
23{{S
3
8
2
0
5
lOfl
4tl
3tl
0 '
2l['l
2
4
1
0
1
8 + 1
e
3
i + i
2
0
f
3
2
0
1
3tl
1
Itl
Ifl
1
0
1»
8
4
0
2
6 + 1
4 + 1
4+3
1 + 1
0
f
2
1
0
1
5tl
2
Ifl
0
14^
0
5
0
0
2
9
2
1
1
0
8{l
1
1
0
0
2
5
1+1
0
Verhältnis zwischen /
Aufnahmen u. Todesf. i
Verhältn. d. Frühbeh./
zu d. 8pfttbehandelten\
6
48:3
,2 Pros
43:5
'•
25
ItTTT
5,4 Pro
32:15
l.
9
,4 Proz
28:4
•
620
Max Cohn,
Tabelle I (Fortsetzung).
1896/97
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept
Okt
Nov.
Dez.
FäUe(:SES^
7ß
15{J
9{J
3{S
ii{S
3Ü
'lir?
14{?
15{S
Davon starben:
1
2
1
1
i
1
2
1
1
Tracheotomiert wurden :
3
4
2
0
1
3
3
4
4
Davon starben:
0
2
1
0
0
1
0
0
l
Erwachsene:
0
1
2
0
0
0
1
2
1
In Behandlung traten
am 1. Tage:
1
1
3
1
1
» ^« »
8t2
5tl
Ifl
3
1
5tl
ö
5
» *»• »
4
1
2
iti
1
6
5
„ 4. „
3
1
2tl
2
1
W ö» »f
1
1
1
1
» 6« »
1
1
Itl
» •• i>
1
2
•» ö. «f
ifi
spater als am 8. Tage:
fraglich an welch. Tg.:
Itl
Itl
0
0
0
0
0
9
0
0
0
Verhältnis zwischen f
31:4
17:3
40:4
Aufiiahmen u. Todesf.1
1
2,9 Pro
z.
17,6 Proz.
10 Pro».
Verhaltn. d. Frühbeh./
zu d. 8patbeh4ndelten\
22:9
12:5
29:11
1896/97
1897/98
Jan. Febr. | März
April
Mai
Juni 1 JuU
Aug.
Sept.
Davon starben:
Tracheotomiert wurden :
Davon starben:
Erwachsene:
In Bdiandlung traten
am 1. Tage:
"1 ■■
»9 4. ff
n 5. „
9f ö« »>
^a :
spater als am a Tage:
fraglich an welch. Tg. :
13ß
4
1
2
8tl
4
1
0
0
0
2
3
4
0
'1
2
0
2
1
2
1
2
1
0
126
3
2
1
2
4tl
7tl
Itl
0
"/
6
1
1
1
3tl
4
Itl
1
1
0
88
?
0
1
1
3
1
1
1
1
0
1
0
1
3
2tl
1
1
1
f
2
1
1
2t2
2
1
Itl
1
0
6{!
1
2
1
1
1
1
2
Itl
1
0
Verhältnis zwischen i
Aufnahmen u. Todesf.l
Verhaltn. d. Frühbeh.)
zu d. Spätbehandelten\
4
27:1
1,0 Pros
22:5
^
1
31:5
B,l Pro
24:7
z.
2<
20:4
[),OPro
13:7
c
Es zeigt sich zunächst, daß im allgemeinen wie in der Vorserum-
periode der Höhepunkt der Aufnahmen in die Monate Oktober bis
Januar, der Tiefpunkt in den Hochsommer fällt. Die wenigsten Auf-
nahmen brachte der Juli und September 1896 (je 3), die meisten der
Erfahrungen über Serumbehandlung der Diphtherie.
621
Tabelle I (FortBetzang).
1897/98
1898-99
Okt. I Nov. Dez. 1 Jan. ' Febr. 1 März | April | Mai I Juni
ITSUa /männlich
Davon starben :
Iracheotomiert wurden :
Davon starben:
Erwachsene:
In Behandlung traten
am 1. Tage:
» ^« >»
17 ^» 7t
n 4. .,
77 ö. „
77 *• 1t
I» 8. „
später als am 8. Tage:
fraglich an welch. Tg. :
Verhaltois zwischen (
Aufnahmen u. Todesf.)
Verhältn. d. Frühbeh. I
zu d. Spatbehandelten \
15{f
15{3
2
2
2
9
1
1
2
2
1
3
4
3
3tl
6tl
2
3tl
1
Itl
1
2
0
0
15{|
6
1
3
6
1
2
0
45:5
11,1 Proz.
25:20
13(1
1
3
1
3
1
4
6tl
13{J
1
4
1
2
4
9tl
11{I
1
4
1
1
37:3
8,1 Proz.
30:7
11{I ! 8{?
0 I 1
1 i 2
0 i 0
3 1
I
2
1
2
2tl
1
0
16(5
2
4
1
0
4
Hfl
3
2
3
Itl
35:3
8,6 Proz.
23 : 12
1893/99
Jan.
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Febr.
März
Fälle CSÄ"
16{J
11{?
2l[t2
19^?
19{,f
36{^
24{U
15{iS
12(1
Davon starben:
0
3
2
2
2
6
3
2
4
Tracheotomiert wurden :
5
1
5
5
2
13
5
1
4
Davon starben:
0
1
1
0
1
4
1
1
2
Erwachsene:
3
3
1
3
4
4 ; 5
2
0
In Behandlung traten
am 1. Tage:
1
1
1
1
3
3
3
17 2. „
3
3tl
6
6
10t2
14tl
3
8
6tl
tt *'• »
6
4tl
8
8
4
lOfl
10
3tl
ati
11 ^' 11
3
2
1
4tl
2tl
Itl
3tl
11 5. ,
1
2
2
2tl
11 Ö« 11
Ifl
Ifl
11 '• 11
Ifl
Ifl
2
1
11 8. „
3
Ifl
Ifl
1
4t2
3tl
Itl
später als am 8. Tage:
fraglich an welch. Tg. :
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Verhältnis zwischen |
Aufnahmen u. Todesf.\
48:5
74:10
51:9
H
0,4 Pro
z.
1
3,5 Proz.
1
f,8 Proz.
Verhältn. d. Frühbeh. 1
zu d. Spätbehandelten
32:16
57:17
38:13
Dezember 1898 (36) und der Oktober 1899 (35). Die Zahl der Auf-
nahmen hielt sich in den Jahren 1894—1898 etwa in derselben Höhe,
um dann in den nächsten Jahren rapide emporzuschnellen. Die Mor-
talität war sehr schwankend, sie variierte zwischen 0 Proz. und 42 Proz.
622
Max Cohn,
Tabelle I (Fortsetzung).
1899/1900
April
Mai
Juni
Juli 1 Aug.
Sept
Okt
Nov.
Dez.
F»Ue{-iSS' 1 12{?
Davon starben: \ 2
9{J
1
1*
isr,
2
3
21{}J
3
35(},«
ö
16{i5
3
29{S
4
Tracheotomiert wurden :
3
2
3
4
ö
7
9
4
9
Davon starben:
1
1
0
2
3
1
1
1
2
Erwachsene:
1
2T1
0
0
1
2
2
1
3
In Behandlung traten
am 1. Tage:
" l- "
"i "
II 0« II
5tl
4tl
2
1
1
2
1
Ifl
2
\
1
2
2
9t2
3
1
8tl
5tl
2
2
1
Ifl
0
1
9tl
5
2tl
2
2tl
10 tl
llt2
3
3
1
7tl
2tl
3
2tl
4
12 tl
6tl
3tl
Itl
II "• i>
;; \ ;;
spater als am a Tage:
fraglich an welch. Tg.:
0
2
0
1
1
1
0
1
Ifl
2
4tl
0
1
0
2
1
Verhältnis zwischen f
Aufnahmen u. Todesf.
Verhaltn. d. Frühbeh.
1(
soTT
}|OPro
19:11
z.
58:8
133 PMfc
42:16
80:12
15 Pros.
66:25
1899/1900
April
1900/01
Jan.
Febr.
März
Mai
Juni
Juli
Aug.
Fälle (Alf
30{ig
17{S
21 {IS
14(1
u{?
12{5
lefj
9{I
Davon starben:
8
4
3
3
1
3
2
1
Tracheotomiert wurden:
5
6
7
3
4
1
4
2
Davon starben:
4
4
2
1
1
0
1
1
Erwachsene:
5
JTl
1
1
5
1
1
0
In Behandlung traten
am 1. Tage:
3
1
1
II ^» II
12 t 2
2
7tl
5tl
7
1
5tl
4tl
II 3. II
10 1 5
»tl
9
5t2
3
7t3
6
2
II ^« II
2
2tl
3tl
1
2
1
II "• II
1 Itl
1
1
II 6- II
1
Itl
1
1
1
7
II •• II
1
2
II 8. n
Ifl
1
1
Ifl
2
spater als am 8. Tage:
fraglich an welchem Tage:
Itl
2tl
0
0
0
0
0
3
0
Verhältnis zwischen Auf- /
08:15
'üTt"
25:3
22,2 Proz.
1'
7i5 Pro
z.
12 Proz.
Verhältnis der Frühbehan-
E t - -1 rt
29:11
10 ■ "
delten zu d. 8patbehaDdelten\
Ol : n
18:
t
in den einzelnen Monaten; es folgt daraus der wichtige Satz: Die
Mortalität der Diphtherie ist auch bei der Serumtherapie
großen Schwankungen ausgesetzt. Wenn wir zum Vergleiche
die große HAOEN-RosEsche Statistik heranziehen, so zeigt sich, daß die
ESrfahrungen über Serumbehandlang der Diphtherie. 623
Mortalitätsschwankungen vor der Serumanwendung etwa die gleiche
Amplitude aufweisen. In Bethanien betrug die geringste Monats-
mortalit&t 25 Proz., die größte 75,6 Proz. aller Aufnahmen.
Wie verhalten sich aber die Au&ahmen zu dem Verhältnis zwischen
Aufgenommenen und Gestorbenen. Rose sagt in seiner Monographie:
Je voller die Baracke, desto größer die Mortalität, je leerer, desto
mehr kommen durch." Dieser Erfahrungssatz des alten Klinikers ist
fDr unsere Kurve direkt ins Gegenteil verwandelt Die Prozent-
zahl der Mortalität geht nicht mit der Aufnahmezahl mit.
Nur einmal, im Januar 1900, erreicht bei einer Monatsaufoahme von
30 Patienten die Sterblichkeit das Doppelte der Durchschnittsmortalität
Dagegen weist die Mortalitätskurve bei Monaten mit wenig Auf-
nahmen häufig steile Zacken auf (z. B. März 1895, November 1895,
Juli 1896, September 1896, August 1897). Das Resultat scheint mir
beachtenswert. Der Schluß, den Robb aus seinen großen Zahlenreihen
zieht, ist der sinnfälligste für den Verlauf jeder Epidemie. Ist die
Seuche auf ihrem Höhepunkt angelangt, so entspricht der hohen
Krankenzahl ein gleich hoher Sterblichkeitsquotient. So ist es auch
allerorten bei der Diphtherie gewesen, bevor eine spezifische Behand-
lung in ihre Rechte trat Jetzt ist es anders geworden: Die Todes-
fälle treten sporadisch auf. Die Mortalität ist nicht eine Mortalität der
Diphtherie, sondern ihrer Komplikationen und der in aussichtslosem
Zustand in Behandlung Gekommenen. Da ereignet es sich, daß auch
zu einer Zeit, wo wenig Patienten aufgenommen werden, der Sterb-
lichkeitsprozentsatz hoch ist: Der Ausschlag ist dann ein ganz beson-
ders evidenter. Das heißt aber nichts anderes, als daß jetzt bei um-
fangreichen Epidemien durch die Behandlung viele Kinder vor einem
üblen Ausgang bewahrt bleiben. Noch ein anderes Moment, das gerade
iQr die Serumbehandlung in die Wagschale fällt, mag in Betracht
kommen. Wenn die Eltern armer Kinder von ihren Nachbarn oder
sonstwoher Kunde bekommen, daß eine Diphtherieepidemie herrscht,
so werden sie eher Krankenhausau&ahme nachsuchen und auch jeder
beginnenden Erkrankung eine sorgsamere Beobachtung schenken.
Es war natOrlich, daß man bei Einführung des Diphtherieserums
in die Therapie das Augenmerk auf den Zeitraum richten würde, der
verflossen ist vom Krankheitsbeginn bis zur Anwendung des Mittels,
um zu sehen, ob die Frühbehandlung evidente Vorteile vor der Spät-
behandlung hat Alle Statistiken der ersten Jahre haben sich eingehend
mit dieser Frage beschäftigt. Auch wir haben gleich bei der Ein-
lieferung der Patienten die Eltern genau ins Verhör genommen, um
möglichst sichere Resultate zu erhalten. Und doch hat das System
seine großen Schwächen. Bei der Diphtherie, die unter dem Bilde der
lokalen Halserkrankung verläuft, läßt sich der Beginn der Erkrankung
bei einiger Aufmerksamkeit ziemlich sicher eruieren. Anders bei den
624 Max Cohn,
Fällen, die wir als sogenannte „septische Formen** in Behandlung be-
kommen. Hier ist der Beginn ein larvierter. Wie oft hören wir doch
von den Eltern, daß ein Arzt bislang nicht zugezogen worden ist, weil
nur ein einfacher Schnupfen vorlag. „Erst das Schnarchen in der
letzten Nacht** und die Benommenheit hätten den Gedanken an ein
ernsteres Leiden aufkommen lassen. Nach meinen Erfahrungen tritt
der schwer septische Zustand nur selten vor dem 3.-4 Tage und
dann ziemlich unvermittelt auf.
In der ausführlichen Tabelle I habe ich unser Krankenmaterial
nach Fällen, Totalmortalität, Tracheotomien, Tracheotomiemortalität
und Erwachsenen geordnet und darunter das gesamte vorliegende
Material nach Krankheitstagen rubriziert.
Zunächst ergab sich, daß von 1000 Diphtheriepatienten 136 ge-
storben sind, was einer Mortalität von 13,6 Proz. entspricht. 261
Patienten wurden tracheotomiert ; das sind 26 Proz. aller Aufnahmen.
Unter 1000 Patienten befanden sich 93 Erwachsene = 9,3 Proz.
(Männliche Erwachsene werden nicht auf die Diphtheriestation auf-
genommen.) Von diesen sind 3 gestorben; bei 2 Erwachsenen wurde
der Luftröhrenschnitt ausgeführt. Da das Verhältnis zwischen Kindern
und Erwachsenen ein sehr verschiedenes ist, so ergeben sich nach Ab-
zug der letzteren folgende Zahlen:
von 907 Kindern starben 134 = 14,8 Proz.;
von 907 Kindern wurden 259 tracheotomiert = 28,6 Proz.;
von 259 operierten Larynxstenosen bei Kindern starben 67 = 25,9
Prozent.
Trat in Kurve I hervor, daß mit dem Maximum der Aufnahmen
nicht ein Maximum an Todesfällen einhergehe, so ergibt sich aus
Tabelle I, daß
1) von allen Diphtheriekindern nur 28,6 Proz. zur
Tracheotomie kamen (gegen 60 Proz. früher), und daß
2) von den Tracheotomierten nur 25,9 Proz. starben.
Rose dagegen schreibt: „Die Verhältnisse in unserer Baracke
(Bethanien) sind in keiner Beziehung besonders günstige, sondern ent-
sprechen dem Durchschnitt, wie er sich im Leben gestaltet. Für diese
Durchschnittsverhältnisse, bei unseren Grundsätzen und für die Tracheo-
tomia inferior ergaben nun also größere Zahlen als Resultat des Krup-
schnittes 28,8 Proz. Rettung. Diese Zahl kann man nun wohl als
Normalzahl ansehen, wenn man bei der Anzeige des Krupschnittes
von allen taktischen Einschränkungen absieht."
Jetzt sterben von 100 Operierten 25,9; früher gesundeten
von 100 Operierten 28,8.
Aber noch ein anderes fällt in unserer Zusammenstellung auf: Die
Erfahrungen über Serumbehandlong der Diphtherie. 625
Schwankungen der Mortalität bei den Tracheotomierten sind in den
einzelnen Monaten sehr große. Auf ein Maximum von Tracheotomien
fällt nicht ein Maximum von Todesfällen. Es ist das ein Ergebnis,
das eine Analogie zu der These darstellt, die ich bei Erläuterung der
Kurve I im allgemeinen aufgestellt habe.
Nach Tagen geordnet, ergibt sich folgendes Resultat:
Von am 1. Tage in Behandlung getretenen 78 Patienten starb 1 = 1,3 Proz.
.» M 2. „ „ „ „ 361 „ starben 40« 11,1 „
>» »> ♦'• » M >i tt 284 „ „ 30 = 10p „
» I» 4. „ „ „ „ 101 „ „ ^0 e=» ä4,7 „
,, später oder
ungewiß „ „ „ 176 „ „ 40 = 22,7 „
Schließt man sich Behring an, der meint, daß auf einen annähernd
sicheren Erfolg der spezifischen Behandlung bis zum 3. Tage zu rechnen
sei, so heißt das, auf unsere Tabelle übertragen: Von den inner-
halb der ersten drei Krankheitstage Gespritzten sind
9,8Proz. gestorben, von den später Behandelten dagegen
23,5 Proz.
Ist nun aber der Krankheitstag ein Gradmesser für die pro-
gnostische Beurteilung der Wirksamkeit des BEHRiNOschen Serums?
Ich möchte das nur cum grano salis zugeben. Zur Erörterung dieser
Frage habe ich am Fuße der Tabelle I von drei zu drei Monaten eine
Zusammenstellung gemacht, die in der ersten Reihe angibt das Ver-
hältnis zwischen Aufgenommenen und Gestorbenen, in der zweiten
Reihe dieses Verhältnis in Mortalitätsprozenten ausdrückt, und drittens
die Proportion zwischen Früh- und Spätbehandelten. Da sehen wir
nun, daß sicher in den meisten Quartalen ein Zusammenhang zwischen
den zu vergleichenden Größen besteht; aber nicht immer: das liegt
nun erstens daran, daß bei dem Vergleich die Anzahl der Tracheo-
tomierten unter der Gesamtzahl der Fälle nicht zum Ausdruck kommt,
andererseits ergibt sich, daß die Prognose nicht lediglich aus dem
Krankheitstag herauszulesen ist. Bei unseren statistischen Erhebungen
fallen ja eigentlich auch drei Arten von Erfolgen auf, die vorzüglichen
des 1. Tages, die guten des 2. und 3. Tages und die mäßigen der
Spätbehandelten. Das ist aber gar kein Wunder: Am 1. Tage handelt
es sich bei der Diphtherie wohl immer nur um einen rein lokalen
Prozeß. Die Antitoxininjektion ist gewissermaßen eine prophylaktische.
Die Resultate des 2. und 3. Tages werden ungünstig beeinflußt durch
die große Zahl der Tracheotomien, die auf diese Tage fällt und den
Kindern durch die Komplikationen verderblich wird, und schließlich
liefern die Fälle der Spätgespritzten wieder relativ günstige Erfolge,
da die Giftwirkung der protrahiert- verlaufenden Erkrankungen oft eine
geringe ist. Kurz, es gibt Diphtheriefälle, bei denen eine allgemeine
Vergiftung des Organismus erst spät einzutreten pflegt und solche, bei
626
Max Cohn,
denen diese schon bei der Aufnahme besteht Diese scheinen mir für
die spezifische Heilwirkung nicht mehr in Frage zu kommen, auch
wenn es sich manchmal erst um den 2. oder 3. Tag (meist ffilschlich!)
handelt. Dagegen liefern die Krupfälle, bei denen eine allmähliche
Verschlimmerung eintritt, bis es zum Larynxverschluß kommt, auch
noch relativ spät eine gute Heilchance. Gerade bei den Tracheo-
tomiefällen, bei denen Sepsis (Allgemeinvergiftung) und fortschrei-
tender lokaler Prozeß in den verschiedensten Graden variieren und
sich kombinieren, wird die Beweiskraft der Tagestatistik zweifelhaft.
Diese Frage ist in früheren Arbeiten nur selten gestreift oder wegen
Versagens der Beweisführung ohne jeden Kommentar gelassen worden.
Tabelle
II:
Die Trac
heoto]
miefSlle.
94/95
95/96
96/97
97/98
98/99
99/00
00/01
2
1
1.
5
?
i
M-5
1
d
1
" 1
1
ä
ä
^^
d
^
^R
^
X
1
fc
^
1 1
1
1— (
>
1-4
i
^
1
1-^
l-H.
>
1-i
^1
X
1
^
g
±
i
£•
_£
Tracbeoto-
1
f
-~
miob i
14
7
6
n
15
8
9
4
n
6
9
€
17
U
7
11
20
10
8
16
22
19
s
''
OmpnMsm
LTftg^
l
1
:i
1
2, „
4tl
2tl
2
6tl
5t3
5
öfS
ifi
4
3tl
1
4
0t2
5tl
1
1
4t3
4tl
4tS
l
2f,
3, ,.
5+1
2
3tl
8tl
1
i
2
4
1
öfl
8t2
2tl
4
7tl
bf2
3tl
6tl
7
9ri;3tl
1
4. M
\^^
2
1
2t2
2tl
1
1
1
Itl
ati
2tl
1
1
2tl
Itl
3tl,
2tl,
3t2
1
5. M
2
Ifl
1
I
1
in
2
1
1
2
1
2
1
2tl
1
1
a ,,
Itl
2tl
1
i
1
1
1
Itl
l
7. p.
l
1
m
Itl
2
8. .
2tl
l
l
1
2tl
2
gfl
l
3tl
3t2
l
1
Btl
2t 11
dwa „
1
Ifl
1
t
2
1
j'
1
1
1 1
1
1
Wenn wir nun das Facit aus der in vierteljährlichen Intervallen
geordneten Tracheotomietabelle ziehen, so ergeben sich für die Tage-
statistik ganz willkürliche Zahlen:
Von am 1. Tage in Bd
»» ^» »» »»
>» •*• »» »>
II ^ II »I
fi *^' I» II
II '^^ II II
7
»I • • II II
II ö- II II
, noch spfiter „
, ungewiß „
Gewiß, die Zahlen dieser Reihe sind untereinander zu verschieden
und zu klein, als daß ihr bedingungsloser Vergleich großen Werth
hätte; immerhin sind die meisten Tracheotomien am 2. und 3. Krank-
heitstage aufgenommen worden, und auch hier schlägt der Vergleich
kraß zu Ungunsten der Frühbehandlung (d. h. scheinbar) aus.
4 Tracheotomien starb
0« 0 PrwL
67
, starben
22 = 323 „
83
1 II
15-18 „
31
1 II
13 — 41,9 .,
21
1 II
3-143 II
10
1 II
3-30,0 „
6
ri II
2-333 II
28
»1 II
8-283 II
8
Starb
1 = 12,2 „
3
1 II
0-0
£rfahraag6n ttber Sermnbeliandlang der Diphtherie.
627
Xabelle
III: Alte
^rs
abersicht,
.•
94/95XI.-ni.
95/96
96/97
97/98
98/99
99/00
00/01 IV.-VIII.
Falle ^
w
78!}
165 S
iisa
133 S
208 iS
236 ISi
65 g
Alter in
Jahren
unter 1
m 0
3+2X2
1-lXl
0
3+2X1
4+4X3
1 ■
2+2X2
1+1
w 1
0
21
1-1X2
3-2X1
0
1
m 3+2X2
w 3 1X2
4 X3
8+3X6
5-1X2
71
1-4X6
2 + 2X2
151
1-3X7
5t5X4
8t5X3
6-
■3X2
9tlX4
10-
-5X8
2
2
m 3 + 1X1
9 X3
8-1X3
10--2X7
7 X2
12-
■3X3
7 + 1X3
w 5t3X3
10t2X3
4-1X2
2
13t3X8
13-2X7
3 XI
3
m 8 X4
13 X4
7 X3
6 XI
16--4X9
11-3X5
4tlXl
w 7+1X2
7-
2X2
8-1X4
8--1X1
7 X3
7 -IXl
13--3X8
1 XI
4
m 2 X2
11'
2X4
10 X4
17 + 1X7
9tlXl
15t3X3
5 + 1
m 9 X|
17-
■1X6
4 X2
llt2X6
141
h3X4
4 XI
5
10-
•2X2
7- 1X1
7 X4
9-2X4
7 13
3 XI
w 1 ^
9 X4
5" 1X1
2
10-3X1
13-1
9 '1X3
1 XI
6
m 4 + lXi
wllt2Xi
mix?
w 3 ^
9 XI
7 XI
5 XI
10 •1X2
6 XI
3
8
7 X2
3
11
1
7
1
2
4 XI
7 X3
lltlX2
0
11
3 XI
8-
•1X2
14tl
9 XI
0
8
m 0
5
1
2-
•2
5
1
2
w 0
7
2 XI
3-
■1X2
SflXl
6 XI
2 + 1
9
m 0
2 XI
3 XI
2
2
7 ■2X1
0
w 3
2
1
0
6trri
10-1
0
10
m 1
5 + 1
1
2
4
1
2
w 0
0
0
1
3
3
2
11
in 0
4
3
1
2
3
0
w 0
2 XI
2
4
3
5
1
12
m 2
3 + 1
1
0
0
2
1
w 1
4
0
0
3
3 + 1
1
13
m 1
2
4 + 2
0
1
3
2
w 0
1
0
0
2
4
0
14
m 0
0
0
0
0
1
0
w 0 12
0
1
2
3 + 1
1
Aber 14
w 4
|o
13
20
29tl
19 + 1X3
8
ü.l l L» 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
'""
140
M
130
120
110
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
Km
L-J
^
u. 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14Ü.14
^
\
100
90
80
70
60
50
40
30
■■■"
/
\
~
J
--
V
A
•—
—
"~
—
l
w
l-
""
1
-
--
\
V
"
■~
]
L
^
X
L
— }
r
~
~
J
5
-Ä—
20
10
0
~
V
~
^
^
^
--
d
^
^
p
"^
w-
V
^
^K
^
^
rye
II
Ue
bet
Sic
htB
ka
rve
fi]
MF
ds
la ^
ilt
er.
Kurve 111. Mortautfitskonre nacü dem Alter
geordnet
628
Max Cohn,
Kurve IV. ProzentualeB Verh<nis zwischen
Aufnahmen und Tracheotomien, nach dem Alter
geordnet.
u. 1123456789 1011 1213 14Ü.14 Aus den Kurven II, III,
IV, die ich aus einer Alters-
übersicht des Materials (Ta-
belle III) zusammengestellt
habe, ergibt sich wenig Be-
langvolles. Bis zum 4. Jahre
steigt die Häufigkeit der Diph-
therie steil an, erreicht in
diesem ihr Maximum, um
dann bis zum 8. Lebensjahr
wieder steil, vom 8. — 14. lang-
sam zu sinken. Die Morta-
lität ist im 1. Lebensjahre
eine hohe (71,4 Proz.), aber
immerhin gering im Vergleich zur Vorserumzeit, wo wenig Diphtherie-
kinder unter einem Jahre mit dem Leben davon kamen. Die Sterblich-
keitskurve sinkt vom 1. — 3. Jahre steil ab, um sich von da an etwa in
gleicher Höhe zu halten. Das Verhältnis zwischen Aufgenommenen und
Tracheotomierten ist im 1. und 2. Lebensjahre etwa gleich hoch, sinkt
dann langsam bis zum 7. Lebensjahre und hält sich bis zum 10. Lebens-
jahre in etwa gleicher Höhe. Bei Patienten, die älter als 10 Jahre
waren, zählten Tracheotomieen zu den Seltenheiten. Der jüngste Patient,
der durch den Luftröhrenschnitt gerettet wurde, war 6 Wochen alt
Man sieht daraus, — ein wichtiger Faktor für die Beurteilung, ob die
Diphtherie eine andere geworden sei — daß die Häufigkeit, in der die
einzelnen Lebensjahre von der Seuche befallen werden, sich gegen die
Vorserumszeit kaum wesentlich geändert hat ; auch die Mortalitäts- und
Tracheotomiekurve weist denselben Typus auf. Dahingegen hat sich
das Niveau der beiden letzteren sehr zu Gunsten der Serumperiode
verschoben.
Tabelle IV:
Lokalisation
des Krankheil
^sprozesses.
1894/95
1895/96 1896/97 1 1897/98
1898/99
1899/00
1900/01
a) Obere Luftwege:
ToDsUleD
18
62t 1 33
45tl
76
83t 11 21
BacheD
15
18-- 4 20t2
10t2
37- • 6
38t 3
13t2
Rachen, Nase 14 t 2
23 ■ 2
2lt4
20 t 6
38- 8
32t 13
10 t 4
b) Mitbeteil.d.unt Luftw. :
Larynx
lOfl
30t 1
26
23t 1
3üt 2
42t 7
11
Descend. Krup
21t9
32 tu
15t6
26 t 8
27 tu
41t 14
lots
Was die Lokalisation anbetrifft, so waren 338 mal nur die Tonsillen
betroffen; zu diesen Fällen gehören fast alle Erwachsenen. Von
338 Patienten mit Tonsillarbelag starben drei. Bei 151 Patienten
handelte es sich um eine diphtheritische Affektion, die zwar die Ton-
sillen überschritten hatte, doch auf den Rachen lokalisiert war. Von
II **
>f ii
., 20
)» >l
„ 16
71 n
„ 1
ti }i
■1 3
n n
,1 1
f> »
1, 1
n «
.1 1
fi »:
„ 1»
„ ist
Erfahrungen über Serombehandlnng der Diphtherie. 629
ihnen starben 19. Rachen und Nase waren in 167 Fällen befallen; es
starben davon 38 Patienten. Zu den ausgesprochenen Sepsisfällen
stellten die Nasenrachendiphtherien das Hauptkontingent. In 344 Fällen,
also bei etwas mehr als einem Drittel aller Aufgenommenen, war eine
Mitbeteiligung der unteren Luftwege zu konstatieren. 172 mal warder
Prozeß auf den Kehlkopf beschränkt, davon starben 12. Gleichfalls
172 mal handelte es sich um einen deszendierenden Prozeß; es starben 64.
Bei der ersteren Kategorie, den Laryngostenosen im engeren Sinne,
wurde häufig die Tracheotomie vermieden, da die Einziehungen wieder
zurückgingen.
Im allgemeinen aber kam der größte Teil der Fälle von Larynx-
krup in dem Zustand von Atemnot in Behandlung, daß die Tracheo-
tomie sofort ausgeführt werden mußte. Eine genaue Uebersicht mag
folgen :
Bei 156 Patienten wurde die Tracheotomie sofort ausgeführt
,. „ 0—10 Btd. nach der Aufnahme ausgefiihrt
i> i> lo ä4 ,, „ ff „ „
!• II ^ I« »I »I »I f»
II f» ^ I» »I II II I»
II 11 •* Aage ti M n II
»I II ^ II 11 »I I» II
, n >i vor der Aufnahme aasgeführt
ist kein genauer Zeitpunkt verzeichnet
Die Bedenken der Serum gegner, ob bei einem Patienten, der später
als 24 Stunden nach der Injektion zur Operation kam, noch von dem
Erfolge der Serumtherapie gesprochen werden könne, sind hinfällig.
Denn die diphtheritische Membran vermag nicht nur in statu nascendi
zu einem Verschluß der Atemwege zu führen, sondern auch die in
Lockerung befindliche des abheilenden Falles. Ich lasse es dahinge-
stellt, ob die Ansicht der Autoren die richtige sei, die meinen, daß ge-
rade jetzt, unter dem Einfluß der Serumtherapie, die Membranen sich
schnell lockerten und, anstatt sich zu lösen, flottierend den Kehlkopf
verschlössen ; immerhin fand ich einige Male bei den Spättracheotomieen
verzeichnet, daß der Verschluß plötzlich zu stände gekommen sei,
woraus gewissermaßen die Glaubhaftigkeit vorerwähnter Meinung erhellt.
Wenn ich den Beginn der Erkrankung zu Grunde lege, so wurde
im Durchschnitt die Operation bei den geheilten Fällen 4,04 Tage nach
Beobachtung der ersten Krankheitssymptome notwendig, während bei
den Verstorbenen dieser Termin schon nach 3,96 Tagen eintrat. Also
auch hierin tritt das Phänomen in Erscheinung, daß bei den Larynx-
stenosen (gleichbedeutend mit den schweren Fällen) die Dauer der
Krankheit nicht gleichzusetzen ist der Schwere der Krankheit und dem-
nach kein Kriterium abgibt, ob die Serumtherapie von Erfolg begleitet
sein wird. Während der ganzen Beobachtungszeit waren durchschnittlich
bei dem einzelnen Kranken 3,94 Tage verstrichen, bis der Luftröhren-
schnitt bei Larynxkrup ausgeführt werden mußte.
Uttua. a. d. OrenHeWeten d. MmlUln u. Chinuvie. Xm. Bd. 41
630
Max Cohn,
Tabelle V: Die Et
ssultate
der hohen Serum
dosen.
1894/95
xr-iii
1895/96
1896/97
1897/98
1808/99
1899/00
1900/01
Anzahl der
FäUe
'
7
13
15
26
17
5
Tag 1.
„ 2.
„ 3.
„ 4.
„ 5.
„ 6.
„ 7.
» 8-
übera
?
I2200tl
1 8000
2100
2100
2500
|2600
1
14000 t 1
„4 4 8000
2600
1 8000
18000
14700 fl
12500
18000 tl
13200 tl
8000
8000
„4000
34000
5000
«4000
34000t 1
4000
14000 t 1
1 4000
1 4000
SiMOO
^ t2
10 7 »^8000
5 t3
2soootl
3jirt2
1 4000
tg 5«8000
5 t3
^6*8000
72500
' t4
n8000
^8000
2|Sgti
tsooot 1
2|!!Sti
1 1000
ISOOD
IJOOOtl
Mortalität des
ganzen Jahres
15,4 0/^
»Uv.
10,4 0/,
13,5 7.
13,1 •/.
16.1 7.
14,97.
In Tabelle V habe ich die Resultate der hohen Serumdosen zu-
sammengestellt Mit Injektionen über 2000 I.E. als erste Gabe wurden
84 Patienten behandelt.
Die Ziffern für die einzelnen Krankheitstage sind zu klein, als daS
sie für sich statistischen Wert hätten. Immerhin hat es den Anschein,
als ob hohe Serumgaben, in den ersten Tagen angewendet, mehr Aus-
sicht auf Erfolg haben als spätere. Von 50 Patienten, die während der
ersten drei Tage mit hohen Dosen injiziert wurden, starben 14 = 28 Proz. ;
von 34 Patienten, die später in Behandlung traten, starben 16 «=» 44,4 Proz.
Interessant erscheint es mir noch, daß in den Jahren, in denen relativ
die meisten Fälle mit hohen Serumdosen behandelt wurden, auch die
günstigste Jahresmortalitätzu verzeichnen war, während im umgekehrten
Falle das Gegenteil statthatte.
Tabelle VI kann ich gewissermaßen der vorhergehenden Zusammen-
stellung als Pendant gegenüberstellen. Es sind die Fälle, die mit dem
Symptomenkomplex der ausgesprochenen Sepsis aufgenommen und an
ihr zu Grunde gegangen sind. (Die kleinen Zahlen bedeuten die
Immunisierungseinheiten, welche die Patienten bei der Aufnahme in-
jiziert bekamen.) Die Reihe umfaßt 66 Patienten : 34 Fälle, die während
der ersten 3 Tage in Behandlung kamen, stehen 32 Fällen gegenüber,
die später Krankenhaushilfe in Anspruch nahmen. Es starben fast
genau soviel Frühbehandelte als Spätbehandelte. Die Serumdosen, die
zur Verwendung kamen, sind im Durchschnitt bei den Frühinjizierten
etwa die gleichen gewesen wie bei den Spätgespritzten. Man kann dem-
£rfahningen über Serambehandlang der Diphtherie.
Tabelle VI: Die eeptischen Diphtheriefälle.
631
An SepeiB Ge-
Btorbene
!sri
"X
i
9
1 1 1
i> 00
s , i
8 I 15
8
19
1^
6
^
66
Tag 1
» 2
» 3
» 5
,, 6
„ 7
„ 8
über 8
?
21600
2000
1 1600
^ 1500
9000
O 1600
^1500
9 1600
-^1500
9 1000
^2000
l2aoo
1I6OO
1 1600
1 9000
1 1000
1000
£2000
4 1000
9000
21000
2000
1 4000
1 4000
4000
/9000
4 9000
2000
1 4000
9000
9000
59000
•^2000
1000
1 9000
1 2000
I2OOO
94000
^^2000
I2OOO
1000
/2000
^9000
3000
^6i2000
81000
9000
99000
-^2000
I2OOO
1 1000
12000
t 2000
1 1000
2000
/2000
^ 1000
9000
1 9000
1 2000
IS ^^00
15 31000
\] 24000
7 16700
24000
I2OOO
613000
Seooo
2
ä2000
ä 2250
ä2067
ä2182
ä 2386
ä2000
ä2000
ä2l67
ä2000
nach ohne Zaudern behaupten, dafi bei Diphtheriefällen, die mit den
Erscheinungen der Allgemeinvergiftung aufgenommen wurden, die Serum-
therapie im Stich gelassen hat. Vereinzelte Heilungen kommen jetzt
wie früher vor, wie auch bei verwandten Allgeraeininfektionen durch
andere Keime; darum kann man aber noch nicht von einer Heilung
durch die spezifische Therapie sprechen.
Aus den letzterwähnten Tabellen ergeben sich dem Serumtherapeuten
wichtige Schlüsse für die Dosierung des BEHRiNGschen Heilmittels. Wir
haben zu trennen 1) Fälle rein lokaler Erkrankung von Fällen allge-
meiner Giftwirkung und 2) Fälle, die frühzeitig in Behandlung kommen,
von Spätfällen. Beide Kategorien können sich decken, brauchen es aber
nicht. Es mag wohl eine spezifische Eigenschaft verschiedener Arten
von Diphtheriebacillen, d. h. ihrer Virulenz sein, daß das eine Mal der
diphtherische Prozeß auf die Rachengebilde beschränkt bleibt, das
andere Mal rasch deszendiert; darauf aber kommt es für die Therapie
allein an, vor der Wirkung des Giftes auf den Gesamt-
organismus dem Patienten Schutzstoffe einzuverleiben,
die ihn gegen den drohenden Feind immun machen. Im
großen und ganzen wird die Seruminjektion immer zur rechten Zeit
kommen, wenn sie, während der diphtherische Prozeß ein lokaler ist,
gewissermaßen prophylaktisch angewendet wird. Leichte Fälle, d. h.
früh in Behandlung gekommene, mit lokalen Erscheinungen ohne
Störung des Allgemeinbefindens, werden mit 1000 I.E. gespritzt.
41*
Max Cohn,
Fälle, die mit Erscheinungen des Fortschreitens des lokalen Prozesses
(bellender Husten, leichte Einziehungen) aufgenommen werden, be-
kommen 1500—2000 I.E. Schreitet der lokale Prozeß sehr rasch fort,
so sind auch bei früh in Behandlung tretenden Patienten hohe Dosen
zu bevorzugen, da naturgemäß auch hier die Giftwirkung unvermutet
und schnell eintreten kann. Bei den Fällen aber, wo die Störungen des
Allgemeinbefindens irgendwie mehr in den Vordergrund treten, nehme
man von vornherein seine Zuflucht zu den höchsten Dosen. Hält man
sich an diese durch die Erfahrung gewonnenen Regeln, so wird man bald
die Erfahrung machen, daß Fälle von fortschreitender Diphtherie, die
schon auf den Larynx übergriffen, auch noch an späteren Tagen für die
Serumtherapie eine günstige Prognose abgeben, während septische Fälle,
auch wenn sie schon am 2. oder 3. Tage in Behandlung kommen, letal
verlaufen. Allerdings ist es fraglich, ob bei diesen letzteren nicht die
Diagnose lange hinter dem Ausbruch der Erkrankung einherhinkte.
Man hat der Serumtherapie zur Last gelegt, daß seit ihrer Ein-
führung die Neben- und Nachkrankheiten der Diphtherie sich in be-
ängstigender Weise gemehrt hätten, und bedeutende Mediziner haben
es über sich gebracht, schwere Folgezustände, die sie besonders auf
dem Sektionstisch zu sehen bekamen, der Seruminjektion in die Schuhe
zu schieben. Dabei ist es eine große Frage, ob solche Folgezustände
früher nicht ebenso häufig gewesen sind, ganz abgesehen von anderen
Erklärungen, auf die ich erst später, im anatomischen Teile dieser
Arbeit, zurückkommen möchte. Kliniker wie Heubner haben sogar
gefunden, daß die die Diphtherie oft begleitende Albuminurie während
der Serumperiode abgenommen habe. Ich habe von unseren Fällen
eine kleine Tabelle der Komplikationen, Neben- und Nachkrankheiten
angefertigt, die einesteils ein beredtes Bild für die Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen liefert, andererseits aber noch keinen Anspruch auf
Vollständigkeit machen kann; denn oft genug werden geringe Be-
schwerden nicht genügend gebucht; so manchmal auch gelingt es dem
Untersucher nicht, für jede Fiebersteigerung der kleinen Patienten die
richtige Lösung zu finden. Das aber geht aus der Zusammenstellung
hervor, daß die Zahl der Nephritiden vor und während der spezifischen
Therapie sich auf gleicher Höhe gehalten, die der Pneumonien aber
gegen früher sehr abgenommen hat.
Nun aber sind auch Affektionen zur Beobachtung gekommen, die
der Serumtherapie zur Last fallen: das sind die verschiedenen Ex-
antheme und Arthritiden sowie Infiltrate und Abscesse an der In-
jektionsstelle. Letztere können freilich vermieden werden; aber was
läßt sich nicht alles in der Medizin vermeiden und wird doch zum
Ereignis! Man muß also damit rechnen. Wir haben zuerst am Ober-
schenkel die Injektion gemacht und später (seit 1900) die Punktions-
Erfahrangen über Semmbehandlaiig der Diphtherie.
633
Tabelle VII: Komplikationen, Kombinationen, Nachkrankheiten.
i.
1
^
1
i.
t
«s
1
1-H
^ 1
1-H
tH
1
Oü
Diphtherie d&c Conjonctiva
2
2
Wimddiphtherie
1
1
Diphtherie des Oehörganges
1
1
Acoommodationslähmang
4
1
1
1
7
Pares. vel. palatin.
1
5
1
4
2
13
Pares. musc. extr. inf.
1
2
1
2
1
7
Wanderlahmnng
1
1
Drfiflenfieber
1
5
3
1
10
DrOsenabsceß
3
1
1
1
3
: 9
Phlegmone colli
1
1 1
Betropharyngealabeoeß
^ 1 1
Keratitis suppurat.
1
1 1
Meninffitie
Granmationsetenose
1
1
Urticaria an d. InjektionBstelle
1
1
Allgemeine Urticaria
5
1
6
Serumezanthem
12
16
8
3
3
6
1
49
Fieberhafte Arthritis
4
4
2
1
1
12
Abec. an der Injektionsstdie
1
2
1
1
3
1
9
Bronchopneumonie
12
24
15
22
23
30
8
134
Pertussis
2
1
2
Nephritis
11
10
16
25
16
19
4
101
Phthisis pulmonum
1
Pleuraempyem
1
Furunkulose
1
Padatrophie, Gastroenteritis
1
Tetanie
1
Lnngengangrfin
1
Otit med. purulenta
2
3
9
2
6
1
23
Scarlatina als Vorkrankheit
1
1
1
l
5
9
als Nachkiankheit
2
1
3
MorbiUi als Vorkrankheit
2
1
3
ft als Nachkiankheit
1
2
3
2
8
Varicellen
2
1
3
Hämorrhagische Diathese
1
1
1
firysipelas
1
1
2
2
£ndocarditi8
1 1
i
1
3
Pericarditis exsudativa
1
1
Ikterus
1
1
Hautemphysem
2
2
1
5
stelle an die Linea alba unterhalb des Nabels verlegt. Ob es nur
ein Zufall ist, oder in der verschiedenen Spannung der Gewebe seine
Begründung findet: wir haben seitdem keine Injektionsabsesse mehr
gesehen. Bei sehr großen Dosen dürfte es sich empfehlen, an meh-
reren Stellen zu injizieren. Was nun die spezifischen Serumerkran-
kungen im engeren Sinne, die Exantheme, anlangt, so ist längst er-
wiesen, daß ihr Auftreten nicht an die Antitoxine, sondern an die
Giftwirkung des Pferdeserums gebunden ist. Man wird sie also um
so eher vermeiden können, je hochwertiger das Serum ist. Das
zeigte sich auch bei uns im Laufe der Zeiten mit der Verbesserung
der Gewinnung, was aus folgender Zusammenstellung erhellt:
634 Max
Co
hn,
1894/95 wurde bei 78 FäUeo (5 Mon.) 12 V
Ber. Exantheme
, 5 V 6er. Urticaria beobachtet.
1895/96 „ „ 165 „ 169
ti
1)
*X- »» »» «»
1896/97 „ „ 115 „ 89
ft
V
beobachtet,
1897/98 „ „ 133 „ 39
$1
n
»»
1898/99 „ „ 208 „ 39
>i
>i
}}
1899/1900 „ „ 236 „ 69
»1
tt
ft
1900/01 „ „ 65 „ (4 Mon.) IX
>»
»»
tt
Das Serumexanthem trat gewöhnlich am Ende der ersten Woche
nach der Einspritzung auf; doch gab es auch Fälle, wo erst in der
dritten Woche ein solcher Ausschlag zum Ausbruch kam, der von
hohem Fieber, Gelenkschmerzen und -Schwellungen begleitet war. Die
Kinder waren auffallend matt und erholten sich je nach dem Umfang
der Afifektion langsamer und schneller. Die Dififerentialdiagnose gegen
Scharlach gleich am Beginn der Erkrankung zu stellen, ist häufig recht
schwer. Oft läßt erst der Verlauf den sicheren Unterschied von Scar-
latina erkennen. Wenig Schwierigkeiten bieten die excessiven Fälle,
da bei ihnen das Exanthem größere oder kleinere Inseln frei läßt, die
geröteten Partien über die Oberfläche prominieren, und die Gelenk-
schmerzen schnell zu Klagen von Seiten der Patienten führen. Weit
unangenehmer steht es mit den abortiven Formen, wo die allgemeine
Rötung und die Temperatursteigerung im Vordergrund stehen. Ich will
nicht verschweigen, daß wir Scarlatina als Nachkrankheit der Diphtherie
zu sehen bekamen, diese für ein sicheres Serumexanthem hielten und
so nicht rechtzeitig die Isolierung erwirkten. Wo es sich ermöglichen
läßt, ist es immerhin empfehlenswert, jedes zweifelhafte Exanthem für
einige Tage zu isolieren. Im großen Ganzen sind die Serumexantheme
leichte Affektionen, deren Folgen früher in allzuschwarzem Lichte gemalt
wurden. Man kann sagen : Wenn erst die Gewinnung hochwertiger Sera
mit geringeren Kosten verknüpft sein wird, so werden die Serumexan-
theme wohl überhaupt nicht mehr beobachtet werden.
Als besonders seltene Komplikation möchte ich einen Fall von
Diphtherie des Gehörgangs erwähnen, wie ein solcher nur noch einmal
in der Literatur von Kutscher genauer beschrieben worden ist.
Eine schwere Frage ist es, zu entscheiden, wie die Heftigkeit der
Epidemie während unserer Beobachtungszeit gewesen ist. Aus zwei
Gründen: Es ist erstens eingewendet worden, daß seit Einführung der
Serumtherapie eine völlig andere Diagnosenstellung Platz gegriffen hat,
und daher Vergleiche der Heilungsprozente von jetzt zu früher gar
nicht statthaft wären, und zweitens fragt es sich, ob der leichte Verlauf
der Diphtherie, wie wir ihn jetzt so oft sehen, durch die spezifische
Therapie diesen benignen Charakter bekommen hat, oder ob der Cha-
rakter der Seuche an sich ein so günstiger geworden ist.
Selbstverständlich ist die bakteriologische Untersuchung für eine ge-
naue Bewertung der Erfolge des Diphtherieheilserums eine conditio sine
qua non ; sie ist bei uns stets, in vielen Fällen sogar wiederholt, zu Rate
Erfahrungen über Serumbehandlnng der Diphtherie. 636
gezogen worden. In den ersten Jahren ist auch mit Tierversuchen nicht
gekargt worden, um die Virulenz zu erweisen, und jeder Fall, wo das
Kulturverfahren wiederholt versagt hat, wurde aus dieser Statistik — sicher
nicht zum Vorteile einer günstigen Mortalitätsprozentzahl — ausgeschaltet
Die Scharlachdiphtherie als genuine Erkrankung habe ich unserem Ma-
terial nicht angegliedert, da der Diphtheriebacillus als ätiologischer Faktor
fehlt, und somit auch das Diphtherieserum keine Wirksamkeit auf die
Krankheit haben kann. Fälle, wo im Anschluß einer Scarlatina-Diph-
therie oder im Anschluß an Diphtherie Scharlach aufgetreten war, sind,
wie Tabelle VII ergibt, in die Statistik aufgenommen.
Der erste Einwand erscheint mir aus dem Grunde nicht stich-
haltig, weil andere Statistiken, die nur auf klinischer Beobachtung
aufgebaut sind, fast dieselben Resultate ergeben haben, als solche,
die auf dem bakteriologischen Nachweis basieren. Wer viel Diph-
therien klinisch untersucht hat und dann selbst die bakteriologische
Prüfung angeschlossen hat, wird zu dem Eindruck gelangt sein, daß
sich im großen ganzen die klinische Diagnose mit dem bakteriologischen
Befunde deckte. Selbst bei den septischen Diphtherien, bei denen
die Bakteriologen auf Grund des Ergebnisses, daß der spezifische
Bacillus häufig von einer Unzahl von Kokken fast ganz verdeckt
wird, angenommen haben, daß die Schwere der klinischen Krankheits-
bilder einer Mischinfektion zuzuschreiben sei, gelingt es oft, schon beim
ersten Impfversuche fast Reinkulturen von Diphtheriebacillen zu er-
halten. Das hat freilich manchmal seine Schwierigkeiten. Die sep-
tischen Diphtheriefälle kommen sehr häufig in schwer benommenem
Zustande ins Krankenhaus: Mit größter Mühe, durch Zuhalten der
Nase und mit Gewalt ist es nur möglich, die Zahnreihen auseinander-
zupressen. Das Spatel berührt den Gaumen, der Würgreflex wird
ausgelöst, und ist dann endlich die Platinöse an der richtigen Stelle,
so ist sie schon mit Schleim, Speisebrei etc. benäßt Ich glaube, daß
man viele der sogenannten Mischinfektionen durch die Schwierigkeit
des Abimpfens erklären kann.
Ist nun die Epidemie im ganzen leichter geworden ? Die Diphtherie-
mortalität ist stets in verschiedenen Ländern sehr verschieden gewesen.
Man kann daher Resultate solcher nicht leicht miteinander in Vergleich
stellen. In Berlin haben sich oft schon die verschiedenen Stadtteile
verschieden verhalten ; in dem einen mußten die Schulen wegen schwerer
Epidemieen geschlossen werden, während andere zur selben Zeit von
der Seuche ganz verschont blieben. Doch betrug seit Jahrzehnten die
mittlere Mortalität nicht unter 40 Proz. Haben wir aber in dem
BEHRiKOschen Serum ein Mittel gewonnen, das, möglichst frühzeitig
angewandt, zur Verhütung der schweren toxischen Erscheinungen führt,
so ist es sehr schwer, den Charakter der Epidemie zu beurteilen.
Gegner der Serumtherapie waren freilich schnell mit ihrem Urteil fertig;
636 Max Cohn,
8ie 8ahen viele Fälle angemein leicht verlaufen und sagten aneingedenk
dessen, daß man ja nicht wissen kann, wie sie ohne Seruminjektion
verlaufen w&ren: Jetzt g&be es keine Diphtherie mehr wie anno dazu-
malsi Daß wir immer und immer wieder Fälle zu sehen bekommen,
die sich durch nichts von der Vorserumzeit unterscheiden, daß wir
selbst schwerkranke Kinder, die schon benommra, komatös daliegen,
unter der Anwendung des Mittels überraschend schnell gesunden sehen,
daß besonders auch die Tracheotomiefälle eine glänzende Verbesserung
der Resultate erreicht haben, und vor allem, daß es zu den Selten-
heiten gehört, daß sich im Krankenhaus leichte und mittelschwere
Fälle bei rechtzeitiger Anwendung des Serums akut verschlimmem:
das alles spricht für die Wirksamkeit des Serum! Daß sich die
Zahl der Aufnahmen mit Einfahrung der spezifischen Therapie sehr
gesteigert hätte, konnten wir ans unseren Zahlen nicht ersehen.
Den Genius epidemicus, der durch dieses Moment besonders charak-
terisiert sein soll, konnten wir während unserer Beobachtungszeit
nur ahnen. Im Jahre 1898/99 und 1899/1900 ist die Zahl der Krank-
heitsfälle gestiegen und zwar so, daß die Aufnahmen der letzten
Jahre die von 1896/97 um etwa das Doppelte überschreiten. Die
Jahresmortalität von 1896/97 betrug 10,4 Proz. und war die nie-
drigste, die von 1899/19U0 betrug 16,1 Proz. und war die höchste,
und das, trotzdem in den letzten Jahren der Beobachtung die Zahl
der Immunisierungseinheiten, die auf jeden Fall kamen, größer waren
als in den ersten Jahren, wo die geringe Erfahrung Vorsicht gebot.
Der Unterschied der Zuführung von I£. war ein recht bedeutender.
Vom November 1894 bis März 1896 inkl. wurden 243 Patienten mit
270000 I.E. gespritzt. Pro Kopf wurden mithin 1110 I.E. verwendet
bei einer Sterblichkeit von 12,7 Proz. Vom April 1899 bis März 1900
inkl. wurden 236 Patienten 409000 I.E. injiziert. Pro Kopf ergibt
das 1733 I.E. bei einer Sterblichkeit von 16,1 Proz. Wenn wir nun
als ein Hauptkriterium von früher die Häufung der Erkrankungen mit
ins Auge fassen, so ist der Schluß naheliegend, daß die Epidemie im
Jahre 1899/1900 heftiger als vorher gewesen ist. Und trotzdem ist
uns das kaum zum Bewußtsein gekommen; denn die Jahresmortalitit
hat sich im Vergleich zu früher nur ganz unwesentlich geändert. Idi
verhehle mir nicht, daß Zweifler das G^enteil herausdemonstrierea
werden, indem sie sagen, daß trotz höherer Serumdosen im Jahre
1899/1900 mehr gestorben sind als von November 1894 bis April 1896.
Denen sei aber eine viel eklatantere Beweisführung aus der Geschichte
der Diphtherie vor Augen geführt. Im Kaiser Friedrichs- und Kaiserin
Friedrich - Kinderkrankenhaus zu Berlin reduzierte sich bei Einführung
des Diphtherieserums die Sterblichkeit von ca. 40 Proz. auf 15 Proz.;
im Monat August und September 1894, den Monaten mit der günstigsten
Mortalität, war kein Serum zu erhalten, und sofort stieg die Sterblich-
Erfahrungen über Serombehandlung der Diphtherie. 637
keit auf die gleiche Höhe wie früher. Ein weiteres: In Bethanien
wurde das Diphtherieserum erst 1896 eingeführt: die Mortalität blieb
bis dahin gleich hoch, die Sterblichkeit der Tracheotomierten war so
hoch wie in den schlechtesten Zeiten : aber auch hier trat mit der Ein-
führung des BEHRiNOschen Mittels ein völliger Umschwung zum
Besseren ein ; die Mortalität reduzierte sich auf die an anderen An-
stalten übliche, die Zahl der Luftröhrenschnitte sank beträchtlich. Wenn
wir alles das kombinieren, besonders die Koinzidenz des Umschwunges
'^ an verschiedenen Anstalten zu verschiedenen Zeiten mit dem Beginn der
^ neuen Therapie berücksichtigen, sollen wir dann nicht glauben, daß die
Diphtherie ihren Typus nur unwesentlich geändert hat, und daß der
Charakter der Epidemie während unserer Beobachtung wahrscheinlich
durch die frühzeitige spezifische Therapie verschleiert worden istl
i. Aber auch unsere Zahlenreihen liefern zur Erklärung dieser strittigen
•Ä Momente wichtige Belege. Ich greife zu diesem Zwecke auf die An-
fänge der Serumtherapie zurück. Uns wurden damals größere Serum-
i: Quantitäten zu^ experimentellen Injektionen an Diphtheriekranken zur
i Verfügung gestellt. Die Zahl der Aufnahmen betrug im Jahrgang
> 1893/94 166, die der Tracheotomierten 78. 56 Kinder wurden als
^geeignet^ für die Serumtherapie erachtet, und obwohl in ganz Berlin
damals die Mortalität höher als 40 Proz. war, starben nur 50 Patienten,
g das sind 30 Proz. Die Zahl der Tracheotomierten betrug etwas unter
f. 50 Proz. wie überall; denn nur sehr wenige von den Fällen, die tracheo-
p tomiert wurden, wurden injiziert; aber dennoch machte sich ein Unter-
, schied in der Mortalität recht deutlich bemerkbar. Ganz ähnliche
^ Zahlenverhältnisse ergeben sich für den Zeitraum von April bis No-
f vember 1894, der gleichfalls unter dem Zeichen der bedingten Serum-
, anwendung stand. Die einschlägigen Daten lauten : Auf 99 Patienten,
von denen genau ein Drittel injiziert wurden, kommen 29 Todesfälle;
das entspricht wieder fast genau einer Mortalität von 30 Proz.
f Nun sagt aber Kassowitz, die ganze Diphtheriestatistik während
der Seruroperiode sei wegen der Verschiebung der Diagnostik wertlos,
wenn man nicht berücksichtige, wie sich die absolute Mortalität bei einem
Vergleich mit früher verhalte. Ich verfüge nur über ein Material,
das cum grano salis beweiskräftig ist. Dieses aber spricht sehr zu
Gunsten einer Verbesserung der absoluten Mortalität, wenn man gar
noch in Betracht zieht, daß nach wie vor viele Fälle zum Sterben
ins Spital geschickt werden.
1803/94 Btarben bei bedingter Serumthen^ie 50 Patienten (166 Aufnahmen)
(99 „ )
( 78 „ )
(165 „ )
(115 „ )
US " )
(208 „ )
(ii36 „ )
(65 „ )
1894/95|
»
1 >»
„ unbedingter
11
t2 «
1895/96
tf it
19
1896/97
J |t
12
1897/98
> »>
18
1898/99
f }}
27
1899/00
t ti
38
1900/01
j 11
10
638 Max Cohn,
Es ergibt sich demnach, daß die absolute Mortalität
nach allgemeiner Einführung der Serumtherapie niemals
so groß gewesen ist, als in den beiden letzten Jahren
vorher, und daß die Jahresmortalität während unserer
Beobachtungszeit in der Serumperiode im fast gleich-
bleibenden Verhältnis zur Zahl der Aufnahmen steht
Ich komme zur Betrachtung der Mißerfolge unserer Behandlung,
zu den Erfahrungen, die wir im Laufe der Jahre auf dem Sektionstische
gewonnen haben. So viele Fortschritte die Medizin der pathologischen
Anatomie zu verdanken hat, so wenig hat diese Wissenschaft mit der
modernen Forschung Schritt gehalten. Das gilt wie für wenige Krank-
heiten für die Diphtherie. Es wäre endlich gegeben, mit Anschauungen
zu brechen, die der andringenden Zeit nicht mehr stand halten können.
Und der Vorwurf einer Reihe von Anatomen, daß sich die Serumthera-
peuten infolge der negativen Resultate der Diphtheriesektionen aus
Verlegenheit neue Normen konstruieren wollten, ist nichts weniger als
berechtigt. Schon Henoch schreibt in seinen ^Vorlesungen über Kinder-
krankheiten^ 1892, also vor der Serumepoche: „Nachdem Bretonneau
unter dem Namen „Diphtherie'^ ein fast erschöpfend klares Bild dieser
spezifischen Infektionskrankheit aufgestellt hatte, brachte die patho-
logische Anatomie dadurch Verwirrung hervor, daß sie diesen klinischen
Begriff in einen anatomischen umsetzte und mit dem Namen „diphthe-
ritisch^ alle Prozesse bezeichnete, welche sich durch Einlagerung fibri-
nöser Exsudate in die Schleimhäute oder auch in die äußere Haut mit
nachfolgender Nekrose charakterisieren. So kam es, daß die Aerzte,
welche bereitwillig dieser Lehre folgten, bei den verschiedensten Krank-
heiten, in welchen sich die obenerwähnten Prozesse vorfanden, eine Kom-
plikation mit „Diphtherie^ annahmen, und daß diese Verwirrung auch
auf das Publikum übergriif.^ Man wird jetzt aber nicht mehr umhin
können, den pathologisch-anatomischen Begriff „Diphtherie^ auf Grund
klinischer Erfahrung umzuformen, d. h. die Veränderungen gesondert
zu studieren, welche die klinisch-bakteriologischen Diphtheriefälle auf
dem Sektionstisch geboten haben. Und daß nicht der negative Befund
der diphtherischen Schleimhautzerstörung maßgebend ist, ob ein Indi-
viduum Diphtherie durchgemacht hat, das haben im Grunde vor der
Serumperiode auch schon namhafte Pathologen zugegeben. Orth wie
Ziegler sagen in ihren Lehrbüchern, daß die Diphtherie abheilen kann,
ohne irgendwelche anatomische Veränderungen zurückzulassen. Und
was gibt es eigentlich Einseitigeres, als, da die Veränderungen der
Schleimhaut bei diphtherischer Infektion den Produkten einer Salz-
säurevergiftung oder einer eiterigen Cystitis anatomisch-histologisch
gleichen können, zu glauben, daß sie auf derselben Basis entstanden sind.
Aber selbst bei engerer Betrachtung zeigt sich, daß der diphthe-
rische Lokalprozeß auf dem Sektionstisch ein vielgestaltiger sein kann.
Erfahrungen über Serambehandlung der Diphtherie. 639
Schon Bretonneau hat eindringlich auf die Mannigfaltigkeit des ana-
tomischen Befundes hingewiesen. Es braucht außer einer Rötung der
Rachenorgane keine tiefergreifende LSsion vorhanden sein, während es
andererseits nicht zu den Seltenheiten gehört, daß noch nach Wochen,
wenn der Tod an einer Komplikation erfolgt ist, Zerstörungen aller Art,
oberflächliche und in die Tiefe gehende, gefunden werden. Die Pathö*-
logen haben nun die Erfahrung machen müssen, daß sich die ana-
tomischen Ergebnisse bei den Sektionen, deren klinische Diagnose
„Diphtherie'' lautete, wesentlich verändert haben. Es gehört nicht mehr
zu den Alltäglichkeiten, eine tiefgreifende Schleimhautzerstörung, durch
echte Diphtherie hervorgerufen, zu sehen, da nur wenige Patienten an
der akuten Infektion zu Grunde gehen. Die Fälle aber, die in den
ersten Tagen nach der Aufnahme starben, boten das Bild, wie es die
Pathologen von früher her in guter Erinnerung hatten. Welcher Schluß
lag da näher, als anzunehmen, daß diese letzteren Patienten durch unsere
spezifische Therapie nicht beeinflußt wurden, die ersteren aber gar keine
Diphtherie gehabt haben ! Die wesentlichsten Veränderungen bei diesen
bestanden in mehr weniger hochgradigen Krankheiten der parenchjnma-
tosen Organe. Und schon fanden sich Forscher, welche die Diphtherie«
nieren als eine Folge der giftigen Serumtherapie hinstellten. Ich
zweifle an sich gar nicht, daß man jetzt mehr Spätnephritiden zu sehen
bekommt als früher. Liegt nicht aber die Erklärung näher, daß dieses
Faktum in Erscheinung trat, weil ehedem die Kinder starben, bevor es
zu hochgradigen Veränderungen an den Nieren kam. Vielleicht findet
sich in späteren Jahrzehnten sogar ein Statistiker, der ausrechnet, daß
zur Zeit viel mehr Menschen an chronischer Nephritis sterben als früher,
und der diese Erscheinung der ^giftigen Serumtherapie^ in die Schuhe
schiebt. Auch er befände sich im Irrtum; denn man weiß längst, daß
sporadische Entzündungen des Nierenparenchyms von chronischen Nephri-
tiden gefolgt sein können, die vielleicht erst nach vielen Jahren zur
chronischen Schrumpfhiere führen.
Ich habe die Sektionen, die vom November 1894 bis August 1900
ausgeführt wurden, einer Durchsicht unterzogen und nach bestimmten
Gesichtspunkten geordnet Ich verfüge über eine Reihe von 71 Proto-
kollen. Ich habe es versucht, diese 71 Fälle, in Gruppen gesondert,
zu betrachten. Leitend war für mich der Gedanke, nicht nur zu
scheiden nach den objektiven Sektionsergebnissen, sondern in Erwägung
zu ziehen den Zeitraum, der verflossen ist zwischen Aufnahme
resp. Beginn der spezifischen Behandlung und Exitus, das Alter der
Patienten, den Krankheitstag, an dem die Individuen starben, alles
Faktoren, die bei einer genügend großen Beobachtung Aufschluß bringen
mußten, zu wieviel Teilen gerechterweise von einem Versagen der
Therapie die Rede sein könne. An die Spitze glaubte ich die Fälle
stellen zu müssen, die zu kurze Zeit im Krankenhause waren, als daß
640
Max Oohn,
die Therapie noch hätte zur Geltung kommen können. Mit Rosenbach
meine ich, daß ^der binnen der ersten 2X^4 Stunden erfolgte Tod
weder zu Gunsten noch zu Ungunsten einer klinischen Behandlung ver-
wertet werden kann^. Gleichzeitig werden diese Fälle am besten Auf-
schluß geben, welche Veränderungen bei der unbeeinflußten Diphtherie
der Serumepoche beobachtet werden. Dieser Reihe schließe ich an die
Sektionsprotokolle der Kinder zwischen 0 und 2 Jahren. Hier walten
Verhältnisse ob, die mit denen von früher nicht gut zu vergleichen sind.
Früher wurden solch' kleine Wesen fast nie trachetomiert; sie starben
fast ausnahmslos, während jetzt, wie wir oben gesehen haben, 28,6 Proz.
(im ersten Lebensjahr), resp. 59,8 Proz. (im zweiten Lebensjahr) ge-
rettet werden. Der Tod kann hier füglich wegen des Vorwaltens der
Erscheinungen der unteren Luftwege nur bedingt der Diphtherie zuge-
schrieben werden. Die dritte Gruppe bringt zahlreiche Fälle von Sepsis,
von denen wir schon im klinischen Teil sagen konnten, daß von einer
großen Heilwirkung des Serums keine Rede gewesen ist Gruppe IV
umfaßt Patienten, die sekundären Veränderungen der Diphtherie zum
Opfer gefallen sind, und bei denen die primäre Erkrankung schon in
den Hintergrund des Obduktionsbefundes getreten war. Ihnen schließe
ich Fälle an, wo es sich trotz anscheinend frühzeitiger Seruminjektion
um einen fortschreitenden diphtherischen Prozeß handelte. Zum Schlüsse
seien dann einige Fälle erwähnt, die an offenbaren Komplikationen zu
Grunde gegangen sind.
Die erste Gruppe von Sektionen umfaßt 21 FSlle ; bei 13 Individuen
war während der Krankheit die Tracheotomie ausgeführt worden. Inner-
halb aller Gruppen habe ich die Fälle nach dem Krankheitstag ge-
ordnet. Da der Beginn der Erkrankung nicht immer genau eruierbar
ist, so ist selbstverständlich nur mit einem gewissen Grade von Widir-
scheinlichkeit festzustellen, am wievielten Tage das betreifende Individuum
gestorben ist. Es ergibt sich demnach, daß von den binnen 48 Stunden
nach der Aufnahme Gestorbenen
2 Patienten am 3. Tage nach Ausbruch der ersten Krankheitssymptome
3 „
„ 4.
n
»»
n ii »
7 „
,. 5.
»
» » }>
2 ,
., 6.
}f
»» » «>
1 Patieat
,. 7.
M
»y n ii
1 «
.. 8.
t>
)f n fi
2 Patieoten
„ 9.
M
1) 11 1
2 „
„10.
ti
t)
11 11 n
1 Patient
„ ?
if
>»
11 11 11
starben. Es läßt sich demnach der Schluß ziehen, daß von
den tödlich verlaufenden Diphtherien, bei denen von
einör Beeinflussung durch ein spezifisches Heilmittel
keine Rede sein konnte, über die Hälfte am 4.-6. Tage,
vom Beginn der Erkrankung an gerechnet, zu Grunde
gehen. In 20 von 21 Sektionen wurden im Pharynx resp. den oberen
ErfahruDgen über Serombehandlung der Diphtherie. 64t
Luftwegen membranartige, fibrinöse, der Diphtherie eigentfimliche Auf-
lagerungen gefunden. In dem einen Ausnahmefalle hafteten an den
Tonsillen „kleine, trübe Punkte, die sich nicht abwischen ließen ; Um-
gebung stark gerötet". Außer einem trüben Herzen und schlaffer
Pneumonie wurde nichts gefunden. Das 3-jährige Kind wurde am
8. Krankheitstage rezipiert und starb am 9. Krankheitstage, nachdem
es bei der Aufnahme 1500 I.E. injiziert bekommen hatte. Es dürfte
sich hier um einen Fall von Sepsis handeln, wo neben einem geringen
Lokalbefund die Toxinwirkung schon bei der Aufnahme im Vordergrund
der Erscheinungen stand. In 12 Protokollen ist es besonders vermerkt,
daß die Auflagerungen auf der Unterlage so fest hafteten, daß sie sich
nicht abheben ließen. Meistenteils handelte es sich um schwere ulceröse
Prozesse der Schleimhaut. Von 13 Patienten, bei denen der Luft-
röhrenschnitt ausgeführt worden war, litten 11, von 8 Nichttracheo-
tomierten litt einer an descendierendem Krup. Die lokalen Erschei-
nungen sind in Bezug auf den Krankheitstag, an dem die Individuen
zu Grunde gingen, recht verschiedene : wir sehen daraus, daß im großen
ganzen der schlimme Ausgang abhängig ist nicht sowohl von dem Um-
fang der fortschreitenden Rachenaffektion, als besonders von der Virulenz
des Giftstoffes, resp. seiner Toxinwirkung. Dieselbe Wahrnehmung
habe ich schon auf Grund klinischer Studien machen müssen, als ich
feststellte, an welchem Krankheitstag durchschnittlich die Tracheotomie
notwendig wurde, und dabei eruierte, daß dieser Termin bei den Ge-
heilten später eintrat als bei den Gestorbenen, obwohl bei allen die
spezifische Behandlung sofort bei der Aufiiahme, d. h. zur Zeit der
Notwendigkeit der Tracheotomie, eingesetzt hatte. Auf derselben, an-
scheinend paradoxen, Tatsache beruht es auch, daß, wie wir oben ge-
sehen haben, und wie es auch von fast allen Autoren berichtet wird,
die fleiluugsprozente bei den Tracheotomiefällen für die einzelnen
Krankheitstage so äußerst schwankende sind.
Wenn ich die Kinder unter und von 1 Jahre in eine besondere
Klasse gestellt habe, soweit sie nicht schon zur I. Gruppe gerechnet
worden, so ist das in der Erwägung geschehen, daß es unbillig wäre,
bei solch kleinen Wesen, bei denen sdlein die Tracheotomie ein bedeut-
samer und schwerer Eingriff ist, kurzweg von einem Versagen der
spezifischen Therapie zu reden. Ein Kind, das noch hilflos in seinen
Bewegungen ist, befindet sich unbedingt schon in Gefahr, wenn es
längere Zeit in ruhiger Rückenlage zubringen muß. Wieviel Säuglinge
und wieviel Kinder, die der Säuglingszeit eben erst entwachsen sind,
sehen wir doch jahraus jahrein auf der Kinderabteilung an Broncho-
pneumonien, Katarrhen der Verdauungswege und anderen interkurrenten
Erkrankungen zu Grunde gehen, ohne daß ihr Grnndleiden, um dessent-
willen sie zu uns kamen, mit der Krankheit, die zum Tode führte, in
näherer Beziehung steht! Diese Klasse umfaßt 16 Sektionsfälle.
11
11 1
»*
1* 1
>f
11 t
11
11 1
1t
11 1i
11
11 ti
11
11 11
11
11 II
642 Max Cohn,
4 Patienten starlien am 6. Tage nach B^nn der Erkrankung,
1 Patient starb „ 10.
3 Patienten starben ,, 12.
^ n n 11 13.
1 Patient starb „ 14.
2 Patienten starben ,, 19.
1 Patient starb „ 26.
1 I» 11 11 ^•«
1 I» 11 11 *^''
Die Uebersicht über die kleine Tabelle zeigt, daß die fiberwiegende
Mehrzahl der Kinder am Ende der ersten Woche und in der zweiten
Woche gestorben sind, und das ist für die kleinen Patienten gerade
die gefährliche Zeit der Erkrankungen der unteren Luftwege, sei es
daß die Fiebersteigerung mit der folgenden Pneumonie im Anschluß an
das Herausnehmen der Kanüle eintritt, sei es daß zu dieser Zeit die
Kanüle noch in der Trachea gelegen hat. In ersterem Falle muß man
wohl annehmen, daß die reichlichen Sekrete, nur ungenügend heraus-
befördert, in die Bronchien herunterfließen, und durch die Stagnation
bei ruhiger Rückenlage der tödliche Prozeß angefacht wird. Darauf
deutet das häufige Befallensein der hinteren Lungenpartien, wie wir sie
oft bei den Obduktionen zu Gesicht bekommen haben. Andererseits
ist das lange Tragen der Kanüle bei kleinen Kindern von dem gleichen
Uebel gefolgt. Hier spielen die anatomischen Verhältnisse gewiß eine
Rolle; der Weg vom Kanülenlumen bis zu den Bronchien ist ein sehr
kleiner. Ist es da nicht wahrscheinlich, daß zahlreiche Keime der
Krankenstube durch häufiges Husten gewissermaßen angesaugt werden
und bei der schon vorhandenen Reizung der unteren Luftwege auf einen
guten Boden fallen! Viele der Spätpneumonien werden wir auf diese
Verhältnisse zurückführen müssen, wo von einem descendierenden
Krup füglich nicht mehr die Rede sein kann. Nun könnte ja aber
jemand einwenden: in Gruppe I sind auch schon Kinder von 0 bis
2 Jahren untergebracht, die frühzeitig gestorben sind. Aendert das
nichts an dem aufgestellten Satze, daß der größte Teil der Einjährigen
an Pneumonien am Ende der ersten Woche und in der zweiten Woche
zu Grunde gehen ? Nein ! Selbst wenn ich diese Kinder der IL Gruppe
zurechne, bleibt dasselbe Bild erhalten: denn (aus Gruppe I die ein-
jährigen und jüngeren Kinder übertragen) es starben zwei am 4., zwei
am 5., eins am 6. und eins am 10. Krankheitstage.
Von 16 Kindern der IL Gruppe wurden 12 tracheotomiert. Wie ver-
halten sich bei allen die lokalen Erscheinungen zu der Lungenaffektion?
Bei 15 Fällen wurden Pneumonien verschiedener Art gefunden; nur
ein Kind, bei dem die Hauptdiagnose „Atrophia universalis" lautet, litt
lediglich an Atelektase der Lunge. Dreimal finden sich die Lungen*
afifektion und die lokale Halserkrankung als Hauptkrankheit gemeinsam
genannt, 8mal stand bei der Sektion die Lungenerkrankung im Vorder^
Erfahrungen über Seriimbehandlung der Diphtherie. 643
gruod der Beobachtung, Imal war, wie bereits erwähnt, Atrophia
universalis, Imal neben der Pneumonie multiple eiterige Osteomyelitis
der Rippen als Hauptkrankheit angegeben. Also nur in 3 Fällen waren
Kinder zwischen 0 und 2 Jahren, die nicht in extremis eingeliefert
worden waren, an den Folgen der lokalen Affektion gestorben. Aber
auch der lokale Befund an sich war bei fast allen diesen Fällen ein
anderer als bei der vorigen Gruppe. Neben oberflächlichen Ulcerationen
mit schmierigen stinkenden Auflagerungen finden wir oft die ver-
wunderte Bemerkung des Anatomen: „Keine Spur von Diphtherie!''
Das Erstaunen wird aber geklärt, wenn wir uns daran erinnern, daß
bei den meisten Fällen in Uebereinstimmung mit der Krankheitsdauer
naturgemäß eine Abheilung des lokalen Befundes schon stattgehabt
haben mußte. Und daß die Patienten nicht etwa wegen einer nicht
spezifischen Pneumonie tracheotomiert worden sind, dafür bürgt uns
unsere bakteriologische Diagnose bei der Aufnahme, von deren posi-
tivem Ausfall ja die Einreihung in diese Beobachtungen abhing.
Die Gruppe III umfaßt 15 Sektionen; sie schließt ein die Fälle
von Diphtherie, welche klinisch das Bild der Sepsis dargeboten haben.
Der Tod erfolgte zumeist am Ende der ersten und in der zweiten
Woche; nach dieser Zeit Gestorbene gehören zu den Seltenheiten. Elf
Patienten boten schon bei der Aufnahme Zeichen der Allgemein-
infektion, die sich kundgaben in profusen Schleimhautblutungen, Pe-
techien, septischer Purpura, schwerer Nephritis und hochgradiger Pro-
trastion. Der Sektionsbefund war ein sehr variabler; doch sind alle
diese Fälle dadurch ausgezeichnet, daß der Lokalbefund zur Zeit der
Obduktion noch bestand. Von häutchenförmigen Auflagerungen bis
zur schwersten gangränösen Zerstörung wurden alle möglichen Ueber-
gänge gefunden. An den Organen ergaben sich sehr verschiedene
Veränderungen; neben der toxischen Myocarditis, die sich dokumen-
tierte durch Schlaflfheit, Brüchigkeit und parenchymatöse Trübung des
Herzmuskels, fand sich eine geringe Dilatation der Ventrikel. Bei an-
deren Fällen stand eine schwere Nephritis im Vordergrunde des Ob-
duktionsergebnisses. Die Milz, die bei der akuten Sepsis der Er-
wachsenen als der bekannte frische, weiche Milztumer imponiert, war
wie bei allen Infektionskrankheiten der Kinder äußerlich wenig ver-
ändert. Wenn wir in Betracht ziehen, daß im allgemeinen bei diesen
Patienten hohe Serumdosen zur Anwendung kamen, ja bisweilen früh-
zeitige Injektionen von 4000 I.E. gemacht wurden, so stehen wir vor
der unabweislichen Tatsache, daß in allen Fällen vorgeschrittener
toxischer Allgemeinerscheinungen die Serumtherapie im Stich gelassen
hat. Haben wir auch bisweilen septische Fälle gesunden sehen, so ist
das vor der Serumepoche auch schon vorgekommen, und es wäre ein
Zeichen allzu optimistischer Denkweise, auf Grund seltener Ereignisse
644 Max Gohn,
von Erfolgen zu sprechen, denen gegenüber eine Reihe von Mißerfolgen
steht, die durch nichts anderes als ein Versagen der spezifischen Therapie
erklärt werden können.
Die nächste Gruppe bietet zum Unterschiede von der vorigen
einen negativen Halsbefand. Es handelt sich hier um eine Art von
langsamer Giftwirkung, die gerade der Diphtherie eigentümlich ist, und
die sich dokumentiert entweder durch ein langsames Verglimmen der
Lebensenergie des gesamten Organismus oder durch das Versagen
eines lebenswichtigen Organs, das sekundär zu Störungen im Lebens-
mechanismus führt. Zwei Patienten starben am IL, je einer am 13.,
14., 15., 18., 20., 21., 39., 48. Tage. Der lokale diphtherische ProzeB
im Rachen war bereits abgeheilt und zwar, ohne wesentliche Ueber-
reste aufier Rötung und Schwellung zurückzulassen. Die Serumdosen,
die nur einmal unter 2000 I.E. herunterreichten, zeigen, daß die Mehr-
zahl der Fälle schon bei der Aufnahme ein schweres Krankheitsbild
boten. Der Verlauf war zunächst ein ganz befriedigender, bis sich
ziemlich plötzlich Stauungen im großen und kleinen Kreislauf ein-
stellten und zum Ende führten. Auch hier wurden starke Nieren- und
Leberschwellungen, bisweilen exzessive Dilatation der Ventrikel des
Herzens beobachtet, oder der Herzmuskel selbst war der Ausgangs-
punkt der Erscheinungen, und schwere Stauungen bildeten die Folge
dieser toxisch-muskulären Erkrankung. Zum Teil auch war der Ob-
duktionsbefund ein recht dürftiger: außer einer Trübung der Niere
oder einer beginnenden Pneumonie fand sich so gut wie gar nichts.
Diese Fälle bilden einen Uebergang zu einer Beobachtung, deren
Klärung auf dem Sektionstisch völlig im Stich ließ. Der 2-jährige
Knabe wurde am 4. Krankheitstag aufgenommen, wurde tracheotomiert,
bekam eine Serumdosis von 2000 I.E. und starb am 31. Tage ganz
plötzlich aus dem besten Wohlsein heraus. Der Sektionsbefund war,
ich möchte sagen, ein absolut negativer. Es ist wohl eine Verlegen-
heitsdiagnose, wenn der Pathologe die Verdickung der Tonsillen und
die Follikelschwellung im Halse als charakteristisch voranstellte. In
der Tat müssen wir hier eine toxische Degeneration der Herzganglien,
über deren krankhafte Veränderungen zur Zeit noch so wenig bekannt ist
als Todesursache annehmen.
Besonders rubriziert habe ich Fälle, die relativ frühzeitig in Be-
handlung traten und, unserer Prognose entgegen, einen tödlichen Ver-
lauf nahmen. Drei Kinder kamen am 2., die Erwachsene kam am
4. Tag in Behandlung: es handelte sich bei diesen Patienten um
descendierende Diphtherie, welche die Tracheotomie notwendig machte.
Trotz der sofortigen Seruminjektion — einmal wurden 1000 I.E.,
einmal läOO I.E., zweimal 2000 I.E. eingespritzt — kam das Leiden
nicht zum Stillstand; es kam zur Kruppneumonie, die am 10., 11.,
13., 18. Tage zum Tode führte. Ich habe diese Fälle deshalb in eine
Erfahrungen über Serumbehandlung der Diphtherie. 645
besondere Gruppe gestellt, da der Mißerfolg schwer zu deuten ist,
Einesteils konnte es sich darum handeln, daß die Schwere des Krank-
heitsbildes bei der Aufnahme falsch gedeutet und zu wenig Serum ein-
spritzt wurde. Das würde ja auf jeden Fall für die Erwachsene zu-
treffen, da man hier verhältnismäßig ungemein viel kleinere Dosen zur
Anwendung bringt als bei Kindern. Oder aber es waren Fälle, bei
denen der im Vordergrund der Erscheinungen stehende lokale Krank-
heitsbefund die schon erfolgte Allgemeinvergiftung verschleierte. Gleich-
viel, es liegen hier Sektionsergebnisse vor, die, wenn wir von Hypo-
thesen absehen, darauf hindeuten, daß außer den Sepsisfällen noch
solche übrig bleiben, bei denen die Serumtherapie im Stiche läßt.
Schließlich sei einiger Sektionsbefunde gedacht, wo neben der
Diphtherie eine schwere Krankheit bestand, die in Gemeinschaft, mit
der ersteren oder für sich allein den unglücklichen Ausgang verschuldete.
Fall 68 wurde durch eine Scarlatina kompliziert, die 5 Tage nach
der Aufnahme zum Ausbruch kam. Es handelte sich hier nicht um
einen Fall sogenannter Scharlachdiphtherie, die ja bakteriologisch gar
nicht der Diphtherie zugerechnet werden darf, sondern, nachdem im
Anfang eine wahre bakteriologisch-klinische Diphtherie bestanden hatte,
gesellte sich das verderbenbringende Scharlach erst später hinzu, das
durch eine erneute nicht spezifische Angina eingeleitet wurde. Ferner
ist da ein Fall (69) zu nennen, der, während die Diphtherie im Abheilen
begriffen war, durch ein Kopferysipel verschlimmert wurde. Es handelte
sich um einen mittelschweren, auf den Rachen lokalisierten Fall, der
einen glatten Verlauf nahm, bis am 10. Tage die Gesichtsrose
dem Krankheitsbild eine üble Wendung gab. Auch Fall 70 kann nicht
bedingungslos als Diphtherietodesfall gerechnet werden, da der am
2. Tage in Spitalbehandlung getretene Knabe nach anfänglich glattem
Verlaufe eine Halsphlegmone bekam, die sicher bei ihrem infiltrieren-
den, septischen Charakter die Hauptschuld an dem letalen Ende trug.
Endlich wurde der 2-jährige Knabe, No. 71, nicht durch seine Diph-
therie hingerafft, sondern durch eine Lungengangrän, die wohl mehr
mit den vor seiner Verlegung von der Masemstation überstandenen
Morbilli zusammenhing als mit der leichten diphtherischen Angina, die
ihn zu uns geführt hatte. Streng genommen, gehörten auch manche
vorher behandelte Fällen in diese Abteilung, so besonders die Fälle
von ausgebreitetem Emphysema cutaneum corporis ; denn diese Patienten
sind nicht an Diphtherie, sondern an dem allgemeinen Hautemphysem
zu Grunde gegangen, das auch auf das mediastinale Gewebe über-
gegriffen hatte und so ein bedeutendes Herz- und Atmungshindernis
abgab. Ich habe diese und ähnliche Fälle darum schon oben erwähnt,
weil sie gleich nach der Aufnahme ad exitum gekommen waren und
schon deswegen nicht zu Ungunsten der spezifischen Therapie gedeutet
werden konnten.
Mttteil. a. d. Grenzgebieten d. Medtxin a. Chirargie. Xm. Bd. 42
€46 Max Cohn,
Ich habe dem anatomischen Teile meiner Arbeit einen größeren
Baum eingeräumt, als es vielleicht manchem nützlich scheint Es haben
mich dabei verschiedene Gesichtspunkte geleitet Man ist allgemein
bestrebt gewesen, ffir die Beweiskraft der Diphtherieseramtherapie nur
eine Statistik großer Zahlenreihen gelten zu lassen. Und das mit
vollem Becht! Ich glaube dieser Forderung nachgekommen zu sein.
Bei einer solch großen Statistik muß natürlicherweise das Gewicht des
einzelnen Falles in den Hintergrund treten; nun hat sich aber mit der
Zeit der Glaube eingeschlichen, als ob das pathologisch-anatomische
Bild der Diphtherie von jetzt berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit
des Diphtherieserums aufkommen lasse. Die Pathologen, die von An-
fang an der neuen Therapie skeptisch gegenüberstanden, haben zum
Teil dieselbe Meinung vertreten, obwohl sie wohl nicht die zahlreichen
Momente in Betracht zogen, die einen Mißerfolg erklären konnten.
Auch schien es mir lehrreich zu sein, einmal eine größere Beihe von
Sektionen zusammenzustellen und nach Gesichtspunkten zu ordnen, die
den Statistiker vom klinisch-therapeutischen Standpunkte aus besonders
interessieren mußten. Und was ergibt sich bei näherem Zusehen aus
dieser Uebersicht? 21 Patienten, fast ein Drittel, sind gestorben,
bevor von einer Heilwirkung noch die Bede sein konnte, wenn ich
in der Begründung hierzu einem so kritischen Beurteiler wie Bosbn-
BACH folgen darf, der in seiner Abhandlung über „den Opportu-
nismus in der medizinischen Statistik^ sagt: „Man sollte gerade als
Krankenhausarzt alle diejenigen, die innerhalb 24—48 Stunden sterben,
ohne daß ein therapeutischer Eingriff im eben definierten Sinne mit
einiger Aussicht auf Erfolg möglich erschien, nicht für die Statistik
der Behandlung verwerten.^ Andererseits geben gerade diese Beob-
achtungen auf dem Sektionstische einen wertvollen Fingerzeig ab, wie
die nicht behandelte Diphtherie im Vergleich zu der behandelten aus-
sieht und wie vielgestaltig pathologisch-anatomisch die Diphtherie der
Serumepoche verlaufen ist Wir sehen da vor allem, daß der ana-
tomische Befund gar oft keinen Aufschluß gibt, weshalb ein bestimmter
Fall bösartig geendet hat. Es müssen dem ungünstigen Ausgang Ver-
änderungen in den Zellen vorausgegangen sein, deren Erkenntnis uns
unser menschliches Auge weder an der Leiche noch am Mikroskop
gestattet. Wenn auch bei Patienten, die frühzeitig ins Krankenhaus
gekommen waren und nur ganz kurze Zeit bei uns in Beobachtung
standen, so wenig schwere Veränderungen an den zunächst erkrankten
Teilen (den Halsorganen) zu finden waren, müssen wir da nicht zu der
Annahme gelangen, daß schwere Giftstoffe in den Körper gelangt
waren und zu einer Allgemeinintoxikation geführt hatten, bevor noch
die durch Injektion zugeführten Gegenstoffe zur Wirksamkeit gelangen
konnten. Es liegen hier ganz ähnliche Prozesse vor wie bei den glück-
licherweise seltenen Fällen von Operationsperitonitiden, wo wenige Stunden
Erf'ahrmigen über Serumbehandlmig der Diphtherie. 647
nach der Infektion, ohne daß sich Eiter gebildet hatte, der Tod eintritt.
Andererseits ist aber auch nicht anzunehmen, daß, wenn die Reaktions-
kraft des Körpers bereits erlahmt ist, selbst noch ein spezifisches
Mittel imstande sein sollte, Hilfe zu bringen. Jeder Mensch würde es
für lächerlich halten, bei einem Patienten von der Salicylsäure noch
eine spezifische Wirkung gegen den Gelenkrheumatismus zu erwarten,
wenn derselbe zur Allgemeininfektion geführt hatte. Daher scheint es
mir selbstverständlich, wenn die Fälle von Sepsis, die zum großen Teil
schon als solche in das Krankenhans kamen, nicht mehr durch das
Diphtherieserum geheilt werden konnten. Eine strittige Frage ist es
mir dabei immer noch, ob die von den Bakteriologen ins Feld geführte
Mischinfektion eine so große Rolle spielt; denn erstens konnte ich bei
einer großen Anzahl solcher Fälle Diphtheriebacillen in Reinkultur
züchten und zweitens ist es sehr wohl denkbar, daß das nekrotisch-
gangränöse, allen Schmarotzern durch die Mundhöhle frei zugängliche
Gewebe allen möglichen Kokken eine gute Ansiedelungsstätte gewährt,
ohne daß diese für den bösen Ausgang irgend ein integrierendes
Moment abgeben. Auch ist es immerhin seltsam, daß sich bei so vielen
Fällen von protrahiertem Charakter nicht metastatische Erscheinungen
ausbilden, wie sie gerade für Infektion mit den verschiedenen Species
von Kokken so oft zur Beobachtung gelangen. Denken wir nur an das
häufige Befallensein der Unterkieferlymphdrüsen, deren sekundäre Ver-
eiterung gerade bei der Diphtherie zu den Seltenheiten gehört. Ich
glaube vielmehr, daß von der Wirkung des Heilserums keine Rede mehr
sein kann, wenn der Gesamtorganismus so daniederliegt, daß nicht
mehr die örtliche Erkrankung, sondern das allgemeine Krankheitsbild
im Vordergrunde der Erscheinungen steht.
Wie durch die Vergiftung mit Bakterientoxinen das allgemeine
Krankheitsbild bei der diphtherischen Sepsis beherrscht wird, so ist das
in gleicher Weise bei den kleinen Kindern durch die Bronchopneumonie
der Fall. Gegen früher lassen sich hier schwer Vergleiche ziehen, da
die kleinen Wesen zumeist ohne Luftröhrenschnitt starben. Es ist da-
her nicht nur der deszendierende Krup, die diphtherische Infektion
allein, welcher diese Patienten zum Opfer fallen. Die Bronchien sind
mit Fibrin verstopft; es entsteht ein bronchopneumonischer Herd neben
dem anderen, und diese tückische Kinderkrankheit ist es dann, die das
allgemeine Bild beherrscht und das tödliche Ende herbeiführt. Es ist
von Autoren die Meinung vertreten worden, daß die Diphtherie von
heute eine viel leichtere geworden sei als die von ehedem; denn es
fehlten die früher so charakteristischen „Krupbäume". Wenn wir uns
aber unsere Sektionsbefunde ansehen, so kommen wir zu einer ganz
anderen Erklärung. Früher starb das Gros der Patienten in der
ersten Woche. (Rose erzählt ja selbst: Wenn ein Kind die erste
Woche übersteht, so hat es gewöhnlich die Diphtherie überstanden.)
42*
648 Max Cohn,
Kein Wunder, daß bei den Spättodesfällen, die jetzt die Mehrzahl
ausmachen, die Krupbäume fehlen: sie sind durch das fibrinlösende
Ferment längst wieder aufgelöst worden.
Trotz alledem bleiben noch Fälle übrig, bei denen sich nichts
anderes sagen läßt, als daß die spezifische Therapie versagt hat. Aber
diese sind nur die Ausnahmen, und ich kann nicht umhin, die Ansicht
auszusprechen, daß die Betrachtungen der Mißerfolge unserer Therapie
weit mehr zu Gunsten als zu Ungunsten der BEHRiNGschen Diphtherie-
serumbehandlung sprechen. Selbst wenn man sehr streng ins Gericht
geht, wird man nur in sehr wenigen Fällen von einer beweiskräftigen
Erfolglosigkeit des Spritzens reden können. Unwirksam zeigte es sich
sicher bei Fällen, die kurz vor dem Tode ins Krankenhaus kamen, und
bei solchen, wo eine Allgemeinvergiftung bereits bei der Aufnahme zu
konstatieren war. Und da konnte man billigerweise auch keine anderen
Resultate verlangen. Das steht jedenfalls fest, daß die Patho-
logen nichts Stichhaltiges gegen die Serumtherapie vor-
zubringen vermögen, und zweitens, daß der lokale Be-
fund an der Leiche nicht imstande ist, die Bösartigkeit
der Erkrankung zu entscheiden.
Ich habe in dem statistischen Teile dieser Arbeit ein umfangreiches
Material der Beurteilung unterbreitet. Bisher habe ich, wie ich glaube,
in objektiver Beleuchtung die Verhältnisse geschildert, wie sie sich dar-
boten. Zum Schlüsse sei es mir gestattet, noch einiges beizubringen,
das mir persönlich geeignet erscheint, die Klärung der Frage von der
Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des BEHRiNo'schen Diphtherieheil-
serums näher zu kommen. Ich habe früher schon beiläufig erwähnt,
eine wie seltsame Koinzidenz mit der Einführung des Diphtherieserums
zu Tage trat, daß nämlich wie mit einem Schlage die Zahl der schweren
Fälle abnahm, während sich die der abortiven Diphtherie in demselben
Maße mehrten. Dieselbe Beobachtung gewährte mir die Betrachtung
unserer Tracheotomiepatienten, nur daß hier eine weit größere Beweis-
kraft zu Gunsten der Serumtherapie zu liegen scheint. Die Zahl der
Tracheotomien nach Anwendung des Serums ist eine verschwindend
kleine; die Zahl der Stenosen, die unter seiner Applikation noch
zurückgehen, ist dagegen eine sehr große. Auf 261 Stenosen, die zur
Tracheotoraie führten, kommen 59 Stenosen, die ohne operativen Ein-
griff zur Heilung kamen. Schon Heübner hatte früher auf dieses Ver-
halten hingewiesen, obwohl seine Zahlen lange nicht so krasse sind wie
die unserigen. Er schreibt: „Ein solches Stehenbleiben der Larynx-
erkrankung auf niedrigerer Stufe des diphtherischen Krups (im Gegen-
satz zum deszendierenden Bronchialkrup) , habe ich allerdings auch
früher nicht beobachtet; unter 141 Fällen kam es 23 mal vor, also in
16 Proz. Dagegen habe ich früher nur einen Fall von 141 ohne Ope-
Erfahrungen über Serambehandlung der Diphtherie. 649
ration zurückgehen sehen, der schon stenotische Erscheinungen zeigte,
dagegen bei unserer jetzigen Erfahrung von 181 Fällen neun."
Nun ist aber der Einwand erhoben worden, daß sich der Genius
epidemicus geändert habe, daß die Diphtherie von heute leichter sei als
früher. Und dieser Einwand ist nicht so leicht zu entkräften, nament-
lich, wenn man den Zeitpunkt unserer der Statistik zu Grunde liegenden
Beobachtungen überschreitet und der Jahre 1902 und 1903 gedenkt.
Die Zahl der Aufnahmen ist in letzter Zeit sehr zurückgegangen; es
vergehen manchmal Wochen, ehe ein Diphtheriefall zur Aufnahme
kommt Darüber kann uns auch nicht die Erscheinung hinwegtäuschen,
daß wir nach wie vor schwere und schwerste Fälle zu sehen bekommen.
Die Diphtherie ist eben eine für unsere Landstriche endemische Krank-
heit, die nur zeitweise epidemisch auftritt. Ich habe aber versucht, mir
auch in diesem Punkte Aufklärung zu verschaffen und gewissermaßen
auf dem Boden meines statistischen Materials den Genius epidemicus
auszuschalten. Unter den 1000 Diphtheriefällen, die ich zusammen-
gestellt habe, befinden sich 137 Geschwister. Ich habe sie nach
Familien zu zweien, dreien und vieren geordnet. Früher gehörte es
zu den häufigen Vorkommnissen, daß, wenn die Diphtherie eine kinder-
reiche Familie befiel, diese wie ein Würgengel hauste, und daß ganze
Familien ihrer Sprößlinge beraubt wurden. Die Diphtherie, die zwei
Geschwister befajlt, kann nicht gut eine verschiedene sein, sofern wir
überhaupt den LÖFFLER-Bacillus als ätiologisches Moment annehmen.
Ich ging zudem von dem Gedanken aus, daß wenn zwei Kinder nicht
gerade zugleich erkranken, das zuletzt erkrankte besser beobachtet wird
als das erste und eher der spezifischen Therapie zugeführt wird. So
gewinnen wir einen Anhalt dafür, ob die Frühbehandelten wirklich eine
bessere Heilchance haben als die Spätbehandelten.
Die Beobachtungsreihe umfaßt 63 Familien ; darunter befinden sich
54 Geschwisterpaare. Von 7 Familien waren zugleich je 3 Kinder,
von 2 Familien je 4 Kinder in Krankenhausbehandlung. Von allen
diesen starben 11 Kinder «= 8 Proz. Die Mortalität bei den Kindern
unserer Gesamtstatistik war eine ungleich höhere und betrug 14,8 Proz.,
also fast das Doppelte. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten: Ent-
weder ist die Sterblichkeit durch eine frühzeitige Behandlung der später
erkrankten Kinder herabgesetzt, oder aber es kamen viele leichte Fälle
von Familienerkrankungen ins Krankenhaus. Da aber die bakterio-
logische Untersuchung feststellte, daß es sich bei den sogenannten leichten
Fällen um echte Diphtherie handelte, so hat die erste Eventualität
größere Wahrscheinlichkeit für sich.
Eine Reihe von Klinikern, so besonders Escherich, meinten, daß
der lokale Prozeß besonders günstig von der Serumanwendung beein-
flußt werde, ja daß der Schwerpunkt der Heilkraft darin beruhe, daß
das Serum die rasche Abstoßung der Beläge herbeiführe und die Aus-
650 Max Cohn,
breitung der fibrinösen Ausschwitzung verhindere. Darüber mußte die
Geschwistertabelle besonders guten Aufschluß geben. Bei der Aufnahme
waren ja die Eltern möglichst genau inquiriert worden, wie lange ihre
Kinder schon krank seien. Zählte ich zu den Tagen, die bereits bis
zur Aufnahme verflossen waren, die Anzahl von Tagen hinzu, wo in
der Anstalt noch Belag konstatiert wurde, so erhalte ich eine Zahl, die
die ganze Dauer der Lokalerkrankung angibt. Da stellte sich nun heraus,
daß bei den später ins Krankenhaus Gekommenen die Abheilung im
Rachen nach 9,68 Tagen vollendet war, während dieser Termin bei den
früher Behandelten schon nach 6,95 Tagen erreicht war. Wenn diese
Zahlen auch keine strenge Beweiskraft haben, so erscheinen sie mir
doch der Beachtung wert Obwohl ich persönlich die Ausdehnung des
lokalen Befundes ebensowenig für ausschlaggebend halte, als sich nach
meiner Ueberzeugung die Prognose bei der Serumtherapie unbedingt
sicher nach dem Krankheitstage bestimmen läßt, so habe ich doch in
einer aufiällig großen Reihe von Fällen die Beobachtung gemacht, daß
mit dem Tage der Injektion auch der Halsprozeß zum Stillstand kommt,
daß gewissermaßen den Bakterien der Boden für das Wachstum ent-
zogen wird. . Von eminenter Wichtigkeit scheint mir dieses Verhalten
nicht zu sein ; denn die Schwere der Erkrankung hängt ja nicht so sehr
von der Ausdehnung der Lokalerkrankung als von den Toxinen ab, die
in den Körper aufgenommen werden, und diese sind in erster Linie
abhängig von der Virulenz der Bakterien.
Um nun wieder auf meine Geschwisterbeobachtung an Diphtherie-
kranketa zurückzukommen, so sei hervorgehoben, daß nur einmal aus
einer Familie zwei Kinder gestorben sind. £]s handelte sich um eine
besonders bösartige Infektion. Beide Kinder kamen am 2. Tage
der Erkrankung in Behandlung und starben am 4. resp. 5. Tage nach
der Aufnahme. Von drei Geschwistern starb eins, das am 3. Tage in
Behandlung kam. Es wurde mit 3000 I.E. gespritzt. Bei der Aufnahme
bot es den Befund der Sepsis. Seine beiden Geschwister kamen nach
Injektion von 1500 bezw. 1000 I.E. mit dem Leben davon; sie kamen
am 1. resp. 2. Krankheitstage ins Spital. Das erste bot einen leichten
Befund, das zweite einen schweren: es mußte sogleich nach der Auf-
nahme tracheotomiert werden. Von zwei anderen Kindern war das er-
liegende erst 8 Monate alt. Der Krankheitstag war, wie bei solch'
kleinen Patienten nicht zu verwundern, nicht zu eruieren. Es erlag
einem deszendierenden Krup, der schon bei der Aufnahme bestand.
Die 13jähr. Schwester, die das kleine Kind gepflegt hatte und also
später erkrankt ist, kam am 2. Tage ins Krankenhaus. Eine einmalige
Dosis von 1000 I.E. brachte einen glatten Verlauf. Bei zwei Geschwistern
P. dagegen ist das Resultat ein ziemlich negatives. Der 6-jähr. Stephan
P., der bei seiner Aufnahme einen septischen Eindruck machte und
schon 8 Tage krank war, erhielt zwei Injektionen k 2000 I.E. Er ge-
ErfahruDgen über Serumbehandlang der Diphtherie. 6öt
8undete nach einem langwierigen Krankenlager, das durch Nephritis
und Gaumensegellähmung kompliziert war. Die 4-jähr. Regina P. kam
schon am 3. Tage, allerdings auch unter septischen Erscheinungen ins
Krankenhaus, erhielt 3000 I.E. in zwei Injektionen und starb 8 Tage
nach der Aufnahme an Nierentod. Eine Erklärung für das eigenartige
Verhalten mag ich nicht anzugeben. Ein anderes Geschwisterpaar läßt
gleichfalls nichts Beweisendes für oder gegen die Serumtherapie er-
kennen. Beide Kinder kamen in schwerem Allgemeinzustand am
4. Tage in Behandlung und erhielten eine Injektion von 4000 I.E. Das
jüngere Kind genas nach 59-tägigem Krankenlager, das noch einmal so
alte starb nach 8 Tagen an septischer Nephritis und Enteritis. Ob die
Heilung des ersteren durch die gleiche Dosis bei erheblich geringerem
KöFpervolumen der Serumtherapie zuzuschreiben ist, bleibe dahingestellt.
Ganz dasselbe Ergebnis gibt eine dritte Beobachtung. Von einer Fa-
milie, die zu gleicher Zeit 4 Kinder im Krankenhaus hatte, starb die
9-jähr. Erna Seh., welche schon 4 Tage krank war, innerhalb 24 Stunden
nach der Aufnahme trotz einer Dosis von 3000 I.E. Die Geschwister,
die erst kürzere Zeit krank waren, genasen. Eigenartig wieder war der
Verlauf einer anderen Beobachtung. Die zuerst erkrankte Emilie T.,
die am 4. Tage gespritzt wurde, genas, während der am 2. Tage auf-
genommene Gustav T. einer Sepsis erlag. Es wäre vielleicht durch
eine höhere Dosis am Anfang der Behandlung Rettung möglich gewesen.
Von den Kindern einer anderen Familie starb die am 8. Tage gespritzte
12-jähr. Martha, während ihre jüngeren Geschwister, die früher in
unsere Behandlung kamen, gesundeten.
Ein Teil dieser Beobachtungen spricht für, eine Beobachtung gegen
die Serumtherapie, mehrere Fälle verhielten sich neutral. Auffällig
aber ist es mir gewesen, daß bei den Geschwistern, die gleich hohe
Serumgaben bekamen, durchgehends die älteren starben. Das könnte
immerhin bei dem geringen Umfang der Erhebungen auf Zufall be-
ruhen ; andererseits mahnt es uns, bei größeren Kindern von vornherein
trotz leichter Erscheinungen möglichst hohe Dosen zu verwenden.
Nun lag es auch nahe zu untersuchen, ob die früh in Behandlung
gekommenen Geschwister früher gesund geworden sind als die, welche
später injiziert wurden. Natürlich kann auch hier nur ein Vergleich
cum grano salis angestellt werden; denn, wenn auch die gleiche In-
fektion statt hat, so wird doch das eine Individuum mehr als das
andere von der Krankheit mitgenommen. Andererseits kommt es auch
sehr häufig vor, daß Eltern Kinder, die schon gesund sind oder sich
doch in voller Rekonvaleszenz befinden, im Spital lassen, da sie noch
ein anderes Kind dort haben. Die Krankheitstage vor der Serum-
injektion habe ich außer acht gelassen. Desgleichen habe ich nicht
berücksichtigen können Familien, von denen ein Kind gestorben ist,
da hier ein Tertium comparationis fehlt. Es ergab sich bei dieser Be-
652 Max Cohn,
rechnung, daß die früh injizierten Fälle nach 15,0 Tagen, die spät in-
jizierten nach 18,8 Tagen entlassen werden konnten. Bei dieser Rech-
nung habe ich aber auch alle Kinder derselben Familie mitgezählt, die
am gleichen Tage entlassen wurden. Das sind aber Vs &Uei* Fälle.
Diese Gruppierung wäre aber ungerecht, da, wie schon oben gesagt,
zumeist äußere Gründe die Veranlassung boten, Kinder länger als nötig
hier zu behalten. Bringe ich diese in Abzug, so war die Heilung bei
den Frühfällen nach 13,8 Tagen, bei den Spätfällen aber erst nach
20,7 Tagen ToUendet. Ferner ist es im höchsten Grade auffiUlig, daß
bei den Frühinjizierten viel weniger Komplikationen, die zu der Grund-
krankheit in Beziehung standen, zur Beobachtung kamen als bei den
Spätgespritzten.
Es liegt natürlich nahe, wenn man nach den Ursachen der Ver-
änderung in der Sterblichkeit bei einer Krankheit sucht, nachzuforschen,
ob überhaupt Analoga in der Geschichte der Medizin vorliegen, die
etwas Aehnliches darbieten. Ich habe eine solche vergleichende Statistik
gefunden. Das III. Vierteljahrsheft zur deutschen Reichsstatistik vom
Jahre 1903 enthält einen vergleichenden Bericht über die Todes-
ursachen der Jahrfünfte 1877/81 und gerade unserer Beobachtungszeit
1897/1901, der in seinen Einzelheiten außerordentlich bemerkenswert
ist. Die statistische Erhebung erstreckt sich über alle Städte mit mehr
als 15000 Einwohnern. In diesen deutschen Städten starben auf
100000 Seelen jährlich
Im Jahrfünft ^™ ereteren Jahr-
1877/1881 1897/1901 ^^^ I^^ ^'^^
überhaupt 26,73 20,46 1,3 mal
darunter
an Pocken 1,5 0,04 37,5 „
„ Flecktyphus 2,6 0,06 433 „
„ an Kindbettfieber 14,4 5,1 2,8 „
„ Masern und Bötein 27,6 21,3 13 «
„ Diphtherien. Bräune 993 31,1 3,2 „
„ Lungenschwindsucht 357,7 218,7 1,6 t»
als in dem letzten
Jahrfünft 1897/1901
Der Statistiker schließt diesen Erhebungen einen Lobeshymnus auf
unsere moderne Medizin an: „Diese Sterblichkeitsherabminderung ist
ein Ergebnis des Fortschrittes auf vielen Kulturgebieten. Sie ist ein
Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Städte und der der
Medizin, aber auch die Gesetzgebung darf einen breiten Teil des Er-
folges für sich beanspruchen. Haben die Städte durch Kanalisation«
Wasserleitung, Straßenbesprengung, Besserung in den Abortverhält-
nissen und in der Beseitigung der Abfallstoffe, Schaffung von Licht und
Luft durch breite Straßen und grüne Plätze, Anlage von Bädern und
Spielplätzen, bessere hygienische Bedingungen, so haben die Fortschritte
der Medizin und Chemie, die antiseptische und aseptische Behandlung
Erfahrungen über Senimbehandlung der Diphtherie. 663
der Wanden und die Bekämpfung der Ausbreitung der Infektions-
krankheiten mittels der Desinfektion, das Behring sehe Serum, die
vermehrte Zahl der Aerzte und des Heilpersonals, der Heilanstalten
und Genesungsheime für die Erkrankten bessere Aussichten auf Heilung
und für die Umgebung der Kranken besseren Schutz gegen die An-
steckung geschaffen/' Es handelt sich in dieser Zusammenstellung um
Infektionskrankheiten. Aus der Reihe springt eine Krankheit bei den
absoluten Zahlenangaben am häufigsten hervor: die Diphtherie. Und
bei den Verhältniswerten ist sie es wieder, die neben den Pocken und
dem Flecktyphus zu den Krankheiten gehört, die am wesentlichsten in
der Mortalität zurückgegangen sind. Der Typhus exanthematodes scheidet
aus der Betrachtung aus, weil wir wissen, daß sein Auftreten an be-
stimmte soziale Mißstände geknüpft ist. Da ist es doch sehr eigentüm-
lich, daß die Pocken und die Diphtherie als besondere Merksteine stehen
bleiben. Die Pocken verdanken ihren Rückgang dem Impfzwang. Sollte
da nicht auch die Diphtherie durch das BEHRiNGsche Serum so günstig
beeinflußt sein, da hier ganz ähnliche Bedingungen für die Verbesserung
der Statistik vorliegen?
Aber wie wir eben gesehen haben, daß die Todesfälle nur zum
geringen Teil auf ein Versagen der spezifischen Therapie schließen
lassen, so dürfen wir andererseits nicht glauben, daß nun jeder Fall
von Diphtherie einzig und allein seine Heilung dem Serum verdankt
Und hierfür glaube ich auch in meinen statistischen Erhebungen An-
haltspunkte gefunden zu haben. Ich ging bei meinen Untersuchungen
von der Temperaturkurve aus, obwohl ich mir bewußt war, daß ich
wegen ihres schwankenden Charakters auf Schwierigkeiten stoßen würde.
Bis jetzt hat sich der Glaube aufrecht erhalten, daß nicht nur die
Temperaturkurve der Diphtherie nichts Charakteristisches aufweist,
sondern daß die Krankheit fieberfrei verlaufen könne. Baginsky schreibt:
„Das Fieber ist überaus schwankend im diphtherischen Prozeß. Ja, es
hat die Temperaturkurve eigentlich nirgend etwas Charakteristisches. Es
wird wichtig sein, dessen bei der Beurteilung therapeutischer Einwirkung
eingedenk zu bleiben.'* Böse dagegen ist Optimist genug anzunehmen,
daß in dem Umstand, daß bei der Mehrzahl seiner Fälle die Temperatur
am Tage nach der Aufnahme zur Norm zurückkehrte, eine Heilwirkung
des Serums zu sehen sei. Er bedenkt dabei nicht, daß die Kinder vor
der Aufnahme schon krank waren, und daß anerkanntermaßen die
Fieberkurve bei der Diphtherie nur kurze Zeit hoch bleibt. Noch ge-
suchter scheint mir der Schluß Wenners, der zu dem Resultat kommt,
daß die innerhalb 3,6 Tagen erfolgte Temperaturherabsetzung unter
37,5 ®, die bei allen Fällen eintrete, als Serumwirkung aufzufassen sei. Ist
es an sich schon sehr merkwürdig, daß die Anwendung eines spezifischen
Heilmittels — man denke an die anderen Sera — keine Temperatur-
steigerung hervorruft, so ist es andererseits nicht angängig, den Schlüssen
654
Max C o h 11 ,
BosEs und Wenners zu folgen. Ich für meinen Teil meine, daß
bei jeder diphtherischen Erkrankung, ebenso wie bei jeder anderen
Infektion der Organismus mit einer Temperaturerhöhung reagiert.
Diese kann yerschieden lange dauern, meist ist sie auf 1—2 Tage
beschränkt.
40,0
1
2
i
4
5
(
t)
7
8
9
10
39,5
39,0
A
/
^>
38,5
^
V
V
-%
38,0
\
k
V
'\^
37,5
\
A
V
L
^
Ä
A.
J\
^
37,0
36,5
aß n '
V
^N
^^^
^\
^ Ä
r >
^ i
f ^
V
k
^
*
V
V
V
Kurve V. Nonnal-Fieberkurye der unkomplizierten Diphthoie. Durchschnitt
von 50, Tom 1. Tage an beobachteten Fällen.
Ich habe mir eine Normalfieberkurve der unkomplizierten Diphtherie
hergestellt, die gewonnen wurde von 50 Fällen, welche am ersten Tage
in i| unsere Behandlung traten. Die Temperaturen sind im Rectum ge-
messen. Daß es sich nicht um eine willkürliche Kurve handelt, sondern
daß sie den wirklichen Verhältnissen entspricht, beweist mir der Um-
stand, daß sie der von Heubner veröflFentlichten in der Hauptsache
gleicht. Unter all den 50 Kindern hatten nur drei am ersten Tage
keine Temperaturerhöhung auf 38^. Mir scheint demnach der Schluß
berechtigt, daß diese Patienten schon länger als einen Tag krank waren,
und den Eltern nur die Unpäßlichkeit entgangen war. Als ich weiter-
hin die Temperaturkurve meiner sämtlichen 1000 Fälle studierte, machte
ich die Wahrnehmung, daß 146 Patienten überhaupt während ihres
Krankenhausaufenthaltes kein Fieber hatten. Am wievielten Tage aber
kamen diese ins Krankenhaus?
Am 1. Tage kamen II Fälle in unsere Behandlung
1»
2. ,
> II
43
»
»» II
(davon starben 2)
»
3. ,
49
11
» 11
n
4. ,
5. ,
15
8
1»
1 II
ti
i>
1 11
II
6. ,
7. ,
2
8
II
1 1»
»»
M
» n
n
8. ,
9
1»
1 n
(davon
starb 1)
später
kam
1
Fall
> >>
Erfahrungen über Serambehandlung der Diphtherie. 655
Die Zahl elf von den am ersten Tage Eingetretenen unter 146 Fällen
entspricht der Zahl drei unter 50 Fällen: sie verhalten sich prozen-
tualiter fast gleich und fallen mit großer Wahrscheinlichkeit einem
Mangel der Beobachtung zur Last. Bei den anderen Patienten dagegen,
deren Gros am 2^ 3. und 4. Tage injiziert wurden, stehe ich nicht an
zu glauben, daß das Serum auf ihre Heilung nicht mehr von Einfluß
gewesen ist.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß auch die Fälle, die
von vornherein zu den schweren und früher zu den unheilvollsten
rechneten, eine weit günstigere Statistik geliefert haben als je zuvor:
die Laryngostenosen. Hier sehen wir, wenn die Prognose nicht von
Anfang an wegen bestehender Komplikationen als ungünstig zu be-
zeichnen war, in der überwiegenden Mehrzahl frappierende Erfolge.
Emder, die eben noch mit dem Tode in der entsetzlichsten Weise
rangen, saßen wenige Stunden später spielend in ihrem Bettchen. Alle
Einwände der unbedingten Serumgegner fallen da in ein Nichts zu-
sammen. Früher wurden diese Kinder ins Spital gebracht, wenn sie
dem Ersticken nahe waren; jetzt ist es nicht anders. Von 261 Tracheo-
tomierten wurde 156mal der Luftröhrenschnitt sofort ausgeführt, und
von diesen starben 38. Das gibt dasselbe Resultat wie bei den Fällen,
die erst kürzere oder spätere Zeit nach der Aufnahme tracheotomiert
werden.
Als ein gleichwichtiges Moment für die günstige Beeinflussung der
Krankheit durch das Diphtherieserum sehe ich die Koinzidenz des Um-
schwunges der Resultate mit der Einführung der neuen Behandlung an.
Nicht nur die Ueberlieferung aus der BAOiNSKTschen Anstalt, das
eigenartige Verhalten im Krankenhause Bethanien sind es allein, die
hier die Beweisführung zur Gewißheit erheben. Auch bei uns, wo
neben wenigen anderen Anstalten die ersten Versuche mit der
Diphtherieserumtherapie gemacht wurden, trat mit dem Augenblick der
fakultativen Anwendung sofort ein Umschwung ein, wie er an den
anderen Berliner Krankenhäusern nicht zu konstatieren war.
Schwer fällt es, sich über die Dosierung des Mittels schlüssig zu
werden. In den ersten Jahren der Serumtherapie waren die Resultate
bei wesentlich niedrigeren Dosen gleichgute als jetzt bei Injektion von
ungleich mehr Immunisierungseinheiten. Trotzdem sind wir auf Grund
der Einzelbeobachtung, der in dieser Abhandlung kein Recht werden
konnte, und der Geschwistertabelle zu der Ansicht gelangt, daß große
Dosen, frühzeitig angewandt, eine größere Chance auf Erfolg haben.
Zweifelhaft kann man sein, wie man sich bei den Erwachsenen verhalten
soll. Die Mortalität ist etwa die gleiche geblieben, wie in der Vor-
serumperiode. Wenn man sich bei der Injektion, wie es im Wesen
unserer jetzigen Diphtherieimmunisierung liegt, nach dem Körpervolumen
der Individuen richten sollte, so wären natürlich allergrößte Dosen am
«56 Max Cohn,
Platze. Das wird sich in praxi schwer rechtfertigen lassen, zumal
viele Erwachsene, die auf Grund einer Vermutung auf die Abteilung
kamen, nur an Angina litten. Es dürfte sich empfehlen, bei dieser
mehr der Prophylaxe als der Heilung wegen eine einmalige Dosis von
1000 I.E. zu verwenden.
Damit komme ich auf ein neues Gebiet: die Anwendung
des Diphtherieserums zu Immunisierungszwecken. Wir haben im
Krankenhaus Moabit keine Isolierstation, auf die alle Infektionskranke
zuerst aufgenommen werden, die Patienten kommen auf eine Station,
auf der sie auch weiterhin verbleiben. So werden natürlich viele
Fälle von Angina, die bei genauer Beobachtung der zuerst in Be-
tracht gezogenen Diagnose „Diphtherie'' nicht stand halten, auf die
Diphtheriestation aufgenommen. Nun ist ja allerdings die Diphtherie
nicht eine von den exzessiv ansteckenden Krankheiten; immerhin ist
es erwähnenswert, daß so gut wie gar keine üebertragungen auf der
Station erfolgten, da alle Patienten ohne Rücksicht auf die bakterio-
logische Untersuchung, die erst später Diphtherie von Nichtdiphtherie
trennte, sogleich injiziert wurden. Andererseits kamen auch sicher
Reinfektionen vor und zwar nicht sehr lange nach der ersten Injektion.
Ich selbst konnte erst vor kurzem einen Fall beobachten, wo ein Kind
14 Tage nach überstandener Diphtherie, die klinisch und bakterio-
logisch sichergestellt war, von neuem an Diphtherie erkrankte. Die
typischen Stäbchen wuchsen in Reinkultur; 1 ccm einer Aufschwemmung
oiner Oese, die einen Tag im Brutschrank gestanden hatte, führte bei
einem Meerschweinchen den Tod in 20 Stunden in charakteristischer
Weise herbei. Ein anderes Mal entwickelte sich an dem Granulations-
spalt der Tracheotomiewunde eine echte Wunddiphtherie. Ein solches
Vorkommnis will aber wenig sagen gegenüber der Tatsache, daß früher
solche Ereignisse zu den Alltäglichkeiten gehörten. Andere Autoren
haben Gleiches beobachtet, so besonders Rose, obwohl aus seinen Ver-
öffentlichungen nicht hervorgeht, ob bei seinen Fällen die bakterio-
logische Untersuchung mitgesprochen hat. Desgleichen berichtet Kraus,
daß von 122 injizierten Kindern, die der Ansteckung mit Diphtherie
ausgesetzt waren, 119 verschont blieben, 3 dagegen erkrankten.
ScHABAD ging von der Wahrnehmung aus, daß öfters einmal eine
Scharlacherkrankung von einer Diphtherie gefolgt wird. Er machte
deswegen den Scharlachkranken alle 2—3 Wochen antidiphtherische
Seruminjektionen; doch erkrankten 5 Proz. aller Fälle trotz der Ein-
impfung der Antitoxine an Diphtherie, was durch die genaue Unter-
suchung von 7 solchen Kranken bewiesen wurde. Trotz der vor-
genommenen 3 Seruminjektionen, trat in einem Falle am 38. Tage der
Krankheit Krup auf, und zwar einen Tag nach der 3. Einspritzung.
In allen 7 Fällen erwiesen sich die angesetzten Kulturen nach ihrer
morphologischen Beschaffenheit, ihrer Färbung nach Neisser, der
Erfahrungen ttber Serumbehandlnng der Diphtherie. 6Ö7
Säurebildang in der Bouillon als echte LÖFFLER-Bacillen. Die patho-
logische Wirkung auf Tiere wurde 6mal untersucht: Alle 6 Meer-
schweinchen gingen nach 24—36 Stunden an den charakteristischen
Erscheinungen einer akuten Diphtherieinfektion zu Grunde. Wenn
schon die vor 10 Jahren geäußerte Meinung Behrings, daß in der
Literatur kein nennenswerter Autor zu finden wäre, der meint, daß
Diphtherie bei demselben Individuum öfter vorkomme, nicht den Tat-
sachen entspricht, so kann ich mich nicht einmal denen anschließen,
die annehmen, daß das BEHRiNosche Serum in jedem Falle gegen
Diphtherie immun mache. Wenn Wieland kurzweg behauptet, der
Impfschutz dauere 3 Wochen, so entspricht das nicht unseren Beob-
achtungen und nicht denen anderer. Es ist aber nichts besonders
Aufifälliges, daß die Immunität anscheinend nur von ganz kurzer Dauer
ist und zwar gerade aus dem Grunde, den Behring negiert. Es
müssen sich ja bei jedem Patienten, der eine Diphtherie durchmacht,
Antitoxine gebildet haben, und trotzdem kann dasselbe Individuum
schon nach kurzer Zeit wieder erkranken. Warum sollten die Anti-
toxine des Pferdeserums mehr leisten als die vom eigenen Körper pro-
duzierten! Danach ist es in gewissem Grade wahrscheinlich, daß das
Diphtherieserum für ganz kurze Zeit gegen Diphtherie immun macht;
die Sicherheit der WiELANDschen These besteht aber nicht zu Recht.
Man halte sich immer vor Augen, daß ein negativer Fall mehr Be-
weisendes gegen die Immunisierungstheorie als hundert für dieselbe hat.
Literatur.
Baginsky, Die Serumtherapie der Diphtherie. Berlin 1895.
V. Behring, Die Geschichte der Diphtherie, mit besonderer Berücksichtigung
der Immunitätslehre. Leipzig 1893.
— Das neue Diphtheriemittel. Berlin 1894.
Boss, Das Behringsche Diphtherieheilserum und die Erfolge, welche mit
demselben in der chirurgischen Klinik in Gießen erzielt worden sind.
Gießen 1896.
Deutsche Beichsstatistik 1903, 3. Vierteljahrsheft.
Escherich, Diphtherie, Krup, Serumtherapie. Leipzig 1895.
Henoch, Vorlesungen über Kinderkrankheiten, 1892.
Hbubnbb, Klinische Studien über die Behandlung der Diphtherie mit dem
Behringschen Heilserum. Leipzig 1895.
Kassowitz, Audiatur et altera pars. Jahrbuch für Kinderheilkunde, N. F.
Bd. 52.
Orth, Pathologisch-anatomische Diagnostik, 1894.
BosB und Hagbn, Die ersten zwölf Jahre der Diphtheriebaracke in Be-
thanien. Dtsch. Ztschr. f. Chir., Bd. 39, 1894.
658 Max.Cohn, Erfahrungen über Senunbehandlong der Diphtherie.
— Die Erfahrungen der Heilsermntherapie in Bethanien. Dtsch. Ztsch. f.
Chir., Bd. 4ß, 1897.
RosBNBACH, Arzt contra Bakteriologie, 1903.
SiBQBRT, Vier Jahre vor and nach der Einf&hrong des Diphtherieserums.
Jahrb. f. Kinderheilk., N. F. Bd. 52.
ScHABAD, Diphtherie und Diphtheriebacillen bei Scharlach. Basski Wratsch,
1902.
Wenner, Die Besaltate der Diphtheriebehandlang seit Einführang des
Diphtherieheilseroms am Kinderspital Zürich. Inaag.-Diss., Stattgart 1899.
WiBLAND, Das Diphtherieheilseram, seine Wirkungsweise und seine Leistungs-
grenzen bei operativen Larynxstenosen. Habilit.-Schrift. Jahrb. £
Banderheilk., N. F. Bd. 57.
ZiBOLBR, Pathologie und Anatomie, 1895.
Aus dem Rudolfinerhause in Wien-Döbling (Reg.-Rat Gersuny) und
dem Institut für allgem. und experiment. Pathologie (Prof. Paltaup).
Nachdruck verboten.
Totale Ausschaltung des Dickdarmes
bei Colitis ulcerosa.
Von
Dr. liiid-arig Moszko'orioz,
Sekundararzt des Bndolfinerhauses.
Die Zahl der chirurgisch behandelten Fälle von Colitis ulcerosa ist
nicht groß. Nehrkorn berichtet in seiner Arbeit (Mitteil. a. d. Grenzgeb.
d. Med. u. Chir., Bd. 12, p. 372) über 35 Fälle.
Um so auffallender ist, daß die Operateure in recht verschiedener
Weise vorgingen, ein Beweis dafür, daß sich jeder von anderen Ge-
sichtspunkten leiten ließ.
Nehrkorn hat das Verdienst, diese verschiedenen Operations-
methoden auf ihren Wert geprüft zu haben. Auf seine Ausführungen
muß ich zurückgreifen, wenn ich im folgenden eine neue Methode vor-
schlage. Es geschieht in der Hoffnung, daß damit auch gewisse
schwerste Fälle dieses schrecklichen Leidens der operativen Therapie
zugänglich gemacht werden könnten.
Ich will zunächst die einzelnen bisher angewendeten Operations-
methoden einander gegenüberstellen:
1) Enteroanastomose, Ileosigmoidostomie , Ileorektostomie (noch
nicht ausgeführt), eventuell gleichzeitig totale Ausschaltung des ober-
halb der Anastomose gelegenen Colonabschnittes (Wiesinger),
2) Anus am Ileum,
3) Anus am Coecum oder Colon ascendens,
4) Anus an Colon descendens oder sigmoideum,
5) Ventilfistelbildung am Coecum.
Als Zweck der Operation bezeichnet Nehrkorn:
1) den erkrankten Darmteil ruhigzustellen und von Kot freizu-
halten ;
2) durch lokale Behandlung die ulceröse Entzündung der Darm-
schleimhaut zur HeiluDg zu bringen.
660 Ludwig Moszkowicz,
Von diesen beiden Gesichtspunkten ausgehend, verwirft Nehrkorx,
wie ich glaube, mit Recht jede Art von Anastomosenoperation, weil
damit den stark geschwächten Patienten ein schwerer Eingriff zugemutet
wird und keine Möglichkeit lokaler Behandlung besteht.
Er spricht sich daher mehr für die Methoden aus, welche in An-
legung von Fisteln am Darm bestehen und eine lokale Behandlung
erlauben.
Wird diese Oefifnung am Ileum oder einem hochgelegenen Ab-
schnitt des Colons angelegt, dann ist der erkrankte Darm auch vor der
Bertlhrung mit Kot bewahrt. Ein Nachteil dieser Methoden ist, daß
die Patienten unter der Beschmutzung durch die an so hoch gelegenen
Darmabschnitten dünnflüssigen und allzu häufigen Entleerungen sehr
zu leiden haben. Dies wird vermieden bei der Anlegung einer Ventil-
fistel (nach Witzel-Kader) am Coecum. Dadurch wird zwar der
Stuhl von der entzündeten Darmpartie nicht vollständig abgeleitet, aber
eine Durchspülung des ganzen Colons ermöglicht Nehrkorn empfiehlt
namentlich die an der Heidelberger Klinik geübte Methode, die
Anlegung eines Kunstafters an einem tiefgelegenen Darmabschnitt,
Colon descendens oder sigmoideum. Dabei ist auch nur ein kleiner
Teil des erkrankten Darmes ausgeschaltet, aber eine lokale Behandlung
durchführbar. Die schon konsistenteren Kotmassen belästigen er-
fahrungsgemäß bei so tief angelegtem Kunstafter den Patienten viel
weniger.
Ich möchte nun in Kürze über eine eigene Beobachtung Mitteilung
machen, aus der hervorgeht, daß man mit diesen Eingriffen manchmal
doch nicht sein Auskommen findet
Die 27-jähr. Tapezierersgattin Th. M. (Pr. No. 17/1903) gab an, schon
längere Zeit an Stuhlverstopfung gelitten za haben, wobei dann öftei*,
wenn doch durch Abführmittel oder Klysmen Stuhl erzielt wm*de, Blut
dem Stuhl beigemengt war. Seit 6 Monaten leidet sie an starken Durch-
fällen, namentlich in letzter Zeit ist sehr viel Eiter und Blut dem Stuhl
beigemengt. Die Fat. hat 10 Entleerungen im Laufe des Tages, ebenso-
viele Nachts. Sie ist hochgradig abgemagert, ist außerordentlich blau and
schwach. Sonstige Beschwerden, Erbrechen, Meteorismus fehlen.
Die Aerzte diagnostizierten ein Rectumcarcinom. Bei der rektalen
Untersuchung fühlte man die Schleimhaut von Geschwüren eingenommen,
so daß die Diagnose erklärlich erscheint. Aber die Weichheit des Ge-
flchwürbodens ließ mich doch annehmen, daß es sich um einen ulcerativen
Prozeß ausgedehnterer Partien des Colons und nicht um Carcinome handle.
Ich empfahl die Anlegung eines Kunstafters.
Die Entleerungen bestanden aus Blut und Eiter. Außer der hoch-
gradigen Anämie war nichts Abnormes nachweisbar.
Am 16. Dez. 1902 wurde die Pat. im Aetherrausch operiert. Ich
schwankte bezüglich der Stelle des Colons, an der ich den Kunstafter an-
legen sollte. Wie Nehbkorn, sagte ich mir, daß die Beschwerden des
Kunstafters um so größer werden müßten, je höher ich die Stelle wählte.
Ich fand die Flexura sigmoidea starr infiltriert und hatte den Eindruck,
Totale Ausschaltung des Dickdarmes bei Colitis ulcerosa. 661
daß die Infiltration gegen das Colon transversum hin abnehme. Ich nähte
also eine Schlinge des Colon transversum in den Medianschnitt, der im
übrigen verschlossen wurde.
Am 3. Tage wurde die vorgelegte Darmschlinge mit dem Thermo-
kauter eröffnet und in den nächsten Tagen die Oeffnung erweitert, so daß
zuletzt zwei Lumina vorlagen.
Decursus: Schon nach kurzer Zeit nahm die Zahl der analen Ent-
leerungen ab. Sie erfolgten 3 — 4mal am Tage, gar nicht mehr in der
Nacht, und bestanden hauptsächlich aus Schleim, dem Blut in Form von
Fasern beigemengt war. Aus dem Kunstafter entleerte sich 2 — 3mal
täglich breiiger Stuhl. Zum Verschlul! des Anus bekam Fat. eine Felotte
mit Stöpsel.
Sehr früh wurde mit medikamentösen Spülungen der ausgeschalteten
Darmteile begonnen. Die Medikamente wurden mehrmals gewechselt. Eine
Zeitlang wurde nach gründlicher Durchspülung mit lauem Wasser eine
Aufschwemmung von Dermatol eingegossen, später von Bismutum subnitri-
cum. 1-proz. Lapislösung erzeugte heftige Schmerzen. Später wurden
Stärkeklysmen mit Lapiszusatz etwa 1 : 1000 verabreicht.
Der nicht ausgeschaltete Teil des Colons wurde zeitweilig durch eine
Wasserirrigation vollständig entleert.
Am 5. Jan. 1903 konnte Fat zum erstenmal zur Wage gebracht
werden. Sie wog 39,5 kg, während sie ein Jahr zuvor ein Gewicht von
60 kg gehabt hatte. Von da ab nahm das Gewicht stetig zu. Die Fat.
wog am 7. März 44,6 kg, am 24. April 48,8 kg, am 23. Mai 49,0 kg, am
12. Juni 49,6 kg. Sie ging auch vom Januar ab umher, konnte gemischte
Kost vertragen. Die Blutuntersuchung ergab freilich noch am 31. März
einen Hämoglobingehalt von 36 Froz., mit dem FLSiscHLSchen Hämometer
gemessen, und es stieg auch späterhin der Hämoglobingehalt nicht über
diese Zahl hinaus.
In ihrer Bekonvaleszenz wurde Fat. zweimal gestört durch Venen-
thrombosen an beiden Beinen, die mit hohen Temperaturen einhergingen
und sie zeitweilig ans Bett fesselten. Hie und da nahm auch in der
analen Absonderung der ^l^tgehalt wieder zu.
Ende April wurde ein mit Quecksilber gefüllter Kondomfingerling an
einen Seidenfaden gebunden in das periphere Lumen des Kunstafters ein-
geführt, erschien sehr bald im Rectum und wurde per anum heraus-
gezogen. Mit Hilfe des Seideufadens wurde nun ein Drain durch den
ausgeschalteten Darm gezogen. Die Entfernung vom Kunstafter zum
natürlichen After wurde mit 47 cm bestimmt. Täglich wurde nun das
zum Teil vorgezogene Drain mit Lapissalbe bestrichen und dann in den
erkrankten Darm eingeschoben, so daß die Ulcera des Darmes wie ein
granulierendes Ulcus der Haut behandelt werden konnten. Später zeigte
es sich, daß die Heilung des ulcerösen Frozesses auch wirklich weit vor-
geschritten war.
Ende Juni erklärte die Fat., dalS sie den Kunstafter nicht länger be-
halten möchte, sie wolle, wenn es nicht anders gehe, sich jeder noch so
geftlhrlichen Operation unterziehen.
Dem fortwährenden Drängen der Fat. nachgebend, faßte ich den Flan,
den ganzen ausgeschalteten Darm abschnitt, der noch immer Blut absonderte,
zu exstirpieren und womöglich das Ende des Colon transversum in den
Anus einzupflanzen.
Am 29. Juni wurde das Colon vom Kunstafter ab, also das halbe
Colon transversum, Colon descendens und sigmoideum exstirpiert, was ver-
Mitteil. a. d. OnnifeUeten d. Medlxln a. Chirurgie. Zm. Bd. 43
662 Ludwig Moszkowicz,
h<nismäßig leicht gelang. Wegen der Schwäche der Fat. konnte aber
nicht fortgefahren werden. Es wurde der Reotumstumpf übemäht, der
Anus praeternaturalis belassen.
Die Fat. starb 2 Tage nach dem Eingriff.
Die Untersuchung des resezierten Darmstückes durch Herrn Professor
Albrscht ergab:
Etwa 40 cm langes (nach FormaHnhärtung) ziemlich stark kontra-
hiertes (etwas verengtes?) Dickdarmstück mit reichlichen Appendices epi-
ploicae. An dem einen Ende zeigt die Schleimhaut das weiße Aussehen
von Flattenepithel [Anus praeternaturalis]. Die ganze Darmwand ist
überall beträchtlich hypertrophisch und zwar in allen ihren Schichten, so
daß man deutlich die graugelbliche, bis 3 mm dicke Muscularis von der ver-
breiterten Submucosa bis auf 1 mm und diese von der wulstigen, bis 3 mm
dicken Schleimhaut abgrenzen kann. Letztere ist in dichtstehenden Hirn-
gyris ähnlichen Zügen und Windungen angeordnet, graurot und vielfach
mit blutigem trüben Schleim oder zartesten Fibrinauflagerungen bedeckt.
Zwischen den wulstig prominierenden Schleimhautzügen erscheint dieselbe
außerordentlich dünn von zartem Narbengewebe durchsetzt, welches in die
Submucosa einstrahlt. Diese den Sulci der Hirnrinde vergleichbaren
Narbenzüge sind sehr schmal, so daß man sie erst beim Auseinander-
ziehen der Schleimhaut deutlich sieht und teils in der Längsrichtung, teils
unregelmäßig quer angeordnet. Die längsverlaufenden sind beträchtlich
länger als die queren. Am reichlichsten finden sie sich in dem der Flexara
sigmoidea entsprechenden Anteile. Alte oder tiefgehende ülcerationen
sind nicht nachweisbar.
Histologisch zeigt sich eine geradezu polypöse Wucherung der
Schleimhaut. Die so entstandenen Zotten sind alle mit schönem Cylinder-
epithel bedeckt, dieses fehlt nur stellenweise, namentlich zwischen den
Zotten, wo die Schleimhaut von einer frischen Fibrinscbicht bedeckt ist,
welche Leukocyten, rote Blutkörperchen und die abgestoßenen Epithelien
einschließt. Die Schleimhaut selbst sowie die Submucosa sind außer-
ordentlich reichlich und dicht von Bindegewebszügen durchzogen, die
Muscularis sehr stark hypertrophisch. Im Bereich derselben zahlreich«
große Lymphgefäße, die mit sehr großen Endothelien voUgeftillt sind.
Ausgedehnte Narbenbildung ohne Schleimhautüberzug oder alte Geschwürs-
bildung fehlt.
Die am 2. Juli 1903 von Herrn Frof. Albrecht ausgeführte Ob-
duktion ergab: Anaemia gravis universalis. Feritonitis diffusa (etwas
Eiter in der linken Lende, von da aus erfolgte offenbar die Infektion)
Degeneratio adiposa et infiltratio cordis, hepatis et renum. Colitis
ulcerosa coeci, coli ascendentis et transversi. (Der ganze zurück-
gebliebene Teil des Dickdarms war von Geschwüren bedeckt, nur spär-
liche Schleimhautinseln sind stehen geblieben. Das Eectum (etwa 15 cm
lang), zeigt ebenso wie das bei der Operation excidierte Stück den ge-
schwürigen Frozeß in Heilung begriffen.
Die Anlegung des Anus praeternaturalis hatte bei meiner Fatientin
ohne Zweifel Erfolg gehabt. Schon die oberflächliche Betrachtung des
ausgeschalteten Darmstückes, noch mehr die histologische Untersuchung
legten dar, daß der ulceröse Frozeß hier der Heilung sehr nahe war.
Nirgends fand sich eine größere Geschwürsfläche, nur einzelne epithel-
freie Stellen waren von Fibringerinnseln bedeckt. Im übrigen fanden
Totale Ausschaltung des Dickdarmes bei Colitis ulcerosa. 663
sich zwischen den erhalten gebliebenen Schleimhautinseln Narbenzüge
als Reste der ehemaligen Geschwüre. Dagegen mußte in den Partien
des Colons von dem am Colon transversum angelegten Kunstafter auf-
wärts der Geschwtirsprozeß noch weiter vorgeschritten sein. Es fanden
sich bei der Obduktion nur Spuren von Schleimhaut Von der Kot-
fistel bis an die Ileocökalklappe erstreckte sich eine kolossale Oeschwürs-
fläche. Die Patientin wäre diesem Leiden wahrscheinlich auch ohne
die zweite Operation bald erlegen, da sie die anhaltenden Blut- und
Säfteverluste an der großen Geschwürsfläche nicht aushalten konnte.
Die Anlegung eines Anus praeternaturalis am Colon transversum
war also ungenügend. Nur eine vollständige Ableitung des Kotes
durch einen Kunstafter am Coecum oder Ileum hätte den ulcerativen
Prozeß zur Heilung kommen lassen.
Dieser Fall lehrt also, daß der Kunstafter an einer tiefen Stelle
des Colons (Colon descendens oder sigmoideum) wie ihn Nehrkorn
empfiehlt, in einer Reihe von Fällen sich als ungenügend erweisen wird.
Es ist unsere Aufgabe, den Anus praeternaturalis am Coecum oder
noch besser am Ileum anzulegen und ihn ofifenzuhalten, solange noch
Blutabgang per anum darauf hindeutet, daß der ulcerative Prozeß noch
nicht vollständig geheilt ist.
Damit geraten wir aber in einen Konflikt mit den Patienten, die,
meist sind es ja Menschen im mittleren Alter, durch ihren Kunstafter
von jeder Gesellschaft, von jeder Arbeitsgelegenheit ausgeschlossen sind.
Sie verlangen stürmisch den Wieder Verschluß der Fistel. So ging es
mir, so auch anderen Operateuren. Es ist über mehrere Fälle be-
richtet, in denen der Operateur, gegen seine bessere Einsicht handelnd,
auf Wunsch des Patienten die Fistel schließen mußte. Wiederholt hatte
dies auch ein Wiederaufflackern der Colitis zur Folge.
Wir dürfen mit Nehrkorn annehmen, daß dies öfter geschehen
ist, als mitgeteilt wurde. Es zeigt sich also, daß wir über die Dauer-
erfolge der chirurgischen Behandlung der Colitis nichts Bestimmtes
wissen. Und ich möchte noch besonders darauf aufmerksam machen,
daß, wenn auch die Heilung des Geschwürsprozesses eine vollständige
war, doch wahrscheinlich einzelne der Patienten später an narbiger
Stenose des Colons zu leiden haben werden, die namentlich nach tiefer-
greifenden ülcerationen sich entwickeln dürften.
In dieser Hinsicht ist das Präparat des von mir excidierten Darm-
teiles recht instruktiv. Unterhalb des Kunstafters war die Schleimhaut
ja nahezu geheilt, aber alle Schichten des Darmes waren kleinzellig
infiltriert. Die Schleimhaut selbst zeigte ein Gitterwerk von Narben-
strängen, durch die das Lumen gleichmäßig verengt war. Es ist wahr-
scheinlich, daß diese Narben späterhin noch weiter geschrumpft wären.
Ich legte mir die Frage vor, ob es für diese Fälle keine Hülfe
43*
664 Ludwig Moszkowicz,
gebe, ob es nicht möglich wäre, bei so vorgeschrittenen Stadien der
Krankheit auf den erkrankten Darm für immer zu verzichten.
Unsere Aufgabe ist, durch einen möglichst einfachen
Eingriff, den die geschwächten Patienten eben nochaus-
halten, den gesamten Dickdarm auszuschalten und eine
Entleerung des Stuhles an normaler Stelle zu ermög-
lichen. Dies scheint mir durchführbar durch Einpflan-
zung des Ileum in den Anus.
Die Operationsmethode ist analog jener, die mein Chef Regierungs-
rat Gersuny vor Jahren zur Bildung einer künstlichen Blase bei Ec-
topia vesicae angegeben hat^).
Es werden die Ureteren ins Rectum implantiert und oberhalb der
Implantationsstelle der Darm quer durchschnitten. Dadurch wird das
Rectum (dessen Querschnitt vernäht wird) ausschließlich Harnreservoir.
Das abgeschnittene Ende des S romanum wird (nach genügender
Mobilisierung des Mesosigma) unmittelbar vor dem Anus innerhalb des
Sphincter ani, dessen Innervation dabei nicht leidet, nach außen geleitet
Die Patientin war an den schweren Veränderungen der Nieren,
die schon vor der Operation bestanden, zu Grunde gegangen, immer-
hin hatte sich die Idee als operativ durchführbar erwiesen.
Ich beabsichtigte nun, in gleicher Weise das unterste Ileum in den
Sphinkter einzupflanzen. Dadurch'Väre der Dickdarm total ausgeschaltet,
eine Entleerung an normaler Stelle und Kontinenz gewährleistet Im
nachfolgenden möchte ich über einige Tierversuche berichten, die ich
mit gütiger Erlaubnis des Herrn Prof. Paltaüp in dessen Institut
für allgemeine und experimentelle Pathologie anstellen konnte.
Es wurde Imal an einer Katze, 4mal an Hunden in Aethernarkose
operiert Zunächst wurde an der vorderen Umrahmung des Anus knapp
am Uebergang der Haut in die Schleimhaut diese eingeschnitten und
die Rektalschleimhaut stumpf vom Sphinkter abgelöst, so daß zwischen
beiden eine Tasche entstand, die nun mit Gaze locker ausgestopft wurde.
Hierauf wurde durch Medianschnitt unterhalb des Nabels die Bauch-
höhle eröffnet und das Goecum aufgesucht Es gelingt dies, wenn der
Bauchschnitt nicht sehr groß gemacht wird, beim Hunde nicht leicht
Ich verfolgte meist das Colon vom Rectum aufwärts bis ans Coecum.
Nun wird das Ileum knapp vor seiner Einmündung ins Coecum quer
durchschnitten, das periphere Lumen übernäht, das zentrale Ende mit
einem Faden umschnürt und die Fadenenden lang gelassen.
Während nun 2 Finger dieses lange Fadenende einführen, wird
vom Anus her eine Kornzange in die vorher präparierte Tasche bis
1) Demonstration in der Wiener gynäkologischen Gesellschaft, 29. Nov.
1898. Ref. im Centralbl. f. GynäkoL, 1899, p. 207 u. 208. Fogbs, ein
Fall von Blasenektopie und Spaltbecken. Zeitschr. f. Heilkd., 1899, S. 245.
Totale Aussobaltung des Dickdarmes bei Colitis ulcerosa. 665
ans Peritoneum geführt und durch dieses durchgestoßen. Durch OeflFnen
der Kornzange wird der Peritonealschlitz im tiefsten Punkt des Douglas
noch erweitert, dann faßt die Kornzange die von oben entgegen-
gehaltenen Fadenenden und zieht den Faden und damit den Dünn-
darm bis vor den Anus. Es gelang dies ganz leicht, trotzdem diese
Operation an Tieren eigentlich im Dunkeln ausgeführt wird. Bei den
größeren Raumverhältnissen des Menschen muß die Eröffnung des
tiefsten Punktes des Bauchfelles und die Durchziehung des Dünndarms
noch leichter, weil unter Leitung des Auges, zu bewerkstelligen sein.
Das Mesenterium des Dünndarms mußte meist an einer Stelle ein-
gekerbt werden unter Schonung der sichtbaren großen Gefäße. Dann
war es lang genug, um ein Durchziehen des Dünndarms durch den
Anus zu gestatten.
Das Lumen des Dünndarms wurde nun sorgfältig im Schlitz der
Analschleimhaut eingesäumt, so daß schließlich innerhalb des Sphinkters
zwei Lumina zu sehen waren, jenes des Rectums und des vor diesem
herausgeleiteten Ileums. Nachfolgend gebe ich die Protokolle der Ver-
suche wieder.
I. Katze 2800 g, Männchen.
Operiert, wie oben beschrieben, am 27. Aug. 1903.
29. März. Sehr schwach. Phlegmone am Perineum, das von dünn-
flüssigem Dünndarminhalt durchnäßt ist. Wunde wimmelnd von Fliegen-
maden.
1. April. Exitus.
Obduktion : Fliegenmaden an Bauchdecken und Perineal wunde. Keine
Peritonitis. Dünndarmschlinge fix am Beckenboden. Mesenterium etwas
straff gespannt. Dünndarminhalt dünnflüssig.
IL Braune Hündin, 5 kg, operiert 2. Sept. 1903. 10. Sept erste
Nahrungsaufnahme. Bis dahin war das Tier apathisch. Die Wunde am
Anus wird wiederholt abgeleckt. Tägliche Bäder taten dem Tiere sicht-
lich wohl. Es begann von da ab begierig zu fressen.
14. Sept. Vollkommen munter, 3 800 g, frißt viel. Aus dem Dtinn-
darmanus entleeren sich nahezu ununterbrochen braune breiartige
stuhlähnliche Massen.
16. Sept. Plötzliche Schwäche. Exitus.
Obduktion: Hämon-agisches Exsudat in der Bauchhöhle. An der
Uebernähung des peripheren Dünndarmstumpfes nahe am Coecum ist das
Netz adhärent. Bei der Ablösung quillt gelber Eiter hervor. Das Ileum
haftet im Anus fest und ist strotzend gefüllt. Die Füllung nimmt
nach oben ab. Der Darminbalt ist in den unteren Partien dickflüssig
und braun, gegen den Magen zu dünnflüssig und weißlich-gelb.
III. Hund, 9400 g, operiert 22. Sept. 1903.
Es wurde wie sonst operiert. Ueberdies wurde 10 cm oberhalb des
analen Endes des Dünndarms durch eine fortlaufende ringförmige Naht
eine leichte Invagination des Dünndarms als Ersatz für die Ileocökal-
klappe erzeugt.
28. Sept. Der Hund frißt, aber nur bestimmte Speisen.
666 Ludwig Moszkowicz,
dO. Sept. 65 50 g. Der Stuhl wird viel seltener und kompakter
abgesetzt als bei dem ersten Hunde.
3. Okt. 6100 g. Der Hund ist munter. Während einer ^/^-8ti\n6igen
Beobachtung kein Stuhlabgang. Sphinkter gut kontrahiert.
14. Okt. Stark abgemagert, 5200 g, entleert dttnnfiassigen Stuhl,
frißt ungern.
16. Okt. Exitus.
Obduktion: Der Dünndarm liegt vor der Blase, nicht zwischen ihr
und Rectum. Er ist oberhalb der Invaginationsstelle auch etwas torquiert,
oberhalb erweitert. Unterhalb der Invaginationsstelle, oberhalb des Sphink-
ters, findet sich ein haselnußgroßer derber Knäuel, aus geschluckten Haaren
bestehend, der also durch den Sphinkter zurückgehalten wurde.
IV. Rattler, 7800 g., operiert 16. Okt. 1903.
Es wurde wie beim vorigen Hund 20 cm oberhalb des analen Dünn-
darmendes eine Invagination erzeugt, überdies wurde oberhalb der Inva-
gination der Dünndarm viermal zickzackförmig abgeknickt, wobei die
Knickungen durch Aneinandemähen der Darmschlingen fixiert wurden.
Der Dünndarm wurde irrtümlicherweise nicht in den Anus, sondern
etwas höher oben im Rectum durchgezogen.
Exitus 21. Okt. Stuhlgang war selten und breiartig.
Obduktion: Phlegmone an der Einpflanzungsstelle des Dünndarms ins
Rectum.
Die Invagination und die Schlingenbildung hatten nicht als absolute
Stenose gewirkt, der Darminhalt ist unterhalb derselben wesentlich mehr
eingedickt.
V. Rattler, 10 600 g, 28. Okt. operiert.
Invagination 10 cm oberhalb des Anus.
2. Nov. 8400 g, frißt, ist trocken, setzt den Stuhl in größeren
Intervallen ab.
5. Nov. 7300 g, krank, Rhinitis, vielleicht Pneumonie.
8. Nov. Exitus;
Obduktion: Bauchdeckenabsceß. Absceß am Coecum. Unterhalb der
Invagination kein Stuhl, oberhalb dünnflüssiger Darminhalt.
Das Resultat der Versuche ist scheinbar ungünstig, da es mir nur
einmal gelang (Versuch III), ein Tier 25 Tage am Leben zu erhalten, das
stark abgemagert zu Grunde ging, während alle übrigen früher meist
an Infektionen eingingen.
Doch ist zu bedenken, daß die Hunde für diesen Versuch minder
geeignet sind, da sie einen sehr kurzen Dünndarm haben, daher der
Ausfall der Dickdarmresorption nicht gut vertragen wird.
Für den Menschen dagegen ist erwiesen, daß eine Fistel am un-
tersten Ileum sehr gut vertragen wird. Vor kurzem konnte ich mich
sogar überzeugen, daß sogar der Mitte des Dünndarms entsprechend
eine Fistel angelegt werden darf. (Siehe meine Arbeit „Die erhöhte
Resistenz des Peritoneums bei der akuten Perityphlitis, Fall 909, 1903.
(Arch. f. klin. Chir., Bd. 72, Heft 4.) Es wurde die Verkleinerung der
Resorptionsfläche durch gesteigerte Nahrungsaufnahme wettgemacht.
Totale Ausschaltung des Dickdarmes bei Colitis ulcerosa. 667
Daß eine sorgsame Pflege dabei auch sehr wichtig ist, ist selbstver-
ständlich, doch ist sie bei Tieren schwer durchzuführen.
Mbtschnikofp zitiert in seinem jetzt viel gelesenen Buche „Studien
über die Natur des Menschen*^ einige hieher gehörige Fälle von Aus-
schaltung des Dickdarms, um zu zeigen, daß dieser ein überflüssiges,
vielleicht sogar schädliches Organ in unserem Organismus darstellt.
Besonders beweisend ist der Fall von Cibghomski und M. Jakowski
(Arch. f. klin. Chir., Bd. 48, p. 136.).
Die 59 Jahre alte Frau hatte seit 35 Jahren eine Kotfistel, die, wie
eine Operation später zeigte, eine Fistel des untersten Ileum war. Sie
war verheiratet, hatte dreimal entbunden und war arbeitsfähig.
Durch das Experiment war zu erweisen, ob der Eingriff an sich
überstanden werden kann und ob Kontinenz zu erzielen ist.
Die Versuche ergaben, daß in allen Fällen der Dünndarm gut
fixiert vor dem Rectum anheilte. Nur einmal kam es zu einer Infek-
tion in der Umgebung des durchgezogenen Dünndarmteiles. Es war
aber hierbei irrtümlicherweise der Dünndarm nicht in den Anus, son-
dern ins Rectum eingepflanzt worden. Jede Anastomose mit dem
Rectum, und das gilt namentlich für die Colitis ulcerosa, bringt die
Gefahr einer Infektion der Anastomosenstelle mit sich. Es ist also
wichtig, daß der Anus selbst das Ende des Dünndarms aufnimmt
Daß die Kontinenz auf diese Welse erzielbar ist, scheint mir durch
die Versuche erwiesen. Der Sphinkter zog sich so fest zusammen, daß
man erst durch Auseinanderziehen konstatieren konnte, daß er zwei
Lumina umschloß. Einmal fand sich ein Knäuel geschluckter Haare
oberhalb des Sphinkters (Versuch III), ein Beweis, daß der Verschluß
genügte.
Dagegen schienen die Tiere unter den häufigen Entleerungen dünn-
flüssigen Stuhles zu leiden, da die Haut maceriert wurde.
Ich verfiel auf die Idee, einen Ersatz für die verlorene Ileocökal-
klappe zu schaffen, indem ich 10—20 cm oberhalb des analen Dünn-
darmafters, am Dünndarm, eine Art Klappe erzeugte. Ich nähte durch
eine zirkuläre fortlaufende Naht eine Falte, die eine leichte Invagination
und einen im Inneren des Schleimhautrohres vorragenden ringförmigen
Wulst von Schleimhaut hervorbrachte. Der Erfolg war ausgezeichnet,
es lastete nun nicht mehr der ganze Flüssigkeitsstrom auf dem Sphink-
ter, sondern war höher oben, wenn auch nur unvollständig, unter-
brochen. Es fand sich regelmäßig unterhalb der künstlichen Klappe
Darminhalt von dicklicherer Konsistenz als oberhalb. Die Stuhl-
entleerungen erfolgten viel seltener und waren mehr breiartig, so daß
die Tiere nun nicht mehr konstant von Stuhl naß waren.
Einmal fixierte ich den Darm überdies mehrmals in zickzackartigen
Windungen, was eine ähnliche Wirkung gehabt zu haben scheint, was
die Unterbrechung des Flüssigkeitsstromes betrifft.
668 Ludwig Moszkowicz,
Es scheinen mir diese Versuche interessant, weil sie vielleicht auch
über die Bedeutung der Ileocökalklappe Aufschluß geben. Ich glaube,
daß auch diese nicht bloß als Ventil gegen das Rückströmen des Dick-
darminhaltes in den Dünndarm, sondern ebenfalls als eine Art Sphink-
ter wirkt. Sie wird wohl erst überwunden, wenn eine gewisse Spannung
im Dünndarm erreicht ist. So erfolgt der Uebergang von Dünndarm-
inhalt in den Dickdarm nicht kontinuierlich, sondern in Intervallen.
Ich glaube, daß auch beim Menschen in geeigneten Fällen, bei
Anlegung von Ileumfisteln, durch eine höher oben am Dünndarm er-
zeugte ringförmige Falte dem Patienten viel Belästigung erspart werden
könnte.
Die technischen Details der Operation habe ich an der Leiche
studiert.
Auch beim Menschen beginnt man (in Steinschnittlage) mit der Bloß-
legung des tiefsten Punktes des DouoLASschen Raumes vom Damme
her. Diese Voroperation wäre in Gummihandschuhen, oder von einem
anderen Operateur als jenem, der die Laparotomie ausführen soll, vor-
zunehmen.
Ein 4—6 cm langer querer Schnitt knapp vor dem Anus dürfte
genügen. Nach Durchtrennung der Muskelbündel, die vom Sphinkter
aus zum Musculus bulbo-cavernosus ziehen, dringt man stumpf bis an
die Prostata. Hier in der Höhe des Knickungswinkels der Pars peri-
nealis recti gegen die Pars pelvina recti ist eine etwas derbere Ver-
bindung zwischen Rectum und Pars membranacea urethrae oder Prostata
zu durchtrennen. Man muß sich vor der Verletzung des Rectums dabei
in acht nehmen. Dann gelangt man leicht an den oberen Rand der
Prostata und sieht nun den Fundus der Blase mit den Samenbläschen.
Dahinter sieht man die Peritonealfalte der Excavatio recto-vesicalis.
Bei Frauen gelingt die Ablösung der Vagina vom Rectum sehr
leicht, worauf die Peritonealfalte der Excavatio rectouterina, die über-
dies tiefer als beim Manne gelegen ist, incidiert wird.
Frank ^) hat auf dem vorletzten Kongresse der deutschen Gesell-
schaft für Chirurgie (1903) eine neue Methode der Blasenöffnung auf
diesem Wege empfohlen. Dabei wird die DouoLASsche Falte bloßgelegt
Der tiefste Punkt der Excavatio rectovesicalis (rectouterina) des Bauch-
fells liegt nach Jobssel-Waldbybrs Lehrbuch der topographisch-chirur-
gischen Anatomie häufig in der Höhe des ersten SteüSwirbels, beim Weibe
etwas tiefer als beim Mann, etwa 5 — 6 cm über dem Anus. Bei Füllung
von Blase und Rectum rückt er hinauf. Diese sind also vor der Operation
zu entleeren.
1) Frank, Ein neuer Blasenschnitt (Cystotomia perinealis). Arch. f.
klin. Chir., Bd. 71, p. 448.
Totale Ausschaltung des Dünndarmes bei Colitis ulcerosa. 669
Ist die DoüGLASsche Falte bloßgelegt, dann wird die Wunde mit
Jodoformgaze ausgelegt und der Patient für Laparotomie in Trende-
len BUROsche Beckenhochlagerung gebracht. Medianschnitt. Vorziehen
des Coecuras. Man sucht nun das unterste Ileum auf und durchtrennt
es. Es wird vorteilhaft sein, nicht allzu knapp am Coecum die Durch-
schneidung vorzunehmen, weil dieser Teil des Ileums mitunter schon
ein kürzeres Mesenterium hat und nicht genügend mobil für die Ver-
pflanzung in den Anus ist. Man wird also etwa 20 cm oberhalb der
Ileocökalklappe das Ileum durchschneiden. Eine vorher angelegte
zirkuläre Naht wird den sofortigen Verschluß des peripheren Stumpfes
erleichtern. Eine zweite Tabaksbeutelnaht sichert ihn noch.
Das zentrale Ende wird durch einen Gazeschleier gedeckt und mit
Seide ligiert, die Enden des Fadens lang gelassen. Da normalerweise
die Dünndarmschlingen bis ins kleine Becken hinein reichen, bedarf es
nur einer kleinen Verlängerung des Mesenteriums, um den Dünndarm
bis zum Perineum vorziehen zu können. Durch eine leichte Einkerbung
des Mesenteriums wird es um etwa 10 cm verlängert und gestattet
nun die Dislokation des Dünndarms ohne Spannung. Bei der Incision
des Mesenteriums schont man natürlich dessen Gefäße am besten, in-
dem man sich nahe an den Ursprung des Gekröses hält.
Mit langen Spateln wird nun der DouGLASsche Raum bequem
sichtbar gemacht. Man sieht den Jodoformgazetampon durchschimmern,
incidiert das Biauchfell und schiebt den zentralen Dünndarmstumpf
in die Oefifnung, eine Kornzange zieht ihn an seiner Ligatur bis ans
Perineum.
Dann wird die Bauchwunde geschlossen, der Patient wieder in
Steinschnittlage gebracht. Nun erst, und darin weicht die Operation
aus Gründen der Asepsis vom Tierexperiment ab, wird der Sphinkter
ani externus stumpf vorne von der Rektalschleimhaut abgelöst und das
vorgelagerte Dünndarmende innerhalb des Sphinkters durchgezogen.
Die Gazeumhüllung wird abgenommen und in exaktester Weise die
Dünndarmschleimhaut mit den Rändern der Hautwunde vereinigt.
Die Operation dürfte nicht schwieriger sein und auch nicht viel
länger dauern als eine gewöhnliche Colostomie.
Nach vollkommener Heilung der Colitis könnte die Ampulle des
Rectums für den Patienten wieder nutzbar gemacht werden, indem das
Septum zwischen den beiden innerhalb des Sphinkters gelegenen Lumina
mit DüPüYTRENscher Klemme durchtrennt würde. Wie schon mehr-
mals hervorgehoben, scheinen mir nur die schwersten Fälle von Colitis
ulcerosa für das von mir vorgeschlagene Verfahren geeignet
Es ist also noch zu erörtern, wie die Indikation für die Operation
zu stellen ist Ich glaube, daß sich folgender Vorgang nützlich er-
670 Ludwig Moszkowicz, Totale Ausschaltung des Dtumdarmes etc.
weisen könnte. Es müßte in jedem Falle von Colitis ulcerosa, der zur
Operation bestimmt ist, zunächst eine WiTZELSche Fistel am Coecum
angelegt werden. Hierbei kann man konstatieren, ob der ulceröse Prozeß
vom Anus bis zum Coecum reicht oder nicht. Durch diese Fistel wären
nun durch längere Zeit medikamentöse Durchspfilungen des ganzen
Darmes vorzunehmen. Leichtere Fälle von Colitis werden auf diese
Weise vermutlich zu heilen sein. Halten aber Blut- und Schleim-
abgänge trotz der lokalen Behandlung an, dann wäre der Fall als vor-
geschrittener zu erklären und die totale Dickdarmausschaltung nach
dem oben beschriebenen Verfahren indiciert.
Aus der Königl. Universitätsklinik für Hautkrankheiten in Breslau
(Direktor: Geh.-Rat Neisser).
Nachdruck verboten.
XXVL
lieber „Tuberkulide" und disseminierte
Hauttuberkulosen.
Von
Dr. Fritz Juliusberg, Frankfurt a. M.,
früher Assistent der Klinik.
Wenn ich in folgendem einiges Material über Krankheiten der
Haut, die mit der Tuberkulose in Zusammenhang stehen, aber sich
doch in mancher Beziehung von den bekannten Tuberkulosen in der
Haut unterscheiden, mit Berücksichtigung der umfangreichen Literatur
zusammenstelle, so geschieht es, um auf diese — übrigens durchaus
nicht seltenen — Krankheitsbilder deswegen hinzuweisen, weil diesen
in ihrer Pathogenese außerordentlich verschiedenen Formen doch eine
gemeinsame Eigenschaft zukommt, die weit über das derma-
tologische Interesse hinausgeht, nämlich ihre diagnostische Be-
deutung. Denn diese Formen — und darauf werde ich bei den
einzelnen Krankheitsbildern näher einzugehen haben — kommen aus-
nahmslos durch eine Verbreitung des krankmachenden
Agens auf dem Zirkulationswege zu stände, und ihre Fest-
stellung berechtigt, auf eine anderweitige tuberkulöse
Erkrankung im Innern des Körpers Schlüsse zu ziehen,
auch wenn letztere sich durch die klinische Diagnose nicht ohne weiteres
feststellen läßt. Neben diesem Punkte, auf den ich bei Abfassung
dieser Arbeit den meisten Wert legte, war es noch das Bestreben, zu
dem teils sicheren, teils aber noch nicht genügend aufgeklärten Zu-
sammenhange dieser Formen mit der Tuberkulose das kasuistische
Material, welches mir größtenteils aus der Breslauer Klinik zu
Gebote stand, kurz zusammenzustellen.
Veranlassung hierzu gaben klinische und mikroskopische Unter-
suchungen über eine Reihe von Fällen, die gewöhnlich unter der Be-
zeichnung „Tuberkulide'' in den letzten Jahren beschrieben worden
sind. Diese „Tuberkulide", die von fast allen Autoren heute in Zu-
672 Fritz Juliusberg,
sammenhang mit Tuberkulose gebracht werden, stellen nun allerdings
eine Gruppe von Krankheitsformen dar, die sich in außerordentlich
stark schwankenden Grenzen bewegt. Das Leitmotiv, welches eine
Reihe von Autoren, speziell Hallopeaü, Darier, Boegk, Johnston,
bewog, diese Formen bald als „T o x i t u b e r k u 1 i d e", bald als „Tuber-
kulide" schlechthin, bald als „Exantheme der Tuberkulose",
bald als „paratuberkulöse Affektionen" zusammenzufassen, und
sie den altbekannten Formen der echten Hauttuberkulosen
gegenüberzustellen, war die Annahme, daß diese Formen nicht zu
Stande kämen durch die Tuberkelbacillen selbst, sondern
durch deren Toxine, die einem sonst irgendwo im Körper lokali-
sierten tuberkulösen Herde entstammen. Die Annahme der toxi-
tuberkulösen Natur der Erkrankung basierte wesentlich auf der
positiv nachweisbaren Tatsache von dem häufigen Zu-
sammentreffen dieser Hauterkrankungen mit ander-
weitigen, meist chronisch verlaufenden Tuberkulosen im Innern
des Körpers, besonders der Lymphdrüsen. Viel weniger ins Gewicht
als dieser Punkt fiel der gelegentliche mikroskopische Be-
fund von anscheinend tuberkulösem Gewebe bei diesen
Hauteruptionen, ein Befund, welcher aber durchaus nicht immer mit
Sicherheit festgestellt werden konnte. Andererseits kam für die Deutung
in Betracht, daß es im Anfange weder mikroskopisch noch in Impfungen
die Anwesenheit von Tuberkelbacillen festzustellen gelang, und so
kamen die Autoren zu der Annahme, daß Tuberkelbacillen selbst
in diesen Eruptionen überhaupt nicht vorhanden und nur deren Toxine
als das krankmachende Agens aufzufassen seien.
Eine gewisse Bresche in diese AuflFassung der „Tuberkulide" als
Toxituberkulosen schienen die Befunde von Tuberkelbacillen und auch
einige gelungene Tierimpfungen zu legen. Vor allem schien das fast
regelmäßige lokale Reagieren des sogenannten Liehen scrofu-
losorum, das häufige Reagieren anderer Tuberkulidformen auf Alt-
tuberkulin sehr gegen die Annahme einer bloß toxisch-tuber-
kulösen Natur dieser Eruptionen zu sprechen. Demgegenüber ist durch
neuere Arbeiten auß der Breslauer Klinik darauf hingewiesen
worden, daß diese früher für ba ciliare Tuberkulosen sprechenden
Beobachtungen nicht mehr so einfach gedeutet werden dürfen, sondern
daß sich diese Beobachtungen auch mit einer toxisch - tuberkulösen
Natur der Tuberkulide gut vereinigen lassen (Klingmüller).
Die Grenzen dieser Tuberkulidgruppen waren, wie ich
oben betonte, von Anfang an keine sehr scharfen. Denn da im
wesentlichen die Koexistenz der Hauterkrankung mit inneren Tuber-
kulosen die Einreihung in die Tuberkulidgruppe veranlaßte, waren es
vielfach reine Zufälligkeiten des Materials, die manche Form in diese
Gruppe verwies. Auf der anderen Seite konnte wieder eine verfeinerte
üeber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 673
Diagnostik (Tuberkulinanwendung) in vielen Fällen die regelmäßige
Koexistenz einer inneren Tuberkulose, resp. den tuberkulösen Charakter
der Hauterkrankung sicherstellen. Hervorheben möchte ich aber, daß
die vorhergenannten Autoren in der Regel ohne Anwendung des Tuber-
kulins eine tuberkulöse Erkrankung des Trägers feststellen konnten;
nur vereinzelt sind die Fälle aus der Literatur, in denen der Autor
keine Tuberkulose nachzuweisen vermochte. Nach den Erfahrungen an
der Breslauer Klinik wissen wir aber, daß zahlreiche sichere Tuber-
kulosen ohne Anwendung des KocHschen Tuberkulins einer Feststellung
überhaupt entgehen und daß auf diesem Wege vielfach auch dort, wo
man überhaupt nicht an eine innere Tuberkulose denkt, die positive
Reaktion dieselbe mit Leichtigkeit feststellen läßt (Neisser;. Um so
auffälliger und bedeutungsvoller ist also die bei diesen Erkrankungen
fast regelmäßig rein klinisch feststellbare innere Tuberkulose.
Aus den Dermatosen, die ich bei meiner Arbeit in Betracht ziehen
will, schalte ich diejenigen Afifektionen aus, deren Zusammenhang mit
Tuberkulose mir wie so vielen anderen noch vollkommen unsicher er-
scheint, so das Angiokeratoma Mi belli, dessen tuberkulöse Natur
im wesentlichen nur in den Arbeiten Lereddes (cf. auch Pautrier) be-
hauptet wird und den viel umstrittenen Lupus erythematosus in
seiner gewöhnlichen Form. Bezüglich dieser Erkrankung verweise
ich auf die Arbeit Walther Picks aus der Breslauer Klinik,
dessen Ausführungen ich mich in allen wesentlichen Punkten anschließe.
Auch gewisse eigenartige „Tuberkulidformen'' die als Unica mitgeteilt
sind und bei denen eine sichere Klassifizierung noch nicht möglich ist,
so einige von Hallopeau beschriebene und einen jüngst von W. Pick
aus der Prager Klinik mitgeteilten Fall, habe ich nicht berück-
sichtigt, weil ich in folgendem mich nur auf klinisch feststehende
Krankheitsformen beschränken wollte.
Meine Ausführungen erstrecken sich erstlich auf den Liehen scro-
falosorum, an den sich zwanglos die Acne scrofalosorum der eng-
lischen Autoren anreihen läßt, in zweiter Linie auf die nekrotisieren-
den Tuberkulidformeu, von denen mir einige, längere Zeit beob-
achtete Fälle auch zur mikroskopischen Untersuchung zur Verfügung
standen.
I. Liehen scrofalosoram.
Die klinisch am längsten bekannte Form der sogenannten Tuber-
kulide stellt der Liehen scrofulosorum dar, dessen klinisches Bild
schon von Hebra in den meisten Einzelheiten klar gezeichnet und
dessen Zusammenhang mit Tuberkulose auch schon von Hebra in un-
zweideutigster Weise charakterisiert worden ist Hebra weist aller-
dings nur auf das regelmäßige Zusammentreffen mit „Skrofulöse'' hin.
Aber die einzelnen Formen der Skrofulöse, die er als mit der uns
674 Fritz Juliusberg,
beschäftigenden Eruption in der Regel vergesellschaftet beschreibt,
stellen zum großen Teile solche Erkrankungen dar, die wir heute
sicher als tuberkulös erkennen. In Uebereinstimmung mit den
auch neuerdings hierüber gemachten Beobachtungen betont auch schon
Hebra, daß der Liehen scrofulosorum auffallend selten mit akuten
tuberkulösen Erkrankungen, speziell mit der akuten Lungentuberkulose
vereinigt vorkomme, daß er dagegen sehr häufig chronisch verlaufende
Tuberkulose begleite — und das war die alte Skrofulöse, wie das auch
Elinomüller jüngst besprochen hat.
Was das klinische Bild betrifift, so ist darüber folgendes zu
bemerken :
Der Liehen scrofulosorum stellt sich in seiner typischen Form
als ein aus kleinen Stecknadelkopf- bis hanfkomgroßen flachen Papeln
zusammengesetztes Exanthem dar, das häufig gruppiert, bei geringer Aus-
dehnung den unteren Teil der Brust, die Bauchgegend und den Bücken
befUlt, bei stärkerem Auftreten auch auf die Extremitäten, speziell auf
die Oberarme und Oberschenkel übergreift. Die Farbe der Papel, beim
frischen Ausbruch der Erkrankung braunrot, sehr ähnlich der Farbe des
Lupusknötchens, wird bei längerem Bestände blaß-gelb bräunlich, manchmal
kaum von der übrigen Haut sich abhebend ; auch wird in diesem Stadium
die Papel noch viel weniger prominent, so daß dann das Exanthem selbst
einem nicht geübten Auge leicht entgehen kann. Sehr häufig tragen
einige der Papeln an ihrer Spitze eine kleine Pustel, und gerade solche
Pusteln tragende Effloreszenzen sind differentialdiagnostisch von einiger
Bedeutung, weil diese eine eventuell in Frage kommende DifPerential-
diagnose gegenüber dem Liehen ruber zu Gunsten des Liehen scrofulo-
sorum gut entscheiden lassen. Denn der Liehen ruber hat nichts mit
Pustelbildung zu tun und, wo Pusteln bei dieser Erkrankung vorkommen,
sind es sekundäre, durch Kratzen verursachte Infektionen von akut ent-
zündlichem Charakter. Uebrigens kommt es selten zu derartigen dia-
gnostischen Zweifeln, denn wenn auch manchmal dicht gedrängte Papeln
beim Liehen scrofulosorum eine chagrinleder-ähnliche grobe Hautfelderung,
die sogenannte Lichenifikation zeigen, so wird der aufmerksame Beob-
achter das Charakteristische des Liehen ruber, die wachsartige, gedellte,
polygonale Papel natürlich beim Liehen scrofulosorum stets vermissen.
Denn trotz der Uebereinstimmung im Namen hat der Liehen scrofulosorum
absolut nichts mit dem Liehen ruber gemein, und im Gegensätze zu dieser
Erkrankung ist das Exanthem, welches wir als Liehen scrofulosorum be-
zeichnen, kaum jemals von irgendwelchem Juckreiz begleitet, während
der Liehen ruber, abgesehen von seltenen Ausnahmen, wo er keine sub-
jektive Empfindung hervorruft, stets intensives Jucken verursacht. Ich
führe diese differentialdiagnostische Bemerkung deshalb an, weil sie für
die Prognose und Therapie von ausschlaggebender Bedeutung ist, und
füge an dieser Stelle nur hinzu, daß schon vor mehreren Jahren, als die
tuberkulöse Natur des Liehen scrofulosorum sichergestellt schien, Neissbr
um die zu Verwechslung Anlaß gebende Bezeichnung „Liehen" durch eine
bessere zu ersetzen, den Namen Tuberculosis miliaris aggregata vor-
geschlagen hat
Ueber „Tuberkulide'* uud disseminierte Hauttuberkulosen. 675
n
Zu dieser, die typischen Fälle charakterisierenden Beschreibung
möchte ich hinzufügen, daß die Form des Knötchenausschlages nicht
immer rein erhalten bleibt, sondern daß entweder von vorneherein oder
erst im Stadium der Abheilung das Bild eindifus-verwaschenes wird
und sich mehr einer ekzematösen Erkrankung nähert. Auch darauf
ist in der Literatur, speziell von Jadassohn, mehrfach aufmerksam ge-
macht worden. Auf der anderen Seite zeigen die distinkt erscheinenden,
normal höchstens klein hirsekorngroßen, Lichenknötchen bis-
weilen eine außerordentliche Größe und werden bis erbsengroß,
besonders an den Extremitäten (cf. den später beschriebenen Fall 9).
Auch können die Knötchen des Liehen scrofulosorum bei Vor-
handensein einer stärkeren Hyperkeratose der Haut einem hochgradigen
Liehen pilaris gleichen und nichts von dem darunter befindlichen
Liehen scrofulosorum vermuten lassen. Besonders eklatant war in
dieser Hinsicht ein in der Breslauer Klinik beobachtetes Kind mit
einem außerordentlich hochgradigen Liehen pilaris am Stamm, bei dem
nur die mikroskopische Untersuchung die Diagnose eines Liehen scrofu-
losorum ermöglichte.
Als meiner Kenntnis nach nirgends betonte Loka-
lisation des Liehen scrofulosorum möchte ich die Fuß-
sohlen anführen, wo die einzelnen Infiltrate gewöhnlich nicht zu
knötchenartigen Verwölbungen führen, sondern die Herde, Sagokörnern
ähnlich durch die Haut hindurchschimmern und bei Glasdruck sich in
gelbbraunem Kolorit von der anämisch gemachten Haut gut abheben.
Bei den weiter unten beschriebenen Fällen 5 und 9 fand sich diese
Lokalisation; bei Fall 5 konnte eine deutliche Reaktion durch Alt-
tuberkulin hervorgerufen werden. Das gleichzeitige Auftreten der
Effloreszenzen mit dem Liehen scrofulosorum am übrigen Körper, das
gleichzeitige Abheilen, das Verschwinden ohne Narben, wie es beim
Liehen scrofulosorum die Regel ist, spricht dafür, daß diese Effloreszenzen
in der Tat zum Liehen scrofulosorum gehören und nicht irgend eine
andere Form der Tuberkulide darstellen. Isoliert habe ich diese Lo-
kalisation nie beobachtet Differentialdiagnostische Schwierigkeiten dürfte
sie nur dem „Strophulus" (Liehen urticatus s. Urticaria papulosa)
gegenüber machen ; es genügt aber im allgemeinen das Zusammenfallen
mit dem Liehen scrofulosorum am übrigen Körper, um die diagnostischen
Schwierigkeiten zu lösen. Anderenfalls läßt sich durch eine diagno-
stische Tuberkulininjektion die Frage jederzeit mit Leichtigkeit ent-
scheiden.
Während die klinische Diagnose des Liehen scrofulosorum, speziell
seine Diflferentialdiagnose gegenüber Liehen ruber und gewissen syphi-
litischen Exanthemen, besonders raikropapulösen, kaum auf Schwierig-
keiten stoßen dürfte, hat die Frage, ob ein dem Liehen scrofulosorum
676 Fritz Juliuaberg,
durchaus gleichartiges Exanthem, wie es öfters nach Injektionen
von Alttuberkulin beobachtet wird, ein reines Tuberkulin -(Arznei-)
Exanthem oder einen erst durch Tuberkulin sichtbar gewordenen
Liehen scrofulosorum darstellt, zu Erwägungen Anlaß gegeben. Es ist
dieser Beobachtung sogar eine gewisse Bedeutung insofern zuzuschreiben,
als der (tatsächlich oder angeblich) nach Alttuberkulin entstandene
Liehen scrofulosorum als rein toxisches Exanthem quasi ein Paradigma
für die Möglichkeit eines toxischen Ursprunges der Tuberkulide dar-
stellen solle. In der Tat ist das Auftreten von dem Liehen scrofulo-
sorum durchaus ähnlichen Exanthemen nach Ii\jektionen von Tuber-
kulin — auf welches zuerst Schweninger und Buzzi aufmerksam
machten — ein keineswegs besonderes Vorkommnis und wiederholt
dahin gedeutet worden (Neisser, Jadassohn), daß diese Exantheme
nur die Reaktion eines schon vorher vorhandenen, klinisch-makro-
skopisch nur nicht erkennbaren Liehen scrofulosorum darstellten. Nach
einer neueren Arbeit von KlingmI^ller aus der Breslau er Klinik
scheint jedoch tatsächlich die Möglichkeit zu bestehen, daß auch
das Tuberkulin als solches derartige Exantheme durch
toxische Stoffe hervorbringen kann. Vielleicht sind beide An-
schauungen berechtigt: in einer Reihe von Fällen sind es die toxischen
Stoflfe der Tuberkelbacillen resp. solche im Tuberkulin, welche das
Exanthem hervorrufen; daneben kommen aber Fälle vor, in denen die
Bacillen selbst, mögen sie nachweisbar sein oder nicht — wahrschein-
lich aber in nicht mehr vermehrungsfähigem Zustande — die Efflores-
zenzen verursachen. Ich komme auf diesen Punkt noch weiter unten
zu sprechen.
Was die Histologie des Liehen scrofulosorum betriflft, so steht
so viel jedenfalls fest, daß man im einzelnen Knötchen, wenn auch nicht
mit Regelmäßigkeit, so doch meist bei genügendem Nachsuchen neben
atypischem Granulationsgewebe tuberkulöse Infiltrate mit mehr oder
weniger großer Vollständigkeit der einzelnen zelligen Elemente nach-
weisen kann. Was den Befund von Riesenzellen anbetrifft, der
heute nur noch als ein wichtiges Verdachtsmoment für die
histologische Diagnose Tuberkulose verwandt werden kann, so habe
ich sie stets in allen von mir untersuchten Fällen, bald häufiger, bald
nur vereinzelt, finden können. Wenn viele Autoren solche in ihren
Präparaten vermißt haben, so ist wohl zu betonen, daß vielleicht die
Spärlichkeit des gegebenen Materials die Schuld getragen haben mag.
Auch bei den altbekannten Hauttuberkulosen, z. B. beim Lupus, kann
man gar nicht so selten mehrere Schnitte untersuchen, ohne eine Riesen-
zelle zu finden, und auch bei dieser Affektion finden sich neben
typischem tuberkulösen Granulationsgewebe sehr reichlich atypische
Zellanhäufungen, die nach keiner Richtung etwas für Tuberkulose
Charakteristisches haben. Ja, gar nicht selten nimmt das histologisch
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 677
uncharakteristische , „perituberkulöse" Gewebe quantitativ einen viel
größeren Raum ein, als die tuberkulösen Veränderungen selbst
(Jadassohn).
Tuberkuloseverdächtige Veränderungen in der Tiefe
der Haut beim Liehen scrofulosorum, wie sie Poroes beschreibt,
konnte ich nur in einem Falle, aber in sehr deutlicher
Weise konstatieren. Neben den Infiltraten in den obersten Corium-
schichten fand sich in der Subcutis eine große Arterie vor, deren Wand
fast in ihrer ganzen Zirkumferenz von einem riesenzellenhaltigen tuber-
kulösen Granulationsgewebe durchsetzt war und dadurch erheblich ver-
dickt erschien. Vielleicht aber werden die Veränderungen in der Tiefe
der Haut deswegen so selten konstatiert, weil man bei AflFektionen, wo
man die Veränderungen nur sehr oberflächlich erwartet, keine tiefen
Excisionen vornimmt.
Das fast stete Beagieren des Liehen scrofulosorum auf
Tuberkulin, auf das Neisser und Jadassohn ja seit jeher aufmerksam
gemacht haben, und das auch in den letzten Jahren in der Breslau er
Klinik immer wieder konstatiert werden konnte (Klingmüller), dürfte,
als diagnostisch von Bedeutung, hier kurz erwähnt werden.
Da das Liehen scrofulosorum-Material der Klinik soeben in aus-
führlicher Weise von Klingmüller besprochen worden ist, will ich
hier die einzelnen Momente, welche für und wider die Auffassung:
rein bacilläre oder toxische Tuberkulose? sprechen, nicht
noch einmal in längerer Weise behandeln. Ich selbst habe mir
folgende Auffassung gebildet: Die positiven Bacillenbefunde Jagobis,
Wulffs, Pellizaris und Bettmanns, die positiven Tierimpfungen
Jagobis und Haushalters, das Entstehen lupusähnlicher Gebilde aus
Liehen scrofulosorum-Knötchen, wie dies Hallopeau, Jadassohn und
BoEGK betonen, scheinen dafür zu sprechen, daß, wenn auch für einen
Teil der Fälle die Ansicht Klingmüllers Geltung hat, daß auch reine
Toxine der Tuberkelbacillen das Lichen-Exanthem erzeugen können,
doch andere Fälle vorkommen, bei denen die Bacillen selbst als Erreger
des Exanthems aufgefaßt werden müssen. Die positiven Bacillenbefunde
der Autoren, welche die Tuberkelbacillen nicht im tuberkulösen Granu-
lationsgewebe selbst, sondern nur in den daraus entstandenen Pusteln
nachweisen konnten, scheinen mir dadurch nicht an Bedeutung zu ver-
lieren; denn es dürfte kaum zu bezweifeln sein, daß diese Tuberkel-
bacillen vorher im Granulationsgewebe selbst vorhanden gewesen sind.
— Eine vermittelnde Stellung zwischen denen, welche den Liehen
scrofulosorum als eine bacilläre Dermatose und denen, welche sie
immer als toxische Dermatose auffassen, nimmt Boeok ein, der bei
Besprechung der Pathogenese des Liehen scrofulosorum wie der Tuber-
kulide überhaupt das Vorhandensein einzelner Bacillen in derartigen
Effloreszenzen durchaus nicht in Abrede stellt, aber der Ansicht ist,
Mitteit. a. d. GrODZ^ebieten d. Medizin u. Chirurgie. XIII. Bd. 44
678 Fritz Juliusberg,
daß nicht auf diesen Bacillenbefund der Hauptwert zu legen sei, da der
Charakter dieser Eruptionen durch das disseminierte akute, schub-
weise Auftreten und durch die benigne Natur bestimmt werde. Für
die klinische Diagnose des Liehen scrofulosorum, seine diagnostische
Verwertung, für die Gesauitdiaguose bei einem Kranken ist es freilich
ganz gleichgültig, welcher Auffassung man sich anschließt, ob man die
Toxine oder die Bacillen selbst für die Entstehung der Effloreszenzen
verantwortlich machen will. Wichtig bleibt nur, daß man den
Liehen scrofulosorum als ein tuberkulöses Exanthem
auffaßt, d. h. als eine von einem anderen primären
Tuberkuloseherd in die Haut disseminierte spezifische
Eruption^).
Widerspruch, findet diese Annahme nur von wenigen Seiten, vor
allem von Riehl. Wir können hier nicht auf alle Punkte eingehen^
welche Riehl zur Stütze seiner Behauptung, daß der Liehen scrofulo-
sorum gar nichts Direktes mit der Tuberkulose zu tun habe, ausführlich
eingehen. Nur einen Punkt, den Riehl als besonders ausschlaggebend
hinstellt, will ich hier besprechen. Riehl faßt den Liehen scrofu-
losorum als eine Erkrankung schlecht genährter Indi-
viduen auf und behauptet, daß das Auftreten eines Liehen scrofulosorum
nach Tuberkulininjektionen mit der Tatsache zusammenfalle, daß die
Tuberkulininjektion und -Reaktion das Allgemeinbefinden verschlechtert
und so einen günstigen Boden für die Licheneruption schaffe. Mir ist
1) Mir scheint, daß mau über die Auffassung des Verfassers, man
könne für die Pathogenese der einzelnen Fälle von Liehen scrofulosorum
verschiedene Erklärungen annehmen, noch hinausgehen muß. Ich meine^
nicht die Fälle sind verschieden zu beurteilen, sondern innerhalb
jedes einzelnen Falles resp. innerhalb jeder einzelnen
Eruption sind für die einzelnen Effloreszenzen verschiedene
Erklärungsmöglichkeiten anzunehmen, und zwar in folgender
Weise: Das Oros der Knötchen entsteht durch Einwirkung toxischer
Bubstanzen, welche vielleicht durch die Talgdrüsen zur Ausscheidung ge-
langen, jedenfalls mit dem Follikelapparat in nähere Verbindung treten.
Hin und wieder aber werden von dem in allen Fällen vorhandenen, gleich-
sam pi-imären tuberkulösen Herd, der irgendwo im Körper sitzt, auch
Tuberkelbacillen verschleppt; daher die von einzelnen Autoren ge-
machten Bacillenbefunde. Gewöhnlich sind diese Bacillen nicht mehr
lebend und vermehrungsfähig. Nur höchst selten und vereinzelt kommen
lebende Bacillen in die Haut, und daher erklärt sich der ungemein benigne
und therapeutisch verhältnismäßig leicht beeinflußbare Verlauf der Haut-
eruption. Gelangen aber lebende Tuberkelbacillen gleichsam als Embolien
in die Haut, so kommt es zu richtiger örtlicher, bacillärer Tuberkulose^
ein, wie gesagt, zwar seltener, aber doch festgestellter Befund. Acceptiert
man diese Hypothese, so verschwinden die Widersprüche, welche zwischen
den einzelnen in der Literatur niedergelegten Beobachtungen bestehen
und klären sich auf als nebeneinander hergehende, sehr wohl mit-
einander vereinbare Tatsachen. A. Neissbr.
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 679
es nicht verständlich, wie Riehl die Verschlechterung des Allgemein-
befindens mit dem mehrere Stunden nach der Injektion des Alt-
tuberkulins auftretendem Liehen scrofulosorum in Einklang bringen
will. Wären tatsächlich die nach Alttuberkulininjektion auftretende
Liehen scrofulosorum-Eruptionen auf eine durch das Tuberkulin herbei-
geführte Verschlechterung des Allgemeinbefindens zurückzuführen, so
müßte man doch zum mindesten erwarten, daß in der Regel nach Alt-
tuberkulin eine Verschlechterung des Allgemeinbefindens eintrete, und
das ist durchaus nicht der Fall. Zweitens müßte man erwarten, da ja
nach RiBHLs Ansicht der Liehen scrofulosorum keine direkte Reaktion
auf diese Alttuberkulininjektion darstellt, daß das Aufschießen des
Liehen scrofulosorum sich nicht so streng an die Reaktionszeit der Tu-
berkulininjektion knüpfen werde. Aber dies ist tatsächlich in so deut-
licher Weise und mit solcher Regelmäßigkeit der Fall, daß schon damit
diese Stütze der RiEHLschen Anschauung fallen muß. Wir müssen
ferner hinzufügen, daß wir bei unseren Liehen scrofulosorum-Kranken
zwar regelmäßig eine Tuberkulose, aber nur in relativ seltenen Fällen,
nämlich wo eben die Tuberkulose eine hochgradige war, ein wirklieh
verschlechtertes Allgemeinbefinden beobachtet haben.
Als interessante Analogie mit einer ganzen Reihe von Beobach-
tungen die den Lupus vulgaris disseminatus betreffen, ist von einigen
Autoren das Auftreten des Liehen scrofulosorum im Anschluß an
Masern besehrieben worden (Combt, Haushalter, Hudelo und
Herenschmidt).
II. Acne scrofalosorum.
Weniger bekannt als der Lichenscrofulosorumistdie vor allem
von englischen Autoren als Acne scroflilosoiiim beschriebene Affektion.
Eingeführt wurde diese Bezeichnung von Radcliff Crogker, der auf
dem IL internationalen Dermatologenkongresse in Wien 1893 drei Fälle
dieser Art besehrieb. In ausführlicher Weise berichtete 3 Jahre später
CoLCOTT Fox über diese Affektion :
„Es handelt sich um eine der Kindheit eigene Erkrankung, bestehend
aus nicht gruppierten, spärlich disseminierten papulo-pustulösen oder aknei-
formen Effloreszenzen. Diese entstehen auf den Extremitäten, speziell deren
Außenseiten, vor allem anf den Beinen. Hauptsächlich und besonders
reichlich sind sie lokalisiert auf der Haut der GesäBgegend und der sich
an diese nach unten anschließenden Partien. Die Effloreszenzen erscheinen
chronisch oder subakut. Sie beginnen als anfänglich zugespitzte, um einen
Haarfollikel gruppierte, von einem entzündlichen Hof umgebene Papeln.
Diese werden sehr bald flacher und unregelmäßig begrenzt; in diesem
Stadium zeigen sie eine große Aehnlichkeit mit den Lichen-Ruber-Knötchen.
Bald tritt eine kleine zentrale Pustel auf, die zu einer Borke eintrocknet.
Nach dem Abfallen dieser Borke heilen sie mit einem ^igmentrest oder
einer flachen Narbe ab/^
44*
682 Fritz Juliusberg,
zahlreiche rotbraune, hanfkorn- bis linsengrofie Papeln, die an ihrer
Spitze eine dellige Narbe zeigen. Daneben finden sich speziell auf
den Labien auch größere, bis erbsengroße, scharf umschriebene, leicht
deprimierte Narben, die teilweise ein mattbrauner Pigmentsaum umgibt.
Am ganzen Bücken und am Bauche findet sich ein größtenteils aggregiertes
Exanthem, bestehend aus Stecknadelkopf- bis linsengroßen rotbraunen
Papeln. Nach 2 Wochen sind auch die Beste der Pusteb mit Narben
geheilt, und das Exanthem am Stamme beginnt etwas undeutlicher zu
werden.
Das klinische Bild unserer Fälle zeigt sowohl in der Lokali-
sation wie in der Entwickelung der Einzelelemente eine so weitgehende
Uebereinstimmung mit den oben angefahrten Fällen der englischen
Autoren, daß wir in beiden Fällen wohl mit Sicherheit annehmen dürfen,
es mit typischen Beispielen der sogenannten „Acne scrofulosorum"
zu tun haben.
Es liegt nahe, besonders mit Bttcksicht, daß ein sicherer Liehen
scrofulosorum teilweise bei den früher beschriebenen Fällen und auch
bei unseren beiden das Krankh(^itsbild komplizierte, anzunehmen, daß
die Acne scrofulosorum nur einen durch irgend welche
sekundäre Ursachen variierten Liehen scrofulosorum
darstellt, zumal da bei dieser Affektion auch vereinzelte Effiore-
szenzen besonders an den unteren Körperpartien sich mit einem Ent-
zündungshof umgeben können und auch narbige Abheilung nach vor-
hergehender Pustulation vorkommen kann. Auch das mikroskopische
Bild zeigt speziell in den Coriumveränderungen keine Differenzen gegen
die beim Liehen scrofulosorum erhobenen Befunde, nur die Verände-
rungen im Epithel komplizieren scheinbar als etwas Sekundäres, Acciden-
telles, das reine Bild des Liehen scrofulosorum.
Eigentümlich unseren beiden Fällen, wie einer Beihe der eng-
lischen, die kein Liehen scrofulosorum komplizierte, ist einerseits
die Lokalisation der Affektion, andererseits die Be gel m äßig-
keit, mit der die Einzeleffloreszenz ihre Entwickelung
zur Pustulation und zur narbigen Abheilung durchmacht.
Sicherlich liegen darin gewisse Differenzen gegenüber dem Liehen
scrofulosorum, aber sie genügen wohl kaum, hieraus ein Krankheits-
bild sui generis zu machen; vielmehr sehen wir die Acne scrofu-
losorum als eine Abart des Liehen scrofulosorum an, die
allerdings auch isoliert nicht kompliziert mit dem Liehen
scrofulosorum in seiner gewöhnlichen Form vorkom-
men kann und nur in dieser Auffassung acceptieren wir
die Bezeichnung der Acne scrofulosorum.
Worauf die Tendenz der Einzeleffloreszenz zur regelmäßigen Pustu-
lation beruht, ist schwer zu beweisen. In erster Linie ist natürlich
daran zu denken, daß Bakterien dabei eine Bolle spielen können. Ich
konnte allerdings in meinen mikroskopischen Präparaten keine Mikro-
Ueber ,, Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 683
Organismen finden, aber Bettmann, der in pustulierenden Efflore-
szenzen des Liehen scrofulosorum Kokken im Eiterinhalt nachwies,
glaubt, daß diese die Ursache der Vereiterung seien. In der Tat scheint
mir diese Auffassung am naheliegendsten zu sein, besonders bei der
Acne scrofulosorum , wo die Vereiterung der Effloreszenzen sich ja
immer auf einem umschriebenen, offenbar gerade durch Kokken in-
fiziertem Terrain abspielt.
Einen prinzipiellen Gegensatz können wir also in klinischer
Beziehung zwischen dem Liehen und der Acne scrofu-
losorum nicht finden; wir geben demnach der Zusammen-
gehörigkeit dieser beiden Formen auch in ätiologischer Beziehung in-
sofern Ausdruck, als wir beide als Tuberkulosen benigner
Natur auffassen müssen, wobei wir entsprechend den Experimenten
Klingmüllers die Frage offen lassen, in welchem Prozentsatz der
Fälle die Tuberkelbacillen selbst, in welchem deren Toxine die Einzel-
effloreszenzen hervorrufen. So bedeutungsvoll diese letzte
Frage in wissenschaftlicher Beziehung ist, so ist doch die
Frage der klinischen Bedeutung dieser Feststellung natür-
lich dieselbe, denn wenn auch beide Affektionen relativ harm-
lose Prozesse darstellen, so verdienen sie doch als leicht fest-
stellbare wertvolle Hinweise auf ein inneres tuberku-
löses Leiden, wohl stets chronischer Natur, die größte
Aufmerksamkeit.
IIL Tuberkulide mit zentraler Nekrose.
Lupus erythematosus disseminatus Boeck »» Folliclis
Barth^lemy.
Wenn auch die einzelnen Effloreszenzen der Acne scrofulosorum
in einem gewissen Stadium — wo das tuberkulöse Infiltrat im Zentrum
von einer kleinen Pustel gekrönt wird — sehr an ein gewisses Stadium
der in diesem Abschnitt zu behandelnden Form erinnern, so unter-
scheidet sich doch diese Gruppe in vieler Beziehung, sowohl im
äußeren Aussehen wie im histologischen Bilde ganz wesent-
lich von der vorigen Gruppe und das, wie ich eben andeutete,
in einem gewissen Stadium klinisch etwas ähnliche Bild
erweist sich doch bei der mikroskopischen Untersuchung
als in jeder Beziehung different
Den Typus dieser Gruppe stellt der Lupus erythematosus
Boecks dar, der klinisch in folgender Weise sich entwickelt und dar-
stellt :
In der Begel mit Beginn in der kalten Jahreszeit treten auf den
Streckseiten der Extremitäten, besonders am Ellbogen, am Ulnarrande der
Unterarme, auf dem Bücken der Finger und am Bande der Ohrmuscheln
teils subkutan , teils intrakutan gelegene Knötchen auf, die unter all-
684 Fritz Juliusberg,
mählicher Größenzunahme allmählich an die Oberfläche rücken; dort be-
ginnt das Zentrum des Knötchens, eine kleine grau durchschimmernde
Verfärbung anzunehmen, so daß es den Anschein hat, als ob ganz ober-
flächlich unter dem Epithel eine Pustel oder ein Bläschen bestände. Doch
ist dies nicht der Fall, denn beim Anstechen entleert sich weder Eiter
noch eine Flüssigkeit, sondern eine etwas kleberige Masse. Allmählich
trocknet diese Masse zu einer Kruste ein, diese fUlt ab und das kleine,
scharf umschriebene, tiefe Geschwür heilt zu einer deprimierten, von einem
Pigmentsaum umgebenen Narbe ab. Das ist der typische Gang der Einzel-
effloreszenz, der sich besonders deutlich an den Stellen mit verschieblicher
Haut, also am Unterarme verfolgen läßt. Die Entwicklung der Einzel-
e^oreszenz nimmt 14 Tage bis 6 Wochen in Anspruch. Die Efflore-
szenzen treten schubweise, oft in großer Anzahl auf und wiederholen
sich gewöhnlich mehrere Jahre durch in gleicher Weise.
Wir sehen also, daß im wesentlichen zwei Charakteristika
dem Krankheitsbilde zukommen: 1) Die Lokalisation an den
Streckseiten der Extremitäten und am Rande der Ohr-
muschel. 2) Der klinische Verlauf der Einzelefflore-
szenzen, die nur selten ehe es zur Ulceration kommt^
resorbiert werden, in der Regel aber mit Hinterlassung
einer kleinen runden, scharf umschriebenen, leicht
deprimierten Narbe abheilen. Fälle dieser Art sind in größter
Anzahl von Boeck und Barthelmt, vereinzelt in einer ganzen An-
zahl von Publikationen, bald unter der Bezeichnung Boecks, bald
unter der Bezeichnung Folliclis (Barth£lmy), bald unter einer
anderen, meist lediglich deskriptiven Bezeichnung (eine große Anzahl
Fälle aus der französischen Literatur) veröflFentlicht worden. Ich ver-
zichte darauf, die sehr reiche Nomenklatur für die AfFektion, die speziell
durch BoEGK und Toüton gesichtet worden ist, hier noch einmal zu
wiederholen und verweise auf das am Schlüsse der Arbeit angefügte
Literaturverzeichnis. Indem ich mich bei der Beurteilung unserer
eigenen Fälle an die oben erwähnten Charakteristika des Krankheits-
bildes hielt, bin ich in der Lage, aus eigener Beobachtung (aus der
Breslauer Klinik) folgende Fälle als hierher gehörig anzuführen (nur
der Fall 9 entstammt meiner Privatpraxis).
Fall 3: Vorgestellt auf dem dermatologischen Kongreß der Deutschen
Gesellschaft Die zur Zeit 26-jährige Verkäuferin Seh. stammt aus be-
züglich Tuberkulose nicht belasteter Familie ; sie selbst war angeblich
stets gesund. Mit 18 Jahren hat sie sich beide Hände er-
froren; seitdem zeigen die Hände im Winter eine bläuliche Ver-
f^bung und deutliche Schwellung. Im Jahre 189 7 trat eine große
multiple Drüsen Schwellung links am Halse, zwischen Hals und Schulter
auf. Diese Anschwellung ist angeblich nach Gebrauch einer inneren
Medizin bedeutend zurückgegangen. Die Größe der Halsdrüse wechselte
seit dieser Zeit. Anfang August 1900 konnten wir neben mehreren
kleineren beiderseitigen Cervikaldrüsen rechts eine haselnußgroße, links
eine walnußgroße Drüse deutlich fühlen. Irgend welche spontane oder
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 685
Dmckempfindlichkeit weisen diese Drüsen nicht auf. Im Laufe des
Monats nahm die Größe der Drüsen bedeutend ab, so daß Ende August
die größte, links gelegene Drüse halb baselnußgroß, die kleinste, rechts
gelegene doppolt erbsengroß erschien.
Die Hauterkrankung begann im August 1897, also kurz nach dem
Auftreten der Drüsenschwellung am Halse. Es traten auf
beiden Händen und Ellenbogen Knötchen auf, die bald zurückgingen;
nach einiger Zeit vermehrten sich dieselben wieder.
Am 10. Jan. 189 8 wurde von dem damaligen Assistenzarzt Dr. F.
PiNKUs folgender Befund erhoben:
Großes, gut genährtes, kräftig gebautes Fräulein von etwas anämischem
Aussehen.
Auf der Stirn vereinzelte rötliche Flecken. Bindehaut sehr blcdS.
Die Lidränder etwas (skrofulös) verdickt und gerötet. An der Oberlippe
zwei kleine weiche Warzen. Schleimhäute des Mundes blaß, Tonsillen
etwas hypertrophisch.
Auf dem Halse, besonders an den Nacken partien, mehrere diffus zer-
streute erythematöse Flecken. An den Ohren, deren Muscheln an-
geblich im Winter vor 3 Jahren erfroren waren, finden sich am
Ohrrande beiderseits mehrere leicht squamöse und einige krustöse Belege,
darunter einige gelb- bräunliche, ziemlich derb infiltrierte Knötchen. Auf
den Ellenbogen finden sich beiderseits, links deutlicher als rechts, 5 — 10
leicht gerötete, teilweise gelb-bräunlich verfllrbte, mit der Cutis verschieb-
liche, erbsengroße Infiltrate, oberflächlich leicht desquamiert. Die Hand-
rücken zeigen beiderseits dasselbe Aussehen: über dem Metakarpopha-
langealgelenk und den Gelenken über der Basis und der zweiten Phalange
ziemlich derbe, erhabene, knötchenartige Effloreszenzen, von denen einige
zentral etwas vertieft und mit leichten Krusten bedeckt sind. (Patientin
hatte die Knoten angestochen, worauf sich etwas Flüssigkeit? entleerte.)
Die größten, meist länglich-ovalen Stellen haben ein gelb-weißes Zentrum
mit einer leicht rötlichen Peripherie, die gleichfalls etwas infiltriert ist
und sich allmählich in die Umgebung verliert. Neben den Knötchen über
dem Gelenk finden sich noch einige wenige knötchenfbrmige Effloreszenzen
auf der Dorsalseite der Metacarpi und Phalangen beiderseits, an der
Grundphalange ; an der Außenseite beider kleiner Finger je ein längliches,
fibromartiges Wärzchen. (Patientin gibt an, sie sei mit 6 Fingern beider-
seits geboren und dies die Reste einer im ersten Lebensjahre vorge-
nommenen Operation.) — Ueber dem linken Knie mehrere erbsengroße
Knötchen von ähnlichem Aussehen wie an der Hand; auf dem rechten
Knie nur einzelne rötliche Flecken.
19. Jan. Es sind auf dem Handrücken 8 neue Knötchen vor-
gekommen; die einzelnen früheren Knötchen sind etwas größer ge-
worden — an einer ganzen Anzahl derselben ist eine zentrale Delle ent-
standen.
1. Febr. Die meisten Knötchen an der Hand haben eine krusten-
tragende Delle in ihrer Mitte; an 3 Knoten an den Ellenbogen große
zentrale Kerbkrusten.
13. Febr. Aus allen Knötchen der Hände hat sich unter Bedeckung
mit Kollodium Eiter gezeigt.
7. März. Alle Knoten haben sich abgeflacht. Auf der Basalphalange
des linken Ringfingers deutliche Narben in gesunder Haut; überall an
den Knötchenresten tiefe Defekte.
Mitte April bis Anfang August: nur vereinzelte neue Effloreszenzen.
686 Fritz Juliu8berg,
Vom August ab bedeutende Verschlimmerung der Aifektion durch Auf-
treten zahlreicher neuer Knötchen.
Status vom 21. Okt. 1898: Bei der heutigen kühlen Witte-
rung beide Hände im ganzen geschwellter und bläulich-
röter als sonst. Die allerfeinsten und frischesten Effloreszenzen stellen
stecknadelkopfgroße Erhebungen dar, bläulich-rot, beim Tasten derb
elastisch und überall sieht man in der Mitte eine weißliche Verfärbung,
als wenn in der Tiefe ein kleines Bläschen säße. Bisweilen erkennt man
noch außerdem einen dunkleren, schwärzlich-blauen Herd in der Tiefe,
mitten in dem blassen, weißlichen, bläschenartigen Bezirk. Bei Olasdmck
markiert sich diese dunklere Verfärbung als ein aus rötlichen Pünktchen
zusammengesetzter Fleck, während an den übrigen Stellen bei Glasdruck
eine ganz gleichmäßige weißliche Verfärbung eintritt. An einigen älteren
Knötchen ist diese zentrale dunkle Partie zu einer ganz kleinen, krasten-
artigen, eingezogenen Masse eingetrocknet. Die Qröße der Einzelherde
schwankt von Stecknadelkopf- bis Linsengröße; manche stehen dicht bei-
einander, aber doch so, daß man die Einzeleffloreszenzen erkennen kann.
Nur an der ersten Phalanx des linken Zeigefingers findet sich ein etwa
nadelkopfgroßer , blauverf&rbter , erhabener Fleck. Auch dieser scheint
aus einzelnen, ursprünglich isolierten Stellen zusammengesetzt zu sein.
Auf der linken Hand ist außer der Streckseite der ersten Phalanx nur
die Gegend der Gelenke befallen. Auf der rechten Hand ist die Affektion
reichlicher und auch auf der zweiten Phalanx finden sich einzelne Knötchen.
Viel spärlichere Eruption an den Streckseiten beider Kniee, beiden
Ellenbogen und an beiden Ohrrändem.
Im Winter 1898/99 und im Winter 1899/1900 hatte die
Patientin zahlreiche neue Schübe. Sie stellte sich erst im Oktober 1900
wieder vor und wies, nachdem sie einige Zeit Buhe gehabt hatte, wieder
einige neue Effloreszenzen auf. Am Halse konnte man links eine über
haselnußgroße, rechts eine haselnußgroße Drüse fahlen. Es wurde ihr eine
reichliche Milchdiät verordnet und Schmierseifeeinreibungen am Rücken
(zweimal wöchentlich). — Im Januar 1901 waren am Halse links zwei
kleine erbsengroße Drüsen zu fühlen; auf der rechten Seite war überhaupt
nichts von Drüsen zu palpieren.
Fall 4. 24-jähr. Dienstmädchen W. Beide Eltern an Schwind-
sucht gestorben, ebenso zwei Geschwister der Patientin.
Patientin hat im 6. Jahre einen krustösen Ausschlag am Körper gehabt,
der nach 6- wöchentlicher Krankenhausbehandlung heilte. Im Alter
von 10 Jahren stellte sich linkerseits eine Kornealtr Übung ein,
die durch lokale Kalomelbehandlung gebessert wurde. Mit 17 Jahren
bekam Patientin Husten und Seitenstechen und mußte 14 Tage
wegen einer rechtsseitigen Brustfellentzündung zu Bett bleiben.
Vor 3 Wochen traten wieder Husten und Seitenstechen links auf, worauf
Patientin die medizinische Klinik aufsuchte. Dort wurde die Diagnose
auf SpitzenkatArrh und Pleuritis gestellt.
Die bestehende Hautaffektion begann vor 4 Jahren, zuerst an den
Händen, in Form bis erbsengroßer, rotbläulicher, zunächst tiefgelegener
Knoten. Die Knoten nekrotisierten dann im Zentrum, nachdem eine kleine
Pustel aufgetreten war, welche sich in ein kleines Krüstchen umwandelte.
Im Anschluß daran heilte die Effioreszenz unter Bildung bläulich-rötlicher
Narben resp. Atrophien ab. Im Laufe der nächsten Jahre traten neue
Knoten an den Rändern der Ohrmuschel, auf der Streckseite der Vorder-
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 68T
arme, den Ellenbogen und Knieen auf. An den Händen beschränkte sich
die Affektion auf die Streckseite. Die Knoten an denH&nden und
an den Ohren traten vornehmlich in der kälteren Jahres-
zeit auf.
Status vom 7. Juni 1899: Ziemlich kräftige, wohlgenährte, gesund
aussehende Patientin von normalem Knochenbau und mäßig entwickeltem
Fettpolster.
Am Halse vereinzelte, bis walnußgroße, indolente Drüsenpakete.
Ueber beiden Lungenspitzen etwas trockenes Rasseln,
sonst überall vesikuläres Atmen; sonstige Organe normal.
Haut: Beide Handiücken, besonders der rechte, im ganzen bläulich-
rötlich verfärbt; ziemlich reichlich auf dem Rücken der Finger und Hände,
nur vereinzelt auf den Daumenballen, stecknadelkopfgroße, bläulich-
rötliche Knoten. Dieselben lassen sich gut abgrenzen, sind von derber
Konsistenz und liegen teils in der Cutis, teils im subkutanen Fettgewebe.
Ein Teil der größeren Knötchen ist in der Mitte mit kleineren Schüpp-
chen bedeckt, oder trägt im Zentrum eine kleine, trockene Nekrose in
Gestalt kleiner, ziemlich in die Tiefe reichender Pfröpfchen, oder eine
ganz kleine Pustel. Dazwischen finden sich scharf umschriebene, weißlich-
gräuliche bis bläuliche Närbchen von Stecknadel kopfgröße, umgeben von
einem leicht infiltrierten, rotblauen Wall.
Ganz ähnliche Knoten finden sich an beiden Unterarmen, sowohl
frische wie narbg verheilte; hier sitzen sie vor allem am (Jlnarrande,
wo sie, streifenförmig angeordnet, sich von der Handwurzel bis zum Ellen-
bogen hinziehen. Auf beiden Ellenbogen und über beiden Knieen je eine
Gruppe teils frischer, teils abgeheilter Effioreszenzen. Die Ohrmuscheln
sind im ganzen bläulich-rot verfärbt und teilweise mit kleinen weißlichen,
fest anhaftenden Schüppchen bedeckt. Der Rand sieht durch eine Anzahl
tiefer, narbiger Einziehungen wie zerfressen aus. Diese Einziehungen
erweisen sich als tiefe, eingekerbte Narben; dazwischen findet sich eine
ganze Reihe frischer Knötchen. Auf den Wangen beiderseits eine etwa
talergroße, diffus bläulich-rötlich verfärbte, leicht infiltrierte Partie, in
deren Bereich sich Knötchen wie an den Händen finden.
24. Aug. Auf dem linken Ellenbogen sind 4, auf dem rechten eine
neue Effioreszeuz aufgetreten. Dieselben haben Fünfpfennigstückgröfie und
stellen derbe, in die Haut eingebettete Infiltrate dar, über denen die Haut-
felderung besonders deutlich hervortritt. Die alten Infiltrate sind etwas
abgefiacht.
10. Nov. Die früher befallenen Stellen sind im ganzen wenig ver-
ändert, einzelne Infiltrate an der rechten Hand haben sich abgeflacht. Am
linken Ohrmuschelrande sind drei neue Ulcerationen aufgetreten; neue
Knötchen, gleich den früher beobachteten derb infiltriert, bläulich ver-
ftrbt, am Zeigefinger der rechten und am 4. Finger der linken Hand;
sie sind an der Oberfläche leicht erodiert. Ebenso am Knie, unter-
halb der Patella , 3 neue Knötchen ; an den Unterarmen pind teils
neue, frische Effloreszenzen, teils eine Vermehrung der Narben zu kon-
statieren.
20. Febr. 1900. Am Ulnarrande beiderseits einige neue, teils kutane,
teils subkutane und unter der Haut gut verschiebliche, scharf abgegrenzte,
hanfkorn- bis linsengroße Knötchen. Ueber einzelnen der in der Cutis
gelegenen Tumoren ist die Haut leicht gerötet und diese letzteren kann
man schon mit dem Auge als flache Papeln erkennen. Auf dem rechten
Unterarm am Ulnarrande zwei kraterförmige, tiefe, im Zentrum ulcerierte
688 Fritz Juliusberg,
Knötchen. Eine Anzahl frischer Knötchen auf dem Hucken der Hände
und Finger.
Fall 5: ly^-jähr. Mädchen, Vater an Lungentuberkulose
gestorben; sonstige anamnestische Daten können nicht angegeben werden.
Status vom 22. März 1901 : Lunge normal, Milz und Leber etwas
vergröüert; am rechten Auge eine in Abheilung begriffene Conjunc-
tivitis phlyctaenularis, daneben leichte Injektion.
Haut : Auf der rechten Wange eine linsengroße und eine erbsengroße,
leicht gerötete, kreisrunde, etwas deprimierte Narbe ; einige hanfkorngroße,
leicht atrophische Hautstellen; eine leicht gerötete, strichfbrmige Atrophie
am Rande der rechten Ohrmuschel.
Eeohter Arm: Auf der Beugeseite des Oberarmes, etwa 2 cm über
dem Ellenbogen, eine ovaläre, Y, ^^ ^A^g^» etwa 8 mm breite, sehr fiache
Narbe von rosaroter Farbe, die Umgebung leicht braun pigmentiert Auf
dem Unterai-m, etwa 1 cm unter der Ellenbeuge, eine etwas größere Narbe
von gleicher Beschaffenheit; in der Nähe derselben eine kleinere Narbe;
eine größere Narbe findet sich in der Mitte der Beugeseite des Unter-
armes, durch ihre straffe Beschaffenheit deutlich palpabel. Ueber dem
Ellenbogen und an der Radialseite des Unterarmes mehrere über erbsen-
große Narben mit eleviertem Rande ; unter diesen Narben läßt sich überall
ein über erbsengroßer Tumor bis in das subkutane Gewebe abtasten. Mehrere
kleinere, knapp linsengroße Narben am Ulnarrande.
Linker Arm: Besonders am Ulnarrande einige hanfkom- bis knapp
linsengroße, leicht deprimierte Narben, die einen hellbraunroten Farben ton
aufweisen.
Am Stamme, besonders an den Seitenteilen des Bauches, findet sich
ein Exanthem, zusammengesetzt aus Gruppen braunroter, etwa stecknadel-
kopfgroßer und noch kleinerer Knötchen. Um den Nabel etwa 15 depri-
mierte, meist kreisrunde und völlig pigmentfreie Narben; nur eine, über
erbsengroße Narbe zeigt härtere, etwas keloidartige Konsistenz des Narben-
gewebes; auf dem Rücken (ebenso wie auf der Streckseite der Oberarme)
aaffallend reichliches Lanugohaar. Auf der Glutäalhaut beiderseits einige
leicht atrophische, runde, fast pigmentlose Hautstellen.
Rechtes Bein: Auf dem rechten Oberschenkel regellos disseminierte,
hanfkorn- bis linsengi'oße, deprimierte Narben. Die Umgebung der Narben
ist leicht hy perpigmentiert. Die Narben selbst sind mattrosa ver&rbt
Ueber dem rechten Knie eine ovaläre, etwa ^/i ^^ lang©? V« ^™ breite
Hautstelle von glatter Oberfläche und rosarotem Farbenton, scharf gegen
die gesunde Haut abgegrenzt; letztere zeigt in der Umgebung eine be-
sonders deutliche Hautfelderung und leicht bräunliche Ueberpigmentierung.
Am Unterschenkel und am Fuß, besonders auf der Planta pedis,
Gruppen kleinster, brauner Knötchen. Auf der Planta pedis scheinen
diese kleinen, stecknadelkopfgroßen Knötchen ziemlich tief eingebettet zu
sitzen; sie sind von kleinen Hornfransen umgeben.
Linkes Bein: Ebenfalls einige narbige Bildungen wie rechts, nur an
Zahl viel geringer, am Unterschenkel und der Fußsohle dieselben Knötchen-
gruppen wie rechts.
22. März. Injektion von Y^q^ mg Alttuberkulin; darauf
weder lokale noch allgemeine Reaktion.
26. März. 7 Uhr abends Injektion von Y^q ™g Alttuber-
kulin.
27. März. Mittags 12 Uhr beginnt eine allgemeine
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 689
Reaktion. Die Temperatnr erhebt sich, von 12 Uhr schnell
ansteigend, bis auf 38,2 um 2 Uhr, um dann wieder zu
sinken. Mit dem Einsetzen der allgemeinen Beaktion be-
gann auch die lokale: es reagierten sämtliche erkrankte
Partien, auch die alten Narben zeigten eine schwache Bö-
tung. Besonders deutlich reagierte eine Stelle am rechten
Unterarm: um die gerötete Narbe zeigt sich ein gegen die
gesunde Haut scharf abgegrenzter, entzündlicher Hof.
Ein eigenartiges Bild bot die Beaktion an den Fußsohlen:
die kleineren, braunen, durch das Epithel durchschim-
mernden Knötchen wurden glänzend, zeigten einen frisch-
roten, entzündlichen Farbenton und schienen besonders
deutlichüber die im allgemeinen jetzt rötlich schimmernde
Haut hervorzuragen.
Die Oberlippe war in toto geschwollen. Das kleine
papulöse Exanthem am Körper reagierte in deutlichster
Weise; beide Ohrränder zeigten eine deutliche Bötung.
Die lokale Reaktion verlief ebenso rasch wie die allgemeine; schon
um 3 Uhr war keine Beaktion mehr zu konstatieren.
31. März. Injektion von V2 ing Alttuberkulin; leichte,
allgemeine Reaktion bis 38^; keine deutliche lokale
Beaktion.
5. April. Injektion von 1 mg Alttuberkulin: allgemeine
Beaiktion bis 38,7; keine sichere lokale Beaktion.
Fall 61). Die zur Zeit 21-jähr. Näherin W. stammt aus bezüg-
lich Tuberkulose nicht belasteter Familie. Sie selbst gibt an,
als Kind an „Skrofulöse" gelitten zu haben und vor einigen Jahren
blutarm gewesen zu sein. Die bestehende Affektion begann vor etwa
3 Wochen. Es traten an den Armen und Händen unter der Haut ver-
schiebliche kleine Knötchen auf; diese rückten allmählich an die Ober-
fläche, so daß Erhebungen sichtbar wurden; diese Erhebungen zeigten im
Zentrum ein kleines Bläschen, welches sich in ein Geschwür verwandelte.
Schließlich heilte das Bläschen mit einer deprimierten Narbe.
Status vom 26. Sept. 1901: Das kräftig aussehende junge Mädchen
zeigt bis auf eine leichte Vergrößerung der Lymphdrüsen
des Halses keine auf Tuberkulose verdächtigen Symptome.
Am Bande der rechten Ohrmuschel zwei linsengroße, deprimierte,
leicht bräunlich pigmentierte Narben. Auf der Ulnarseite des rechten
Unterarmes, etwa 3 cm unter der Ellen beuge, eine braun pigmentierte,
etwas deprimierte, hanfkomgroße Narbe, scharf umschrieben, von runder
Form ; daneben eine pigmentlose Narbe von gleicher Beschaffenheit. Eben-
falls auf der Ulnarseite, etwa der Mitte seiner Länge entsprechend, fühlt
man unter der Haut ein leicht verschiebliches, etwa hanfkorngroßes
Knötchen von derber Konsistenz. Auf der letzten Phalanx des Daumes
zwei linsengroße, derbe Papeln von wachsartigem Glanz, auf ihrer Spitze
eine etwa stecknadelkopfgroße, blauschwarz verfärbte Stelle. Auf der
Ulnarseite des zweiten Fingers, entsprechend dem Gelenk, zwischen Meta-
carpus und erster Phalanx, eine linsengroße Papel von gelblichroter Farbe
1) Vorgestellt in der Breslauer dermatologischen Vereinigung. Conf.
Archiv f. Dermatologie, Bd. 60, 1902, p. 143.
690 Fritz Juliusberg,
und derber Konsistenz, mit einer stecknadelkopfgrofien, schwärzlich ver-
färbten Stelle im Zentrum ; daneben eine kleine rote Hautstelle von etwas
derberer Konsistenz als die übrige Haut. Auf der Ulnarseite der ersten
Phalanx des 3. Fingers eine Papel wie am zweiten. Auf der Beuge-
seite der ersten Phalanx des 5. Fingers zwei tiefe, hanfkorngroße
Nekrosen, von Krustenmasse ausgefüllt. In der Oelenkbeuge zwischen der
ersten und zweiten Phalanx des 5. Fingers eine linsengroüe Papel
von gelblicher Farbe und wachsartigem Glanz, im Zentrum giau ver-
färbt.
An der Ulnarseite des linken Oberarmes finden sich 3 Effloreszenzen :
eine rote, sehr flache, knapp linsengroße Papel mit einer stecknadelkopf-
großen, von einer Kruste ausgefüllten Ulceration im Zentrum, eine ebenso
große gelbliche Papel von derber Konsistenz mit bräunlich verfärbtem
Zentrum, eine hanfkorngroße, stark braun pigmentierte, deprimierte Narbe
mit braunrotem Hof.
lieber den Ellenbogen teils deprimierte Narben, teils flache Papeln
mit zentraler Kruste; auf dem Handrücken eine braune, narbig veränderte
Hautstelle, hanfkomgroß, von derber Konsistenz, mit braun-rotem Hof.
Auf der ulnarseite des Daumens eine hanfkorngi-oße, wie eine Pustel aus-
sehende Effloreszenz; die Pusteldecke im Zentrum braun verfärbt. Auf
der Ulnarseite des 3. Fingers ein etwa erbsengroßer, derber Knoten
mit zentraler Einziehung; auf dem rechten Knie etwa 20 leicht depri-
mierte, runde, hanfkorngroße Närbchen. Letztere rühren, wie Pat angibt,
davon her, daß sie sich vor einigen Jahren beim Fall eine Anzahl Nägel
in die Haut drückte.
28. Sept. 1901. Injektion von 1 mg Alttuberkulin: typische,
allgemeine Beaktion mit Temperatursteigerung bis 39,3.
Ein Teil der Knötchen zeigte frisch entzündliche Böte in
der Umgebung, nicht so eklatant wie bei Lupusknötchen,
aber doch s od entlieh, daß man von einer lokalenBeaktion
sprechen konnte; zugleich wurde ein sehr ausgedehnter
Liehen scrofulosorum am Stamme sichtbar.
Fall 7. 25-jähr. Mann, hereditär nicht belastet. Vor einem Jahr
beim Militär akut einsetzende Pneumonie, die sich aber über 13 Wochen
erstreckte, mit hohem Fieber (angeblich keine Pleurites). Gleichzeitig bil-
deteo sich am Halse Drüsenschwellungen, zum Teil mit Fistel-
bildung und kurz darauf traten eigentümliche Entzün-
dungsherde an den Beinen auf, ohne Schmerzen, ohne ge-
schwürigen Zerfall.
Status vom 19. Nov. 1901: Großer, kräftiger Pat. Schleimhäute von
mittlerem Blutgehalt. Mund und Bachenhöhle frei.
Am Hase beiderseits, bis unterhalb der Ohren sich erstreckend,
große Drüsenpakete, schon von weitem sichtbar, zum Teil mit
der Haut verwachsen und hier rote Narbenzüge bildend.
Thorax gewölbt, nicht ganz symmetrisch, vordere Seite schleppt
bei der Atmung deutlich, vordere Spitze steht perkutorisch tiefer, Lungen-
grenze hinten unten, rechts höher. Perkutorisch keine sicheren Schall-
differenzen, auskultatorisch rechts vorn und hinten oben verlängertes und
verschärftes In- und Exspirium, nach Husten einzelne Basseigeräusche.
Herz und Abdominalorgane ohne Besonderheiten.
Im Verlauf des Aufenthaltes geringe purulente Bronchitis mit zeit-
weiligen typischen Steigerungen. An beiden Beinen, bis hinab zu den
Ueber „Taberkulide^' und disseminierte Hauttuberkulosen. 691
Fußrücken, zahlreiche typische Folliclisnarben, zum größten Teil mit einem
peripheren Pigmenthof.
13. Jan. 1902. Y, ^S Alttuberkulin. Beaktion allgemein;
Folliclisnarben haben nicht reagiert.
Rasselgeräusche auf der rechten Spitze am 15. Jan. 1902
sehr deutlich geworden.
Fall 8: 2-jähr. Mädchen. Conjunctivitis phlyctaenulosa
beider Augen. Vergrößerte Cervikaldrüsen. In beiden Bicipital-
furchen je eine etwa erbsengroße Cubitaldrüse.
Ueber dem rechten Ellenbogen zwei blaßbraunrote, an der Spitze
schuppende, stecknadelkopfgroße Knötchen. Auf der ulnaren Seite des
Unterarmes, etwa der Mitte seiner Länge entsprechend, eine ovaläre, etwas
deprimierte Narbe, Ueber dem linken Ellenbogen eine rote, scharf um-
schriebene, leicht schuppende Stelle. An der ulnaren Seite des linken
Unterarmes, ebenfalls in der Mitte, eine rundliche, hanfkomgroße, depri-
mierte Narbe. Am Abdomen mehrere leicht schuppende braunrote bis
gelbbiaune Stellen (Liehen scrofulosorum ?). Rechts von der rechten Mam-
milla eine erbsengroße, etwas leicht hypertrophische blaurote Narbe, um-
geben von einem braunroten Hof. Je eine hanfkomgroße gute, flache
Narbe, pigmentlos und von einem leicht braunen Hof umgeben, auf der
rechten Bauchseite, nahe der Medianlinie und auf der linken Bauchseite
nahe der Inguinalgegend. 4 gleiche Narben in der Sakralgegend. Ueber
dem linken Knie eine hanfkomgroße, rundliche, pigmentlose, leicht depri-
mierte Narbe. Unterhalb des Kniees eine stecknadelkopfgroße, rote, infil-
trierte Papel, im Zentrum eine gelb durchscheinende kleine Stelle.
An der Tibia (Innenseite des linken Unterschenkels) eine tiefe, mit
dem Knochen verwachsene Narbe.
Fall 91): 2V8-jähr. Kind. Mutter des Vaters an Lungen-
tuberkulose gestorben; sonst nichts von Tuberkulose in der Anamnese
zu eruieren. — Eine innere tuberkulöse Erkrankung beim Kinde läßt sich
ebensowenig, bis auf die VergrößerungeinigerHalsdrUsen, finden.
4 Wochen post partum bekam es auf jedem Knie, auf dem rechten Ober-
schenkel und am Arm kleine furunkelähnliche Bildungen, von denen man
jetzt die restierenden Narben noch bemerkt. Weihnachten 1902 trat ein
Ausschlag am ganzen Körper auf.
Status vom 11. Jan. 1903: Halsdrüsen beiderseits in großer Anzahl
vergrößert. Am Körper, auf den Armen und den Oberschenkeln ein teil-
weise gruppiertes, teilweise disseminiertes Exanthem, das sich aus ver-
schiedenen kleinen Papeln zusammensetzt Am Stamme haben die Papeln
etwa Stecknadelkopf- bis Hanfkomgroße, sind teilweise aggregiert, teilweise
stehen sie so dicht beisammen, daß licheninflzierte Hautfläcben vorhanden sind.
An den Extremitäten sind die Papeln viel größer und erreichen stellenweise
Erbsengroße. Hier ist eine Gruppierung nicht zu erkennen. Zahlreiche
flache Papeln und Flecke auf beiden Fußsohlen. Einige der Papeln tragen
an ihrer Spitze eine kleine Pustel. Auf beiden Knieen, am rechten Ober-
schenkel, sowie auf dem linken Oberarm linsen- bis erbsengroße, scharf
umschriebene, teils rundliche, teils ovaläre tiefe, deprimierte Narben. Die
Narben sind pigmentlos. Auf einer der Narben (am rechten Ober-
1) Diesen Fall verdanke ich Herrn Kollegen H. Böhm.
692 Fritz Juliusberg,
Schenkel) sieht man am Rande, zum Teil im Narben ge-webe ,
2um gröüten Teil in der gesunden Haut liegend, einehanf-
korngroße, braune, Verfärbung. Auf Glasdruck läßt sich
<iieses Braun in Hellgelblichbraun verwandeln. Die Kon-
sistenz der Haut scheint auf Sondendruck andieserStelle
etwas weicher zu sein, so daß der Herd klinisch als Lupus-
knötchen imponiert. Therapie : Lebertran intern.
28. Febr. Am Stamme ist das Exanthem fast vollständig abgeheilt;
<lie Knötchen an den Extremitäten sind blasser und flacher geworden.
22. März. Das Exanthem am Stamme ist fast vollständig verschwunden ;
auch die Knötchen an den Extremitäten sind kaum noch wahrzunehmen.
20. April. Der anscheinend lupöse Herd hat sich in ge-
ringer Weise vergrößert.
1. Juli. Der Herd, der anscheinend noch weiter gewach-
wachsen ist, wird excidiert.
Die mikroskopisch e Untersuchung ergibt ein tuberku-
löses Knötchen mit zahlreichen Riesenzellen und einigen
Epitheloidzellen im Zentrum, lokalisiert dicht unter
dem Epithel, in den obersten Schichten des Coriums.
Fall 10: 11-jähr. Patientin K.R. Vater gesund, M u 1 1 e r a n Lungen-
schwindsucht gestorben. Das Kind leidet an Erkrankung angeblich
von frühester Kindheit an, doch ist bis Ende vorigen Jahres nur der
Kopf befallen gewesen. Seit dieser Zeit ging die Hauterkrankung auch
■auf den übrigen Körper über, und seit dieser Ausbreitung der
Hautaffektion stellte sich auch Husten und Auswurf ein,
und die Fat. begann abzumagern.
Status vom 6. Juli 1900: Schlecht entwickeltes Mädchen mit nur
sehr unbedeutendem Fettpolster ; blöder Gesichtsausdruck. Mehrere Jahre
zurückliegende Erinnerungsbilder sind gänzlich verwischt. Die Ant-
worten auf die gestellten Fragen erfolgen äußerst langsam ; leichte Rechen-
aufgaben mit 2-stelligen Zahlen vermag das Kind überhaupt nicht auszu-
führen.
Die Cervikal-, Occipital-, Submaxillar- und Suprakla-
vikulardrüsen sind als erbsen- bis kirschkerngroße Tu-
moren überall in größerer Anzahl abzutasten; ein großes, etwa
Taubeneigröße erreichendes Drüsenpaket sitzt hinterdem
linken Ohr; eben solche Pakete in beiden Achselhöhlen.
In der rechten Ellenbeuge fühlt man eine etwa erbsen-
große, in der linken eine etwa linsengroße Drüse in Sulcus
bicipitalis; ebenso sind die Leisten- und Schenkeldrüsen bis zu
Linsen- und Kirschkerngröße vergrößert.
üeber derganzen Lunge rauhes In- und Exspirium; über
der Scapula feinbläsiges Rasseln, hinten unten beiderseits
klingendes Rasseln; Exspirium mit bronchial em Beiklang,
rechts hinten unten leichte Dämpfung.
An der linken Seite des harten Gaumens einige weiße Herde in der
Schleimhaut ; ob es sich um Narben oder atrophische Stellen handelt, läßt
sich nicht entscheiden ; an diese sich anschließend und auch auf die rechte
^eite sich fortsetzend kleinere Gefäßinjektionen ; am XJebergang des harten
in den weichen Gaumen ähnliche weiße Stellen.
Hautbeschaffenheit: Die Behaarung des Kopfes ist eine sehr
spärliche, doch bestehen nirgends große, ganz haarlose Bezirke, sondern
lieber „ Tuberkulide'^ und disseminierte Hauttuberkulosen. 693
nur die Abstände der einzelnen Haare voneinander sind auffallend groß.
Kelativ am stärksten behaart ist der Hinterkopf, während an den Vorder-
nnd Seitenflächen nur spärliche blonde, festsitzende Haare sich finden. An
den stärker behaarten Hinterkopfstellen einzelne Bezirke von etwa Taler-
größe, die, nicht ganz scharf begrenzt, nur ganz spärliche blonde Haare
tragen. Die Kopfhaut zeigt ein wundes Aussehen ; dieses rührt davon her,
daß innerhalb hyperpigmentierter, teils mehr schwarzbrauner, teils heller
brauner Partien, besonders reichlich an der Schläfengegend und hinter den
Ohren, aber auch disseminiert am übrigen Kopfe, etwa linsengroße, glän-
zende weiße, scharf begrenzte runde oder ovaläre atrophische Herde sich
finden. Innerhalb einzelner dieser Atrophien bemerkt man rötliche Teleangi-
ektasien.
Dem Oesicht wird durch einen schmetterlingsähn-
lichen Krankheitsherd, der scharf begrenzt die Nase und die
Wangen einnimmt, ein eigentümliches Aussehen verliehen. Dieser große
Herd schneidet etwa 1 cm unterhalb der Augen in scharfer Linie ab und
erstreckt sich vom Nasenrücken über die Stirn, wo die Grenze unregel-
mäßige Linien aufweist; nach unten zu verläuft die Grenze in der
Nasolabialfalte, nach den Ohren zu sind die Grenzlinien unregelmäßig.
Dieser Herd von mattroter Farbe erscheint leicht atrophisch, nicht so,
daß die Follikelbildung überall verschwunden wäre — dies ist nur auf
dem Nasenrücken an einzelnen Partien der Fall, wo die Haut mattrot
und glänzend erscheint — aber die Follikel sind spärlicher und kleiner
als auf der übrigen Haut. An den Bandpartien reichlich, viel spärlicher
in den zentralen Partien, finden sich kleine Krüstchen unregelmäßig auf-
gelagert.
lieber den Augenbrauen sitzen in mattroter Haut mehrere knapp
linsengroße, sehr unregelmäßig begrenzte weiße atrophische Stellen. Die
Narbenbildungen, wie sie auf dem behaarten Kopf beschrieben sind, setzen
sich auch auf die Ohrmuscheln fort. Eine Verbindungsbrücke zwischen
den unteren Ecken der Schmetterlingsfigur bildet eine Linie von matt-
roter atrophischer Haut, die sich über das Kinn hin wegzieht.
Der Stanmi und die Extremitäten weisen ein Exanthem auf, welches
überall den Charakter von Einzel effloreszenzen trägt. Das verschieden-
artige, sehr bunte Aussehen der Haut wird nur durch die
quantitativ sehr verschiedene Verteilung der Efflore-
szenzen bedingt. Es sind im wesentlichen zwei Typen, die das
Exauthem zusammensetzen, und ihre Uebergangsstadien« Auf der einen
Seite stehen flache Papeln, die im Zentrum einen kleinen
Krater zeigen, der vielfach von einem Blutkrüstchen ausgefüllt wird;
auf der anderen Seite einfache atrophische Stellen, anscheinend
die Endstadien des Prozesses. Die Farbe der Atrophien ist eine matt-
rote; wo sie vereinzelt stehen, sind sie von einem sepia-braunen Saume
umgeben.
Besonders dicht stehen die Effloreszenzen, frische wie alte, auf der
Brust und dem oberen Teile des Rückens; hier speziell ist die Gegend
zwischen und über den Schulterblättern so dicht von dem Exanthem besät,
daß die Wälle um die Effloreszenzen konfluiert sind, so daß die anscheinend
nicht atrophische Haut vollkommen eine sepia-braune Verfärbung aufweist.
Am Bauche und an den Oberarmen findet sich eine disseminierte Ver-
teilung des Exanthems; die Einzeleffloreszenzen mit ihrem braunroten Hof
stehen deutlich isoliert. Unterarm und Hände sind intakt, unter dem
MitMI. a. d. Oranxcebietao d. Modlsin a. Chlrurd«. Xm. B4. 45
694 Fritz Juliusberg,
rechten Knie zwei kleine Papeln, wie am Stamme, von
mattroter Farbe, mit Delle und Krüstchen im Zentrum.
Therapie: Vlemingkx-Bäder ; Gesicht mit Bleivaseline verbunden.
16. Juli. Ekzem der äul^eren Gehörgänge; Therapie: Ichthyol-
Vaseline 6 Proz.
18. Juli. Auftreten eines Panaritiums am rechten Daumen und
kleinen Finger. Therapie: Umschläge mit essigsaurer Tonerde.
29. Juli. Erbsengroßer Absoeß am linken Fußgelenk ; Incision, feuchter
Verband.
31. Juli. Erbsengroßer Absoeß über dem Stemum. Incision. Am
Rücken, an den Oberarmen und am Kreuz sind zahlreiche neue Efflore-
szenzen entstanden. Zum Teil sind dieselben, wie die früheren, mit zen-
tralen, dunkelroten Krüstchen bedeckt.
3. Aug. Das Allgemeinbefinden des Kindes hat sich auffallend ver-
schlechtert Schmerzen im Thorax, an den Füßen und Ellenbogen. Am
rechten Ellenbogen und am rechtenKnie sind mehrere auf
Druck schmerzhafte, etwa linsengroße Sugillationen ent-
standen. Oedem beider Füße. Therapie: Verband mit essigsaurer
Tonerde.
4. Aug. Es sind neue Sugillationen an den Armen und Nates
aufgetreten; dabei finden sich in der Kreuzbeingegend und am Abdomen
tiefe, unregelmäßig geformte ülcerationen. Therapie: Jodoformborsalbe.
Abends starke Atemnot.
5. Aug. Die ganze linke Hand ödematös geschwollen; die Sugilla-
tionen sind zahlreicher geworden.
7. Aug. Am rechten Handgelenk ein knapp hanfkorn-
großes Knötchen, tief in der Subcutis gelegen, scharf um-
schrieben. Exitus letalis.
Sektion am 8. Aug. 1901 (Dr. Miodowskt).
Sektionsprotokoll: Ihrem Alter entsprechende weibliche Leiche
mit einer besonders an den oberen Extremitäten stark reduzierten Mus*
kulatur und spärlichem Fettpolster.
Die Haut an Brust und Bücken, die im ganzen einen eigentümlichen
schmutzig braungrauen Farbenton aufweist, zeigt eine auffallende Zeich-
nung. Unregelmäßig disseminiert finden sich kleinere und größere (bis
10 Pfg.-Stück große), meist leicht eingesunkene atrophische Hautstellen,
die von einem leicht erhabenen, einige von einem breiten braunen Saume
umgeben sind. Aehnliche Hautstellen finden sich an den Oberarmen und
Oberschenkeln, während Unterschenkel und Unterarme davon frei sind.
Das Gesicht zeigt einen eigentümlich gedunsenen Ausdruck, bedingt
durch eine starke Infiltration der Haut. Diese ist stellenweise blaurot
verfärbt und näßt an einzelnen Partien; letzteres gilt besonders von der
Vorderfläche der beiden Ohrmuscheln. In der Sakralgegend mehrere bis
10 Pfg.-Stück große, scharf umschriebene Hautdefekte, deren Grund leicht
hämorrhagisch und mit einem eingetrockneten Sekrete bedeckt ist Ueber
beiden Ellenbogen und auf beiden Knien ähnliche, etwa erbsengroße
SufiTusionen, zum Teil kleine Ülcerationen im Zentrum aufweisend.
Thorax : gut gebaut, mit tiefem Durchmesser, etwas vergrößert. Hals :
entsprechend lang, sehr breit und voluminös.
Beim Oeffhen des Thorax quillt aus jeder Brusthöhle eine reichliche
Menge (beiderseits auf etwa ^/g 1 geschätzte) bernsteingelbe, von feinen
und groben Flöckchen getrübte Flüssigkeit hervor. Beide Lungen, in
sich zusammengesunken, sind auf dem hinteren oberen Teil der Pleura-
üeber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 695
höhle verdrängt. Das Herz liegt deshalb in größerer Ausdehnung als
normal zu Tage; indessen scheint die Verbreiterung, die nach rechts wie
nach links besteht, durch Flüssigkeitsansammlangen im Herzbeutel bedingt
zu sein. Die Flüssigkeit im Herzbeutel erweist sich in der Tat auf mehr
als das Doppelte vermehrt, klar, hellgelb.
Das Herz entspricht der Oröße der Faust der Leiche; der rechte
Ventrikel leicht dilatiert, sonst sind Lumina und Ostien entsprechend.
Die Klappenapparate sind zart und spiegelnd, die Muskulatur ist etwas
blaß, aber gut konsistent.
Die linke Lunge weist nach allen Seiten mit den gegenüberliegenden
Pleuraflächen Verklebungen auf; dieselben lassen sich leicht lösen, nur
an der Hinterseite sind die Verwachsungen fester. Ober- und Unterlappen
unterscheiden sich deutlich: der erstere ist im allgemeinen gut lufthaltig und
bluthaltig, nur an der Spitze ist eine luftleere, haselnußgroße, infiltrierte
Stelle zu finden; auf der Schnittfläche zeigt diese eine ziemlich gleich-
mäßige, gelbliche Farbe und eine bröckelige Beschaffenheit Eine be-
sondere Anordnung um einen Bronchus läßt sich nicht erkennen. Der
Unterlappen, in sich zusammengesunken, an der Oberfläche dunkelblau
verfärbt, zeigt dieselbe Farbe auch auf der Schnittfläche ; aus dem derben
Parenchym läßt sich keine Luft herauspressen. Auffallend ist die Er-
weiterung und das E^laffen der kleineren und mittleren Bronchien, um die
das Gewebe besonders fest zu sein scheint Aus jedem Bronchiallumen
läßt sich ein reichlicher Tropfen schleimig-eiterigen Sekretes herauspressen.
Die rechte Lunge, nur am hinteren Abschnitt leicht adhärent, zeigt
am Oberlappen dieselben Verhältnisse wie links. Hier lassen sich im
lufthaltigen Parench3rm mehrere leicht infiltrierte, haselnußgroße Stellen
herausfühlen, bei denen im Gegensätze zu links noch das Konfluieren aus
einzelnen kleineren graagelben Infiltrationen in Anordnung um ein kleines
Bronchiallumen zu erkennen ist. Beträchtlich ist die Blähung der Marginal-
partien, so daß die ganze Lunge voluminöser erscheint als die linke. Unter-
und Mitt^ellappen verhält sich wie links der Unterlappen.
Der pleurale Ueberzug beider Lungen mit viel fibrinösen, zum Teil
bindegewebig-membranösen Auflagerungen bedeckt.
Bronchial- und Tracheaischleimhaut lebhaft geschwellt und gerötet
und mit zähem Sekrete bedeckt
Larynz, am rechten wahren Stimmbande und Arykörper ein linsen-
großer, oberflächlicher Schleimhautdefekt
Bronchialdrüsen haselnußgroß, zum Teil walnußgroß. Während ein-
zelne, nur punktförmige gelbe Einsprenklungen in Kohle pigmentiertes
Parenchym erkennen lassen, zeigen die meisten eine gleichmäßig gelb-
graue, jeder Zeichnung entbehrende Schnittfläche auf, auf der ein ver-
kästes, morsches, zum Teil bröckeliges Parenchym hervortritt Ebenso
verhalten sich die Supraklavikidardrüsen.
Tonsillen beiderseits groß und derb; aus der linken quillt beim
Schneiden ein Tropfen Eiter.
Schilddrüsen ohne Besonderheiten.
Bei Eröffnung des leicht aufgetriebenen Abdomens drängen sich sofort
die geblähten Därme hervor. Serosa glatt, spiegelnd; stellenweise leicht
injiziert
Li der Bauchhöhle etwa l^/j 1 braungelber, gleichmäßig trüber
Flüssigkeit
Leber den Rippenbogen leicht überragend, Oberfläche glatt. Mitt-
lerer Blutgehalt, Konsistenz gut. Zeichnung deutlich. Farbe braungelb.
45*
j
Ö96 Fritz Juliusberg,
Milz: 9:6:3. Gut bluthaltig und konsistent. Follikel als grau-
gelbe Punkte zu sehen. Beim mehrfachen Durchschneiden des Organs
sieht man ganz spärliche, stecknadelkopfgroße, tuberkelähnliche graue
Knötchen im Parenchjm eingelagert.
Nebennieren: Ohne Besonderheiten.
Nieren: Kapsel gut erhalten; Parenchjon blaß, sonst gut konsistent,
Binde und Mark deutlich geschieden.
Mesenterialdrüsen: Auflfallend groß, verkäst, ebenso die prä-
vertebralen Drüsen.
Im Kleinhirn ein haselnußgroßer verkäster Tuberkel.
Leichendiagnose: Tuberculosis caseosa glandul. lym-
phat. bronch. subscapul., meseraic, praeverteb. et pulm.
Tuberculosis cutis? Pleuritis serofibinosa duplex. Hydro-
pericardium. Dilatatio levis ventriculi d. Tuberculosis lienis. Ab-
scessus tonsillae. Trachechondritis purulenta. Tuberculosissolitaria
vermis cerebelli.
Zur mikroskoplsclieii Untersachung stand mir folgendes Material
zu Gebote:
1) ein subkutan unter der Haut gelegenes, gut palpables,
etwa hanfkorngroßes Knötchen von Fall 2, das wir etwa
14 Tage lang beobachtet hatten.
Das Zentrum des Knötchens, das auch mikroskopisch in der Sub-
cutis gelegen war, erwies sich als ein nekrotischer Herd, den ein
starker Infiltrationsherd umgab. Bei Färbung auf elastische
Fasern läßt sich in der Mitte des nekrotischen Zentrums ein Ring
von elastischen Fasern nachweisen, offenbar die Beste eines
vormals hier vorhandenen Gefäßes. Innerhalb der Infiltrations-
zone, die den nekrotischen Herd umgibt, läßt sich auf der einen Seite
eine zirkuläre Anordnung der Infiltrationszellen erkennen,
die anscheinend darauf hindeuten, daß hier einmal ein Gefäß bestanden
hat; irgend welche Beste desselben lassen sich nicht mehr mikroskopisch
nachweisen. Das Infiltrat ist zusammengesetzt hauptsächlich aus kleinen
Leukocy.ten, daneben finden sich reichliche Mastzellen, epitheloide
Zellen und auch in den meisten Schnitten eine bis mehrere
typische Biesenzellen von verschiedener Größe. Nach außen zu ist
das Infiltrat nicht so kompakt wie nach dem Zentrum zu und sendet
zwischen das gesunde Gewebe einzelne Infiltrationszüge hinein. Neben
diesem großen Herde finden sich in der Umgebung kleine Infiltrate in
allen Schichten der Haut, die sich meist um die Gefkße und Schweiß-
drüsen gelagert haben. Außer dem innerhalb der nekrotischen Partie ge-
legenen Gefäße ist irgend ein direkter Zusammenhang der Infiltration mit
den Gefäßen und Drüsenorganen nicht festzustellen. Es wurden etwa
20 Schnitte mit negativem Befunde auf Tu b erkelbacill en
gefärbt.
2) Ein etwa 8 Tage bestehendes Knötchen von Fall 6.
Das Zentrum des Knötchens nimmt ein großes Infiltrat ein, zur
Hälfte etwa in der Subcutis, zur Hälfte im kutanen Gewebe gelegen,
Daslnfiltrat ist zusammengesetzt hauptsächlich aus Leu-
kocyten und zahlreichen Plasmazellen; Biesenzellen sind
in keinem Schnitte nachzuweisen. Unterhalb dieses In-
filtrats findet sich eine große Vene, in deren Wandungen
üeber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 697
stellenweise Leukocyten eingewandert sind. Die Wan-
dung der Vene zeigt besonders im oberen Teile eine deut-
liche Verdickung, durch Wucherung der Gefäßwand und
leuko cytäre Infiltration bedingt, und an einzelnen Stellen
dringen diese Verdickungen in das Lumen des Gefäßes
hineJD, welches sie auf diese Weise in geringemMaße ver-
engern. Die Umgebung dieses Gefäßes zeigt stellenweise
eine stärkere Infiltration, die sich in einzelnen Strängen
in das große Infiltrat fortsetzt.
3) Das 2 Tage bestehende Knötchen an der Hand von
Fall 10. Im subkutanen Gewebe ünden sich Infiltrationsmassen, die sich
zwischen den einzelnen Fetträubchen hinziehen und lediglich aus Leuko-
cyten bestehen. In den tieferen Schichten der Cutis sind diese Infiltra-
tionen stärker und im Zentrum derselben findet man mehrere
Gefäße größeren und klein eren Kalibers, in deren Wan-
dungen Leukocyten eingewandert sind und deren Wan-
dungen Leukocyten in großer Anzahl, ziemlich dicht ge-
drängt, umgeben. Ein Teil dieser Gefäße ist thrombosiert,
und zwar zeigt er die Zustände eines frischen, fibrinösen
Thrombus; das Gefäßlumen ist durchzogen von einem dicht-
maschigen Netz dünnerer und dickerer Fibrinfädeu, dessen
Maschen teils zerfallene, teils erhaltene Leukocyten und
rote Blutkörperchen aufweisen. In den oberen Teilen der Cutis
einige kleinere, nur aus Leukocyten bestehende Infiltrate ; Riesenzellen
oder epitheloide Zellen nirgends zu finden.
4) Pigmentierte Haut der Brust von Fall 10. In den untersten
Schichten des Epithels und in den obersten Schichten des Corinms zahl-
reiche Ablagerungen eines gelbbraunen Pigmentes. Kleine Infiltrate, die
zum größten Teil den Gefäßen folgen, in den oberen und mittleren Schichten
der Cutis. Die Infiltrate bestehen größtenteils aus Leukocyten.
5) Haut vom Ellenbogen vom Fall 10. Zur Untersuchung kam eine
der Sugillationen vom Ellenbogen. Das Epithel ist stellenweise zerrissen^
so daß blasenförmige Hohlräume in demselben vorhanden sind. In den
obersten Schichten des Coriums, reichlicher noch in den tieferen und vor
allem im subkutanen Gewebe, zahlreiche dichte, aus Leukocyten be-
stehende Infiltrate und große Ansammlungen roter Blutkörperchen. Die
Zellen der Infiltrationsherde sind stellenweise in kleine Bröokchen zer-
fallen, besonders dort, wo man die roten Blutkörperchen nachweisen kann,
ist das leukocytäre Infiltrat zerfallen- Die Infiltrate mit den erhaltenen
Zellen sind scharf abgegrenzt; Biesenzellen oder epitheloide Zellen lassen
sich in ihnen nicht nachweisen.
6) Ulceration der Sakralhaut von Fall 10. Tiefe Ulceration, schon
beim Durchschnitt der Präparate erkennbar. An den Stellen des Ge-
schwürs fehlt das Epithel vollständig; der Boden des muldenförmigen
Geschwürs liegt tief im Corium und zeigt zum größten Teil nekrotische,
zellartige Massen. In der Umgegend des Geschwürs sind die Gefäße
stark erweitert und mit Blut gefüllt. Dichte, leukocytÄre Infiltrationen,
besonders am Boden des Geschwürs, geringe Infiltrationsherde im sub-
kutanen Gewebe.
7) Kleines Bläschen der Bauch haut von Fall 10. Zeigt dieselben Ver-
hältnisse wie die Knötchen an der Sakralhaut Ueber den klinischen
Befund des Knötchens wurde in der Krankengeschichte kein Befund
erhoben.
698 Fritz Juliusberg,
8) Haut des Gesichts von Fall 10. Im epithelialen Anteil lassen sich
bis auf einige Abhebungen der Homschicht von den kernhaltigen Massen
und geringen Einwanderungen von Leukocyten keine Veränderungen kon-
statieren. Dicht unter dem Epithel sitzt ein dichtes Zellinfiltrat, welches
sich bis in die oberen Teile des Fettgewebes hin erstreckt. Das Infiltrat
ist zusammengesetzt besonders aus Lymphocyten und vereinzelten Plasma-
zellen. Die Gefäße innerhalb der erkrankten Partien zeigen keine Ver-
änderung. Eine Anordnung des Infiltrats um andere Gewebselemente ist
nicht nachzuweisen. Im subkutanen Gewebe sind hier und da ähnUche
Infiltrationsherde zwischen dem subkutanen Gewebe zerstreut Die
elastischen Fasern sind dort, wo die Infiltration am stärksten ist, nicht
nachzuweisen: sie finden sich nur in spärlicher Zahl dort, wo die In-
filtration wepiger dicht ist und in größerer Anzahl an den spärlichen
Stellen, wo keine Infiltration besteht Die elastischen Fasern sind etwas
stärker geschlängelt als in der Norm, und zeigen stellenweise die Degene-
ration, die an das Altersgewebe erinnern (Schoonhbid). In den obersten
Schichten des Coriums zahlreiche, ziemlich grobkörnige Ablagerungen
eines gelbbraunen Pigments.
9. Von der Kopfhaut kamen nur narbig veränderte Stellen zur Unter-
suchung. An diesen ist das Epithel auf eine dünne Schicht reduziert
Diese Atrophie nimmt im wesentlichen die kernhaltige Schicht ein : die
Hornmassen darüber scheinen im Gegenteil ziemlich stark verdickt zu sein.
Eingesprengt eine ganze Reihe verödeter Haarfollikel. Kleine Infiltrations-
herde sind an allen Schichten der Haut vorhanden, aber nur in unbe-
deutender Ausdehnung.
10) Einige Stücke aus der Lunge und aus den Lymphdrüsen, die
zur Untersachung kamen, wiesen deutliche, riesenzellenhaltige Tuberkeln
auf. Daneben in der Lunge eine reichliche Ablagerung eines schwarzen
Pigments.
Ich gehe zunächst auf das mikroskopische Aussehen der Einzel-
effioreszenzen ein, da dieses uns für die klinische Entwickelung der-
selben gute Fingerzeige bietet:
Was das histologisclie BUd dieser nekrotisterenden Taberkalid-
form betrifft, so ist erst nach den Untersuchungen L. Philippsohns
auf den, wie es scheint, wichtigsten Faktor bei den Einzeleffioreszenzen
die Aufmerksamkeit gelenkt worden: auf den Beginn der Erkran-
kung an kleineren Gefäßen, also auf die Auffassung dieser
Erankheitsform, als einer von den Gefäßen stets ausgehenden Erkran-
kung. Freilich ist schon vorher einigen Autoren (Johnston, Darier,
Jacquet u. a.) die Beteiligung der Gefäße an den Effloreszenzen auf-
gefallen und in unzweideutigster Weise davon Mitteilung gemacht
worden, aber erst die PHiLippsoHNschen Befunde wiesen mit genügen-
der Deutlichkeit auf die wesentliche Rolle der Gefäße in diesen
Effloreszenzen hin. Auch Pinkus und ebenso ich, und jüngst
Alexander, konnten die Befunde Philippsohns voll und ganz be-
stätigen. Von den oben beschriebenen histologischen Untersuchungen
kommen die unter No. 1, 2, 3 beschriebenen Effloreszenzen, als sicher
der FoUiclis zugehörig, hier in Betracht, und zwar handelt es sich in
lieber „Tuberkulide^ und disseminierte Hauttuberkulosen. 699
jiUen 3 Fällen um relativ frische Effloreszenzen, wo die Anfangsstadien
des Prozesses noch eine relativ gute Beurteilung ermöglichten. Das
Knötchen No. 3 stellte eine ganz frische Effloreszenz dar. Hier handelte
€s sich lediglich um kleinzellige Infiltrationen der Gefäßwand und ihrer
Umgebung, kompliziert durch einen frischen, teils roten, teils gemischten
Thrombus. Irgendwelche, auch nur auf Tuberkulose verdächtige
histologische Momente lassen sich in den Knötchen nicht nachweisen.
— Ein weiteres Knötchen No. 2 stellt eine etwa 8 Tage alte Efflore-
szenz dar. Hier ist es nicht zu einem obturierenden Thrombus ge-
kommen. Auch lediglich infiltrative, phlebitische und periphlebitische
Prozesse in den obersten Schichten des subkutanen Gewebes sind die
einzigen histologischen Befunde. — Ein weiteres Stadium stellt das
Knötchen No. 1, das mindestens 14 Tage alt war, dar. Hier ist der
Thi'ombus schon vollkommen nekrotisiert, desgleichen die Gefäßwand;
nur die Darstellung der elastischen Fasern ermöglicht noch die Fest-
stellung, daß der Prozeß von einem Gefäß ausgegangen ist. Die ganze
nekrotische Masse ist umgeben von einem dichten Infiltrationswall.
Zahlreiche Riesenzellen erwecken einen gewissen Verdacht auf
Tuberkulose; die Möglichkeit, histologisch die Tuberkulose festzu-
steUen, ist auch bei dieser Effloreszenz nicht vorhanden. Wir haben
schon darauf hingewiesen, daß einen gleichen Befund auch Philipp-
sohn und PiNKus erhoben haben; bei Philippsohn sind aber die
tuberkuloseähnlichen Veränderungen in ziemlich starkem Maße ausge-
sprochen. In denselben Grenzen variieren auch die zahlreichen histo-
logischen Untersuchungen, die die Literatur über diesen Gegenstand
aufweist: In den seltensten Fällen findet sich gar nichts
für Tuberkulose Verdächtiges; meist sind die natürlich
nicht ausschlaggebenden Riesenzellen nachzuweisen, in
seltenen Fällen ist das Bild ein derartiges, daß es als
ßicher zur Tuberkulose gehörig von den Autoren be-
zeichnet werden konnte (Philippsohn, Mag Leod und Ormsbt).
Alexander meint, ^daß es den allgemeinen pathologischen An-
schauungen widerspräche, daß ein relativ kleiner Bacillenembolus, ein-
mal in einer Arterie haften bliebe, das andere Mal in eine relativ
große Vene vordringe^ und gibt der Vermutung Ausdruck, daß dort,
wo die Vene scheinbar zuerst getroffen ist, der Embolus
durch die arteriellen Vasa vasorum in die Wand und von
da zur Intima der Vene gelangt. Wir geben diese Hypothese hier
wieder, zumal da ihre Gültigkeit für eine Reihe von FäUen sehr wohl
möglich wäre.
Ganz entschieden muß ich aber opponieren, wenn Alexander sich
dagegen wendet, daß viele Autoren, auch ich selbst, das häufig
bezüglich Tuberkulose un Charakter istische histologische
Bild betonen und darin eine gewisse Schwierigkeit finden, anstandslos
700 Fritz Juliusberg,
die Tuberkulide in die Hauttuberkulose einzureihen. Wir sind noch
heute darauf angewiesen, histologisch die Tuberkulose aus gewissen
Zellformen, ihrer Anordnung und der Art der Nekrose des befallenen
Gewebes zu diagnostizieren. Können wir diese Kriterien nicht
feststellen oder sind sie nur vereinzelt da, so müssen
andere ausschlaggebende Momente vorhanden sein, uin
die Annahme: Tuberkulose zu rechtfertigen. Wir müssen
darum auf Grund der meisten anderen und unserer eigenen mikro-
skopischen Untersuchungen ausdrücklich betonen, daß von allen
Momenten, die wir bei der FoUiclis für ihre Einreihung unter
die Tuberkulosen verwerten können, gerade das mikrosko-
pische Bild am wenigsten Beweismaterial gebracht hat;
ja, daß gerade die vielen mikroskopischen Untersuchungen, die meist
so wenig für Tuberkulose Sprechendes aufwiesen, der Einreihung der
FoUiclis unter die Tuberkulose resp. Tuberkulide große Schwierigkeiten
gemacht haben. An dieser Tatsache läßt sich nun einmal nichts ändern.
Und wenn dagegen angeführt wird, daß wir ja beim Lupus vulgaris
gelegentlich ein für Tuberkulose im histologischen Bilde uncharakte-
ristisches Aussehen finden, so ist demgegenüber doch daran festzu-
halten, daß das die Ausnahme und nicht die Regel ist. Wir müssen
deswegen ganz besonders bei der ^Folliclis^ nach Ursachen forschen,
die uns das so auffallend von den sonstigen Tuberkulosen differente
histologische Aussehen erklären, und es bleibt uns nichts übrig, als
aus den in der Literatur bekannten und unseren eigenen histologischen
Untersuchungen das Fazit zu ziehen, daß, wenn bei den in Rede stehenden
„Tuberkulid"formen ein tuberkulöses Virus (sei es in Form
der Bacillen, sei es als deren Toxin) eine ätiologische
Rolle spielt, dieses Virus jedenfalls lange Zeit braucht, um die
histologisch für Tuberkulose charakteristischen Veränderungen hervor-
zurufen, ja daß es unter Umständen überhaupt nicht dazu kommt
Auch die Toxine müßten in sehr abgeschwächter Form wirksam
sein. Daß überhaupt Toxine allein, ohne Bacillen im Stande seien, in
histologischer Beziehung tuberkuloseähnliche Bilder hervorzurufen, hat
Klinomüller festgestellt.
NiGOLAu gelang es allerdings nur, mit abgeschwächten
Bacillen Tuberkulose, nicht aber mit filtrierten Bouillon*
kulturen von Tuberkelbacillen tuberkulöse Verände-
rungen hervorzuheben. Klinomüller jedoch, der spezielle Vorsichts-
maßregeln in der Wahl der Tiere und in der Ausführung der Injektion
anwendete, um günstige Bedingungen für das Festhalten der Toxine za
schaffen, kam auch bezüglich der Toxine zu positiven Ergebnissen,
Experimente, die jedenfalls beweisen, daß die Bildung
eines histologisch tuberkuloseähnlichen Gewebes auch
ohne daß Bacillen mit tätig sind, möglich ist.
Ueber ^Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 701
»
So negativ die histologischen Untersuchungen bezüglich des tuber-
kulösen Baues dieser Effloreszenzen sind, so deutlich weisen doch
die meisten, vor allem die neueren, Untersuchungen darauf hin, daß
wir es bei der BoECKschen Form des Lupus erythematosus disseminatus
mit einer Gefäßerkrankung zu tun haben, einer Erkrankung, die
meist mit phlebitischen, unter Umständen auch mit arteritischen Pro-
zessen anfängt und in der Regel zu Thrombenbildung führt, welch
letztere häufig zu einer vollkommenen Obturation des Gefäßes führen.
Wahrscheinlich liegt in der Ausbildung dieser Obturation auch die Ur-
sache der späteren oberflächlichen Nekrose, indem der abgekapselte,
aus abgestorbenem Gewebe bestehende Thrombus, als blander Fremd-
körper wirkend, als solcher schließlich oberflächlich abgestoßen wird.
Die Tatsache, daß in der Regel oberflächliche Bildung des BoECKschen
^Pus focus^ und spätere Narbenbildung erfolgt, läßt darauf schließen,
daß die Bildung des obturierenden nekrotisierenden Thrombus meist
der Ausgang des Prozesses ist. Wir möchten an dieser Stelle gleich
hinzufügen, daß neben dem klinischen Ablauf vor aUem die histo-
logische Struktur und der histologische Verlauf diese
nekrotisierende Form gut von der des Liehen scrofulosorum und vor
allem der Acne scrofulosorum unterscheiden. Das ist aber nicht der
Fall gegenüber gewissen syphilitischen Effloreszenzen gummöser
Natur, die ganz in gleicher W^eise mit zentraler Nekrose ablaufen,
nachdem sie ihren Ausgang von der Gefäßwand genommen haben
(Blaschko, Markuse).
Meine weiteren, oben mitgeteilen mikroskopischen Befunde beziehen
sich sämtlich auf teils abgelaufene, teils frische Prozesse, der die
Folliclis der Patientin 10 komplizierenden Affektion ; sie haben mit der
FoUiclis selbst keinen direkten Zusammenhang und werden später bei
Besprechung dieses Falles ihre Berücksichtigung finden.
Indem wir auf die vor unseren Krankengeschichten kurz angedeuteten
Charakteristika des speziell von Boegk in klarster Weise beschriebenen
Krankheitsbildes hinweisen, sei kurz bemerkt, daß neben Boegk speziell
TouTON durch die sehr erwünschte Identifizierung einer Reihe von unter
den verschiedensten Benennungen mitgeteilten Fällen sich um die klinische
Abgrenzung der Erkrankung besondere Verdienste erworben hat. Diese
Zusammenstellung der beiden Autoren war um so notwendiger, als einige
Autoren in ihrer Benennung auf Teile der Haut Rücksicht genommen^
die gar nichts mit der Entstehung der Effloreszenz selbst zu tun haben;
hierher gehören die Bezeichnungen, welche die Erkrankung mit den
Schweißdrüsen in Beziehung zu setzen suchen ; übrigens lag der
Irrtum sehr nahe, da der Beginn der Erkrankung in der Regel dort,
wo die Schweißdrüsenknäule am reichlichsten sind, ihren Anfang nimmt
und die zirkumskripte Entzündung in diesen Partien leicht die Ver-
mutung erweckt, daß sie von den Schweißdrüsen selbst herrührt.
702 Fritz Jnliusberg,
Was die von uns mitgeteilten Fälle anbetriflft, so weisen die Fälle
3, 4, 5, 6, 8, 10 im Laufe der Beobachtung frische Effloreszenzen
auf, die die sichere Diagnose ermöglichten. Im Falle 7 konnten die
diagnostischen Schlüsse aus der Anamnese und dem Aussehen der Narben
gestellt werden. Dasselbe gilt für den Fall 9, der dadurch noch
ein ganz besonderes Interesse gewinnt, daß sich in einer
der Narben ein klinisch und histologisch sichergestelltes
Lupusknötchen entwickelt hatte. Einen ganz eigenartigen Ver-
lauf bot Fall 10, der soviel Besonderheiten aufwies, daß er noch später
eine besondere Berücksichtigung finden muß. Alle Fälle waren
mit Tuberkulose sicher kombiniert; nur bei Fall 3 konnte diese
als nur wahrscheinlich angenommen werden, da eine diagnostische Tu-
berkulinjektion leider nicht gemacht werden konnte.
Gehen wir zunächst auf die von Boegk gewählte Benennung
und die Beziehungen der Erkrankung zum Lupus erythe-
matosus discoide sein, so müssen wir hier betonen, daß die klinische
Differenz beider Krankheitsformen auf der einen Seite das aus der
Subcutis allmählich an die Oberfläche rückende, schließlich nach Bildung
eines Ulcus mit tiefer Narbe abheilendes Knötchen, auf der anderen
Seite die oberflächliche, nur mit narbiger Atrophie endigende chronische
Hautentzündung — uns so bedeutend erscheint, daß auch für die
Anhänger der tuberkulotoxischen Natur des Lupus erythematosus doch
nicht Gründe genug vorliegen dürften, um die BoECKsche
Form als eine Abart des Lupus exthematosus in seiner
gewöhnlichen Form aufzufassen. Wir stimmen darin mit Pin-
Kus überein, der, ebenso wie wir, weder klinische noch histo-
logische Beziehungen dieser beiden Affektionen anerkennt. Dazu
kommt, daß während sich die BoECKsche Form fast ausnahmslos bei
Tuberkulösen findet, der Lupus erythematosus in seiner ge-
wöhnlichen Form (cf. Picks und Voirols Statistik) diese Regel
sicher nicht aufweist. Es erscheint uns daher unberechtigt, wenn
Roth beide Erkrankungen zusammenstellt und in einer derartigen
Statistik das häufige Zusammenfallen des Lupus erythematosus mit der
Tuberkulose beweisen will. Sicherlich kommen beide Erkrankungen
gelegentlichzusammenan demselben Individuum vor und es finden
sich außerdem zwei Körperstellen, der Rand der Ohrmuschel und der
Rücken der Finger als häufige Lokalisation beider Erkrankungen. —
Doch zeigt noch eine dritte Erkrankung häufig dieselbe Lokalisatiön am
Fingerrücken und macht bisweilen bei flüchtiger Beobachtung gegenüber
der Folliclis diagnostische Schwierigkeiten; es sind dies die einfachen
Pernionen, die, bevor sie ulceriert sind, sich oft überhaupt nicht von
den Effloreszenzen der Folliclis unterscheiden; — ist es einmal zur
Ulceration gekommen, so unterscheiden sich die unregelmäßigen Ränder
dieser Affektion deutlich von den scharf umschriebenen kleinen Ulcerati-
Ueber „Tuberkulide" und disseminierte Hauttuberkulosen. 703
onen bei der Folliclis. — Daß Kälteeinflüsse auf das Entstehen der
Folliclis nicht ohne Wirkung sind, geht daraus hervor, daß Allen hierher
gehörige Fälle als „necrotizing chillbains^, Crocker die Folliclis als
eine „winter eruption" beschreibt Auch die meisten der BoECKSchen
Fälle und noch andere zeigen die Hauptschübe in der kalten Jahreszeit,
und dasselbe ist bei unseren Fällen 3, 4, 6, der Fall; im ersteren der
Fälle werden sogar vorausgegangene Erfrierungen von der Patientin in
ursächlichen Zusammenhang mit der Affektion gebracht.
Es liegt nahe, daran zu denken, daß neben einer spezifischen
Aetiologie, auf die wir weiter unten einzugehen haben, auch noch
Einflüsse der äußeren Temperatur als disponierendes Moment
eine Rolle spielen. Daß Störungen im Gefäßsystem aufs engste mit
dem Auftreten der Effloreszenzen zusammenhängen, haben zuerst in
unzweideutiger Weise die Untersuchungen Philippsohns, die auch
PiNKUS und ich bestätigen konnten, gezeigt. Auch andere Untersucher
geben die Beteiligung der Gefäße in besonders hervortretender Weise
an; neben den Beschreibungen, die sich vielfach in den Journalen für
Dermatologie finden, weise ich auf eine Beschreibung von Johnstok
hin, für den die Koinzidenz der klinischen Beobachtung (Auftreten be-
sonders in der kalten Jahreszeit, Sitz der Effloreszenzen an der äußeren
Temperatur besonders zugänglichen Partien), mit dem Beginn an der
Gefäßwand, wie es das Mikroskop erweist, die Annahme, daß die Folliclis
als Gefäßerkrankung beginnt, noch akzeptabler macht. Daß auch ähn-
liche Verhältnisse für den gewöhnlichen Lupus erythematosus eine prä-
disponierende Rolle spielen, ist möglich ; aber diese Koinzidenz in
der Lokalisation genügt doch nicht, um diese beiden
Krankheitsformen in eine zusammenzufassen. Ebenso-
wenig können wir aus dem Vorkommen beider Erkrankungen an einem
Individuum Gründe für eine nähere Verwandtschaft der beiden Krank-
heitsformen finden.
Um an dieser Stelle gleich die Differentialdiagnose der
Folliclis zu erledigen, sei zunächst darauf hingewiesen, daß im all-
gemeinen, auch wenn die Diagnose bei der ersten Besichtigung ziemlich
sicher erscheint, vor allem der Verlauf der Erkrankung also
die Beobachtung mehrerer Evolutionsformen des Exan-
thems zur Sicherstellung der Diagnose wünschenswert ist Auf diese
Weise gelingt es leicht, etwaige differentialdiagnostische Schwierigkeiten
sowohl den Frostbeulen gegenüber wie den gleichfalls von Boegk be-
schriebenen benignen Sarkoiden Geschwülsten der Haut zu lösen. Daß
diese letzteren differentialdiagnostisch in Frage kommen können, be-
weist ein jüngst in der französischen Gesellschaft für Dermatologie vor-
gestellter Fall.
Während wir bezüglich des Zusammenhanges des disseminierten
Lupus erythematosus BoECKs und des Lupus erythematosus
704 Fritz Juliusberg,
discoides in seiner gewöhnlichen Form uns durchaus ablehnend
verhalten, betreten wir mit der Frage nach den Beziehungen des aku-
ten disseminierten Lupus erythematosus Kaposis zu der
BoEGK sehen Form ein außerordentlich schwieriges und vor der Hand
noch nicht geklärtes Gebiet. In der Literatur findet sich diese
Frage mehrfach angeschnitten und mit der Erklärung erledigte, daß
Kaposis und Boecks Krankheit gar nichts miteinander zu tun haben.
Wenn auch unbedingt zuzugeben ist, daß in typischen Fällen die
beiden Formen ganz auffallende Differenzen, besonders im Gesamt-
charakter des ganzen Krankheitsbildes, aufweisen, so ist mir doch beim
Lesen der Krankengeschichten Kaposis mehrfach aufgestoßen, daß ein-
zelne seiner Fälle sowohl der Beschreibung der Effloreszenzen nach,
wie nach ihrer Lokalisation, sehr an die Kranken Boecks erinnern.
BoEGK selbst hat unter seine Beobachtung einen Fall eingereiht, der an-
fangs sicher das Bild seiner Disseminatusform zeigte und später ganz
in die Form Kaposis überging (Boecks Fall 3). Auch mein letzter
Fall scheint zu diesen Fällen zu gehören. Zur BoECKschen
Form gehörten die Effloreszenzen an den Extremitäten und die aller-
dings schon in Narben übergegangenen am Stamm, vor allem das mikro-
skopisch untersuchte Knötchen schien mit Sicherheit eine ganz frische
hierher gehörige Effloreszenz darzustellen. Die Gesichts- und Kopfaffektion,
die speziell im Gesicht, wo sie noch nicht abgelaufen war, auch mikro-
skopisch als Lupus erythematosus sich erwies, erinnerte wieder in hohem
Grade an Kaposis Fälle, ebenso die hämorrhagischen Effloreszenzen
auf den Ellenbogen, die ähnlich wie bei mehreren Kranken Kaposis
das Krankheitsbild in den letzten Tagen besonders schwer gestalten.
In Rücksicht auf die spärliche Kasuistik, die über die KAPOSische Form
besteht, habe ich es für zweckmäßig gehalten, die Krankengeschichte
möglichst genau wiederzugeben; auch die mikroskopischen Unter-
suchungen, die allerdings nur einen detaillierten histologischen Abdruck
der klinisch beobachteten Erscheinung aufwiesen, habe ich als kastui-
stischen Beitrag mit beigefügt, wage es aber nicht über die Beziehung
der Krankheit Kaposis zu der Boecks resp. zum Lupus erythematosus
discoides ein Urteil abzugeben, wenn mir auch die (noch dunklen) Be-
ziehungen der akuten Form Kaposis zum Lupus erythematosus dis-
coides nach der Publikation Kaposis sehr wahrscheinlich sind.
Ein weiterer Punkt bedarf einer kurzen Besprechung: Es ist dies
die immer und immer wieder von Barth£lemy hervorgehobene Dif-
ferenz zwischen den beiden Formen, die er als „Acnitis" und
„Folliclis" bezeichnet. Daß die Folliclis identisch ist mit
Boecks und den Fällen vieler anderer Autoren, ist so häufig gesagt
worden, daß weitere Bemerkungen hierüber überflüssig sind ; nur müssen
wir hinzufügen, daß die von Barthi^lemy betonte Beobachtung, daß
die Folliclis relativ oberflächlich nicht subkutan sitzt, sich nicht be-
lieber „Tuberkulide*' und disseminierte Hauttuberkulosen. 705
stätigt hat. An den Fingern freilich, wo eine geringe Entwickelung
des subkutanen Fettgewebes vorhanden ist, scheinen die Effloreszenzen
auch in ihrem ersten Stadium in die Haut selbst eingesprengt
zu sitzen. Am Unterarm sitzen sie fast regelmäßig in ihrem ersten
Stadium tief im subkutanen Gewebe. Ich glaube überhaupt,
daß die höhere oder tiefere Lokalisation, die anfangs rein accidentell
ist, je nach der Höhe des Gefäßes, welches von der Erkrankung er-
griffen ist, eine ausschlaggebende Rolle in der Differentialdiagnose
dieser Krankheitsformen nicht spielen darf. Auf der anderen Seite
bezeichnet Barthj^lehy den primären Beginn der Effloreszenz bei
seiner „Acnitis" immer als tief subkutan gelegen. Wenn seine
„Acnitis'\ wie dies Boegk annimmt, mit den Fällen, die Kaposi
als „Acne teleangiectodes*', Finger und andere Autoren als
„Lupus follicularis disseminatus" beschreiben, überein-
stimmt, so ist bei dieser Affektion eigentlich ein viel oberfläch-
licherer Sitz die Regel. Auch die Abbildung Barth6lemys seiner
Fälle von „Acnitis (in den Annales de Dermat. 1891) sprechen für
diese Uebereinstimmung. Bis jetzt sind Fälle mit der Diagnose Ac-
nitis (abgesehen von einem von Pinküs vorgestellten Fall) nur von
Barth£lemt selbst beschrieben worden. Wir müssen es daher offen
lassen zu entscheiden, ob bezüglich dieser Form die Ansicht Boecks
tatsächlich die richtige ist, wenn auch diese Ansicht sehr vieles Wahr-
scheinliche für sich hat. Eine andere Ansicht über die Auffassung der
Acnitis vertrat Pinkus, der neben einer tuberkulösen Form noch eine
zweite beobachtet zu haben glaubt, die weder mit den Tuberkuliden
noch mit der Tuberkulose überhaupt in Beziehung steht.
Beziehung der Folliclis zum Erythema indurativum
Bazin.
Wenn ich auch kein eigenes Material über die Krankheitsform,
welche unter dem allgemein acceptierten Namen als Erythema in-
durativum Bazin bekannt ist, hier anführen kann, so kann ich doch
die prinzipiell wichtige und für die pathogenetische Auf-
fassung der Tuberkulide höchst bedeutungsvolle Frage,
wie weit sich die Fälle von Folliclis und die des Erythema in-
durativum Bazin voneinander unterscheiden resp. einander ähneln,
nicht übergehen.
Diese Affektion, zuerst von Bazin als „Erytheme indur6 scro-
fuleux^' beschrieben, ist charakterisiert durch das Auftreten von erbsen-
bis über nußgroßen Knötchen, die besonders an den Unterschenkeln ihren
Sitz haben. Die einzelnen Knötchen sind zuerst nur durch das Tastgefühl
zu konstatieren, erst später nimmt die Haut über ihnen eine blaue Ver-
fUrbung an. In den seltensten Fällen tritt eine Resorption ein, meist
kommt es zu einem Durchbruch des Knötcheninhaltes und es treten tiefe
706 Fritz Juliusberg,
ülcerationen auf. Der Verlauf der Einzeleffloreszeuzen ist meist noch
schleichender als der der FoUiclis und kann sich über Monate und Jahre
hinziehen. Kurz sei darauf hingewiesen, daß die große Aehnlichkeit dieser
Afifektion mit dem Erythem a nodosum und den Gummen der Unterschenkel
oft die Diagnose außerordentlich erschwert.
BoECK weist ausdrücklich darauf hin, daß viele Fälle des
Erythema indurativum seiner Ansicht nach als „Tuberculides
nodulaires" aufgefaßt werden müssen, also als eine Form, welche
sich nur durch die. Größe der Effloreszenzen von der Folliclis
resp. dem Lupus erythematosus disseminatus unterscheidet.
Hierher gehören gerade eine Reihe durch histologische Untersuchungen
und Tierimpfungen besonders wertvoller Fälle, so diejenigen von
Philippsohn, Maclcod und Ormsbet. In der Tat zeigen bei diesen
Fällen die histologischen Untersuchungen, daß prinzipiell zwischen
diesen Fällen und der Folliclis irgend welche Gegensätze
nicht bestehen. Hier wie dort beginnt die Erkrankung in der Gre-
fäßwandung und führt in ihrem Verlaufe zu einer zentralen Nekrose
mit nachfolgender Ulceration. Die einzige Differenz, nämlich die Tat-
sache, daß bei diesen Fällen von Erythema indurativum die
Effloreszenzen vor allem an der unteren Extremität sitzen und ver-
einzelt an der oberen, während bei der Folliclis das umgekehrte
quantitative Verhältnis vorherrscht, ist viel zu wenig eingreifend, um
daraus irgend welche Gegensätze aufzubauen.
Neben diesen Fällen gibt es aber auch eine Reihe anderer,
die mit ihren plattenförmigen Infiltraten (cf. speziell Harttüngs
Fall) klinisch doch ein ganz anderes Bild bieten, als die erstgenannten.
Aber auch hier bildet die Histologie eine gewisse sehr
weitgehende Uebereinstimmung mit der Folliclis und den
von BoECK als Tuberculides nodulaires bezeichneten Fälle von
Erythema indurativum, besonders im Ausgang des pathologischen
Prozesses von der Gefäßwand. Eine gewisse Differenz beider Formen
zeigt sich übrigens darin, daß die erste der Folliclis ähnelnde auch
häufig nach der Ansicht der Autoren, die solche Fälle publiziert haben,
mit derselben kombiniert erscheinen, was bei der zweiten Form
nicht der Fall ist (Johnston, Whitfield u. a.). Wir werden die Be-
weise, die für die tuberkulöse Natur der der Folliclis gleichenden Form
erbracht worden sind und die von Fällen mit der Diagnose von Folliclis
gewonnen wurden, zusammenstellen müssen, da eine Trennung derselben
unserer Ansicht nach keine Berechtigung hat und auch bei der wenig
einschneidenden Differenz beider Formen kaum möglich sein dürfte.
Erfinde fftr die tuberkulöse Natur der nekrotisierenden
Tuberkulide.
Fassen wir das Material, welches uns bei den nekrotisierenden
Tuberkuliden für und wider ein Zusammenhang mit Tuberkulose
lieber „Taberknlide^* und disseminierte Hanttuberkidosen. 707
schlechthin, und ffir eine toxisch-tuberkulöse Natur auf der einen,
bacillär-tuberkulöse Natur auf der anderen Seite spricht, zusammen, so
ergeben sich folgende Momente:
1) Fast stets weist das erkrankte Individuum ander-
weitige sichere Tuberkulosen auf, eine Tatsache, die ebenso-
gut für einen toxisch-tuberkulösen Charakter, wie für eine bacillär-
tuberkulöse Natur der Hauterkrankung sprechen würde. Diese ander-
weitigen Tuberkulosen sind in der Regel chronischer Natur und zwar
meist Lymphdrüsenerkrankungen, die sich gelegentlich erst
durch Injektionen von Tuberkulin als tuberkulös feststeUen lassen.
2) Die Affektion reagiert häufig, was ebenso wie 1) zu
verwerten ist, lokal auf Alttuberkulin. Bei dem tiefen Sitze
der Effloreszenzen im Beginn ist aber auch die Möglichkeit vorhanden,
daß die reaktive Entzündungszone bei schwachem lokalen Reagieren
nicht die Hautoberfläche erreicht und so der Beobachtung entgeht, so
daß vielfach die lokale Reaktion durch diesen Umstand nicht mit der
nötigen Schärfe konstatiert werden kann oder gar der Beobachtung ganz
entgeht. Daß auch abgeheilte Effloreszenzen (cf. Fall 5) auf
Injektion von Alttuberkulin reagieren, stützt, wie mir
scheint, die Ansicht KLiNOMt^LLERs, daß auch bacillenfreies
tuberkulöses Gewebe auf Alttuberkulin lokal reagieren
kann. Freilich müssen wir mit Rücksicht auf die weiter unten von
mir als ö angeführte Beobachtung auch die Möglichkeit zugeben, daß
noch Tuberkelbacillen in einer derartigen Narbe zurückgeblieben sein
können.
3) Gegenüber zahlreichen negativen Untersuchungen auf Tuberkel-
bacillen konnten Philippsohn, Magleod und Ormsby solche
konstatieren.
4) Gegenüber zahlreichen negativen Tierimpfungen haben Philipp-
sohn, Thibierge und Ravaut an Meerschweinchen positive
Impfungen erzielen können. Die lange Inkubationszeit der
geimpften Tiere spricht für eine geringe Virulenz des verimpften
Materials. Wir weisen an dieser Stelle auf eine unseres
Erachtens sehr wichtige Mitteilung von Cazin und
IscovESCO hin, auf die mich Kollege Pinküs aufmerksam machte.
Diese beiden Autoren katten nämlich, veranlaßt durch das häufige Vor-
kommen der Pernionen bei skrofulösen Kindern (welches auch
Bazin und Hardt auffiel) und zwar schon 1889, also zu einer
Zeit, wo die „nekrotisierenden Tuberkulide** noch nicht
entdeckt waren, sowohl mikroskopische Untersuchungen
angestellt, wobei das erkrankte Gewebe als ein Granulations-
gewebe mit Riesenzellen sich erwies — das Suchen nach
Tuberkelbacillen war negativ, bis auf einen nicht sicheren
— als auch 4 Meerschweinchen mit derartigem Gewebe geimpft,
708 Fritz Juliusberg,
welche alle vier, 4 Monate später getötet, Tuberkulose mit Sicher-
heit aufwiesen, ein verspätetes Wirken der Impfung, das mit Philipp-
sohns Tierversuch in gutem Einklang steht.
5) In der Narbe einer derartigen Effloreszenz konnte
ein lupöser Herd klinisch und mikroskopisch von mir
festgestellt werden (cf. Fall 9). Da eine spätere Infektion der
glatten Narbenoberfläche immerhin unwahrscheinlich erscheint, ist die
Vermutung sehr naheliegend, daß der Keim zu dem Lupus durch das
Tuberkulidknötchen gelegt worden ist.
6) Der histologische Bau ist als typisch tuberkulös nur
von Philippsohn, Macleod und Ormsby angegeben. Tuberkulose-
verdächtigeElemente (Riesenzellen, epitheloide Zellen und Nekrose)
wurden von den meisten Autoren beobachtet. Daß überhaupt
gar kein für Tuberkulose verdächtiger Befund sich erheben läßt, kommt
seltener vor. Es scheint nach unseren Untersuchungen, als ob ein
histologisch uncharakteristisches Bild mehr den früheren Stadien der
Erkrankung, die tuberkuloseverdächtigen resp. tuberkulöse Verände-
rungen einem höheren Alter der Effloreszenz eigen seien. Dies würde
dafür sprechen, daß bei dieser Erkrankung das tuberkulöse Gift, sei es
nun bacillenhaltig oder nicht, eine außerordentliche Schwäche in seiner
Wirkung aufweist. Wenigstens kontrastiert sehr auffällig damit die
Schnelligkeit, mit der virulentes Tuberkelbacillenmaterial (cf. Wechs-
berg und 6. Herxheimer) und auch bacillenfreies tuberHulöses Toxin
(Klingmijller) typische tuberkulöse Veränderungen hervorruft.
Auf Grund dieser Erwägungen und Tatsachen stehen
wir nicht an, den Zusammenhang der nekrotisierenden
Tuberkulide mit Tuberkulose als gesichert anzunehmen.
Einige Beobachtungen beweisen (Punkt 3, 4 und 5), daß auch
Bacillen in diesen Effloreszenzen vorkommen können und
daß (Punkt 4 und 5) diese Bacillen verimpfbar und wahr-
scheinlich sehr selten (Punkt 5) imstande sind, auch bei Men-
schen Formen der bekannten Hauttuberkulosen, in unserem
Falle ein Lupus vulgaris hervorzurufen. Ob Bacillen regelmäßig
selbst die Effloreszenzen veranlassen oder ob deren Toxine auch hier
eine Rolle spielen, wie beim Liehen scrofulosorum, müssen wir zum
Entscheid weiteren Untersuchungen überlassen. Ein Wahrschein-
lichkeitsmoment, welches beim Liehen scrofulosorum die
Möglichkeit eines häufigeren rein toxischen Ursprunges
offen läßt, nämlich die Beobachtung, daß auch das Tuberkulin als
solches ein Arzneiexanthem, das wir vom Liehen scrofulosorum weder
klinisch noch mikroskopisch abgrenzen können, hervorruft, besteht bei
den nekrotisierenden Tuberkuliden nicht; denn diesen
Affektionen ähnliche Arzneiexantheme sind noch nie nach Tuberkulin
beobachtet worden.
Ueber „ Tuberkulide^' und disseminierte Hauttuberkulosen. 709
Eine Schwierigkeit gegenüber den sehr schwerwiegend für
Tuberkulosen sprechenden Gründen liegt anscheinend darin, daß das
histologische Bild kein für Tuberkulose typisches ist,
wenigstens in den meisten Fällen, auch in den Fällen, in denen ganze
Effloreszenzen vollständig in Serien untersucht worden sind. Dieses im
höchsten Grade auffallende Ergebnis steht sogar mit dem Liehen scro-
fulosorum, also einer ganz besonders gutartigen, in der Regel spontan
verheilenden Hauttuberkulose insofern in gewissem Gegensatz, als hier
das für Tuberkulose sprechende Gewebe viel leichter zu konstatieren
ist. Baumgarten hatte bekanntlich die Anschauung ausgesprochen,
daß Tuberkelbacillen erst dann, wenn sie in Wucherung begriffen sind,
wirklich tuberkulöse Veränderungen herbeiführen können, eine An-
schauung, die allerdings von vielen Seiten lebhaft bestritten wird. Auch
uns scheint diese Hypothese entbehrlich und sogar unseren klinischen
Beobachtungen in gewisser Weise zu widersprechen, wenn wir bedenken,
daß unsere kutanen Tuberkulodermaformen durch entweder sehr wenig
virulente oder durch tote Bacillen oder auch bloß durch Toxine hervor-
gerufen werden. Wir müssen dann allerdings annehmen, daß der Viru-
lenzgrad des Giftes schon von vornherein ein viel geringerer ist, als
beim Liehen scrofulosorum, wo wir im allgemeinen den typisch-tuber-
kulösen Bau antreffen, oder die Art der Entstehung muß bei
der Folliclis eine ganz besonders schwächende Wirkung
auf das Virus ausüben. Wir haben schon oben betont, daß uns die
histologischen Veränderungen, die nicht für Tuberkulose sprechen,
weniger bedeutungsvoll erscheinen, als die Punkte, die uns zu der An-
nahme einer tuberkulösen Natur der nekrotisierenden Tuberkulidformen
drängen. Wir wollen an dieser Stelle hinzufügen, daß es auch hier
in der Regel Tuberkulosen chronischer Natur speziell der
Lymphdrüsen sind, welche die' primäre Tuberkulose darstellen.
Darum ist es auch unter Umständen schwer, diese als sicher tuberkulös
zu erweisen. Bei unserem Fall 6 beispielsweise war bei der Aufnahme
der Patientin außer der Folliclis und einigen vergrößerten Drüsen am
Hals nichts für die Tuberkulose Sprechendes nachzuweisen. Erst als
wir Alttuberkulin injizierten, bewies die allgemeine Reaktion und das
Sichtbarwerden eines Liehen scrofulosorum die Tuberkulose der Patientin.
Ein auffallender Gegensatz besteht betreffs des
Alters zwischen den vom Liehen scrofulosorum und dem
von der Folliclis befallenen Patienten. Der Liehen scro-
fulosorum — und dasselbe gilt für die Acne scrofulosorum —
tritt am häufigsten in den ersten 10 Lebensjahren auf,
während die Folliclis in den meisten Fällen einem späteren Alter,
etwa um das 20. Lebensjahr herum, eigen ist. Hier sind es
wieder häufiger weibliche Patienten, und wie ich schon oben betonte,
MitMl. a. d. GrenzfeMetea d. Mediziii a. Chirarvl«. Xm. Bd. 4ß
710 Fritz Juliusberg,
spielt relativ oft eine vorausgegangene Kältewirknng eine prädispo-
nierende Rolle.
Trotz dieser Differenzen ist aber die Prognose so-
wohl der nekrotisierenden Tuberkulide wie des Liehen
oder Acne scrofulosorum — ich sehe dabei ab von dem sicher
lokal sehr gutartigen Prozeß — dieselbe. Die kutane Erkran-
kung spricht zwar für die Tuberkulose des befallenen
Individuums, aber diese ist in der Regel eine torpide
verlaufende, die durch eine zweckmäßige Allgemeinbehandlung sehr
günstig beeinflußt werden kann. In dieser Hinsicht haben diese
Hauterkrankungen eine nicht zu unterschätzende Be-
deutung und geben uns wertvolle Fingerzeige für die
Beurteilung des Gesundheitszustandes und die Besse-
rung desselben in einem Lebensalter, wo das durch seine
Tuberkulose nicht so widerstandsfähige Individuum am
leichtesten den Schädigungen aller Art ausgesetzt ist.
Wir haben es also mit zwei Hauptgruppen exanthematischer
Hauttuberkulosen zu tun, die neben ihrer disseminierten
Verteilung, durch ihre Benignität, ihr in der Regel spon-
tanes Abheilen, ihre nur selten beobachtete Tendenz in
weniger gutartige Tuberkulosen überzugehen, den bekannten
Hauttuberkulosen gegenüber eine gewisse Sonderstellung ein-
nehmen. Dieser Sonderstellung wurde von verschiedenen Seiten her
auch in der Benennung Rechnung getragen und so die verschiedenen
Gruppenbezeichnungen Toxituberkulide, Tuberkulide, para-
tuberkulöse Affektionen undExantheme der Tuberkulose
in die Literatur eingeführt, von denen die DARiERSche Bezeichnung
Tuberkulide sich den meisten Anklang verschaffte. Es liegt unserer
Ansicht nach kein Grund vor, diesen Namen, der sich so festgesetzt
hat und mit dem man den Zusammenhang mit Tuberkulose
einerseits, die Benignität der Eruption andererseits zum
Ausdruck zu bringen suchte, wenn er auch sprachlich nicht ganz ein-
wandfrei ist, fallen zu lassen. Nur müssen wir uns natürlich hüten^
solche Affektionen, deren Zusammenhang mit Tuberkulose absolut noch
nicht erwiesen ist, dieser Gruppe beizugesellen.
Differenzen zwischen Tuberkuliden und anderen
ex an thematischen Haut tuberkulösen.
Verlockend scheint es, wie dies Zollikoper getan hat, die Tuber-
kulide als „hämatogene Hauttuberkulosen^ den früher bekannten
Tuberkulosen der Haut gegenüberzustellen. Zollikoper stützt sich
dabei auf die Beobachtung, daß speziell beim Lupus vulgaris die auf
hämatogenem Wege entstandenen Formen zu den relativen Seltenheiten
gehörten. Wir müssen dem entgegen betonen, daß diese An-
lieber „Tuberkulide^ und disseminierte Hauttuberkulosen. 711
nähme nur mit erheblicher Einschränkung zu acceptieren
ist Faßt man nur die lokalisierten LupnsfUle ins Auge, so dürfte
ZoLLiKOFERs Behauptung, daß diese Fälle in der Regel Inokulations-
tuberkulose darstellen, richtig sein; denn bei diesen Formen ist eine
hämatogene Infektion anscheinend nicht häufig, und es dürfte zu den
größten Seltenheiten gehören, hier einen Infektionsmodus auf dem Blut^
wege, wie dies Wolter jüngst gelungen ist, nachzuweisen. Ebenso
gilt natürlich die lokale Infektion wohl für die meisten Fälle der Tuber-
culosis verrucosa cutis und des Skrofülodermas. Jedoch zeigt uns die
umfangreiche Kasuistik, daß — ganz abgesehen von einigen Beob-
achtungen von ^Hauttuberkulosen^ sensu strictiori mit reichlichem
Bacillengehalt — auch beim Lupus vulgaris recht häufig Fälle
beobachtet sind, bei denen wir sicherlich einen hämatogenen In-
fektionsmodus annehmen müssen. Mit diesen ^disseminierten^
Hauttuberkulosen haben wir uns jetzt zu beschäftigen.
Zuerst von Leightenstern, später von Meter, Pelaoatti und
Heller und ganz jüngst von Rendsburg wurden Fälle von akuter
miliarer Tuberkulose der Haut beschrieben, akute Schübe mit
BläschenbUdung und reichlichem Bacillengehalt, die sicherlich auch
auf hämatogenem Wege zustande kommen und deren tuberkulöse
Natur unbestreitbar ist.
Der Lupus vulgaris weist drei Formen auf, die als disse-
minierte Tuberkulosen hier Platz finden müssen:
Es sind dies 1) die Fälle, wo in der durch frühere Pro-
zesse elefantiastisch verdickten Haut die Verbreiterung
der Lymphspalten und Gefäße der Aussaat und Ansiede-
lung der Tuberkelbacillen einen besonders günstigen
Boden schuf. Diese Fälle haben natürlich je nach dem modifizierten
Terrain gewöhnlich nur eine beschränkte Verbreitung, meist nur auf
einer, vor allem der unteren Extremitäten, und man könnte darüber
strittig sein, ob diese Fälle — einen typischen Fall dieser Art habe ich
vor einigen Jahren in Neissers stereoskopischem Atlas veröffentlicht —
einwandsfrei hier zu den disseminierten Tuberkulosen zu rechnen sind.
Geben wir der Beobachtung Raum, daß bei den nekrotisierenden Tuber-
kuliden Einflüsse (vor allem der Temperatur) auf die Gefäße einen
günstigen Boden an besonders ausgesetzten Körperteilen für die tuber-
kulöse Erkrankung schaffen, so würde doch darin eine Berechtigung
mehr liegen, diese Fälle hier mitanzuführen.
Unzweifelhaft gehören aber die Fälle von Lupus vulgaris
disseminatus hierher, die von Adamson, Besnier, Du Gastel,
DouTRELEPONT, Hall, Juliusberg, Loustak uud NIELSEN uach
Masern, von Doutrelepont, Philippson, Tobler nach Schar-
lach, von Neisser nach Varicellen beobachtet worden sind. Die
klinische Entwickelung dieser LupusflQle spricht sicherlich für eine
46*
712 Fritz Juliusberg,
faämatogene Infektion, wenn auch nach Philippson der knotenförmige
Bau der einzelnen oberflächlichen Herde im Gegensatze zum dentritisch
verzweigten der auf dem Blut- oder Lymphwege entstandenen auf eine
Inokulation von außen deuten würde.
Die dritte Gruppe umfaßt die sogenannten Lupus follicularis-
Fälle im Gesicht, mehrfach als Acne teleangiectodes publi*
ziert, bei denen auch das gleichzeitige schubweise Auftreten der zahl-
reichen Knötchen für eine Entstehungsweise auf dem Zirkulationswege
spricht Ob die als Acnitis bezeichneten Fälle (c£ oben) hierher ge-
hören, läßt sich vor der Hand noch nicht mit Sicherheit entscheiden.
Uebrigens sei hier kurz bemerkt, daß es neben den von Finger als
Lupus follicularis gedeuteten Fällen von Acne teleangiectodes
auch solche gibt, die anscheinend nicht unter die Tuberkulose einzu-
reihen sind, wie Finger unlängst hervorhebt.
In vieler Beziehung bemerkenswert ist ein Fall Naeoelis als
hämatogene Hauttuberkulose beschrieben, bei dem sich
verschiedene subkutane Knötchen — eines derselben erinnerte durch
Bildung eines Pus focus an die Folliclis — entwickelten, die histologisch
Tuberkulose mit Verkäsung und Bacillen aufwiesen. Leider ist nicht
angegeben, ob in den verkästen zentralen Partien sich Reste von Ge-
fäßen nachweisen ließen.
Wir können uns nach Anführung des letztgenannten Materials des-
wegen nicht mit dem Vorschlag Zollieofers, die Tuberkulide als
„hämatogene'' Haut tuberkulösen abzusondern, einverstanden
erklären. Es liegt nahe, nachzuforschen, ob bei den disseminierten
Formen des Lupus vulgaris, ähnlich wie bei Wolters lokalisiertem
Falle, nicht auch die Gefäße histologisch in irgend einem Zusammen-
hang mit dem Entstehen der tuberkulösen Granulationsmassen zu setzen
sind. In gewissem Sinne hat Philippson dieser Frage Rechnung ge-
tragen, indem er auf den dendritischen, entlang den Gefäßen angeord-
neten Bau des hämatogen entstandenen Lupus vulgaris hinwies. An
den Präparaten eines früher von mir beschriebenen Falles von Lupus
vulgaris disseminatus konnte ich allerdings den dendritischen Bau und
die Anordnung um die Gefäße nicht als deutlich ausgesprochen kon-
statieren; möglicherweise sind aber die von Philippson gefundenen
Lokalisationen nur deutlich erkennbar, wenn man ganz frische Herde
zur Untersuchung bekommt, und werden verwischt, wenn der einzelne
Herd einen längeren Bestand erreicht hat.
Fassen wir noch einmal das, was wir wissen über die Tuberkulide
und die Eigenschaften, die sie uns im Gegensatz stellen lassen gegen-
über den bekannten Formen der Hauttuberkulose, zusammen, so kommen
wir zu dem Schlüsse, daß neben den sicher bekannten, in
Exanthemform auftretenden typischen Haut tuberkulösen,
nämlich den oben zusammengestellten Formen des Lupus vulgaris
üeber „ Tuberkulide^ und disseminierte Hauttuberkulosen. 713
disseminatus, wozu auch der Lupus follicularis disseminatus
gehört und den von Leightenstern u. a. beschriebenen bläschen-
förmigen Eruptionen bei allgemeiner Miliartuberkulose eine Gruppe
besonders gutartiger Exantheme besteht, der sogenannten Tuber-
kulide, die durch ihre Benignität und ihr spontanes Abheilen
charakterisiert sind, die lokal stets eine günstige Prognose
geben und deren Bedeutung vor allem darin liegt, daß
sie, da sie sekundäre Infektion oder Intoxikation von
einem oder mehreren primären tuberkulösen Herden her
darstellen, uns so diagnostische Rückschlüsse auf diese
gestatten. Sehen wir von der Kasuistik einiger eigentümlicher und
nicht immer mit Sicherheit hierher gehöriger Fälle ab, so zerfallen
diese Tuberkulide in zwei Hauptformen:
1) in die des Liehen scrofulosorum und die der ihm nahe
verwandten Acne scrofulosorum;
2) in die nekrotisierenden Formen, zu der die Folliclis,
die von dieser kaum abzugrenzenden „Tu berculi des nodulaires''
und wohl auch die Fälle von Erythema indurativum mit platten
Infiltraten gehören.
Wenn es auch mit Sicherheit feststeht, daß in einer Reihe von
Fällen beider Gattungen Tuberkelbacillen lokal vorkommen, so ist doch
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch von den primären Herden
auf dem Zirkulationswege fortgeführte Toxine allein derartige Exantheme
hervorrufen können; daß dieser Fall eintreten kann, ist durch einige
Arbeiten aus der Breslauer Klinik nachgewiesen worden.
Während bei den nekrotisierenden Formen der Ausgang der Einzel-
efüoreszenzen von den Gefäßen sicher feststeht und sich auch histo-
logisch in der Regel leicht nachweisen läßt, ist bei der Gruppe des
Liehen skrofulosorum, wo die Entstehung der Eruption auf dem Zir-
kulationswege kaum zu bezweifeln sein dürfte, die Beteiligung der Ge-
fäße nicht in deutlicher Weise zu verfolgen.
Zum Schlüsse ist es mir eine angenehme Pflicht, meinem* ver-
ehrten früheren Chef, Herrn Geheimen Medizinalrat Professor Dr.
Neisber, für die Ueberlassung des Materiales und die Unterstützung
bei dieser Arbeit ergebenst zu danken.
Literatur.
I. Allgemeines über Tuberkulose.
Baumgabtbn, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 9 u. 10.
Hbbxhbimbr, G., Zisolers Beitr. z. path. Anat u. z. allg. Path., 1903,
p. 363 ff.
Wbchsbbro, Beitr. z. path. Anat. u. z. allg. Fath., 1901.
714 Fritz Juliusberg,
IL lieber Hauttnberknlose im allgemeinen.
Lehr- und Handbticher von HauiOpbau-Lbrbbdib, Hbbra, Jarisch, Kaposi
(cf. auch Uebersetzong von Bbsnibr-Doton), Nbissbr in t. Zibmssbbts
Handbuch, Nbisser-Jadassohn in Ebstjun-Sohwalbbs Handbuch.
Referate und Diskussion über Hauttuberkulose auf dem 2. intemat. Dermat-
Kongreß zu London (Hallopbau, Fox, Pbllizabi, Jadassohn).
Jadassohn in Lubarsch-Ostbrtag, 1896; BerL klin. Wochenschr., 1899.
Klinomüllbr, Berl. klin. Wochenschr., 1903, p. 778 (Entstehung von tuber-
kulösem Oranulationsgewebe durch bacillenfreiee Toxin). Arch. f. Dermat.,
Bd. 69, 1904.
Nbissbr, Stereoskopisch-med. Atlas, 30/31, 1900; Diagnostischer Wert des
Alttuberkulins. Therap. d. Gegen w., 1900; Hauttuberkulosen und Tuber-
kulide. Dtsoh. Klinik, 1902.
IIL üeber Lupus erythematosus.
Jadassohn in Lubarsch-Ostbrtao, 1896, und Mraqbk, Handbuch der Haut-
krankheiten, Bd. 3.
Kaposi, Ueber den akuten, disseminierten Lupus erythematosus. Arch. £
Dermat., 1869, 1872.
Pick, W., Beziehung des Lupus erythematosus zur Tuberkulose. Arch. f.
Dermat., Bd. 68, 1901.
Roth, Beziehungen des Lupus erythematosus zur Tuberkulose. Arch. f.
Dermat., Bd. 51, 1900.
VoiROL, Dtsch. Med,-Ztg., 1903, No. 80—85.
IV. Ueber Tuberkulide im allgemeinen.
Berührt werden die Tuberkulide in den meisten obigen Arbeiten (cf.
speziell Referat und Debatten auf dem Londoner Kongreß, Hallopbau in
seinem Lehrbuche, Jadassohn in Berl. klin. Wochenschr., 1899, Nbissbr
in Dtsch. Klinik.
Referat und Debatten auf dem 4. intemat. Dermat-Kongr., Paris 1900
(BoBCK, Fox, Campana, Ribhl, Daribr, Aüdry, Nbissbr, Jadassohn).
Debatten- und Diskussionsbemerkungen auf dem 6. Kongr. d. Dtsch. Dermat.-
Oesellsch., Straßburg 1898 (Wolff, Jagobi, Jadassohn, Nbissbr).
Bbauprbz, Gontribution & T^tude de la folliclis. Th^se de Paris, 1898.
Bbttman, Dtsch. med. Wochenschr., 1904, No. 18 u. 19.
BoBC«; Arch. f. Dermat., Bd. 42, 1898, p. 71, 175, 363 ff.
Daribr, Ann. de dermat, 1896, p. 1431.
Frinoubt, Des tuberculides et particuli^rement de la forme folliclis. These
de Paris 1898.
Hallopbaü, Ann. de Dermat., 1896, p. 508.
Haüry, Essai sur les tuberculides cutan^es. Th^se de Paris, 1899.
JoHNSTON, The cutaneous paratuberculoses. The Philadelphia monthly med.
Journ., 1899, p. 78 ff.
LbrbddE; La sem. med., 1900, p. 1 ff.
NicoLAü, Ann. de Dermat., 1903, p. 713 ff.
Tanybt, Contribution k l'6tude des hidrosadenites suppuratives disseminees.
Thöse de Bordeaux, 1894.
ToüTON, 6. Dtsch. Dermat-Kongr., 1899, p. 52 ff.
ZoLLiKOFBR, Korrcsp.-Bl. f. Schweizer Aerzte, 1902, No. 6.
üeber „Tuberkulide'^ and disseminierte Hanttuberkulosen. 715
V. Lieben scrofulosorum.
S, u. 4. intemat Dermat-Kongr. Bobgks, Jadassohks, Klingmüllbrs,
Neissbbs oben zitierte Arbeiten.
Bbttman (cf. oben [Bacillennachweis]).
OoMBY, Liehen scrof. nach Masern. 20. Vers. d. Gesellsch. f. Kinderheilk.,
1904, p. 179.
Hallopbau, Ann. de dermat., 1892, p. 284.
Haüshalteb, Liehen scrof. nach Masern. Ann. de dermat, 1898, p. 455
(posit. Tierimpfung).
Hebra, Hautkrankheiten, 1860.
HuDBLO u« Hbrenschmidt, Licheu sorof. nach Masern. Ann. de dermat.,
1901, p. 626.
Jacobi, 3. Kongr. d. dtsch. dermat. Gesellsch., 1892, p. 69. (Bacillennach-
weis.) 6. Kongr. ders. Gesellsch., 1899, p. 496 (posit, Tierimpfung).
Jadassohn (cf. oben [lokale Tuberkulinreaktion]).
Klingmüllbr cf. oben (Entstehung des Liehen scrofulosorum durch Toxine).
LBFäBVRB, Thöse de Nancy, 1898 (Fälle Haushaltbrs).
Neissbr cf. oben (Hinweis auf positive lokale Tuberkulinreaktion und echt
tuberkulöse Natur des Liehen scrof.).
Pbllizari,. Londoner Kongr., p. 426. (Positive Tierimpfung.)
PoRGBS, Arch. f. Dermat., Bd. 66, 1903, p. 401.
BiBHii, cf. Pariser Kongreß u. Arch. f. Dermat., p. 852.
ScHWBNTNGBR u. Buzzi, Mouatsh. f. prakt. Dermat., Bd. 11, No. 12.
WoLPP, 6. Kongr. d. dtsch. Dermat.-Gesellsch (Bacillennachweis).
VL Acne scrofulosorum.
Bbauprez, cf. Th^se.
Du Castel, Anu. de Dermat., 1898, p. 540.
Badgliffe Crockbr, 2. intemat. Dermat.-Kongr., Wien 1893, p. 510 fF.
CoLCOTT Fox, The Brit. Journ. of Dermat., 1897, p. 341.
Pox u. Galloway, Ebenda, 1897, p. 273.
Gallowat, Ebenda, 1896, p. 89 u. 221, 1895, p. 107.
Gastou et Emery, Ann. de Dermat., 1896, Deo.
Haüry, cf. Th^se.
Jarisgh, cf. Lehrbuch, p. 439.
Jamibson, The Brit. Journ. of Dermat., 1894, p. 217.
Malcolm Morris, The Brit. Journ. of Dermat., p. 167.
Pringle, The Brit Journ. of Dermat., 1894, p. 217, und 1895, p. 119.
Stanley, The Brit. Journ. of Dermat., 1893, p. 341 fF.
TouTON, Acne-Referat auf dem 6. dtsch. Dermat.-Kongr., p. 73.
VIL Nekrotisierende Tuberkulidformen.
(Folliclis, „Tuberculides nodulaires", Erythema
in durativ. Bazin^).
Keferate und Debatten auf dem Londoner und Pariser internat. Kongr.,
BoBCKS Arch., 1898 (dort viel Kasuistik), Thesen von Bbaijpbez, Fringuet,
Haury, Tanvbt.
Alexander, Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 71, p. 587, u. Arch. f. Dermat.,
Bd. 70, 1904.
1) Die Fälle ohne weitere Bemerkungen gehören zur Folliclis.
716 Fritz Julinsberg,
Allbn, Polliclis. Joum. of out. diseases, 1898, p. 227, u. 1900, p. 171.
AuBKBT, Ann. de Dennat, Bd. 10, 1879/80, p. 259. (Als Acne induree
g6n^ralis6e bezeichnet, offenbar Folliclis.)
AuDBT, Monatsh. f. prakt. Dermat., Bd. 26, 1898, p. 481 (Eryth. indurata
Bazin).
Balzbr et Alquibr, Ann. de Dermat., 1900, p. 531 u. 1171.
Balzer et Leroy, ebenda, p. 550.
Balzbr et Moüssbaüx, ebenda, 1899, p. 136.
Babthälbmy, Ann. de Dermat., 1891, p. 1 u. 163, 1892, p. 619, 1893,
p. 883, 1897, p. 173. (Erste Beschreibung der Folliclis und Acnitis
und Differenz beider Formen, cf. auch fg. Mitteilung.)
Barthälbmy et Saint-Gbbmain, ebenda, 1890, p. 979.
BoECK, Norsk Magaz. for Lsegevidenskaben, 1880. Bef. Arch. f. Dermat.,.
p. 587. (Die ersten 2 Fälle von Bobcks Lupus eryth. diss.)
Brogq, Traitement des maladies de la peau, 1890, p. 318, u. Ann. de
Dermat, 1897, p. 60.
Bronson, Joum. of cut. and genito-urinary diseases, 1889, p. 401, 1891,
p. 121.
Brousse et Ardin-Dbltbil, Joum. des mal. cut. et syph^j 1900, p. 657.
Du Castbl, Ann. de Dermat., 1896, p. 520, 1897, p. 46, 1898, p. 540,
1901, p. 959.
Cazin u. Iscovbsco, 1. interaat. Dermat-Kongr., Paris 1890, p. 511 (Per-
nionen? auf Meerschweinchen verimpft, machen diese tuberkulös).
Crockbr, The Brit. Joum. of Dermat, 1900, p. 39. (Beschreibung der
Folliclis als Winteremption.)
Danlob, Ann. de Dermat, 1896, p. 1443.
Darier, Ann. de Dermat., 1896, p. 1431. (Die Bezeichnung Tuberkulide
zum ersten Male genannt.)
Dblbanco, Monatsh. f. prakt Dermat, Bd. 31, 1900, p. 176.
DuBRBUiLH, Arch. de m6d. et de anat path., 1893, No. 1, ref. Monatsh. L
prakt Dermat, Bd. 17, 1893, p. 534.
Ehrmann, Wien. klin. Wochenschr., 1902, p. 1236 u. 1261.
Elliot, Ann. de Dermat., 1898, p. 909.
FoRDYCB, Joum. of cut and genito-urinary diseases, 1891.
Colcott Fox, The Brit of Dermat, 1901, p. 15 ff.
Gastoü, Ann. de Dermat, 1900, p. 868.
Gastou et Paris, ebenda, 1901, p. 422.
Gauchbb et Druellb, Ann. de Dermat, 1903, p. 945.
Gaucher et Eostaine, ebenda, 1903, p. 427.
GiovANNiNi, Journ. ital. del mal. veneree et delle pelle, 1889, p. 302.
Grunewald, Monatsh. f. prakt. Dermat, 1885, p. 81 ff.
Hallopeau, Ann. de Dermat, 1899, p. 452.
— H. et P., ebenda, 1899, p. 644.
— et Bureau, ebenda, 1896, p. 1310, u. 1897, p. 55 u. 175.
— et Claisse, ebenda, 1891, p. 329. (Wohl Acnites.)
— et LB Damany, ebenda, 1895, p. 380.
— et Lemiäre, ebenda, 1901, p. 167.
— et ViEiLLARD, ebenda, 1903, p. 589.
Harttüng, Arch, f. Dermat., Bd. 64, 1903, p. 436. (Folliclis kombiniert
mit Erjrth. ind.)
— u. Alexander, Arch. f. Derm., Bd. 60, 1902 (Erythema indurativum).
Hutchinson, Lect. on clin. surg., 1879, u. Arch. of surg.. Vol. 6.
Jadassohn, 6. Eongr. d. dtsch. Dermat- Gesellsch., 1899, p. 489.
üeber „Tuberkulide^^ und diBseminierte Hauttuberkulosen. 717
JoHKSTON, Journ. of cut. diseases, 1898| p. 336, 1899, p. 311. (Kombi-
nation von Folliclis mit Erythema indurativum.)
JuLiusBBBO, 7. Kongr. d. dtscb. Dermat-Gesellsch., p. 214, u. AUgem. med.
Central-Ztg., 1901, No. 60.
KlinomOller. cf. obige Arbeit im Arch. f. Dermal
Kracht, Ann. de Dermat., 1898, p. 1163.
Lbrbddb, Ann. de Dermat., 1898, p. 893.
LuKASiBwioz, Arch. f. Dermat., 1901, £rg.-H. 2, p. 57 ff.
Mac Lbod et Orhsby, The Brit. Journ. of Dermat., 1901, p. 867 (Posit
Bacillenbefund).
Mantboazza, Ann. de Dermat., 1901, p. 497 ff. (Erythema indurat.)
Mbnbau, Ann. de Dermat, 1898, p. 799.
MoNiBR et Malhbrbb, Presse m^d., 1898, p. 241, ref. Ann. de Dermat.,
1899, p. 196.
Perämt, Monatsh. f. prakt. Dermat., Bd. 27, 1898, p. 179.
Philippsohn, Giom. it. de maL ven. et delle pelle, 1898, p. 61. Arch. f.
Dermat., Bd. 51, 1900, p. 33, Bd. 60, 1901, p. 215. (In allen 3 Abeiten
Zusammenhang der folliclis mit Oefißthrombosen.)
Pick, F. J., Arch. f. Dermat., 1889, p. 551.
PiNKus, 7. Kongr. d. dtsch. Dermat-Gesellsoh. Dermat. Zeitschr^ 1901,
p. 44, 434.
Pollitzer, Monatsh. f. prakt. Dermat., Bd. 14, 1892, p. 129.
Easch, Dermat. Zeitschr., 1900, p. 97.
Saalpbld, Dermat. Zeitschr., 1901, p. 225, 434, 1902, p. 218.
SäB et Drubllb, Ann. de Dermat, 1903, p. 822.
Spiegel, Monatsh. f. prakt Dermat, Bd. 23, 1896, p. 617.
Tenbsson, Lbrbddb, Martinbt, Ann. de Dermat., 1896, p. 913.
TniBiäROB, Ann. de Dermat, 1897, p. 50 ff.
— et Ravaut, ebenda, 1899, p. 513.
TöRöK, Arch. f. Dermat, Bd. 58, 1901, p. 339.
TouTON, 6. Kongr. d. dtsch. Dermat-Gesellsch., p. 52.
Unna, Die Histopathologie der Hautkrankheiten, p. 393.
Whitfield, The americ. Journ. of the med. scienc, 1901, p. 828. (Ery-
thema indurativum.)
VIII. Eigenartige oder fragliche Tuberkulidformen.
Batet, Journ. des mal. cut. et B3q)h., 1894, p. 326. (Erythema bei Tuber-
kulose.)
Hallopbau, Ann. de Dermat, 1901, p. 946.
— et GuiLLBMONT, ebenda, 1895, p. 660. (Wohl reiner Lupus erythem.)
— et Laffittb, ebenda, 1897, p. 150.
Lbrbddb et Haurt, Ann. de Dermat, 1895, p. 52, 1899, p. 384.
— et MiLiAN, ebenda, 1898, p. 1095.
Paütribr, Arch. f. Dermat., Bd. 69, 1904, p. 145 (dort Literatur über
Angiokeratoma Mirabelli).
Pick, W., Arch. f. Dermat, Bd. 69, 1904, p. 411.
Hatmond, Frogr. m^d., 1900. Bef. Journ. des mal« cut et syph., 1900,
p. 576 (EryÖiema bei Tuberkulose).
IX. Akute miliare Tuberkulose der Haut bei allgemeiner
Miliartuberkulose.
Hellbr, Tagebl. d. 62. Vers, dtsch. Naturf. u. Aerzte, Heidelberg 1889.
Leichtbnstbrn, Münch. med. Wochenschr., 1897, p. 1 ff.
718 Frits Jalinsberg, Ueber ^Taberkulide*^ etc.
Mbtbr, P.y 2 FäUe von metastatischer Haattnberkulose. Inaag.-Di88.
Kiel, 1889.
Pblagatti, Oiorn. et de mal. ven. et pelle, 1898, p. 704.
Rendsburg, Jahrb. f. Einderheilkd., 1904, Heft 3, p. 860.
X. Lupus vulgaris disseminatus und Lupus follicularis.
Adambon, Brit. Journ. of Dermat., 1898, p. 20 (Lupus nach Masern).
Bbsnibr, Ann. de Dermat., 1899, p. 32 (Lupus nach Masern).
Du Gastbl, Ann. de Dermat, 1898, p. 729, 1901, p. 346 (Lupus nach
Masern).
DoüTfi^BLBPONT, Arch. f. Dermat., Bd. 29, 1894, p. 211, und Dtech. med.
Wochenschr., Vereinsbeil., 1900, p. 289. (Lupus&lle nach Masern und
Scharlach.)
FiNOBR, Wien. klin. Wochenschr., 1897, No. 8, 1902, No. 10. (Lupus
follicularis und Acne teleangiectodes.)
Hall, The brit med. Journ,, 1901, p. 866 (Lupus nach Masern).
JuLiusBBBG, Stereoskop.-med. Atlas, Lief. 30/31. (Lupus diss. in elefant
veränderter Haut und Lupus nach Masern.)
Kaposi, Arch. f. Dermat, Bd. 26, 1894, p. 87 £F. (Acne teleangiectodes).
LousTAN, Des tuberoulides cutan6es cons^cutives au fiövres eruptiv, et en
partulier & la rougolle. Thöse de Paris, 1901.
Nabqbli, Münch. med. Wochenschr., 1898, p. 415. (Eigenartige hämato-
gene Hauttuberkulose.)
Nbissbb, Hautkrankheiten. Handbuch von Ebstbin - Schwalbb, p. 482.
(Lupus nach Varicellen.)
Niblsbn, Dermat Zeitschr., Bd. 6, p. 528 (Lupus nach Masern).
Fhilippsohn, Centralbl. f. allgem. Path. u. path. Anat., 1893, No. 8. (BUs-
tologische Differenzen bei inokulierten und disseminierten chronischen
Infektionskrankheiten.) Berl. klin. Wochenschr., 1892, p. 858. (Lupus
nach Scharlach.)
ToBLBR, Jahrb. f. Einderheilkunde, 1904, Hefl 3, p. 345 (Lupus nach
Scharlach).
Aus der Chirurg. Klinik und dem hyg. Institut der Universität Breslau.
Nachdruck verboteo.
XXYIL
Experimentelle Studien
zur Steigerung der Widerstandsfähigkeit
der Gewebe gegen Infektion.
Von
Dr. H. Miyake aus Japan.
Es fehlt bekanntlich nicht an Versuchen, Menschen oder Tiere mit
Hilfe einer künstlich erzeugten Hyperleukocytose vor Infektionen zu
schützen oder nach erfolgter Erkrankung zu heilen, und man hat in
der Tat auf diesem Wege mehr oder weniger günstige Erfolge erzielt,
wenigstens im Tierexperiment. Ob man bei der Deutung der hierbei
spielenden Vorgänge Metschnikopfs berühmter Phagocytenlehre oder
den Anschauungen Pfeiffers (2) und Büchners folgt, die den Effekt
dem Blutserum zuschreiben, soviel steht unzweifelhaft fest, daß hyper-
leukocytisches Blut oder Exsudat starke bakterizide Kraft besitzt.
Buchner (3) und seine Schüler haben von dem leukocytenreichen Ex-
sudate, welches durch Injektion von sterilisierter Aleuronataufschwemmung
in die Pleurahöhle eines Versuchstieres gewonnen war, experimentell
nachgewiesen, daß dasselbe viel stärker bakerizid wirkt als das Blut und
Serum desselben Tieres. Zu ganz analogen Resultaten führten die Un-
tersuchungen Hahns (4) mit menschlichem und tierischem hyperleuko-
cytotischen Blute. Diese bakterizide Kraft hyperleukocytotischer Ge-
websflüssigkeiten beruht nach Buchner nicht auf Phagocytose, sondern
wesentlich auf gelösten Stoffen (Alexine), deren Abstammung aus den
lebenden Leukocyten angenommen werden muß. Buchner bestreitet
keineswegs, daß zwar in solchen Versuchen lebhafte Phagocytose zu
beobachten ist, will jedoch dieselbe nicht als wesentliche oder gar einzige
Vorbedingung der bakteriziden Leistung der Leukocyten ansehen, sondern
vielmehr nur als Zeichen eines sekundären Vorganges.
Diese natürlichen Abwehrvorkehrungen können nun durch Injektion
verschiedener chemotaktischer Mittel leicht und schnell noch erhöht
720 H. Miyake,
werden, und es lag nahe, eine praktische Verwertung dieser Erfahrung
zu versuchen. So gab es eine Zeit, wo man mit regem Eifer daran
arbeitete, ein gut wirkendes hyperleukocytotiscbes Mittel zu finden,
welches zur Konkurrenz mit den spezifischen Sera berufen wäre. Leider
führten alle diese Bemühungen nicht zu befriedigenden Resultaten. Die
Wirksamkeit der bisher durch künstliche Hyperleukocytose erzeugten
Schutzkräfte war nur gering und von kurzer Dauer ; und so ist in den
letzten Jahren der Gedanke, auf diese Weise die Infektionskrankheiten
zu bekämpfen, mehr und mehr zurückgetreten. Immerhin finden sich
auch in der neueren Literatur vereinzelt derartige Versuche erwähnt,
über die ich im folgenden kurz berichten will.
Pawlowsky (5) immunisierte Tiere durch Vorbehandlung mit
Proteinen (Papayotin und Alerin) gegen spätere Milzbrandinfektion ;
A. LoEWY und Richter (6) Kaninchen durch intravenöse Injektion von
Spermin gegen Pneumokokken; Jacob (7) durch intravenöse und sub-
kutane Albumoseninjektion Kaninchen gegen Pneumokokken oder
Mäuseseptikämiebacillen ; Issaeff (8) durch Präventivimpfung von ver-
schiedenen Präparaten (Kochsalzlösung, Bouillon, Nukleinsäure etc.)
Meerschweinchen gegen intraperitoneale Cholerainfektion ; ferner gelang
es Hahn, durch Papayotinalbumoseninjektion Tiere vor dem tödlichen
Verlaufe von Milzbrandinfektionen zu schützen. Bekannt ist namentlich
die therapeutische Anwendung von Landerers (9) zimmtsaurem Natrium
(Hetol) gegen Tuberkulose. Während Moürek (10) subkutane Injektion
von NukleSn bei Lupus und gummösem Geschwür, Maxon Kino (11)
eben solche bei Tuberkulose empfehlen, sah M. Labb£ (12 von intra-
venösen und subkutanen Injektionen mit Nuklein, Nukleinsäure, Spermin,
Protalbumose u. s. w. bei Injektionskrankheiten nur wenig befriedigende
Wirkungen und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß uns die biologische
Chemie in Zukunft ein Mittel an die Hand geben werde, welches die
leukocytenproduzierenden Organe in höherem Maße anregen werde als
die bisher bekannten Präparate. Außer den erwähnten finden sich noch
zahlreiche zerstreute Mitteilungen über therapeutische Verwendung
hyperleukocytotischer Mittel in der französischen und amerikanischen
Literatur, auf die ich im einzelnen nicht eingehen möchte. Besonders
viele Versuche scheinen mit verschiedenen Nuklein- und Nukleinsäure-
präparaten gemacht zu sein, welche die Firma Parke u. Davis in London
schon seit geraumer Zeit in den Handel bringt und sehr warm gegen
verschiedene Infektionskrankheiten (Pneumonie, Septikämie, Tuberkulose
etc.) sowie gegen Carcinom empfiehlt.
Während nun die bisherigen Versuche alle auf die therapeutische
Verwertung der künstlichen Hyperleukocytose abzielen, scheint bis jetzt
an ihre prophylaktische Anwendung nur wenig gedacht zu sein.
Und doch könnte man a priori daran denken, daß sie gerade hier weit
zuverlässiger wirken wird, als unter den komplizierten Bedingungen der
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 721
schon ausgebrochenen Krankheit. Besonders wertvoll müßte eine solche
prophylaktische Erzeugung der Hyperleukocytose in der chirurgischen
Praxis sein. Gewiß hat die große Vervollkommnung der Anti- und
Aseptik die Störungen der Wundheilung auf ein Minimum reduziert;
gewiß können wir jetzt beruhigt das Messer an die Brust- und Bauch-
organe, ja an das Gehirn setzen, Operationsgebiete, die früher als noii
me tangere galten. Gleichwohl darf man nicht allzuviel von der Anti-
und Aseptik erwarten ; kommen doch noch genug Fälle z. B. bei Magen-
oder Darmoperationen vor, bei welchen der Eingriff trotz strengster
Maßnahmen als verhängnisvolle Folge akute Peritonitis nach sich zieht.
Nach den reichen Erfahrungen meines hochgeehrten Chefs, Herrn Ge-
heimrat V. Mikulicz, ist bei mehr als der Hälfte aller nach Magen-
und Darmoperationen gestorbenen Patienten Peritonitis als Todesursache
zu verzeichnen, gewiß eine erschreckend hohe Zahl. Diese verderbliche
Komplikation ganz auszuschalten, steht aber nicht in der Macht der
Anti- und Aseptik, weil der Magen- und Darmkanal stets reichliches
Infektionsmaterial liefert. In dieser Erwägung erachtete es Herr Ge-
faeimrat v. Mikulicz für eine wichtige Aufgabe, auf Mittel zur Ver-
meidung dieser Infektionsquelle zu sinnen, und gab mir die Anregung
zu nachstehender Arbeit, für deren Uebertragung ich ihm auch an dieser
Stelle meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Des weiteren bin ich Herrn
Geheimrat Flijoge zu größtem Dank verpflichtet für die gütige Erlaub-
nis, die Arbeit in seinem Institut auszuführen, sowie für die freundlichen,
wertvollen Ratschläge, die er mir während der ganzen Dauer meiner
Versuche zu teil werden ließ. Ebenso spreche ich dem Assistenten des
hygienischen Instituts, Herrn Dr. Hetmann, für sein liebenswürdiges
Entgegenkommen sowie für die freundliche Unterstützung in allen Be-
ziehungen meinen herzlichsten Dank aus.
Bei Störungen der Wundheilung nach aseptischen Operationen
kommen hauptsächlich drei Arten von Bakterien in Betracht, nämlich
Staphylococcus pyog. aur., Streptococcus path. long, und die Gruppe des
Bacterium coli; alle anderen pyogenen Bakterien haben untergeordnete
Bedeutung. Daß Bacterium coli- Arten in der Aetiologie der Peritonitis
eine hervorragende Rolle spielen, unterliegt kaum einem Zweifel, ob-
gleich hierüber völlige Einigkeit noch nicht besteht. Die Bacterium
coli-Arten, die gewöhnliche und ständige Bewohner des Darmkanals
sind, besitzen anscheinend für gewöhnlich keine ausgesprochen schäd-
liche Eigenschaft; sobald aber ein störendes Moment in dem Verdauungs-
kanal auftritt, erfahren sie entweder eine Virulenzsteigerung und werden
pathogen, oder es drängen sich virulente Abarten, die bis dahin zurück-
traten, in den Vordergrund. Nach Tavel und Lanz (13) ließen sich
unter einer Reihe Coliarten auf Grund genauer kultureller und morpho-
logischer Studien verschiedene Spielarten unterscheiden, unter 30 unter-
suchten coliähnlichen Bakterien wurden von den beiden Autoren 20
722 H. Miyake,
verschiedene Stämme gefunden. Die einzelnen Stämme ließen sich
hauptsächlich durch die Verschiedenheit der Geißeln sowie durch die
Beweglichkeit unterscheiden. Ob ein bestimmter Stamm unter diesen
zahlreichen CoUbakterien eine spezifische Rolle bei der Peritonitis spielt,
entzieht sich unserem Urteil; doch scheint es ein relativ seltenes Vor-
kommnis zu sein, daß eine Peritonitis durch Bacterium coli allein ver-
ursacht wird, obgleich Fälle von Barbacci, Sohnitzler (14) u. a. bekannt
gegeben sind, in welchen diese Bakterien allein zum Wachstum gelangten.
Nach Tavel und Lanz gehört die perforative und operative Peritonitis
fast ausschließlich zu der Gruppe der Polyinfektionen, und man kann in
diesen Fällen keine einzelne Bakterienart als Erreger anschuldigen, be-
sonders nicht das Bacterium coli allein. Daß öfters durch das Kultur-
verfahren allein Golibakterien gefunden werden, läßt sich durch ihre
leichte Kultivierbarkeit erklären; im Deckglaspräparate des Peritoneal-
exsudates findet man meist noch andere Bakterien, die nicht zur Ent-
wickelung gelangen. Obgleich die beiden Autoren an der ätiologischen
Bedeutung der Golibakterien für die Peritonitis zweifeln, war Tavel (15)
doch der erste, welcher der Frage nach der Pathogenität des Bacterium
coli Aufmerksamkeit geschenkt hat^.
Im Gegensatz zu Tavel zweifelt Esgherich (16) auf Grund seiner
mittelst der neuesten zuverlässigen Methode, des Agglu-
tinationsverfahrens, ausgeführten Untersuchungen nicht, daß das Bact
coli an dem Zustandekommen der schweren Peritonitis beteiligt sei. Er
wies nach, daß das Blutserum eines an wiederholter Peritonitis er-
krankten Patienten gegenüber den aus dem Peritoneum gezüchteten
Bact. coli positive WiDALsche Reaktion erkennen ließ. — Ein sicherer
Beweis dafür, daß Bact. coli als einziger oder auch nur als wesentlicher
Krankheitserreger fungiert hat, ist damit freilich noch nicht erbracht
A. Fränkel (17), P. Ziegler (18) gelang es, mit Golistämmen,
welche aus menschlicher Peritonitis oder aus menschlichem und tierischem
Kot herstammten, experimentell Peritonitis zu erzeugen.
Obwohl also unter Pathologen und Bakteriologen die Ansicht über
die Bedeutung des Bact. coli als alleiniger Erreger der Peritonitis ge-
teilt ist, ist es für die Praktiker schließlich ganz einerlei, ob es allein
oder mit anderen Bakterien symbiotisch wirkt. Jedenfalls ist es eine
unzweifelhafte Tatsache, daß das Bact. coli in der größten Mehrzahl der
Fälle von operativer und perforativer Peritonitis zur Beobachtung kommt.
So fand Flexner (19) unter 60 Peritonitisfällen (Leichenmaterial), sekun-
dären endogenen Ursprunges, 47mal Bact. coli commune, 39mal Strepto-
1) Obige Bemerkung kami müSverstanden werden: Tavbl hat wohl
die Rolle des Bact. coli bei der Peritonitis znerst erkannt. Die Patho-
genität des Colibacterium aber habe ich bereits 1891 er-
kannt und experimentell bewiesen. (Vortr. i d. U.-Els. Aerste-
verein in Strasburg, n. Klinik der Cholelithiasis.) Nauntn.
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 723
C0CCU6 pyogenes u. s. w., am häufigsten war jedoch die Kombination
von Bact coli und Streptococcus ; ebenso kommt auch nach A. FrInkel
das Bact. coli als häufigster Befund unter all den anderen vor. In
22 Fällen eigener und fremder Beobachtung von Magenperitonitis nach
Perforation eines Geschwürs handelte es sich nach C. Britner (20)
meist um eine Poly- oder Doppelinfektion, selten um Monoinfektion,
und zwav fanden sich dabei Streptococcus und Bact. coli als Haupt-
erreger vor. In der Aetiologie der Peritonitis spielt der Streptococcus
eine ebenso große Rolle wie das Bact. coli, ja nach Tavel und Lanz
steht der erstere sogar in erster Reihe. Im Gegensatz zu diesen beiden
Bakterien kommt dem Staphylococcus als Peritonitiserreger keine große
Bedeutung zu, obgleich er in anderen Geweben als der häufigste und
wichtigste Erreger der Entzündung gilt. Allgemein herrscht die An-
sicht, daß es sich bei der operativen und perforativen Peritonitis fast
unfehlbar um eine Polyinfektion handelt und zwar entweder* mit Bact.
coli oder mit Streptococcus oder mit beiden. Betreffs der genaueren
Literatur der Peritonitis möchte ich auf das vorzügliche Sammelreferat
von Max von Brunn (21) verweisen, indem ich selbst nur die aller-
wichtigsten Arbeiten, die zu meiner Arbeit direkte Beziehungen be-
sitzen, in aller Kürze erwähnt habe.
Um nun den drei hauptsächlich in Betracht kommenden Arten von
Bakterien — dem Streptococcus, Bact. coli und Staphylococcus — ent-
gegenzuarbeiten, stehen uns zwei Wege offen, nämlich die spezi-
fische Serumimmunisierung und die allgemeine Immunisierung
auf dem Wege der Hyperleukocytose bezw. Phagocytose. Mit dem ersten
Plan beschäftigten sich bereits zahlreiche Autoren, ohne jedoch nennens-
werte Erfolge zu erzielen. Eine wesentliche Schwierigkeit besteht in
den zahlreichen Varietäten, in welchen jede der 3 Arten zerfällt, und
zu deren wirksamer Bekämpfung demnach auch ein ^polyvalentes^ Serum
nötig ist. In unserem Falle liegt aber noch die weit größere Schwierig-
keit vor, daß meist zwei oder noch mehr pathogene Bakterienarten vor-
kommen; vorläufig müssen wir unsere HofiFhung in dieser Richtung
aufgeben, und so bleibt nur der zweite Weg — die Hyperleukocytose
— übrig. Ihren prophylaktischen Wert gegen die bei aseptischen
Operationen in Betracht kommenden, schwachvirulenten Bakterien habe
ich im folgenden geprüft und die Gesichtspunkte anzugeben versucht,
unter denen auch ihre praktische Verwertung Erfolg verspricht
Santa Solieri (22) ist meines Wissens der erste, der unter ähn-
lichen Gesichtspunkten die Widerstandsfähigkeit des Peritoneums gegen
Bakterieninfektion zu erhöhen versuchte. Er behandelte Meerschwein-
chen zuerst mit endoperitonealen Injektionen von kleinen Mengen
physiologischer Kochsalzlösung und erzielte dadurch eine 7— 16-fache
Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen die Goliinfektion. Ermutigt
durch dieses überraschend günstige Resultat hat Solieri seine Methode
724 H. Miyake,
an einigen Laparotomiepatienten praktisch angewandt und zwar mit an-
scheinend günstigem Erfolg. Solieri war, wie aus seiner Literatur-
angabe ersichtlich ist zu seinen Versuchen angeregt durch die schönen
Immunitätsversuche von Issaeff gegen Cholera. Issaeff erzeugte
durch intraperitoneale Präventivimpfung von physiologischer Kochsalz-
lösung, Bouillon, Nukleinsäure (Kossel), Tuberkulin bei Meerschwein-
chen Hyperleukocytose, injizierte dann im Gipfel der Peritonealhyper-
leukocytose virulente Gholeravibrionen intraperitoneal und erzielte dadurch
einen gewissen Schutz gegen die tödliche Infektion, dessen Wirksamkeit
je nach der Qualität der vorbehandelten Präparate variierte. Die besten
Dienste leistete die Nukleinsäure, dann Bouillon und Kochsalzlösung.
Seiner Ansicht nach spielt hierbei die Phagocytose die Hauptrolle: „Die
Zellenreaktion, welche in der Phagocytosis ihren Ausdruck findet, spielt
die Hauptrolle im Schutzprozesse des Organismus derjenigen Meer-
schweinchen, welche durch Injektionen von Bouillon, Kochsalzlösung
und verschiedener anderer Flüssigkeiten gegen Cholerainfektion ge-
schützt sind. Auch in der Immunität der Meerschweinchen gegen intra-
peritoneale Cholerainfektion wird der Phagocytosis eine nicht unbedeutende
Rolle zuzuschreiben sein.^
Als chemotaktisch wirksame Mittel werden eine ziemlich bedeutende
Anzahl von Präparaten angegeben : Bakterienproteine, tierische und pflanz-
liche Albuminate, verschiedene Zersetzungsprodukte etc. Buchner (23)
empfiehlt unter den Bakterienproteinen das Pneumococcus-, Pyocyaneus-,
Typhusbacillenprotein u. s. w. ; von Zersetzungsprodukten buttersaures
und valeriansaures Ammoniak (1 Proz.), Harnstoif (5 Proz.), harnsaures
Ammoniak (1 Proz.) und Skatol (1 Proz.); von Pflanzenkaseinen das
Gluteinkasein GriJblers (5—10 Proz.), Erbsenlegumin (5—10 Proz.),
Weizenkleber oder Aleuronat; von Umwandlungsprodukten tierischer
Gewebe den Leim. Von Pawlowsky wurden Papayotin, Alerin, von
A. LoEWY und Richter Pilokarpin und Spermin ; von Issaeff, Hahn
physiologische Kochsalzlösung, Bouillon, Nuklein, Nukleinsäure, Tuber-
kulin; von Landerer zimmtsaures Natrium oder Hetol verwertet.
Ehe ich zu meinen eigentlichen Versuchen übergehe, muß ich über
die Auswahl unter den genannten Präparaten sprechen, welche für mich
von zwei Faktoren abhing : 1) Von ihrer Unschädlichkeit und 2) von
ihrem chemotaktischen Wirkungswert. Da die genaue quanti-
tative Angabe über letzteren bei den einzelnen Präparaten in der
Literatur meist nicht zu finden ist, habe ich zunächst Vorversuche
mit Leukocytenzählung gemacht. Als chemotaktisches Mittel
wurden sterile physiologische Kochsalzlösung, neutrale Bouülon, Aleu-
ronat, Nukleinsäure und Hetol probiert. Die Technik der Injektion,
Dosis, Exsudatentnahme (Glaskapillare), Zählung (Thoma und Zeiss'
Apparat) etc. geschah genau nach dem Vorgange Issaeffs an Meer-
schweinchen von 200—360 g Körpergewicht; die Untersuchung mit
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 725
Hetol nach Landerer durch intravenöse Injektion an Kaninchen. Bei
Verwendung der Nukleinsäure wurden später aus mehrfachen Gründen
Aenderungen getroffen, über welche ich an der betreffenden Stelle im
einzelnen ausführlich berichten werde.
I. Zur quantitativen Wertbestimmung
der verschiedenen hyperleukocytotischen Mittel:
Der Zweck dieser Versuche war eine genaue Analyse der quanti-
tativen Wirkung einzelner chemotaktischer Mittel sowie des zeitlichen
Ablaufs dieser Wirkung.
a) Versuche mit intraperitonealer Injektion von phy-
siologischer Kochsalzlösung:
Als physiologische Kochsalzlösung wurde nach den neuesten Ergeb-
nissen 0,85-proz. Chlomatriumlösung benutzt und in der Regel 1 ccm
intraperitoneal injiziert, nachdem vorher die normale Leukocytenzahl im
Blute sowie im Peritonealtranssudate bestimmt worden war. Dieses Ver-
fahren wurde auch bei allen anderen Versuchsreihen eingeschlagen, wenn
nicht ausdrücklich etwas anderes bemerkt ist.
Lenk
im Peritonealtranssadate
Dnrch-
Zeit
I.Tier
2. Tier
3. Tier
4. Tier
5. Tier
scfaniU
4X1.1903
5.XI.1903
6.XI.1903
6.XI.1903
3.III.1904
Vor der Injektion
12000
11000
12000
13000
11200
11840
1 St. nach der Injektion
10500
10600
10550
3— 4St.nachder Injektion
16400
17 600
17 700
15 700
—
16850
6 St nach der Injektion
—
—
—
—
16400
16400
10 „ „ „
—
—
—
—
20400
20400
^^ tt >i >i II
26560
26560
17—18 St nach d.Injekt
—
37 800
54400
—
47 600
22—24 „ „ „ „
28 St nach der Injektion
54500
47 600
26400
25800
24000
35 660
25 300
28400
26850
2X24 8tnachd.Injekt
3X24 „ „ „ „
—
—
17 600
17 200
—
17 400
14000
12 310
15200
11200
—
13178
Auf Grund der obigen fahlen kann ich Issaeffs Angabe über
den Eintritt der sogenannten negativen Chemotaxis der Leukocyten
kurz nach der Injektion und über die nachfolgende Hyperleukocytose
bestätigen, jedoch mit einer kleinen Abweichung im zeitlichen Verlauf.
Nach IssAEFF beginnt die Hypoleukocytose gleich nach der Kochsalz-
injektion und erreicht nach 3—4 Stunden ihr Maximum; im Anschluß
an diese tritt die Hyperleukocytose erst nach 8 — 10 Stunden auf und
erreicht in 24 Stunden ihr Maximum. Nach meinen Untersuchungen
ist die Leukocytenabnahme in der ersten Stunde nur in unbedeutendem
Grade angedeutet. Während normales Peritonealexsudat leicht trüb und
ziemlich deutlich alkalisch bleibt, sieht eine Zeitlang nach der Injek-
tion herausgeholtes Exsudat wässerig klar aus, reagiert schwach alka-
lisch bezw. beinahe indifferent und der Leukocytengehalt ist 0,9-fach
vermindert. Schon 3—4 Stunden nach der Iqjektion bemerkt man eine
Mittall. a. d. Orano^bletan d. Medlxln n. Chirurg«. XID. Kd.
47
726 H. Miyake,
deutliche Vermehrung der Leukocyten im Exsudate und es tritt eine
merkliche Trübung des Exsudates auf. Im Höhepunkt der Hyper-
leukocytose, 17—24 Stunden nach der Injektion, sieht das Exsudat
serös-eiterig aus. Im Durchschnitt erreichte die Leukocytenzahl nach
17 — 18 Stunden das Vierfache des normalen Gehaltes und kehrte
innerhalb von 3m al 24 Stunden allmählich zur Norm zurück. Aller-
dings vollzieht sich die Hyperleukocytose weder quantitativ noch zeit-
lich gleichmäßig, sondern ist großen Schwankungen unterworfen, so
daß sich ein für alle Fälle gültiges Gesetz schwer aufstellen läßt.
Regelmäßig stellt sich nach der maximalen Hyperleukocytose eine
kurzdauernde Periode ein, in welcher sich das Exsudat in dem ganzen
Peritonealbereich sehr schwer herausholen läßt. Diese Erscheinung
scheint nicht ausschließlich auf die zu oft wiederholte Exsudatentnahme
zurückzuführen zu sein, sondern scheint zum größten Teil von der reak-
tiven Wirkung der injizierten Flüssigkeit abzuhängen, denn bei einem,
vorher gar nicht behandelten Meerschweinchen, welchem ca. 30 ccm
physiologischer Kochsalzlösung intraperitoneal injiziert worden waren,
mißglückte 14 Stunden nachher die Entnahme des Peritonealexsudates
vollkommen, so daß ich die weitere Untersuchung aufgeben mußte.
Aus diesem Grunde mußte ich manchmal die weitere wichtige Zählung
unterlassen, so daß ich die Lücke nachträglich durch die an anderen
Tieren ermittelte Zahl zu ergänzen genötigt war. Um möglichst an-
nähernd die wahren Werte zu erhalten, ist es unerläßlich, einen Durch-
schnittswert aus mehreren Zählungen zu ziehen, was bei diesen wie
bei allen nachfolgenden Versuchen geschehen ist.
Nicht bloß im Peritonealexsudate, sondern auch im Blute ist die
Leukocytenzahl ähnlichen Schwankungen unterworfen, jedoch in weit
geringerem Maße als in der Peritonealhöhle. Während die Leukocyten-
zahl im normalen Blute im Durchschnitt von 4 Fällen 10438 zählt,
beträgt sie 17—18 Stunden nach der Injektion, also auf dem Gipfel
der peritonealen Hyperleukocytose, im Durchschnitt von 2 Fällen nur
18 600. Wenn wir aber die Kochsalzlösung in reichlicher Menge in die
Peritonealhöhle eingießen, so tritt die Wirkung noch viel energischer
zu Tage als in kleiner Dosis.
Unter aseptischen ELautelen wurden am 6. März 1904 einem Meer-
schweinchen von 300 g Körpergewicht 50 ccm warmer physiologischer
Kochsalzlösung vermittelst eines durch eine kleine Laparotomiewunde ein-
Zeit
Vor der Injektion
1 8t nach der Injektion
• >» w n w
y n »> » I»
"^ 11 »1 II M
Leukocytenzahl im
Peritonealexsudate
10(300
800
14400
20000
54800
Leukocvtenzahl
im Blute
10200
3600
20800
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 727
geführten feinen N^LATONSchen Katheters in die Peritonealhöhle eingegossen.
Ein Teil der Lösung floß zwar wieder heraus; doch blieben etwa 25 bis
30 ccm zurück. Die Bauchwand wurde durch Etagennähte fest geschlossen
und darauf die Leukocytenzählung vorgenommen.
Mit diesem Versuche wurde bezweckt, die leukocytotische Wirkung
großer Eochsalzmengen in der Peritonealhöhle zu studieren, da Spü-
lungen der Bauchhöhle mit 5—12 Liter Kochsalzlösung bei jeder
größeren Laparotomie seit geräumer Zeit in unserer chirurgischen Klinik
im Gebrauch sind. Wie aus der obigen Tabelle ersichtlich ist, scheint
die physiologische Kochsalzlösung in der Peritonaelhöhle nicht ganz in-
different zu sein, sondern ziemlich stark anregend auf das Leukocyten-
zentrum zu wirken; infolgedessen können wir im Blute die zweifache,
im Peritonealexsudate die 4,1 fache Vermehrung der Leukocytenzahl
nach 24 Stunden konstatieren, nachdem eine kurze exquisite Hypoleuko-
cytose geherrscht hat. Diese Tatsache legte uns den Gedanken nahe,
ob nicht schon ein minimaler Reiz wie der einfache kapillare Stich ins
Peritoneum ebenfalls hyperleukocytotisch wirke. Um dies zu entscheiden,
wurde folgender Versuch ausgeführt
Einem Meerschweinchen von 300 g wurde am 5. März 1904 ohne
Vorbehandlung in bestimmtem Zeitintervall mittels steriler Olaskapillaren
Peritonealezsudat entnommen und die Leukocyten gezählt.
Zeit
Erste Entnahme
6 St. nach d. 1. Ekitnahme
1^ » l> V ^* »
^^ »I 11 11 !• 11
^^ 11 11 11 *■• 11
Leukocytenzahl im
Peritonealexsudate
11800
14400
10800
12600
12200
Leukocytenzahl
im Blute
10650
10500
Sechs Stunden nach dem ersten Stich trat demnach anscheinend eine
leichte Steigerung der Leukocyten im Peritonealexsudat auf, doch ließen
sich bei den weiteren Zählungen weder im Blute noch im Peritoneal-
exsudate merkliche Differenzen konstatieren.
Auf Grund dieses Experimentes können wir den Verdacht, daß
schon ein einfacher Eapillarstich auf die Peritonealleukocytose einen
Einfluß ausüben könnte, völlig ausschließen und die in den übrigen
Versuchen beobachtete Wirkung lediglich auf die injizierten Mittel
zurückführen.
b) Versuche mitintraperitonealer Injektion von 1 ccm
neutraler Bouillon:
Wie die nächste Tabelle zeigt, wird wie durch Kochsalz auch durch
Bouilloninjektion anfangs kurzdauernde Hypoleukocytose, dann eine nach
3 Stunden beginnende Hyperleukocytose hervorgerufen ; dieselbe erreicht
etwa nach 24 Stunden ihr Maximum und fällt allmählich nach 48 Stunden
47*
728
fi. Miyak«,
Leukocytenzahl im Peritoneaiexsudate:
Zeit
l. Tier
7. XI. 1903
2. Tier
7. XL 1903
Durchechnitt
Vor der Injektion
1—1) St nach d. Injektion
3} — 4 „ „ „ „
9--10 „ „ „ „
QS^OA " " " "
*X24 W « M »>
12000
10580
22 700
24200
26000
20100
12400
10600
22000
21200
21500
21200
12200
10590
22350
22 700
23750
20650
Leukocytenzahl im Blute:
Vor der Injektion 10250 I Durchschnitt
24 St nach der Injektion .... 15800 / von 2 Fallen.
zur Norm ab. Im Vergleich zur Chlornatriumlösung wirkt die Bouillon
recht schwach im Peritoneum wie auch im Blute, was gegen Issaeffs
Befunde spricht Der Grund hierfür ist vielleicht in der wechselnden
Zusammensetzung der Bouillon zu suchen. Ich habe die gewöhnliche,
hier im Breslauer hygienischen Institut gebräuchliche neutrale Bouillon
(1 Proz. Pepton + 0,5 Proz. Kochsalz) benutzt.
c) Versuche mit intraperitonealer Injektion von 1 ccm
einer 2-proz. Aleuronataufsch wemmung:
Das unter dem Namen Aleuronat von R. Hundhausbn in den Handel
kommende Präparat wurde in physiologischer Kochsalzlösung aufgeschwemmt,
bei 100^ im Wasserbade 15 Minuten lang sterilisiert und dann zur In-
jektion benutzt Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, dafi wir als
Grandflüssigkeit aller Lösungen, die später in Betracht konunen, in der
Regel physiologische Kochsalzlösung verwandt haben.
Leukocytenzahl im Periton
ealexsudate:
Zeit
I. Tte
12. XL 1903
2. Her
13. XI. 1903
3. Tier
17. XI. 1903
Durchschnitt
Vor der Injektion
12500
11300
11060
11620
i— 1 St nach d. Injektion
1660
2360
1640
1553
—
7120
7120
^ >} n
34400
35000
38400
35933
8—9 „ „
i if
54200
38600
68800
53867
24 „ „
f fj
64500
67 000
65750
30 „ .,
f 99
82400
92500
87 450
9 99
90400
79900
47 000
72 433
3x24
9 )y
37 400
37 410
37 405
4X24 1, „
19300
22000
23000
21433
5x24 „ M
9 »1
—
14500
14 500
Leukocytenzahl im Blute:
Vor der Injektion 10 550 1 Durchschnitt
30 St nach der Injektion .... 16950 / in 2 Fallen.
Betrachtet man die Tabelle, so konstatiert man zwei bemerkens-
werte Befunde, nämlich die hohe Hypo- und Hyperleukocytose; die
erstere ist nur vorübergehender Natur, dagegen beginnt die zweite in
der 3. oder 4. Stunde und erreicht nach 30 Stunden ihr Maximum mit
Steigerung der Widerstandsfikhigkeit der Gewebe gegen Infektion. 729
einer 7,5 fachen Vermehrung, am ganz allmählich nach einigen
Tagen zur Norm zurückzukehren. Im Blute vermehren sich die Leu-
kocyten nicht in dem Maße wie in dem Peritonealexsudate.
d) Versuche mit intraperitonealer Injektion vonlccm
einer 2-proz. Hefenukleinsäure:
Dieses Präparat, welches mir von der chemischen Fabrik Böhringbb
& SöHNB in Mannheim liebenswürdigerweise zur Verfligang gestellt
wurde, wurde in physiologischer Kochsalzlösung aufgeschwemmt, durch
Zusatz von Natrium carbonicum neutralisiert und die nunmehr klare
Lösung im Wasserbade von 100^ C 15 Minuten sterilisiert.
Leukocytenzahl im Peritonealexsudate:
Zdt
1. Tier
2. Tier
3. Tier
Dnrch-
16. Nov. 1903
16. Nov. 1903
17. Nov. 1908
schnitt
Vor der Injektion
10200
12200
11700
11367
'/. 8td.nachder Injektion
—
—
1170
1170
*■ if yf n
fl
2680
4300
4000
3660
^ f} tf n
1}
28800
41000
51200
40333
O }| „ ff
fy
85 300
77 400
10400
88900
^^ 11 t> ff
yt
82 350
82350
^ II II II
II
61000
—
61000
2X24 „ „ „
n
42000
42000
3X2* .. » ,,
%i
27 500
—
27 500
4X24 „ „ „
ff
28800
28800
5X24
II
—
—
21500
21500
Leukocytenzahl im Blute:
Vor der Iniektion 9600, Durchschnitt von 2 Fallen;
24 Std. nach der Injektion 15600, 1 FaU.
Sowohl in der Quantität als auch in der Dauer der Hypo- und Hyper-
leukocytose stimmt die Nukleinsäure mit der Wirkung des Aleuronats
ungefähr überein und zwar auch im Blute. Nur tritt hier das Maxi-
mum der Hyperleukocytose viel schneller auf als beim Aleuronat ; schon
nach 8 Stunden erreicht die Leukocytenzahl etwas über die 7,8 fache
Größe gegen die Norm und hält sich 24 Stunden lang beinahe konstant.
Im weiteren Verlaufe läßt sich nach 4 bis 5mal 24 Stunden noch eine
ganz leichte Vermehrung konstatieren.
Vergleichen wir die Wirkung der 4 geprüften chemotaktischen
Präparate, so wirkt die Nukleinsäure am besten (7,8fach), dann folgt
das Aleuronat mit beinahe gleichem Wert (7,5fach), während das Koch-
salz (4fach) weit hinter ihnen zurücksteht und schließlich die Bouillon
den schwächsten (l,9fach) Ausschlag ergibt Betreffs des zeitlichen
Ablaufes der Wirkung steht die Nukleinsäure ebenfalls an erster Stelle ;
sie kommt am raschesten zur Wirkung (8 Stunden), während die übrigen
Präparate erst 17—24 Stunden nach der Injektion das Maximum ihrer
Wirksamkeit erreichen.
e) Versuche mit smbkutaner Injektion von 1 ccm einer
0,5-proz. Nukleinsäure:
730
H. Miyake,
Die Injektion wurde unter die Bauchhaut gemacht.
Leukocytenzahl im Peritonealexsudate:
Zeit
I.Tier
2. Jan. 1904
2. Tier
3. Jan. 1904
Dorchflchnitt
Vor der Injektion
1 Std. nach der Injektion
• 1» M 1» >»
12 600
3392
26200
10200
3600
11400
3496
26200
Weitere Untersuchungen muBten wegen der Unmöglichkeit der Ezsudat-
entnahme eingestellt werden.
Leukocytenzahi im Blute:
Zeit
Vor der Injektion
1 Std. nach der Injektion
** >i n »» »
' it 39 n n
1. Tier
Jan. 1904
10900
12000
18600
2. Tier
3. Jan. 1904
10120
3600
14500
21200
Durchschnitt
10510
3600
13250
19900
Durch subkutane Injektion tritt sowohl im Blute als auch im Peri-
tonealexsudate zunächst Hypoleukocytose von kurzer Dauer ein, dann
die eigentliche Hyperleukocytose. Die Hyperleukocytose im Peritoneal-
exsudate ist nicht so ausgeprägt wie bei der intraperitonealen Injektion.
Abgesehen von der Quantität der Leukocyten im Peritonealexsudate,
zeigen beide Injektionen in der sonstigen Wirkung genau das gleiche
Verhalten.
IL Die Körpertemperatur und die sonstigen
Erscheinungen nach der Injektion von Kochsalzlösung,
Aleuronat und Nukleinsäure.
Die intraperitoneale Injektion von Ghlornatriumlösung veranlaßt
gar keine Schmerzempfindung, ebensowenig wird die Körpertemperatur
beeinflußt. Als normale Temperatur im Rectum habe ich bei zahl-
reichen Meerschweinchen 38—38,2^0 gefunden, obgleich Ausnahmen
davon öfters vorkommen. Unter 4 Fällen wurde bei 2 Tieren kurz nach
der Injektion eine Temperaturemiedrigung von 0,1^0 beobachtet, bei
zwei anderen gar keine Reaktion. Anders wirken intraperitoneale In-
jektionen von Aleuronat; hier tritt lokale Schmerzhaftigkeit, Temperatur-
erniedrigung und nachfolgendes leichtes Fieber auf. Die Schmerzhaftig-
keit scheint ziemlich intensiver Natur zu sein; die Tiere bleiben eine
Zeitlang kränklich, elend und ohne Freßlust Konstant wurde eine
schnell vorübergehende Temperaturerniedrigung von 1— iVs^C Vi bis
V2 Stunde nach der Injektion beobachtet. Ganz ähnliche Erscheinungen
treten bei der Injektion von 1- bis 2-proz. saurer Nukleinsäurelösung
auf. Hier ist aber die Temperatursteigerung etwas mehr (0,5 — 1,5 ®C)
ausgeprägt als beim Aleuronat Dieselbe tritt nach 3 Stunden ein, er-
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 731
reicht nach 6—7 Stunden ihr Maximum und fällt gewöhnlich schon nach
10 Stunden zur Norm ab. Bei 1-proz. neutralisierter Nuklein-
säurelösung scheint die Reizerscheinung viel milder zu verlaufen.
Temperaturerniedrigung tritt nur in geringem Grade auf, höchstens
0,5 bis 0,7 ®C. Nach 3 — 4 Stunden erhöht sich die Temperatur nur
um 0,5—1,5^0 über die Norm und fängt schon nach 7 Stunden an
allmählich zu fallen. Sowohl durch subkutane als auch durch intra-
peritoneale Injektion von neutralisierter 0,5-proz. Nukleinsäure tritt in
der größten Mehrzahl der Fälle eine kaum merkbare Temperatur-
erniedrigung von 0,1— 0,2® C mit nachfolgender Temperaturerhöhung
von 0,5— 1,5 ^C auf. Dieselbe erreicht nach 3—4 Stunden ihr Maxi-
mum und fällt gewöhnlich innerhalb von 10 Stunden zur Norm ab.
Weder bei den lebenden noch bei den sezierten Tieren habe ich
je an der Injektionsstelle nachteilige Wirkungen, wie Ekchymosen,
Nekrosen etc. beobachtet.
An der Hand dieser Erfahrungen wfirde fflr praktische Zwecke mit
Rücksicht auf ihre Unschädlichkeit zunächst die Kochsalzlösung in Be-
tracht kommen, jedoch mit Rücksicht auf ihren leukotaktischen Wirkungs-
wert in erster Linie die Hefenukleinsäure. Jedes der beiden Mittel hat
seine Vorzüge und seine Schattenseiten. Doch fallen bei der Nuklein-
säure die Mängel gegenüber den Vorteilen nicht schwer ins Gewicht
und lassen sich sehr leicht durch die Herabsetzung der Dosis ohne
Verlust an Wirksamkeit auf ein sehr geringes Maß reduzieren. Welchen
Schutz nun jedes von diesen Präparaten gegen Bakterieninfektion ge-
währt, lehren die nachfolgenden Tierexperimente.
III. Die Prüfung der Resistenzfähigkeit der Gewebe
gegenBt^kterieninfektionnachkünstlich erzeugter Hyper-
leukocytose.
Der ursprüngliche Plan dieser Versuche war, eine Steigerung der
peritonealen Widerstandsfähigkeit gegen bakterielle Infektion ver-
mittelst künstlicher Hyperleukocytose hervorzurufen. Im weiteren Ver-
laufe der Arbeit erschien es jedoch wünschenswert, die Versuche über
den anfänglichen Plan hinaus zu erweitern und schließlich selbst all-
gemeine Infektionen in den Bereich der Arbeit zu ziehen. Ich will
daher die Versuche in folgender Reihenfolge besprechen.
A. Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen Bact. coli;
B. Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen Mischkulturen von
Bact. coli, Streptococcus und Staphyl. aureus;
C. Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen den Austritt von
Magen- und Darminhalt;
D. Allgemeine Resistenzerhöhung beim Kaninchen gegen Infektion
mit Streptococcus und mit Staphylococcus aureus.
732
H. Miyake,
A. ResistenzerhöhuDg des Peritoneums gegen Bact. coli.
Das Bact. coli, welches zu diesen Versuchen Anwendung fand, stammte
aus dem Eiter einer akuten Appendicitis ; seine Virulenz wurde durch ein-
malige Meerschweinchenpassage verstärkt. Um während der ganzen Dauer
der Versuche mit Material von möglichst gleichem Virulenzgrad arbeiten
zu können, wurden ca. 50 Agarkulturen, welche gleichzeitig geimpft und
24 Stunden lang bei 37 ^ gewachsen waren, nach exakter Bestimmung der
Dosis letalis minima unter Verhütung von Austrocknung im Eisschrank
aufbewahrt.
Die Dosis letalis minima wurde Anfang November 1903 durch wieder-
holte intraperitoneale Injektion an 11 Meerschweinchen von 200 — 300 g
auf 1/^ der exakt gemessenen Normalöse (2 mg) festgestellt. Die wieder-
holte Prüfung am 27. Dezember 1903 hat ergeben, daß der Virulenzgrad
trotz der vorsichtigen Aufbewahrung doch auf Vj Normalöse zurück-
gegangen) war; so bedeutet in der nachfolgenden Beschreibung „Coli Vi"
die Dosis letalis minima von V4 und „Coli V," von einer halben Normal-
öse. Die zur Injektion nötige Verdünnung der Bakterien geschah stets
mit 1 ccm neutraler Bouillon. Als Versuchstiere wurden Meerschweinchen
von annähernd gleichmäßigem Körpergewicht von 2B0 — 300 g benutzt.
I. Kochsalzvorbehandlung:
Nummer und
Datum
Gewicht
Injektions-
mittel
Dosis von
Bact coli
Besultat
Bemerkungen
1
1. Dez. 1903
1. Dez. 1903
4. Dez. 1903
4. Dez. 1903
210 g
225 g
260 g
245g
1 ccm dner
0,85 proz.
Kochsalzlös.
do.
do.
do.
V,0esel6Btd.
n. d. NaCl-
Vorbehandl.
1 Oese 16 Std.
n. d. NaQ-
Vorbehandl.
V,0«e7 8td,
n. d. Naa-
Vorbehandi.
1 Oeee 7 Std.
n. d. Naa-
Vorbehandl.
nach 3
tlSStd.
der Coliin-
jektion
tl6Std.nach
der Coliin-
jektion
lebt
Std. nach der Coli-
injekt. schwer krank;
KoUapetemp. unter
30® C kurz vor dem
Tode
Ausgeprägte Kollaps-
temperatnr. Schmerz-
hafte Spannung des
muches
Schwer krank; im
Laufe von 12 Stun-
den erholt
t20 Std. nach Tod
der Coliin-
jektion
unter akutem
Kollaps
Da die Vorversuche ergeben hatten, daß die Hyperlenkocytose in
der Peritonealhöhle durch die intraperitoneale Injektion von 1 ccm
0,85-proz. Kochsalzlösung nach 17—18 Stunden ihr Maximum erreicht,
so wurde 2 Meerschweinchen 16 Stunden nach der Vorbehandlung, also
noch im Stadium der steigenden Hyperlenkocytose, Vs und 1 Oese Coli
injiziert. Die beiden Tiere starben nach 16—18 Stunden unter dem
Bilde von akutester Sepsis unter schwerem Kollaps, genau wie Pfeiffer
und IssAEFF von ihren Tieren bei den Versuchen über Choleraimmuni-
sierung schilderten. Da der Versuch mißglückt schien, wurden zwei
weitere Tiere 7 Stunden nach der Vorbehandlung mit genau gleicher
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 733
Dosis von Coli infiziert. Der Erfolg war, daß das mit V« Oese infizierte
Tier am Leben blieb, während das andere mit 1 Oese geimpfte nach
20 Stunden starb. Daraus geht klar hervor, daß die Chlornatriumvor-
behandlung nicht so gute Dienste leistet, wie wir erwartet haben; die-
selbe erreicht in meinen Versuchen nur eine zweifache Steigerung
der Resistenzfähigkeit des Peritoneums gegen die tödliche Minimaldosis
von Bact. coli, während allerdings Solieri die 7- fache erzielte. Auch
bei — 2mal versuchter — Injektion von 2 ccm Kochsalzlösung, von
der Solieri eine Erhöhung der Resistenz des Peritoneums um das
16fache sah, habe ich höchstens eine 3-fache Verstärkung erzielt Der
günstige Erfolg, den Solieri mit Injektionen von 2 ccm Kochsalz-
lösung im Meerschweinchenversuch hatte, gibt ihm übrigens Veran-
lassung zu dem Bedauern, daß ein analoges therapeutisches Vorgehen
am Menschen unmöglich sei, „denn eine Dosis von 2 ccm beim Meer-
schweinchen entspricht beim Menschen von 65 kg einer solchen von
300 ccm, was eine beträchtliche endoperitoneale Injektion beim Menschen
ausmachen würde^. Dieses Bedenken muß ich für unbegründet halten,
da die Spülung der Peritonealhöhle mit 5, 10—12 1 physiologischer Koch-
salzlösung bei uns schon seit einigen Jahren bei zahlreichen Opera-
tionen am Magen und Darm vorgenommen wird und nie nachteilige
Folgen beobachtet werden. Ein Teil der gespülten Flüssigkeit fließt
natürlich wieder heraus, doch bleiben mindestens 2 — 4 1 in der Peri-
tonealhöhle zurück. Diese Art der Spülung hat bis jetzt nicht nur
nicht geschadet, sondern zweifellos erheblich genützt. Die genauere
Erklärung für diese günstige Wirkung lasse ich dahingestellt; a priori
und auf Grund meiner Versuche läßt sich erwarten, daß außer der
Wegspülung der aus dem Magen- und Darmkanal ausgetretenen Keime
noch die dadurch erregte Hyperleukocytose eine Rolle spielt.
Da die Versuche mit Bouilloninjektionen zu Tierexperimenten nicht
besonders ermutigten, so wurde von der Fortsetzung derselben Abstand
genommen.
2. AleuroDatbehaDdlung:
Nummer und
Datum
Injektionsmittel
Körper-
temperatur im
Kectum
Doeis
von
Bact.
coli
Beeultat
kungen
1.
7. Dez. 1903
7. Dez. 1903
9. Dez. 1903
1 ccm eines 2-proz.
Aleuronat in 0,85-
proz. Kochsalzlö-
sung
do.
do.
36,6 • 0 V* ßtd.
38,0 *» C 3 „
38,8 » C 7 „
36,7 « C V,
38,0 °0 3
38,0 • C 7
Std.
2 Oesen
4 Oesen
3 Oesen
lebt
t 16V, ßtd.
n. d. Coli-
injektion
t 34 öt n.
d. Ooü.
injektion
Nach ca.
10-stünd.
Erkrankung
erholt
Akuteste
Sepsis
do.
734
H. Miyake,
Unter 3 Tieren, welche mit je 2, 3 und 4 Oesen Coli (Vi) geimpft
waren, blieb nur das mit kleinster Dosis geimpfte am Leben. Hieraus
geht hervor, daß das Aleuronat trotz seiner stark chemotaktischen
Eigenschaft doch nicht im stände ist, gegen höhere Dosen von Coli zu
schützen; dasselbe konnte nur eine 8- fache Verstärkung der Re-
sistenz herbeiführen.
3. Hefe-NukleinBänrevorbehandlung:
Nummer
and Datum
Gewicht
Injektions-
mittel
Temperatur
DosIb von
B.coli(V4)|
BcBultat
I. Serie: 2-proz. Nukleinsäure.
1.
1.
Dez.
1903
260 g
1.
2.
Dez.
1903
245 g
2.
3.
Dez.
1903
200g
2.
4.
Dez.
1903
215 g
2.
5.
Dez.
1903
240 g
3.
6.
Dez.
1903
280 g
4.
7.
Dez.
1903
260 g
3.
&
Dez. 1903
240 g
3.
9.
Dez.
1903
240 g
10.
5. Dez, 1903
11.
5. Dez. 1903
240 g
250 g
1 ccm einer
•
2-proz.
Nukleinsäure
do.
—
do.
38,1 • V. d. Inj.
353' V. Std. n. d. Inj.
oo,ü D n tf 11 11
do.
38,0 • V. d. Inj.
353'' Vt Std. n. d. Inj.
o7,o 0 „ „ „ „
do.
38,2« V. d. Inj.
35,2 • Vt Std. n. d. Inj.
36,8® 5 nun 11
do.
38,0 • V. d. Inj.
36,9 <> V, Std. n. d. Inj.
'iX^l :: :::: ::
do.
38,0» V. d. Inj.
37,2 • Vt ßtd. n. d. Inj.
38,fo? ;: ::; ;;
do.
38,1 • V. d. Inj.
36,9*» V. Std. n. d. Inj.
38,20 6 , „ „ .,
do.
38,0® V. d. Inj.
36,9 ° Vt Std. n. d. Inj.
37.2 3 „ „ „ „
38,6® 6 „ „ „ „
II. Serie:
1-proz. Nukleinsäure.
1 ccm einer
1-proz.
Nukleinsäure
38,0® V. d. Inj.
37,5® Vt Std. n. d. Inj.
oSfC 3 »1 i> II n
38,0» 7 „ „ „ „
do.
38,0»v. d. Inj.
37.4» V. Std. n. d. Inj.
«^8,7 3 „ „ „ „
38,0» 7 „ „ „ „
Vt Oese I lebt (ohne
etwas
zu leiden
1 Oese
2 Oesen
3 Oesen
4 Oesen
4 Oesen
6 Oesen
8 Oesen
12 Oesen
2 Oesen
4 Oesen
do.
lebt {fast
gar nioit ge-
litten)
lebt Heicht er-
krankt, erholt
sich aber nach
3 Stunden
do.
do.
t (kollabiert
22 Std. n. d.
Infektion
t 17 Std.
n.d. Infektion
t 17 Std.
n.d. Infektion
lebt (fast
nicht er-
krankt)
lebt (nach
kurzer Er-
krankonff
sich erholt
Entsprechend den bei den Vorversuchen gewonnenen Erfahrungen,
erfolgte an sämtlichen Tieren die Coliinfektion 7 Stunden nach der
Steigerung der Widerstandsfehigkeit der Gewebe gegen Infektion. 735
Vorbehandlung. Im Anfange verwendete ich nach Issaeffs Vorgang
2-proz. Lösung, habe aber später versucht, die Dosis innerhalb der
gleichwirksamen Grenze möglichst herabzusetzen, und es gelang in der
Tat, in bedeutend verdünnter Lösung dasselbe Ziel zu erreichen. Wie
aus der obigen Tabelle ersichtlich ist, besteht in der Wirkung von 1 bis
2-proz. Lösung kein Unterschied; mit beiden konnte ich eine 16- fache
Verstärkung der Resistenz erzeugen.
Um die unangenehmen Nebenwirkungen, die Schmerzhaftigkeit und
die Beeinflussung der Temperatur, möglichst zu beseitigen und die für
den Menschen brauchbare Dosierung zu finden, habe ich die Versuche
mannigfach variiert Die nachstehende Tabelle ergibt den Effekt von
intraperitonealer Injektion einer 0,5— 1-proz. neutralisierten Lösung.
Nummer
und Datum
Gewicht
Neutrali-
eierte
Nukleinsäure
Temperatur
Dosis von
Bact coli
Resultat
1.
11. Dez. 190a
220 g
2.
11. Dez. 1903
220g
3.
11. Dez. 1903
200g
4.
13. Dez. 1903
250g
5.
13. Dez. 1903
200 g
6.
25. Dez. 1903
230 g
7.
25. Dez. 1903
250 g
8.
26. Dez. 1903
210 g
9.
26. Dez. 1903
220 g
L Serie:
1 com einer
1-proz. Löeg.
da
do.
do.
do.
IL Serie:
1 ccm einer
O^proz.
Lösung
do.
do.
do.
1-proz. Nukleinsäure.
38,0*» V. d. Inj.
37,3 • Vi ötd. n
37,8 • 3 „ „
oo,4 7 „ „
38,0« V. d. Inj.
37,3 • Vi Std. V.
37,6'» 3
38,4« 7
d. Inj.
d. Inj.
37,5« Vi Std. n. d. Inj.
3o|3 3 „ „ „ %
»Ä>f4 7 ,1 „ „ „
38,4
38,0« V, Std. n. d. Inj
39,2 3 „ „ „ „
*'"i'' • 1» II II II
38,0« Va Std. V. d. Inj.
o9,4 3 „ „ „ „
39,0*
II II
M II
0,5-proz. Nukleinsäure.
38,4 « V. d. Inj.
38,4« V. Std. n
39,0« 3 „ „
38,6« 7 „ „
37,7 « V. d. Inj.
38,0« V« Std. n
3 )f f)
• II I»
39,0«
38,5«
37,5«
37,5«
39^«
38,2«
38,5«
V. d. Inj.
V, Std. n.
3 V ii
V „ „
1 Oese
2 Oesen
4 Oesen
do.
do.
V. d. Inj.
38,1 « V, Std. n. d.
3o,o o „ „ „
38|7 7 „ „ „
lebt
Inj.
3 Oesen
II
II
Inj.
4 Oesen
II
n
Inj.
do.
II
II
Inj.
5 Oesen
II
"
t 19 Std. n.
d. Injektion
lebt
t 24 Std. n.
d. Injektion
lebt
736 H. Miyake,
Während alle mit 0,5-proz. Lösung vorbehandelten Tiere am Leben
blieben, starben 2 unter 3 mit 1-proz. behandelten Tieren. Der Grund
dieses abweichenden Befundes ist in der Größendifferenz der Versuchs-
tiere zu suchen. Wir konnten hier mit 0,5-proz. neutralisierter Lösung
nicht nur ebenso günstigen Effekt erzielen wie mit 2-proz., sondern
sogar noch etwas mehr, nämlich eine 20-fache Verstärkung. Die
weiteren Vorteile der Lösung bestehen in der Geringfügigkeit der Neben-
wirkungen.
Es erhebt sich nun die wichtige Frage : Können wir dieses Resultat
ohne weiteres auf den Menschen übertragen und eine ebenso große
Steigerung der peritonealen WiderstandsfUigkeit gegen die Infektion
von pathogenen Bakterien erzielen wie bei den Meerschweinchen?
Wie in der Einleitung kurz erwähnt ist, findet sdion seit geraumer
Zeit die therapeutische Anwendung der Nukleinpräparate an Menschen
statt. So hatte M. Hahn im Jahre 1897 Nukleinsäure von Parke &
Davis Co. 0,1 g subkutan beim Menschen injiziert, ohne jedoch die
gewünschte Hyperleukocytose zu erzielen. Parke & Davis Co. liefert
5-proz. Nukleinsäure, deren Maximaldosis auf 6 ccm angegeben wird;
LABBfi benutzte 1 — 2 ccm einer 1-proz. Nukleinlösung mit ziemlich
befriedigendem Erfolge in Bezug auf die Hyperleukocytose u. s. w. Die
Ansichten über die Dosierung und den Erfolg der Nukleinpräparate
weichen ziemlich voneinander ab, um so mehr, als zur Zeit unter dem
Namen ^Nuklein^ und „Nukleinsäure^ eine Menge von Präparaten in
den Handel kommen, welche je nach ihrer Abstammung aus Hefe,
Thymus, Milz u. s. w. und je nach der Fabrik verschiedenartige Wir-
kungen haben werden. Rechnet man die Dosis von 1 ccm einer
0,5-proz. Lösung, d. h. 0,005 g Nukleinsäure, wie wir sie beim Meer-
schweinchen von 300 g Körpergewicht mit Erfolg benutzen, auf einen
Menschen von 70 kg um, so ergibt sich ca. 1,17 g Nukleinsäure, was
im Vergleich zu der bisherigen Dosis anderer Autoren noch zu viel
erscheint. Um mit entsprechender Vorsicht vorzugehen, müssen wir
uns anfangs mit einer möglichst kleinen Dosis begnügen und dann all-
mählich zu größeren übergehen.
Mit gütiger Genehmigung von Herrn Geheimrat v. Mikulicz wurde
am 21. Dez. 1903 zum erstenmal bei einer 41-jährigen Frau, die wegen
einer Pylorusstenose operiert werden sollte und trotz der raschen Ab-
nahme ihres Körpergewichtes noch leidlich ernährt war, die Injektion
vorgenommen. Neun Stunden vor der Operation wurden mittelst eines
durch eine ganz kleine Laparotomiewunde ^) geführten Gummirohrs 50 ccm
einer 0,5 proz. neutralisierten sterilen Nukleinsäurelösung in die Peri-
1) Unter lokaler Anästhesie ausgeführt.
Steigernng der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 737
tonealhöhle eingegossen, die Wunde fest zugenäht und der weitere Ver-
lauf genau verfolgt. Unter unbedeutenden Nebenwirkungen trat ziem-
lich hohe Hyperleukocytose im Blute auf, welche wohl im stände ge-
wesen sein konnte, die gehofifte Wirkung zu entfalten. Puls, Temperatur
und Atmung wurden von uns stündlich untersucht; die Temperatur-
erniediigung, welche bei den Tieren regelmäßig auftritt, wurde hier nicht
beobachtet, dagegen leichtes Fieber. Als Maximaltemperatur wurde
7 Stunden nach der Injektion 38,1^ konstatiert; doch bestand diese Er-
scheinung nur kurze Zeit. Außer mäßiger Reizerscheinung des Peri-
toneums klagte die Patientin weder über Kopfschmerz, Uebelkeit, Er-
brechen noch über sonstige üble Erscheinungen. Spannungsgeffihl,
Druckempfindlichkeit des Abdomens und Seitenstechen bei jedem Atem-
zuge waren die Hauptsymptome der Reizung; dieselben scheinen aber nicht
sehr schlimmer Natur gewesen zu sein, da die Patientin sie ohne Nar-
kotika ertrug. Die Reizerscheinung erreichte erst in der vierten Stunde
ihr Maximum, dann ließ sie allmählich nach ca. 12 Stunden nach. Was
die Leukocytose im Blute betrifft, so ergaben sich folgende Werte:
(Vor der Injektion 7200
Vor der Operation { 7^2 Std. n. d. Injektion 20000
24000
28000
15000
10800
8000
8800
Neun Stunden nach der Injektion hatten wir etwas über die
3-fache Vermehrung der Leukocyten konstatiert, ja sogar nach
37 Stunden 4- fache, wobei es allerdings wahrscheinlich ist, daß außer
der Nukleinsäurewirkung noch die operative Leukocytose hinzutrat. Im
weiteren Verlaufe hatte die Patientin keinerlei abnorme Erscheinungen ;
die Operation — es handelte sich um eine Gastrolyse — erfolgte in
Narkose ohne Störung und auch die Heilung ging wie sonst glatt von
statten. Wieweit dies der Nukleinsäure zu verdanken war, läßt sich
vorläufig nicht sagen ; hoffentlich wird ihre Verwendung an einem großen
Material in der Zukunft einen sicheren Beweis dafür liefern. Jedenfalls
können wir sagen, daß die Injektion in diesem Falle nicht geschadet
hat Immerhin wird es gut sein, vorläufig die Hoffnungen auf den
Wert der Nukleinsäureinjektionen in der chirurgischen Praxis nicht allzu
hoch zu spannen. Liegt doch das Bedenken nahe, ob man im stände
sein werde, bei hoch dekrepiden Personen, wie bei den an Magencarci-
nom lange leidenden Patienten durch diese Behandlung die erhoffte
Leukocytose zu erzeugen. Weiter ist es noch die Frage, ob die er-
zeugten Leukocyten, welche aus kachektischen Personen stammen, ebenso
kräftige bakterizide Kraft besitzen, wie bei normalen Individuen. Zur
Beantwortung dieser Fragen sind ausgedehnte klinische Erfahrungen
l 9
«
>» »
r37
»» »»
51
V M
Nach der Operation
74
»» >»
81V,
»» >»
l99
99 n
738
H. Miyake,
erforderlich, wie sie jetzt in der Breslauer chirurgischen Klinik bereits
gesammelt werden.
Obwohl sich im vorliegenden Falle die völlige Unschädlichkeit
des Mittels ergab, hatten wir doch gleichzeitig gelernt, daß sich die in-
traperitoneale Injektion an Menschen doch nicht so einfach gestaltet wie
wir uns vorstellten, und zwar sind es nicht technische Schwierigkeiten,
sondern humane Gründe, welche uns zaudern lassen, den elenden
Patienten zweimal kurz hintereinander auf den Operationstisch zu legen.
Infolgedessen habe ich mich bemüht, das Verfahren unbeschadet seiner
Wirksamkeit noch leichter und einfacher zu gestalten als zuvor, und
kam Iiierbei zu einer anderen Form der Applikation. Derselben liegt
folgender Gedanke zu Grunde: Bekanntlich wird durch die intraperi-
toneale Injektion Hyperleukocytose nicht nur in der Peritonealhöhle
allein, sondern auch im Blute erzeugt, und es ist wahrscheinlich, daß
sich die Leukocyten da sammeln, wo der Reiz stattgefunden hat oder
da, wo der Schutz am meisten nötig ist. Jedes Leukocyten-anlockende
Mittel wirkt nicht nur an der Stelle, wo die Einspritzung erfolgte,
sondern reizt das sogenannte Leukocytenzentrum ; der Effekt ist also
Präventivimpfung von 0,5-proz. neutralisierter Hefenukleinsäore sub-
kutan (Meerschweinchen):
Dosis der
Nummer und
Datum
Gewicht
NokleinsSure
Temperatur
Bact.coü(V,)
7 Std. po6t
Besultat
injectionem
1.
200g
1 ocm einer
38,0» V. d. Inj.
4 Oesen
lebt
2a Dez. 1903
0^ pioz.
Lösung
37^» V. ßf^ »•
38,60 3 ,^ ^
38^2» 7 „ „
d.Inj.
»> W
2.
200g
do.
363" V. d. Inj.
3 Oeeen
II
28. Dez. 1903
36,2'' V. Std. n.
38,5» 3 „ „
38^2» 7 „ ,,
d. Inj.
»« n
3.
240 g
do.
383" V. d, Inj.*
5 Oesen
ti
4. Jan. 1901
38,2 • •/. Btd. n.
38,5» 2 „ „
383*4 „ „
38,6« 7 „ „
d. Inj.
» »1
II II
II II
4.
250 g
do.
38,4« V. d. Inj.
6 Oesen
if
4 Jan. 19(M
38,4« V. Btd- n.
39,3» 2 „ „
39,7« 4 „ „
39,0«' 7 „ „
d.Inj.
II II
II II
II II
5.
260 g
do.
38,4» V. d. Inj.
8 Oesen
if
4. Jan. 1904
38,4» Vt Std. n.
38,6» 2 „ „
39,4 4 „ „
39,0» 7 „ „
d. Inj.
» II
II II
II II
6.
260 g
do.
38,4 0 V. d. Inj.
10 Oesen
„
5. Jan. 1904
38,4» V. Std. n.
39,7 3 „ „
393» 7 „ „
d. Inj.
II II
II »1
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 73Ö
voraussichtlich kein lokaler, sondern ein allgemeiner. War diese Vor-
aussetzung richtig, so mußte durch subkutane Injektion eine ebenso
große Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe an dem Orte
erzeugt werden können, wo Schutz und Wehr nötig ist, wie bei der
direkten lokalen Applikation. In diesem Sinne habe ich Versuche an-
gestellt (vgl. die Tabelle auf p. 738).
Die durch die subkutane Injektion veranlaßte lokale Erscheinung
verläuft sehr mild; das Resultat gegen Coliinfektion ist glänzend zu
nennen. Wir konnten hier ebenfalls eine 20- fache Steigerung der
peritonealen WiderstandsfiQiigkeit erzeugen, was auch bei der intraperi-
tonealen Injektion die maximale Grenze war.
Um innerhalb dieses Wirkungskreises die nötige Dosis der Nuklein-
säure noch weiter herabsetzen zu können, haben wir auch Versuche
mit 0,25-proz. neutralisierter Lösung angestellt.
Versuche
mit subkutaner In
ijektion von 0,25-proz. neutral
lisierter
Lösung:
Dosis der
Nummer und
Datum
Gewicht
Nukldnsaure
Temperatur
Bact. coli Vj
7 Std. poHt
injectionem
Resultat
1.
215 g
1 ccm
37 12« V. d. Inj.
4 Oesen
tl2 Std.
6. Jan. 1904
363'' Vi Std. n. d. Inj.
dO|0 O fl II II II
07 70 7
**•»• • i> II II II
n. d. In-
fektion
2.
220 g
it
37,3« V. d. Inj.
>i
t 17 Std.
6. Jan. 1904
37,1« V. Std. n. d. Inj.
00,9 0 „ „ ,1 ,1
37,507 1, II 1, „
n. d. In-
fektion
Aus diesen Versuchen ergibt sich, daß die unterste wirksame Grenze
der Nukleinsäure zu 0,5 Proz. angesetzt werden muß.
Da die Einhaltung von 7 Stunden als günstiger Zeitpunkt zur
Operation nach der Präventivimpfung bei dem praktischen Gebrauch
am Menschen manchmal nicht möglich ist, so wurde versucht, ob nicht
auch noch die spätere Zeit nach der Infektion ebenso günstig wäre.
Versuche
mit subkutaner I
Nukleinsäure 15
njektion von 0,5proz. neutral
Stunden post injectionem:
isierter
Nunmier und
Datum
Gewicht
Nukleinsäure
Temperatur
Dosis der
Bact. coU Vi
Besultat
1.
13. Jan. 1904
2.
13. Jan. 1904
240 g
260 g
1 ccm
1«
38|Oo V. d. Inj.
393^ V, Std. n. d. Inj.
38.6 • 15 ,1 ,1 „ II
38,4« V. d. Inj.
38.7 «> Vt Std. n. d. Inj.
38,5M5 II II II ,1
9 Oesen
10 Oesen
t 12 Std.
post in-
tectionem
lebt
Aus diesem Ergebnis können wir schließen, daß auch 15 Stunden
nach der Injektion eine brauchbare Zeit darstellen.
740
H. Miyake,
In der Hoffnung, den erzielten Effekt noch zu erhöhen, wurden die
weiteren wiederholten intraperitonealen und subkutanen Präventiv-
impfungen von Nukleinsäure in steigender Dosis ausgeführt. Zum Aus-
gleich fQgte ich einige Versuche mit abgetötetem Bact. coli hinzu.
I. Serie: VerBnche mit wiederholten iDtraperitonealen Injektionen
▼on neutralisierter Nnkleinsäure in steigender Dosis.
Ge-
?ncht
1. Injektion
von
Nnklönsanre
2. Injektion
3. Injektion
4. Injektion
Dosis d. ß.
coli V*.
7 Bt p. in-
fectionem.
Besultat
205g
aoog
200g
1 ocm einer
l-proz.LÖ6g.
(iS.xii.^)
do.
do.
1 ocm einer
2-proz.LÖ8g.
(20. XU. 03)
do.
do.
1 ccm einer
2-proz.Lö6g.
(2l.XIL^)
do.
do.
6 Oesen
(23. XIL 03)
8 Oesen
10 Oesen
lebt
lebt
fim Laufe
von 10 St.
II. Serie: Versnche mit wiederholter subkutaner Injektion von
neutralisierter Nukleinsäure in steigender Dosis.
200g
200 g
1 ocm einer
l-pro2.LÖ6g.
(lIxiLOS;
1 ocm einer
l-proz.Lö6g.
(13. XIL 03)
200 g 1 ccm einer
1-proz.Löeg.
(lixn. 08)
165 g do.
1 ocm einer
2-proK.LÖ8g.
(15.XIL03J
do.
do.
do.
1 ocm einer
3-proz.LöBg.
(16. XIL 03)
do.
da
do.
8 Oesen
(17. XIL 03)
6 Oesen
lebt
lebt
lebt
lebt
III. Serie: Versuche mit intraperitonealer Injektion von ab-
getötetem ColL
Nummer und
Dosis
Gewicht
Dosis von abge-
tötetem Goß
Dosis von Bact
coU V*. 7 St p.
injectionem
Resultat
1.
9. Dez. 1903
2.
9. Dez. 1903
230 g
280g
V, Oese in
physiolog.
soluMung
2 Oeeen
1 ccm
Koch-
V. Oese
2 Oesen
lebt
lebt
3.
la Dez. 1903
200g
2 „
5 „
M
4.
13. Dez. 1903
200g
2 „
6 „
t im Laufe von
12 Stunden
Durch wiederholte Injektionen von Nukleinsäure tritt bei den Ver-
suchstieren eine Gewöhnung der Art auf, daß sie allmählich gegen das
Mittel wenig reagieren. Der damit erzielte Erfolg ist recht befriedigend
zu nennen. Es erfolgten im ganzen 3 — 4 Injektionen und zwar jeden
Tag einmal oder einen Tag um den andern, je nach dem Befinden des
Tieres. Während durch viermalige intraperitoneale Vorbehand-
lung 40-fache Steigerung erzielt wurde, konnten wir durch drei-
malige subkutane Injektion 32- fache erzeugen, also ein beinahe
Steigerung der Widerstands&higkeit der Gewebe gegen Infektion. 741
gleich günstiges Resultat. Trotz dieses guten Resultates werden wir
vielleicht selten Gelegenheit haben, diese Art der Behandlung beim
Menschen anzuwenden ; denn erstens werden es die Umstände nicht er-
lauben, so viel Zeit vor der Operation dem zu opfern, zweitens wird
wahrscheinlich der Patient nur selten die öftere Vornahme der schmerz-
haften Prozedur gestatten.
Für die Versuche mit abgeschwächten Kulturen wurde eine Goli-
kultur durch 1 -stündige Erhitzung auf 65^ G abgetötet, davon Vs bis
2 Normalöse abgenommen, mit 1 ccm Bouillon aufgeschwemmt und
zur intraperitonealen Präventivimpfung benutzt. Die einmalige Ein-
spritzung der abgetöteten Bact. coli leistet keinen so großen Effekt,
wie wir erwarteten; sie konnte bloß 20- fache Steigerung erzielen.
B. Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen Misch-
kultur von Bact coli, Streptococcus und Staphylococcus
aureus.
Zur Injektion wurde aufier dem erwähnten Golistamm noch 24 stün-
dige virulente Agarkultur von Staphylococcus aureus aus dem Eiter eines
akuten periartikulären Abscesses und gleichalte Bouillonkultur von Strepto-
Präventivinipfung von 0,5-proz. neutralisierter Nukleinsäure:
Nummer
und Datum
Ge-
wicht
Nukleinsäure
Temperatur
Doeis von Bak-
terien ; 7 St. p.
injectionem
Resultat
intraperitoneal.
1.
2a Dez. 1903
220g
2.
2a Dez.
1903
240 g
1 ccm einer 0^-
proz. Lösung
intraperito-
neal
do.
3.
ö. Jan.
1904
4.
9. Jan. 1904
9. Jan. 1904
6.
11. Jan.
Mittel!,
37,6« vor der Injekt
37,l«V»St.n.d.Inj.
0070 q
"ö>" • I» »I >i ff
38,1 <» vor der Injekt,
38,0»V«St.n.d.Inj.
38,6<> 3
38,1 <> 7
subkutan
383"vordcrInjekt
38,l»Vf8t.n.d.Inj.
3o,D o „ „ „ „
Q7 7 0 7
*^*f* • f» II II I»
38,3*» vor der Injekt.
373''V,Stn.d.Inj.
«Ä>,7 o ,, „' „ „
9Q4.0 7
"*^i^ • 1» I» II II
38,5 «vor der In jekt.
38,6« V.8t.n.d.lnj.
«^|ö o „ „ „ „
38,5 7 ,y „ „ „
38,1 "vor der Injekt
38,3«V,8t.n.d.Inj.
*^"|5 O „ „ ,y „
^ftQO 7
*^^i*' • »» »I »I II
I. a. d. Gmxfebiatan d. Medtxin a. Chinirfle. XUI. Bd.
270 g 1 ccm einer 0,5
proz. Lösung
subkutan
300 g
300 g
1904
300g
II II II II
1» II II »I
je 4 Oesen von
Coli V»i Aureus,
Streptococcus
je 4 Oesen von
Coli ^/,, Aureus,
Streptococcus
je 9 Oesen von
Coli ^/,, Aureus,
Streptococcus
lebt
lebt
je 8 Oesen von lebt
Coli Vfi Aureus,
Streptococcus
t 16 St p.
infect.
je 10 Oesen von
Coli , Aureus,
Streptococcus
je 9 Oesen von
Coli , Aureus,
Streptococcus
48
t 12 St. p.
infect.
t 14 St p^
infect
742
H. Miyake,
coccus ans dem Eiter einer Halsphlegmone injiziert. Die intraperitoneale
Injektion von diesen beiden Bakterienarten in großen Dosen wirken be-
kanntlich bei Meerschweinchen ganz indifferent.
Während die vorbehandelten Tiere gegen einfache Coliinfektion
den 20-fachen Widerstand leisteten, überstanden sie hier nur die
16- fache Dosis der minimalen tödlichen Colidosis, obgleich die
beiden anderen Bakterien allein bedeutungslos waren.
C. Resistenzerhöhung des Peritoneums gegen den
Austritt von Magen- und Darminhalt:
I. Berie: Aktiv immanifiierte Tiere:
vorbehandelt mit Nukleinsäure.
o
Ge-
wicht
Präventiv-
impfung
Doeis von virulenten
Coli
Operation
Besultat
BemerkungeD
265 g
220g
220 g
230 g
250 g
1
ocm einer
Nuk-
1-jxroz. *. «-.-
lemsäure in-
traperitoneal
(10. XII. 03)
do.
(11. XII. 03)
do.
4 Oesen 10. XII. 03
8 „ 11. XII. 03
10 „ 13. XU. 03
11 „ 14. XII. 03
lOese 11. XII. 03
4 Oesen 12. XII. 03
8 „ 13. XU. 03
12 „ 14. XII. 03
2 Oesen 11. XII. 03
4 „ 12. XIL 03
8 „ 13. XII. 03
12 „ 14. XII. 03
Aml5.XII.1903
Mageninhalt
in erö6. Menge
in d. PeritoneiQ-
höhle herausge-
preßt Nähte I
Am 15. XII. 1903
Blinddarm
inhalt in der
PeritoneaUiöhle
herausgepreßt.
Nähtef
do.
lebt
lebt
lebt
I
Fieberfrei, er-
holte sich
rasch nach
der Opera-
tion
do.
do.
7. Oese von
abRetöteten
Coli intra-
peritoneal
(9. XII. 03)
2 Oesen von
abgetöteten
Coli intra-
peritoneal
(9. XII. 03)
vorbehandelt mit abgetöteten Coli.
V, Oese 10. XII. 03
2 Oesen 11. XII. 03
4 „ 12. XU. 03
8 „ 13. XII. 03
12 „ 14. XII. 03
12 „ 15. XII. 03
2 Oesen 10. XII. 03
4
7
8
12
12
11. XII. 03
12. XII. 03
13. XII. 03
14. XII.
Am 15. XIL 1903
Blinddarm
inhalt in der
Peritonealhöhle
herausgepreßt
Nähte!
do.
lebt
lebt
6 '200 g
230 g
240 g
I
15. XII. 03
Kontrolltiere:
Am 15. XU. 1903] t 5 öt p.
Blinddarm- | operatio-
inhalt in der n^n.
Peritonealhöhle
herausgepreßt
do.
do.
Nähte!
do.
do.
do.
t4V,Stp
operatio-
nem.
akut Kollaps,
Krämpfe
do.
do.
Steigerung der WiderstandsÄhigkeit der Gewebe gegen Infektion. 743
II. Serie: Mit Bubkntaner Injektion von Nukleinsäure
vorbehandelte Tiere.
Ge-
wicht
1 240 g
Praventiv-
impfung
Dods von virulenten
Coli
1 ccm ein. 0,5-1
ßToz.neutra-
siertNuks.'
(5. I. 1904) ;
2 ,240 g do.
3 230 g
Operation
7 8t p. injection.
Danninhalt in
der Peritoneal-
höhle entleert
Nahte!
do.
Resultat
lebt
Kontrolltiere:
4 240 g
Danninhalt in
der Peritoneal-
höhle entleert
(5. 1. 1904)
do.
lebt
lebt
Bemerkungen
tiestp.
operatio-
nem.
Ohne etwas zu
leiden, sofort
sich erholt
do.
Schw. krank,
erst nach ca.
26 St erholt
akute Sepsis
III. Serie: Die mit wiederholten Injektionen von Nukleinsäure
vorbehandelten Tiere.
1 '200 g
2 '200 g
Iccml^/Ns.
13. XII. 03
lccm2%N8.
14. XII. 03
Iccm 27oN8.
15. XII. 03
lccm37oN8,
16. XII. 03
do.
7 St nach der
letzten Injektion
Darminhalt in
die Peritoneal-
höhle entleert
(17. XII. 1903;
do.
lebt
lebt
Ohne etwas
zu leiden,
gleich sich
erholt
do.
Sämtliche Tiere wurden 7 Stunden nach der Vorbehandlung unter
aseptischen Kautelen laparotomiert, der Magen oder eine Darmschlinge
auf einem aseptischen wasserdichten Battist, welcher um die Wunde
herum mittelst Klemme eingeklemmt war, herausgeholt, incidiert und
eine möglichst große Menge Inhalt in die Bauchhöhle hineingepreßt.
Nachdem die Oeffnung im Magen oder Darm durch eine doppelreihige
Naht sorgfältig geschlossen war, wurde der Magen oder die Darm-
schlinge wieder in die Bauchhöhle reponiert und zum Schluß die Bauch-
wand zugeschlossen. Während 5 Kontrolltiere mit einer einzigen Aus-
nahme innerhalb von A^j^—IQ Stunden post operationem unter rasch
eintretendem Kollaps zu Grunde gingen, blieben alle vorbehandelten
Tiere am Leben. Auch das eine überlebende Kontrolltier war durch
24 Stunden sehr schwer krank. Die gestorbenen Tiere hatten in der
Peritonealhöhle einen leicht bräunlich getrübten Erguß in mäßiger
Menge, gemischt mit Magen- oder DarminhaU. Die Darmnähte haben
stets gut gehalten. Kulturen mit dem Peritonealexsudat ergaben haupt-
sächlich Kolonien von Bact. coli, dann von Staphylococcus albus und
aureus und von Bacillus aerogenes. Die anaörobe Kultur mißlang in-
folge Zersprengung des Nährbodens durch entwickelte Bakteriengase.
48*
744
H. Miyake,
Durch diese Versuche wollte ich mich überzeugen, daß meine
Präventivimpfung nicht nur gegen eine Art von Bakterien, sondern
auch gegen Mischinfektion und zwar gegen den Austritt von Magen-
und Darminhalt wie bei der operativen und perforativen Peritonitis,
einen sicheren und festen Schutz gewährt
Gestützt auf die vorstehenden günstigen Resultate glaube ich
dieses Mittel zur prophylaktischen Impfung bei jeder
Laparotomie im Falle von drohender Peritonitis empfehlen
zu können, und zwar in Form der subkutanen Injektion.
Wenn wir diese Versuchsergebnisse wirklich beim Menschen ver-
werten wollen, so bleibt noch eine wichtige Frage übrig, zu deren Ent-
scheidung noch einige Tierexperiraente erforderlich sind. Die Peri-
tonitis, die wir nach Laparotomien ab und zu beobachten, wird nämlich
nicht ausschließlich infolge von der unmittelbar bei der Operation er-
folgten Infektion bedingt, sondern kann noch im weiteren Verlaufe in-
folge von Nahtinsufficienz oder vorzeitiger Lösung des Murphyknopfes
eintreten. In solchen Fällen wird erfahrungsgemäß leider häufig nicht
früh genug die richtige Diagnose gestellt und der notwendige Eingriff
in der Bauchhöhle zu spät vorgenommen; so findet man bei der Er-
öffnung der Bauchhöhle meist schon eine mehr oder weniger ausge-
prägte Peritonitis vor. Gerade in den Fällen, wo die peritonitische Er-
krankung noch in Entwicklung begriffen ist, kann vielleicht meine
Präventivimpfung auch am Platze sein.
Therapeutische Versuche mit subkutaner Injektion von 0,5-proz.
neutralisierter Nukleinsäure bei infizierten Tieren:
Nummer
und Datum
Gewicht
Dosis von
Bact. coli V»
Nukleinsäure
Resultat
1.
9. 1. 1904
2.
9. 1. 1904
11. 1. 1904
200g
300g
230 g
2 Oesen intra-
peritoneal
6 Oesen intra-
peritoneal
4 Oesen intra-
peritoneal
6 St. n. d. Coliinjektion
im beginnenden Stadium
der Peritonitis 1 ccm 0,5-
proz. Lösung subkutan
zugleich mit Coliinjektion
locra 0,5-proz. Lösung
subkutan
1 » /, St. n. d. Coliinjektion
i. Stadium d. bednnend.
Peritonitis lccm0,5-proz.
Lösung subkutan
lebt Erst schwer
krank, doch er-
holte sich nach
18 St
t 19 St. n. dar
Coliinjektion
lebt Nach 2-tag.
Bchw. Erkrank,
sich erholt.
Die Wirkung des Mittels ist in diesen Fällen nicht so eklatant
wie in den früheren Versuchen; doch ist es zweifellos bis zu ge-
wissem Grade im stände, schon ausgebrochene leichte Peri-
tonitis im allerersten Anfange zu coupieren. Ist aber eine
gewisse Grenze überschritten, dann leistet das Mittel fast nichts mehr.
Aus diesen Versuchsergebnissen ergibt sich also für Anwendung der
Steigening der Widerstandsfähigkeit der Oewebe gegen Infektion. 745
Nukleinsäure noch die weitere Aussicht — wenn man auch keine
übertriebenen Hoffnungen daran knüpfen darf — bei Magen- und
Darmperforationen lebensrettend zu wirken.
Vergleicht man meine bisher mit den verschiedenen in Betracht
kommenden Mitteln erzielten Versuchsergebnisse, so wird die sub-
kutane Injektion von 0,5-proz. neutralisierter Nukleinsäure in
ersterLinie zu empfehlen sein, weil erstens in dieser Konzentration
Nebenwirkungen in geringem Maße auftreten, zweitens die Haupt-
wirkung noch sicher hervortritt, drittens die Injektion leicht ausführbar
ist. Es hat sich ferner ergeben, daß der Wert der erzeugten Hyper-
leukocytose mit der Steigerung der peritonealen Widerstandsfähigkeit
nicht in direkter Proportion steht. Abgesehen von der raschen Wirkung,
steht die Nukleinsäure in Bezug auf den Leukocytenwert mit dem
Aleuronat ungefähr auf gleicher Stufe; dennoch hat die erstere einen
unvergleichlich stärkeren Effekt (20-fach), während das letztere kaum
8-fache Steigerung bewirkt. — Trotz des noch eklatanteren Erfolges
der wiederholten Injektion von Nukleinsäure in steigender Dosis
(40-fach) kann ich diese Methode leider aus den schon erörterten
Gründen für die Praxis nicht empfehlen; dieselbe besitzt nur theo-
retisches Interesse.
Um das Wesen der Leukocytenwirkung sowie die Art des Unter-
gangs der eingespritzten Bakterien innerhalb der Bauchhöhle zu
studieren, habe ich nach Pfeiffer und Issaeff mit sterilen Glas-
kapillaren von Zeit zu Zeit das Peritonealexsudat entnommen und so-
wohl in hängenden Tropfen und in gefärbten Präparaten genau unter-
sucht, als auch mittels der Normalöse auf Gelatineplatten ausgesät und
dann die Keimzahl bestimmt. Im ganzen wurden 3 Meerschweinchen
nach drei verschiedenen Vorbehandlungen zu diesem Zwecke untersucht.
Es wurde ein Meerschweinchen von 265 g mit intraperitonealer In-
jektion von 1 ccm einer 2-proz. Nokleinsäurelösung vorbehandelt, dann
durch täglich je einmal erfolgende intraperitoneale Einspritzung von 4, 8
und 12 Oesen virulentem Bact coli (Y^) immunisiert. Im Anschluß an
die letzte Injektion (am 6. Dezember 1908) wurde das Peritonealexsudat
Yj) 1i 2) 3, 5, 10, 20, 24 und 48 Stunden nach der Injektion untersucht.
Genau wie Pfeiffer beschrieb, konnte ich das ausgesprochene Bild der
extracellulären Auflösung und Zerbröckelung der Bakterienleiber sowie
lebhafte Phagocytose mit meist veränderten, teilweise wohlerhaltenen
Bakterien innerhalb des Protoplasmas von poljnukleären Leukocyten sowie
mononukleären Makrophagen konstatieren.
Ein genaueres Studium dieser Vorgänge ergibt, daß schon nach
einer halben Stunde einige phagocytische Zellen unter zahlreichen
vermehrten Leukocyten sichtbar werden. Im weiteren Verlaufe voll-
zieht sich der phagocytotische Vorgang immer deutlicher und zwar
unter stetiger Vermehrung von polynukleären Leukocyten und unter
746 H. Miyake,
aasgesprochener Formveränderung der Bakterien, bis schließlich extra-
celluläre Bakterien vollkommen fehlen. Am schönsten ausgeprägt er-
scheint die Phagocytose nach 3 — 4 Stunden; nach 5—10 Stunden ist
sie beinahe vollendet; man sieht dann mikroskopisch fast gar keine
extracellulären Bakterien mehr, dieselben sind vernichtet, wie die folgende
Kolonienzählung beweist.
^/j Stunde nach der Goliinjektion 486 517
3 Stunden „ „ „ 12 165
5 „ ,1 n »j 2 160
24 „ „ „ „ 187
48 „ „ „ „ stenl
In dieser Weise verläuft der Vorgang, wenn wir die Lmnunisierung
spezifisch durch steigende Vorbehandlung mit der betreffenden Bakterien-
art herstellen. — Um weiter klarzulegen, wie es sich mit der Nuklein-
Säurewirkung allein verhält, wurde am 7. Dezember 1903 ein Meer-
schweinchen von 235 g durch intraperitoneale Injektion von 1 com einer
1-proz. Nukleinsäure vorbehandelt und 7 Stunden nachher mit 4 Oesen
virulenter Coli (V4) infiziert. Auch in diesem Falle konnte man ein ana-
loges Bild des Phlagocytismus und des extracellulären Zerfalles von Bak-
terien konstatieren, aber mit der kleinen Abweichung, daß der Prozefi des
extracellulären Bakterienzerfalls wenig deutlich ausgeprägt erscheint.
Mikroskopisch sieht man schon nach 5 Stunden weder zerbröckelte noch
erhaltene extracelluläre Bakterien mehr.
Die Kolonien auf Gelatineplatten:
Y, Stunde nach der Goliinjektion 73 024
1 » t» n ii 11483
3 }) n » n 53
5 n I) )} n 23
18 „ „ „ „ steril
Aber nicht nur bei intraperitonealer, sondern auch bei sub-
kutaner Nukleinsäureinjektion sind diese Vorgänge zu konstatieren
und zwar mit einem interessanten Befunde bezüglich des Auftretens
von Leuko- und Phagocytose.
Ein Meerschweinchen von 260 g wurde am 6. Januar 1904 durch
subkutane Injektion von 1 com einer 0,5-proz. neutralisierten Nuklein-
säurelösung vorbehandelt und 7 Stunden nachher mit 8 Oesen virulenter
Coli (Y2) intraperitoneal infiziert. Das Peritonealexsudat blieb ^/^ bis 3
Stunden lang nach der Goliinjektion fast wässerig klar, dementsprechend
enthielt dasselbe sehr spärliche Leukocyten, so daß wir in einem Deck-
glaspräparate nur einige davon mit Mflhe finden konnten. Erst nach
4 Stunden sah das Exsudat fast eiterig trüb aus und enthielt Unmengen
von Leukocyten. Von diesem Moment an trat erst eine lebhafte Phago-
cytose zu Tage, und das schwer erkrankte Tier fing an, sich prompt zu
erholen. Es gesellte sich femer noch als interessanter Befund eine rasche
Abnahme der Kolonienzahl im Exsudat hinzu. Schon nach 5 Stunden
sah man äußerst spärliche extracelluläre Bakterien und nach 17 Stunden
war der Prozeß beendet.
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 747
Kolonienzahl auf Gelatineplatten:
Sofort nach der Injektion 183 868
V, Stunde
31
)}
11
68950
1 „
11
w
11
86 723
2 Standen „
11
11
84475
3 ,,
}}
11
11
10376
4 ,.
n
11
11
1046
& „
n
»1
11
773
17 „
»
11
11
4
20 „
)i
11
11
steril
24 „
♦»
11
11
n
Bei subkutaner Injektion von Nukleinsäure können wir ebenso leb-
haften Bakterienuntergang und ein ebenso schönes Bild von Phago-
cytose konstatieren, wie bei den oben genannten Tieren, jedoch tritt
der Vorgang hier etwas verspätet auf, nämlich erst nach 4 Stunden
und zwar plötzlich mit voller Energie. Dieser Befund läßt sich sehr
leicht erklären. Während die Abwehrvorrichtung bei der intraperito-
nealen Injektion durch die an Ort und Stelle herrschende Hyperleuko-
cytose fix und fertig vorbereitet ist, ist hier selbstverständlich eine
gewisse Zeit erforderlich, bis sich Leukocyten in genügender Menge aus
dem Blute in der Peritonealhöhle sammeln. Durch diesen bemerkens-
werten Befund ist meine Annahme vollauf bewiesen, daß man im stände
sein wird, durch subkutane Injektion von Nukleinsäure ebenso günstigen
Erfolg zu erzielen, wie durch intraperitoneale.
Um zu prüfen, ob das aus dem Exsudat kultivierte Bacterium coli
noch seine Virulenz besitze, stellte ich einige diesbezügliche Versuche
an. Es wurde je V« Oese Coli von Kulturen, die von jedem der drei
oben erwähnten Tiere 3 Stunden nach der Injektion aus Peritoneal-
exsudat angelegt worden waren, intraperitoneal auf Meerschweinchen
injiziert. Alle Tiere starben ohne Ausnahme innerhalb von 16 bis
23 Stunden. Hieraus geht hervor, daß das noch am Leben gebliebene
Bact. coli innerhalb der Peritonealhöhle eines aktiv immunisierten sowie
mit Nukleinsäure vorbehandelten Meerschweinchens selbst noch 3 Stunden,
eventuell noch länger seine Virulenz beibehält.
Wenn die Vorbehandlung der Nukleinsäure ihren Zweck erfüllt, so
konstatiert man als charakteristisches Zeichen der Wirkung in dem Peri-
tonealexsudate enorme Vermehrung der Leukocyten; fehlt die
Wirkung, so bleibt das Exsudat konstant klar. In diesem Falle erkrankt
das Tier immer schwerer; es stellt sich schmerzhafte Auftreibung des
Bauches, Temperaturerhöhung, sodann rasch zunehmender Kollaps ein.
Aus solchem Exsudate beschickte Gelatineplatten enthalten schon nach
einigen Stunden unzählige Kolonien. Hat sich einmal die Kollapstempera-
tur eingestellt, dann versagt jedes Hilfsmittel. Bei der Sektion konstatiert
man dann außer dem bekannten Zeichen von akuter Sepsis noch mäßige
Exsudatansammlung in der Peritonealhöhle mit unzähligen Bakterien.
748
H. Miyake,
Untersucht man leukocytenreiches trübes Exsudat unter dem Mikro-
skop, so sieht man sehr deutlich die lebhafte Phagocytose, welche bei
dem klaren Exsudat ganz fehlt; es genügt also schon das makrosko-
pische Aussehen des Exsudats, um eine sichere prognostische Entschei-
dung zu fällen.
D. Allgemeine Resistenzerhöhung beim Kaninchen
gegen Infektion mit Streptococcus und mit Staphylo-
coccus aureus.
1. Versuche gegen Streptococcus.
a) Versuche gegen Impferysipelas:
Nummer und
Datum
Nuklein-
säure
Temperatur
p. injectionem
248tündiger
Strepto-
coccus aus
einem Appen-
dicitiseiter
Temperatur
p. infectionem
Besultat
7. Febr. 1904
1430 g
6 ccm 0,5-
proz. Lös.
subkutan
injiziert
38,8 • vor der Injektion
39,2» 87, St n. d. Inj.
9ötd.n. Vor-
behndl. je 0,2
ccm Bouillon-
kultur an bei-
den Ohren in
jiziert
39,3«
39,2«
38,7«
7. Febr. 1904
3.
. Febr. 1904
1750 g
1520 g
7 ccm 0,5-
proz. Lös,
subkutan
injiziert
6 ccm 0,5-
proz. Lös.
subkutan
39,0® vor der Injektion
38,9« V,Std.n.d.Inj.
39,4 2*/i I» II li
39,4' 8»« „ ,. „
39,4 8 „ „ ,1
39,0« vor der Injektion
38,9« ViStd.n.d.Inj,
39,Ä C „ y, „
09,3 5 yy „ y,
39,5 7*/, ,y y, „
KontroUtier 11500 g
7. Febr. 1904
4. 1950 g
13. Febr. 1904
8 Std. n. d.
Vorbehandl.
0,3 ocm Bouil-
lonkultur am
1. Ohr injiziert
8 Std. n. d.
Vorbehandl.
0,3 ccm amr.
u. 0,1 ccm am
I.Ohr injiziert
0,2 ccm Bouil-
lonkultur am
1. Ohr injiziert
13. Febr. 1904
1800 g
ccm 1-
proz. Lös.
subkutan
injiziert
10 ccm 1-
proz. Lös.
subkutan
injiziert
KontroUtier .1450 g
13. Febr. 1904
39,2« vor der Injektion
39y3«15V,ötd.n.d.Inj.
38,8« vor der Injektion
393« 7 btd. n. d. Inj.
39.0«
39y4«
14 Btd. p. inject
^^ I» »I w
43 II II II
15 Std. p. inject
^«^ II II II
39,8«
39,2«
38,8«
40y5«
16 V, Std. n.d. 39,5«
Vorbehandl.
0,2 ccm am r.
Ohr injiziert
7 Std. n. der
VorbehandL
0,2 ccm am 1.
Ohr injiziert
0,2 ccm am r.
Ohr injiziert
39,2« 16 Std. p. inject.
Während Kon-
troUtier an chi-
raktErysipelas
erkrankte» b«^
kam d. Tier no-
bedeutendeEö-
tung im Inj^-
tionsbereiefa
Oanz unbedeu-
tende lymph-
angitische B<v
tung zentralw.
v.d. Injektion«-
BteUe eichtbtr
14 „ yy „ Die unbedeoL
22 „ „ „ lymphangiti-
Bche Bötonr
trat viel späta-
auf als beim
KontroUtier n.
sogar nur mh
kurz. Bestände
16 8td. p. in-
fectionem chA-
rakterist erv-
sipelat KötuD^
u. AnschwelL
m. 4t£g. Daa«r
7 nach der Inj. LokaleBefnnde
genau dieedbeo
yn^ beim Va^
Buchbtier No. 3
vor der Injektion
17 Std. n. d. Inj
38.7«
41y0«
vor der Injektion
48 Std. p. inject
do.
i
20 Std. p. inject I
trat chankt
Erysipelas anfi
u. dauerte vier
Tagelang |
I
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 749
Der Streptococcusstamm, den wir zur lokalen Infektion benatzten,
stammt aus einem akuten Appendicitiseiter und gehört nach v. Linobls-
HBiM zu dem Streptococcus pathogenes brevis. Geimpft wurde stets
24-stündige Bouillonkultur am Ohr weißer Kaninchen.
b) Versuche zum Schatze gefi^en einen hochvirulenten Streptococcus:
Nummer und
Datum
Ge-
wicht
Nukleinsäure
Aronsonscher
Streptococcus
Resultet
Bemerkungen
1,
25. Febr. 1904
KontroUtier
2.
26. Febr. 1904
KontroUtier
3.
28. Febr. 1904
Kontrolltier
4.
4. März 1904
1500 g
1430 g
1750 g
1520 g
6 ccm 1-proz.
LoBong sub-
kutan
8 ccm 1-proz.
Lösung sub
kutan
1350 g
1800 g
1380 g
lOccml-proz.
Lösung sub-
kutan
KontroUtier
1280 g
9»/, Std. n. d
Vorbehandlung
ViMoo eines Ku-
bikcentimeters
subkutan
Vi^Moo eines Ku-
bikcentmieters
subkutan
8V, Std. n. d.
Vorbehandlung
V^qooo eines Ku-
bikoentimeters
subkutan
V^oooo eines Ku-
bikcentimeters
subkutan
7V, Std. n. d.
Vorbehandlung
'Woo eines Ku-
bikcentimeters
subkutan
"AoooooanesKu-
bikcentimeterH
subkutan
6V, Std. n. d
f 15 Std. p.
injectionem
t 14V, Std.
p. injectionem
t 23»/^ Std.
p. injectionem
t 19 Std. p.
injectionem
t^ 23 Std. p.
injectionem
t 25*/, Std.
p. injectionem
im Anschluß an Strep-
tococcusinjektion noch-
mals 6 ccm l-i)roz.
Nukleinsäure injiziert
akute allg. Sepsis
lebte 4V, Std. länger
als d. KontroUtier
akute allg. Sepsis
desgL
desgl.
1) 7 ccm 1
proz. Lösung Vorbehandlung
subk. 1. März
2) 10 ccm 1-
proz. Lösung
subk. 3. März
3) 12 ccm 1-
proz. Lösung
subk. 4. März
y^oofloftccm unter
derBuckenhaut
injiziert
t 17 Std. p.Temp. 38,6« Worder
injectionem > L. i. Blute 15200/ In jekt.
L.i. Blute 152007V, Std.
n. der 2. Ns.-InjeKtion
Temp. 39,0*» l^' ?^-
L.i.fiute27500J°j3ji^;
Vkmkk» eines Ku-
Dikcentimeters
unter d.Rücken-
haut
t 26V, Std
p. injectionem
akute allg. Sepsis
Es wurde hier Vioooo ^^® Viooooo ^^^ einer Originalkultur einem
Kaninchen unter die Ilückenhaut injiziert. Bei jedem Versuche wurde
stets ein Kontrolltier benutzt, da der Streptococcus bekanntlich leicht und
schnell seine Virulenz ändert. Einmalige und mehrmalige Vorbehandlung
mit Nukleinsäure übte in allen Fällen keinen EinfluE auf die tödliche
Infektion aus. Sowohl vorbehandelte als auch Kontrolltiere starben inner-
halb 14 — 26 Y2 Stunden unter den Erscheinungen einer akuten allgemeinen
Sepsis. Aus dem Herzblute wuchsen reichliche Kolonien von Strepto-
kokken in Eeinkultur. Einmal trat scheinbare Verlängerung des Lebens
bei dem vorbehandelten Tiere um einige Stunden auf, ein anderes Mal
750 H. Miyake,
dagegen wurde gerade das Gegenteil gefunden, so daß wir keinen Grund
haben, dem Mittel eine Wirksamkeit zuzusprechen.
Aus diesen Versuchen läßt sich schließen, daß die durch Nuklein-
säure erzeugte Hyperleukocytose nicht im stände ist, gegen hoch-
virulente Bakterien zu wirken.
Unter 5 Kaninchen, die vorbehandelt waren, blieb nur eins fast gänz-
lich von den Folgen der Impfung verschont. An diesen Kaninchen wurde
im Injektionsbereich leichte Rötung sowie starke Erweiterung und Püllung
der zentralwärts gelegenen GeiUße ohne Temperaturerhöhung beobachtet
Die 4 übrigen Tiere bekamen eine ganz unbedeutende lymphatische Rötung
zentralwärts von der Injektionsstelle unter leichter Temperaturerhöhung,
deren Dauer sich höchstens auf 2 Tage erstreckte. Während sich an vor-
behandelten Tieren der Impfverlauf so leicht gestaltete, litten 2 Kontroll-
tiere dagegen unter beträchtlichem Fieber an einem charakteristischen
Impferysipelas, welches sich nach 4- bis 6-tägigem Bestände bis zur
Nackenhaut verbreitete.
Nach diesen Experimenten scheint es, daß die Nukleinsäure durch
Femwirkung auf die Leukocytencentra die erysipelatöse Affektion bis
zu einem gewissen Grade zu unterdrücken imstande gewesen ist.
Wie erwähnt, wird voraussichtlich die Schutzkraft der Hyperleuko-
cytose durch Nukleinsäure gegenüber hochvirulenten Bakterien
nicht sehr evident sein. In der größten Mehrzahl der vorbehandelten
Fälle konnten wir dementsprechend, einerlei ob mit konzentrierter oder
verdünnter Lösung, einen absoluten Schutz gegen die Lokalinfektion
mit Streptokokken nicht erreichen ; fast immer trat eine lymphangitisch®
oder erysipelatöse Affektion auf. Um aber die Wirkung gegen hoch-
virulente Bakterien noch exakter festzustellen, habe ich mit einem sehr
virulenten Streptococcus gearbeitet, welchen Herr Dr. Aronson gütigst
unserem hygienischen Institut zur Verfügung gestellt hatte, wofür ich
ihm meinen ergebensten Dank ausspreche. Dieser Streptococcus war
nach Aronson so hochvirulent, daß ein Millionstel Teil bis ein Hundert-
tausendstel Teil eines Kubikcentimeters von Bouillonkultur Mäuse
oder Kaninchen durch subkutane Injektion innerhalb 24—48 Stunden
sicher tötete.
2. Versuche gegen Staphylococcus aureus.
Obschon ich mit verschiedenen Stämmen von Aureus sowohl auf
intravenösem als auch subkutanem Wege an einigen Kaninchen Ver-
suche angestellt habe, konnte ich leider keine zuverlässigen Resultate
erhalten. Durch intravenöse Injektion von Aureus nach subkutaner
Vorbehandlung konnten wir manchmal die Tiere am Leben erhalten,
während das Kontrolltier starb; nach weiterer Wiederholung der Ver-
suche ergab sich aber gerade das Gegenteil. Ferner war es unangenehm,
daß wir über keinen stark virulenten Stamm verfügten ; alle Tiere lebten
Steigerung der Widerstandsfähigkeit der Gewebe gegen Infektion. 751
7 — 12 Tage lang, bis sie schließlich starben. Es ist wohl denkbar, daß
die Tiere auch ohne Vorbehandlung am Leben bleiben, wenn es sich
um Infektion mit solchen schwachvirulenten Stämmen handelt.
Des weiteren habe ich Versuche mit subkutaner und intramusku-
lärer Injektion mit Staphylococcus aureus gemacht, um die Wirkung
des Mittels gegenüber dem lokalen Absceß zu studieren, kam jedoch
auch hier zu negativem Resultate, vielleicht schon deshalb, weil ich eine
zu große Dosis von Kultur einspritzen mußte, um eine genügende
Reaktion zu erzielen.
Zum Schluß möchte ich noch erwähnen, daß Herr Geh.-Rat
V. Mikulicz bereits ausgedehnten Gebrauch von meiner Lösung an
den Patienten der Klinik gemacht hat. Es werden jetzt bei erwach-
senen Individuen in der Regel 50 ccm einer 2-proz. neutralisierten
Lösung, also 1 g Hefenukleinsäure unter die Brusthaut injiziert; von
2 Patienten wurden sogar 2 g Nukleinsäure ohne merkliche Störung
vertragen. Obwohl 0,5-proz. Lösung am meisten zu empfehlen ist,
können wir dieselbe oft am Menschen nicht verwerten, da wir zur In-
jektion von 1 g Nukleinsäure ein ziemlich großes Quantum Flüssigkeit
(200 ccm) nehmen müssen. Die Zahl der bis jetzt injizierten Patienten,
welche an verschiedenen Affektionen litten, beläuft sich auf 34 ^). Ueber
die Einzelheiten der Wirkung, Nebenwirkung, sowie über den Leuko-
cytenwert beim Menschen werden Herr Greh.-Rat v. Mikulicz *) und Herr
Dr. Renner selbst an anderer Stelle ausfQhrlich berichten. Nur so viel
darf ich schon hier bemerken, daß sich aus der subkutanen Anwen-
dung der neutralisierten Nukleinsäure beim Menschen bisher keine
Nachteile ergeben haben und daß Herr Geheimrat v. Mikulicz den
Eindruck hat, daß die Operierten gegen die Gefahr der Infektion
von selten des Magendarmkanals dadurch wesentlich gesichert werden.
Literatur.
1) Metschnikoff, Immunität bei Infektionskrankheiten. 1902.
2) Ppbippbr, Zeitschr. f. Hyg., Bd. 18, 1894, p. 1.
5) Büchner, Münchener med. Wochenschr., 1894, No. 37, p. 717.
4) Hahn, Archiv f. Hyg., Bd. 28, 1897, p. 312.
6) Pawlowskv, Centralbl. f. Bakt, Bd. 16, 1894, p. 193.
6) LoBWY u. RiGHTBR, Dtsch. med. Wochenschr., 1895.
7) Jacob, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 30, Heft 5 u. 6.
1) Die Zahl ist inzwischen auf 106 gestiegen.
2) Vergl. den Vortrag von v. Mikulicz auf dem Ghirurgenkongreß
1904. Arch. f. klin. Chirurgie, Bd. 73, S. 347.
752 H. Miyake, Steigerung der Widerstandsfkhigkeit etc.
8) IssABPP, Zeitschr. f. Hyg., Bd. 16, 1894, p. 287.
9) Landbreb, Dtsch. med. Wochenschr., März 1898.
10) MouRECK, Wiener med. Wochenschr., 35 u. 36. Ref. in Baumoartbns
Jahresber., 1893, p. 781.
11) Maxon KiKO, Medic. news, May 22, 1898. Ref. in Virchows JaLresber.,
1898, p. 290.
12) Marcsl IiABBfi, Presse m^dicale, 1903, No. 57.
13) Tavbl u. Lakz, üeber die Aetiologie der Peritonitis. Monographie,
1893.
14) Barbacci, Schnitzleb, zitiert in dem Sammelreferat von Max v. Brunk.
15) Tavbl, KorrespondenzbL f. Schweizer Aerzte, 397.
16) Escherich n. Pfaundler, Kolle a. Wassbrmanns Handbuch, Bd. 2,
p. 440.
17) Frabnkbl, A., Wiener klin. Wochenschr., No. 13 — 16, 1891.
18) ZiEGLBB, Stadien über die intestinale Form der Peritonitis. München,
1893.
19) Flexnbr, zitiert von Max von Brunn.
20) Bbunneb, C, Bbuns' Beiträge, Bd. 40, 1903.
21) Bbunn, Max von, Centralbl. f. allg. Pathol. u. pathol. Anat., Bd. 12, 1901.
22) SoLiBBi, S., Zieglebs Beiträge, Bd. 31, 1902.
23) BucHNEB, Münchener med. Wochenschr., 1890, p. 1894.
24) Ppeifpbb u. Issabpp, Zeitschr. f. Hyg., Bd. 17, 1894, p. 356.
Aus der medizinischen Universitätsklinik in Königsberg
(Direktor: Geh.-Rat Prof. Lichtheim).
Nachdruck verboten.
XXVIIL
Zur Kenntnis des Bantischen Symptom-
komplexes.
Von
Dr. J. Lossen,
froherem Assistenten der Klinik,
jetzt Assistenzarzt der medizinischen Universitätsklinik zu Straßburg.
Seit der Florentiner Anatom Banti(4— 8) eine Anzahl Fälle be-
schrieb, in welchen sich zu einem schon lange bestehenden Milztumor
mit anämischer Blutbeschaffenheit die Erscheinungen einer Lebercirrhose
gesellten, und auf Grund dieser Beobachtungen ein neues Krankheitsbild
aufstellte, hat sich das allgemeine Interesse wieder in erhöhtem Maße
den unter dem Namen der Anaemia splenica oder Splenomegalia pri-
mitiva zusammengefaßten Zuständen und ihren Komplikationen mit Ver-
änderungen in anderen Organen zugewandt Alsbald wurden vornehmlich
in Italien den BANTischen Beobachtungen ähnliche Fälle als Morbus
Banti beschrieben [Benvenüti (10), Maragliano (42), Rinaldi (51),
Leonani (39), Galvagni (31), Casarini (19), Cavazzani (20—22),
BONARDI (13) u. a.].
In Deutschland hingegen, wo besonders Senator (54) die Aufinerk-
samkeit auf die Arbeiten Bantis lenkte, bezweifelten die meisten Autoren
die Richtigkeit der Deutung, die Banti seinen Befunden gab, und er-
blickten in dem von ihm geschilderten Symptomkomplex nicht eine ein-
heitliche, selbständige Krankheit, sondern nur eigentümliche Verlaufs-
weisen verschiedenartiger Erkrankungen.
Einerseits sah man in den den BANTischen Befunden entsprechenden
Fällen nur eine primäre Lebercirrhose mit ungewöhnlich großem Milz-
tumor, andererseits führte man die Leber- und Milzveränderungen auf
eine gemeinsame Ursache zurück. Diese kann verschiedener Natur sein ;
für einige Fälle wurde Lues hereditatia beschuldigt [Marchand (43),
Chiari (23)].
Das Interesse an diesem Gegenstand wird noch dadurch gesteigert,
daß die Frage nach der nosologischen Stellung des BANTischen Symptom-
754 J. Lossen,
komplexes nicht nur eine theoretische Bedeutung, sondern auch einen
gewissen praktischen Wert besitzt, da Banti die einzige wirksame
Therapie gegen die von ihm beschriebene Krankheit in der frühzeitig
auszuführenden Splenektomie erblickt.
Daher erscheint es gerechtfertigt, genau beobachtete Fälle, die in
dieses Gebiet gehören, besonders solche, bei denen die chirurgische
Therapie eingeschlagen wurde oder eine anatomische Eontrolle möglich
war, mitzuteilen. Denn sowohl die Frage nach der anatomischen
Grundlage dieser Prozesse als die nach der Prognose der chirurgischen
und der konservativen Behandlung kann nur auf Grund eines großen
Materials gelöst werden. Von diesem Gesichtspunkte aus erfolgt die
Veröffentlichung eines in der Königsberger medizinischen Klinik be-
obachteten Falles, bei dem besonders die hochgradigen Veränderungen
an den abdominalen Venen, die Banti zu den Gardinalsymptomen des
von ihm aufgestellten Krankheitsbildes rechnete, die aber in der Lite-
ratur nur wenig Beachtung fanden, Interesse beanspruchen.
Emilie Sz., 24 J., Eigenkäthnerstochter, aufgenommen 4. Nov. 1902,
gestorben 30. März 1903.
Anamnese: Die Eltern und 8 Geschwister leben und sind gesund.
6 Geschwister — und zwar die ältesten — starben in früher Kindheit, eins
davon mit 4 Jahren an Typhus, die anderen angeblich in den ersten
Lebenswochen an „Schwäche".
Von Kinderkrankheiten weiß Pat. nichts anzugeben. Mit 16 J. machte
sie einen Unterleibstyphus, mit 20 J. eine schmerzhafte, nicht fieberhafte,
multiple Gelenkaffektion durch. Seit der letzteren Erkrankung will sie oft
an Herzklopfen, besonders nach starken Anstrengungen, leiden.
Im Alter von 12 Jahren stellte sich bei dem damals sehr schwäch-
lichen Mädchen, nachdem es wegen allgemeinen Unwohlseins, Schwäche-
gefühl und Herzklopfen 2 Tage zu Bett gelegen hatte, eine starke Blutung
aus dem Munde ein. Es wurde ca. 1 1 schwarzroten geronnenen Blutes
entleert. Ob diese Massen ausgehustet oder ausgebrochen wurden, kann
Pat. nicht angeben. Sie litt zu dieser Zeit weder an Husten noch an
Magenbeschwerden. Schon damals soll das Abdomen auffallend stark ge-
wesen sein.
Seit 5 — 6 Jahren leidet Pat. an Schmerzen im ganzen Bauche, die
beständig vorhanden sind, bei Bewegungen aber zunehmen. Seit etwa der-
selben Zeit bemerkte sie eine große harte Masse in der linken Bauch-
hälfte und der Nabelgegend, welche auf Druck sehr empfindlich ist.
Während der letzten Jahre treten anfallsweise, in letzter Zeit fast
täglich, meistens nach dem Essen, Schmerzen in der Magengegend auf, die
ca. 1 Stunde anhalten. Erbrechen erfolgt fast nie.
Schon in der Kindheit klagte Pat. oft über Brustschmerzen und Atem-
beschwerden bei körperlichen Anstrengungen, die in den letzten 2 — 3 Jahren
häufiger und stärker wurden und auch in der Ruhe auftreten, ^e
wurden bald r. bald 1. empfunden. Auch die Atembeschwerden haben zu-
genommen.
Seit ca. 1 Jahr leidet sie auch an Husten mit angeblich reichlichem
Auswurf. Vor einigen V^ochen stellten sich Heiserkeit und Schmerzen im
Halse ein.
Zur Kenntnis des BAimschen Symptomkomplexes. 755
Auch Kopfschmerzen und Schmerzen in den Augen mit Lichtscheu
sind in den letzten 2 — 3 Jahren häufig aufgetreten, auch klagt sie seit
derselben Zeit über ein häufiges Krampfgefühl in beiden Beinen. Die
Füsse sollen mitunter anschwellen und im Liegen wieder dünner werden.
Seit 4 Jahren tritt mitunter eine völlige Anurie für einen Tag ein^
ohne daß danach die Hammenge wesentlich zunimmt.
Die Menstruation ist bisher nie aufgetreten.
Status praesens. Mittelgroßes Mädchen von kräftigem Knochen-
bau, gut entwickelter Muskulatur und reichlichem Fettpolster.
Haut und Schleimhäute blaß. Keine Exantheme. Geringes Knöchel-
ödem. Keine Drüsenschwellungen. Zunge feucht, etwas geschwellt mit
geringem grauweißem Belag. Rachenorgane o. B. Bachenreflex vorhanden.
Pupillen ziemlich weit, gleich, auf Licht gut reagierend.
Thorax breit, gut gewölbt. Atmung oft unregelmäßig und beschleu-
nigt; symmetrisch. — Untere Lungengrenzen: r. Maml.: unt. Rand d.
VL C; 1. Parast: ob. Rand d. IV. C; r. mittl. Axill. : VIL L-R.; 1. mittl.
Axill. : unt. Rand der VIL C; Scapularlinie : bdst. X. proc. spin. dors.
Perkussion ergibt normalen Befund. Auskultation überall vesikulärea
Atmen, über den hinteren Lungenflächen etwas rauh und von spärlichen
grobblasigen Rasselgeräuschen begleitet.
Herz: Spitzenstoß im V. I.-R., ca. 1 Finger außerhalb der MamL
Relat. Dämpfung: oben HI C; r. zwischen Median- und r. Sternallinie; L
Mammillarlinie. Auskultation: Ueberall lautes systol. Geräusch. Keine
Accentuation des IL Tones. — Puls von mittlerer Größe, Füllung und Span-
nung, bdst. gleich; regelmäßig 72 p. Min.
Abdomen: In toto mäßig aufgetrieben, 1. etwas mehr als r. In der
1. Bauchhälfte eine große, Zungen förmige Resistenz, welche
nach unten ca. 2 Finger unter die Nabelhorizontale, median-
wärts bis zur Mittellinie reicht. Nach oben setzt sie sich unter
den Rippenbogen fort, lateralwärts reicht sie bis in die Regio lumbalis, wo
man den hinteren Rand 1 — 2 Fingerbreiten von der Skapularlinie entfernt
fühlen kann. — Diese Resistenz, die bei tiefer Inspiration nur wenig tiefer
tritt, ist von derber Konsistenz, hat eine ziemlich glatte Oberfläche und
einen stumpfen Rand, an welchem sich keine deutlichen Incisuren erken-
nen lassen und ist auf Druck schmerzhaft Nach oben schließt sich an
diesen Tumor eine Dämpfung an der linken seitlichen Thoraxwand an, die
bis zur Vn. C. hinaufreicht
Der Rest des Abdomens gibt normale Perkussions- und Palpations-
verhältnisse. Die unterste Bauchregion ist auf Druck etwas empfindlich.
Die Leber ist nicht fühlbar, ihre Dämpfung endet in der Mam-
millarlinie 2 Finger oberhalb des Rippenbogens.
Harn rotgelb, trübe, alkalisch, 1023. Kein Albumen, kein Zucker;
Indikan nicht vermehrt.
Augenhintergrund: Papille beiderseits etwas blaß, sonst o. B.
Sputum rein schleimig, keine T — B.
B 1 u 1 1) Hb = 37 Proz. (Flbischl;, R = 3 367 000, W = 2470, W : R
= 1 1 363.
1) In den folgenden Blutanalysen bedeutet durchweg: Hb = Hämoglobin-
gehalt (nach Flbischl) R = rote Blutkörperchen ; W *= weiße Blutkörper-
chen; P = neutrophile Polynukleäre; E = eosinophile Polynukleäre;
k. L = kleine, g. L = große Lymphocyten ; g. Mo = große Mononukleäre
nebst den sogen. Uebergangsformen ; Mstz = Mastzellen; Myn = neutro-
phile Myelocyten; kh. R = kernhaltige rote Blutkörperchen.
/
756 J. Lossen,
Leukocyten P = 68,3; E = 3,7; k. L = 25; g. L = 5,6; gr.
Mo = 4,0; Mstz — 2,4; Myn — 1,0.
Aus der Krankengeschichte sei nur erwähnt, daß die Beschwerden
der Pat, die wohl vorwiegend auf Hysterie zurückzufflhren sind, haupt-
sächlich in Kopfschmerzen, Brennen in den Augen, Atembeschwerden und
Halsschmerzen bestanden. Hin und wieder wurde über Schmerzen in der
unteren Bauchregion und oft auch in der Gegend des Milztumors, der auf
Druck stets empfindlich war, geklagt Die Harnentleerung erfolgte oft
nur einmal am Tage, ohne daß Harndrang auftrat. Die Temperatur war
während des ganzen Aufenthaltes in der EJinik normal (36,0 — 37,3) Puls-
frequenz 76 — 100.
Am 5. Febr. stellte sich plötzlich eine äußerst frequente, krampfartige
Atmung (108 p. Min.) ein, während gleichzeitig das Bewußtsein stark be-
nommen wurde. Während der Nacht traten wiederholt Krämpfe in der
gesamten Körpermuskulatur von vorwiegend tonischem Charakter ein. Die
Pupillenreaktion ist dabei erhalten. Das Bewußtsein völlig geschwunden.
Während dieser Krampfanfklle, die im Laufe der Nacht und des folgen-
den Vormittages an Häufigkeit und Dauer noch zunahmen, war die Atmung
ganz oberflächlich und von normaler Frequenz. In den Zwischenzeiten
wieder stark beschleunigte A^ung. Auf starke Faradisation nur vorüber-
gehende Besserung. Während der folgenden Tage wiederholten sich die
Krampfanfklle, bei welchen Pat. oft stark um sich schlug, und die Atem-
beschleunigung noch mehrmals. Wiederholt Chloralhydrat, 2 — 3 g per
Klysma.
Die Untersuchung des Blutes wurde in Abständen von 3 — 4 Wochen
wiederholt und ergab folgende Resultate:
27. Nov. Hb == 38 Proz.; R = 3133000; W = 2400; W:R. =
1: 1305. -- P = 60; E = 3; kl. L = 37; g. L = 0; g. Mo = 0; Mstz =
O Proz.
15. Dez. Hb = 39 Proz.; R= 3087000; W = 1800; W:R. =
1:1715. — P = 36; E=.4; k. L = 56; g.L = 3; g. Mo — 2; Mstz —
O Proz.
18. Januar 1903. Hb = 43Proz.; R — 3800000; W = 2000;
W:R — 1:1900. — P = 56,4; E = 6,8; k. L — 35,6: g. L = 0,8;
g. Mo = 0; Mstz = 0,4 Proz.
4. Febr. Hb = 46 Proz.; R = 3975333; W = 1850; W:R.
— 1:2149. — P = 35; E — 10; k. L = 54; g. L = 0; g. Mo = 0;
Mstz = 1 Proz. Unter 200 W — 429800 R ein Normoblast
28. Febr. Hb = 40 Proz.; R = 3331000; W— 2000; W:R.
= 1 : 1666. — P =» 50; k. L = 32,3; g. L = 6,1 ; E = 7,6; g. Mo =
2,7; Mstz = 1 Proz.
8. März. W — 2200. — P = 52; E = 7,7; k. L — 30,7; g. L
= 2,3; g. Mo = 7,3; Mstz = 0 Proz.
13. März. R = 3850000; W = 2800, W:R = 1:1375.
Die Therapie bestand in 3 Monate lang fortgesetztem Qebrauch von
Liqu. Natr. arsenic. in steigenden und sinkenden Dosen von 0,25 — 0,9
pro die.
10. März. Verlegung nach der chirurgischen Klinik, wo in den fol-
genden Tagen noch zweimal hysterische Anfalle mit tonischen Krämpfen
auftreten.
14. März wurde die Splenektomie von Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. OarrMs,
dem ich für die freundliche Ueberlassung des Operationsprotokolls und der
Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 757
chirurgischen Krankengeschichte meinen verbindlichsten Dank ausspreche,
ausgefElhrt.
Operation. Aethemarkose. 15 cm langer Schnitt 1. von der Mittel-
linie parallel dem Bectusrande, am Rippenbogen beginnend nach abwärts.
Stumpfes Auseinanderdrängen der Rectusfasem, Eröffnung des hinteren
Blattes der Bectusscheide und des Peritoneums. Sofort stellt sich die
sehr vergrößerte Milz mit ihrem unteren Pol ein. Es gelingt relativ leicht,
den unteren Milzpol vor die Wunde zu luxieren. Oberfläche der Milz
glatt; an der Kapsel fleckige, plaqueförmige Verdickungen (Perisplenitis
chronica). Um an den Milzhilus zu gelangen, wird der mediale Rand des
Organs aufgehoben, und die ganze Milz um ihre Längsachse nach auÜen
umgelegt. Dabei zeigen sich an ihrer Unterfläche deutlich
große Gefäßverzweigungen arterieller wie venöser Natur.
Es wird versucht den Milzstil mehr zentral freizulegen und zunächst die
Arterien zu unterbinden. Da jedoch die Venen am Hilus enorm
erweitert, vermehrt und mannigfach verästelt sind, dabei
äußerst dünnwandig, so kommt es bei diesen Manipula-
tionen wiederholt zu starken Blutungen. Infolge der noch
bestehenden arteriellen Zufuhr schwellen die Venen außerordentlich an
und entleeren beim Anreißen und Anschneiden jedesmal Blut im Strahl.
Die Blutstillung und weitere Freilegung der Hilusgefäße macht deshalb
die größte Schwierigkeit und veranlaßt des öfteren heftige Blutungen.
Endlich gelingt es, die gewaltigdKÜber daumendicke Milzarterie zu unter-
binden. Der Stumpf derselben wird in doppelter Nahtreihe durch Ein-
stülpen der Wand übernäht. Neue Schwierigkeiten stellen sich bei der
Ereilegung des oberen Milzpoles auf der Hinterfläche der Milz entgegen.
Dieselbe ist nämlich mit dem Magen und der unteren Fläche des Zwerch-
felles, flächenhaft verwachsen, und zudem mündet an dieser Stelle ein
ganzes Knäuel fingerdicker Venen aus der Milz aus. Durch
Anlegen langer Klemmen gelingt es, diese Venen ohne größere Blutungen
zu durchtrennen. Die Ellemmen können der Tiefe wegen nicht durch
Unterbindungen ersetzt werden, sondern bleiben liegen. Danach wird die
Milz auch mit ihrem oberen Pole herausluxiert und so in toto exstirpiert.
Toilette der Bauchhöhle. Kurz vor Schluß der Operation wird die Leber
zur Ansicht gebracht. Abgesehen von einer Verkleinerung des linken
Lappens, keine Besonderheiten, keine Cirrhose. Kein Ascites. Schluß
des oberen Drittels der Bauchwunde, Tamponade der übrigen Wundhöhle.
Die exstirpierte Milz stellt einen platten, keulenförmigen Tumor von 23 cm
Länge, 15 cm Breite und 5 — 6 cm Dicke dar. Gewicht 1 kg. Unregel-
mäßige Kapselverdickungen. Am unteren Pol an der medialen Kante deut-
liche Milzincisur. Aneurysma cii-soides der Milzarterie.
Am Abend des Operationstages 38,2® C. Während der folgenden
Tage entwickeln sich unter dauernden fieberhaften Temperaturen Er-
scheinungen einer subakuten Peritonitis und einer rechtsseitigen seropuru-
lenten Pleuritis.
80. März. Exitus letalis (16 Tage post operationem).
Während des Aufenthaltes in der chirurgischen Klinik wurden die
Untersuchungen des Blutes von uns weitergeführt, sie unterblieben nur
während der ersten 5 Tage nach der Operation in Rücksicht auf den
Zustand der Kranken. Die B.esultate sind in folgender Tabelle zusammen-
gestellt.
Uitua, &. d. OT«nzc«Uetaa d. MdUzfa u. Chlxwcl«. ZIIL Bd. 49
758
J. I
«ossen,
Dat
Hb
R
W
W^
1
WVR
M
P
h5
Mo
E
1
c
20.III.
23.III.
26.m.
2&m.
34«'/.
32»/.
35 «/o
31%
3062 500
2462500
2400000
2 450000
21000
41400
68100
49200
16100
27 900
34800
23500
4900
13 500
33 300
25 700
m9i
1/88,3
1/69
1/104,3
1/626
1/183,6
1/72,5
1/95,3
57,5
703
76,6
75,5
13,4
5,0
7,9
4,5
5,017,7 5,9
1,021^ 1,0
6,4 8,6 0,25
9,010,250^
0,25
0
0^5
0
0,25
0,25
Anmerkung. In dieser Tabelle bedeutet W die nach dem TnoMABchen Ver-
fahren ^ählten kernhaltigen Elemente. W^ die Zahl der Leukocyten, die durch
Subtraktion der im ge&bten Präparat ermittelten Menge der kernhaltigen Erythro-
cyten (kh. B.) erhalten wurde.
Autopsie den 14. März 1903. Obduzent: Prof. M. Askanazy.
Protokoll im Auszuge:
Kr&ftiger Körper, geringes Oedem. L. von der Mittellinie ein hand-
tellergroßer Defekt, in dessen Grunde eine Darmschlinge, einige Fett-
gewebslappen und ein Stück Netz neben einem Drainrohr liegen. Auf dem
Längsdurchschnitt durch die Bauchwand keine erweiterten Gefkße.
Bei der Eröffnung der Bauchhöhle entleert sich eine fein molkig ge-
trübte, helle Flüssigkeit (ca. 2 1). Die Trübung nimmt nach der Tiefe etwas
zu, und hier sind ein paar Fibrinflocken beigemischt, ohne daß die Flüssig-
keit rein eiterig erscheint. Rechts von der Mittellinie liegt der stark ge-
blähte Magen, dann das Netz, wie vermutet, an die Bauchwunde grenzend,
deren oberes Ende nicht durch Eingeweide gebildet wird, sondern den
innersten Bauchwandschichten, die fest mit dem Colon transversum ver-
wachsen sind, entspricht. Die Fettlappen in der Wunde erweisen sich
als Appendices epiploic. der Flexur. Bei deren Ablösimg findet sich ein
kirschkemgroßer abgekapselter, intraperitonealer Absceß zwischen den
verlöteten Darmschlingen. Ein zweiter Absceß wird unter dem Quercolon
gefunden. Bei weiterer Lösung der Darmschlingen werden weiter eiterig
gefUrbte Partieen bemerkbar. Auch zwischen dem Dünndarm und Meso-
colon transversum mehrere abgesackte eiterig fibrinöse Exsudate. Die
Leber ist nach oben gedrängt, die Stelle der operativ entfernten Milz
wird durch den Fundus des Magens und die Flezura lienal. eingenommen.
Zwerchfellstand 1: 3. L-R., r: 4. L-R.
In der r. Pleurahöhle dünneiterige, blaß zitronengelbe Flüssigkeit, oa.
900 cm, 1. Pleurahöhle leer. Im Mediastinum etwas Fettgewebe. Herz
liegt frei, Lungen retrahieren sich gut. Liquor pericard. von entsprechen-
der Menge, klar.
Herz wenig vergrößert. Epikard etwas sehnig trübe. In den Höhlen
viel flüssiges Blut. E. Ventrikel etwas diktiert, seine Muskulatiir blaß-
braun, schlaff. Muskulatur des 1. Ventrikels fest, hellbraun, diffus trübe^
1,4 cm dick. Papillarmuskel mit vereinzelten weißen Flecken. Ein ab-
normer Sehnenfaden zieht zum Septum. Aortenintima glatt, Aortenumfang
6 cm.
L. L u n g e : keine Verwachsungen, Pleura etwas trübe, aber spiegelnd.
Parenchym weich und knisternd, hellrotbraun, stark ödematös, besonders
im Ü.-L., nach dem Auspressen schlaff. — R. Lunge im U.-L. weniger volu-
minös, ganze Pleura mit Fibrin beschlagen. % des U.-L. atelektatisch,
vrom O.-L. unterer Rand luftleer, das übrige lufthaltig. Parenchym blaß,
im O.-L. etwas feucht.
Abdomen. L.vom Magen und am Fundus fühlt man eine
Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 759
anscheinend, dem Zwerchfell unmittelbar angelagerte
Besistenz, die mit konvexer Fläche in die linke Pleura
ragt, median bis an die Aorta thorac. und nach abwärts
bis zum Darmbein reicht. Beim Abtrennen des Ligam.
gastrocol. erweisen sich die stark erweiterten Venen mit
einer in eiteriger Einschmelzung begriffenen Thrombus-
masse erfüllt. Ebenso sind die Venen des Mesocolon transv.
und des Mesocolon descend. bis zum Beginn der Flexur
dilatiert, geschlängelt und mit Thromben erfüllt. Die
Venenthrombose setzt sich vom Mesocolon transv. auch
auf die Ven. coron. fort, so daß man geschlängelte und
thrombosierte Venen über die große Kurvatur auf die
vordere Magenwand subserös verfolgen kann.
An der hinteren Bauchwand ziehen auch erweiterte Venen als prall
elastische Körper nach links auf die untere Fläche der erwähnten Besistenz
hin, zum Teil thrombosiert, zum Teil mit flüssigem Blut erfüllt Die 1. Niere
liegt zum Teil hinter dem unteren Abschnitt dieser Besistenz. Die letztere
ist nach unten durch eine glatte Fläche, die sich im ganzen der Nieren-
oberfläche anpaßt, abgegrenzt. Auf einem Querschnitt durch die erwähnte
Besistenz zeigt sich im Anschluß an den peritonealen Ueberzug ein Fett-
gewebe, in welches die Venen eingeschlossen sind. In einem Gefäß
ein älterer, bereits grauroter, bröckeliger Thrombus, der
schon fest mit der Gefäßwand verbunden ist. Auf einem
weiteren Schnitt zeigt sich der 97, cm im Längs-, 12 im
Quer- und 11 im Sagi ttaldurchmesser messende Tumor von
11 derartig dilatierten Venenlumina eingenommen. Er ist
also ein Komplex von mächtigen Varicen.
L. Niere 15: 6^9: 4 cm. Kapsel haftet etwas fester, Oberfläche
glatt, graurot. Parenchym blaß. Unter der 1. Niere im Fettgewebe bis
walnußgroße Varicen, die mit dem varikösen Tumor unter dem Zwerch-
fell in Verbindung stehen. L. Nebenniere hinter dem verdichteten Zell-
gewebe, das die Vorderfläche des Tumors überzieht. Sie ist groß; Gewebe
blaß; Binde wenig fettreich. — K Niere leicht aus der Kapsel zu lösen,
leicht vergrößert, etwas weich, Oberfläche zeigt embryonale Lappung, sonst
glatt. Querschnitt blaß, Nierenbeckenschleimhaut anämisch. B. Neben-
niere entsprechend groß. Binde und Mark gut entwickelt.
In den Gallenwegen galliger Inhalt, Schleimhaut zart. Zellgewebe
im Umfange der Pfortader verdichtet Pfortaderstamm ca. 1 cm
thrombosiert und dilatiert Intima sehnig weiß verdickt,
zeigt narbenähnliche Leisten. In einem großen Pfortader-
ast mehrere verkalkte Platten. Im Bereich des Leberhilus ist die
Pfortader frei. Das Mesenterium des Dünndarms ist von
Thrombosen frei. Die Venenwände sind nicht glatt, son-
dern zeigen kleine, leistenförmige, sehnig weiße Ver-
dickungen der Intima.
In der Vena cava flüssiges Blut an der Einmündung der 1. Viena
renalis ein bröckeliger Thrombus, der sich in diese hinein fortsetzt, aber
nicht bis zum Hilus reicht. B. Vena renalis frei.
Leber. Gewicht 1390 g, an der Oberfläche fibrinöse Auflagerung,
darunter die Serosa mäßig verdickt, glatt. Peritonealer Ueberzug der
Gallenblase auch verdickt. B. Leberlappen 19 cm lang, 12 hoch, 13 dick.
L. Leberlappen ISy^ <^°^ ^^^S» Konsistenz normal, beim Einschneiden kein
Knirschen. Parenchym hellbraun mit ausgesprochener Läppchenzeichnung ;
49*
760 J. Lossen,
in den oberen Partien des r. Leberlappens weiße Streifchen. Die vom
Hilus eintretenden Gefl&ße zeigen etwas indariertes Zellgewebe. Im Lig.
teres sind ein paar kleine Kanäle zu erkennen.
Im Magen schwärzlich-brauner Inhalt von saaerem Oeruch, Schleim-
haut überall zart mammilloniert. Im Duodenum bräunlicher Inhalt, auf
der Schleimhaut bräunliche Kömchen. Im ganzen Dünndarm galliger In-
halt, Schleimhaut des Darmes blaß, am Dickdarm kleine flache Substanz-
defekte mit rosigem Grunde. Mastdarmschl^imhaut blaß.
Blase klein, kontrahiert; Schleimhaut hell rosa; Ureteren frei.
Uterus klein; ausgesprochene Plicae palmatae und einzelne Ovula
Nabothi. Ovarien groß, Oberfläche kömig, Parenchym blaß, Fimbrien
ödematös.
Auf der Rachenschleimhaut reichlich schleimiges Sekret, im Oeso-
phagus schwarze Ejrttmel. — Trachea: Schleimhaut blaß rosa. — Schilddrüse
sehr blaß, hell bräunlich, kömig. — Jugularvenen zart.
Schädeldach derb. Diploö reichlich, blaß-rosa. Dura ziemlich stark
gespannt, Innenfläche glatt. Weiche Hirnhäute mäßig gerötet. Basale
Himarterien zart. In den Seitenventrikeln etwas klare Flüssigkeit. Ependym
etwas dick und glatt Zirbeldrüse groß. Himsubstanz von guter Kon-
sistenz, feucht, läßt zahlreiche Blutpünktchen austreten. Basale Ganglien
blaß. Auf dem Durchschnitt durch den Himstamm oberhalb der linken
Olive eine Gruppe von stecknadelkopfgroßen Hämorrhagien.
Anatomische Diagnose: (Milz exstirpiert) Phlebosklerose der
Vena lienal. und portarum, der VV. mesenter. Ausgedehnte Varicenbildung
der W. coeliac mit zum Teil erweichten Thromben. Variköser Tumor in
der Milzgegend, subakute eitrig-fibrinöse Peritonitis. Pleuritis seropuru-
lenta dextra. Atelektase des r. unteren Lungenlappens. Erweichter Throm-
bus in der 1. Nierenvene. !6tat mammillion^ des Magens. Leichte Nekrosen
im Schwänze des Pankreas.
Mikroskopische Untersuchung: Die Organstücke wurden in
Sublimat-Kochsalzlösung öder in 10-proz. Formol fixiert und in Alkohol
bezw. Jodalkohol nachgehärtet, zum Teil in Paraffn, zum Teil in Celloidin
eingebettet und vorwiegeud mit Hämatoxylin-Eosin und nach van Gibsok
gefärbt Die Färbung des elastischen Gewebes geschah nach Wbigbbt^).
Milz: Die Kapsel ist ziemlich dick und besteht aus groben, sich kreu-
zenden Bindegewebszügen. Die Trabekel sind stark entwickelt, ihre feinere
Struktur bietet nichts Besonderes. An vak GiESON-Präparaten sieht man
schon bei schwacher Vergrößerung zahlreiche rote Streifen und fleckige
Partien in der Pulpa, die sich schon durch ihre weniger scharfe Begrenzung
und die in ihnen vorhandenen gelbbraunen Partien von den Trabekeln unter-
scheiden. Stärkere Vergrößerungen lassen in ihnen Züge von ziemlich
kemreichem Bindegewebe erkennen und dazwischen die gleichen Zellen,
die das übrige Pulpagewebe bilden. Das Bindegewebe ist kernreich; die
Kerne sind schwach gefärbt, meistens von unregelmäßigem Kontur.
Die Pulpa enthält reichlich rote Blutkörperchen; zahlreiche intensiv
gefärbte pyknotische Kerne, die denen der MALPiGHischen Körperchen
gleichen, sowie auch kleinere, noch intensiver gefärbte Kerne, wie die der
kleinen Lymphocytenformen des Blutes. Häufig sieht man nicht nur in
1) Herrn Prof. Dr. M. Askanazt in Königsberg und Herrn Prof. Dr.
M. B. Schmidt in Straßburg spreche ich für die freundliche Durchsicht der
Präparate meinen verbindlichsten Dank aus.
Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 761
den Kapillaren, sondern noch öfter in den Pnlpasträngen polynnkleäre
Zellen mit eosinophilen Granula. Auffallend sind zahlreiche große, meistens
ovale, oft etwas eingekerbte, helle, blftschenfbrmige Kerne. Sie sind sehr
wenig intensiv ge&rbt und enthalten spärliche, gut differenzierte Chromatin-
snbstanz. Sie bilden an vielen Stellen das Gros der Pulpazellen und
geben der Pulpa ein charakteristisches Aussehen. Besonders zahlreich
sind sie in der Umgebung der bindegewebigen Partien und haben Aehn-
lichkeit mit den zwischen den Bindegewebszügen liegenden Kernen. Doch
sind letztere länger, meist mehr spindelförmig und in ihren Konturen un-
regelmäßiger. Pigment fehlt in der Pulpa gänzlich.
Die venösen Kapillaren sind sehr zahlreich und ziemlich weit An
vielen Stelleu liegen sie so dicht aneinander, daß das Pulpagewebe auf
schmale Stränge zwischen ihnen beschränkt ist. Dadurch zeigt das ganze
Bild bei schwacher Vergrößerung einen netzartigen Bau. Die Kapillaren
haben meistens keine deutliche bindegewebige, nach van Gibson färbbare
Hülle, lassen sich aber doch meistens gut erkennen. Ihr Endothelbelag
' ist ziemlich vollkommen. Die langen schmalen Endothelkerne sind intensiv
^ gefärbt und springen stärker in das Lumen hinein vor als die der größeren
Gefäße. Nirgends aber zeigt sich eine Quellung der Endothelien. Der
Inhalt der Kapillaren besteht aus roten und weißen Blutkörperchen, unter
^ letzteren Mono- und Polynukleäre. Nur selten sieht man Zellen mit
großem, wenig gefärbtem Kern in ihnen. Die oben erwähnten charakte-
ristischen großkernigen Zellen der Pulpa finden sich in den Kapillarlumina
'" nicht. Auch in ihrer unmittelbaren Umgebung treten sie nicht besonders
'- zahlreich auf. Schmale, langgestreckte Bluträume, die als arterielle Ka-
pillaren zu betrachten sind, sind ziemlich spärlich.
•'■ Die MALPiGHischen Körperchen sind in mäßiger Menge, eher etwas
c spärlich vorhanden. Ihre Größe ist verschieden. Sie bestehen meistens
^ aus einer dunkleren Randzone und einem helleren, kernärmeren Zen-
trum. Die Zentralarterie ist in einigen von einer starken Bindegewebs-
schicht umgeben, auch sieht man bei van GiEsoN-Färbung in manchen
bindegewebige Streifen oder Pleoken. Oft läßt sich nachweisen, daß es
:^ Bindegewebe ist, welches kleine, innerhalb des Körperchens austretende
Arterienäste begleitet; an anderen Stellen scheinen die bindegewebigen
Partien nicht in Zusammenhang mit Gefäßen zu stehen. Eine eigentliche
Sklerosierung oder überhaupt eine difFuse Bindegewebswucherung im
^ Zentrum der Follikel, wie sie Banti, Cavazzani u. a. beschreiben, ist
i' nirgends vorhanden. Die die MALPiOHischen Körperchen bildenden Zellen
f haben i-unde Kerne von annähernd gleicher Größe, die sich mit Häma-
toxylin intensiv färben und keine feinere Struktur erkennen lassen.
: Die unmittelbar nach der operativen Entfernung der Milz angefertigten
i Abstrichpräparato wurden zum Teil mit Hämatoxylin-Eosin, zum Teil
r. mit dem JsNNERschen Methylenblau-Eosingemisch^) gefärbt. Sie zeigen
r sehr reichlich rote Blutkörperchen, darunter nur ganz vereinzelte kern-
haltige (Normoblasten). Unter den farblosen Elementen tiberwiegen bei
weitem die einkernigen Formen. Neben relativ spärlichen kleinen Lympho-
cyten größere mit runden oder ovalen Kernen und einem Protoplasmasaum,
der sich in den JENNBR-Präparaten stärker blau färbt als der Kern.
Zellformen, die den im Schnittpräparat so zahlreichen großen ovalen Kernen
1) L. Jbnnbr, Lancet 1899, I, p. 370. — Kurpjuwbit, Dtsch. Arch.
f. klin. Med., Bd. 77, 1903, p. 669.
762 J. Lossen,
entsprechen, konnten wir nicht nachweisen. Die polynukleären Zellen
sind viel spärlicher, unter ihnen auffallend viel Eosinophile; etwa jedes
2. bis 3. Gesichtsfeld enthält eine eosinophile Zelle. Die übrigen poly-
nukleären Zellen sind auch im JsNKBR-Präparat fast sämtlich frei von
Granula. Nächst dem Reichtum an eosinophilen Zellen fällt das reich-
liche Vorkommen von Mastzellen auf. Einkernige granulierte Zellen fehlen
vollständig. Einzelne große, anscheinend mononukleäre Zellen enthalten
Erythrocyten oder Bruchstücke von solchen.
Leber: Keine Vermehrung des interacinösen Binde-
gewebes. In der OLissoNsehen Kapsel sieht man reichlich Gallengänge.
Die Kapillaren zwischen den Leberzellenbalken sind ziemlich weit, sie
enthalten rote Blutkörperchen und aufiPallend viel kernhaltige Zellen.
Letztere bestehen aus Lymphocyten und polynukleären Leukocyten sowie
ziemlich zahlreichen kernhaltigen Erythrocyten. (Man erinnere sich der
starken Hyperleukocytose und der Blutkrise in den letzten Tagen vor
dem Tode.) Außerdem sieht man vorwiegend in den peripheren Teilen
der Kapillarlumina große runde, ovale oder auch etwas eingeschnürte und
gebogene, blasse Kerne mit spärlicher Chromatinsubstanz, die von mäßig
breitem Protoplasma, welches sich mit Eosin weniger intensiv färbt als
das der Leberzellen, umgeben sind. Dicht am Bande der Leberzellen-
balken findet man hin und wieder lang gestreckte schmale, meist sichel-
förmig gekrümmte intensiv gefärbte Kerne.
Die Gefäß Veränderungen wurden hauptsächlich an den Mesenterial venen
untersucht. Es fand sich eine ungleichmäßige, an einzelnen Stellen sehr be-
trächtliche Verdickung der Litima und in dieser eine auffallend starke Ent-
wickelung der elastischen Fasern, welche nicht wie in der normalen Gefäß-
wand zu parallel verlaufenden Bündeln oder Lamellen angeordnet sind,
sondern unregelmäßige charakterlose Netze bilden. Das Bindegewebe der Li-
tima ist ziemlich kernarm ; nirgends finden wir eine zellige Infiltration. An
den verdickten Stellen mißt die Intima bis zu 250 — 340 ft gegen etwa 70
bis 80 an normalen Partien. An einzelnen Stellen ist die Grenze zwischen
Intima und Media verschwommen. Letztere zeigt keine Verdickung und
keinerlei Abnormitäten. Die begleitenden Arterien zeigen nichts Abnormes.
Vom Knochenmark (Stemum und Rippen), welches makroskopisch
eine bräunlichrote Farbe zeigte, wurden Abstrichpräparate gemacht, die
ein normales Bild zeigen. Sie enthalten zahlreiche kernhaltige Erythro-
cyten, alle mit kleinem, meist rundem, mitunter aber auch eingeschnürtem
oder rosettenförmigem, pyknotischem Kern; keine Megaloblasten. Unter
den farblosen Zellen zahlreiche neutrophile und in geringerer Menge
eosinophile Myelocyten, sowie reichliche einkernige nichtgranulierte Zellen.
Die Krankengeschichte unserer Patientin wird durch die mannig-
fachen hysterischen Beschwerden, die wir als für das in Rede stehende
Leiden nicht in Betracht kommend sogleich ausscheiden, kompliziert
Dahin gehören außer den Krampfanfällen die Heiserkeit, die zeitweise
Anurie und die mannigfachen, sicher nicht organisch bedingten Be-
schwerden.
Die klinische Untersuchung ergab im wesentlichen nur einen großen
Milztumor und die Zeichen beträchtlicher Anämie.
Eine maligne Neubildung der Milz ließ sich bei dem langen Be-
stehen des Tumors und dem günstigen Ernährungszustand ausschließen.
Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 763
Für eine Leukämie fehlte der entsprechende Blutbefund, für eine Pseudo-
leukämie jede Vergrößerung der Lymphdrüsen. Malaria war nicht
vorausgegangen. Zur Annahme einer Lebercirrhose berechtigte nichts im
Krankheitsbilde. Es fehlten alle Zeichen einer Stauung im Pfortader-
gebiet, sowie jede Spur von Ikterus ; die Leber war von normaler Größe.
Da die Behandlung mit Arsenik keinen wesentlichen Erfolg er-
zielte, glaubten wir der Patientin die operative Entfernung der Milz,
die sie selbst dringend wünschte, anraten zu müssen. Wir stützten
uns dabei auf die Erfahrungen von Harris und Herzog (33), Bessel-
Hagen (11), Banti (4—8), v. Mikulicz-Kausch (37) u. a., die durch
die Splenektomie gute Erfolge erzielten. Die Unterscheidung zwischen
einer einfachen Anaemia splenica und dem ersten Stadium des Morbus
Banti, die unseres Erachtens nicht möglich ist, hatte für die Frage der
Operation keine wesentliche Bedeutung; denn in beiden Fällen hat
man die Splenektomie mit Erfolg ausgeführt.
Die Operation stieß auf ganz unerwartete Schwierigkeiten infolge
der enormen Entwicklung der venösen Gefäße der Milz und die große
Brüchigkeit ihrer Wandungen: Verhältnisse, welche an die bei leuk-
ämischen Milzen erinnern, deren Entfernung fast stets durch unstillbare
Blutungen tödlich verläuft. — Wir müssen den ungünstigen Ausgang
auf die Schwierigkeit der Blutstillung wenigstens indirekt zurückführen,
indem dadurch die Dauer der Operation außerordentlich verlängert und
die Gefahr einer Infektion erhöht wurde.
Eine sehr starke Entwickelung und leichte Zerreißlichkeit der venösen
Gefäße beobachteten auch Harris und Herzog (33), sowie Bessel-
Hagen (11). Diese Verhältnisse sind für die Prognose der Splenek-
tomie von Interesse, da man mit der durch sie bedingten Erschwe-
rung der Operation rechnen muß. Hochgradige Dilatation und Skle-
rose der Gefäße werden, wenn sich die Schwierigkeiten gleich nach
Eröffnung der Bauchhöhle übersehen lassen, unter Umständen sogar
ein Grund zur Unterlassung der Splenektomie werden. Im allge-
meinen gibt, wie die Zusammenstellungen von Bessel-Hagen (11),
Jordan (35) »und Bater (9) lehren, die Splenektomie bei Anaemia
splenica (Splenomegalia primitiva und Morbus Banti) eine relativ gute
Prognose. Bessel-Hagen fand nach Ausscheidung von leukämischen
und verletzten Milzen bei 164 in den Jahren 1891—1900 ausgeführten
Splenektomien 31 Todesfälle = 18,9 Proz.
Die Sektion unserer Patientin ergab als überraschendstes Resultat,
daß die Dilatation und Sklerose nicht nur die V. lienalis, sondern auch
die übrigen Pfortaderwurzeln betraf. Die Mesenterialvenen, die V. coro-
naria etc. waren stark dilatiert und geschlängelt und zum Teil throm-
bosiert. Hinter der Stelle der entfernten Milz fand sich ein großes
Konvolut von varikösen Venen. Es ließ sich nicht feststellen, welche
Venen sich außer der V. lienal. an seiner Bildung beteiligten. An der
764 J. Lossen,
Innenfläche der Venen des Pfortaderwurzelgebietes sowie der Ven.
portarum und ihrer Aeste fanden sich zahlreiche leistenfSrmige oder
plattenförmige Verdickungen, während die Wand im allgemeinen nicht
verdickt war.
Die Thromben erwiesen sich als verschieden alt. Die einen waren
intensiv rot, teilweise erweicht, und hafteten der Wand nur locker an,
so daß man ihre Entstehung im Anschluß an die postoperative Peritonitis
annehmen kann ; andere waren von grauroter Farbe, fest mit der Wand
verbunden, ließen also auf eine viel weiter zurückliegende Entstehung
schließen. — Die Komplikation mit den septischen Prozessen machte
das anatomische Bild natürlich sehr unübersichtlich und erschwerte die
Deutung sehr. So viel ist indessen sicher, daß hier seit langer Zeit
hochgradige Veränderungen der Pfortader, ihrer Aeste und Wurzeln
bestanden. — Die Thrombose in der linken Nierenvene, deren Wand
sich als intakt erwies, ist jedenfalls frisch entstanden.
In der Literatur finden wir in einer Anzahl von Fällen ähnliche
Afifektionen der Venenwand bei Thrombosen im Pfortadergebiet. Aus-
führliche Zusammenstellungen haben Borrmann (15) und Saxer (53)
gegeben. Während die älteren Autoren die Veränderung der Venen-
wand als Folge der Thrombosierung ansahen, ist Borrmann geneigt,
für eine Reihe von Fällen eine primäre sklerotische Endophlebitis der
Pfortader, mitunter auch der zu ihr gehörigen Venen, besonders der
V. lienalis und mesenter. als Ursache der Thrombosierung anzusprechen.
Die Aetiologie dieser Phlebitis ist nach Borrmann ebenso unklar wie
die des Atheroms der Aorta, doch hält er es für nicht unwahrschein-
lich, daß in vielen Fällen die Lues eine Rolle spielt.
Saxer (53) bezweifelt im Gegensatz dazu das Vorkommen einer pri-
mären Phlebitis im Pfortadergebiet als Ursache der Thrombosen. Er
wendet sich gegen die Ansicht Borrmanns mit den Worten: „Wollte
man wirklich eine Phlebosklerose (syphilitischen oder sonstigen Ur-
sprungs) als Ausgangspunkt der Thrombose der Pfortader ansprechen,
so müßte man doch notwendigerweise diesen Zustand in solchen Fällen
demonstrieren können, bei denen noch keine schwereren klinischen und
anatomischen Folgen der Behinderung des Pfortaderkreislaufs oder gar
des Verschlusses bestanden haben. ^
Wir glauben, daß unser Fall dieser Forderung Saxers genügt. Die
endophlebitischen Prozesse sind weit über die thrombosierten Venen-
strecken hinaus ausgedehnt. In den Mesenterialvenen z. B. finden wir
starke leistenförmige Verdickungen der Intima und keine Thromben. Wir
können also hier nicht in der Thrombose die direkte Ursache der Phlebitis
sehen. Ebenso erscheint es unzulässig, die Venenwanderkrankung als
Folge einer durch die Thrombose der Vena portarum oder ihrer Aeste
aufgetretenen Drucksteigerung im Pfortadergebiete aufzufassen, denn
die Thrombose des Pfortaderstammes ist keine obturierende, und es
Zur Kenntnis des BAKTischen Symptomkomplezes. 765
fehlen sowohl klinische wie anatomische Erscheinungen einer hoch-
gradigeren Stauung. Wir glauben also, daß es sich hier um eine pri-
märe sklerotische Affektion des Pfortaderstammes, seiner Aeste und
seiner Wurzeln, besonders der Ven. lienalis und mesenter. mit sekun*
därer Thrombenbildung handelt
Eine ähnliche Erklärung nimmt Budday (18) für zwei von ihm be-
obachtete Fälle von Thrombose des Pfortaderstammes und der Ven.
lienal. und mesent mit hochgradigen Veränderungen der Wand an.
Die Verdickung betraf dort zwar auch die Media und Adventitia,
doch fiberwog die Intima bedeutend, die mehr als die Hälfte des Ge-
samtquerschnittes der Gefäßwand einnahm. Neben bindegewebigen
Verdickungen fand Budday häufig Verkalkung. „An den intakteren Stellen
ließ sich eine große Menge neugebildeter feiner elastischer Fasern in
der Intima nachweisen.^ Der Prozeß ist in den BuDDAYschen Fällen
bedeutend weiter vorgeschritten, zeigt aber im ganzen viel Aehnlichkeit
mit den von uns gefundenen Veränderungen.
Großes Interesse beansprucht der Zusammenhang der GeAßaffektion
mit dem Milztumor. Bekanntlich hat Banti sklerotische Veränderungen
der Pfortader und ihrer Wurzeln zu den wesentlichen Erscheinungen
des von ihm aufgestellten Krankheitsbildes gezählt. Nach seiner Schil-
derung beschränken sich diese Prozesse im ersten Stadium auf die
Milzvene und den unterhalb der Einmündung derselben gelegenen Teil
der V. portarum. Hingegen fand er im ascitischen Stadium auch in
den übrigen Pfortaderwurzeln ausgedehnte sklerotische Veränderungen»
Letztere führt er auf eine Drucksteigerung im Pfortaderwurzelgebiet
infolge der Lebercirrhose zurück.
Diese Deutung erscheint uns gezwungen, weil sie einen Unterschied
zwischen den Veränderungen in der V. port. und lienalis und denen in
den übrigen Wurzeln der Pfortader macht, und diese Trennung lediglich
dadurch begründet wird, daß in den wenigen im ersten Stadium der
BANTischen Krankheit zur Autopsie gelangten Fällen die phlebitischen
Veränderungen auf die Milzvene und den Pfortaderstamm beschränkt
waren.
In unserem Falle finden wir in der Leber keinerlei Veränderungen
die eine Drucksteigerung und dadurch sklerotische Prozesse im Pfort-
aderwurzelgebiet verursachen könnten.
Andererseits ist eine Abhängigkeit der Venenveränderungen von der
Milzaffektion, wie sie Banti für die von ihm im primären Stadium
gefundenen sklerotischen Prozesse annimmt, hier nicht denkbar; denn
eine in der Milz entstehende toxische Substanz kann zwar die V. lienalis
und den Pfortaderstamm schädigen, nicht aber die übrigen Pfortader-
wurzeln, die hier ebenfalls befallen sind.
Die erwähnte Annahme Bantis hat neuerdings Albu (1), der geneigt
ist, in dem BANTischen Symptomkomplex eine eigentümliche Form der
766 J. Lossen.
Lebercirrhose zu sehen, als Stütze für diejenige Auffassung, welche den
primären Sitz dieser Krankheit in die Milz verlegt, herangezogen. Albü
glaubt, daß die Veränderungen an der V. lienalis und am Pfortaderstamm
den Weg bezeichnen, auf welchem die toxischen Substanzen beim Morbus
Banti und wahrscheinlich auch bei anderen Formen der Lebercirrhose
aus der Milz der Leber zugeführt werden. — Demgegenüber scheint
uns die Tatsache, daß bei nicht mit Lebercirrhose komplizierten Milz-
hypertrophien auch in den übrigen Pfortaderwurzeln sklerotische Pro-
zesse vorkommen, die nicht auf eine Drucksteigerung im Pfortader-
gebiet bezogen werden können, wie unser Fall lehrt, von Bedeutung.
Eine Abhängigkeit der Milzhyperplasie von der Venenerkrankung
erscheint uns unwahrscheinlich. Um eine Stauungsmilz mit sekundärer
Induration infolge der Thrombosen kann es sich bei dem Fehlen son-
stiger Stauungserscheinungen im Pfortadergebiet jedenfalls nicht handeln.
Außerdem sprechen auch die Größe des Milztumors und der mikro-
skopische Befund dagegen.
Eine dritte Möglichkeit ist die, daß sowohl der Milztumor wie die
Venenaffektion durch eine gemeinsame Ursache bedingt sind ; und diese
Deutung scheint uns die wahrscheinlichste zu sein. Wir glauben es
hier mit einem der Fälle von scheinbar idiopathischer Splenomegalie zu
tun zu haben, in welchen sich anatomisch noch andere Veränderungen
an den Abdominalorganen nachweisen lassen, die nicht von der Milz-
affektion abhängig, sondern ihr koordiniert sind. Eine solche Erklärung
haben Chiari und Marchand für die von ihnen beschriebenen Falle
gegeben, die klinisch das Bild der BANTischen Krankheit darboten, und,
wie die Autopsie lehrte, zum Teil sicher, zum Teil wahrscheinlich auf
Lues hereditaria tarda zu beziehen waren. Dort fanden sich von der
BANTischen Trias (Milztumor, Lebercirrhose und Phlebosklerose) die
beiden ersteren, in unserem Fall Milztnmor und Phlebosklerose.
Welcher Art die gemeinsame Ursache ist, bleibt in unserm, wie bei den
meisten Fällen unklar. In der Krankengeschichte finden wir keine An-
haltspunkte für Lues. Man müßte denn die Angabe, daß die ältesten
Geschwister in früher Kindheit gestorben sind, als ein Zeichen für here-
ditärluetische Belastung ansehen. Die Sektion förderte keine charakte-
ristischen syphilitischen Veränderungen zu Tage.
Im Vordergrunde des anatomischen Befundes steht neben den
endophlebitischen Prozessen der Milztumor. Nach den geschilderten
mikroskopischen Befunden ist die Vergrößerung des Organs teils auf
eine Hyperplasie der Pulpa, teils auf eine Zunahme des Bindegewebes
zurückzuführen. Wir finden eine fleckweise Vermehrung der binde-
gewebigen Substanz, welche nicht im Zusammenhang mit dem Trabe-
kularnetz steht. Dieser Befund stimmt bis zu gewissem Grade mit dem
von BoRissowA (Fall 1) erhobenen überein. Nur war der Prozeß dort
viel weiter vorgeschritten als in unserem Falle.
Zur Kenntnis des BAXTischen Symptomkomplexes. 767
Die Endothelauskleidung der sehr reichlichen venösen Kapillaren
ist gut erhalten, was wohl auf die sofortige Fixierung der Milzstückchen
nach der Operation zurückzuführen ist; nirgends aber finden sich
Quellungserscheinungen an den Endothelien, nirgends eine Auskleidung
der Kapillaren mit hohen epithelartigen Zellen, wie sie Banti sah,
noch eine Abstoßung von gequollenen Endothelien in das Lumen der
Kapillaren, wie sie Borissowa (14) und Harris und Herzog (33)
beschreiben.
Das Pulpagewebe ist reich an roten Blutkörperchen ; auffallend ist
neben den kleineren und größeren lymphocytenähnlichen Zellen der
große Reichtum an großen, hellen, bläschenförmigen, mit spärlicher
Chromatinsubstanz, die an vielen Stellen die Mehrzahl der Pulpaelemente
bilden. Es ist oben schon erwähnt, daß diese Zellen sich nicht im
Lumen der Kapillaren finden und auch in der Umgebung derselben
nicht besonders zahlreich vorhanden sind. Ein Zusammenhang mit den
Endothelien der venösen Kapillaren scheint daher ausgeschlossen. Die
Kerne zeigen große Aehnlichkeit mit denen, welche wir zwischen den
Fasern der bindegewebig entarteten Partien finden, und es liegt die
Vermutung nahe, daß wir es mit einer Vermehrung von Zellen zu tun
haben, die zur Bindegewebsbildung in Beziehung stehen. Es würde
dann auch an den Stellen, wo wir noch keine Bindegewebssubstanz
finden, bereits eine Vorstufe der fibrösen Umwandlung der Pulpa er-
reicht sein. Daß es sich um sessile Elemente handelt, scheint uns auch
daraus hervorzugehen, daß wir auf Abstrichpräparaten der Milz keine
den erwähnten Zellen entsprechende Elemente finden.
An den MALPiOHischen Körperchen konnten wir keine eigentlich
sklerotischen Veränderungen, wie sie Banti und Gavazzani beschreiben,
wahrnehmen. — Bemerkenswert ist noch die reichliche Menge von eosino-
philen und Mastzellen in den Abstrichpräparaten der Milz. Erstere
zählt y. Ebner (26) zu den normalen Pulpabestandteilen. Ueber das
Vorkommen der Mastzellen in der Milz scheint nichts bekannt zu sein.
Die Eosinophilen sind hier jedenfalls weit über das Normale vermehrt,
so sehr, daß wir ihr reichliches Vorhandensein keinesfalls aus ihrem
etwas erhöhten Prozentsatz im zirkulierenden Blute erklären können.
An der Leber finden wir keine Veränderungen, die mit dem übrigen
Krankheitsbilde in Zusammenhang stehen könnten. Der reichliche Ge-
halt der intraacinösen Kapillaren an kernhaltigen Zellen erinnerte auf
den ersten Blick an die Befunde Borissowas, die die Kapillaren
durch große einkernige Zellen, die sie als verschleppte Endothelien aus
den venösen Kapillaren der Milz anspricht, vollgestopft fand. Die
genaue Untersuchung bei starker Vergrößerung zeigte jedoch, daß die
meisten dieser Zellen polynukleäre Leukocyten und kernhaltige rote
Blutkörperchen waren, was bei der in der letzten Lebenswoche be-
stehenden Hyperleukocytose und Blutkrise nicht wunder nehmen kann.
768 J. Lossen,
Daneben fanden sich große einkernige Zellen mit hellem, ovalem Kern
und reichlichem, schwach gefärbtem Protoplasma, die wir wohl als ge-
quollene KüPFFERsche Sternzellen betrachten müssen. Eine Schwellung
dieser Zellen ist bei Infekten häufig und hier wohl auf die peritonitische
Infektion zurückzuführen. Außerdem sahen wir übrigens noch häufig
schmale endothelartige Kerne am Rand der Leberzellenbalken.
Wir sind, wie oben dargelegt, geneigt, die endophlebitischen Ver-
änderungen im Pfortaderwurzelgebiet und den Milztumor auf eine ge-
meinsame, uns ihrem Wesen nach unbekannte Ursache zurückzuführen.
Es fragt sich, wie wir dann den eigentümlichen anämischen Blutbefund
erklären können. Die Veränderungen des Blutes können einerseits als
direkte Folge der supponierten allgemeinen Krankheitsursache angesehen,
andererseits auf die Störungen der Funktion der Milz bezogen werden.
Erstere Ansicht wird von Wenthworth (62) für die als Anaemia splenica
bezeichneten Zustände im allgemeinen vertreten. Wir möchten letztere
Annahme für wahrscheinlicher halten, denn die anämische Beschaffenheit
wäre als Folge einer allgemeinen konstitutionellen Erkrankung doch recht
hochgradig, besonders im Vergleich zu der relativ geringen Störung des
Allgemeinbefindens. Andererseits bietet sie mehrfach Uebereinstimmung
mit den Blutbefunden, wie sie sonst bei starker Hypertrophie der Milz
erhoben werden, sei es daß diese eine idiopathische oder mit anderen
Abnormitäten vergesellschaftet ist.
Der Blutbefund bei unserer Kranken ergab eine beträchtliche
Herabsetzung des Hämoglobingehaltes (37—46 Proz.) und eine diesem
nicht entsprechende Verminderung der Zahl der Erythrocyten, 3,13 bis
3,97 Millionen, also ca. 70 Proz. des Normalwertes; endlich als auf-
fallendste Erscheinung eine hochgradige Verminderung der Leukocyten
(1800—2800). Was die einzelnen Arten der Leukocyten betrifft, so
sehen wir bei allen Untersuchungen eine relative Abnalime der neutro-
philen Polynukleären, freilich in sehr verschiedenem Grade. Während
ihr Prozentsatz bei den meisten Zählungen zwischen 50 und 60 schwankt,
sinkt er zweimal ohne ersichtliche Ursache und ohne wesentliche Aen-
derung der Gesamtzahl der Leukocyten auf 35 Proz. Entsprechend
ist die relative Zahl der Lymphocyten erhöht bis zu 59 Proz. Relativ
vermehrt erscheinen besonders bei den letzten Zählungen auch die eosin-
ophilen Zellen (bis zu 10 Proz.); freilich überschreitet ihre absolute
Zahl nicht 185 pro cmm, bleibt also unter der von Ehrlich aufge-
stellten Grenze der normalen Werte. Schwerere Veränderungen des
Blutbildes wurden nicht beobachtet, es bestanden nur geringe Aniso-
und Poikilocytose und nur einmal bei allen Zählungen fand sich ein
Normoblast.
Die Veränderungen des Blutbildes nach der Operation sind aus der
der Krankengeschichte beigefügten Tabelle zu ersehen. Diese Befunde
haben für die Frage nach den Folgen der Splenektomie nur einen sehr
Zur Kenntnis des BAirrischen Symptomkomplexes. 769
beschränkten Wert, denn sie sind kompliziert durch den starken Blut-
verlust und durch die peritonitische Infektion, worauf wir die Hyper-
leukocytose und die Ueberschwemmung des Blutes mit kernhaltigen
Erythrocyten jedenfalls zum Teil zurückführen müssen.
Der Blutbefund unserer Patientin zeigt die von Senator für den
Morbus Banti als charakteristisch angesprochenen Eigentümlichkeiten:
erhebliche Oligochromämie, geringere Oligocytämie und starke Leuko-
penie unter besonders starker Verminderung der Lymphocyten. Stärkere
Abnahme des Hämoglobingehaltes, geringere der Erythrocyten finden
sich bei den meisten Formen der Anämie. Das umgekehrte Verhältnis,
also eine Erhöhung des Färbeindex, kommt wohl nur bei der perniciösen
Anämie vor und darf als eines ihrer charakteristischsten Zeichen betrachtet
werden. Auch Banti erwähnt bereits, daß in seinen Fällen die Zahl
der roten Blutkörperchen in geringerem Grade vermindert war, als der
Hämoglobingehalt.
Viel auffälliger ist die starke Leukopenie. Außer bei gewissen In-
fektionskrankheiten wird sie bei der perniciösen Anämie häufig, gelegent-
lich auch bei anderen schweren Anämien gefunden. Ehrlich und Lazarus
(27) sehen in ihr ein prognostisch sehr ungünstiges Symptom, während
'- V. Decastello und Hofbaüer (25) sie neuerdings bei verschiedenen
'■' Arten der Anämie ohne besonders schlechte Prognose fanden. Man
führt sie im allgemeinen auf eine verminderte Bildung von weißen
Blutzellen infolge einer Erschöpfung des Knochenmarkes zurück.
- Letztere können wir in unserem Falle sowie bei den sonstigen Fällen
von Milztumor mit Leukopenie wohl ausschließen.
Wie steht es nun mit der Konstanz der Leukopenie bei der Anaemia
'- splenica, d. h. bei den mit einer erheblichen Vergrößerung der Milz
einhergehenden Anämien ohne Beteiligung der anderen blutbildenden
'> Organe? Senator hat die Blutbefunde einer Anzahl derartiger Fälle
eigener und fremder Beobachtung zusammengestellt; wir selbst haben
i in der Literatur noch weitere derartiger Fälle gefunden und selbst 2
[ solche beobachtet, deren Krankengeschichten unten folgen. Wir geben
^ die Resultate in einer tabellarischen Uebersicht wieder, wobei wir, dem
- Beispiel Senators folgend, die Fälle von Anämie mit Splenomegalie
f ohne weitere Komplikationen von denen, in welchen Afifektionen anderer
r abdomineller Organe (Lebercirrhose, Ascites, Venenerkrankungen) nach-
weislich bestanden, trennen. Die Fälle sind in den Tabellen nach der
Gesamtzahl der Leukocyten geordnet^). (Tab. I und II.)
Wir finden, wenn auch nicht konstant, doch in einem auffallend
1) Bei 2 Fällen (Tab. 11, 4 u. 13) von Senator, bei welchen sehr
zahlreiche Untersuchungen angeführt wurden, haben wir nur den Befund mit
dem niedrigsten Leukocytenwert angefahrt, in Klammem ist daneben die
Durchschnittszahl der Leukocyten aus sämtlichen Zählungen angegeben.
770 J. Lossen,
hohen Prozentsatz (61 bezw. 69 Proz.) eine abnorm geringe Zahl der Leu-
kocyten (unter 5000). Auch läßt sich meistens ein relatives Vorherrschen
der Lymphocyten, also eine besonders starke Abnahme der polynukleären
Formen feststellen. Nur in 3 Fällen unter 52 bestand eine Leukocytose
(über 10000).
Beide Tabellen umfassen sicherlich Fälle mit ganz verschiedener
Aetiologie, die vielfach den gleichen Blutbefund darbieten. Es sei nur
an den anscheinend unkomplizierten Fall von Harris und Herzoo,
an den von Pribram als Morbus Banti betrachteten und an den Fall
von Hocke (Chiari), der höchst wahrscheinlich luetischen Ursprunges
ist, erinnert, welche alle in gleicher Weise eine hochgradige Leukopenie
zeigen. Ein durchgreifender Unterschied zwischen den einfachen Anä-
mien mit Milztumor und denen mit anderweitigen Komplikationen läßt
sich jedenfalls nicht erkennen.
Es scheint demnach, daß eine Hypertrophie der Milz, gleichgültig
welchen Ursprungs, neben einer Abnahme des Hämoglobingehaltes und
der Erythrocyten in vielen Fällen auch eine Verminderung der farb-
losen Elemente bedingt. Wie diese Leukopenie zustande kommt,
können wir bei unseren gegenwärtigen Kenntnissen von der hämato*
poetischen Funktion der Milz nicht sagen.
Ueber die Art und Weise, wie eine Milzhyperplasie zur anämischen
Blutbeschaffenheit führt, können wir vorläufig auch nur Vermutungen
hegen. Harris und Herzoo (33) haben auf Grund des von ihnen er-
hobenen Befundes, einer enormen Wucherung der Endothelien der venösen
Kapillaren der Milz, die Hypothese aufgestellt, daß gerade diese Zellen
für die Zerstörung der roten Blutkörperchen eine wichtige Rolle spielen.
Sie fanden freilich keine Zerfallsprodukte von Erythrocyten in den-
selben, aber sie glauben, daß die Endothelien vielleicht durch Erzeu-
gung irgend eines chemischen Produktes zum Untergang der Ery-
throcyten beitragen, und so ihre Hyperplasie zu anämischen Zuständen
führe. Diese Hypothese hat manches Bestechende, doch muß man be-
rücksichtigen, daß in dem Blutbefund bei Anaemia splenica viel we-
niger die Verminderung der Erythrocyten als die Abnahme des Hä-
moglobins im Vordergrunde steht, ferner, daß der von Hi^nRis und
Herzog erhobene oder ein ähnlicher in gleicher Weise zu deutender
Befund nur von wenigen Autoren [Borissowa (14) , Picou und
Ramond (48)] festgestellt wurde, während in anderen Fällen andere
anatomische Veränderungen der Milz bei gleichem Blutbefund gefunden
wurden.
Noch dunkler erscheinen diese Verhältnisse, wenn wir berücksich-
tigen, daß, wie aus obigen Tabellen hervorgeht, die Leukopenie bei
den mit Milztumor einhergehenden Anämien durchaus kein konstanter,
wenn auch ein sehr häufiger Befund ist, und daß es endlich Fälle von
anscheinend primärem Milztumor gibt, in denen wir weder eine Leu-
Zar Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes.
771
d
<
a
o
o
J
^
^
o
a
OD
I
108
OS
H
•11J089O
§1
zi«K
I
CO
I
34
i §
'S 'S
-i
I ^
s
I
O
-i
'S
I
0+ «HD
9> lO
08
I
5
'Sri
1^
IM I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I
IS-I I
I ^*eo 1^111
I I I I I I I I I
o
coaTcvT
jr^
CMCNJC4 '
I I
I I I I I I
INI
I I
Ig835a
I I I I i I I I I
I
OD
I
0
^
^
Es]
I I
I I I I I I I I
C^lOi^
■0.01
SSS 1 IgJS
>-r.:f^«
s
xepai
o oo ooooo o
I I
' 00*00'
00 ' rHOOOOOO
Od
o
S gS IS8SIS5 IS I I I I ISSlg^
s
lOCM I t>- lÖ »O 10 t- CO «
s
IS
M
^
•^ »-* Q -^ »O »^ "!0 CO OD i-H
r- 1> 35 1>- 00 cg kC dg o CO c-
^j^C^^^ö^ :h^
»QO^'^cS^OiQ«
$^:^ör^^coö^cococo
coioiOQO
1-1 Jbt-ocvj
C4
Soo88qSi>CO C4
CO r- CO CO CO CO CM CD f-H
GM ^COOO'^'^CO^CM
>os
5 !> ^ CO CO dö 1-H
O0ioo^;or^^r-ic^c
OOOOCN^OOOO^COOO^^^^OOCOOOOO C0^7^*2^*
GM "»^ CM CO 00
772
J. Lossen,
I
6
o
^ 'S
^ 2
TS
a
o
a
8
•a
JSi
Gl
CO
es
'a
a
I
c
0
q 1^ 3 ^
ä ='jt S . ä
■Ü- « ■* f^ M
C E fc b£'U
S - ö J-' E
123?
^>^
^
Hi
Hi
S
CH-
1^
I I I ,t^ I
I I
I 2^8K
I I
o
I I
CO CO tO CC IC? JO CO
u
C5,
^
CO CO rjTcO o r- 1> CO
I I
s
Ȁ 25 00 iC CO O lO
zdpai
o
^
w
?2S U
o
s
o
IC :o rc «r: _
oo'ooooo o
I Ol
o
S coSco-^T*«?« ^ o 5
8
00*^ CSJ
00
CO
"^ COOOC^O^COt* CJ ^
O 1>-C0 r^-QO^Q Q
CO 00 •-• O ÖD Ä CO 00 Ä
•^ cocococoooysco oj
^
thoo o] (N 1-^ cm «-H cv) cm Gl ^W
•OK
CO o
I
^
5
PS
I
Zur Kenntnia des BAMTischen Symptomkomplexes.
773
ii 11
IM si
4 I
i^^s .IIa
55 00 0 ^P*"
12-'
TS .-
13 S.^
•II ö
*0
CD
"^1
:?i
1 1
Sä
I I
lll
1:
QQ
1 II 1 s-^ 1 1 1 1 II II II 1
1 II 1 S-^- 1 1 11 1 1 1 1 II 1
1 II s ^-n- 1 8? 1 II 1 1 1 1 1 1
1 M o» "'S- 1 1 1 1 1 1 1 1 II 1
I II ^ ggo. 1 1 1 1 1 1 1 gl 1
O O O ' i-lOO rHO O ' ' • ' O O r-1
S SSI 5S2 sf 2 1 1 II !§ S$ f
el.^^ ^
i>5^ ior-'-< »-HC
^ri 005COCOC
8
S
(M
O 10
S
00
Sco
>0 lOOi'^C
505 '^ 00 C
8 8
't CM
«910 od>o 90:0 oooMio^
H< kO
kO
s
S i-
£ OS
OQ
1.
6
O ^ CM 00 rj< IC
»-I 1-H rH *H rH »-H
IClttetl. a. d. Orenzfebieten d. Medixin n. Chlrargie. XIIL Bd.
50
774
J. Lossen,
MM
I
s
I I
I I
I I I
I I
18
I ~
I I
I I
I I I
I I
XdpüT
I I I
^M
O ' OO
00
fe
§
o o
03
&
e I SS
!
3
les 1I5 S S
s?
3üS S u
'2 E;
I I8S
S
■ jT! '■F44 .«
S3EgS§
_^ ^ gj f»?
2
s
■TM
'^ CO gQ
'^
-*
PS
55
^ £
Ire
•ox
5
-_- i
0ä
^ SS
S ?s «
K 2 5
£ :ä QQ
Cz4
i i
Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 775
kopenie noch eine Abnahme der Erjthrocyten finden, die im Gegen-
teil mit einer Hyperglobulie einhergehen.
Die günstigen Resultate der Splenektomie bei der einfachen unkom-
plizierten Anaemia splenica sprechen entschieden für die Abhängigkeit der
anämischen Blutbeschaffenheit der Milzaffektion. Wenn nun auch in den
mit Veränderungen anderer Organe einhergehenden Fällen von Spleno-
megalie ein günstiger Erfolg erzielt wurde, so müssen wir auch hier die
Blutveränderung auf die Milzerkrankung beziehen. Vorbedingung für
die Operation ist, daß die Veränderungen anderer Organe nicht so
hochgradig sind, daß durch sie schwere Störungen verursacht werden.
Nach Banti ist die Entfernung der Milz bei Splenomegalie mit ausge-
sprochener Lebercirrhose — im ausgebildeten dritten Stadium des Morbus
Banti — zwecklos, hingegen wurden bei geringen Veränderungen in
der Leber noch bedeutende Besserungen erzielt, wobei es allerdings
noch unsicher ist, ob es sich um wirkliche Dauerheilungen handelt.
Neuerdings hat Tansini (58) in solchen Fällen die TALMAsche Operation
in Verbindung mit der Splenektomie erfolgreich angewandt.
Auf die Schwierigkeiten und Gefahren, welche für die Splenek-
tomie durch hochgradige Affektion der venösen Gefäße entstehen, ist
bereits oben aufmerksam gemacht.
Es bleibt uns noch übrig, auf die 2 Fälle von Anaemia splenica mit
Leukopenie unserer eigenen Beobachtung, deren Blutbefund wir in den
Tabellen notiert haben, einzugehen und ihre Krankengeschichte hier
kurz wiederzugeben.
Hermann B., 15 Jahre, Arbeitersohn, aufgenommen 5. März 1903,
entlassen 22. Mai 1903.
Die Eltern und 7 Geschwister leben und sind gesund; 1 Bruder
starb mit 1 Jahre an unbekannter Krankheit. Früh- oder Fehlgeburten
hat die Mutter nicht durchgemacht. Patient lernte mit 1^/^ Jahren
laufen. Als Kind soll er kränklich gewesen sein, klagte häufig über
Kopfschmerzen und Schmerzen im Leib und litt oft an schweren Diar-
rhöen. Blut wurde im Stuhl nie bemerkt. Seit 3 Jahren wurden die Leib-
schmerzen häufiger und stärker; sie stellten sich meist 1 — 2 Stunden nach
dem Essen ein. Nach den Schmerzanf^llen, die hauptsächlich in der
linken Bauchseite empfunden wurden, soll immer diarrhoischer Stuhl er-
folgt sein. Obwohl der Appetit immer gut war, kam Patient doch mehr
und mehr herunter. Vor 3 Wochen bemerkte der Vater in der 1. Ober-
bauchregion eine harte Geschwulst, nachdem Patient schon längere Zeit
über Schmerzen dort geklagt hatte.
Status praesens: Magerer Knabe von seinem Alter entsprechender
Größe; auffallend infantiler Habitus; Genitalien klein, ohne Behaarung.
Haut sehr blaß, keine Oedeme, keine nennenswerten Lymphdrüsen-
schwellungen. Geringer rhachitischer Rosenkranz. Lungenbefund normal,
Herz von normaler Größe, über allen Ostien ein lautes systolisches Geräusch,
am lautesten an der Pulmonalis.
Abdomen sehr breit, mäßig aufgetrieben, besonders die 1. obere
Partie. Hier fühlt man eine große, derbe Resistenz mit ziem-
776 J. Lossen,
lieh stumpfem Bandy die unter dem 1. Rippenbogen hervor-
kommt. Sie überragt medialwärtsdieMammillarlinie um
2^|j Fingerbreiten, nach unten reicht sie 2 Finger unter
die Nabelhorizontale, nach hinten läßt sie sich nicht deut-
lich abgrenzen. Der stumpfe Rand ist nach rechts und unten konvex
und zeigt am unteren Ende eine stärkere Vorbuchtung. Der Tumor
fühlt sich derb an, die Oberfläche glatt. Perkussionsschall über ihm ge-
dämpft, die Dämpfung setzt sich auf die seitliche Thoraxwand fort und
reicht in der mittleren Azillarlinie bis zum unteren Band der 6. C.
Der größte Durchmesser mißt 21 cm, der tiefste Punkt des Tumors ist
14 cm vom Rippenbogen entfernt, die Leber ist nicht fdhlbar, ihre
Dämpfung nicht vergrößert. Ueber dem übrigen Abdomen ist der Schall
in der Mitte laut tympanitisch, über den abhängigen unteren und rechts-
seitigen Partien verkürzt.
Harn hellgelb, klar, 1012, kein Albumen, kein Zucker, Indikan- und
Diazoreaktion negativ. Stuhl flüssig^ hellgelb mit schleimigen Bei-
mengungen, stark alkalisch. Mikroskopisch: Tripelphosphatkristalle und
Trichocephaluseier.
Während der ersten Wochen oft Bauchschmerzen, 4 — ömal täglich
diarrhoische Stühle; auf Tannalbin Besserung, schließlich einmal täglich
dickbreiiger Stuhl. Mehrere Wochen Injektionen von Atoxyl 0,02 — 0,1
p. die. Ernährungszustand bessert sich wesentlich, Gewichtszunahme von
40,4 auf 46 kg.
Dieser Fall bietet im Blutbefund (s. Tab. I No. 2) weitgehende Aehn-
lichkeit mit dem ersten. Die Anämie ist geringer, die Leukopenie noch
hochgradiger. Sie betriflFt die einzelnen Leukocytenarten in annähernd
gleicher Weise. Die Verdauungsstörungen legen uns den Gedanken nahe,
daß vielleicht auch hier neben dem Milztumor Gefäßveränderungen, die
zu Zirkulationsstörungen geführt haben, bestehen. Sichere Anhaltspunkte
dafür konnten durch die Untersuchung allerdings nicht ermittelt werden.
Auffallend ist der infantile Habitus des Patienten und die mangelhafte
Ausbildung der Genitalien. Wir erinnern uns, daß bei unserer ersten
Patientin die Menstruation im Alter von 24 Jahren noch nicht auf-
getreten war.
Anna H., 39 J., Besitzersfrau, aufgenommen 13. Juni 1903, entlassen
11. Juli 1903.
Die Eltern und 5 Geschwister leben und sind gesund, ebenso der
Ehemann und 1 Kind; 2 Kiuder starben einige Tage nach der Geburt.
Aborte hat Pat. nicht durchgemacht. Keine ernsteren Erkrankungen, nie
Malaria. Während der letzten Jahre häufig Magenbeschwerden; während
1 — 2 Wochen „wehes Gefühl" in der Magengegend, häufig Aufstoßen,
kein Erbrechen. Geringer Appetit, zunehmende Schwäche. Seit 14 Tagen
wieder die gleichen Beschwerden. Seit 5 Jahren harte, nicht empfindliche
Geschwulst in der linken oberen Bauchregion, die allmählich größer wurde,
ohne Beschwerden zu verursachen. Während des letzten Jahres hin und
wieder Nasenbluten, mitunter leichtes Herzklopfen. Periode regelmäßig,
keine Fiebererscheinungen.
Zar Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes. 777
Status : Elleine magere Frau von schwächlichem Körperbau. Haut blaß,
mit einem leichten Stich ins Gelbliche. Sclerae nicht deutlich ikterisch.
An beiden Unterschenkeln Varicen, die Leistendrüsen links etwas ver-
größert, derb, sonst keine nennenswerten Drüsenschwellungen. Lungen-
befund normal, an der Herzspitze ein weiches, systolisches Geräusch.
Abdomen : Schlaffe Bauchdecken, die unteren Bauchpartien etwas aufge-
trieben, die Yorwölbung ist links stärker als rechts und setzt sich hier,
nach oben flacher werdend, bis zum Bippenbogen fort. Dementsprechend
ftihlt man eine große derbe, nicht druckempfindliche Resi-
stenz, die sich sofort durch mehrere flache Incisuren als
die Milz erweist. Sie erstreckt sich nach rechts bis zur
Mittellinie; ihr oberer Pol bleibt zwei Finger breit von
der Symphyse entfernt; nach oben reicht sie unter den
Bippenbogen, nach hinten bis in die Lendengegend. Bei der
Atmung ist sie nur wenig verschieblich. An diese Resistenz schließt sich
nach oben eine Dämpfung an der seitlichen Thoraxwand an, die bis zur
8. Bippe reicht. Der untere Leberrand ist in der Mammillar-
linie 1 Finger unterhalb des Bippenbogens fühlbar, ziem-
lich scharf, die Gallenblase ist nicht palpabel. Dämpfung
dementsprechend vergrößert.
Harn spärlich, rotgelb, mit reichlichem ziegelmehlartigen Sediment,
Hauch Albumen, kein Zucker, mäßig reichlich Indikan. Ln Sediment
keine Nierenbestandteile.
Während des klinischen Aufenthaltes betrug die tägliche Hammenge
800 — 1000 ccm. Der Urin enthielt nie Gallenfarbstoff, aber
reichlich Urobilin. Der Stuhlgang erfolgte 1 — 2mal täglich, war
von normaler Beschaffenheit. Die Behandlung bestand in Darreichung von
Liqu. Natr. arsen., dann in Injektionen von Atoxyl bis zu 0,2 p. die. Eine
Aenderung des Allgemeinbeflndens trat nicht ein, das Körpergewicht blieb
konstant. Die Splenektomie lehnte Patientin ab.
Dieser Fall zeigt eine beträchtliche Anämie. Die Leukopenie erreicht
keinen so hohen Grad wie bei den beiden anderen, es besteht geringe
relative Lymphocytose (s. Tab. II No. 12). Hier können wir wohl mit
Sicherheit annehmen, daß neben dem Milztumor eine Affektion der
Leber besteht. Sie ist etwas vergrößert, der Harn ist spärlich und
enthält neben reichlichen Uraten Urobilin. Die Gründe, die in solchen
Fällen gegen die Annahme einer primären Lebercirrhose angeführt
werden, sind: die außergewöhnliche Größe und das lange Bestehen
des Milztumors. Wir hätten es also mit einer BANTischen Krank-
heit im zweiten Stadium zu tun. Wir haben auf Grund eigener und
anderer Beobachtungen oben besprochen, daß für eine große An-
zahl derartiger Fälle die Deutung Bantis nicht zutrifft, daß es sich
vielmehr um koordinierte Affektionen der Milz, der Leber und der
venösen Gefäße des Pfortadergebietes handelt, die ihre Entstehung
einer gemeinsamen, meistens unbekannten Ursache verdanken. Auch
in diesem FaUe finden wir nichts, was für eine syphilitische Aetiologie
spricht."
778 J. Lossen,
Meinem verehrten Lehrer, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Lichtheim,
spreche ich für die Ueberlassung des Materials zu dieser Arbeit und
das freundliche Interesse, das er derselben entgegenbrachte, meinen
verbindlichsten Dank aus.
Literatur.
1) Albu, Sammelreferat. Dtsch. med. Wochenschr., 1904, No. 19 u. 20.
2) Bahrdt, Ueber die Unmöglichkeit, eine Bantische Krankheit in ihrem
ersten Stadium zu diagnostizieren. Münch. med. Woohenschr., 1903,
No. 21.
3) Banti, L'anemia splenica. Firenze 1882.
4) — , La splenomegalia con cii-rosi epatica. Lo Sperimentale, Sez. biol.,
1894, Fase. 5. e 6.
5) — , Splenomegalie mit Lebercirrhose. Zibolbrs Beitr. z. path. Anat.,
Bd. 24, 1898, p. 21.
6) — , La Splenomegalie avec cirrhose du foie. Sem. m6d., 1894.
7) — , Nuovi studi suUa splenomegalia con cirrosi epat. Policlin., V, 5,
1898, p. 104. Ref, Schmidts Jahrb., Bd. 264, p. 139.
8) — , Riforma med., 1901, No. öl — 53. Citiert nach Gavazzaki.
9) Baybr, Statistisches tlber Splenektomie etc. Münch. med. Wochenschr.,
1904, No. 3.
10) Bbnybnuti, La Splenomegalie primit. Sem. m^d., 1898, p. 414.
11) Bbssbl-Haoen, Ein Beitrag zur Milzchirurgie. Arch. f. klin. Chir.,
Bd. 62, p. 188.
12) BiERBNS DB Haan, Alimentäre Glykosurie bei Leberkranken. Boas'
Arch f. Verdauungskrankheiten, Bd. 4, 1898, p. 7.
13) BoNARDi, Gazz. degli ospedali, 1897.
14) BoRissowA, Beiträge zur Kenntnis der Bantischen Krankheit und
Splenomegalie. Virchows Arch., Bd. 172, 1903, p. 108.
15) BoRRMANN, Beiträge zur Thrombose des Pfortaderstammes. Dtsch.
Arch. f. kÜD. Med., Bd. 59, 1897, p. 283.
16) Breuer, Wien. klin. Wochenschr., 1902, No. 33.
17) BuGCo e Bocci, Malattia del Banti etc. Bevista olin. med., 1901. B.ef.
ViRCHow-HiRscH, 1901, II, p. 262.
18) BuDDAY, lieber Sklerose der Pfortader. Centralbl. f. allgem. Pathol.
u. path. Anat., Bd. 14, 1903, p. 161.
19) Casarini, Casist. clin. Modena, 1897, p. 30.
20) Cavazzani, Sopra un caso di splenomegalia con cirrosi epatic. Biforma
med., No. 267 u. 268.
21) — , Sulla splenomegalia con cirros. epat. H Morgagni, 1900, No. 11.
22) — , Del alcune questioni riguardanti la malattia del Banti. Biforma
med.. Anno 17, 1901, No. 102.
23) Chiari, [Jeber Morbus Banti. Prager medizin. Wochenschrift, 1902,
No. 24.
24) OuRSCHMANN, Müuch. med. Wochenschr., 1903, No. 12.
25) V. Dboastbllo u. Hofbaubr, Zur Klinik der leukopeuischen Anämien.
Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 39, 1900, p. 488.
26) V. Ebner, v. Köllickbrs Handbuch der Gewebelehre, Bd. 3, 1.
Zur Kenntnis des BAKTischen Symptomkomplezes. 779
27) Ehrlich u. Lazarus, Normale und pathologische Histologie des Blutes,
Nothnagels spezielle Pathol. u. Therap., Bd. 8, Heft 1, 1.
28) Ewald, Berl. klin. Wochenschr., 1901, No. 47.
29) Fichtner, Zur Kenntnis der Bantischen Krankheit. Münch. med.
Wochenschr., 1903, No. 21.
30) Frascani Gazz. med. di Torino, 1882. (Cit nach Sippy 1. c.)
31) Galvagni, E., Sopra un caso di malattia di Banti in una geofaga.
Clin, med., Anno 18, No. 17.
32) Grbtsbl, Berl. klin. Wochenschr., 1866.
33) Harris u. Hkrzoo, Ueber Splenektomie bei Splenomegalie. Dtsch.
Zeitschr. f. Chir., Bd. 59, p. 667.
34) Hocke, Ueber ein an den Bantischen Symptomkomplex erinnerndes
Krankheitsbild etc. Berl. klin. Wochenschr., 1902, No. 16.
35) Jordan, Die Ezstirpation der Milz, ihre Indikationen und ihre Resul-
tate. Mitt. a, d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 11, 1903, p. 407.
36) Kast, Wien. med. Wochenschr., 1903.
37) Kausch, Ein Fall von Bantischer Krankheit mit Milzexstirpation.
Jahresber. d. schles. Gesellsch. f. vaterl. Knltur, 1902, p. 286.
38) Kühn, Münch. med. Wochenschr., 1902, No. 2.
39) Lbgnani, Un caso di malattia del Banti guaritto con esportazione
della milza. Clin. med. Ital., Ott. 1900.
40) Lbnhoff, Berl. klin. Wochenschr., 1901, No. 46.
41) Litten, Berl. klin. Wochenschr., 1901, No. 46 u. 47.
42) Maragliano, Spien omegalia primit. con anemia. Gaz. degli osped.,
1898. (Ref. Centralbl. f. innere Med., 1899, p. 389.)
43) Mabchand, Zur Kenntnis der sogenannten Bantischen Krankheit und
der Anaemia spien. Münch. med. Wochenschr., 1903, p. 463.
44) MoHB, Ein Beitrag zur myasthen. Paralyse. Berl. klin. Wochenschr.,
1903, No. 46.
45) Osler, Chron. splenic enlargement recurring gastrointestinal haemor-
rhages. Edinb. med. Joum., 1899, p. 441.
46) — , Americ. Joum. of. med. sc, 1900, Jan.
47) Obstbrreich, Milzschwellung bei Lebercirrhose. Virohows Arch., Bd.
142, 1895, p. 285.
48) Picou et B.AMOND, Splenomegalie primitive; epith^lioma de la rate.
Arch. de m^d. exper., T. 8, 1896, p. 168.
49) PfiiBRAM, Ueber Bantische Krankheit. Prag. med. Wochenschr., 1902,
No. 9.
50) RiEDBR, Beiträge zur Kenntnis der Leukocytose. Leipzig 1892.
51) RiNALDi, Contributo alla conoscenza della splenomegalia con cirrosi
epat. Riforma med., 1897. (Ref. Centralbl. f. innere Med., 1898,
p. 328.)
52) RoGBR, Presse m^dic, 1903, No. 59. (Ref. Dtsch. Medizinalztg., Bd.
25, 1904, No. 11.)
63) Saxbr, Zur Pathologie des Pfortaderkreislaufs. Centralbl. f. allgem.
Path. u. pathol. Anat., Bd. 13, 1902, p. 577.
54) Sbnator, Ueber Anaemia spien, mit Ascites. Berl. klin. Wochenschr.,
1901, No. 46.
55) SiPPY, Splenica pseudoleucaemia (Anaemia splenica, Splenomegalie pri-
mitive). Amer. Joum. of the med. sc. Vol. 118, 1899, p. 428.
56) V. Stark, Münch. med. Wochenschr., 1908, No. 36.
57) Strümpbll, Ein Fall von Anaemia splenica. Archiv für Heilkunde,
Bd. 17 u. 18.
780 J. Lossen, Zur Kenntnis des BANTischen Symptomkomplexes.
58) Tansini, The Lancet, 1900 u. 1902. (Cit. nach Albü L c.)
59) Tbkbilb, Un caso di splenomegalia primit. Gazz. d. osped., 1896^
No. 86. (Ref. Centralbl. f. innere Med., 1897, p. 126.)
60) Umber, Ueber Bantische Krankheit Münch. med. Wochenschr.^
1904, No. 9.
61) Wbinbbrobb, Wien. med. Wochenschr., 1902.
62) Wbnthwobth, Assoc. of Anaemia with chronic enlargement of the
Spien. Boston med. Joum., Oct. 1901. (Ref. : Virchow-Hirsch J.-B.^
1901, II, p. 42.)
63) Ztfkin, Beitrag zur Lehre von der Anaemia splenica. Berl. klin.
Wochenschr., 1903, No. 42. u. 43.
Aus der medizinischen Klinik in Kiel.
Nachdruck verboten.
XXIX.
lieber Massenblutungen aus gesunden und
kranken Meren.
Von
Dr. Rudolf Stich,
ehem. Assistenten der Klinik,
Assistent der chirurgischen Klinik in Königsberg.
Trotz der zahlreichen VeröflFentlichungen der letzten Jahre über
renale Hämaturien, Nephralgien und Koliken bei anscheinend gesunden
Nieren ist noch immer keine volle Klarheit darüber geschaffen, was die
Ursache dieser Blutungen sei. Die gewöhnlichen Ursachen, Traumen,
Steine, Tumoren, Tuberkulose lassen sich ausschließen, auch von den
selteneren Ursachen, wie Parasiten, Thrombose der Nierengefäße, para-
sitäre oder tropische Chlorose und Hämaturie, Aneurysma der Nieren-
arterien kann keine Rede sein, die einwandsfrei den höher gelegenen
Harnwegen entstammende renale bezw. uretero-pelvine Flüssigkeit ist
ein Gemenge von reinem Blut und Harn, irgendwelche sonstigen patho-
logischen Bestandteile fehlen : was sollen wir diagnostizieren ? Essentielle
Hämaturie? Das befriedigt nicht. Wir wollen eben eine Erklärung für
die Blutung. So wurden mit großem Scharfsinn an der Hand lehrreicher
Fälle theoretische Erwägungen angestellt, wie die Entstehung der
Nierenblutung hier zu deuten sei. Mit oder auch ohne ausgesprochene
Bluteranamnese nahm man, nachdem Senator ^) unter Mitteilung eines
Falles den Weg dazu gewiesen, an, es bestehe noch eine besondere, auf
die Niere beschränkte Neigung zu Blutungen, und gab dieser hypo-
thetischen Neigung den Namen einer „renalen Hämophilie". Andere,
namentlich französische Kliniker, hielten in Analogie der Fälle von
Sabatier2) und Legüeu^) nervöse Vorgänge für das auslösende
1) Senator, Berliner klinische Wochenschr. 1891, No. 1.
2) Sabatibb, Revue de Chirurgie, 1889, No. 1.
3) Legubu, Ann. des mal. des org. g^üito-urin. Vol. 9, 1891, 8, 9, 11.
782 Rudolf Stich,
Moment. Aehnliche Ursachen vermutete Elemperer^), der von einer
^angioneurotischen Hämaturie" spricht.
Eine kritische Beleuchtung der Frage ist in einem Bericht
an die französische Gesellschaft für Urologie im Jahre 1899 von A. Mal-
herbe und F. Legueu*) geliefert worden. Sie teilen die essentiellen
Hämaturien ein in 1) die rein klinischen Beobachtungen, 2) die ana-
tomisch verifizierten Beobachtungen mit und 3) diejenigen ohne erkenn-
bare Veränderungen. Nur die dritte Gruppe verdient den Namen der
essentiellen Hämaturie, von welcher aber so wenig sichere Beispiele
vorliegen, daß die Referenten zu dem Schlüsse kommen : Es gibt keine
essentielle Hämaturie. Alle Hämaturien sind symptomatisch, sie lassen
sich auf allgemeine (toxische oder infektiöse) oder lokale Ursachen zu-
rückführen. Schon vorher hatte sich Albarran^) gegen das häufige
Diagnostizieren einer renalen Hämophilie gewandt und noch schärfer
ging er mit der Nephralgie h^maturique seiner Landsleute und mit den
angioneurotischen Nierenblutungen ins Gericht. Nur wenige Fälle hielten
seiner strengen Kritik stand.
In Deutschland hat Israel^) wiederholt und eindringlich davor
gewarnt, in solchen dunklen Fällen von Nierenblutungen und Nieren-
koliken selbst nach makroskopischer Freilegung der Niere durch die
Nephrotomie anzunehmen, die Blutung erfolge aus unveränderten
Nieren, weil das unbewaffnete Auge keine pathologischen Zustände an
den Organen erkennen konnte. Auf Grund von 10-jährigen Beobach-
tungen kam er zu dem gleichen Schlüsse wie die französischen Autoren,
daß der überwiegenden Mehrzahl von diesen einseitigen Koliken oder
einseitigen Blutungen oder der Kombination beider Erscheinungen ent-
zündliche Prozesse zu Grunde liegen.
Die Konsequenzen aus diesen Erfahrungen ziehend, sahen alsbald
manche Chirurgen, besonders des Auslandes, die akute und chronische
Nierenentzündung bereits vor dem Forum der Chirurgen. Diesen
^chirurgischen" Anschauungen ist in neuester Zeit von interner Seite,
namentlich von Pel^) und Senator^) scharf widersprochen worden.
Beide sind der Ansicht, daß Israel die Bedeutung der ^kleinen, nur
mikroskopisch wahrnehmbaren Entzündungsherdchen" überschätze. Pel
1) Klbmpbrbr, Deutsche med. Wochenachr. 1897, No. 9 und 10 und
Vereinsbeilage No. 6.
2) A. Malhbrbe et F. Legueu, Gaz. hebd. de m^d. et de chir., Oct.
18Ö9 (Centralbl. f. Chir., 1900).
3) Annal. des mal. des organes g6nito-urin., 1898, No. 5; Centralbl. f.
Chirurgie, 1898.
4) Mitteilungen a. d. Grenzgebieten der Med. u. Chir. 1900, p. 471.
5) Pbl, P. K., Mitteilungen a. d. Grenzgebieten d. Med. u. Chir., Bd. 8,
1901, p. 443.
6) Senatob, Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 8.
Ueber Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. 783
weist darauf hin, wie selten man, wenigstens im reiferen Lebensalter,
ganz intakte Nieren findet. Er hält es bei manchen von Israels Fällen
fQr möglich, daß trotz aller negativen Operationsbefunde doch eine
Lithiasis vorliegen könne, fest überzeugt, daß sehr kristallreicher Harn,
besonders solcher mit den scharfen Oxalatkristallen, auch ohne Stein-
bildung im Stande sei, allerheftigste Kolikschmerzen mit Ureterkrampf,
Blutung und Erscheinungen von Nierenreizung zu verursachen. Nur
in den Fällen von akuter oder akut exacerbierter Nephritis hält er die
Spaltung der Nierenkapsel und vielleicht auch des Nierengewebes für
gerechtfertigt, bei denen wegen der Herabsetzung der Diurese Lebens-
gefahr ffir den Kranken besteht, und die interne Heilkunst nicht mehr
die Macht hat, die Diurese zu steigern und die drohenden Gefahren
abzuwenden, um so mehr, als einzelne Erfahrungen dafür zu sprechen
scheinen, daß bereits eine einseitige Nephrotomie durch die Entspannung
und die darauffolgende stärkere Diurese auch günstig auf die Funktion
der anderen Nieren wirken kann. Ganz ähnliche Zweifel wie Pel hegt
Senator. Wenn selbst in der Niere ein Entzündungsherd bestehe, wie
Israel sie bei manchen seiner operierten Fälle gefunden, so dürfe dar-
aus noch nicht auf Entzündung als Ursache von Kolik und Blutung
geschlossen werden. Vielmehr könnten daneben noch ganz andere Dinge
in der Niere vorhanden sein, die nach aller Erfahrung und ungezwungen
die Blutung erklärten, seien es Steinchen oder Tuberkulose etc. Daß
das keine ausgedachte Vermutung Senators ist, sondern daß Tat-
sachen dafür sprechen, das beweist eine bezügliche Beobachtung von
Braatz 1).
Derselbe operierte eine an heftigen einseitigen Nierenkoliken leidende
Fat. dreimal; zuerst wurde wegen Beweglichkeit der Niere, in der bei
fehlendem anderen Befund die Ursache der Schmerzen gesehen wurde, die
Nephropexie vorgenommen, ohne daß ein längerer Erfolg dadurch erzielt
wurde, weshalb Y« J&hre später die Nierenspaltung hinzugefügt wurde,
um einem eventuellen Krankheitsherd auf die Spur zu kommen. Es fand
sich nichts Auifallendes, so daß die Niere verblieb. Die daraufhin gestellte
Diagnose „Nephralgie^' schien eine glänzende Bestätigung in dem weiteren
Befinden der Operierten zu finden ; denn die KolikanfkUe blieben mit dem
Tage der Operation fort. Nach 3 Jahren wegen neuerlicher Erkrankung
dritte Freilegung der Niere und Ezstirpation : neben frischen tuberkulösen
Herden findet sich am unteren Pol ein alter ausgeheilter Herd, der offen-
bar die früheren Beschwerden veranlaßt hatte.
Besonders weit in ihrer Indikationsstellung zur chirurgischen Be-
handlung des Morbus Brightii gehen die Franzosen und Amerikaner.
In einer größeren Zahl von Arbeiten verteidigt Edbbohls^), wohl der
1) Braatz, Deutsche med. Wochenschr., 1900, No. 10.
2) Edebohls, Die Heilung der chronischen Nierenentzündung durch ope-
rative Behandlung. Autorisierte Uebersetzung von Dr. 0. Bbuthnbr,
Genf 1903.
784 Rudolf Stich,
radikalste Chirurg auf diesem Gebiet, immer wieder das aktive Vor-
gehen der Chirurgen. Er empfiehlt entweder die Nephropexie mit aus-
gedehnter Freilegung der Nierenrinde durch Abstreifen der Capsula
propria oder besser noch durch totale Exdsion der Nierenkapsel : Nephro-
kapsektomie. Aehnlich wie bei der TALMAschen Operation der Leber-
cirrhose soll durch die EDEBOHLSSche Operation eine arterielle Hyper-
ämie der Nieren hervorgerufen und dadurch eine Absorption der inter-
stitiellen und intertubulären EntzQndungsprodukte und Exsudate erzielt
werden. Was die Grenzen der Indikation zur Operation anlangt, so
vertritt er den Standpunkt, daß jeder Patient der operativen Behand-
lung unterworfen werden soll, der nicht unheilbare Komplikationen
aufweist, die ihrerseits die Verabreichung eines Anästhetikums kontra-
indizieren, und dessen Lebensdauer — ohne Operation — mutmaßlich
nicht weniger als einen Monat beträgt. Die letztere Bedingung wird
aus dem Grunde gestellt, weil der wohltätige Einfluß der operativen
Intervention, die Bildung eines ausgiebigen Gefäßsystems zwischen
Niere und Nierenfettkapsel, kaum vor 10 Tagen post operationem sich
geltend macht.
PoussoN ^) geht nicht ganz so weit. Er schlägt eine chirurgische
Intervention vor : a) dans les n^phrites chroniques compliqu6es d'h6mat-
urie, b) dans les n6phrites chroniques s'accompagnant de nöphralgie,
c) dans les n^phrites infecüeuses subaigues, d) dans les n^phrites in-
fectieuses aiguäs. Beide Autoren haben eine große Zahl von Anhängern
in ihren Ländern gefunden, aber man kann sich bei der Durchsicht
der Literatur des Eindruckes nicht erwehren, daß die bisher mitgeteilten
Fälle größtenteils nicht sorgfältig und lange genug beobachtet sind, als
daß wir aus ihnen sichere Schlüsse auf den Wert der Operation ziehen
könnten.
Ich gehe zunächst nicht näher auf diese und neuere Arbeiten ein,
beschränke mich vielmehr an dieser Stelle darauf, hervorzuheben, daß
in denselben mehrfach von einseitigen Nephritiden, sogar von
einseitigem Morbus Brightii die Rede ist, während man bisher
nur ungern von der Annahme abging, daß die hämatogenen Nieren-
erkrankungen, die Erkrankungen, welche durch vom Blut ausgehende
Schädlichkeiten (Infektionserreger, Toxine und andere Gifte, fehlerhafte
dyskrasische Blutmischung) verursacht sind, daß diese stets doppelseitig
auftreten müßten. Da ich nun in der Lage zu sein glaube, einen Fall,
der in das Gebiet der einseitigen chronischen diffusen Ne-
phritis mit enormer Hämaturie gehört, sicher beweisen zu können,
so folge ich gerne der Anregung meines verehrten Lehrers und früheren
1) PoüsaoN, Bull, et mem. de la soci^t^ de chir. de Paris, p. 689 u.
Ann. des mal. g^n.-urin., T. 20, 1902.
lieber Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. 785
Chefs, diesen und einige weitere an seiner Klinik beobachteten Fälle
von einseitiger Massenblutung zu veröffentlichen.
Fall L Frau G. C, 30 J. alt, erkrankte am 17. März 1901 ohne
nachweisbare Ursache mit Blutharnen, das sich in 2 Tagen heftig
steigerte. Ursprünglich fehlte jegliches Krankheitsgefühl, am 19. März
morgens jedoch stellte sich kurz vor der Urinentleerung plötzlich starker
Schmerz in der rechten Seite ein, der nach der Blasengegend zu aus-
strahlte. Später bestanden nur noch stechende Schmerzen in der rechten
Nierengegend, ohne das Ausstrahlen nach unten zu. Als Kind hat Fat.
schwarzePocken durchgemacht, später Masern, Scharlach, Diph-
therie gehabt. Im übrigen enthält die Anamnese, auch die Familien-
anamnese, nichts, was für die Erkrankung von Bedeutung wäre. Keine
Anhaltspunkte für Lues.
Status: Nicht gerade anämisch aussehende Frau. Normale Tem-
peratur. Keine Oedeme. An den Brustorganen, speziell am Herzen, keine
nennenswerten Veränderungen. Puls ziemlich voll, mäßig . gespannt. Am
Abdomen außer einer ganz leichten Druckempfindlichkeit der rechten
Nierengegend nichts Positives nachweisbar. Blase wenig gefüllt, Pal-
pation nicht schmerzhaft. Kein Urindrang. Fat. kann nach Aufforderung
spontan urinieren. Der Urin — ca. 400 ccm — dunkelrot, wie reines
Blut, enthält neben mehreren unregelmäßig gestalteten ein 5 — 8 cm langes,
2 — 3 cm dickes drehrundes Blutgerinnsel. Im Filtrat reichlich Eiweiß.
Im Sediment massenhafte Erythrocyten, zum Teil unverändert, in Geld-
rollenform, zum Teil (nur wenige) in Stechapfelform. Spärliche Leuko-
cyten, Blasenepithelien. Nierenbestandteile sind nicht nachweisbar, keine
Cylinder zu finden, dagegen zahlreiche Kristalle (phosphorsaurer Kalk
und Harnsäurekristalle). Im Spektroskop die Oxyhämoglobinstreifen.
Verlauf: Noch in der Nacht wurden 100 ccm einer 2-proz. Oela-
tinelösung in den linken Oberschenkel injiziert. Außerdem erhielt
Fat. per os Tannigen. Eisblase der rechten Nierengegend und Morphium
gegen die Schmerzen.
21. März. Fat sieht etwas blasser aus. Sie kann nicht spon-
tan Urin lassen und klagt über heftige Schmerzen in der Blasen-
gegend. Aus der Urethra hängt ein 5 cm langes, rundes, ^/^ cm dickes
Blutgerinnsel frei heraus. Beim Versuch, es herauszuziehen, reißt es ab.
Auch jetzt spontanes Urinieren unmöglich, ebenso nach Anwendung der
sonst üblichen äußeren Mittel. Es wird deshalb versucht, die stark ge-
füllte Blase mit einem weiblichen Katheter zu entleeren. Derselbe
verstopft sich jedoch wiederholt mit dicken Blutgerinnseln, so daß es erst
mit einem dicken männlichen Katheter gelingt, die Blase einigermaßen
zu entleeren. Es gehen massenhafte Blutgerinnsel mit ab. Urin dunkel-
rot gefärbt, reagiert alkalisch. Die Blase wird dann mit ca. 8 Litern
1-proz. Borwasser gespült, doch bleibt die abfließende Flüssigkeit stets
rötlich gefUrbt, so daß Cystoskopie unmöglich wäre. Bis zum Schluß des
Spülens werden Gerinnsel entfernt. Es macht nicht den Eindruck, als ob
im Laufe des Spülens (ca. % Stunden dauernd) frisches Blut aus der
Blase käme. Nach dem Spülen werden 4 g G-elatine in den rechten
Oberschenkel injiziert. Abends wiederum Katheterismus mit männ-
lichem Katheter, weil spontane Urinentleerung nicht möglich.
22. März. Morgen temperatur zum erstenmal erhöht, 38,5. Allgemein-
befinden nicht verschlechtert. In der Nacht konnte Fat. ca. 700 ccm
786 Rndolf Stich,
Urin spontan lassen (stark blutig, reagiert alkalisch). Bei der Spülimg
werden noch sehr zahlreiche Blutgerinnsel ans der Blase entfernt, doch
wird die Spülflüssigkeit rascher hell. Hämoglobingehalt des Blutes 60 Proz.
25. März. Hämoglobingehalt des Urins etwa 5 — 8 Froz. Fat klagt
jetzt wieder über brennende und stechende Schmerzen der rechten Nieren-
gegend.
26. März. Klagen über Schmerzen in der Blasengegend; häufiger
schmerzhafter Harndrang. Urin stark blutig, nicht übel riechend, Menge
zwischen 600 und 1900 pro die ; schwankende Körpertemperataren über 38.
30. März. Die noch vorhandenen Beschwerden beziehen sich jetzt
mehr auf die bestehende Gystiti& Die Blutung läßt nach (2 — 3 Proz,
Hämoglobin). Der Urin ist stark ammoniakalisch, schleimhaltig, mit sehr
reichlichen Eiterkörperchen im Sediment Interne Behandlung der Cystitis
und Spülungen. Temperatur zwischen 38 und 39.
2. April. Im Urin weniger Blut, einzelne Portionen blutfrei. Da
Urotropin wegen Erbrechens der Fat. ausgesetzt wurde, ist die Beaktion
des Urins, die vorübergehend sauer war, amphoter geworden. Mikro-
skopisch finden sich im Urin jetzt hyaline und Körnchencylinder, niemals
Blutcylinder.
Gestern entleerte sich bei der Blasenspülung ein Blutgerinnsel, das
einen kompletten Abguß eines Nierenbeckens und eines Ureters bis unten
hin darstellte. Vorher waren keine Koliken beobachtet worden. Hämo-
globingehalt des Blutes 46 Froz. Blutdruck 112 — 114 (Riva-Rocci).
5. April. Der Blutgehalt hat wieder etwas zugenommen. Wieder
Entleerung von Ureterengerinnseln. Temperaturen um 38^.
Man hat den Eindruck, daß die rechte Nierengegend etwas mehr
ausgefüllt ist als die linke, obwohl die rechte Niere nicht direkt palpabel
ist. Wegen Verdachts auf Tumor der rechten Niere wird ein operativer
Eingriff vorgeschlagen, von der Fatientin jedoch abgelehnt.
6. April. Nachts unerwarteter Exitus letalis.
Die im pathologischen Institut vorgenommene Autopsie
(J.-No. 246/01) ergab keine eigentliche Erklärung für den plötzlichen
Exitus, dagegen hinreichende Aufschlüsse über das Krankheitsbild. Das
Frotokoll gibt über den Befund der Hamorgane folgendes: Nieren sehr
fest, durch derbes Bindegewebe befestigt, etwas vergrößert. Beim Ablösen
der Kapsel quellen in unregelmäßiger Verbreitung massenhafte Eitertropfm
vor. Die linke Niere im ganzen sehr derb, sehr blaß, graurötlich. Auf
dem Durchschnitt blaß graurötlich, von massenhaften Eiterherden durch-
setzt. Nierenkelche und -becken in ihrer Wand etwas verdickt. Rechte
Niere im ganzen ebenso, aber im Nierenbecken ein großes Blutgerinnsel.
An der Oberfläche ausgedehnte unregelmäßig begrenzte, schmutzigbraune
Färbung, die durch das Gewebe bis in die Pyramiden hinein sich fort-
setzt. Die Schleimhaut des Nierenbeckens zeigt in geringer Ausdehnung
einen ganz zarten, etwas fester anhaftenden Belag. In einem rechten
Nierenbecken nahe der Papille ein kleines Gerinnsel, nach dessen Weg-
nahme sich eine nadeis ticb große Oeffnung zeigt, aus der etwas wässerig
blutige Flüssigkeit bei Druck ausfließt. Harnblase sehr klein und dick-
wandig, enthält blutigen Urin. Ihre Schleimhaut stark gerötet und fein
ekchymosiert. Links vom Scheitel findet sich ein unregelmäßiger bis über
1 mm dicker schmutzig gelber Belag. Die Harnröhre zeigt sich beim
Aufschneiden mit einem ähnlichen Belage gefüllt, der bis in die Harn-
blase hineinzieht. Unter diesem Belag zeigt sich eiterige Infiltration und
an einer Stelle anscheinend Nekrose durch die ganze Dicke der Wand.
Ueber Massenblutiingen aus gesunden und kranken Nieren. 787
Ureteren ohne Besonderheiten. Untere Hohlvene und Aorta frei von Ge-
rinnseln.
Mikroskopisch zeigten sich in Stücken der linken Niere nur
Veränderungen, wie sie durch die aufsteigende Pyelonephritis bedingt
waren, neben kleinen Absceßchen in der Binde und herdweiser Leuko-
cyteninfiltration längs der geraden Harnkanälchen ziemlich gleichmäßig
verbreitete, nicht sehr starke, parenchymatöse Degeneration der Epithelien
der gewundenen Harnkanälchen, mit Sicherheit also ein frischer Prozeß.
Die rechte Niere dagegen bot, abgesehen von diesen akuten Verände-
rungen, das ausgesprochene Bild einer chronischen parenchymatösen
Nephritis: Glomeruli großenteils untergegangen und ganz oder zum
Teil durch kemarmes, hyalin aussehendes Gewebe ersetzt; an anderen
Stellen wieder tritt mehr die Schwellung und Desquamation des Epithels
in den Vordergrund. Auch das Epithel der BowHAMschen Kapsel ist
vielfach gequollen und desquamiert, dann und wann finden sich mehr
homogene geronnene Massen unter den von der Kapsel weit abgedrängten
Gefkßknäueln, vereinzelt einmal rote Blutkörperchen; hier und da um
bereits verödete Glomeruli ein breiter Saum junger kleinzelliger Binde-
gewebswucherung.
Auch die gewundenen Harnkanälchen zeigen an ihrem Epithel
vielfach degenerative Vorgänge : Quellung, große bläschenförmige, schwach
gefärbte Kerne, Desquamation, so daß das eigentliche Lumen verloren ge-
gangen ist. An vielen Stellen sind sie mit kömigen Massen ausgefüllt^
die durch Eosin diffus rot gefärbt erscheinen, an anderen sind sie voll-
gepfropft von gut erhaltenen roten Blutkörperchen, daneben Uebergänge.
Manche Partien sind aufs beste erhalten und lassen sich von normalem
Nierengewebe nur dadurch unterscheiden, daß die bindegewebige Zwischen-
substanz etwas vermehrt ist.
Die geraden Harnkanälchen bieten im ganzen das gleiche Bild.
Abweichend ist an ihnen nur, daß sich in ihrem Gebiete neben den
frischen Blutungen auch Beste von älteren Hämorrhagien finden, dadurch
charakterisiert, daß sowohl im Zwischengewebe wie in den Harnkanälchen
selbst zahlreiche pigmenthaltige Zellen eingestreut sind.
Das Stützgewebe ist allenthalben, bald mehr, bald weniger ver-
breitert, meist zellarm, hie und da zellreicher, namentlich auch zwischen
den gewundenen Harnkanälchen, so daß die Harnkanälchen teilweise zum
Schwund gebracht sind, und diese Partien sich mehr einer interstitiellen
Nephritis, der indurierten Schrumpfniere, nähern. Hier finden sich denn
auch die charakteristischen GefUßveränderungen : Verdickung der Adventitia^
Wucherungsvorgänge der Intima, so daß das Lumen der Gefkße eingeengt
ist, Vermehrung der Kerne der Media.
Fall II. Landmann H. Seh., 46 J., bemerkte etwa Mitte Juli 1899,
daß sein Urin auffallend braunrote Farbe habe, morgens intensiver wie
abends, ohne irgendwelche Beschwerden davon zu haben. Am 11. Nov.
1899 Aufnahme in die Klinik. Pat. gibt an, während der ganzen Krank-
heitsdauer angestrengt gearbeitet zu haben, ohne Schwäche oder leichtere
Ermüdbarkeit zu fühlen. Schwellungen der Gliedmaßen, der Augenlider
will er nie beobachtet haben, auch hat er nie über Kopfschmerzen zu
klagen gehabt. Ca. 10 Wochen, bevor Pat. etwas von dem Blutharnen
bemerkte, trat ihm ein Pferd auf die Brust, links vom Sternum, etwa der
2. und 3. Hippe entsprechend. Im 2. Lebensjahr angeblich Typhus, sonst
immer gesund. Familienanamnese ergibt nichts Besonderes.
788 Rudolf Stich,
Status: Gesund aussehender Mann, der keinerlei Krankheitsgefühl
hat. Hämoglobingehalt 90. Normale Temperatur. Keine stärkeren Oedeme,
nur vom Knie ab die unteren Extremitäten ganz leicht ödematös.
Puls groß, etwas gespannt, langsam (60), regulär. Herzdämpfung
nicht vergrößert. I. Ton über der Mitralis und IL Ton über der Pulmonalis
leicht accentuiert; Töne im ganzen leise, rein. Sonst ist an den Brust-
wie Bauch Organen nichts Besonderes nachweisbar. Nierengegenden nicht
schmerzhaft. Harn, ca. 1000 ccm pro die. Morgenurin etwas dunkler
wie der des übrigen Tages, trübe, von dunkelbraunroter Farbe. Boden-
satz von graurötlicher Farbe. Die über dem Satz sich lagernde Flüssig-
keit bleibt trübe und dunkelbraunrot. Reaktion sauer, spezifisches Ge-
wicht 1030, HsLLBRsche Blutprobe positiv, im Filtrat 1 ^Jqq Eiweiß. Spär-
liche Cylinder. Verlauf: Stets gleiches subjektives Wohlbefinden bei
gleichbleibendem Blutgehalt des Urins. Eine am 27. Nov. vorgenommene
Gelatineinjektion (2 g) blieb — ebenso wie Tannigen per os — ohne
sichtbaren Erfolg auf die Blutungen. Die Cystoskopie bezw. Ureteren-
katheterismus ergaben bei normalem Blasenbefund ans beiden üreteren
Blutungen, aus dem linken stärker wie rechts. Während im gesammelten
Tagesurin wiederholt spärliche Cylinder und Cylindroide gefunden wurden,
sind solche in der gesammelten Ureterflüssigkeit nicht nachgewiesen.
Der vorgeschlagene Probeschnitt wird vom Pat. abgelehnt, so daß er
am 4. Dez. 1899 bei subjektivem Wohlbefinden ungeheilt entlassen wird.
2. — 15. März 1900. IL Aufenthalt in der medizinischen
Klinik. Bei seiner II. Aufnahme gibt der Pat. an, daß bald nach seiner
Entlassung der Harn von selbst klarer geworden sei, doch trat immer
dann und wann, namentlich nach „etwaigen Erkältungen" stärkere Trübung
auf. Gegen Mitte Februar nahmen die Blutungen wieder zu, so daß ihn
sein Arzt neuerdings nach der Klinik sandte. In der Zwischenzeit hatte
Pat. schwere Arbeiten verrichten können und auch jetzt ist sein All-
gemeinbefinden keineswegs alteriert
Der Befund war zunächst der gleiche wie früher angegeben, doch
besserte sich in wenigen Tagen — ohne daß außer Bettruhe therapeutische
Maßnahmen getroffen worden wären — der Blutgehalt so weit, daß nur
noch ein ganz minimaler Bodensatz vorhanden blieb. Zu dieser Zeit wai*
im Urin Eiweiß nicht ganz sicher mehr nachweisbar. Als dann neuer-
dings Blutungen eintraten, willigte der Pat in einen operativen Ein-
griff ein.
Am 19. März wurde in der chirurgischen Klinik die linkp
Niere, als die zweifellos stärker blutende, freigelegt. Dieselbe ließ
sich nur schwer lösen, zeigte einige Adhäsionen. Nach dem Hervor-
wälzen der leicht gelappten Niere erwies sich die Nierenkapsel an
vielen Stellen verdickt. Aeußerlich waren keine Krankheitsherde
sonst zu entdecken. Der etwas nach hinten von der Mitte angelegte
Sektionsschnitt ließ die Rindenpartie auf dem Durchschnitt
leicht gelblich gefärbt und trübe erscheinen, die Markpartie
stark blaurot. Am unteren Pol wurde ein Teil excidiert, danach das
Nierenbecken weiter eröffnet und palpiert. Da sich weder ein Stein fand
noch irgendwelcher Befund die Exstirpation ratsam erscheinen ließ, wur-
den beide Hälften durch tiefgreifende Catgutnähte wieder vereinigt.
Schon am Tage nach der Operation stellte sich indessen Fieber ein,
das bald kontinuierlich zwischen 38 und 39 blieb. Gleichzeitig nahmen
■die Urinmengen ab, ohne Verringerung des Blutgehaltes, so daß wegen
Verdacht auf Nekrose der linken Niere diese am 26. März ex-
Ueber Massenblutangen aus gesunden und kranken Nieren. 789
stirpiert wurde. Der obere Nierenpol erwies sich an der Rückseite
von einem großen anämischen Infarkt eingenommen. Die umgebende
Kapsel war fibrinös eiterig belegt, die Nephrotomiewunde verklebt und
mit Blutkoagulis gefüllt An den Stellen, wo die Catgutnähte gelegt waren,
war das Nierengewebe nekrotisch geworden. In der Mitte der Niere,
nahe der Konvexität, hatten sich mehrere verschieden große anämische
Infarkte ausgebildet. Das nicht durch den operativen Eingriff direkt
veränderte Nierengewebe war parenchymatös getrübt und man sah deut-
lich die Glomeruli hervortreten. Das Nierenbecken war eng und wenig
mit Blutgerinnseln gefüllt Die mikroskopische Untersuchung ergab klein-
zellig infiltrierte Herde im parenchymatös nephritischen Organ, Zeichen
von „Blutübertritt" in die geraden Hamkanälchen, keine Tuberkulose,
keine Geschwulstbildung, so daß die Diagnose lautete: hämorrhagische
Nephritis.
Die Temperatur fiel am Abend der Operation auf 37,8, stieg jedoch
in beiden folgenden Tagen wieder rasch bis auf 40,3 und hielt sich dann
kontinuierlich um 40, bis der Patient am 3. März unter typischen sep-
tischen Erscheinungen zu Orunde ging. Der Urin blieb bis zu-
letzt bluthaltig. Die Autopsie ergab neben anderen septischen Pro-
zessen zahlreiche kleine Absceßchen der rechten Niere. Der wesentliche
Befund der im pathologischen Institut vorgenommenen Autopsie
{J.No. 179/00) lautet im Auszug: Abscesse der Bauchmuskulatur, des r.
Stemoklavikulargelenkes und dessen Umgebung und der r. Niere. Große
eiternde Wundhöhle in der Gegend der 1. Niere. Starke parenchymatöse
Trübung und fettige Degeneration von Herz, Leber, Niere. Geringe
chronische Endarteriitis der Aorta. Erweiterter linker Ureter. Kleines
Geschwür der Blase.
Fall ni. E. U., 32-jähr. Maschinist, war bereits im Jahre 1893 mit
heftigen Schmerzen in der r. Seite und im Bücken, Schüttelfrost und
Bluthamen erkrankt. Er wurde damals in einem auswärtigen Kranken-
hause behandelt. Nach 3 Tagen waren alle Schmerzen vorbei, Bluturin
soll nur bei einer einzigen Entleerung beobachtet worden sein. Am
14. Sept. 1896 nachmittags erkrankte er wieder ganz plötzlich aus vollem
Wohlbefinden ohne nachweisbare Ursache. Zunächst bekam er Urindrang;
der darauf entleerte Urin war stark bluthaltig. Y, Stunde später stellten
sich heftige Schmerzen in der r. Seite ein, die nach der Blasengegend
zu ausstrahlten. Gleichzeitig starker Schüttelfrost, Kopfschmerzen und
Urindrang, dem jetzt auf einmal nicht mehr nachgegeben werden konnte.
Trotz mehrfacher Versuche konnte er keinen Tropfen Wasser lassen.
Während die Schmerzen in der r. Seite und im Bücken bald etwas nach-
ließen, nahm die Spannung der Blase stetig zu, so daß Pat noch am
gleichen Abend die Klinik aufsuchte.
Status: Schwerkrank aussehender Mann. Quälender Urindrang.
Urinieren unmöglich. Frösteln. Temperatur 37,1. Ueber den Lungen
vorne beiderseits, hauptsächlich links, Schallverkürzung. L.V.O. ver-
schärftes Atmen, vereinzeltes feines Bassein (knackendes Blasenspringen).
Herz ohne Befund. Puls ziemlich klein, langsam. Blase steht bis 3 Quer-
finger unterhalb des Nabels, ist prall gefällt Ueber ihr starke Druck-
empfindlichkeit, die sich bis in die r. Seite, in die Nierengegend, hin er-
streckt. Schon der leiseste Druck auf die Nierengegend selbst ist
außerordentlich empfindlich, so daß kein sicherer Palpationsbefund erhoben
werden kann. Mit dem Katheter werden 400 com stark blutig gefärbten,
Mlttail. a. d. Orenzcebieten d. Medlsln a. Chirargie. Zm. Bd. 51
790 Rudolf Stich,
etwas dicken Urins entleert. Nach der Entleerung zunächst bedeutende
Erleichterung, dann bald wieder — auf dem Transport in den Kranken-
saal — sehr heftige Schmerzen in der r. Seite, der Nierengegend ent-
sprechend. Mikroskopisch können im Urin außer sehr zahlreichen Erythro-
cyten und entsprechenden Leukocyten keine korpuskularen Elemente ge-
funden werden.
Verlauf: Die anfallsweise auftretenden sehr heftigen Schmerzen,
sowie das Bluthamen bestehen auch in den nächsten Tagen in wechseln-
der Intensität. Katheterismus ist nur noch einmal nötig. Blasenspülung
wegen Yerstopfens des Katheters mit Blutgerinnseln unvollkommen, des-
halb Cystoskopie und Ureterenkatheterismus ausgeschlossen. Wegen Ver-
dachtes auf Nephrolithiasis nach der chirurgischen Klinik verlegt.
Dort wurde am 19. Sept. die Nephrotomie mittelst v. Bbromai^n-
schen Schnittes vorgenommen. Die Niere wurde mit vieler Mühe hervor-
gezogen; sie erwies sich als hyperämisch und leicht brüchig, so daß sie
beim Herausziehen an drei Stellen oberflächlich einriß. Bei der Nephro-
tomie entstand eine starke Blutung. Die genaue Abtastung des Nieren-
beckens sowohl wie des Ureters ergab nichts von Steinen. Auch sonst
fand sich makroskopisch nichts Auffallendes an der Niere, weshalb dieselbe
nach Vemähung des Parenchyms und der Kapsel wieder reponiert wurde.
Tamponade der Wunde.
Nach der Operation verschwanden die Schmerzen und die Hämaturie
und kehrten bis zu der 4 Wochen später erfolgten Entlassung nicht wieder.
n. Aufnahme. 5. August 1900. Von seiner Entlassung aus der
chirurgischen Klinik bis jetzt ist der Fat ganz gesund gewesen. Am
3. August erkrankte er wieder in der gleichen Weise wie früher mit Blut-
hamen. Die ursprünglich geringen Schmerzen steigerten sich binnen zwei
Tagen wiederum derart, daß der Mann klinische Hilfe suchte. Sie hatten
stets denselben kolikartigen Charakter wie bei den früheren Anfallen.
Bei der Untersuchung konnte diesmal an den Lungen nichts
Pathologisches mehr gefunden werden. Im übrigen war der Befund der
gleiche wie früher. Mehrfach Katheterismus nötig. Im Urin gröbere,
wohl in der Blase entstandene, und feinere Gerinnsel, Ureterenausgüssen
entsprechend. Mikroskopisch außer Erythrocyten und Leukocyten nur
öfters einzelne größere Zellen mit bläschenförmigem Kern (aus dem Nieren-
becken ?).
Verlauf: Wegen der anfänglich häufig wiederkehrenden Nieren-
koliken muß zunächst wiederholt Morphium gegeben werden. Dann wird
vom 2. Tage an mit Gelatineinjektionen begonnen ^), im ganzen wurden
9mal 4 g innerhalb 10 Tagen injiziert 8 Tage nach der Aufnahme
zeigte der Urin vollkommen blutfreie Beschaffenheit, Eiweiß und Cylinder
traten nicht auf. Eine geringfügige Cystitis ohne Fieber wurde mit Uro-
tropin und Spülungen unschwer beseitigt. Am 30. Aug. konnte Fat. völlig
geheilt entlassen werden.
Am 8. April 1903 kam er zu einer Nachuntersuchung wieder in die
Klinik. Er gab an, vollkommen beschwerdefrei zu sein, höchstens bei ganz
schweren Arbeiten habe er noch sehr geringfügige Schmerzen in der r.
Nierengegend. Kein objektiver Befund. Glatte, ganz leicht druckempfind-
liche Narbe. Hämoglobin 85 Proz., Urin ohne Befund.
1) Cf. Grunow, Ueber Anwendung subkutaner Gelatineinjektionen
zur Blutstillung. Berl. klin. Wochenschr., 1901, No. 32.
Ueber Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. 791
Fall IV. Arbeiter 0. D., 23 J., erkrankte am 29. Juni 1901 mit
Schmerzen in der r. Seite und dem Bücken, etwa der Nierengegend ent-
sprechend. Er führte dies auf eine Erkältung zurück, indem er — ein
eifriger Radfahrer — nach starker Erhitzung rasch 3 Olas kaltes Wasser
hinunterstürzte. Zwei Tage später bemerkte er, unter Zunahme der
Schmerzen, daß der Urin blutig wurde, die einzelnen Portionen verschieden
intensiv. Allmählich steigerten sich die Schmerzen, welche jetzt auch mehr
nach der Blase hinzogen, derart, daß Fat. arbeitsunfähig wurde. Mit
17 Jahren fieberhafte Halsentzündung. Später Soldat. Nie ernstlich krank.
Nichts von Hämophilie in der Anamnese.
Status: Kräftiger Mann, von gesundem Aussehen (Hämoglobingehalt
100 Proz.). Kein Fieber. In der r. Lumbaigegend, dicht unterhalb
der 12. Rippe besteht eine etwa handtellergroße druckempfindliche Stelle,
die auch beim Aufrichten und bei r. Seitenlage schmerzt; sonst ergibt die
Untersuchung keine pathologischen Befunde. Spontan entleerter Urin von
hellrötlich-brauner Farbe; Reaktion sauer; im dunkelrotbraunen Bodensatz
mehrere Ureterenausgüsse. Das Filtrat der oberflächlichen Flüssigkeit
gibt eine positive HBLLEBsche Blutprobe und enthält ca. ^4 Proz. Albumen.
Im Sediment zahlreiche rote Blutkörperchen, einige Leukocyten, amorphe
Krümel, keine Cylinder.
Verlauf: Urin morgens meist dunkler als tagsüber. Reaktion wech-
selnd, sauer bis alkalisch. Unter Bettruhe, flüssiger Diät und Extract.
secal. comut. fluid, sistieren die Blutungen langsam, um vom 10. Juli ab
ganz beseitigt zu sein. Mikroskopisch und chemisch danach im Urin nie
mehr pathologisches nachweisbar. Nur einmal wurden einige Hamsäure-
kristalle gefunden. Gleichzeitig mit der Abnahme der Blutungen ver-
schwinden auch die Schmerzen langsam, so daß Pat. nach 14 Tagen ge-
heilt entlassen werden kann.
Nach seiner Entlassung war der Pat. 3 — 4 Monate beschwerdefrei.
Seitdem hat er angeblich alle 3 — 4 Wochen einen Anfall: kolikartige
Schmerzen der rechten Bauchhälfte, die nach der linken Nierengegend
ausstrahlen sollen. Die Schmerzen sind anfangs sehr heftig und klingen
nach 1 Tage allmählich ab, um nach mehreren Tagen bis Wochen gänz-
lich zu verschwinden. Blut ist jetzt jedoch nie mehr im Harn gewesen.
Kein Erbrechen. Normale Stühle. Abgang von Steinen mit dem Urin nie
beobachtet (April 1904).
Wenn ich mich zunächst der Pathologie der beschriebenen
Hämaturien zuwende, so muß ich vorläufig die Fälle 3 und 4 als nicht
ganz aufgeklärt außer acht lassen ; die beiden ersten Fälle konnten je-
doch anatomisch untersucht werden, so daß sich aus ihnen bestimmte
Schlüsse ziehen lassen. In Fall 2 dürfte die Ursache der Blutungen
in der mikroskopisch festgestellten hämorrhagischen Nephritis
zu suchen sein. Schon bei der Operation wurden makroskopische Ver-
änderungen des Nierenparenchyms wahrgenommen, die aber nicht so
prägnant waren, daß bereits damals die sichere Diagnose gestellt wurde.
Edebohls^) behauptet zwar, nachdem er persönlich mehr als
300 Nieren während der Operation zu untersuchen und zu vergleichen
1) Edbbohls, L c.
61*
792 Rudolf Stich,
in der Lage gewesen ist, es verursache ihm keine Schwierigkeiten mehr,
prompt vermittelst Inspektion und Palpation zu entscheiden, ob eine
zur eventuellen Operation luxierte Niere von chronischer BRiOHTscher
Krankheit befallen ist oder nicht. Er hat deshalb nur in zwei Fällen
ein ganz kleines Stück Nierengewebe behufs mikroskopischer Unter-
suchung bei seinen Operationen excidiert, da der Ausfall von Nieren-
gewebe sich nicht durch Neubildung ersetzen kann, sondern nur durch
kompensatorische Hypertrophie. In allen anderen Fällen seien die
während der Operation vorgefundenen pathologischen Veränderungen
so positiv und ausgesprochen gewesen, daß ein Zweifel an der Richtig-
keit der Diagnose nicht aufkommen konnte. Ich muß gestehen, daß
man anderorts weniger sicher in der makroskopischen Diagnose des
Morbus Brightii ist, und daß ich deshalb die Zweifel, welche deutsche
Autoren dem auf solche Weise diagnostizierten einseitigen „Morbus
Brightii^ entgegenbrachten, für durchaus berechtigt halte. Israel ^) hat
in seinen eigenen Fällen von schwerer diffuser Nephritis mit dem bloßen
Auge nichts Krankhaftes sehen können, und kann zu seiner Unterstützung
in diesem Punkte mehrere Fälle aus der Literatur anführen. Auch
PoussoN konnte auf dem Durchschnitt der Nieren makroskopisch nichts
Abnormes konstatieren, und mikroskopisch war abundante Gewebs-
wucherung, Druck auf die Glomeruli, endo- und periarteriitische Gefäße,
Blutungen zwischen Gefäßschlingen und BowMANschen Kapseln zu
sehen. Ebenso nahm Albarran bei der Operation nur einen kleinen
gelblichen Fleck an einem Punkte der Rinde wahr, während bei mikro-
skopischer Untersuchung eine völlige Durchsetzung von Rinde und Mark
mit Miliartuberkeln offenkundig wurde.
Die mikroskopische Untersuchung des im Falle 2 exicdierten Stück-
chens, sowie die Untersuchung des 8 Tage später wegen Verdachtes
auf Nekrose exstirpierten Organes hat die Diagnose einer hämorrhagischen
Nephritis bestätigt. Der Patient erlag nach weiteren 8 Tagen einer
Sepsis, und so war man in der Lage, auch die andere Niere zu unter-
suchen. Leider liegen hier nur Angaben über den makroskopischen
Befund vor, die keinen sicheren Aufschluß darüber geben, ob neben den
gefundenen Absceßchen und den dadurch und durch die Allgemein-
infektion bedingten parenchymatösen Degenerationsvorgängen, ob neben
diesen akuten Krankheitserscheinungen auch noch ausgedehntere
ältere pathologische Veränderungen in dem Organ vorhanden waren,
welche in eine Linie mit den Veränderungen der linken Seite zu stellen
gewesen wären. Ich unterlasse es deshalb, hieraus Schlüsse auf die
Einseitigkeit des Prozesses zu ziehen, glaube vielmehr nach dem Be-
fund der Cystoskopie, daß wahrscheinlich ein doppelseitiger Prozeß
vorlag.
1) ISRABL, 1. c.
Ueber Massenblatnngen aus gesunden und kranken Nieren. 793
Anders im Fall I. Hier — die Patientin erlag einer doppelseitigen
aszendierenden Pyelonephritis — stellte sich bei der mikroskopischen
Untersuchung überraschenderweise heraus, daß — neben den in beiden
Organen ziemlich gleich stark verbreiteten Abscessen — auf der
rechten Seite eine chronische diffuse Nephritis vorhan-
denwar, diesich in keiner Weise von den Befunden unter-
schied, welche wir bei den subchronisch und chronisch
verlaufenden Nephritiden, speziell bei der chronisch
hämorrhagischen Nephritis finden, während die linke
Seite, abgesehen von den erwähnten Eiterherden und
damit verbundenen akuten de generativen Erscheinungen
nichts zeigte, was auf einen der anderen Seite analogen
Prozeß hinwies; kurz gesagt, es fand sich eine einseitige
Nephritis.
Der strikte Beweis der Einseitigkeit einer Nephritis kann,
streng genommen, nur durch die Sektion gegeben werden, gibt auch
Israel^) zu. Nach dem vorhin Gesagten darf man hinzufügen, daß
der Sektion die mikroskopische Bestätigung der makroskopischen Dia-
gnose folgen muß. Ich habe in der deutschen Literatur der letzten
15 Jahre keinen sicher bewiesenen analogen Fall finden können, glaube
auch kaum, daß in früheren Jahren — die Literatur dieser stand mir
nur teilweise zur Verfügung — eine derartige Beobachtung auf dem
Sektionstische gemacht wurde. Aus der Literatur des Auslandes mögen
mir Fälle entgangen sein, da es mir unmöglich war, auch nur die
Mehrzahl der hierher gehörigen Arbeiten im Original zu erhalten; in
den entsprechenden Referaten ist jedenfalls nichts derartiges enthalten.
Einen Fall, bei dem wenigstens der makroskopische Sektionsbefund
für die Einseitigkeit der Nephritis spricht, erwähnt Israel von einem
einwandsfreien Beobachter, Rater ^). Die Beobachtung betraf einen
26-jährigen Mann, welcher nach dreimonatlichen Nierenblutungen, deren
Ursache nicht erkenntlich war, starb. Bei der Sektion fand man eine
chronische Nephritis links, während die rechte Niere gesund schien.
Eine mikroskopische Untersuchung fehlt. Also kann der Fall nicht als
bewiesen angesehen werden.
Drei Fälle von „einseitiger Nephritis** veröffentlichten Castaigne
und Rathert^). Aber es handelt sich sich hier offenbar um eiterige
Nephritiden. Auch sie sind also hier nicht heranzuziehen.
Um so zahlreicher sind in den letzten Jahren die Veröffentiichungen
geworden, in welchen klinisch beobachtete einseitige Nephritiden
beschrieben sind. Ich habe oben erwähnt, daß Edebohls solche Fälle
1) Israel, 1. c.
2) Rayeb, Trait^ des maladies des reins. Paris 1841.
3) Casteionb et Bathbby, La semaine m^dicale, 1902, 20 acut.
794 ' Rudolf Stich,
bringt. Die Fälle sollen sich 5mal als rechtsseitige chronische inter-
stitielle Nephritis, 4mal als chronische interstitielle Entzündung der
linken Niere, 4mal als doppelseitige interstitielle Nephritis, 2mal
als doppelseitige chronische parenchymatöse Nephritis und Imal als
doppelseitige chronische diffuse Nephritis charakterisiert haben. Norden-
TOFT ^) berichtet über eine Patientin, die mit Schmerzen, Dysurie, Hämat-
urie und Pollakisurie erkrankt sei. Cystoskopie und Ureterenkatheteris-
mus ergaben die linke Niere als Sitz der Affektion. Die Diagnose
schwankte zwischen Nephrolithiasis und Tuberkulose. Die Nephrotomie
bewirkte Aufhören der Hämaturie und Besserung der übrigen Sym-
ptome. Die mikroskopische Untersuchung eines excidierten Stückchens
hatte nur Zeichen von parenchymatöser Nephritis ergeben. BOhner *),
der selbst aus Schedes Klinik einen Fall von „einseitig hämorrhagischer
Nephritis^ — bei der Autopsie fanden sich freilich auch in der anderen
Niere Veränderungen — veröffentlicht, stellt aus der Literatur
15 Nephrektomien und 16 Nephrotomien zusammen, bei denen das
Resultat der Operation mehrfach für das Vorhandensein einer einseitigen
Nephritis spricht. In 5 von diesen 31 Fällen trat nach der Operation
früher oder später der Tod ein, doch kann ich aus den mir zugäng-
lichen Referaten dieser Fälle nirgends mit Sicherheit entnehmen, daß
die Nephritis einseitig gewesen sei. Israel^ bringt in seiner Ent-
gegnung auf Senators *) Kritik neben seinem eigenen, hierhergehörigen,
Fälle von Hofbaüer, Poüsson, de Keersmacker, Rovsing, alle mit
Hämaturie verbunden. Allen diesen Fällen muß man die Tatsache ent-
gegenhalten, daß es Nephritiden gibt, die ohne Albuminurie und
Cylindrurie verlaufen. Es ist also nicht unbedingt nötig, daß das Auf-
hören der Ausscheidung von Eiweiß und Cylindern in diesen Fällen
nach der Operation (Nephrektomie bezw. Nephrotomie) gleichbedeutend
ist mit gesunder Niere der anderen Seite. Gleiches muß man von den
Fällen sagen, die Edebohls' zahlreiche Anhänger in Amerika seit
3 Jahren veröffentlichen.
Wichtiger erscheint mir für die Beurteilung unserer beiden ersten
Fälle jetzt die Besprechung, wie weit der anatomische Befund
den klinischen Verlauf erklärt Der Ausgangspunkt der
Blutungen ist in beiden Fällen sichergestellt; er ist in der Niere
selbst zu suchen. Im ersten Falle bewiesen das die mehrfach beob-
achteten üreteren- bezw. Nierenbeckenausgüsse, sowie später die Au-
topsie, bei der sich im rechten Nierenbecken ein großes Blutgerinnsel
fand, während das linke frei war, im zweiten war durch den vor der
1) NoBDBNTOFT, Hospitaltidende, 1902, No. 42. Ref. Dtsch. med.
Wochenschr., 1902, Lit.-BeiL No. 48, p. 311.
2) Bohnbr, Inaug.-Diss. Bonn, 1901.
3) 1. c.
4) Senator, Dtsch. med. Wochenschr., 1902, No. 8.
Ueber Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. 795
Operation in der chirurgischen Klinik vorgenommenen Harnleiter-
katheterismus mit Bestimmtheit konstatiert worden, daß bei normalem
Blasenbefiind aus beiden Ureteren Blutungen erfolgten, aus dem linken
stärker als rechts,
Waren nun diese Blutungen durch die gefundenen pathologischen
Veränderungen bedingt oder hatten sie doch vielleicht andere Ursachen ?
Weder die anamnestischen Angaben noch die klinische Beobachtung,
weder der makroskopische noch mikroskopische Befund bei der Sektion
gaben uns Anhaltspunkte für die häufigsten Ursachen der Hämaturie:
Steine, Tumoren, Tuberkulose. Ebensowenig konnte das Blut von einem
Trauma oder einer der selteneren Ursachen, wie ich sie schon eingangs
erwähnt habe, herrühren. Ein Papillom des Nierenbeckens oder Ure-
ters, das in einigen wenigen Fällen als Grund für eine stärkere Blutung
gefunden wurde, wurde bei der Autopsie vergeblich gesucht. So blieb
nichts anderes übrig, als entweder jene angioneurotischen Blutungen
anzunehmen — für Hämophilie im engeren Sinne fehlten alle Anhalts-
punkte — oder die gefundenen entzündlichen Veränderungen der
Nieren in ätiologischen Zusammenhang mit der Hämaturie zu bringen.
Die typischen Symptome einer chronischen Nephritis
waren in unseren Fällen nicht ausgesprochen. Namentlich muß
es befremdlich erscheinen, daß trotz der immer wieder vorgenommenen
mikroskopischen Harnuntersuchung nur so außerordentlich spärliche
Cylinder — im ersten Falle lange Zeit gar keine — gefunden werden
konnten, insbesondere, daß bei den enormen renalen Blutungen keine
Blutcylinder im Urin waren. Wenn auch vielleicht in dem ersten Fall
die Blutungen so profus gewesen sein könnten aus einzelnen Nieren-
abschnitten, daß zu einer Bildung von Cylindern keine Zeit gewesen
wäre, oder wenn die Cylinder in den größeren Gerinnseln hätten ver-
borgen sein können, so daß eine Erkennung derselben unmöglich war,
bei dem anderen Patienten wären diese Einwände nichtig gewesen, da
sich der Urin bei demselben im Laufe der klinischen Beobachtung so
weit aufhellte, daß nur noch ein ganz minimaler Bodensatz vorhanden
blieb. In dieser Zeit fehlten Cylinder ganz, und Eiweiß war nicht mehr
mit Sicherheit nachweisbar. Doch sind ja genugsam Fälle bekannt, in
welchen Nephritiden ausnahmsweise nicht mit Albuminurie und An-
wesenheit von Cylindern verbunden waren. Das ist, wie Senator^)
mitteilt, schon von Bright angegeben. Andere Autoren haben diese
Beobachtung wiederholt bestätigt, ich erwähne aus früheren Jahren
Henoch, Bartels, Quincke. Senator, in neuerer Zeit hat Cassel ^
derartige Fälle zusammengetragen und eine größere Zahl einwands-
freier, auf dem Sektionstisch bestätigter Beobachtungen mitgeteilt.
1) Senator, 1. c.
2) Berliner klin. Wochenschr., 1900, No. 10.
796 Rudolf Stich,
Da. das Vorhandensein von Oedemen gleichfalls sehr inkonstant
ist, so dürfen wir das Fehlen derselben im einen, den minimalen Grad
im anderen Fall nicht als Gegengrund für unsere Diagnose anführen.
Aus der Harnmenge waren keinerlei Schlüsse zu ziehen, da dieselbe
sich ganz in den Grenzen der Norm hielt. Ebenso fehlten Verände-
rungen am Zirkulationsapparat mit Ausnahme einer ganz mäßigen
Spannung des Pulses in beiden Fällen. Es ist nach alledem nicht zu
verwundern, daß eine sichere Diagnose in vivo nicht gestellt werden
konnte.
Noch einem Einwurf glaube ich entgegentreten zu sollen: dem, es
sei anatomisch, speziell mikroskopisch keineswes erwiesen, ob die be-
schriebenen Veränderungen wirklich gleichbedeutend seien mit Morbus
Brightii, oder ob nicht vielmehr das ganze Bild Heilungsvorgängen ent-
spräche, Heilungsvorgängen einmal, wie sie beobachtet würden bei in-
fektiösen Nephritiden, speziell bei Pyelonephritis ascendens, und dann
solchen nach Traumen, Infarkten etc., also lokalen Insulten der Niere.
Die letzteren kann ich wohl, ohne ein Wort darüber zu verlieren,
ausschalten. Anamnese, klinischer Verlauf^ Sektions- und mikrosko-
pischer Befund sprechen einstimmig und absolut dagegen. Wie steht
es nun mit jenen infektiösen Nephritiden? Wir haben da zu unter-
scheiden zwischen solchen, welche von den tieferen Harnwegen her
aufsteigen und solchen, die hämatogenen Ursprungs sind, von denen
schon bisher angenommen wurde, daß sie einseitig sein können, wenn
ich auch hervorheben muß, daß selbst diese aus begreiflichen Ursachen
meist doppelseitig sind, nämlich Pyelonephritis ascendens im eigent-
lichen Sinn und die hämatogene infektiöse (eiterige) Nephritis. Von
diesen beiden Formen ist es bekannt, daß sie in einen chronisch ent-
zündlichen oder auch indurierenden Prozeß ausgehen können. Ich
glaube tatsächlich, daß es anatomisch nicht ganz sicher zu entscheiden
wäre, ob wir eine auf diese Weise entstandene einseitige Nephritis vor
uns haben, wenn mir auch nicht bekannt geworden ist, daß diese
^chronisch entzündlichen oder indurierenden Prozesse* später je das
Bild einer typischen hämorrhagischen Nephritis geboten hätten. Jeden-
falls ist in der Niere weder makroskopisch noch mikroskopisch etwas
von den Heilungsvorgängen zu sehen gewesen, welche Brügauff^) in
seiner interessanten und lehrreichen Arbeit aus Ponfigks Institut be-
schreibt. Aber wir brauchen in unserem Fall uns nur den klinischen
Verlauf der Krankheit vor Augen zu führen, um sofort ausschließen
zu können, daß es sich hier um Heilungsvorgänge bezw. „Ueber-
gang^ in chronisch entzündliche Prozesse handeln kann. Das ganze
Krankenlager der Frau hat knapp 3 Wochen gedauert und hat keines-
wegs mit den Symptomen einer Pyelonephritis begonnen, vielmehr —
1) Brucauff, Virchows Archiv, Bd. 166, 1901.
lieber Massenblntungen aus gesunden und kranken Nieren. 797
ohne Fieber, ohne subjektives Krankheitsgefühl — mit Blutungen.
Und dann, in 3 Wochen bildet sich eine akute eit^erige Nierenentzündung
nicht so um, dazu gehören Monate, wenn nicht Jahre. Zu alledem
führt ja die Anamnese direkt auf eine früher erworbene Nieren-
entzündung im Sinne des Morbus Brightii hin. Die Patientin hat in
ihrer Kindheit Pocken, Masern, Scharlach, Diphtherie durchgemacht. So
bleibt uns eben, wenn wir die Blutung überhaupt mit den gefundenen
entzündlichen Veränderungen der rechten Niere in Zusammenhang
bringen wollen, nur die Annahme übrig, daß die unilaterale Nephritis
von einer jener Krankheiten übrig geblieben ist.
Leider ist in allen unseren Fällen eine bakteriologische Unter-
suchung des steril entnommenen Urins versäumt worden, so daß wir
außer stände sind, die so wichtige Frage zu beantworten, wie weit die
akuten Exacerbationen der chronischen Nephritiden auf einer infektiösen
Basis beruhen.
Noch ein Punkt scheint mir der Erwähnung wert. In der aus-
gedehnten und nützlichen Diskussion zu Senators ^) Vortrag im Ver-
ein für innere Medizin in Berlin brachte Zondek sehr interessante
Präparate, aus denen hervorging, daß kleine Steine an operativ ge-
spaltenen Nieren sehr wohl verborgen bleiben und daß solche Steine
zirkumskripte Entzündungen hervorrufen können, die bei längerer Fort-
dauer des Reizes größere Bezirke der Niere umgreifen können. Ohne
diese Tatsachen in Abrede stellen zu wollen, möchte ich betonen, daß
in unserem Falle die Entzündung einmal die ganze Niere umfaßte, und
dann, daß bei der Sektion nichts von einem Steinchen zu finden war»
Haben wir nun nach diesen klinischen und anatomischen Befunden
Veranlassung, statt der naheliegenden Annahme, die Blutungen hätten
in den beschriebenen entzündlichen Prozessen ihre Ursache, auf die
Hypothesen einer Angioneurose zurückzukommen, mit anderen Worten^
war die Hämaturie der Ausdruck eines organischen Nierenleidens oder
einer neuropathischen Veranlagung der Nierengefäße?
Klemperer hat bekanntlich in Analogie anderer „neuropathischer^
Blutungen, wie der Menstrualblutung, der nervösen Blutungen hoch-
gradig neurasthenischer und hysterischer Individuen, angenommen^
solche Blutungen könnten auch aus den Nieren erfolgen und zwar aus
gesunden Nieren, wie es bekannt sei, daß aus anderen anatomisch un-
veränderten Organen profuse Blutungen erfolgten, z. B. Haemoptoe^
Haematemesis zur Zeit einer Suppressio mensium. Er bezieht sich
dabei auf die anerkannte Autorität von Regklinohausens.
Nicht nur klinische Beobachtungen und Obduktionsbefunde haben
zur Evidenz bewiesen, daß aus gesunden Organen unter nervösen Ein-
flüssen Blutungen erfolgen können, sondern auch der experimentellen
1) Senator, Deutsche med. Wochenschr., 1902, Ver. Beil. No. 9.
798 Rudolf Stich,
Forschung ist es mehrfach gelungen, durch Nervenreizung Blutungen
in gesunden Organen hervorzurufen.
Die Entstehung solcher Blutungen durch Nerveneinfluß soll nach
der Annahme einzelner Autoren durch Reizung der Vasomotoren, Blut-
drucksteigerung und Berstung der Gef&ße zu erklären sein. Vülpian
hält eine Lähmung der vasomotorischen Zentren für die Ursache der
Blutungen: sie bedingt eine Erschlaffung der Gefäßwand und Ueber-
füUung der kleinsten Gefäße.
Die Möglichkeit solcher Blutungen also, für dieSoKOLOFF^
aus der Klinik Boteins bereits vor 30 Jahren einen Fall angeführt
hat — dessen zweifellose Richtigkeit bei der damaligen Untersuchungs-
methode freilich nicht sichergestellt hat werden können — die Möglich-
keit besteht. Freilich müßte man, wenn man von „nervösen Blutungen"
spricht, eigentlich eine „neuropathische" Konstitution oder sonst nervöse
Störungen an den betreffenden Patienten finden. In einer Anzahl der
von Klemperer angeführten Fälle spielen solche Zustände auch eine
Rolle, in anderen ist nichts davon erwähnt, in diesen sollen dann eben
die Nierengefäßnerven die einzigen gewesen sein, die verändert waren.
Geben wir also die Möglichkeit der angioneurotischen Blutungen
zu! Sind wir danach gezwungen, in unseren beiden Fällen von einer
Angioneurose zu sprechen? Insofern vielleicht, als eben jeder Blut-
austritt durch unverletzte Gefäße in letzter Linie auf nervösen Ur-
sachen beruhen kann. Finden wir in einer blutenden Niere einen Stein
oder einen Tumor oder einen tuberkulösen Herd, so nehmen wir an,
daß diese die Ursache der Blutung waren. Finden wir dagegen bei
einer rechtsseitigen Hämaturie mikroskopisch das Bild einer chronischen
diflfusen hämorrhagischen Nephritis, dann sollten wir eine neuropathische
Blutung annehmen? Ich glaube, es ist natürlicher, wenn wir von einer
einseitigen hämorrhagischen Nephritis sprechen.
Die Anamnese, die klinische Untersuchung und die Autopsie er-
gaben nichts Positives für die Annahme einer luetischen Erkran-
kung der Niere. Immerhin ist im Auge zu behalten, daß die Syphilis
zu sekundären Nieren Veränderungen führen kann, die in ihrem patho-
logisch-anatomischen Verhalten keine spezifischen Charaktere zeigen.
Alle Formen der chronischen Nephritis sind bei syphilitischen Indivi-
duen beobachtet. Immerhin ist es mir auch von diesen Formen nicht
bekannt, daß sie jemals einseitig gewesen sein sollen.
Es bleibt mir nur noch zu erwähnen übrig, daß auch für die
Nieren blutung nach körperlicher Ueberanstrengun g
(Leyden, Klemperer, Senator) bei unseren beiden ersten Fällen
keine Anhaltspunkte waren.
Der dritte der mitgeteilten Fälle ist nicht so klar. Daß die Ko-
1) SoKOLOFF, Berl. klin. Wochenschr., 1874, No. 20.
Ueber MassenblutuDgen aus gesunden und kranken Nieren. 799
liken renale waren und nicht andere Ursachen wie etwa Gallensteine,
Pankreas- und Wurmfortsatzerkrankungen, Darmverschluß, Magen- und
Duodenalgeschwüre hatten, ist durch die Hämaturie und die ganz
enorme Schmerzhaftigkeit der rechten Nierengegend erwiesen. Daß
nicht Krankheitszustände des Ureters die Blutungen und die Koliken
veranlaßt haben, scheint mir einmal durch das Fehlen einer Striktur
(retrograde Sondierung bei der Operation) und dann durch die immer
wiederkehrenden, außerordentlich starken Hämaturien bestätigt.
Die Niere war nicht dislociert, also können wir kaum eine inter-
mittierende Hjdronephrose, bei der Blutungen und Koliken
vorkommen, annehmen, zumal während der Schmerzparoxysmen nie eine
Vergrößerung der Niere konstatiert werden konnte.
Ein Neoplasma der Niere dürfte wohl auszuschließen sein.
3 Jahre nach Beginn der Erkrankung wurde bei der Nephrotomie weder
in der Niere noch im Nierenbecken noch im Ureter etwas von Tumoren
nachgewiesen ; die Blutung stand trotzdem nach der Operation prompt.
Auch bei der zweiten Auftiahme, 4 Jahre später, und selbst bei einer
Nachuntersuchung im April 1903, also 10 Jahre nach Beginn der Er-
krankung war nichts von einem Tumor palpabel. Wenn auch in ein-
zelnen, seltenen Fällen das Wachstum von malignen Neubildungen der
Nieren außerordentlich langsam vor sich -geht, so ist es doch in hohem
Grade unwahrscheinlich, daß bei so langer Beobachtungsdauer nie ein
Tumor hätte gefühlt werden können, wenn tatsächlich ein solcher vor-
handen war.
Auch an eine Nephrolithiasis kann ich in unserem Falle nicht
recht glauben, wenngleich der Ausschluß einer solchen stets auf die
größten Schwierigkeiten stößt. Es wurde bei der Operation nichts von
Steinen gefunden, trotzdem die Niere nicht etwa nur palpiert oder das
Nierenbecken durch Pyelotomie freigelegt wurde, sondern trotz der
breit spaltenden Nephrotomie. Aber es ist ja allgemein bekannt, daß
erbsengroße und kleinere Steine, die wohl recht heftige Koliken aus-
lösen können, bei der Operation übersehen werden können. Noch vor
wenigen Wochen sah ich einen derartigen Fall, bei dem in zwei
Sitzungen aus aseptischer Niere rechts 9 Steine von Linsen- bis
Kirschgröße und links ein etwa walnußgroßer Stein entfernt wurde,
der einen vollständigen Ausguß des Nierenbeckens darzustellen schien
und nirgends Bruchflächen zeigte oder Facetten, welche auf das Vor-
handensein weiterer Steine hätten schließen lassen; auch die genaueste
Palpation des durch die Pyelotomiewunde eingeführten Fingers und der
Sonde hatte nichts mehr von Steinen erkennen lassen. 6 Wochen nach
der ersten und 11 Tage nach der zweiten Operation wurde mit dem
Urin unter typischen Anfällen rechts ein linsengroßer, links ein erbsen-
großer Stein entleert, dessen Zugehörigkeit zu den betreffenden Seiten
um so leichter nachzuweisen war, als die chemische Zusammensetzung
800 Rudolf Stich,
der Steine der beiden Seiten differierte. Obwohl das negative Operations-
resultat nicht unbedingt gegen einen Stein spricht^ ist es doch be-
achtenswert. Dazu kommt, daß die Blutungen und KoUken zeitlich
stets so gelagert waren, daß wir von Steinkoliken im eigentlichen Sinne
nicht recht wohl sprechen können. Stets waren nämlich die Blutungen
das primäre und erst, wenn dieselben profus wurden, also Gerinnsel-
bildung eintreten mußte, dann setzten die Schmerzfälle ein, die eben
weiter nichts bedeuteten, als daß die Goagula sich durch den Ureter
nach der Blase durchzwängten. Ich kann aus diesem Grund für unsere
Fälle eigentlich auch nicht so recht an Israels Theorie von der Nieren-
kongestion als Ursache der Schmerzen glauben.
Noch schwerer auszuschließen oder Oberhaupt nicht mit Sicherheit
auszuschließen ist Tuberkulose. Vor allem wäre für diese Er-
krankung die Vornahme einer cystoskopischen Untersuchung eventuell
von größtem Wert gewesen. Die Tatsache, daß bei der Nierenspaltung
kein tuberkulöser Herd gefunden wurde, beweist nichts gegen Tuber-
kulose. Der lehrreiche Fall von Braatz zu diesem Kapitel ist bereits
erwähnt. Etwas, was vielleicht gegen eine tuberkulöse Infektion an-
zuführen wäre, ist der weitere Verlauf. Daß die Nierentuberkulose in
ihren Anfangsstadien bei rein interner und allgemeiner Behandlung einer
Ausheilung fähig ist, wird nicht nur von inneren Klinikern behauptet,
sondern auch von hervorragender chirurgischer Seite hervorgehoben
(TuFFiER, GüYON u. a.). ludosseu erscheint es mir im höchsten Grade
unwahrscheinlich, daß bei den stürmischen und wiederholten Attacken,
die unser Patient durchzumachen hatte, eine Ausheilung erfolgt wäre,
wenn der Prozeß ein tuberkulöser gewesen wäre; denn allseitig wird
anerkannt, daß reichliche Blutungen sofortige Nephrektomie erfordern.
Vielleicht könnten bei einer gelegentlichen neuen Untersuchung Cysto-
skopie und Tuberkulininjektionen größere Klarheit schaffen.
So stehen wir denn unter Ausschaltung der zahlreichen, seltenen
Ursachen für Nierenblutung und Nierenkolik, deren ausführliche Be-
sprechung über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge, vor der Wahl,
beunruhigende Krankheitserscheinungen bei gesunden Nieren anzu-
nehmen, mögen wir sie nun idiopathische renale Neuralgie, Nephralgie
h^maturique, essentielle Hämaturie, angioneurotische Nierenblutung
heißen, oder aber wir müßten auch in diesem Fall eine hämorrhagische
Nephritis von jener seltenen Form den erwähnten Symptomen suppo-
nieren. Eine sichere Entscheidung zu treffen, scheint mir unmögUch,
und ich unterlasse es deshalb, mich in unfruchtbaren Spekulationen
über diesen Punkt zu ergehen. Das Gleiche gilt von dem 4. Falle, bei
dem die Diagnose sich ja überhaupt nur auf klinische Beobachtungen
stützen kann.
Ich wende mich zu der Therapie der Fälle und schicke voraus,
daß es bei diesen Erkrankungen ganz außerordentlich schwer ist, rieh-
Ueber Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. 801
tige Schlüsse auf die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen zu ziehen,
da die Blutungen oft genug ganz spontan ohne jede Behandlung, ja
selbst ohne die allgemein empfohlene Ruhelage stehen. Eines freilich
halte ich für richtig, zu betonen: nur dann, wenn wir im stände sind,
mit voller Sicherheit einen malignen Tumor oder Tuberkulose auszu-
schließen, sind wir berechtigt, einen operativen Eingriff zunächst zu
unterlassen. Anderenfalls müssen wir, auch wenn die beunruhigenden
Symptome — Massenblutungen und Kolikanfälle — durch oder während
interner Behandlung beseitigt würden, unserem Klienten einen opera-
tiven Eingriff unbedingt anraten. Unsere moderne Nierendiagnostik
bewegt sich erfreulich aufwärts, so daß wir hoffen dürfen, manchen
dieser Fälle, der bisher ohne Diagnose das Krankenhaus verließ, in der
Zukunft richtig rubrizieren zu können; aber trotzdem dürfte es auch
in der Zukunft schwer sein, stets einen beginnenden Nierentumor aus-
zuschließen. Wer mit der Pathologie der Nierentumoren einigermaßen
vertraut ist, weiß sehr wohl, daß selbst ganz profuse Blutungen im
Verlauf dieser Prozesse monate-, ja jahrelang zum Stillstand kommen
können, und daß deshalb das Sistieren der Blutung durchaus kein Be-
weis für die günstige Prognose des Leidens ist. Ich kann mich des-
halb keineswegs mit Klehperers^) Thesen 4. und 8. einverstanden
erklären, gebe vielmehr den Chirurgen durchaus recht, welche dieselben
geradezu gefährlich erachten. Wenn wir in diesen unklaren Fällen von
Hämaturie — und das werden sie ja in der Mehrzahl auch fernerhin
bleiben — warten wollen, bis ein positiver Palpationsbefund oder gar
der Nachweis von Tumorzellen im Urin die Diagnose einer angio-
neurotischen Nierenblutung ausschließt, dann kann die kostbarste Z^it
für die Frühoperation eines sonst tödlichen Leidens bereits ver-
strichen sein.
Welche Gefahren aber auch auf anderen Gebieten in dem Warten
mit der Operation liegen, das zeigt unser Fall I, der — ohne unsere
Schuld — nicht zur Operation kam: die Gerinnselbildung, die dadurch
hervorgerufene Verstopfung des Orificium internum urethrae und die
Notwendigkeit mehrfacher Katheterisation verursachten eine heftige
Cystitis und aufsteigende Pyelonephritis.
Die Prognose dieser Massenblutungen ist nach unseren Fällen keine
günstige. Nur zwei der Kranken haben die mehrfachen Attacken
schwerster Hämaturie glücklich überstanden. Von den beiden letal
endigenden Fällen ist der eine rein intern, der andere intern und
chirurgisch behandelt worden. Die interne Behandlung bestand in
erster Linie in Bettruhe und reizloser Diät, wie sie bei allen auf
nephritischer Basis beruhenden akuten oder chronisch exacerbierenden
Nierenerkrankungen empfohlen ist. Sodann wurde versucht, durch
1) Klbmpbrbb, Deutsche med. Wochenschr., 1897, No. 10.
802 Rudolf Stich,
Styptica per os und subkutane Gelatineinjektionen die Blutungen
günstig zu beeinflussen. Es schien ja in dem Falle I auch, als ob diese
Medikationen auf die Hämaturie von guter Wirkung wären, aber ehe
die Blutungen ganz beseitigt waren, fiel die Frau einer infektiösen
eitrigen Nephritis zum Opfer. Im Falle II hatte die einmalige Gela-
tineinjektion (2 g) gar keinen Erfolg zu verzeichnen, der Patient wurde
auf seinen Wunsch zunächst ungeheilt entlassen, und zu Hause ver-
schwanden die Blutungen dann bald ohne jede ärztliche Behandlung
ganz von selbst, freilich, um nach 2 Monaten neuerdings einzusetzen.
Der schon bei der ersten Aufnahme vorgeschlagene, aber vom Patienten
abgelehnte Probeschnitt wurde jetzt nach längerer, vergeblicher interner
Behandlung ausgeführt; es fand sich eine hämorrhagische Nephritis.
Leider erlag der Patient einer Sepsis. Dieser unglückliche Ausgang
kann nicht gegen den Vorschlag eines chirurgischen Eingriffes in An-
spruch genommen werden. Einmal hätte das Leiden ohne einen solchen
wahrscheinlich auch letal geendet, und dann sind die Operationsver-
luste ^) bei diesen unstillbaren Nierenblutungen keine sehr großen.
Von 14 Nephrotomien starben nur 3, Fälle von Olivier, Israel und
Schede. Die Todesursache war in allen 3 Fällen eine doppelseitige
Nephritis, einmal unter Konkurrenz eines leichten Erysipels. Auch in
unserem Falle ist es nicht unmöglich, daß eine doppelseitige Nieren-
entzündung vorlag.
Die Blutung kam nach der Nephrotomie hier nicht zum Stillstand^
vielmehr entleerte der Patient auch weiterhin bluthaltigen Urin. Es
sind mehrfach in der Literatur derartige Fälle verzeichnet, die dann
durch die sekundäre Nephrektomie zur Heilung kamen. Bei uns konnte
die Nephrektomie den letalen Ausgang nicht aufhalten. Der Grunde
warum im vorliegenden Fall die Blutungen nicht standen, ist natürlich
schwer ausfindig zu machen. Zweierlei könnte vielleicht in Betracht
kommen, erstens die septische Infektion, zweitens die Naht, die viel-
leicht durch stärkere Spannung in einzelnen Gebieten des Nierenparen-
chyms venöse Stauung hervorrief ; vielleicht haben auch beide Faktoren
ineinander gegriffen. Israel hat auf Grund seiner Erfahrungen jetzt
empfohlen, statt der Naht in diesen Fällen die Tamponade der Nieren-
wunde vorzunehmen, von der Erwägung ausgehend, daß die von ihm
beabsichtigte Entspannung und Gewebsdrainage dadurch viel ausgiebiger
zu erreichen sei.
Im 3. Fall wurde, in Annahme einer Nephrolithiasis, beim zweiten
Anfall die Nephrotomie vorgenommen. Obwohl sich kein Stein fand, stand
die Hämaturie nach der Operation, um 4 Jahre später neuerdings einzu-
setzen. Auch solche Fälle sind bekannt, wenngleich selten. Sie sind
von Israel und in den neueren größeren Lehrbüchern aufgeführt
1) Schede, 1. c.
Ueber Massenblutongen aus gesunden und kranken Nieren. 803
(Senator, Penzoldt - Stintzing u. a,), so daß der Hinweis genügt.
Auch hier ist wiederholt mit der sekundären Nephrektomie definitive
Heilung erzielt worden. In unserem Fall stand die neue Blutung, wie
früher erwähnt, nach mehrfachen Gelatineinjektionen, so daß ein zweiter
operativer Eingriff unnötig wurde.
Ich glaube, daß wir in Bezug auf die Behandlung dieser Massen-
blutung folgendes aus unseren Fällen gelernt haben : Zunächst ist unter
allen Umständen zu versuchen, die Blutung ohne operativen Eingriff
zu beseitigen ; denn selbst bei Verdacht auf Tumor werden die Vorbe-
dingungen einer Operation im Ruhestadium, wenn ich so sagen soll^
günstiger sein. Von der innerlichen Darreichung der Styptica wird
man wenig zu erwarten haben. Dagegen dürfte — Bettruhe und nicht
reizende Diät als selbstverständlich vorausgesetzt — ein Versuch mit
subkutanen Gelatineinjektionen indiziert sein. Eventuell kann Kälte in
Form einer Eisblase diesen Versuch unterstützen. In Anbetracht der
Fälle von Senator, Klemperer, Leoueu etc. kann eine suggestive
Behandlungsweise und hydrotherapeutische Maßnahmen mit Nutzen ein-
geleitet werden. Gehen aber die Symptome nicht in 8 — 14 Tagen zu-
rück, so ist unter allen umständen die probatorische Freilegung der
Niere zu empfehlen. Schon vor diesem Zeitraum ist ein operativer
Eingriff vorzuschlagen, wenn die Symptome bedrohlicher werden oder
Erscheinungen eiteriger Nephritis bezw. Cystitis eintreten. Von dem
Operationsbefund hängen die weiteren Maßnahmen ab. Auch im Fall
des Rückgangs der Blutungen ist dann ein operativer Eingriff ange-
zeigt, wenn der Verdacht auf Nieren tumor weiterbesteht. In jedem
Fall sind die Kranken anzuweisen, auch nach ihrer Entlassung sich
ärztlich überwachen zu lassen.
Die Lehre von der Doppelseitigkeit des Morbus Brightii wird
auch in der Zukunft für die überwältigende Mehrzahl der F^le gelten,
wie uns die Sektionsberichte auch weiterhin zeigen werden. Eins
scheint mir aber unser Fall I zu zeigen, daß es selteneFälle gibt,
die — klinisch durch Hämaturie und Koliken ausge-
zeichnet — anatomisch auf der kranken Seite das Bild
einer diffusen chronischen parenchymatösen und inter-
stitiellen Nephritis darbieten, während die andereNiere
normal ist.
Literatur.
(Das nachstehende Verzeichnis enthält nur diejenigen Arbeiten, welche
nicht bereits in dem Sammelreferat von Wilhelm Klink aufgeführt
sind [Centralbl. f. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., 1903, p. 641, 740, 784,
826, 869, 916]).
804 ' Rudolf Stich,
1) Albarran et Bbrnard, Regeneration de la capsule dn rein . . . Sem.
niM., 1902.
2) AsAKURA, Experimentelle Untersuchungen über die Decapsulatio renum.
Mitteil. a. d. Grenzgeb., Bd. 12.
3) Barette, Les n^phrites infectieuses au point de vue chir. These
d'agregat., Paris 1887.
4) Barth, Zur Frage der diagnostischen Nierenspaltung. 29. Chir.-Kongr.
zu Berlin. Centralbl. f. Ohir., 1900.
5) Blake, Freliminary report of five cases of renal decapsulation. Boston
med. and surg. Journ., 1903, Aug. 13.
6) BoNsz - OsMOLOwsKY, Einige Untersuchungsergebnisse über die Ver-
änderungen der Nieren bei Entfernung ihrer Kapsel. Russky Wratsch,
1903. Ref. i. d. Münch. med. Wochenschr., 1903.
7) Braatz, Ueber operative Spaltung der Niere. Dtsch. med. Wochen-
schrift, 1900, No. 10.
8) BüHNBR, Ueber einen Fall von Nephrotomie wegen Nierenblutung . . .
Dissertation Bonn, 1901.
9) CaillA, Chronic parenchymatosis nephritis in a child treated by renal
decaps. Arch. of Pediatrics, 1902 (nach Edbbohls).
10) CiüTi, L'intervento chirurgico nelle nefriti. Riv. crit. di clin. med.,
1902, No. 22 (HiLDEBRANOs Jahresber.).
11) DoRST, Een gewal von pseudoessentieller Hämaturie. Nederl. Tjydschr.
V. Geneesk., I. Ref. i. d. Dtsch. med. Wochenschr., 1902.
12) Edebohls, The technics of nephropexy, as an Operation per se . . .
Ann. of surg.. Febr. 1902.
13) — Questions of priori ty in the surgical treatment of • . . Med. Reo.,
April 26, 1902.
14) — Renal decapsulation for chronic Brights disease. Med. Reo., 1903,
March 28.
15) Ehrhardt, Experimentelle Beitr&ge zur Nierendekapsulation. Mitteil.
a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 13, 1904.
16) Esoat, Des h^maturies renales chez les prostatiques. Assoc. £ran9.
d'urolog., Oct. 1899.
17) Fenwick, Renal papiUectomy. A contribution of the study of painless . . .
Brit. med. Journ., 1900, Febr. 3.
18) Ferguson, Surgical treatment of nephritis or Brights disease. Med.
Stand., Chicago, June 1899.
19) Flodbrus, Om höggradig renal hematuri vid makroskopiskt oförändrade
njurar. Upsala Läkarefören. Förhandl., N. F. Bd. 4. Ref. im Centralbl.
f. Chir.
20) Gibbons, Renal colic in infants. The Lancet, 1896, Jan. 18.
21) GuiTäRAs, The surgical treatment of Brights disease. New York med.
Journ., 1902, p. 847.
22) Hahn, Nierenblutung bei Hämophilie, durch Gelatine geheilt. Münch.
med. Wochenschr., 1900, No. 42.
23) Hanchbtt, Surgical treatment of chronic nephritis. Critique, Jan.
1903, p. 1.
24) Harrison, Nefrotomia nelle nefriti. Gazz. degli osped. e della clin.,
1901, No. 35 (Hildebrands Jahresber.).
25) Henry, Nephropexy in a case of chronic nephritis. Amer. Journ. of
the med. scienc, 1903, Sept.
lieber Massenblutungea aas gesunden und kranken Nieren. 805
26) Hbrmak, Der Nierenschnitt als therapeutischer Eingriff bei sogenannter
Nephralgie . . . Przegl^d lekarski, 1902, No. 19—22. Ref. Oentralbl.
f. Chir., 1902.
27) Holländer, Nierenexstirpation bei einem 8-monatlichen Kinde. Dtsch.
med. Wochensohr., 1903, No. 34.
28) HoFBAUBB, Ein Fall von 2-jähriger unilateraler Nierenblutung. Mitteil.
a. d. Orenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 5.
29) Imbert, Hämaturie h^mophilique. Assoc. fi*an9. d'urologie, 1899.
SO) Johnston, Haematuria from both Ureters. Joum. of cut. and gen.-ur.
dis., 1900, July (Hildbbbands Jahresber.).
31) — Splitting the kidney capsule for the relief of nephralgia. Med.
News, Vol. 70, 1897, No. 5 (nach Edbbohls).
32) KoRTBWEO, Die chirurgische Behandlung der Nephritis. Nederl. Tjyd-
schrift vor Geneesk., 1901 (Hildbbrands Jahresber.).
33) Lambert, De Tincision liböratrice de la capsule propre du rein. Rev.
de chir., 1897, No. 3.
34) Lange, Nephrectomy for acut surgical kidney; double Ureter. Ann.
of surg., 1901, Oct.
35) Laurent, Ueber einen Fall von Nephrotomie wegen Nierenblutung
infolge . . . Dtsch. med. Wochenschr., 1901, No. 13.
36) Lbnnander, Ueber Spaltung der Nieren mit Besektion des Nieren-
gewebes . . . Nord. med. Ark., 3. F., Abt. I, p. 1 (Centralbl. f. Chir.).
37) Luxardo, Del intervento chir. in alcune forme di nefriti. Grazz. degli
osped., 1900, No. 110.
38) Lyman, Surgical treatment of chronic nephritis. Journ. of the Americ.
med. Assoc, 1902, p. 1030.
39) Mac Gowan, Nephrotomy for severe and prolonged mononephrous
hemorrhage. Med. News, 1901, Dec. 7.
40) GüiSY, Trois cas d'h^maturies hyst^riques. Ann. des mal. des org.
g6n.-ur., 1901, No. 12.
41) Nbvb, A case of renal Irritation simulating calculus of the kidney . . .
Med, News, 1897, Jan. 30.
42) Newmann, Four cases unilateral renal hematuria without other Sym-
ptoms . . . Med. chir. soc. Glasgow med. Journ., 1901, May (Hilde-
brands Jahresber.).
43) Nonne, Kasuistische Mitteilungen. Aerztl. Verein Hamburg, 21. Jan.
1902. Ref. Münch. med. Wochenschr., 1902, No. 5.
44) Nordbntoft, Et tilfoelde of ensidig partiel nephritis chronica . . .
Hospitalstidende, 1902, No. 42 Ref. Dtsch. med. Wochenschr., 1902.
45) NoufiNB, Traitement chirurgicale des nöphrites. Th^se de Paris, 1903.
46) Primrosb, The operativ treatment of chronic Brights disease. Canadian
Journ. of med. and surg., 1902 (nach Edbbohls).
47) Ralfe, Causation and treatment of obscure renal pain. The Lancet,
1896, Febr. 29.
48) Rayer, Trait6 des maladies des reins. Paris 1841.
49) RuMPLBB, Der gegenwärtige Stand der Lehre der chirurgischen Be-
handlung der . . . Inaug-Diss. StraiSburg, 1903.
50) SuTER, Ueber einseitige renale Hämaturie, bedingt durch Teleangi-
ektasien . . . Centralbl. f. Chir., 1902, No. 16.
öl) Senator, Neuralgie der Niere, ßerl. klin. Wochenschr., 1895, No. 13.
52) Stern, Beitrag zur Frage der chirurgischen Behandlung der chro-
nischen Nephritis. 75. Vers, dtsch. Naturf. u. Aerzte, Cassel 1903.
Mlttett. a. d. Orenzg«Utten d. Medixln u. Chlrorgit. ZHI. Bd. 52
806 Rudolf Stich, lieber Massenblutungen etc.
53) Tansini, Contributo di chirurgia renale. Festschr. f. £. Bottini^
Palermo 1902 (Hildbbbands Jahresber.).
54) TiFFANT, Free divislon of the kidney for the relief of nenralgia. Trans-
act. of the Americ surg. assoc, Philadelphia 1896 (nach Edbbohls).
55) Trantbnboth, Lebensgefährliche Hämaturie als Zeichen von Nieren-
tuberknlose. Mitteil. a. d. Orenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 1.
56) Tyson and Frazier, Report of a case of decapsulation of the kidney.
üniy. of Pennsylv. med. bull., 1903, Sept (nach Edbbohls).
57) Waombr, Idiopathische renale Neuralgie, Nephralgie etc. Pbnzoldt-
Stiktzings Handbuch der speziellen Therapie innerer Ejrankheiten,
3. Aufl.
58) WiLMS, Ueber Spaltung der Niere bei akuter Pyelonephritis . - .
Münch. med. Wochenschr., 1902, No. 12.
Aus der inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses zu Stettin.
Nachdruck verboten.
XXX.
Die Hirnpuiiktioii.
Probepnnktloii und Punktioii des Oehirnes und seiner
Häute durch den intakten Schädel.
Von
Dr. Bmst Neisser, und Dr. Kurt Follaok,
Direktor der Abteilung, I. Assistent der Abteilung.
(Hierzu 2 Abbildungen im Texte.)
Ein Fall von Himabsceß in der motorischen Region, der zwar
Herdsymptome machte, aber keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme
eines eiterigen Prozesses bot, vielmehr von uns für eine nicht eiterige In-
fluenzaencephalitis gehalten wurde und unoperiert starb, war der Aus-
gangspunkt der folgenden Untersuchungen.
Ueber einige bemerkenswerte Resultate ist in Kürze bereits auf dem
21. Kongreß für innere Medizin (vgl. d. Therapie d. Gegenwart, Mai 1904)
berichtet worden.
In der vorliegenden Arbeit sollen die technischen Einzelheiten des
Verfahrens, die in Betracht kommenden anatomischen Verhältnisse und
die gewonnenen klinischen und pathologischen Erfahrungen und Beläge
eingehend geschildert werden.
Literatur.
Wir stellen in folgendem zusammen, was wir in der Literatur über
die Schädel-^) bezw. Hirnpunktion gefunden haben.
Der erste Autor, welcher die Probepunktion von Hirnabscessen
durch den intakten Schädel empfohlen hat, ist Maas').
Maas sagt : „Entschließt man sich aber unter solchen Verhältnissen
zu einem operativen Eingriff, so wäre zu empfehlen, nach einer kleinen
1) Wo im folgenden von 8 c h ä d e 1 pnnktion die Bede ist, ist Punktion
des Sch&delinhalts, nicht des Schädelknochens gemeint.
2) Berliner klinische Wochenscbr., 6. Jahrgang, No. 14, 1869. Mit-
teilungen aus der chirurgischen Klinik zu Breslau. I. Zur Kasuistik und
Therapie der Oehirna bscesse nach eigenen Erfahrungen von Dr. Heb-
mann Maas.
52*
Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Incision durch die Weichteile den Schädel mit einem feinen DriUbohrer
mit gedrehter Säule zu durchbohren und sich von dieser Oeffnung aus
über das Vorhandensein und die Lage des Abscesses mit einer Nadel
oder einem feinen Troikart zu vergewissern. Ist der Absceß und seine
Lage dann so konstatiert, so kann man entweder die Trepanation
mit der gewöhnlichen Behandlung folgen lassen, oder die Entleerung
und Heilung ohne Anlegung einer größeren Oeffnung nach der oben
angegebenen Weise versuchen. Fände man keinen Absceß, so hat man
durch eine solche Durchbohrung des Knochens keine relativ bedeutende
Verletzung gemacht, wie dieses Middeldorpf sowohl bei Durchbohrung
des Schädelknochens, als auch fast sämtlicher anderer Knochen des
Skelettes gezeigt hat Natürlich wird vorausgesetzt, daß man sich nur
ganz sauber gearbeiteter, vorher minutiös gereinigter Instrumente be-
dient, bei der Operation den Bohrer mit der größten Vorsicht und,
um jede Erhitzung zu vermeiden, nur langsam eindringen und nach-
her eine sorgfältige Antiphlogose sowohl örtlich als auch allgemein
folgen läßt".
Trotz dieser Empfehlung scheint Maas selbst die Probepnnktion
nie ausgeführt zu haben.
Middeldorpf, auf dessen Bohrversuche sich Maas beruft, be-
schreibt schon 1856, wie man mittelst eines Bandbohrers mit Leichtig-
keit einen feinen Kanal durch den Schädel bohren kann^).
„Der Bohrer wird zum Eindringen durch knöcherne Hüllen ge-
braucht, indem man ihn mit dem Daumen der linken Hand auf den
Kopf ansetzt und mit der rechten Hand den Schaft durch Auf- und
Abwärtsschieben des Handgriffes in drehende Bewegung setzt. Man
wählt feine Spitzen und findet in den löffeiförmigen sicheren Schutz
gegen Verletzung unterliegender Häute, z. B. der Dura mater. Aus
der nadelfeinen Oeffnung dringen die Flüssigkeiten oder werden in die-
selbe andere Instrumente zum Tasten etc. eingeführt. Der Läufer
schützt, daß man nicht unversehens in die Tiefe sinkt. In zwei Fällen,
wo ich ihn zur Diagnose von Ansammlungen in der Schädelhöhle ge-
brauchte, gewährte er eine überraschende Sicherheit des Handelns. In
dem einen Falle indizierte er die Trepanation, in dem anderen sprach er
gegen dieselbe und die zu letzterer einladenden Symptome erklärte die
Sektion anderweitig^. Nachdem Maas sein Instrumentarium, bestehend
in Nadel mit Nadelhalter, Bohrer und Trokaren geschildert hat, zählt
er die Krankheitszustände auf, für deren Diagnose die Akidopeirastik
gute Dienste leistet; unter anderen Encephalocele, Cephalhämatom,
Hydrocephalus, Krebs am Schädel und seine Durchbrechung der Schädel-
wand. Die obige kurze Notiz Maas' beweist, daß er die Punktion am
1) OOnzburos Zeitschrift für klinische Medizin, Breslau 1856, Jahr-
gang 7: Ueberblick über die Akidopeirastik von Professor Miodbldobpf.
Die Himpanktion.
Lebenden ein oder das andere Mal wirklich ausgeführt hat. Doch fehlen
alle genaueren Angaben.
Dr. 6iBi£R soll 1884 feine Oeffnungen in den Schädel gebohrt
haben zur Injektion von Wutgift.
Ebenso hat Spitzka*) durch Drillbohröffhungen Injektionen ins
Gehirn gemacht.
SouCHON^) empfiehlt 1889 sein an Hunden geprüftes Verfahren:
Weichteilschnitt, Durchbohrung des Knochens mit dem Drillbohrer, Ein-
führung einer feinen Spritze zur Aspiration eventuell angesammelter
Flüssigkeit.
Schmidt^ ist der erste, der in systematischer Weise
eine diagnostische Hirnpunktion bei Verdacht auf Hirn-
absceß vornimmt und im Anschluß an seinen negativ ver-
laufenen Fall die Technik und Indikation der Punktion
beschreibt. Auch er wurde, wie wir, durch das Bedauern, daß ein
Fall von Hirnabsceß unoperiert hatte sterben müssen, auf den Gedanken
einer „Schädelperforation mit nachfolgender diagnostischer Gehim-
punktion" gebracht — übrigens auch ohne die früheren Versuche dieser
Art zu kennen.
In der Einleitung seiner Arbeit sagt Schmidt : „Wenn ich in folgen-
dem, obwohl mir nicht in den Sinn kommt, in Sachen der Gehirn-
chirurgie viel mitsprechen zu dürfen, mir erlaube, über die Schädel-
perforation mit nachfolgender diagnostischer Gehirnprobepunktion
einige Bemerkungen zu machen, so geschieht dies aus folgenden
Gründen. Einerseits, weil diese doch jedenfalls sehr naheliegende,
diagnostische, leichte und einfache Operation in der ziemlich reichlichen
neueren Literatur der Gehirnchirurgie und der Himabsceßoperation ins-
besondere nirgends besprochen oder empfohlen ist, noch viel weniger
eine Ausführung derselben schon veröffentlicht ist, ich aber die unmaß-
gebliche Ansicht habe, daß es nur eine Frage der Zeit ist, daß sie sich
in der Praxis einbürgern dürfte etc.**,
und weiter unten:
„Zwar wird die Kunst des Neuropathologen zweifellos auch hier
noch Fortschritte machen, aber dessen Gewinne können kaum aller
Chirurgen Gemeingut werden, auch kann nicht jeder Chirurg in praxi
vorkommenden Falles die Unterstützung eines besser unterrichteten
und erfahrenen Nervenarztes sich verschaffen, und da ferner auch für
den routiniertesten Diagnostiker noch unklar bleibende F&lle restieren
1) On some points regarding therapeutical and other injuries of the
brain. Proceedings of the American nearol. assoc. 1887.
2) On the drilling of capillary holes through the scull for ezploring
the brain with neadle and syringe. New Orleans med. and surg. Joum., 1889.
3) Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 46, 1893. Schmidt, Zur
Schadelperforation mit nachfolgender diagnostischer G^himpnnktion.
810 Ernst Neisser und Kart FoIIack,
werden, so werden, wenn man dem y. BEROMANNschen Erfordernisse,
nur klar diagnostizierte Hirnabsceßfälle anzugreifen, treu bleiben will,
falls es nicht gelingt, die Diagnose mit noch anderen, als den bisher
üblichen Mitteln festzustellen, sehr viele Himabsceßkranke nach wie vor
un operiert sterben müssen^.
Schmidt durchmustert dann die Literatur und bespricht die Em-
pfehlung der Punktion durch Maas (s. oben) und die Versuche von
MiDDELDORPF. Er Schreibt dann weiter:
„Möglicherweise hat eine Aeußerung y. Bergmanns dazu beige-
tragen, das Verfahren, wenigstens soweit die Anwendung der Aspirations-
spritze dabei in Frage kommt, nicht vorzunehmen^, und zitiert folgende
Worte y. Bergmanns^) betreffs des Absceßnachweises nach weit frei
trepanierter Dura:
„Bis in die neueste Zeit. hat man versucht, dem Einschnitt« den
Einstich mit einer Explorations- oder Aspirationsnadel vorzuziehen. In-
dessen ist das Verfahren, ganz abgesehen von nicht zu unterschätzenden
Nebenwirkungen einer energischen Ansaugung — nach Beck ist infolge
derselben einmal ein Bluterguß in den Seitenventrikel und die vierte
Hirnkammer zu stände gekommen — durchaus unzuverlässig und un-
sicher. An der Zeit dürfte es sein, die Explorativnadel mit dem Messer
zu vertauschen.^
Schmidt betont darauf mit Recht, daß es sich in dem Falle, den
Beck meinte, nicht um eine feine Probepunktion, sondern uro eine
radikale Entleerung eines Abscesses mittelst Saugapparates handelte,
daß mithin dieser Fall nicht ernstlich zur Abschreckung vor der An-
wendung einer kleinen Probepunktionsspritze dienen kann.
Da auch Kocher (vergl. unten) schreibt: ^Die Punktion des Ge-
hirns mit Explorativ- und Aspirationsnadeln ist durch die Autorität
y. Bergmanns unverdienterweise in Verruf gekommen^, zitieren wir
hier die Worte y. Bergmanns') Ober den BECKschen resp. Pignaud-
schen Fall, der ihn auch zu der oben von Schmidt erwähnten Aeußerung
veranlaßte.
„Allein das Aussaugen hat auch gewisse Nachteile. Die Entleerung
ist doch nur unvollkommen, während die wesentlichste Bedingung der
Heilung eines Abscesses seine vollständige und weite Entlastung ist.
Benz hat durch konsequente Aspiration seinen Patienten geheilt. Der-
selbe hat nach dem gelungenen Stich noch 8Vt Jahre gelebt und ist
dann an Lungenblutung erlegen. Anders scheint es nach einer Notiz
von Beck (Schädelverletzungen 1877 S. 78) Pignaud gegangen zu sein,
der nach der {Aspiration seinen Patienten an apoplektischen Erschei-
nungen durch Bluterfüllung des Seitenventrikels und der vierten Hirn-
1) Die chirurgische Behandlung von Himkrankheiten, 2. Aufl., 1889.
2) Die Lehre von den Kopfverletzungen, 1880.
Die Hirnpunktion. 811
kammer verlor. Der Verdacht, daß hier das Ansaugen zu energisch
geübt wurde, läßt sich nicht zurückweisen. Immerhin kann die Schröpf-
kopfwirkung des Instruments zu viel tun, und kann dieselbe Blutungen,
welche die Methode vermeiden will, erst recht hervorrufen."
V. Bergmann wendet sich also in der oben erwähnten Aeußerung
wohl nur gegen die stärkere Aspiration von Abscessen aus therapeutischen
Zwecken statt Anwendung des Messers, nicht aber gegen Probepunktionen
überhaupt. So heißt es auch in der neuesten Auflage des berühmten
BEROMANNschen Werkes ^) nur : „Ist der Schnitt ins Hirn gerechtfertigt,
so hat, wenn der Absceß erreicht ist, das Skalpell jedes andere
Evakuationsinstrument zu ersetzen".
Aus der vorliegenden Aeußerung y. Bergmanns können
wir uns keineswegs überzeugen, daß er diePunktion des
Gehirns mit einer feinen, kleinen Punktionsnadel resp.
Spritze überhaupt verwirft.
Wir kommen zur SoHMiDTschen Arbeit zurück. Schmidt bespricht
nun seinen Fall eingehend, bei dem er wegen Verdachts auf Schläfen-
lappenabsceß die diagnostische Hirnpunktion vornahm. Letztere schil-
dert er, wie folgt:
„Dann gut 1^, Daumenbreite über dem Ohrmuschelansatz Schädel-
bohrung ^). Kleiner Stich mit spitzer Klinge von 5 mm Länge auf den
Knochen. Entblößung des letzteren mit der Schneide eines schmalen
Meißelchens. Bohrung mit einem 2^/2 mm breiten Bohrstift. Herr
Dr. G. dreht den Kurbelbogen, ich achte, das untere Bohrende etwas
hemmend, auf die Fortschritte der Bohrung. Mehrmals wird der Bohrer
abgesetzt und das Loch sondiert. Trotz der Vorsichtsmaßregeln fährt
schließlich der Bohrstift nach geschehener Durchdringung des Schädels,
bei welcher ein Knacken nicht gehört wurde, unversehens freilich etwa
nur 2 mm weit in die Tiefe. Einführung der Probepunktionsnadel ca.
2— 2V2 cm tief. Aspiration ohne Resultat.
tt
Aus dem Sektionsprotokoll (des an Schädelfraktur mit extraduralem
Bluterguß und Himkontusion gestorbenen Pat) interessiert:
„Das Bohrloch ist durch ein Ooagulum ausgefüllt, welches knopf-
ft5rmig aus dem Loch in der Tabula externa 1 — 2 mm hoch herausragt,
80 daß die Bohrstelle nur bei genauerer Betrachtung sich markiert.
Der Bohrkanal befindet sich gerade mitten zwischen 2 stricknadel-
dicken Oefäßfurchen. Auch an der Glastafel ragt aus ihm das obturierende
Coagulum knopfförmig in derselben Höhe heraus, wie an der Außenseite . . .
Dura heil, die Stichverletzung ist kaum zu bemerken. Venen der
Pia überall sehr stark gefüllt, nirgends Meningitis . . .
Die Nadelstichstelle in dem rechten Schläfenlappen markiert sich
1) Die chirurgische Behandlung von Hirnkrankheiten von E. v. Bbbo-
MANN, 1899.
2) Schmidt benutzt einen gewöhnlichen Tischlerbohrer (s. unten).
812 Ernst Neisßer und Kurt Pollack,
dnrch ein feines, kanm linsengroBes, petechiales, sternförmiges Saggillat
in der Pia.
Nachdem die Pia abgezogen, ist der Ort des Stiches in den rechten
Schläfenlappen in dessen Binde durchaus nicht mehr auffindbar, daher
auch die Windung, welche getroffen wurde, uicht bestimmbar. Zahlreiche
Schnitte durch die Substanz des Schläfenlappens in verschiedener Rich-
tung lassen von dem Stiche nicht das mindeste erkennen. Es zeigen
sich weder die Spur des Stichkanals, noch irgend welche noch so kleine,
dessen Stelle andeutende Blutergüsse."
In der Epikrise hebt Schmidt als Wichtigstes „den völligen
Mangel an Symptomen und Reaktionszeichen, welcher der AusfQhning
des Gehimstiches und der Spritzenaspiration gefolgt ist", hervor.
Femer leistete die Punktion in diagnostischer Beziehung einen guten
Dienst, indem sie das Vorhandensein eines SchlSfenlappenabscesses
aasschloß.
Nachdem Schmidt der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß seine
Operation die Anregung zu weiteren derartigen Versuchen abgeben
möge, stellt er als Hauptindikation fest: Lebenbedrohende Hirn-
erkrankungen, die den Verdacht auf Absceß erregen, ohne denselben
so sicher erkennen zu lassen, daß die alsbaldige Trepanation gerecht-
fertigt erscheinen kann!
Das zu dem in Narkose vorzunehmenden Eingriff nötige Instru-
mentarium Schmidts besteht in:
1) einer Tischlerdrehkurbel,
2) Bohrspitzen von 1 — 3 mm (mit Millimetereinteilung),
3) einer auf dem Bohrstift auf- und ab beweglichen Schutzhülse»
die ein plötzliches Hineinfahren in den Schädel verhütet,
4) gewöhnlicher Punktionsspritze mit genügend langer Nadel (mit
Centimetereinteilung).
Was die Wahl der Punktionsstelle betrifft, so schlägt Schmidt,
da er sich im wesentlichen mit der Aufsuchung otitischcr Abscesse be-
schäftigt, vor, zunächst das Zentrum des Schläfenlappens, dann eventuell
seine peripherischen Teile (mit Hülfe einer Abbildung) zu punktieren;
falls nicht an einer zirkumskripten Stelle starke Schmerzhaftigkeit vor-
handen ist. Dann eventuell — oder auch zu Anfang, wenn besondere
Zeichen darauf hinweisen — das Kleinhirn daumenbreit unterhalb der
Mitte der Verbindungslinie von Protuberantia occipitalis externa und
Warzenfortsatz. Die Gefahren der Punktion schlägt Schmidt gering
an. Uns interessiert, was er über eventuelle Blutungen sagt:
„Diese (nämlich die Gefahren) könnten allenfalls in Blutungen
bestehen. Blutungen aus Temporal- und Occipitalarterien sind un-
schwer zu umstechen. Mehr Verlegenheiten könnte aber ein Anstechen
von Zweigen der Art. meningea media bereiten. Doch erscheint die
Möglichkeit, durch Stichverletzung hier erheblichere Blutungen zu be-
wirken, nicht zu groß. Erstens handelt es sich über der Schläfen-
Die Hirnpunktion. 813
schuppe nur noch um Zweige ans dem hinteren Hauptast des Gefäßes
und sind die hier in Frage kommenden Arterienkaliber keine beträcht«
liehen mehr^ Zweitens ist fraglich, ob die feinen Stichwunden zu
nennenswerten Blutungen würden führen können, und ob nicht die
Blutung nach Entfernung der Nadel von selbst stehen würde . . .
Sollte es aber doch stärker bluten, so wird das aus dem Bohrloch
fließende Blut die bestehende Gefahr alsbald bekunden und man wird,
wenn nötig, das Schädelloch mit dem Meißel zu vergrößern und das
verletzte Gefäß zu unterbinden haben. An den Schläfenlappen des
Hirns könnten nur kleinere Pialvenen getroffen werden, die nicht viel
bluten können. Die tief in der SvLVischen Furche verborgene Art.
fossae Sylvii wird kaum in Gefahr kommen. Bei der Exploration des
Kleinhirns können überall etwas wichtigere Gefäße nicht gefährdet
werden.*^
Einige Jahre später hat Payr^ Explorativpunktionen bei Hunden
vorgenommen. Er arbeitet ebenfalls mit einem Drillbohrer (von V» bis
2 mm Durchmesser), auf dessen Schaft eine Schutzhülse verschieblich
und fixierbar angebracht ist. Letztere wird allmählich mehr und mehr
zurückgestellt, bis Sondierung des Bohrlochs mit einer Knopfsonde er-
gibt, daß der Schädel perforiert ist Durch den Bohrkanal führt Payr
ein: gerade und gekrümmte Nadeln, Harpunen (eine mit 2 scharfen
Löffelchen, die durch Vor- und Rückwärtsschieben in einer Metallröhre
geöffnet resp. geschlossen werden; die andere in Form eines geschärf-
ten Metalltrichters von 1 mm Durchmesser Trichteröffnung), Glas-
kapillarröhrchen, dünne rechtwinkelig gebogene und an einer Seite zu
einem langen Glasfaden ausgezogene Glasstäbchen.
Nach Hautschnitt, Zurückschiebung des Periosts und Anlegung
des Bohrkanals beim Hunde fördert Payr mit der Harpune kleine
Stückchen Hirn Substanz zu Tage; mit den Glasstäbchen stellt er die
Pulsation der Dura dar, mit den gekrümmten Hohlnadeln injiziert er
Methylenblau und weist die Beherrschung eines Stückes von 10—12 cm
in der Fläche und 4—6 cm in der Tiefe nach. Auch die Punktion des
Seiten Ventrikels gelingt gut. Alle Hunde bleiben gesund. Bei der
Sektion zweier operierter Hunde ergibt sich völlig reaktionslose Heilung
der gesetzten Wunden.
Payr empfiehlt die Anwendung der Punktion beim Menschen bei
folgenden Fällen:
1) bei endokraniellen Blutungen,
2) zur Probepunktion für Flüssigkeitsansammlungen (Gysticercus-
Gehirnabsceß ; mangelnde Pulsation der Dura!)
1) Centralbl. f. Ohir., 1896, No. 31, 22. Jahrg.; Payb, Einige Ver-
suche über Explorativoperationen am Gehirn.
814 Ernst Neisser und Kurt FoIIack,
3) zur Diagnostik von Neubildungen (Harpunierung!) der Gehirn-
häute und des Gehirns,
4) zur Herausnahme zur bakteriologischen Untersuchung,
5) zur Punktion der Hirnseitenventrikel bei Hydrocephalus und
Drainage durch das Bohrloch.
Was von den bei den Tierversuchen gewonnenen Resultaten in
der Gehirnchirurgie beim Menschen brauchbar sein wird, wagt Payr
nicht zu entscheiden.
In den letzten Jahren ist dann aus der KocHERschen Klinik ein
höchst ein&ches Verfahren der Schädel- resp. Gehirnpunktion von
A. Kocher^) publiziert worden.
Ohne die geringste Voroperation wird nach einer Cocaininjektion
an der betreffenden Stelle ein Drillbohrer durch die Weichteile gedrückt
und nun der darunter liegende Knochen angebohrt, bis das Nachlassen
des Widerstandes die Durchbohrung der Lamina interna anzeigt. —
Der Bohrkanal wird in der KoCHERschen Klinik benutzt, um Tetanus-
heilserum in den Seitenventrikel zu injizieren.
Kocher sen. kommt in seinem großen Werk „Hirnerschütterang,
Hirndruck und chirurgische Eingriffe bei Hirnkrankheiten" *) im Kapitel
der explorativen Craniotomie auf die aus seiner Klinik zuerst ange-
gebene Methode zu sprechen und sagt nach Beschreibung der Anlegung
des Bohrkanals: „Durch die so gebildete Oeffnung kann der Ansatz
einer PRAVAzschen Spritze eingefQhrt, Inhalt von Cysten, Blutergüssen,
Abscessen und der Ventrikel aspiriert, oder andererseits Injektion in
die Hirnsubstanz oder Ventrikel ausgeführt werden. Die Operation
kann mit einer Kokaininjektion ausgeführt werden, ohne daß der Patient
irgend eine unangenehme Empfindung hat.''
„Verdient eine solche abso lut schmerz- und gefahr-
lose Operation den Namen der Explorativtrepanation
nicht besser, als die Hemicraniotomia temporaria, bei
der man auch zunächst nur Hirnhäute und Oberfläche
des Gehirns inspizieren kann und für Aufschluß über
tieferliegende V er an derungen doch wieder zu Explorativ-
nadeln und Spritzen seine Zuflucht nehmen muß?!^
Ueberblicken wir die bisher existierende Literatur, so sehen wir
folgendes :
Von mehreren Seiten, unter anderem von einem der bedeutendsten
Chirurgen, wird die explorative Schädelpunktion empfohlen, die Zu-
stände werden aufgezählt, bei welchen sie etwas leisten könnte (Maas,
1) Oentralbl. für Chir., 1899, No. 22.
2) In NoTHNAGBLS Haudb. d. spez. Pathologie u. Therapie. Wien 1901.
Die HimpuDktion. 815
MiDDELDORPF, Patr, Kocher, Schmidt), aber Erfahrungen über
wirklich ausgeführte Punktionen und Probepunktionen am Lebenden
sind von niemand gesammelt bezw. mitgeteilt worden. Der Schmidt-
sche Fall steht anscheinend vereinzelt da. — Vergeblich wird man das
Wort: Hirnpunktion durch den intakten Schädel selbst in den besten
und neuesten Lehrbüchern^) und Abhandlungen suchen. Insbesondere
hat die innere Klinik und die Neuropathologie sich an dieser Angelegen-
heit nicht beteiligt.
Nachdem wir im Laufe der Zeit eine große Reihe von Vorversuchen
an der Leiche gemacht und nachdem wir in der Lage waren, an ca.
36 Fällen etwa 136mal die Probepunktion resp. die Punktion auszu-
führen, teilen wir unsere Erfahrungen mit und beginnen mit der Be-
sprechung der Technik.
unsere Technik.
Wir übergehen alle Versuche, die wir anfangs machten; erwähnen
auch nur kurz, daß wir zunächst mittelst spitzen, feinen Thermokauters
durch die Weichteile bis auf den Knochen hindurchgingen und dann
mit dem elektrischen Bohrer den Knochen bis zur Dura durchbohrten.
Wir sahen aber bald, daß die Benutzung des Thermokauters ganz un-
zweckmäßig ist, da Narben zurückbleiben und die Infektionsgefahr nicht
unerheblich ist; ferner, weil wir uns überzeugten, daß man mit dem
elektrischen Bohrer durch Weichteile und Knochen unmittelbar in einem
Akte hindurchgehen kann, ähnlich wie es A. Kocher') behufs In-
jektion von Tetanusantitoxin macht, mit dem Unterschiede, daß wir
nicht einen Handbohrer, sondern die elektrische Bohrmaschine mit
großer Umdrehungsgeschwindigkeit anwenden, die eine ungemeine
Sicherheit des Gefühls beim Bohren gibt und den Schmerz auf ein
solches Minimum herabsetzt, daß nicht einmal die Injektion von Kokain,
• wie sie Kocher anwendet, notwendig ist. Ferner durchstoßen wir
nicht, wie Kocher, zuerst die Weichteile und bohren dann, sondern
wir drücken den rotierenden Bohrer durch Haut, Weichteile und Knochen
hindurch *).
1) Höchstens käme hier die Bemerkung in Betracht, die H. Fischbr
in seinem Lehrbuche der speziellen Chirurgie (Berlin 1892) bei der Be-
sprechung der Diagnostik der Himabscesse macht:
„Man kann in zweifelhaften Fällen den Schädel mit dem Drillbohrer
anbohren und Probepunktionen machen. Zu starke probatorische Aspiration
soll man aber vermeiden, weil dadurch Apoplexien verursacht werden
können."
2) Centralblatt far Chirurgie, 1899.
3) Aehnlich wie es Tillmanns (s. Verhandlungen der Gesellschaft
deutscher Naturforscher und Aerzte, Leipzig 1900, II) zur Anbohrung
und Probepunktion der Knochen macht
816 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Jeder Hautschnitt, überhaupt jede Anlegung einer äußeren Wunde,
unterbleibt.
Als Motor verwenden wir einen Elektromotor ftlr chirurgische
Zwecke (mit Anschluß an eine Gleichstromleitung) von W. A. Hirsch-
mann (Umdrehungszahl mit biegsamer Welle ca. 1200). Es macht kaum
einen Unterschied, ob man den großen Elektromotor (nach den An-
gaben V. Bergmanns hergestellt) benutzt, wie wir es für den größten
Teil unserer Punktionen getan haben, oder ob man sich des neueren
kleinen Motors bedient. Der letztere hat den Vorzug größerer Billig-
keit, sowie der sehr leichten Lösung und Wiederbefestigung des Bohrers.
Als Bohrer benutzen wir ausschließlich den in unserem Besteck
(vergl. unten) enthaltenen feinen Bohrer mit planparallelen Flächen
(2V8 ™ni» No. 7). Für Ausnahmefälle, über die später gesprochen
wird, wenden wir einen etwas stärkeren Bohrer an (2^/g mm, No. 8).
Zur Anästhesierung benutzen wir das Anspritzen von Aethylchlorid.
Allgemeine Narkose haben wir bisher in keinem Falle angewendet —
was uns bei den in Frage kommenden Fällen gegenüber der Probe-
kraniotomie als ein schwerwiegender Vorteil erscheint.
Hiernach gestaltet sich unser Verfahren folgendermaßen:
Der Patient liegt auf einem flachen, mit Leder gepolsterten Unter-
suchungstisch von etwa 80—85 cm Höhe. Kopf- bezw. seitwärts von
ihm steht der Punktierende auf einer breiten, niedrigen Fußbank, die
zweckmäßig durch Gummiunterlagen isoliert ist. Nach Basierung des
ganzen Schädels resp. einer größeren zirkumskripten Stelle beginnen
wir damit, die betreffenden Punkte^) zu markieren, an denen punktiert
werden soll*).
Nachdem dies geschehen und die Haut mit Aether desinfiziert ist,
erfaßt der Punktierende den am Kabel befestigten Bohrer mit beiden
Händen an dem cylindrischen Metallhalter, setzt den in volle Rotation
versetzten Bohrer, während der Kopf durch Assistenten schonend und^
doch sicher und möglichst ohne Hautverschiebung gehalten wird, meist
senkrecht zur Hautoberfläche auf und übt einen ganz leichten Druck in
die Tiefe aus.
Der Bohrer durchbohrt nun spielend leicht und ohne jede gröbere
Erschütterung fast wie eine Probepunktionsnadel Haut, Weichteile und
Knochen. Man spürt deutlich, wie nach Durchtrennung der Weichteile
die Durchbohrung des Knochens vor sich geht*), ein leichtes Vor-
1) Hierüber, sowie über die Anlegung des Kraniometers vergL den
anatomischen Teil.
2) Hierzu hat sich uns das feste Andrücken einer in Karbolfachsin
getauchten Pipette bewährt, da die dadurch auf der Haut erzeugte rote,
kreisförmige Vertiefung auch nach dem alsbald folgenden sorgfUtigen Ab-
reiben mit Aether noch sichtbar bleibt.
3) Oefters bildet sich um den Bohrer herum in der Haut ein kleiner
Hügel von aufgeworfenem Bohrstaub resp. etwas extravasiertem Blut
Die Himpunktion. 817
rutschen des Bohrers zeigt die Perforation der Lamina externa, ein
zweites, verbunden mit dem Gefühl des aufhörenden Widerstandes, die
der Lamina interna an. In demselben Augenblick wird auf den Halt-
ruf des Punktierenden der Bohrer zu augenblicklichem Stillstand ge-
bracht und dann in derselben Richtung, wie er eingeführt wurde, wieder
zurückgezogen. Das Ganze dauert wenige Sekunden.
Wer die ersten Male punktiert, wird die unangenehme Empfindung
haben, als ob er durch die Dura hindurch zu tief in den Schädel hinein
fahren könnte. Indessen können wir versichern, daß bei Anwendung
unserer Bohrtechnik weder ein solches Schutzinstrument erforderlich
ist, wie es Middeldorpf, Payr, Schmidt (vergl. oben) benutzten,
noch die Unterbrechung der Punktion und Sondierung des Bobrkanals
irgendwie notwendig oder zweckmäßig erscheint. In einer Reihe von
Fällen haben wir uns von dem Intaktbleiben der Dura bei der Punktion
in der Weise überzeugt, daß wir in den Bohrkanal ein feines Metall-
röhrchen und durch dieses hindurch eine Metallborste einführten und
mit dieser die Dura nachträglich sprengten, was sich durch einen deut-
lichen Knacks zu erkennen gab. Auch ohne dieses Hilfsmittel haben
wir uns bei Anwendung unserer abgestumpften Nadel (s. unten) in
ähnlicher Weise durch Gefühl und Gehör von der Intaktheit der Dura
überzeugen können. Wo schließlich die Dura bei der Punktion ver-
sehentlich perforiert werden sollte, hat dies nach unseren Erfahrungen
nicht das geringste zu bedeuten.
Beim Zurückziehen des Bohrers soll möglichst jede Hautverschie-
bung vermieden werden bezw. wenn sie doch stattfindet, beachtet wer-
den, nach welcher Richtung sie erfolgt, damit man nachher den Eingang
des knöchernen Kanals mit der Nadel besser treffen kann.
Nach Herausziehen des Bohrers beobachten wir, ob irgendwelche
pathologische Flüssigkeit (altes Blut, blutiges Serum oder dergl.) aus
dem Bohrkanal herausfließt. Darauf folgt Abtupfen mit einem sterilen
Gazebausch (ab und zu blutet es ein wenig aus dem Kanal) und die
Einführung der Punktionsnadel.
Wir verwenden ausschließlich feine Probepunktionsnadeln von 1 mm
Dicke und gut 7 cm Länge; alle Nadeln sind mit Centimetereinteilung
versehen, damit jederzeit die Tiefe, in der das Ende sich befindet, ab-
gelesen werden kann. Die Nadeln laufen zum Teil nach dem Muster
gewöhnlicher Probepunktionsnadeln in eine abgeschrägte Spitze aus;
zum Teil aber ist diese Spitze stumpf gemacht bezw. abgerundet.
Wir führen nun zunächst die auf eine Punktionsspritze ^) aufgesetzte
abgerundete Nadel in den Bohrkanal ein und versuchen, ob sich etwaige
extradurale Flüssigkeit aspirieren läßt. Hierbei spürt man häufig deut-
lich, wie man die Dura vor sich herdrängt. (Zu gleichem Zwecke kann
1) Spritze von 2 com Inhalt.
818 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
man auch bei Anwendung des etwas größeren Bohrers [No. 8] eine
Nadel einführen, deren Spitze senkrecht zur Längsachse abgeschnitten
ist, so daß sie ein feines Hohlröhrchen darstellt) Darauf fOhren wir
die spitze Nadel ein, durchstechen die Dura und aspirieren, die Nadel
langsam vorschiebend, von Strecke zu Strecke.
Um die sonst häufige Verstopfung der Nadel schon beim Einführen
zu vermeiden, armieren wir jede Nadel mit einem feinen, aber starren
Mandrin aus Stahldraht. Dieser wird vor der Aspiration herausgezogen.
Eine etwaige Verstopfung der Nadel im weiteren Verlauf der Punktion
(kenntlich am Zurückfliegen des angezogenen Stempels), die nur selten
auftritt, kann man durch nochmaliges Einführen des Mandrins^) be-
seitigen. — Noch einfacher und nur scheinbar gewagt ist in solchen
seltenen Fällen das ruckweise Einblasen einer geringen Menge Luft
aus der aufgesetzten Spritze — die man dann sofort wieder ansaugt.
Ist die Tiefe erreicht, die nicht überschritten werden soll (vergl.
darüber den anatomischen Teil), so zieht man unter Ansaugen die
Nadel langsam zurück und heraus. Man sieht so am besten, aus welcher
Tiefe eventuell aspirierte Flüssigkeit stammt
Auf die Stichöffnung kommt ein Stückchen steriler Gaze und ein
Pflaster, ein Verband ist überflüssig. Die kleine Stichöffhung heilt ohne
die geringste Reaktion in kürzester Zeit; einen später nur mit Mühe
zu findenden Narbenpunkt zurücklassend.
Der feine Enochenkanal verschließt sich, wie wir bei der Autopsie
feststellen konnten , durch ein gelblich-rötliches Granulationsgewebe ;
bleibt aber — was von Wichtigkeit und unter Umständen sehr erwünscht
ist — noch monatelang für eine Punktionsnadel durchgängig (in einem
unserer Fälle 3 1 Monate). Auch über das Aussehen der Dura und des
Gehirns nach der Punktion haben wir — wie wir hier gleich anfügen
wollen — durch Autopsien reichliches Material sammeln können: An
der Dura sieht man entweder gar nichts mehr, oder einen bläulichen
Punkt resp. kaum stecknadelkopfgroßen Fleck ; oder, wenn die Punktion
noch nicht weit zurückliegt, einen kleinen Schlitz oder ein kleines Loch.
An der Hirnoberfläche sieht man einen rötlichen oder mehr bläulichen
Punkt, entsprechend der Einstichstelle; auf einem, dem Stichkanal
folgenden Durchschnitt der Hirnsubstanz ab und zu einen mattbläu-
lichen Strich, der noch die Richtung der Nadel anzeigt; häufig auch
gar nichts. Ueberhaupt haben wir des öfteren an Hirn wie Dura ver-
geblich nach der Stelle des Stichkanals gesucht^).
In 3 Fällen fanden wir bei der Sektion resp. Operation an der
Hirnoberfläche einen oder zwei noch nicht stecknadelkopfgroße Bohr-
1) Um mit dem feinen Mandrin den Eingang in die Nadel schnell zu
finden, sind die Ansätze unserer Nadeln innen trichterförmig gestaltet.
2) Ueber kleine, durch die Punktion erzeugte Blutungen vergl. den
klinischen Teil.
Die Hirnpunktion. 819
Splitter, die hügelförmig der Rinde aufsaßen, ihr ziemlich fest anhafteten
und offenbar bei der Bohrung in das Gehirn hineingedrückt waren.
Durch leichtes Ansetzen des Bohrers läßt sich übrigens dieses Hinein-
drücken von Knochenstaub in die Tiefe vermeiden.
Hier mögen noch einige Bemerkungen über eine eventuelle Narkose
zwecks Hirnpunktion Platz finden.
Wir sagten oben schon, daß wir in allen Fällen (d. h. bei der An-
legung von weit mehr als 100 Bohrkanälen) mit lokaler Anästhesie
(Chloräthyl) ausgekommen sind^ und es ist erstaunlich, wie gut von ver-
ständigen Patienten der Eingriff ertragen wird: höchstens eine leise
Schmerzäußerung bei Durchbohrung des Periosts resp. der Dura; oft
auch das nicht einmal. Auch bei Kindern wird man im allgemeinen
mit Chloräthyl auskommen. Bei Benommenen, die ja für die Punktion
häufig in Frage kommen, fällt jede Anästhesierung fort. Nur bei auf-
geregten, agitierten Individuen, bei Deliranten u. dergl., die wider
ihren Willen gehalten werden müssen, pressen, um sich schlagen und
deren Venen dabei stark anschwellen, dürfte ab und zu einmal die
Punktion zweckmäßig unter allgemeiner Narkose vorgenommen werden.
Es unterliegt keinem Zweifel, und wir haben uns selbst davon über-
zeugt, daß man mit viel geringeren Mitteln und einfacheren Instrumenten
in ähnlicher Weise Haut, Weichteile und Schädel durchbohren kann,
also sowohl mit einem der gebräuchlichen Handbohrer (z. B. nach
Kocher jun.), als auch insbesondere mit einer zahnärztlichen Bohr-
maschine (Fußmotor mit chirurgischer W^elle und Handstück mit Ab-
steilvorrichtung von Hirsghmann), an die derselbe Bohrer paßt, wie
an den kleinen Elektromotor. Der Fußmotor ist dem Handbohrer un-
bedingt vorzuziehen, steht aber wegen der geringeren Oleichmäßigkeit
und Zahl der Rotationen, sowie wegen des erforderlichen stärkeren
Andrückens gegen die Unterlage hinter dem elektrisch betriebenen
Bohrapparat zurück.
Für denjenigen, der für diese doch noch nicht geübte Technik das-
jenige Verfahren zu wählen wünscht, das die größte Leichtigkeit, Sicher-
heit und Schmerzlosigkeit gewährleistet und speziell auch das Intakt-
bleiben der Dura bei der Punktion am ehesten garantiert, den glauben wir
durchaus auf unsere Methode *) und alle Einzelheiten derselben verweisen
zu müssen. Gerade in der Anwendung einer hohen Rota-
tionsgeschwindigkeit, sowie in der Verwendung eines
ganz feinen, glatten Bohrers sehen wir wichtige Charak-
teristika unseres Verfahrens!
1) Die Apparate (kleiner Elektromotor, Besteck mit Cyrtometer) sind
im Medizinischen Warenhaus in Berlin erhältlich.
820 Ernst Neisser and Kurt Pollack,
Wenn dementsprechend die Punktion schon wegen der Kostspielig-
keit der Anschaffungen zunächst nur in größeren Krankenhäusern und
Kliniken geflbt werden wird, so können wir zur Zeit einen Nachteil für
unser Verfahren hierin nicht erblicken.
Abgesehen von der Kostspieligkeit der Instrumente haftet, unserem
Verfahren — soviel wir sehen — nur ein Mangel an: es macht hier
und da Schwierigkeiten bezw. es dauert oft einige Zeit, bis man mit
der Nadel, die man in den Weichteilkanal eingeführt hat, den ange-
gelegten Knochenkanal wiederfindet. Besonders an Stellen mit stärkerer
Weichteilbedeckung, z. B. am Hinterhaupt, kommt dies dadurch zu
Stande, daß durch Muskelkontraktion die verschiedenen Schichten des
Weichteilkanals sich gegen einander und gegen den Knochenkanal ver-
schieben. Mit einiger Geduld gelingt es übrigens immer, schließlich den
Knochenkanal wieder aufzufinden und die Nadel einzuführen, und es tut
dieses Suchen mit der Nadel mehr der Eleganz der Methode, als ihrem
wirklichen Wert Abbruch.
Zur Beseitigung dieses Uebelstandes lagen folgende Möglich-
keiten vor:
1) Den Bohrer zu perforieren, um ihn entweder selbst als Hohl-
nadel zu verwenden oder eine Hohlnadel durch ihn hindurchzuführen.
Dies scheitert an der Feinheit unseres Bohrers ; ihn aber auch nur
um das geringste stärker herzustellen, halten wir für ganz untunlich.
2) Den Bohrer mit einer Rinne zu versehen, die als Leitung für
die Nadel dient. Auch hiermit haben wir keine guten Erfahrungen ge-
macht. An unserem Bohrer läßt sich seiner Feinheit halber keine Rinne
mehr anbringen, ohne daß er die nötige Festigkeit verliert; in Form
einer Rinne dargestellte Bohrer erwiesen sich durch zu starke Erhitzung
und Verbiegung als gänzlich unbrauchbar.
3) Mehrversprechend erschien der Gedanke, zugleich mit dem
Bohrer eine darüberlaufende Hülse einzuführen, die keinen größereu
Umfang zu haben brauchte, als der Bohrer selbst, indem sie durch
zwei seitliche Längsschlitze das Zurückziehen des in die entsprechende
Ebene gedrehten Bohrers gestattete. Die Hülse bleibt im Knochen-
kanal stecken und erlaubt in einfacher Weise das Einführen der Nadel.
So zweckmäßig auch eine solche Anordnung erscheint, so schienen
doch wenigstens bei den Modellen, mit denen wir arbeiteten, die Nach-
teile den einen Vorteil zu überwiegen : geringere Stabilität und schwerere
Sterilisierbarkeit, größere Schmerzhaftigkeit und, verknüpft mit dem
künstlichen Offenhalten des Weichteilkanales, leichtere Infektionsmög-
lichkeit des Kanales.
Wir sind deshalb stets wieder auf unsere sonst bewährte, oben
geschilderte Methode zurückgekommen.
Dagegen haben wir an Stellen, wo voraussichtlich größere Schwierig-
Die Hirnpunktion. 821
Iceiten bei der Auffindung des Knochenkanals zu erwarten waren, fol-
gende Modifikationen mit Vorteil angewendet:
Nach Anlegung des Bohrkanals wird nicht, wie sonst, der Bohrer
zurückgezogen, sondern nach Abstellung des Motors die Verbindung
zwischen Bohrer und Griff gelöst , so daß der Bohrer im Schädel
stecken bleibt. Dann wird neben ihm und entsprechend seiner Flächen-
seite (durch Marke kenntlich) die Nadel eingeführt. Hierbei empfiehlt
es sich, den stärkeren Bohrer anzuwenden. Steckt die Nadel im
knöchernen Kanal, so wird der Bohrer vorsichtig zurückgezogen.
Das Auffinden des Bohrkanals wird auch dadurch schon erleichtert,
daß man in der eben angegebenen Weise den Bohrer stecken läßt, ihn
dann unter guter Fixierung der Haut herauszieht und gleich die Nadel
einführt.
Im ganzen sind diese Modifikationen ohne erhebliche Bedeutung.
Dagegen legen wir das größte Gewicht auf die Ein-
haltung unserer so einfachen Technik und dieBenutzung
so feiner, glatter Bohrer, wie wir sie gebrauchen.
Von der Einführung anderer Instrumente durch den Bohrkanal
sind wir wieder abgekommen. Wir haben uns — um ein Instrument
zu besitzen, mit dem man festere Massen, z. B. Tumorpartikelchen gut
aus der Schädelhöhle herausbefördern kann — nach den Angaben Payrs
«ine Harpune machen lassen: dieselbe versagte vollständig. Als weit
besser erwies sich der von demselben Autor empfohlene Metalltrichter
mit geschärftem Rande. Er erfordert aber ein viel zu großes Bohrloch,
setzt leicht dem Zurückgehen Schwierigkeiten entgegen, verletzt auch
zu stark.
Wenn es sich darum handelte, Gehimsubstanz oder zelliges
Material von einem Hirntumor etc. zu gewinnen — eine Aufgabe, die
gegenüber der viel wichtigeren Aspiration flüssiger Massen immerhin
erst in zweiter Linie kommt — so gelang uns das in ausreichender
Weise dadurch, daß wir eine stärkere, gut federnde Spritze von 5 ccm
Inhalt auf die Nadel aufsetzten und unter mehrfachem Hin- und
Herschieben der Nadel aspirierten.
Eine Pulsation der Dura scheint uns an einem Bohrloch, wie wir
es anlegen, nicht zu beobachten zu sein.
Anatomischer Teil.
Wahl der Punktionsstelle.
An der Hand der Anatomie haben wir versucht:
1) Punkte festzulegen, die geeignet sind, bestimmte Hirnpartien,
speziell die verschiedenen Lappen an zweckmäßigen Stellen zu treffen,
■also Punkte, für den Stirn-Zentral-Schläfen-Scheitel-Hinterhauptslappen
und das Kleinhirn.
MitteU. a. d. üranxcebieten d. Modlsin n. Chirurgie. XUL Bd. 53
822 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
2) Punkte aufzufinden, die den von bestimmten Affektionen be-
sonders häufig be&Uenen Bezirken entsprechen. Vor allem Punkte, an
denen man Schläfenlappen-Kleinhimabscesse und Blutungen aus der
Meningea media mit großer Sicherheit antreffen kann.
3) Diese Punkte so zu wählen, daß sie ohne komplizierte Kon-
struktion zu finden sind, daß ferner die Punktion mit möglichst wenigen
Unannehmlichkeiten resp. Gefahren verknüpft ist ; also PunktionssteUen,
welche die äußeren Arterien, die Art. meningea media und ihre Aeste,
die größeren Hirnvenen, die Sinus nach Möglichkeit vermeiden.
A. Punkte fUr die Punktion der einzelnen Lappen (vergl. Fig. 1).
I. Stirnhirn.
Am Stimhirn haben wir zwei Punkte benutzt, die beide auf einer
Linie liegen, die durch die Mitte des oberen Augenhöhlenrandes parallel
zur Medianlinie nach hinten gezogen ist.
Der erste Punkt (-Fi) wird so erhalten, daß man auf dieser Linie
von dem Marge supraorbitalis an die Höhe der Orbita (ca. 4 cm) ab-
trägt; der zweite liegt um dieselbe Strecke weiter nach oben bezw.
hinten {F^).
F^ (unterer Stirnpunkt) entspricht dem vorderen Pol des Stirn-
lappens resp. der Hemisphäre.
F^ (oberer Stimpunkt) trifft etwa die mittleren Partien des Stirn-
lappens (von vorn nach hinten gerechnet) und zwar im Bereich der
zweiten Stirn Windung^). An beiden Punkten ist die Gefahr einer Gefäß-
verletzung sehr gering.
Was die Hirnvenen anbelangt, so sind dieselben hier bekanntlich
klein (Venae cerebrales superiores anteriores). Auch die Aest^hen der
Meningea anterior resp. media, soweit sie dem vorderen oberen Teil
des Stirnlappens entsprechen, sind dünn und liegen weit auseinander.
Andere Gefäße kommen nicht in Betracht.
Die Punkte F^ und F^ spielen eine Rolle bei der eventuellen
Punktion von Stirnhirntumoren, Abscessen, Cysten u. dergl. Auch zur
Punktion des Vorderhorns resp. eines Hydrocephalus internus sind die
Punkte zu benutzen (s. unten).
Einige Beispiele aus unseren Leichenversuchen:
Punktion an F^ trifft das Stirnhirn 2,5 cm oberhalb der Basis, im
Gyrus front. IE. In 4 cm Tiefe erreicht die Nadel das Corpus striatom;
auf der anderen Seite in 3,5 cm Gehimtiefe das Vorderhorn.
Punktion an F^ (4 cm nach hinten von F^), Gyr. front II getroffen;
etwa Zentrum des Stimhirns; hier in 2,5 cm Gehimtiefe das Vorderhorn
erreicht. Größere Venen fehlen.
1 ) Eine durch die Mitte des Tub. front, gelegte Sagittallinie läBt den
Gyr. front. I medial, den Gyr. front. II lateral von sich liegen.
Die Himpunktion.
823
Punktion von F^ trifft die zweite Stimwindnng gut 2 cm oberhalb
der Basis. In 3 cm Gehirntiefe Ventrikel erreicht.
Punktion von F^ trifft die zweite Stirnwindung im Zentrum des
Stirnlappens (von vom nach hinten gerechnet). Die Nadel erreicht, in
5 cm Gehimtiefe durch den Streifenhügel hindurch, den Seitenventrikel.
Unterer Orittelponkt
{tm Nasenwurzel)
Oberer Drittelponkt
S = Scheitelpunkt, Mitte zwischen iV and 0
"L — Spitxe der Sutnra
lambdolde«
(NL =» Linea naso-
lambdoidea [Poiribr])
0 ^ Protaberantia
occipitalis externa
(iVO = Linea-naeo-ocd-
p italli-horizontalis)
(Aeqnatorial- oder Basal-
linie)
Spitie des Proc mastoid.
Fiff. 1. Schema zur Bestimmung der kranio-cerebralen Topographie (nach Poirier-
EocHEB). Einzeichnung^ unserer Pünktionspunkte.
»— EocHEBSche Kraniometeipunkte bezw, -Linien.
® Unsere Absceßpunkte.
% Unsere Punkte zur Punktion der einzelnen Lappen.
Zwei weitere Versuche ergaben in 3 cm Himtiefe das Eindringen der
Nadel in das Vorderhom etc.
IL Kleinhirn.
Unsere Punktionsstellen für das Kleinhirn sind folgende:
Kl liegt auf der Mitte einer Verbindungslinie von Protuberant.
occipitalis externa und Spitze des Proc. mastoideus. Es ist dies der
53*
824 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Punkt, von dem aus Poirier die Freilegung des Kleinhirns empfohlen
hat. Hier trifft man das Zentrum der betreffenden Kleinhimhemisphäre
(an der Unterfläche den LobuL gracilis; bei Durchstechen kommt die
Nadel oben etwa in der Mitte des LobuL quadrangularis wieder zu
Tage)^. Wie beim Stirnhirn sind auch hier die Venen der Himober-
fläche klein; irgend welche größeren Arterienstämme des Hirns oder
der Dura kommen ebensowenig in Betracht, wie die Sinus.
Beispiele. Punkt an K^i Bei 6 cm Tiefe stößt die Nadelspitze
ans Tentorium an (von der äußeren Hauptoberfläche gerechnet) ; die Stelle,
wo sie anstößt, liegt von der Mittellinie noch um ca. 8 cm entfernt Vom
äußersten Seitenzipfel des vierten Ventrikels bleibt die Nadel ca. 3 cm
entfernt Die Nadel steckt im Lob. graciL an der Unterseite, oben etwas
nach vom von der Mitte des Lob. quadrangularis.
Mehrere Wiederholungen ergeben im ganzen immer wieder dasselbe.
IIL Zentrallappen.
(Gyr. central, anter. und poster.)
Der Zentrallappen ist nach verschiedenen Methoden leicht zu
treffen; jedoch ist die Anwendung eines Meßinstrumentes notwendig.
Am bekanntesten ist das KÖHLERsche Craniencephalometer, mit dem
man den Sulcus Rolandi bestimmt
Wir folgen Kocher*), welcher sagt:
^Wir haben schon oben darauf hingewiesen, daß wir nicht, wie die
übrigen Autoren, seit Lucas Championni^re die Fissura Rolandi für
den SchlCLssel der motorischen Region halten können, sondern vielmehr
den Sulcus praecentralis. Dieser hat zugleich den Vorteil, leichter be-
stimmbar zu sein als die Zentralfurche, und ferner, daß von ihm die
untere und obere Stirnfurche ausgehen, die eine ungemein exakte Be-
stimmung zulassen. Dadurch grenzen sich nicht nur die in der Basis
der Stimwindungen gelegenen Zentren voneinander ab, sondern es ist
auch leichter, die in der vorderen Zentralwindung gelegenen Zentren
auseinander zu halten, da hier sonst bloß durch das winkelige Vortreten
der hinteren Zentralwindung eine Trennung der oberen Zentren für
die Extremitäten von den unteren für den Kopf gegeben ist. Es kommt
hinzu, daß um das untere Ende der Präzentralfurche herum sich eine
Reihe wichtiger Zentren gruppieren, was für die Zentralfurche nicht in
der Ausdehnung der Fall ist. Auch liegt unter diesem unteren Ende
der Präzentralfurche die Bifurkation der Fissura Sylvü. Nimmt man
hinzu, daß sich die Präzentralfurche viel leichter in ganzer Länge be-
1) Man muß hier bei der Punktion des Kleinhirns bertlcksichtigen,
daß der anzulegende Kanal nicht senkrecht zur Haut, sondern senkrecht
zur Knochen-(Occipat)-Oberfläche verlaufen soll. Daraus geht hervor, daß
man beim Bohren den Griff des Bohrers ziemlich stark gegen den Nacken
icesenkt halten muß.
2) 1. c. p. 418.
Die Himponktion, 825
stimmen läßt, so liegen sicherlich Gründe genug vor, derselben größere
Bedeutung für die Hirntopographie zuzuerkennen, als dieses bislang ge-
schehen ist."
Für uns kommt noch ein nichtiger Punkt hinzu, um die Bedeutung
der Präzentralfurche zu vermehren. Mit ihrer Bestimmung nach Kocher
ist zugleich der vordere Ast der Art. meningea media mitbestimmt, der,
wie man sich in den schönen Photogrammen von J. Stiles überzeugen
kann — wenn man von den obersten Partien absieht — in seinem
Verlauf ganz dem des Sulc. praecentral. entspricht, von dem er nur
durch die Hirnhaut geschieden ist. Und diesen Ast müssen wir vor
allem bei der Punktion vermeiden. Wir haben nach den KocHERschen
Angaben mit Hilfe des Cyrtometers den Verlauf des Sulc. praecentral.
und der Meningea media am Lebenden und an der Leiche in einer Reihe
von Fällen bestimmt und uns bei der späteren Operation oder Sektion
von der ausgezeichneten Treffsicherheit der Kocher sehen
Methode überzeugen können. Wir fanden es bei Leichenversuchen
nicht selten, daß die eingestochenen Nadeln genau im Sulc. praec.
steckten und zugleich — bei Punktionen am sogenannten oberen oder
unteren Drittelpunkt (d. i. den Schnittpunkten des Sulc. praec. mit dem
Sulc. frontal. I u. II) — dem Endpunkt des Sulc. front. I resp. II ent-
sprachen. Dabei trafen wir die Meningea bis auf 0,5 cm genau.
Das Kocher sehe Cyrtometer (vgl. Fig. 1) besteht aus einem
Horizontalbogen (Metall- oder Kautschukband), das von der Glabella
bis zur Protuberantia occipitalis externa verläuft und jedem Kopf
angepaßt werden kann. Der Bogen wird so angelegt, daß der untere
Band des Bandes der Spina occipitalis und dem untersten Ende der
Glabella, d. i. der tiefsten Stelle der Nasenwurzel entspricht. Ein
sagittales, biegsames Stahlband liegt, fest verbunden mit dem horizon-
talen, auf der Spina occipitalis, wird über die Mittellinie nach vorn ge-
legt und an der Nasenwurzel unter dem Horizontalbande durchgezogen,
gespannt und fixiert Ein drittes Band, ebenfalls aus biegsamem Stahl,
ist auf einer runden Platte mit Kreiseinteilung nach allen Richtungen
drehbar und läßt sich in ganzer Länge auf dem Sagittalband verschieben.
Alle Bänder haben Zentimeter- und Millimetereinteilung.
Außerordentlich leicht ist hiermit zunächst die Präzentralfurche
zu bestimmen. Nimmt man die Mitte zwischen Prot, occipit. extern, und
Glabella und stellt das bewegliche Band (den sogenannten vorderen
Schrägmeridian) so, daß es mit dem Sagittalband einen Winkel
von 60^ (nach vorn) bildet, so trifft man mit dem vorderen
Schrägmeridian die Präzentralfurche in ganzer Länge
und nur der oberste Teil fällt noch in die vordere Zentralwindung selbst.
Teilt man diesen Schrägmeridian zwischen Sagittalmeridian und
Aequator in drei Teile, so hat man genau den Anfang des Sulc. front,
sup. im oberen Drittelpunkt und des Sulc. front, inf. im unteren
826 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Drittelpnnkt. Die Richtung der STLVischen Furche findet man so,
daß man entweder von einem Punkte nahe der hinteren Grenze des
dritten Viertels des Sagittalmeridians den Schrägmeridian im rechten
Winkel nach vorn gehen läßt, oder einfacher: indemman eine Linie
von der Spitze der Lambdanaht nach der Nasenwurzel
zieht (zu diesem Zweck ist noch ein Metallbogen am Horizontalband
des Cyrtometers befestigt) [Linea nasolambdoidea]. Diese Linie weicht
hinten etwas abwärts von der SYLVischen Furche ab, entspricht aber
dem Verlauf der wichtigen I. Temporalwindung genau (Linea temporalis I),
wenn man als vordere Grenze den vorderen Schrägmeridian und als
hintere den hinteren Schrägmeridian ansieht, welcher letztere
von dem Mittelpunkt zwischen Glabella und Spina occipitalis in einem
nach hinten offenen Winkel von 60^ abgeht.
Die Ausführung der ganzen Konstruktion dauert wenige Minuten.
Wo der hintere Schrägmeridian die Linea nasolambdoidea schneidet,
befindet sich das hintere Ende der ersten Temporalfurche (u. 1 cm
darüber der SYLVischen Furche).
Da dieser Meridian abwärts von diesem Schnittpunkte die Grenze
zwischen Temporal- und Occipitallappen, aufwärts aber ungefähr die
Grenze zwischen Zentral- und Parietallappen (oben geht er ganz in die
hintere Zentralwindung ein) bildet, so bezeichnet ihn Kocher auch als
Linea limitans.
Danach kommt das einfache KooHERsche Schema zu stände, das
in der Figur wiedergegeben ist.
Wie man sieht, bestimmt man mittels des Cyrtometers in kürzester
Zeit nicht nur den Sulc. praecentralis und den Hauptast der Meningea,
sondern auch die Fissura Sylvii, und grenzt die übrigen Lappen gegen
einander ab (Linea limitans).
Uns interessiert hier zunächst nur der vordere Schrägmeridian
event. auch die SYLVische Furche. Der vordere Schrägmeridian ent-
spricht, wie schon erwähnt, der Meningea media und zwar dem Haupt-
ast (Ram. anter. der Autoren), der nur oben nach vorn abweicht ; ferner
entspricht er dem Sinus parieto-sphenoidal, der größtenteils mit der
Meningea verläuft und bis zur Mittellinie hin dem Sulc. praecentralis
folgt (Merkel).
Die Linie, die die SYLVische Furche angibt, entspricht zugleich der
großen Vena cerebri media, welche oberflächlich in dem SYLVischen Spalt
verläuft ; ferner häufig einem hinteren Ast des Ram. anter. der Meningea.
Bedenkt man ferner, daß der sogenannte vordere Ast der Meningea
media noch mehr Aeste nach hinten oben abgibt, daß ferner auch die
Hirnvenen dieses Bezirks (System der Vena cerebri media) weit mäch-
tiger sind, als die der vordersten oder hintersten Hirnpartien, so ist
ohne weiteres klar, daß die untersten Partien des Zen-
trallappens zur Punktion wenig geeignet sind.
Die Hirnpunktion. 827
Je weiter man nach oben kommt, desto dünner werden die Aeste
der Meningea und desto weiter liegen sie auseinander ; hier werden also
die Punktionsverhältnisse günstiger.
Wir haben es für zweckmäßig befunden, uns V2 — 1 cm
hinter dem aufgezeichneten Verlauf der Meningea (wenn
möglich entfernt von der STLVischen Furche) zu halten.
Hier triflft man:
a) oberhalb des oberen Drittelpunktes das Beinzentrum (C^),
b) zwischen oberem und unterem Drittelpunkt das Armzentrum ((7,),
c) in der Höhe des unteren Drittelpunktes das Facialiszentrum (Q),
Je nachdem man dicht hinter der Meningea resp. dem vorderen
Schrägmeridian punktiert oder um eine Gyrusbreite weiter nach hinten
(ca. 1—1,5 cm), trifft man den Gyr. prae- oder postcentralis.
Für die Punktion des Zentrallappens überhaupt empfehlen
sich aus den oben erwähnten Gründen Punkte oberhalb der Höhe
des unteren Drittelpunktes.
Will man ein bestimmtes Zentrum punktieren, so muß man
eventuell tiefer unten eingehen, z. B. bei Punktion des unteren Facialis-
oder des Hypoglossuszentrums oder der BROCAschen Windung] (letztere
liegt dicht vor dem vorderen Schrägmeridian, in dem stumpfen Winkel,
den dieser mit der nach vorn verlängerten Lin. tempor. I bildet). Hier
wächst die Gefahr einer Blutung nach den obigen Auseinandersetzungen
bedeutend; man wird also hier die Indikation der Punktion strenger
stellen, als bei den Punktionen in den mittleren und oberen Partien
der motorischen Region.
Hier mag noch bemerkt sein, daß man selbstverständlich auch nach
Bestimmung der RoLANDOschen Furche punktieren kann, indem man
sich etwas nach vorn bezw. etwas nach hinten davon hält.
Uns schien aber aus ersichtlichen Gründen die EocHERsche
Methode für unsere Zwecke geeigneter.
Wer in dem seltenen Besitz wirklich exakter Nachbildungen ist,
die die Lagebeziehungen der Hirnoberfläche zum Schädel naturgetreu
wiedergeben, wird sich dieser natürlich zur Wahl der Punktionsstellen
am Schädel in ausgezeichneter Weise bedienen können.
IV. Schläfenlappen.
Für die Punktion dieses Lappens schlagen wir folgende Punkte vor.
Der eine (Tj) liegt 1 — 1,5 cm oberhalb des oberen Ansatzes der
Ohrmuschel (Orientierung des Schädels nach der deutschen Hori-
zontalen *).
Dieser Punkt entspricht etwa dem Zentrum des Schläfenlappens.
1) Linie durch den Infraorbitalrand und den obersten Punkt des
Meatus acusticus externus.
828 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Ein zweiter Punkt, an dem wir öfters punktiert haben, wird erhalten (T^X
wenn man von einem Punkte 1 cm oberhalb des Ohrmuschelansatzes
(Ti) um 1,5 cm nach vorn geht (parallel der deutschen Horizontalen).
Dieser Punkt entspricht etwa dem Zentrum des Schläfenlappeus^
soweit letzterer hinter dem Os temporale liegt.
(Ueber Ts siehe unten bei den Absceßpunkten.)
Die Venen sind in dieser Gegend im ganzen nicht sehr groß oder
dicht, so daß die Gefahr einer venösen Blutung gering erscheint. Die
einzige größere Vene liegt im Sulc. temp. superior.
Die Punktionsstelle bleibt meist nach hinten resp. unten davon.
Von den Arterien kommt allein der Ramus posterior der Meningea media
in Betracht, der zwar für gewöhnlich hinter dem oberen Teil der Schuppe
nach hinten zieht, also weit nach oben bleibt, aber auch nicht selten
tiefer (hinter dem mittleren oder unteren Teile der Schuppe) verlaufen
kann ^). Dieser Ast ist — da nicht anatomisch fix und bestimmbar —
auch nicht vollkommen sicher zu vermeiden. Wir haben ihn beiläufig,
trotz häufiger Punktionen in dieser Gegend, nie getroffen.
Günstig für die Punktion in diesem Bereich ist der Umstand, daß
der erwähnte Ast sich erst am hinteren Rande der Schuppe in mehrere
Aeste zu teilen pflegt, hinter der Schuppe aber so gut wie astlos
verläuft
Beispiele: 1) 1 cm nach vom von einem Punkt punktiert, der
1 cm über dem oberen Ansatz der Ohrmuschel liegt (Orientierung: Deutsche
Horizontale). Schlafenlappen im Gyr. temporalis II getroffen. Dieser
Punkt kann noch 0,5 cm nach vom verlegt werden, um das Zentrum des
Schläfenlappens — soweit er hinter dem Temporale gelegen ist — zu
treffen.
Ast der Meningea media nicht getroffen; sie verläuft hinten an der
Sutura petrosquamosa. In 5 cm Gehimtiefe die Pedunculi cerebri ge-
troffen.
2) 2 cm nach vom von einem Punkt punktiert, der 1,5 cm oberhalb
des Ansatzes der Ohrmuschel liegt. Gyr. temp. II getroffen und zwar
ziemlich im Zentrum des Schläfen lappens.
In 8 cm Gehimtiefe wird das Unterhorn erreicht.
V. und VI. Parietal- und Occipitallappen.
Diese Lappen werden verhältnismäßig selten punktiert werden müssen.
Man entwirft sich am besten wieder mit dem KocHERschen Cyrto-
meter die auf Figur 1 gegebene Zeichnung. Durch dieselbe werden
die Grenzen und Umrisse des Lob. parietal, und occipital. bestimmt
und man kann nun ungefähr in der Mitte der aufgezeichneten Fläche
punktieren *).
1) Vgl. die Arbeit von B. Steinbr, „Zur chirurgischen Anatomie der
Arteria meningea media '^ Archiv für klinische Chirurgie, 1894, Bd. 48.
2) Wir haben bei unseren Versuchen am Scheitellappen gewöhnlich
den Lob. parietalis superior getroffen. Den Lob. parietalis infer. trifft
Die Himpunktion. 829
Bei der Punktion des Paxietallappens muß man selbstverständlich
berücksichtigen, daß die Linea limitans oben in den Zentrallappen fällt.
Mit Hilfe der KocHERschen Zeichnung kann man sich mit einem Blick
orientieren.
Die Venenverhältnisse sind besonders im Bereich des Occipital-
hirns günstig. Wenn man in der Mitte des Occipital- resp. Parietal-
lappens bezw. ihrer Umgrenzung durch die KocHERsche Zeichnung
punktiert, wird man kaum eine größere Vene treffen. Die Arterien
der Dura bilden hier schon sehr feine, ziemlich weit auseinanderliegende
Aeste und geben kaum zu Bedenken Anlaß. — Die Vermeidung der
Sinus (longitudinalis sup. und transvers.) ergibt sich von selbst, wenn
man von der Mittellinie resp. Aequatoriallinie genügend entfernt bleibt^
Wir erinnern noch daran, daß der Sinus transversus unterhalb der
Basallinie liegt, so daß man ziemlich nahe an diese herangehen kann;
femer, daß der Sinus longitud. sup. s. sagittalis gegen Ende seines Ver-
laufs etwas nach rechts abbiegt (um in den rechten Sin. transvers.
auszumünden), resp. überhaupt etwas rechts von der Mittellinie verlftufl.
VII. Seiten Ventrikel.
Hier mögen einige Bemerkungen über die Punktion der Seiten-
ventrikel Platz finden.
Der beste Punkt scheint uns der von Kocher angegebene. Kocher,
welcher den Seitenventrikel punktiert, um bei Tetanus Antitoxin ein-
zuspritzen, wählt eine Stelle vor der Präzentralfurche zwischen mitt-
lerer und oberer Stirnwindung in der Höhe des Sulcus, d. i. an der
Schädeloberfläche die Stelle 2,5 — 3 cm lateral vom Bregma (Vereinigungs-
stelle der Sagittal- und Goronarnaht) ; hier vermeidet man die moto-
rischen Zentren und triflft in 5—6 cm Tiefe das Lumen des normalen
Ventrikels und zwar das Vorderhorn. — Wo man das Bregma nicht
durchfühlt, findet man es folgendermaßen : Man denkt sich einen Punkt
dicht unter der Nase mit dem Por. acust. extern, verbunden und in
letzterem zu dieser Linie eine Senkrechte errichtet; dieses Lot trifft
die Sagittallinie im Bregma. — Wir haben so in zahlreichen Fällen
gefüllte und erweiterte, wie auch leere Ventrikel punktiert
Die Oefahr bei mit Flüssigkeit erfüllten Ventrikeln (Hydrocephalus,
Meningitis serosa) sind gleich Null. Je leerer der Ventrikel ist, desto
eher kann es zu einer Verletzung von Gefäßen und Blutungen kommen,
wie in einem unserer Fälle, wo nach Injektion von Tetanusantitoxin
bei der Autopsie ein Blutgerinnsel von 5 cm Länge im Seitenventrikel
gefunden wurde.
man, wenn man in dem nach oben und vom offenen Winkel zwischen
Linea naso-lambdoidea und hinterem Scbrägmeridian punktiert. — Sowohl
bei Punktion des Occipital- wie Parietallappens trafen wir in ca. 3 cm
Himtiefe den Ventrikel.
830 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Versuche: Punktion des Stirn-, Schläfen-, Zentral-, Hinterhaupts-
lappens; in 3 — 4 cm Hirntiefe Ventrikel erreicht
Die Punkte, die wir für die Lappen angegeben haben, sind ge-
wissermaßen Standardpunkte, von denen man im gegebenen Falle
abweichen kann, je nachdem die Symptome auf einen anderen Punkt
hinweisen. [So haben wir oben bei dem Zentrallappen schon drei
Punkte angegeben, je nachdem es sich um Verdacht auf eine AiFektion
des Bein-, Arm- oder Facialiszentrums handelt. Andere Punkte ^) würden
sein : Zentren der Augenbewegung, der motorischen Aphasie ! Ferner
ließ sich die Punktionsstelle auch für Arm, Bein, Facialiszentren noch
spezialisieren, je nachdem gewisse Teile besonders befallen sind (oberer
Facialis, unterer Facialis, Hand, Schulter, Fuß, Oberschenkel etc.].
Im allgemeinen dürften die von uns angegebenen
Punkte geeignet sein und ausreichen, einen Herd in
einem bestimmten Hirnteil zu treffen und dies auch
darum, weil für die Probepunktion doch nur ein Herd in
Betracht kommt, der eine gewisse Oberflächenausdeh-
nung besitzt.
B. Fixe Punkte zur Punktion von Abscessen und Blutungen.
Von noch größerer Bedeutung erschien es uns, Punkte zu fixieren,
an denen nach klinischer Erfahrung Abscesse und gewisse Blu-
tungen vorzukommen pflegen.
I. Absceßpunkte.
Von Abscessen kommen für die Punktion im wesentlichen die
otitischen Abscesse in Betracht und es war daher unser Bestreben,
Punkte zu finden, von denen aus man gefahrlos schon möglichst kleine
Kleinhirn- oder Schläfenlappenabscesse punktieren kann.
KÖRNER (Die otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute
und der Blutleiter, 1894) sagt über den Sitz der otitischen Hirnabscesse
folgendes: „Die von einem kranken Schläfenbein induzierten Hirn-
abscesse liegen in den demselben benachbarten Hirnteilen, also im
Schläfenlappen oder in der Kleinhirnhälfte der gleichen Seite, sehr
selten in der Brücke oder den Kleinhirnschenkeln.'^
„Erkrankungen im Bereich der mittleren Schädelgrube führen zum
Absceß im Schläfenlappen, solche im Gebiet der hinteren Schädelgrube
zum Absceß im Kleinhirn. — Die Erfahrung, daß die Abscesse in un-
mittelbarer Nähe des Kontaktes erkrankter Knochenteile mit den Hirn-
häuten auftreten, gibt uns die Möglichkeit, die von ihnen bevorzugten
Stellen wenigstens ungefähr zu bestimmen. Dieser Kontakt findet in
1) Zu finden mit Hilfe von Tafeln der Himoberfiäche, in die die ein-
zelnen Funktionen eingetragen sind.
Die Himpimktion. 831
der mittleren Schädelgrube, meist am Dache der Pauken-
und Warzenhöhle statt. Auf diesem liegt der vordere Teil des
Gyr. fusiformis. In der hinteren Schädelgrube handelt es sich zumeist
um die Fossa sigmoidea des Sulc. transversus; ihr entspricht die
Vorderfläche des äußersten Kleinhirnteils. Den seltener
in Betracht kommenden Mündungen der Vorhofswasserleitung und des
inneren Gehörgangs entsprechen mehr medianwärts gelegene Teile der
vorderen Kleinhirnfläche.*'
„Diese Ortsbestimmung bezieht sich auf den beginnenden, noch
kleinen Absceß.**
Es fragte sich also für uns, von wo aus man mit der Punktions-
nadel in die Hirnpartien gelangt, die den von Körner angegebenen Kon-
taktflächen zwischen Hirn- und Knochenteilen möglichst benachbart sind.
Auf Grund von Leichenversuchen wählten wir folgende Punkte:
a) Schläfenabsceßpunkt.
Derselbe liegt ca. 0,5—0,75 cm senkrecht über dem
oberen Ansatz der Ohrmuschel.
Durch Leichenversuche läßt sich leicht zeigen, daß die Frontal-
ebene, die durch den oberen Ansatz der Ohrmuschel geht, die erste
Kontaktstelle Körners zwischen Dach der Paukenhöhle und Lob. fusi-
formis trifft, bezw. in der Mitte schneidet. Somit stellt diese Ebene
oder vielmehr die Linie, in der sie die Schädeloberfläche schneidet
(d. i. eine im oberen Ansatz der Ohrmuschel errichtete Senkrechte be-
zogen auf die deutsche Horizontallinie), den einen geometrischen Ort
für die Punktionsstelle dar.
Schwerer ist die Bestimmung, wie hoch man auf dieser Linie punk-
tieren soll.
Beispiele: 1) 1 cm oberhalb des Ansatzes der Ohrmuschel punk-
tiert. Die Nadel sitzt im Oyr. temporalis II; bleibt l*/^ cm oberhalb der
Ebene, die durch die Oberfläche des Lob. fusiformis gebildet wird.
In 3,5 om Himtiefe dringt die Nadel ins Unterhom, gleich nachdem
sie den Lob. fusiformis passiert hat.
In 6 cm Himtiefe erreicht die Nadelspitze die Himschenkel (Basis!).
(Ein Ast der Meningea läuft dicht unter der Punktionsstelle vorbei!)
2) Punktion o) am Ansatz der Ohrmuschel, ß) 1 cm nach oben davon ;
an beiden Punkten der Gyr. temp. II getroffen, durch a würde ein sehr
kleiner Absceß, durch ß ein etwas größerer an der Berührungsstelle von
Gyr. fusiformis und Tegmen tympani getroffen sein. Ast der Meningea
lauft hinter den Punktionsstellen vorbei.
Bei o in 4,5 cm Himtiefe die Pedunculi cerebri erreicht,
Bei ß in gut 5 cm Hirntiefe die Pedunculi cerebri erreicht
Das Tegmen tympani entspricht der vorderen Partie des Gyr. fusi-
formis und einem Teil der Basis der HL Scbläfenwindung.
8) Genau am Ansatz der Ohrmuschel punktiert und zwar rechts und
links. Links findet sich dicht neben der Punktionsstelle ein kleiner Ast
der Meningea. Rechts verläuft der Eam. posterior derselben etwa 3 cm
höher nach hinten.
832 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Beiderseits ist der Qyr. tempor. III getroffen. Die Nadel liegt nur
^4 cm oberhalb der Ebene, die man durch die Oberfläche des Oyr. fnsi-
formis legen kann ; sie verläüt schon in 4 cm Oehimtiefe die Himsnbstanz
und kommt aus der Basis hervor!
Hier wäre ein ganz beginnender Abscefi im Lob. fasiformis getroffen
worden.
4) Punktion genau am oberen Ansatz der Ohrmuschel resp. eine Spur
tiefer; rechts und links
a) links: Gehirn nicht getroffen! die Nadel liegt an der Himbasis,
tangiert an das Oehim. Der Kam. poster. der Meningea liegt 2 cm
oberhalb der Punktionsstelle.
b) rechts: Schläfenlappen hier getroffen im Sulc. tempor. medius
(zwischen Oyr. temp. II und HI); wohl nur Gehirn getroffen, weil hier
nicht genau senkrecht zur Oberfläche eingestochen, sondern die Spitze
etwas scheitelwärts abgewichen. Kam. poster. der Meningea liegt 1 cm
oberhalb der Punktionsstelle.
6) 1,5 cm oberhalb des Ohrmuschelansatzes; trifft den Gyr. temporal, ü,
bleibt knapp 2 cm oberhalb der Himbasis. Würde also einen ziemlich
kleinen Absceß erreichen. Die Nadel geht dicht unter dem Boden des
Unterhoms vorbei.
ß) Punktion:
a) Am Ansatz der Ohrmuschel : Der unterste Teil der HL Schläfen-
windung wird fast an der Basis! getroffen. Die Nadel liegt 0,4 cm
oberhalb der Basis. Hier wäre ein noch nicht haselnußgroßer Absceß
der Kontaktstelle von Tegmen und Schläfenlappen gefunden worden.
b) Etwas nach unten und vom von der vorigen Stelle; aber Nadel
etwas scheitelwärts gerichtet. Der unterste Teil von Gyr. temp. III
getroffen ; aber etwas weiter ab ! von der Basis (d. h. höher), als bei a
(was natürlich mit der leicht schräg gehaltenen Punktionsrichtung zu-
sammenhängt).
An der betreffenden Stelle des Lob. fusiformis passiert die Nadel in
etwa 1,5 — 2 cm Entfernung von der Basis.
[7) Oberer Ansatz der Ohrmuschel mit dem lateralen Ende des Margo
Bupraorbitalis verbunden; in 8 Teile geteilt. Am hinteren Drittelpunkte
eingestochen — nach Wegnahme des Schädeldaches — durch die Spitze
des Schläfenlappens gegen den Türkensattel: Entfernung von der Haut-
oberfläche bis zur Carotis interna: 6 cm. (Ein Punkt, der sich nicht zu
Punktionen eignet.)]
Zu Anfang hatten wir uns bei mehreren Leichenversuchen davon
überzeugt, daß eine senkrecht zur Oberfläche am oberen Ansatz der
Ohrmuschel selbst eingestochene Nadel einen an der Berührungsstelle
vom Paukenhöhlendach und Lob. fusiformis des Schläfenlappens suppo-
nierten, auch nur haselnußgroßen Absceß mit Sicherheit treffen muß.
Dabei durchstach die Nadel den Gyr. temporal. II etwa in seiner
unteren, basalen Partie, wie das auch nach den Abbildungen der meisten
topographischen Lehrbüchor zu erwarten war.
Weitere Versuche lehrten uns aber, daß unter Umständen an dieser
Stelle das Gehirn durch die Nadel eben gerade noch getroffen wurde,
so daß dieselbe nur noch den tiefsten (basalsten) Teil des Gyr. tempor. III
Die Himpunktion. 833
durchstach resp. am Gehirn tangierte — ein jedenfalls bei der Punktion
unangenehmes resp. nicht erwünschtes Vorkommnis.
Die Erklärung hierfür und zugleich gute Orientierung über die zu
Grunde liegenden Verhältnisse gibt Froriep in seinem berühmten
Werk über die Lagebeziehungen zwischen Großhirn und Schädeldach.
Froriep unterscheidet auf Grund seiner sorgfältigen, an 25 Köpfen
angestellten Versuche mit Bezug auf die Lageverschiedenheit
des Gehirns 2 Typen: den frontipetalen und den occipito-
petalen Typus; ersteren gekennzeichnet durch stirnwärts zusammen-
gedrängtes Hirn, mit steiler, weit vorn liegender Zentralfurche; letzteren
mit nackenwärts gerücktem Hirn und schräger, weit hinten liegender
Zentralfurche. Welcher von beiden Gruppen ein beliebiger Fall an-
gehört, läßt sich nach Froriep bestimmen auf Grund der mit dem
Stangenzirkel zu bestimmenden Maße:
1) Länge des Hinterhauptes,
2) Längen-Occipitallängenindex und
3) auf Grund der Höhenlage des Inion (Prot, occipit. ext.) zur
Horizontalen.
Je größer die erwähnten Maße und je mehr sich das Inion zur
Horizontalen oder unter diese neigt, um so sicherer ist auf die dem
occipitopetalen Typus entsprechende Lagerung des Hirns zu rechnen,
und umgekehrt.
Während nach verschiedensten kraniocerebralen Topographien dem
oberen Ansatz der Ohrmuschel etwa der Gyr. tempor. II entspricht
und der Schläfenlappen abwärts bis zu einer durch den oberen Rand
des Por. acust. extern, gelegten Horizontalen reicht — sind dies nach
Froriep nur die mehr oder weniger frontipetalen Köpfe. Bei dem
occipitalen Typus reicht der Schläfenlappen viel weniger weit herab —
bei dem ausgesprochensten Fall Frorieps nur bis zum Ansatz der
Ohrmuschel! und es entspricht in diesem Fall dem Ansatz der Ohr-
muschel die Hirnbasis, statt des Gyr. temp. IL [üeber den oberen
Kand des Por. acust. extr. erhebt sich die Unterfläche des Schläfen-
lappens in den beiden extremsten Fällen Frorieps um 0 mm (fronti-
petaler) und 12 mm (occipitopetaler Typus).] Hieraus erhellt ohne
weiteres, daß man nicht einfach am Ansatz der Ohrmuschel punktieren
kann, da man bei einem extrem occipitopetalen Kopf unter Umständen
das Gehirn überhaupt verfehlen würde.
Am nächsten läge es nun, auf Grund der FRORiEPschen Angaben
mit dem Stangenzirkel den Typus des einzelnen Falles zu bestimmen
und danach die Punktionsstelle höher oder tiefer zu bemessen (beim
frontipetalen etwa am Ansatz der Ohrmuschel oder noch etwas tiefer;
bei occipitopetalen etwa IVs cm oberhalb des Ansatzes).
Aber diese Bestimmung — die auch für unsere Zwecke noch nicht
absolut sichere Resultate ergibt — erschien uns zu zeitraubend und
834 Ernst Neisser und Kurt Follack,
zu kompliziert, ganz abgesehen davon, daß der Apparat der Punktion
noch durch ein neues Instrument — den Stangenzirkel — beschwert
wird und wir glaubten, daß man ohne das auskommt. Eine Punk-
tionsstelle, etwa 0,5 — 0,75 cm oberhalb des oberen An-
satzes der Ohrmuschel wird bei den verschiedensten
Kopftypen der Anforderung genügen, den Schläfen-
lappen noch sicher zu treffen, andererseits aber auch
nicht allzuweit oberhalb der Unterfläche des Gyr. fusi-
formis hindurchzustechen. Und somit kommen wir zu der
Bestimmung, die wir oben als Schläfenabsceßpunkt angegeben haben.
Der Punkt liegt übrigens nahe der Mitte des Rechteckes, welches
E. y. Bergmann für die Schädelresektion zum Zwecke der Auf&ndang
otitischer Abscesse im Schläfenlappen angegeben hat.
Wir betonen noch einmal, daß bei der Bestimmung dieses Punktes
uns der Wunsch geleitet hat, einen möglichst kleinen Absceß
diagnostizieren zu können. Größere Abscesse, wie sie wohl meist in
der Praxis vorkommen, wird man auch von anderen Punkten erreichen
können, z. B. von den oben erwähnten Punkten T^ bezw. T,.
Was die Gefahren bei dieser Punktion anlangt, so kommt unter
Umständen der Ram. poster. der Art. meningea media in Betracht
(vergl. darüber das oben unter Punktion des Schläfenlappens Gesagte).
Die Hirnvenen sind von kleinem Kaliber und bilden ziemlich große
Maschen. Die einzige große Vene liegt im Sulc. temp. I, der oberhalb
bezw. vor der Punktionsstelle bleibt.
Zu beachten wäre noch, daß unter anderem das Unterhorn bei
dieser Punktion angestochen werden könnte. Um nicht einmal durch
einen Absceß hindurch in den Ventrikel zu stechen und eine eiterige
Infektion desselben zu erzeugen, wird man die Regel hier ganz be-
sonders beherzigen, immer nur ganz allmählich von Strecke
zu Strecke unter Aspiration ins Innere vorzudringen.
b) Kleinhirnab sceß {K^).
Einfacher als für die Abscesse des Schläfenlappens, war es, einen
Punkt zu finden, von dem aus man Kleinhirnabscesse, auch so lange
sie noch klein sind, finden kann.
An den Teil des Kleinhirns, der in der Fossa sigmoidea liegt —
und um diesen handelt es sich ja bei beginnenden Abscessen — kommt
man ausreichend nahe heran, wenn man in der Mitte zwischen zwei
Punkten eingeht, von denen der eine der Halbierungspunkt der Ver-
bindungslinie von Inion und Warzenfortsatzspitze ist (s. oben K^X
während der andere (K^) dem hinteren oberen Winkel des Proc. mastoid.
entspricht (= höchster abtastbarer Punkt des hinteren Randes des
Warzenfortsatzes). Der so gefundene Punkt Z, liegt in dem Knie,
das der Sinus sigmoideus bildet, bleibt aber von beiden Schenkeln
Die Himpunktion. 835
desselben so weit entfernt, daß jede Gefahr, den Sinus anzupunktieren,
ausgeschlossen ist.
Die Richtung des Punktionskanals ist hier, wie überhaupt am Klein-
hirn (s. oben) möglichst senkrecht zur Oberfläche des Knochens an-
zulegen, die ja hier nicht der Hauptoberfläche parallel verläuft. Die
Venen der Kleinhirnoberfläche sind verhältnismäßig klein; die Gefahr,
eine venöse Blutung zu bekommen, außerordentlich gering. Arterien
kommen nicht in Betracht.
Man kann das Kleinhirn sogar noch etwas weiter nach vorn und
außen trefifen (und damit der KÖRNERschen Kontaktstelle noch näher
kommen), wenn man statt bei K^ bei Zg punktiert (vergl. Beispiel 2
und 3), ohne daß man etwa dabei den Sinus zu verletzen brauchte.
Denn der absteigende Schenkel des Sinus läßt ja das hinterste Drittel
(von vorn nach hinten gerechnet) des Proc. mastoid. noch frei und auch
der horizontale Teil des Sinus bleibt von K^ noch um ein genügendes
Stück nach oben. Man muß nur an diesem Punkte den Bohrer nicht
senkrecht zur Oberfläche resp. zum Knochen aufsetzen, sondern die
Spitze etwas nach vorn (gesichtswärts) und nach unten (basalwärts)
richten. Man punktiert dann im Knie des Sinus sehr gut
die äußerste vorderste Partie des Kleinhirns. Größere
Abscesse, etwa von Walnußgröße und darüber erreicht man auch von
der Breitseite der Hemisphäre her, also von unserem Punkt K^ (s. oben).
Beispiele.
1) Punktion bei K^ ] vermeidet den Sinus sigmoides ; trifft ziemlich
nahe an den Teil des Kleinhirns heran, der in der Fossa sigmoidea liegt.
2) Punktion bei K^ ; trifPt dicht hinter dem absteigenden Schenkel
des Sinns sigmoides genau den Teil des Kleinhirns, der in der Fossa
sigmoidea liegt.
In 4,5 cm Hirntiefe wird der 4. Ventrikel von der Nadel erreicht.
3) Punktion an derselben Stelle. Hier liegt der Sinus nach allen
Eichtungen hin 1,5 cm von dem Punktionskanal ab; Kleinhirnpartie, die
in der Fossa sigmoidea liegt, gut getroffen u. s. w.
C. Andere Abscesse.
Andere Abscesse wird man je nach den vorhandenen Lokalsym-
ptomen suchen müssen. Die großen Abscesse des weißen Marklagers
des Stirn-Zentral-Parietal-Occipitallappens wird man leicht von den oben
angegebenen typischen Punktionsstellen der einzelnen Lappen aus finden.
Für den rhinogenen Absceß dürfte sich der untere Stirnpunkt
(^i) gut eignen. Den vordersten Pol des Stirnhirns trifft man noch
besser, wenn man etwas nach innen und unten von F^, etwa bei
jPs (s. Figur) punktiert. Doch kann man an diesem Punkte bei weiter
bezw. stark nach oben entwickelter Stirnhöhe (starke Vorwölbung der
Supraorbitalregion !) in diese hineingeraten. [Meist überschreitet die
836
Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Stirnhöhle noch oben die Höhe des Augenbrauenbogens nur am ein
Weniges.]
Man wird daher — wenn man bei F^ punktiert — nach vor-
sichtiger Dorchbohrung des Knochens durch Tasten mit der einge-
führten Nadel feststellen, ob man noch einen zweiten Widerstand (hintere
Wand der Stirnhöhle) fühlt und in diesem Falle weiter nach oben
punktieren.
I
K
S^
^ ^
\-~<
; m K
\y^ it'j
1^~"\
}/j^y'^^'j^
1
1
1
1
Fie. 2. Projektion der A. meningea media auf die laterale IScliädelflaehe (V^ der
Datürlicnen Größe, Dach v. Babdeleben, Häckel und Fbohse). A « vorderer
KRÖNLEENScher Punkt, B = hinterer KBÖNUSiNscher Punkt, # = Punktionsstdlen
für extradurale Hämatome.
IL Blutungspunkte.
Ueber diese Punkte können wir uns kurz fassen. Wir suchen
die extraduralen Blutungen (aus der Meningea) selbstverständ-
lich da auf, wo die Chirurgen sie aufsuchen, halten uns also im
wesentlichen an die beiden ERÖNLEiNschen Punkte. Dieselben liegen
bekanntlich auf einer Horizontalen vom Supraorbitalrande rückwärts«
der vordere 3—4 cm hinter dem Proc. zygomaticus ossis frontis, der
hintere an der Ereuzungsstelle mit einer Vertikalen durch den Hinter-
rand des Proc. mastoideus (vergl. Figur 2). Um nicht einmal den
Die Hirnpunktion. 837
Stamm der Meningea am vorderen KRÖNLEiNschen Punkt zu treffen,
punktieren wir etwas nach hinten von diesem Punkte.
Für das seltene Hämatom der hinteren Schädelgrube —
das die Chirurgen durch eine occipitale Trepanation hinter dem Proc.
mastoideus etwa in der Mitte der Linea semicircularis inferior erreichen
~ würde sich der oben beschriebene Punkt Ki in ausgezeichneter
Weise eignen (vergl. im klinischen Teil unseren Fall Adermann [17]).
Unter Umständen wird man auch intradurale Blutungen punktieren.
In solchen Fällen wird häufig die Wahl der Punktionsstelle sich aus
vorhandenen Lokalerscheinungen ergeben (vergl. unsere Fälle im kli-
nischen Teil, speziell Fall Handt [13]).
Am Schluß dieses Kapitels sei noch auf folgende zwei Punkte ein-
gegangen :
1) Die Gefahr, die größeren Arterien der Weichteile zu verletzen,
kommt nicht wesentlich in Betracht. Es könnten speziell die Artt.
temporales bei Schläfen- und die Artt. occipitales bei Eleinhirnpunk-
tionen verletzt werden.
Abgesehen davon, daß die Arterien der Weichteile dem Bohrer
wahrscheinlich vermöge ihrer Elastizität ausweichen, und so gar nicht
verletzt werden, kann man die Temporaiis sehen resp. abtasten und so
vermeiden ; die Occipitalis dürfte an den von uns angegebenen Punkten
nicht getroffen werden. Aber selbst ,ein eventuell auftretendes Häma-
tom — wir haben ein solches bei keiner unserer Punktionen gesehen —
wäre noch kein großes Unglück, da die Arterie ja im Notfalle sofort
unterbunden werden könnte.
2) Viel wichtiger ist die Entscheidung der Frage: Wie tief darf
man punktieren? Dieselbe ist so allgemein natürlich nicht zu be-
antworten ; man wird an der einen Stelle tiefer als an der anderen ein-
gehen dürfen resp. müssen. In den einzelnen von uns in Beispielen
angeführten Versuchen sind Anhaltspunkte für die zulässige Tiefe der
Punktion bei einem Erwachsenen enthalten. (Für Kinder wird man die
Maße entsprechend kleiner wählen müssen.)
Vergleicht man die einzelnen Werte, so findet man, daß man im
allgemeinen, von der Hautoberfläche aus gerechnet, 4 — 4,5 — 5 cm ohne
wesentliche Gefahr einstechen kann. Nur selten wird man bei dring-
licher Indikation über die Tiefe von 5 cm hinausgehen dürfen.
Gefahren bei zu tiefem Einstechen sind:
1) Anstechen des Ventrikels. Dabei könnte, wenn er leer
ist, durch Verletzung der Tela eine Ventrikelblutung erzeugt werden,
oder aber die Nadel in einem unglücklichen Falle einem Eiterherd oder
noch flüssigen Blutherd einen Weg in den Ventrikel bahnen I
2) Herausfahren aus der Hirnbasis und Verletzung von
Hirnteilen (Pedunculi I), Nerven oder Blutgefäßen der Basis (Vorsicht
im Schläfenlappen!! speziell bei occipitopetalem Typus).
Uittell. a. d. OTenxfebfceten d. Itodixin a. Chlrurfie. im. Bd. 54
838 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
3) Anstechen einer Hirnarterie.
Ein zu tiefes Eindringen — das sollte man beim Punktieren nie
vergessen — ist schon aus dem Grunde wenig zweckmäßig, als in der
Regel alle irgend welcher Encheirese zugänglichen Herde
entweder der Oberfläche des Gehirns selbst angehören
oder doch so weit in die Nähe derselben reichen, da&
die von uns angegebenen Tiefenmaße zur Aufifndung ge-
nügen; wo eine Probepunktion wider Erwarten negativ ausfällt, sollte
man lieber durch wiederholte Punktion die Hirnoberfläche absuchen
und der Lockung, zu tief zu gehen, widerstreben !
Zusammenfassung.
Zusammenfassend läßt sich über die von uns angegebenen Punk-
tionspunkte folgendes sagen:
Für die wichtigsten Afifektionen, als Eleinhirnabsceß, Schläfenabsceß»
Blutungen aus der Meningea media sind Punkte bestimmt, an denen
man mit größter Sicherheit den Absceß resp. das Extravasat antrifft
und zwar im wesentlichen ohne Gefahr.
Was die weiteren Punkte zur Punktion der einzelnen Hirnlappen
betrifft, so sind es nur die untersten Partien der Zentralwindungen und
die angrenzenden Teile (Facialis-, Hypoglossuszentrum, BnocAsche Win-
dung etc.), wo eine gewisse Gefahr der Verletzung größerer Gefäße
nicht in Abrede gestellt werden kann. An den mittleren und oberen
Partieen der Zentralwindungen und an den Punkten, die für die übrigen
Lappen angegeben sind, kann man ohne wesentliche Gefahr punktieren.
Tiefer als 4 — 5 cm, von der Hautoberfläche aus gerechnet, soll
man ohne zwingenden Grund nicht eingehen.
Klinischer Teil.
Wir betrachten nunmehr im folgenden, was uns die Punktion in
diagnostischer resp. therapeutischer Beziehung geleistet hat.
Die Krankengeschichten der von uns punktierten Fälle finden sich
am Schlüsse der Arbeit im Auszuge mitgeteilt.
Einige dieser Fälle dürften auch — abgesehen von dem speziellen
Interesse für die vorliegende Arbeit — klinisch von Bedeutung sein.
Es bedarf kaum der Erklärung, daß das hier vorliegende Eranken-
material sich zum größten Teile aus schweren und verlorenen Fällen
zusammensetzt, so daß es nicht verwundern kann, wenn eine große
Anzahl unserer Fälle zur Sektion gekommen ist. Andererseits sind
wir in der Lage, einige Fälle beschreiben zu können, an deren Er-
kennung bezw. Heilung wir der Punktion resp. Probepunktion ein aus-
schlaggebendes Gewicht zuschreiben dürfen.
Wir betrachten zunächst die Fälle, in denen wir durch Schädel-
punktion pathognostische Flüssigkeit resp. Substanz gewannen; in
Die Hirnpanktion.
839
zweiter Reihe die Fälle, in denen das negative Resultat der Punktion
die Diagnose in maßgebender Weise beeinflußte.
Tabelle I. Aspirierte Substanzen').
Altes Blut
Häm- <
atoidin-
kristalle
Cysten-
fiüssig-
keit
Liquor
(in grö-
ßeren
Mengen)
zitronen-
Reibe
Menin-
geal-
flussig-
keit
Eiter
Heröe-
dteri^e
Flüssig-
keit
Nekro-
tisches
Hirn-
gewebe
Tumor-
gewebe
Lemke (9)
Handt (13)
Xielgas (15)
[Weber (16)]
Adermann (17)
MaUisch (22)
Bithr (23) (aus
altem Blut aus-
gepreßt. Serum)
Freitag (24)
Trapp (27j
Berg (28)
Böhm (29)
Borek(19)
Pahi (4)
Witt (31)
Piet8ch(3)
Pahl (4)
Jllckel (8)
Rohl (21)
Berg (28)
Ück (11)
Nickel (2)
Werner(34)
R. (20)
Rohl (21)
Lindner (26)
Rohl (21) Witt (31)
1) Oefters wurde normale Himsubstanz, etwas reines Blut, einige Kubikcenti-
meter Liquor cerebrospinaUs aus der Oberfläche oder dem Ventrikel, selten auch leicht
blutig tingierter Liquor entleert.
L Blutungen der Schädelhöble.
1. Lemke (9)^). Diagnose: Möglichkeit einer Meningealblutung. Lemke
wurde ohne Anamnese eingeliefert. Er machte den Eindruck eines Deli-
ranten. Die Erscheinungen des zunehmenden Himdruckes ließen, zusammen
mit der Verletzung der Schädelweichteile und dem Gerücht, daß Lemke
gefallen sei, an eine Blutung aus der Meningea media denken, wozu auch
die rechtsseitige spastische Parese paßte.
Die Punktion ergab links hinten am KröMLBiNSchen Punkte ziemlich
oberflächlich altes Blut (chokoladenbraun geftrbt mit schwarzen Gerinnseln
und etwas zertrümmerter, mit Blut durchmischter Gehimmasse).
Diagnose nach der Punktion: Eztraduraler Bluterguß; Con-
tusio cerebri.
Die sofort ausgeführte Operation konnte den Exitus nicht mehr ab-
wenden, der — wie die Sektion lehrte — außer durch die bedeutende
Blutung wohl im wesentlichen durch ausgedehnte Himzertrümmerung zu
Stande gekommen war.
Epikrise: In diesem Falle wäre vielleicht auch so operiert worden.
Doch wies die Punktion die Blutung als linksseitiges parieto-occipitales
(Krönlbin) Hämatom nach. — Das operative Eingehen am vorderen £&ön-
LEiNschen Punkte, das keine Blutung entdeckt hätte, wurde so gespart.
2. Handt (13). Diagnose: JACKsoNsche Epilepsie. Anamnestisch war
bei dem Pat., der zu Fuß ins Krankenhaus kam und nur über Kopf-
schmerzen und Schlaflosigkeit klagte, nur zu eruieren, daß er vor 8 (!) Tagen
auf die rechte Hinterhauptgegend gefallen war und seitdem Kopfschmerzen
1) Vergl. hinten die Krankengeschichten.
54*
840 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
hatte. — Die unter unseren Augen entstandenen, immer häufiger werdenden
und mit immer stärkerer Bewußtseinstrübung einhergehenden ELrampfanfalle,
speziell des linken Facialis, ließen uns die Punktion am rechten Facialis-
Zentrum vornehmen, die zur allgemeinen Verwunderung nach DurchstechuDg
der Dura reichlich chokolade nbraunes Blut mit schwärz
liehen Gerinnseln entleerte. — Die Diagnose lautete nun auf: Intra-
durales Hämatom.
Die sofort angeschlossene Operation deckte ein mächtiges intradurales
Hämatom auf, nach dessen Ausräumung die Anfalle aufhörten. — Nach
einer bald wieder vorübergehenden Geistesstörung ti*at völlige, dauernde
Heilung ein.
Epikrise: Die durch die Punktion aufgedeckte Blutung wäre sonst
nicht erkannt worden. Handt wäre ohne das Resultat der
Punktion wahrscheinlich nicht operiert, sondern zunächst einer
Schmierkur unterzogen worden. Die BedeutungderPunktion liegt
in diesem Falle darin, daß H. sofort der richtigen Therapie
zugeführt werden konnte, was sonst nicht möglich ge-
wesen wäre.
Die Probeponktion war für H. von vitaler Bedeatrmg.
Der Fall ist auch sonst interessant. Zunächst durch die Anamnese
(8-tägiges Intervall!); dann durch den operativen Erfolg bei dem von
den Chirurgen prognostisch so ungünstig angesehenen ausgebreiteten
intraduralen Hämatom.
3. Kielgas (15). Bei dem ohne Anamnese mit einer Luxation and
blauen Flecken am Knie eingelieferten Pat. bestand der ganz entfernte
Verdacht auf eine Pachymeningitis haemorrhagica oder event. eine extra-
durale Blutung. Die wegen zunehmender Benommenheit vorgenommene
Funktion forderte am rechten vorderen KRöNLBiNSchen Punkte altes choko-
ladenfarbenes Blut heraus, wovon 100 ccm! entleert wurden. Danach
lautete die Diagnose auf extra- event. intradurales Hämatom rechterseits.
Wegen Besserung des Befindens durch die Punktion wurde leider
mit der Operation gewartet; am nächsten Tage trat plötzlich Verfall und
Exitus ein.
Die Sektion ergab ein großes rechtsseitiges intradurales Hämatom
infolge Pachymeningitis haemorrhagica (-|- Trauma?) mit enormer Platt-
drückung der rechten Großhirnhemisphäre (femer potatorische V^erände-
Hingen).
Epikrise: Die Punktion deckte auch in diesem Falle eine groBe
meningeale Blutung auf, von deren Diagnose sonst keine Bede sein konnte.
Sie beseitigte durch Entleerung von ca. 100 ccm! Blut den bestehenden
Himdrack. Eine sofort an die Punktion angeschlossene Operation hätte
vermutlich das Leben des Pat. gerettet. Die Verhältnisse lagen hier kaum
ungünstiger, als bei dem Falle Handt (vergl. oben).
4. Adermann (17). Adermann war früher schon einmal im Kranken -
hause gewesen und hatte dasselbe, durch Schmierkur gebessert, verlassen.
Die Diagnose hatte zwischen Lues cerebri und beginnender Paralyse
geschwankt
Nunmehr kommt er mit ähnlichen Beschwerden. Es entwickelt sich
Die Hirnpunktion. 841
aber in wenigen Tagen unter unseren Augen das Bild des ausgesprochenen
Hirndrucks (Kopfschmerz, Druckpuls, Somnolenz).
Die deswegen bei dem schon moribunden, mit lautem Tracheal-
rasseln daliegenden Patienten vorgenommene Punktion ^) der rechten hin-
teren Schädelgrube (Singultus! Fallen nach links!) deckte — offenbar
subdural — teils älteres, teils frischeres Blut auf.
Die Diagnose wurde danach auf: großes intradurales Hämatom der
hinteren Schädelgrube (wahrscheinlich infolge Pachymeningitis haemor-
rhagica !) gestellt. — Durch Entleerung von im ganzen 180g!Blut — in
2 Sitzungen — wurde der Hirndruck in wenigen Tagen beseitigt
Adermann erholte sich in überraschender Weise (daher keine Opera-
tion!). Er wurde später nur noch mit einer leichten Beschränkung der
Blickbewegung nach oben entlassen. Später stellte er sich als völlig
geheilt vor.
Rückblickend läßt sich sagen, daß Adermann auch bei seinem ersten
Aufenthalt (vergl. den Status!) im Erankenhause an einer pachy meningi-
tischen Blutung nur geringerer Intensität gelitten hat.
Epikrise: In diesem Falle deckte die Funktion nicht nur eine
große intrakranielle Blutung auf, die niemand erwartet hatte, sondern
sie war auch von hohem therapeutisohen Werte, indem sie durch
Entleerung des Blutergusses (und zwar durch einen unendlich viel
kleineren Eingrifl; als durch eine Operation 0 den schweren Himdruck
beseitigte und den schon in Agone befindlichen Fat. rettete!
Sehr bemerkenswert ist es, wie lange das Blut hier fltlssig ge-
blieben ist.
5. Mallisch (22). Der Pat. wurde komatös eingeliefert. Die Anam-
nese ergab nur einen Anhaltspunkt für Potatorium. Seit 3 Tagen war er
allmählich immer benommener geworden. Wegen des entfernten Verdachts
auf pachymeningitische Blutung wurde zur Punktion geschritten. Am
rechten vorderen KRöNLEiNschen Punkt, sowie dicht dahinter wurden im
ganzen 30 ccm zum Teil alten Blutes nach Durchstechung der Dura ent-
leert; am hinteren KRöNLEiMschen Punkt fand sich nichts.
Die Diagnose lautete danach: Meningeale (vermutlich subdurale)
Blutung im Bereich der rechten vorderen Großhirnhemisphäre. Operation
konnte aus äußeren Gründen nicht stattfinden. Die Sektion ergab in der
Tat an der Stelle der Punktion eine subdurale und piale Blutung, aber
anscheinend durchgebrochen von einer großen Blutung der rechten inneren
Kapsel, außerdem chronische Nephritis und Säuferveränderungen.
Epikrise: In diesem Falle führte die Punktion wenigstens insofern
irre, als man an eine selbständige (pachymeningitische) intradui*ale Blutung
dachte, nicht aber an einen durchgebrochenen apoplektischen Herd. Es ver-
steht sich, daß über die Herkunft alten Blutes an der Hirnober£äche die
Probepunktion nichts aussagen kann. Die Entscheidung hierüber muß,
soweit es möglich ist, das klinische Bild geben und dies war im vor-
liegenden Falle irreführend (ganz allmählich sich einstellende und zu-
nehmende Benommenheit, kein „Schlaganfall^^).
6. Weber (16). (Punktion aus therapeutischen Rücksichten.) Die
Diagnose lautete hier auf Blutung der linken inneren Linsenkapsel. Da
1) Wir dachten eventuell ein luetisches Meningealödeni vorzufinden
und durch Entleerung desselben dem Pat. zu nutzen (vergl. unten Fall Ück!).
842 Ernst Neisser and Kart Pollack,
bedeutender, immer weiter zunehmender Hirndrack vorhanden war und
so sicherer Exitus bevorstand, sollte der Versuch gemacht werden, durch
Aspiration von Blut den Himdruck herabzusetzen. Wir dachten dabei
besonders an einen, wenige Wochen vorher zur Sektion gekommenen Fall
von Apoplexia sanguinea, der unter den Zeichen des progredienten
Himdrucks gestorben war. Die Sektion hatte eine mächtige Blutung der
inneren Linsenkapsel aufgedeckt, die fast bis an die Hirnoberfläche reichte :
das Blut war noch flüssig gewesen. In der Erinnerung an diesen Fall
nahmen wir die Punktion vor, jedoch ohne Glück. Die erste Punktion
(in der unteren motorischen Gegend) wurde, da anscheinend frisches Blut
sich entleerte, sofort unterbrochen. (Darauf Verschlechterung!) Bei einer
zweiten Panktion durch den alten Stichkanal wurde in 5 cm Tiefe altes
mit frischem vermischtes Blut gefunden und 20 ccm entfernt. (Es handelte
sich also in der Tat um eine Apoplexie).
Hierdurch wurde eine deutliche, aber nur vorübergehende Besserung
erreicht; dann trat der Tod ein.
Die Sektion deckte eine große Blutung in der Gegend der großen
Ganglien auf, die in die Ventrikel durchgebrochen war.
Epikrise: Bei dem vorhandenen Durchbruch der mächtigen Blutung
in den Seitenventrikel konnte die Punktion nichts mehr leisten.
Der Fall ermutigt nicht sehr zur Wiederholung in ähnlichen Fällen.
Die erste Punktion hatte übrigens — wie die Sektion zeigte — die
Peripherie des großen Blutherdes getroffen; keineswegs eine frische Blutung
gesetzt !
7. B&hr (23). Das ly^-jährige Kind, welches in benommenem Zu-
stande mit fadenförmigem Puls von 160 und darüber hereingebracht
wurde, hatte 2 Wochen vorher ein Schädeltrauma mit nachfolgender
Kommotion (und Basisfraktur?) erlitten, sich erst gebessert und in den
letzten Tagen wieder verschlechtert. Wegen Verdachts auf intrakranielle
Blutung wurde in der rechten motorischen Region (linksseitige Hemi-
parese?!) die Punktion vorgenommen. Sie ergab extradural (teils Ton
selbst ausfließend, teils aspiriert) bräunliches, offenbar aus altem Blute
ausgepreßtes Serum (10 ccm entleert); subdural nichts.
Eine zweite Funktion am hinteren KRöKLBiNschen Punkt ergab extra-
dural nichts, subdural etwas zertrümmerte, mit altem Blut vermischte
Hirnmasse. Die Diagnose lautete danach auf: kleines extradu-
rales Extravasat und Contusio cerebri.
Das Beflnden besserte sich trotz der geringen Entleerung von 10 ccm
Flüssigkeit auflUllig nach der Punktion (Puls ging von 160 und mehr auf
100 herunter). Schließlich trat völlige Heilung ein.
Eprikise: In diesem Falle, in dem für einen operativen Eingriff
nicht der mindeste Anhaltspunkt vorhanden war, hat die Punktion zu-
gleich diagnostisch und therapeutisch gutes geleistet.
Der Umschlag im Beflnden im direkten Ansohlaß an die kleine Bnt-
leenmg von 10 com war ein augenscheinlicher.
Der Fall ist auch klinisch interessant; es liegen 2 Wochen zwischen
dem Trauma und dem Auftreten der schweren Himerscheinungen.
8. Freitag (24). In diesem Falle, in dem auch der Verdacht auf
eine meningeale Blutung vorlag, wurde durch Punktion am linken hinteren
KRöNLEiNschen Punkt und in der Nähe desselben oberflächlich dunkles
Blut mit schwärzlichen Körnern (altes Blutpigment enthaltend!) gefunden,
Die Hirnpunktion. 843
recbterseits nichts. Die Diagnose lautete auf (vermutlich intra-) durales
Hämatom der linken hinteren Hemisphäre.
Zur Operation konnte man sich wegen Fehlens eigentlicher Hirn-
druckerscheinungen und der sehr geringen aspirierbaren Blutmenge zu-
nächst nicht entschließen. Die schließlich aber doch ausgeführte Operation
ergab einen nicht bedeutenden intraduralen Bluterguß.
Die Sektion bestätigte die Lokalisation und geringe Intensität des-
selben. Als Todesursache wirkten neben dem Bluterguß: die Kommotion,
eine Kontusion und vor allem eine hochgradige Degeneration des Herzens mit
Epikrise: Der Fall lehrt, daß die Aspiration von altem Blut
keineswegs gleichbedeutend ist mit Indikation zur Operation.
Bei dem Fehlen vonHirndruck und derUnmöglichkeit,
durch Punktion größere Mengen alten Blutes zu erhalten,
führten wir die schweren Erscheinungen schon nach der
Punktion auf die begleitende Kommotion und eventuell
Contusio cerebri zurück!
9. Trapp und Berg (27 und 28). Wir fanden dann noch in
2 Fällen (Trapp und Berg), in denen Verdacht auf pachymeningitische
Blutung bestand, Spuren alten Blutes, beide Male in der hinteren Schädel-
grube und beide Male nur durch die mikroskopische Diagnose (Häma-
toidin, Hämosiderin). In beiden Fällen glaubten wir nach
dem Befund einen größeren Bluterguß, dem operativ bei-
zukommen gewesen wäre, ausschließen zu können. Der eine
Fall (Trapp) kam zur Sektion und wies in der Tat, neben einem schon
bei Lebzeiten vermuteten Tumor (Oliom der Stammganglien) in der
hinteren Schädelgrube einige flache piale Blutergüsse auf, aus denen
offenbar das punktierte alte Blut stammte und deren Entstehung wohl
auf die vorhandene enorme Himhyperämie zu beziehen war. Diese
Suffusion war klinisch ganz bedeutungslos. Der andere Fall
(Berg) kam nicht zur Sektion, doch lehrte der Verlauf, daß es sich
nicht um ein größeres Extravasat gehandelt haben kann.
10. Böhm (29). Dieser Fall ist ganz ähnlich dem Fall Lemke (siehe
oben 1), nur daß hier Anamnese und Status noch mit großer Wahrschein-
lichkeit für einen duralen Bluterguß sprachen. Die Punktion bestätigte
dies, wies eine große Ausdehnung der Blutung und femer Himzertrümmerung
nach. Die Operation deckte einen mächtigen intraduralen Bluterguß auf,
der kalottenf(K)rmig dem Gehirn aufsaß und es stark komprimierte. Leider
konnte sie das Leben nicht mehr retten. Die Sektion zeigte noch andere
subdurale Extravasate und Hirnzertrümmerung (sowie die diagnostizierte
Basisfraktur).
Epikrise: Die Punktion war als Bestätigung der klinischen Diagnose
zur Bestimmung der Seite und Ausdehnung der Blutung angenehm.
Znsammenfassung:
Die bei den besprochenen 11 Fällen gesammelten Erfahrungen be-
weisen zunächst, daß man durch die von uns geübte Punktion intra-
kranielle Blutergüsse gut nachweisen kann. Wurden doch alle Fälle
von Blutungen, die unter unserem Material waren (soweit es durch Ver-
lauf, Operation, resp. Sektion verifiziert ist) durch die Punktion erkannt.
844 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Es hängt dies zunächst damit zusammen, daß das Blut sowohl bei
intra- wie extraduralen Blutungen — wenigstens partiell — länger flüssig
bleibt, als man gemeinhin glaubt. Wir sind nach unseren Erfahrungen
überzeugt, daß man auch aus einem ganz geronnenen, der Dura kappen-
förmig aufsitzenden extraduralen Hämatom noch genügend Flüssigkeit
aspiriert, um die Diagnose zu sichern.
Das Blut charakterisiert sich ferner meist in ausreichender Weise
als „altes^, entweder dadurch, daß es im ganzen statt dunkelrot, dunkel-
braun ist, oder doch ein deutUches braunes Timbre hat (was man
sehr deutlich sieht, wenn man das Blut in ein kleines weißes Porzellan-
schälchen spritzt) oder häufig auch dadurch, daß es bräunliche oder
schwärzliche Gerinnsel resp. Flocken enthält.
In 4 Fällen wurden in dem anscheinend frischen Blute erst bei
genauerem Zusehen schwarze, etwa stecknadelkopfgroße Körnchen ent-
deckt, die sich mikroskopisch als aus rötlichgelben resp. bräunlichen
Plättchen (altem Blutpigment) zusammengesetzt ergaben. Auch hieraus
konnte die Diagnose auf eine stattgehabte Blutung gesichert werden ^).
In einem Falle aspirierten wir bräunliches, ofifenbar aus einem alten
Blutgerinnsel ausgepreßtes Serum; in einem anderen bräunlich-
grünliches Serum.
Außer dem Farbenton kann auch die Dünnflüssigkeit des alten
Blutes und die Menge desselben die Herkunft des aspirierten Blutes
aus einem Extravasat beweisen. Wo man, wie im Falle Adermann^
größere Mengen Blut entleert, kann man sicher sein, daß dasselbe aus
einem Extravasat stammt, auch wenn es die genannten Charakteristiken
alten Blutes nicht zu haben scheint.
Aus dem normalen Gehirn entleert man höchstens V« bis allenfalls
1 PRAVAZspritze z. B. bei Punktion einer Hirnvene; nie gelingt es^
mehrere Spritzen Blut hintereinander zu bekommen, man müßte denn
etwa einen Sinus punktieren, was nicht vorkommen darf.
In klinischer Beziehung wird sich die Punktion bei intrakra-
niellen Blutungen verschieden bewerten, je nachdem es sich handelt um :
1) Fälle, die wegen ganz typischer Symptome einer intrakraniellen
Blutung (meist aus der Meningea) sowieso operiert werden. (Wir haben
gerade solche Fälle durch Mißgunst des Schicksals nicht gehabt. Der
einzige Fall dieser Art auf der chirurgischen Abteilung des Kranken-
hauses konnte leider aus äußeren Gründen nicht punktiert und auch
nicht operiert werden. Die Sektion zeigte, mit welcher Leichtigkeit
und Sicherheit man am vorderen KnöNLEiNschen Punkt altes Blut ober-
flächlich aspiriert hätte.) Hierbei erscheint die Punktion ent-
1) Hierbei mu£ man sich nur vor einer Verwechselung mit feinsten
schwärzlichen bezw. bräunlichen Plättchen hüten, welche z. B. von den
zum Zerzupfen benützten Nadeln, eventuell auch von Teilen der Aspirations-
spritze stammen können (Rost u. dergl.).
Die Hirnpunktion. 845
behrlich. Doch dürfte manchem Chirurgen die durch
unsere kleine Voroperation leicht zu erlangende Sicher-
heit der Diagnose erwünscht sein; besonders auch die dadurch
ermöglichte Differentialdiagnose, ob das Hämatom mehr vorn
(vorderer KRÖNLEiNscher Punkt) oder mehr hinten (hinterer Krön-
LEiNscher Punkt) sitzt. (Fehlen von altem Blut schreckt vielleicht abV!)
2) Fälle, in denen die Diagnose zweifelhaft ist. Hier ist die Punktion
-ein sehr angenehmes Hilfsmittel. Es stellt nicht nur die Blutung, sondern
auch ihren Sitz festi Wie oft ist die falsche Seite zuerst trepaniert
worden !
Es ist ganz auffallend, daß gerade hierfür noch nie
die methodische Punktion empfohlen ist In wenigen
Minuten ist eine Entscheidung gefällt, die dem Operateur
Sicherheit gibt, ihm Zeit und Mühe, dem Patienten Blut
erspart.
3) Benommene mit Hirndruck und fehlender Anamnese.
Hier wird man beim entferntesten Verdacht auf eine intrakranielle
Blutung punktieren. Wir führen nur unseren Fall Adermann (17) an,
in dem zunächst nicht der mindeste Anhaltspunkt für eine Blutung
vorhanden war, und der der Vornahme der Punktion sein Leben dankt.
Wie aus unseren Fällen hervorgeht, ist indessen nicht jede durch
die Punktion zu Tage geförderte Spur alten Blutes ohne weiteres als
Indikation zu operativem Vorgehen anzusehen. Wenigstens bei den
in tra dural gefundenen Blutungen muß man an Hirnblutungen, auch
kleine subpiale Blutungen denken, die im Gefolge aller möglichen Er-
krankungen auftreten können.
In Bezug auf die Apoplexieen wird meist die Anamnese bezw. das
klinische Urteil genügend schützen; auch die Tiefe, aus der das Blut
entleert wird, gibt einen Anhaltspunkt
Und was die subpialen Blutungen betrifft, so sei ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß bei allen denjenigen unserer Fälle, wo ein entfernbares
Hämatom vorlag, stets größere Mengen alten Blutes entleert wurden;
während in denjenigen Fällen, wo wir nur Spuren alten Blutes zu Tage
förderten (und wo infolgedessen keine Operation vorgenommen wurde)
die Sektion bezw. die Genesung nach Schmierkur die Abwesenheit
größerer entfernbarer Blutungen bewies.
Schließlich wird natürlich auch hier das klinische Bild vielfach von
ausschlaggebender Bedeutung sein, insbesondere werden die Erschei-
nungen des progredienten Hirndrucks auch bei Entleerung geringfügiger
Blutungen eine Operation rechtfertigen.
Wo extradural Blut oder blutige Flüssigkeit entleert wird —
hierzu scheint sich unsere abgestumpfte bezw. runde Nadel zu be-
währen — wird in der Regel die vorgenommene Operation keine Ent-
täuschung bereiten.
846 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Daß die Punktion therapeutisch durch Entleerung von Extra-
vasaten und Beseitigung des Hirndruckes etwas leisten kann, beweisen
eindeutig 3 unserer Fälle. In dem einen [Aderhann (17)J beseitigte
eine Entleerung von 200 g, in dem anderen [Bahr (23) von nur 10 ! jr
die schwersten Symptome und führte die Heilung herbei; während in
einem dritten Fall (15) vorübergehend der Hirndruck nach Entleerang von
100 g alten Blutes nachließ, ohne daß der Patient gerettet werden konnte.
Zur Aufstellung fester Indikationen, in welchen Fällen operiert und
in welchen Fällen nur punktiert werden soll, reicht das vorliegende
Material nicht aus. Immerhin wird man unsere Resultate für be-
merkenswert genug halten, um in geeigneten Fällen ähnlich vorzugehen.
Die Heilung des Falles Adermann durch Punktion an
der hinteren Schädelgrube — einer chirurgisch so schwer
zugänglichen Stelle — hat gewiß etwas üeberraschendes.
Von der Punktion apoplektischer Blutherde möchten wir uns nicht
viel versprechen.
IL Hämatoidin.
Fall Bork (19). Der Pat. kann zur Punktion wegen einer typischen
jACKSONSchen Epilepsie (beginnend im linken Facialis), die sich im An-
schluß an einen apoplectiformen Anfall entwickelt hatte.
Die aus einiger Tiefe entleerte Gekimsubstanz enthielt massenhaft
altes Blutpigment und t3'^pi8che Hämatoidinkristalle. Danach wurde
die Diagnose auf einen nahe der Rinde gelegenen apoplektischen Herd ge-
stellt und, da die Anfklle weiter bestanden, zur Operation geschritten
(rechtes Facialiszentrum). Man fand nichts, als starkes lokales piales
Oedem. Punktionen nach allen Richtungen in die Himsubstanz waren
ohne Resultat. Trotzdem wurde ein Einschnitt gemacht und aus ziemlich
beträchtlicher Tiefe ein kleines, etwas verändert aussehendes Stückchen
Kirnsubstanz zur Untersuchung herausgenommen. Dasselbe erwies sich
überraschenderweise als Teil eines Glioms (Prof. Lübabsgh). Pat. war
seit der Operation bis jetzt wenigstens von Anf&llen verschont und gesund.
Epikrise: In diesem auch sonst interessanten Falle
hätte dieOperation keinen Anhaltspunkt für die Epilepsie
ergeben. Nur weil wir auf Grund der Punktion mit aller
Bestimmtheit einen abnormen Herd unter der Rinde ver-
muteten, wurde tiefer eingeschnitten und das kaum vom
normalen Gehirn sich unterscheidende Stückchen ezstir-
piert, das sich nachher als Gliom erwies.
III. CystenflOssigkeit.
1) Fall Pahl (4). Dieser klinisch ungemein interessante
Pall| der der Probepunktion seine Aufklärung und Hei-
lung verdankt, würde ein noch größeres praktisches In-
teresse beanspruchen, wenn er nicht zu den seltensten
Fällen zu gehören schiene.
Pahl kam unter den Erscheinungen eines nicht lokalisierbaren Hirn-
tumors herein und verschlechterte sich schnell. Die Anamnese ergab
nichts Wesentliches, als allmähliche Entwickelung des Leidens seit ^/^ Jahr.
Die Himpunktion. 847
In moribundem Zustande wird nacheinander der linke Stirn-
lappen — rechte Stirnlappen — das rechte Kleinhirn punk-
tiert, ohne Resultat
Die in derselben Sitzung bei dem sterbenden, mit 3 — 4 Atemzügen
in der Minute daliegenden Fat. gemachte Punktion des linken Kleinhirns
resp. der linken hinteren Schädelgrube entleerte oberflächlich
reichlich klare, intensiv gelb gefärbte, spontan gerinnende und außeror-
dentlich eiweißreiche Flüssigkeit Wenige Standen naoh der Funktion
waren die schweren Srsoheiniingen verBohwanden.
Im Verlauf von 1*/^ Jahren, während der Pat im wesentlichen ge-
sund und in Tätigkeit war, mußte noch 6mal, wegen sich wieder ein-
stellender Beschwerden resp. beängstigender Erscheinungen (Hirndruck! etc.)
an derselben Stelle durch den alten Bohrkanal punktiert werden; wobei
im ganzen gegen 200! com der oben beschriebenen, bis zu 4 Proz.
eiweißhaltigen, meist gleich nach der Entleerang zu einer Gallerte er-
starrenden Flüssigkeit entleert wurden. Sofort nach der Punktion ver-
sohwanden jedesmal die bedrohlichen Brscheinangen«
(Ueber die Komplikationen, die P. alle siegreich überstand, femer
auch über die unterstützende Wirkung der im Anschluß an die Punktion
vorgenommenen Lumbalpunktionen vergl. die Krankengeschichte.)
Auf Grund der Punktionen und des Verlaufes wurde die Diagnose
auf Meningealcyste^) gestellt, deren Durchmesser bei der letzten
Punktion zu ca. 2^/^ cm bestimmt werden konnte.
Aus dem Fall Pahl geht die allgemeine Bedeutung
der Hirnpunktion für die Erkennung des Sitzes von
Cysten bezw. ihre Entleerung hervor.
So hätte in den beiden eben erwähnten Fällen von Morison und
Thiem (s. Anmerkung) die Punktion diagnostisch und therapeutisch
vermutlich Ausgezeichnetes geleistet!
2) Fall Witt (31); vergl. darüber unter VIb,
IV. Eiter.
Bei dem ersten Fall, in dem wir reinen Eiter bei der Punktion er-
hielten, handelte es sich um einen jungen Mann (Nickel [2]), der früher
an einer rechtsseitigen Otitis media gelitten hatte und seit einigen Tagen
schwer erkrankt war. Bei seiner Einlieferung bot er die typischen
Zeichen einer Meningitis dar, war total benommen, anscheinend in
extremis! Da auffallenderweise die Lumbalfiüssigkeit sich als völlig
klar erwies, so wurde an otitischen Himabsceß gedacht und erst der
rechte Schläfenlappen, dann das rechte Kleinhirn punktiert. Aus ziem-
licher Tiefe wurde reiner Eiter entleert und danach die Diagnose auf
1) Wir erinnern mit Bezug auf die Meningealcysten an die neueren
Befunde von Morison (British Medical Journal, 1896, VoL II, p. 114;
Notes on two cases of Jacksonian Epilepsie treated by Operation) und
Thibh, Ueber die erfolgreiche operative Entfernung einer im linken Hinter-
hauptslappen entstandenen Hohlgeschwulst. (Verhandl. d. dtsch. Gesellsch.
f. Chir., XXXI. Kongreß 1902.) Thibh deutet seinen Fall als um-
schriebene Meningitis. Die Cystenflüssigkeiten waren in beiden
Fällen ähnlich, wie in unserem Falle.
848 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Kleinhirnabsceß gestellt Der bald darauf eingetretene Tod machte eine
operative Eröffnung nicht mehr möglich. Die Sektion ergab keinen Absceß,
sondern eine eiterige diffuse Meningitis, mit besonders reichlicher An-
häufung des Eiters zwischen Tentorium und Groß- resp. Kleinhirn. Von
hier war der Eiter aspiriert worden.
Epikrise: Die Diagnose einer diffusen eiterigen Meningitis ist ja
fast immer ohne weiteres durch die Lumbalpunktion mit Sicherheit zu
stellen. Ein Versagen, wie in unserem Falle, gehört, wie bekannt, zu
den Seltenheiten.
Daß Eiter, aus dem Gehirn entleert, nicht einem Absceß entstammt,
sondern aus dem Subduralraum (zwischen Kleinhirn und Tentorium), ist
gewiß lehrreich, aus diesem Falle zu erfahren, und man wird in Zukunft
daran zu denken haben, wird aber wohl eine ebensolche Seltenheit bleiben,
wie das Versagen der Lumbalpunktion. Genaue Beachtung der Tiefen-
verhältnisse — es wurde erst in 6 — 7 cm Tiefe Eiter gefunden — würde
in ähnlichen Fällen vor Verwechselung schützen.
Glücklicher verlief der folgende Fall [Werner (34)]:
Ein bis dahin gesunder Mann, der erst seit 2 Tagen über Schmerzen
in der linken Ohrgegend klagte und seit einem halben Tage völlig benommen
war, wurde mit hohem Fieber und unter den Zeichen einer diffusen, eiterigen
Meningitis eingeliefert. Außerdem bestand Oedem und Druckschmerz-
haftigkeit im Bereich des linken Warzeufortsatzes und Zeichen einer zu-
nehmenden, von oben nach unten fortschreitenden rechtsseitigen Hemiparese.
Der Fat. schien dem Tode so nahe, daß man sich zu einem chirurgischen
Eingriff nicht mehr entschließen wollte.
Da indessen neben den Zeichen der Meningitis deutliche Symptome
einer örtlichen Hirneiterung vorhanden waren und da femer die eiterig
getrübte Lumbaiflüssigkeit keine Mikroorganismen enthielt, so wurde zur
diagnostischen Hirnpunktion geschritten.
Dieselbe zeigte in klarer Weise (abgestumpfte Nadel!\
daß ein unter hohemDruck stehendes hämorrhagisch- eite-
riges eztradurales Exsudat im Bereich des linken Schlä-
fenlappens vorhanden, das darunterliegende Gehirn aber,
sowie auch das Kleinhirn frei war.
Gestützt auf diesen Befund und auf die Tatsache, daß auch die -wieder-
holte Lumbalpunktion eine zwar eiterig getrübte, aber bakterien freie
Flüssigkeit zu Tage förderte, während es im extraduralen Eiter von
Streptokokken wimmelte, wurde trotz des hoffnungslosen Zustandes
die Operation versucht.
Herr Prof. Häckel legte die äußere Mündung des Punktionskanals am
Schädel frei: sogleich spritzte hämorrhagischer Eiter offen-
bar unter hohem Druck aus derselben heraus. Durch Tre-
panation wurde ein rein extraduraler Absceß entleert; derselbe
stand in Zusanunenhang mit in den Mastoidzellen enthaltenem Eiter, der
durch Aufmeißelung des Warzenfortsatzes entfernt wurde.
Im Laufe der nächsten 24 Stunden besserte sich das Befinden auf-
fallend. Die rechtsseitige Lähmung ging zurück, Pat. wurde besinnlich,
begann zu schlucken und Nahrung zu sich zu nehmen. Die nun ent-
leerte Lumbaiflüssigkeit war fast klar, enthielt im Sediment noch Leuko-
cyten. Pat. genas.
Epikrise: Im vorliegenden Falle hat die Himpnnktion in einem
Die Himpunktion. 849
ansoheinend verlorenen Falle von eiteriger Meningitis einen entfem-
baren umsohriebenen eiterigen Prozeß anil^edeokt und dessen extra-
dnralen SitB im Bereiche des linken Schläfenlappens bestimmt. Sie
hat so trotB vorhandener Meningitis zu einem chirurgischen Eingriff
gedrängt und eine sonst nicht erreichbare Sicherheit des chirurgischen
Handelns ermöglicht.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, daß man sich in Zukunft wohl
hüten wird, durch einen durch Punktion gefundenen extraduralen Absceß
hindurch das Gehirn zu punktieren, um einen etwaigen Hirnabsceß zu
finden. Es liegt auf der Hand, daß man durch ein solches Vorgehen
schaden kann. Im vorliegenden Fall geschah das Hindurchpunktieren
aus dem Grunde, weil zunächst eine mehr serös-hämorrhagisch aussehende
Flüssigkeit extradural entleert wurde, von der es nicht ausgeschlossen
schien, daß sie nur der Umgebung eines Himabscesses angehörte, und
deren rein eiterige Beschaffenheit und Bakterienreichtum erst nach ab-
geschlossener Punktion mikroskopisch festgestellt wurde. Uebrigens hat
das Durchstechen der Dura in unserem Falle keinerlei Schaden gestiftet.
Die Punktion zeigt aber auch, daß man bei Anwendung unserer
Technik, insbesondere Anwendung der abgestumpften Nadel nicht zu be-
fürchten braucht, einmal ohne es zu wollen durch einen vorhandenen
extraduralen Eiterherd hindurch ins Gehirn zu punktieren.
Wenn uns auch andere cerebrale Abscesse bezw. Hirnabscesse im
engeren Sinne versagt geblieben sind, so wird doch dem, der unseren
Ausführungen bis hierher gefolgt ist, nicht zweifelhaft sein, daß gerade
hier Probepunktionen durch den intakten Schädel hindurch vielfach
ein vortreffliches Hülfsmittel der Diagnostik bilden werden.
Ein Blick in die Kasuistiken von von Bergmann, Körner u. a.
zeigt uns reichlich Fälle, wo zwischen Tumor bezw. Tuberkel und Absceß
nicht unterschieden werden konnte, wo die Kraniotomie als nicht ge-
nügend indiziert bezw. als zu großer EingriJOT abgelehnt wurde; oder
Fälle, wo nach vergeblicher Trepanation eine zweite nicht gewagt wurde,
oder wo erst nach mehrfacher Trepanation der Absceß gefunden bezw.
nicht gefunden wurde. Insbesondere sprechen wir von den Fällen, in
denen Kleinhirnsymptome, aber kein Hinweis auf die rechte oder linke
Seite vorlagen, oder wo die Diagnose zwischen Schläfenlappen und
Kleinhirn einer Seite schwankte. In manchen dieser Fälle werden,
wie wir hoffen, der Probepunktion durch den intakten Schädel Erfolge
nicht versagt bleiben.
V. Serös eiterige Flüssigkeit.
In zwei Fällen erhielten wir bei der Punktion am Kleinhirnabsceß-
pnnkt (s. d. anatom. Teil) etwas seröseiterige Flüssigkeit (von einigen
Tropfen bis etwa zu 1 ccm).
In dem einen Fall (20) handelte es sich um eine Frau, die zu einer
schon längere Zeit bestehenden linksseitigen Otitis media schwere Him-
erscheinungen hinzu bekam, welche mit großer Wahrscheinlichkeit auf
einen Kleinhirnabsceß hindeuteten. Die Operation (Freilegung des Klein-
850 £rn8t Neisser und Kurt Pollack,
hirus) sollte vorgenommen werden; vorher wurde uns von dem betrefTen-
den Kollegen die Punktion des Kleinhirns gestattet. Es fand sich eine
kleine Menge serös-eiteriger Flüssigkeit oberflächlich; und wir erklärten
uns dieselbe gemäß unseren gemachten Erfahrungen (s. Fall Xickel) zu-
nächst als meningeales Exsudat! Da aber die Symptome einer
Meningitis völlig fehlten, dagegen klinisch alles für einen Absceß sprach,
gaben wir die Möglichkeit zu, daß es sich um aus der ümgebang
eines Abscesses aspiriertes, in Vereiterung begriffenes
Hirngewebe handelte. Leider konnte aus äußeren Gründen weder
die Lumbalpunktion gemacht, noch die mikroskopische Untersuchung der
aspirierten Flüssigkeit vorgenommen werden.
Das Kleinhirn erwies sich bei der Operation als frei; die Sektion
deckte eine diffuse eitrige Meningitis auf (Patient hatte nicht gefiebert)^
ausgehend von einer Eiterung im linken Canalis caroticus. Es war das
meningeale Exsudat der hinteren Schädelgrube bei der Punktion gewonnen
worden.
Dieser Fall ist zu einer weiteren Beurteilung nicht verwendbar, da
die Lumbalpunktion, welche Klarheit gebracht hätte, nicht gemacht
werden konnte.
Der andere Fall betrifft einen 4 Jahre alten Knaben [Bohl (21)], der
^4 Jahre nach einer Basisfraktur (die mit Hinterlassung dauernder Xopf-
schmerzen geheilt war) mit Krämpfen, heftigsten Kopfschmerzen, Gbtng-
Störung etc. (vergl. Krankengeschichte) erkrankte und in 8 Tagen völlig
erblindete.
Die Diagnose schwankte zwischen Tumor cerebelli und Meningitis
serosa. Die Punktion des linken Kleinhirns ergab gut 1 ccm einer trüben
gelblichen Flüssigkeit (mikroskopisch : Eiterkörperchen), femer einige kleine
Gewebspartikelchen, die mikroskopisch (in Paraffin eingebettet) sich teils
als nonnale Kleinhimrinde, teils aber als nekrotisches, von einzelnen
Eiterkörperchen durchsetztes Hirngewebe herausstellten. (Die Lumbal-
pumktion ergab üeberdruck, aber klare Flüssigkeit und kein GerinDsel).
Punktionen der Seitenventrikel wiesen eine starke Ausdehnung derselben
durch vermehrten Liquor nach und wirkten durch Ablassen des letzteren
entschieden günstig.
Es bestand also eine zirkumskript serös-eitrige Meningitis, außerdem
eine Vermehrung und Drucksteigerung des Liquor cerebrospinalis. In
letzterem trat in den letzten Tagen Gerinnselbildung auf, als Ausdruck
einer — wie die Sektion lehrte — tuberkulösen Meningitis. Diese war
von zwei Kleinhirntuberkeln ausgegangen und Material von
diesen hatten wir in Gestalt des nekrotischen Gewebes zu
Tage gefördert, ohne es richtig deuten zu können.
Anhangsweise muß hier noch ein dritter Fall erwähnt werden
[Lindner (26)], in dem wir auch am Kleinhirn absceßpunkt massenhaft serös-
eitrige Flüssigkeit punktierten. Dieselbe wurde sofort nach ihrer Beschaffen-
heit und der Lage der Nadel als meningitisches Exsudat erkannt, was die
Sektion bestätigte. Mit dem Eiter eines Hirnabscesses war sie nicht zu
verwechseln.
VI. Pathologisches Gewebe.
Krankhaft veränderte Hirnsubstanz haben wir in 2 Fällen bei der
Punktion erhalten:
Die Hirnpunktion. 851
a) Nekrotisches Hirngewebe in dem eben erwähnten Fall Rohl (21),
ohne es richtig deuten zu können;
b) Tumorgewebe. >
Wir waren anfangs wenig geneigt, anzunehmen, daß die Probe-
punktion zur Auffindung operabler Tumoren wesentlich beitragen könnte.
Zwar hatten wir Gelegenheit, uns zu überzeugen, daß an der Leiche
wenigstens Gewebe von erweichenden Tumoren aspiriert werden konnte,
derart, daß die Probepunktion die Diagnosestellung ermöglichte [Fall
Pietsch (3) und Brandt (7)]. Aber an der Erreichung eines praktischen
Resultates hinderte uns die Ueberlegung, daß die weicheren bezw. er-
weichten Tumoren zum Teil wenigstens gerade diejenigen sind, die der
Operation wenig günstige Chancen bieten; bei der verhältnismäßigen
Geringfügigkeit der Aussichten schreckten wir vor einem rücksichtslosen
^Durchpunktieren" anfangs zurück. Um so angenehmer überrascht
waren wir von dem unerwartet glücklichen Verlauf und Ausgang des
folgenden Falles:
Herr W. (31), 43 Jahre alt, Restaurateur, war 4 Wochen vor seiner
Aufnahme ins Krankenhaas mit einem apoplektiformen Anfall erkrankt
und litt seitdem an heftigen, anhaltenden Kopfschmerzen. Unsere anfäng-
liche Diagnose auf Himlues, die zunächst durch eine auffallende Besserung
nach Hg-Behandlung gestützt zu werden schien, wurde fallen gelassen,
als sich der Zustand unter Schmierkur später mehr und mehr verschlech-
terte (zunehmende Benommenheit, Erbrechen) und Tumor cerebri diagnosti-
ziert. Da außer allgemeinen Tumorsymptomen (Kopfschmerz, besonders in
der rechten Kopfhälfte, zeitweise Pulsverlangsamung, Erbrechen, schwere
doppelseitige Stauungspapille mit Retinalextravasaten, Ueberdruck bei der
Lumbalpunktion, Schlafsucht, Abnahme der psychischen Fälligkeiten) nur
eine leichte (mimische) Parese des linken Facialis, allenfalls noch des
linken Armes vorhanden war, konnte von einer Lokaldiagnose auf Grund
der klinischen Erscheinungen keine Bede sein. Das Fehlen von basalen
Symptomen, sowie solchen, die auf die hintere Schädelgrube hinwiesen,
der ziemlich ausgeprägte Kopfschmerz der rechten Kopfhälfte, sowie die
leichte Facialis- bezw. Armparese linkerseits liefen uns an einen Tumor
der rechten Konvexität denken, wobei der ziemlich scharf umschriebene
Klopfschmerz für den Scheitellappen, eine deutlich vorhandene Witzelsucht
für den Sitz im Stimlappen verwertet werden konnte.
Die Lokalisation, die also auf Grund des klinischen
Bildes unmöglich war, gelang durch die Hirnpunktion in
überraschender Weise.
Nachdem wir, gedrängt durch die Erscheinungen des zunehmenden
Himdruckes, zuerst im Bereich des rechten Scheitellappens vergeblich punk-
tiert hatten, wandten wir uns dem rechten Stimlappen zu und zogen sofort
am oberen Stirnpunkt (vergl. die Figur, F^ ) blutig erweichte Massen
heraus, in denen sich mikroskopisch außer altem Blut und massenhaften Fett-
körnchenzellen (!) Konglomerate von großen, ziemlich protoplasmareichen, en-
dothelialen Zellen nachweisen ließen, die als Tumorzellen gedeutet werden
konnten. Fünf nahe im Umkreise dieser Stelle gemachte Punktionen
(Punkt IV — VIII) ergaben normale Himsubstanz; erst die sechste (Punkt
IX) — medial von dem oberen Stimpunkte (schon nahe dem Sinus longi-
852 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
tudinalis) vorgenommenen — förderte aus etwa 2 cm Gehirn tiefe eine
gelbliche, cystische Flüssigkeit zu Tage, in der sich durch
Sedimentieren Fettkömchenzellen und Tumorzellen nachweisen ließen. Wir
stellten danach die Diagnose auf: Zentral erweichter, maligner Tumor
des rechten Stimlappens im Bereiche der Ponktionsstelle (III und IX)
von nicht bedeutender Flächenausdehnung.
Ueber die Operabilität der Geschwulst sprachen wir uns sehr zurück-
haltend aus.
Die kurz darauf von Herrn Prof. Haeckel vorgenommene Operation
bestätigte die Diagnose in allen Punkten; es handelte sich um ein
gut ausschäl bares, etwas über walnußgroßes Endotheliom des rechten
Stimlappens genau an der Stelle, wo wir es durch Punktion nachgewiesen
hatten. Seine eigentümliche Form (Kegel, dessen Basis der Himoberfläche
entsprach) erklärte das negative Ergebnis der Punktionen IV — VIII (s. die
Krankengeschichte).
Der Fat. war bereits wenige Tage nach vorgenommener Operation
von einem Gesunden nicht zu unterscheiden.
Epikrise: Die Diagnose: Hirntumor war in diesem Falle schon vor
der Probepunktion sicher. Auch war die Vermutung berechtigt, daß der
heftigen lokalen Ellopfschmerzhaftigkeit ein mehr oberflächlicher Sitz des
Tumors in der rechten Hemisphäre entsprechen würde (übrigens saß der
Tumor weit ab von der schmerzhaften Stelle und wäre durch eine Kra-
niotomie hier ebensowenig gefunden worden, wie durch die Probepunktion).
Auch dafür, daß der Tumor mehr den vorderen Partien des Großhirns an-
gehören mochte, sprach, wie schon erwähnt, manches.
Allein welcher Chirurg oder innere Kliniker würde wohl in diesem
Falle und bei so geringen Herdsymptomen den Versuch einer Trepa-
nation angeraten haben und wo hätte eine Trepanationsöffnung angelegt
werden sollen, um diesen bei der Ffeilegung knapp markstückgroß zu
Tage tretenden Tumor zu finden!
Der Probepunktion allein verdanken wir es, daß wir
den Tumor gefunden, seinen Sitz bestimmt, seine Be-
schaffenheit in mehrfacher Hinsicht erkannt und den
chirurgischen Eingriff dadurch ermöglicht haben, der
den Patienten in wenigen Tagen aus einem Sterbenden
zu einem Gesunden machte.
Hierbei soll gewiß nicht verkannt werden, daß einiges Glück dazu
gehört hat, daß 2 von unseren 9 Punktionen den Tumor getroffen
haben. Wir glauben aber doch gerade hieraus schließen zu sollen, daß,
wenn man überhaupt daran geht, durch Probepunktion einen Tumor
zu suchen — und der hier vorliegende erste Fall muß doch hierzu
auffordern — man vor einem rücksichtsloseren, systematischen, auf
verschiedene Sitzungen zu verteilenden Durchpunktieren der bearg-
wöhnten Regionen bezw. der betreffenden Schädelhälfte nicht zurück-
schrecken darf.
Wir haben es nachträglich aufs empfindlichste bedauert, daß wir in
2wei anderen Fällen [Büchel (12) und Brandt (7)J, anstatt dieses Ver-
Die Hirnpunktion. 853
fahren anzuwenden, uns mit einigen negativen Punktionen begnügten;
sonst hätte uns das höchst operable Endotheliom der Dura (7) und das
Oumma der Hirnoberfläche (12) nicht zu entgehen brauchen.
Auch wird man sich darüber klar sein müssen, daß Punktionen, die
zur Auffindung eines Tumors gemacht werden, nur einen Sinn haben,
wenn bei jeder einzelnen Punktion etwas Substanz ans dem Gehirn zu
Tage gefördert wird, wie man dies in der von uns angegebenen Weise
<s. Technik) mit mehr oder weniger Mühe, aber schließlich doch immer
mit Erfolg erreicht ^).
Daß hierbei häufig wiederholte Punktionen einen größeren Eingriff
darstellen, als die Entleerung von Flüssigkeiten, ist klar. Demgegenüber
steht, daß es sich in der Regel um verlorene Fälle handelt, bei denen
wohl einmal alles gewonnen, aber kaum etwas verloren werden kann.
Selbstverständlich wird die Punktion nur inderHand
dessen, der die klinische Hirndiagnostik richtig zu hand-
habenweiß, Erfolge habenundein gedankenloses „Durch-
punktieren" wäre das geeignetste Mittel, um die Hirn-
punktion bald um jeden Kredit zu bringen.
Andererseits glauben wir sagen zu dürfen, daß die von dem Alt-
meister hirnchirurgischer Diagnostik mit Bezug auf die Tumoren fest-
gelegte Grenze der Diagnostik durch die Hirnpunktion weiter hinaus-
geschoben werden dürfte:
„Fasse ich zusammen, so hängt die Indikation für einen
chirurgischen Eingriff bei oberflächlich gelegenen Tu-
moren des Großhirns ganz und gar an den Zeichen einer
Affektion der motorischen Region in den Zentralwin-
dungen. Nur bei solchen halte ich die temporäre Schädel-
resektion nach Wagner für indiziert." (v. Bergmann, die
chirurgische Behandlung von Hirnkrankheiten, 3. Aufl., 1899, p. 276.)
VII. Blutiges Hirnhaut-(Pia-)Oedem.
Einen eigen tümlichen Punktionsbefund hatten wir bei einem Manne
[Fall Ueck (11)], der mit schweren Himerscheinungen (Fieber, Pulsver-
langsamung und rasenden Kopfschmerzen) hereinkam und bei dem wir
(Lumbalpunktion ergab Ueberdruck, aber klare Flüssigkeit, ohne Gerinnsel)
einen Hirnabsceß vermuteten. Dem intensivsten Klopfschmerz entsprechend,
punktierten wir rechterseits nacheinander den Schlafenlappen, die motorische
Kegion und das Stirnhim. An allen 3 Stellen fand sich ganz oberfläch-
lich (subarachnoidal) reichlich intensiv zitronengelbe, klare
Flüssigkeit vor, die nicht gerann und auch nach langem Zentrifugieren
1) Die Untersuchung der punktierten Gewebspartikelchen geschah mit
Vorteil zunächst im frischen mikroskopischen Präparat ; dann folgte Schnell-
härtung und Schnelleinbettung in Paraffin nach der bewährten Methode
von LuBABSCH (s. Deutsche med. Wochenschrift, 1903, No. 48) und Unter-
suchung der mit Hämatoxilinsäurebraun oder nach van Giesok gefärbten
Schnitte.
Mitte», a. d. GrenzgeUeten d. Medizin o. OiinirKie. Xm. Bd. 55
854 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
gelb blieb; ein sich dabei absetzendes Sediment bestand ans Erythrocyten.
Es handelte sich also um ein blutiges Oedem der Arachnoidea-Pia (nnd
zwar um ein anscheinend umschriebenes, denn die zu gleicher Zeit durch
Lumbalpunktion gewonnene Flüssigkeit war farblos wie Wasser und
ohne morphotische Elemente). Eiter wurde nirgends gefunden und daher
die Diagnose: Absceß fallen gelassen. Gleich nach der Punktion
ließen die furchtbaren Kopfschmerzen nach, und unter fort-
gesetzter Schmierkur und Jodipin trat später völlige Keilung ein.
Es hat sich also um Laes cerebri resp. leptomeningis gehandelt^
als deren handgreiflichstes Produkt hier ein eigentümliches Meningeal-
ödem festgestellt ist, dem man — wie ex juvantibus geschlossen werden
darf — eine erhebliche Rolle bei der Erzeugung des charakterisüschen
Kopfschmerzes zuschreiben muß.
VIII. Liquor cerebrospinalis.
Diagnostisch verwertbar war die Punktion von Liqaor in einem Falle :
Es handelte sich um ein Fräulein [Fall Jäckel (8)], .bei dem die
Diagnose auf Hirntumor lautete, und zwar bestand besonderer Verdacht
auf eine Geschwulst des Stimhirns. Die nacheinander an beiden Stirn-
Kleinhim-Zentrallappen ausgeführten Punktionen (7! im ganzen) ergaben
nirgends Geschwulstpartikel, sondern an allen Stellen gleichmäßig in ge-
ringer Tiefe der Himsubstanz massenhaft Liquor cerebrospinalis. Darauf-
hin wurde die frühere Diagnose fallen gelassen und Hydrocephalus intern as
chronicus resp. Meningitis serosa diagnostiziert Die Sektion bestätigte das.
Hier muß auch Fall Berg erwähnt werden, indem eine zu
diagnostischen Zwecken gemachte Hirnpunktion ganz unerwartet einen
starken akuten Hydrocephalus des Seitehventrikels auf-
deckte und durch Entleerung von 20 ccm Liquor therapeutisch Aas-
gezeichnetes leistete.
Ueberhaupt hat sich die wiederholte Punktion nach der angegebenen
Methode zu therapeutischen Entleerungen von Flüssigkeitsansammlungen
in den Hirnventrikel bei chronischen Ergüssen, Tumoren etc. neben der
altbewährten QuiNCKEschen Lumbalpunktion durch die direkte Wirkung
auf die Ventrikel mehrfach als recht vorteilhaft erwiesen. Man punktiert
am besten an dem von Kocher angegebenen Punkt seitlich vom Bregma
(s. d. anatomischen Teil).
Den bisher besprochenen Fällen mit „positiven'' Befunden bei der
Punktion reihen sich diejenigen an, bei welchen das negative Er«
gebnis der Punktion in diagnostischer Beziehung wichtig oder ge-
radezu ausschlaggebend war.
I. Zunächst eine Reihe von Fällen, in denen auf Grund der Punktion
die Diagnose Hirnabsceß fallen gelassen wurde. Dies sind:
1) Fall Hermann (1), in dem ein gewisser Verdacht auf einen eiterigen
Prozeß der linken motorischen Region vorlag.
2) Fall Maass (5), in dem an einen Abscefi des Kleinhirns resp. Stirn-
hirns gedacht wurde.
Die Hirnpunktion. 855
3) Pall Stark (6), der schon mit beginnender Meningitis eingeliefert
wurde, daneben aber auf einen linksseitigen Hirnabsceß verdäohtig war.
4) Fall Schlie (32) (dessen Elrankengeschichte uns nicht vorliegt),
der einige Zeit nach einem Bevolverscbuß in die rechte Schläfe unter den
Symptomen eines Himabscesses erkrankte und bei dem die Punktion des
rechten Schläfenlappens vorgenommen wurde.
5) Fall Hartmann (25), in dem an einen Absceß des rechten Stirn-
resp. Zentrallappens gedacht wurde, der sich später aber als tuberkulöse
Meningitis entpuppte.
Hier würden sich noch anschließen:
6) Fall Ueck, der oben unter VIII besprochen worden ist, bei dem
wir von dem Bestehen eines rechtsseitigen Himabscesses überzeugt waren.
7) Fall Fahl (oben unter in besprochen), bei dem einmal im Laufe
der Erkrankung an einen eventl. bestehenden Absceß der rechten Hemisphäre
(Scheitellappen) gedacht wurde (vergl. die Krankengeschichte, Punktion 8).
8) Fall Lindner (26), wo neben einer festgestellten eiterigen Meningitis
noch ein Absceß mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen wurde.
In allen diesen Fällen, die mehr oder weniger auf
Hirnabsceß verdächtig waren, brachte uns die Hirn-
punktion von dieser Dilgnose ab; in Fall 1, 3, 4, 5 und 8
zeigte die Sektion, in 2, 6 und 7 der weitere Verlauf, daß in der Tat
eine eiterige Encephalitis nicht vorgelegen hat.
IL Hieran schließen sich noch diejenigen Fälle an, in denen auf
Grund der Punktion die Diagnose Tumor cerebri fallen gelassen resp.
sehr unwahrscheinlich wurde, da es nicht gelang, aus den vermutlich
befallenen Hirn teilen Geschwulstpartikelchen durch Aspiration zu ge-
winnen.
Es sind dies:
1) Fall Pahnke (14), in dem die Diagnose zwischen Kleinhirn- und
Stimhirntumor schwankte. Die durch Schmierkur erzielte völlige Heilung
der schon ganz dementen Patientin stimmte zu dem Besultat der Punktion
und klärte den Fall völlig auf.
2) Fall Jäckel (schon oben unter VII besprochen), in dem die Punktion
keinen Tumor, dagegen das Vorhandensein eines starken Hydrocephalus
internus nachwies.
3) Als 3. Fall würde sich wieder Fall Pahl (s. oben III) anschließen,
in dem die Diagnose mit Sicherheit auf Hirntumor gestellt war, die
Punktion aber statt eines solchen eine Cyste in der hinteren Schädelgrube
aufdeckte.
Nach dem oben Gesagten (s. Abschnitt VI) brauchen wir hier nicht
noch einmal darauf zurückzukommen, daß negativer Ausfall der Punktion
bei einem vermuteten Hirntumor mit geringerer Sicherheit verwertet
werden kann, als bei den anderen Affektionen (Absceß, Blutung, Cyste).
III. Schließlich hatte die Punktion bei einer Reihe von Fällen gar
kein Ergebnis, weder nach der positiven, noch nach der negativen Seite,
wie das bei dem Material ja nicht anders zu erwarten ist. Auf diese
Fälle können wir hier nicht weiter eingehen.
55*
856 Ernst Neisser und Kart Pollack,
Tabelle II: UeberBicht über sämtliche punktierte F&lie.
Diagnose
vor der Punktion
Diagnose
nach der Punktion
Diasnose auf Grund
der Sektion
oder Operation bezw.
ex juTantibus
1. Hermann
2. Nickel
3. Pietsch
4. Fahl
5. Maass
6. Stark
7. Brandt
8. Jaeckel
9. Lemcke
10. Krause
11. Ück
12. Büchel(nicht
durchunter-
sucht)
13. Handt
14 Pahnke
15. Kielgas
16. Weber
17. Adermann
Himblutg.; sp&t Ver-
dacht auf dterigen
Prozeß
Verdacht auf Himabsc.
Menin^tis serosa (an-
fängbch. Verdacht auf
Tumor d. hint Bchä-
deigrube fallen gelass.)
Tumor des Stimhims
oder Kleinhirns
Lues cerebri od. Him-
absoeß
Eiterige Meningit. ; Ver-
dacht auf Himabsceß
Elanhim- oder Stirn-
himtumor
Verdacht auf Stimhirn-
tumor
Verdacht auf Blutung
aus der Meningea
Kein Absoefi
Kleinhimabscefi
Punktion ohne Einfluß
auf die Diagnose
Cyste d«Uiit.8ehädel-
gmbe (bcKw. um-
schriebene Meningitis)
Kein Absceß
Kein Absceß
Vermutlich kein Klein-
hirn- oder Stimhim-
tumor
Meningitis chronica se-
rosa
Extradural. Bluterguß;
Contusio cerebri
N^hritis; kleine Blu-
tungen in der inneren
LinsenkapseL Säofer-
verandernngen
Eiterige Meningit nach
Otitis media
Tumor oerebelli (Sar-
kom) und sekundärer
Hydroceplialns
(Durdi PmkiiiHi s«-
heUtl)
Coma. Pneumonie
Lues cerebri? Verdacht
auf Himabsceß
Lues cerebri? Tumor
cerebri? Hystene?
jACKBONsche Epilepsie
Punktion ohne Einfluß
auf die Diagnose
Kein Absceß. Hämor
rhagisehes Menin-
gealSdem
Punktion ohne Einfluß
auf die Diagnose
Großes Intraknmielies
Hämatom
Kleinhirn- oder Stirn- Diagnose auf Tumor
himtumor. Lues ce-i sehr erschüttert
rebri?
Großer extra- od. intra-
duraler Bluterguß
Entfernter Verdacht auf
Pachvmeningitis hae-
morrnagica oder Blu-
tung aus der Menin-
gea media
Hirnblutung
Früher: Lues cerebri
oder Paralysis incip.
Jetzt : Zunehmender
Himdruck (ev. infolge
luetischen Meningeal-
ödems? Vgl. Fall 11)
Hirnblutung
Große Blutung in der
hinteren Bchlldel
gmbe (vermutlich in
folge Pachymeningitis
haemorrhag.)
ex juvantibus : Lues ce-
rebri
Eiterijge Meningit nach
Otitis media
Tumor (^Elndothdiom) d.
motorischen B^on
Meningitis chronica se-
rosa
Geringer extra- u. grö-
ßerer intradural. Blut-
erguß. Starke Hiro-
zertrümmerung
CSarcinoma ventricoli
ex juvantibus : Lues ce-
rebri. (Punktioo lei-
tet die Heilung du)
Gumma cerebri
Intradurales Hämatom
(dnreh sofortige Ope-
ration geheilt)
ex juvantibus : Lues «•
rebri
Großes Hämatom der
Dura (Pachymeningit
haemorrhagica)
Blutung d. inn. Linseo-
kapsel mit Durchbrucfa
in den Seitenventrikel
(Gelieilt durch
Ponktlon)
Die Himpanktion.
857
Diagnose
nach der Punktion
Diaffnooe auf Grund
der Sektion
oder Operation bezw.
ex juTantibus
18. Wellnitz
19. Bork
20. R.
21. Bohl
22. Mallisch
23. Blhr
24. Freitag
25. Hartmann
26. Lindner
27. Trapp
28. Berg
29. Böhm
30. Nagel
Hirntumor (eT. d. link
Facialis- bezw. Insel-
gegend)
ijACKSONsche Epilepsie Apoplektischer Herd
Kleinhirnabscefi
Tumor d. hint. Bchadel-
grabe oder Meningitis
serosa
Verdacht auf H&matom
der Dura
Verdacht auf trauma-
tische Blutg. d. Hirn-
oberflSche
Verdacht auf Blutung
aus der Meningea
(rhinogener) Himabsc.
(später: tuberkul. Me-
nmgitis)
Eiterige Meningit. Ver-
dacht auf Himabsceß
Himtum. (ev. Gumma) ;
auch Verid. auf pachy-
meningitische Blutung
Möglichkeit ein. pachy-
meningitischen Blute. ;
ev. auch Hlmabscä
Blutung aus der linken
Meningea; Basisfrakt.
jACKBONsche Epilepsie
Funktion ohne Einfluß
auf die Diagnose
Meningitis der hinteren
Schaaelg^ube; ev. aus
der Peripherie eines
Abscesses
Basale Meninffitis der
hinter. Schfidd|grube ;
nekrotisches Himge-
webe daselbst
Extra- oder intradurales
H&matom
Kleines extradural. Ex
travasat und Contusio
cerebri
Glioma apoplecticum d.
Basis des Schläfenlap-
pens mit nach d. Basis
durchgebroch. Blutg.
Kleines Glioma apoplec-
ticum (beginnende Gli-
ombildung) u. lokales
Piaödem (gebessert
dueh Operation)
Eiterige Meningit. nach
Otitis media
Kleinhirntuber-
kel; tuberkul. Menin-
gitis spez. d.hint. Schä-
delgrube ; sekundär.
Hydrocepbal. int
Subduraler und pialer
Bluterg. infolge Durch-
bruches einer Blutung
d. inner. Lansenkapsd
(Punktloii leitet die
Heilung etat)
Intradurale Blutg. von Mäßig grofi. subduraler
gering. In tensit; Hirn- 1 Bluterguß; Hirnzer-
kontusion
Kein Absceß
trümmerung. Degene-
ration von Herz und
Nieren
Meningitis tuberculosa
Kein Absceß; eiterige
Meningitis
Punktion ohne wesent-
lichen Einfluß auf die
Diagnose; kleine Blu-
tun^n der recht, hint.
Schädeigrube; größere
Blutung ausgeSzhloss.
Eiterige Meningitis
Glioma apoplecticum d.
rechten Hemisphäre;
kleine piale Blutungen
d. recht hint Schädel-
grube
Keine größere Blutung; ex juvantibus: Lues oe-
klein. Blutung, d. hint rebri (Funktion leitet
Schädelgrube; akuter die Heünng ein)
Hjrdrocephalus d.
Seitenventrikel
Blutung aus der Me-
ningea; Himzertrüm-
merung
Keine Cyste
Ausgedehnte subdurale
Blutergüsse besonders
der linken Seite; Ck>n-
tusio cerebri ; Basis-
fraktur
858
Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Diagnose
vor der Punktion
Diagnose
nach der Punktion
Diagnose auf Grund
der Sektion
oder Operation bezw.
ex juvan tibus
31. Witt
32. Buchholz
33. Schlie
34. Werner
Erst: LuescerebrL Spa-
ter: Tumor cerebri (der
rechten Hemisphäre?)
Idiotin. Himcyste?
Verdacht auf trauma-
tischen Himabscefi
Eiterige Meningit ; Ver-
dacht auf otitischen
Hirnabscefi
Sarkom des
Stlrnlappens im Be-
reich unseres ob. Stim-
Sunktes 7on nidit be-
eutender Flachenaus<
dehnung u. zentr. cyst.
u. blutiger Erweichung
Keine Cyste
Kein Himabscefi
Extradunder Abseefi
im Bereich d. linken
SehlAfenlappens ; keio
HimabsceU
reehten Entspricht d. Diagnose
auf Grund der J^ink-
tion in allen Punktoi!
(Hellwig dorek Oiie-
ratlon)
Kein HimabsceS
Ektraduraler Absceß
(dnrek Operation ge-
keUt)
Vorstehend geben wir eine üebersicht über die von uns punk-
tierten FftUe. In der ersten Kolonne die Diagnose vor, in der zweiten
die nach der Punktion, in der dritten den bei der Sektion resp. Ope-
ration erhobenen Befund resp. die nach dem Verlauf der Krankheit
wahrscheinliche Diagnose.
Dieser Tabelle lassen wir eine kurze üebersicht über die wich-
tigsten diagnostischen Ergebnisse der Punktion folgen:
Tabelle III: Wichtigste diagnostische Ergebnisse.
Nach der positiven Seite
Nach der n^ativen Seite
Fahl (4) gelbe eiweißreiche Cystenflüssig-
keit
Hermann (1) (kein Abscefi)
Pahl (4) (Funktion 8) (kein Absceß)
Maas (5) (kein Abscefi)
Stark (6) (kein Absceß)
Lemeke (9) altes Blut
Jaeckel (8)
(Hydrocephalus chronic, kein Tumor)
Ück (11)
(Blutiges Meningealödem ; kein Absceß)
Handt (13) (altes Blut)
Kielgas (15) (altes Blut)
Adermann (17) (altes Blut)
Borek (19) (Hämatoidinkristalle)
RoU (21) rserös-eiterige Flüssiffkeit: nekro-
tiscnes Gewebe; gerinnselbildende Veo-
trikelflüssigkeit)
Mallisch (22) (altes Blut)
Bttkr (23) (aus altem Blut ausgepreßtes
Serum; zertrümmertes Himgewebe)
Böhm (29) (altes Blut)
Witt (31) (Tumorgewebe; Cystenflüssigkeit)
Werner (34) (Eiter)
Fahnke (14) (wohl kein Tumor)
Hartmann (25) (kein Absceß)
Lindner (26) (kein Absceß)
Nagel (30) (keine Cyste)
SchUe (33) (kein Absceß)
Die Hirnpunktion. 859
Unangenehme Zwischenfälle oder Folgen der Punktion.
Ehe wir kurz im Zusammenhange die wenigen von uns bei oder
im Anschluß an die Punktion beobachteten unangenehmen Nebenereig-
nisse besprechen, wollen wir anführen, daß wir bisher ISSmaP)
punktiert haben, und zwar den Stirnlappen 33mal, den Zentrallappen
26mal, den Parietallappen 3mal, den Schläfenlappen 13mal, den Hinter-
hauptslappen 3mal, das Kleinhirn 34mal, die Seitenventrikel 8mal und
an den KaÖNLEiNschen Punkten ISmal. Da diese Punktionen bei
36 Patienten vorgenommen sind, kommen auf einen etwa 4 Punktionen.
Die am häufigsten punktierten Fälle sind: Rohl (mit 12 Punk-
tionen), Pahl (mit 12 Punktionen), Witt (mit 9 Punktionen), Maass und
Freitag (mit je 8 Punktionen) und Jäckel und Lindner (mit je 7 Punk-
tionen).
Bei der Anwendung der von uns beschriebenen Tecknik haben wir
trotz der Anlegung von weit über 100 Bohrkanälen und Punktion durch
dieselben niemals irgendwelche Infektion oder auch nur
infektiöse Reizung der Meningen oder Weichteile erlebt.
Eine schnell wieder vorübergehende Temperatursteigerung beob-
achten wir ganz vereinzelt im Anschluß an die Punktion; in einem
Fall (Maass) war eine Facialiskontraktur damit verbunden, die aber
bald wieder verschwand.
Zwischenfälle bei der Punktion.
Als solche kommen nur ganz wenige in Betracht.
Einmal erlebten wir bei einem Patienten [Wellnitz (18)], bei dem
wir auf einen Hirntumor fahndeten und der in der Tat, wie die Sektion
lehrte, an einem Glioma apoplecticum litt, daß es bei dem starken
Pressen und Sichsträuben des halb benommenen Mannes augenschein-
lich während der Probepunktion zu einer Blutung in das Gliom mit
Durchbruch nach der Hirnbasis kam, an deren Folgen der Patient bald
starb. Die Punktion war aber nicht in das Gliom, sondern an einer
davon ziemlich entfernten Stelle gemacht worden.
Eine Bedeutung für die Hirnpunktion kommt unseres Erachtens
diesem Ereignis nicht zu.
Erwähnt sei noch das Auftreten von Geldzählbewegungen, von
Kaubewegungen, sowie Erbrechen (das aber auch vorher schon be-
stand !) gleich nach der Punktion bei einem Fall von chronischer Menin-
gitis [Jäckel (8)].
Zweimal unterbrachen wir die Punktion, als wir frisches Blut
aspirierten (Weber und Kielgas). In beiden Fällen zeigte die Sektion,
daß es sich nicht etwa um durch die Punktion erzeugte Blutungen
1) Dabei ist einige Male derselbe Bohrkanal für mehrere Punktionen
benutzt worden.
860 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
handelte, sondern um die Aspiration von frischerem, noch nicht ge-
ronnenem Blute aus den betreffenden, absichtlich punktierten, prä-
existenten Blutansammlungen (das eine Mal Apoplexie, das andere Mal
pachymeningitische Blutung).
Augenfällige Verschlechterung des Zustandes in den auf
die Punktion folgenden Stunden sahen wir schließlich bei 2 Fällen.
Aber in dem einen Fall (Pietsch) von Kleinhirnsarkom und mächtigem
sekundärem Hydrocephalus war offenbar nicht die Punktion als solche.
sondern die reichliche Entleerung von Flüssigkeit (100 ccm) und die
damit Hand in Hand gehende plötzliche Druckänderung die Ursache
der Verschlechterung (wie das bekanntlich in gleicher Weise auch bei
der Lumbalpunktion vorkommen kann), und auch in dem anderen Fall
{Weber (16)], wo es sich um einen mächtigen apoplektischen Herd mit
schwersten Hirndruckerscheinungen handelte, kann man die Zunahme
dieser Symptome nicht auf die Punktion schiebe, die sogar durch
Entleerung von etwas Blut druckvermindernd wirkte.
Es ist hier der Platz, noch etwas über die von uns durch Sektion
resp. Operation erhobenen Befunde an den Punktionsstellen
zu sagen. Schon oben (s. Technik) ist die prompte, reaktionslose Hei-
lung betont und das Wichtigste über das Aussehen der Punktionsstelle
gesagt worden. Zweimal fanden wir einen kleinen, 1 bis höchstens
2 mm hohen Hügel aus zusammengepreßtem Bohrstaub an der inneren
Fläche der Dura, der einmal noch etwas in die Hirnrinde hinein reichte.
Neben dem Hügel lag in dem einen Fall noch ein winziger Bohrsplitter.
Durch Vermeidung von unnötigem Druck beim Bohren kajon man
dieses Hineindrücken von Bohrstaub in oder durch die Dura in der
Regel vermeiden (vergl. Technik).
Harmlos und ohne jede Bedeutung sind ferner kleine Suffusionen
resp. Extravasate der Haut, des Unterhautfettgewebes, eventuell auch
des Muskels in der Umgebung des Bohrkanals, wie wir sie ganz ver-
einzelt bei der Sektion antrafen; ferner Stecknadelkopf- bis linsengroße
Suffusionen der Pia in der Umgebung einer angestochenen Hirnvene.
Unangenehme Befunde erhoben wir in folgenden Fällen, in denen
eine größere oder geringere Hirnhyperämie bestand:
1) Fall von finaler eiteriger Meningitis [Nickel (2)] : Etwas flüssiges
venöses Blut (im ganzen 2 Fingerhut voll) extradural an der Punk-
tionsstelle.
2) Fall von schwerer chronischer Meningitis serosa; Erscheinungen
eines Hirntumors [Jäckel (8)J: Von 7 Punktionsstellen finden sich an
vieren zum Teil subdural, zum Teil auch im Marklager und dem ent-
leerten Seitenventrikel Blutextravasate, deren größtes (im Mark) Hasel-
nußgröße erreicht.
Klinische Erscheinungen traten trotzdem nicht auf (außer den oben
Die Hirnpunktion. 861
erwähnten bedeutungslosen Geldzähl- und Kaubewegungen). Statt eines
80 häufigen Durchpunktierens in einer Sitzung, wie wir das in diesem
Falle getan haben, wird man gewiß gut tun, nach einigen vergeblichen
Punktionen abzubrechen und erst dann wieder weiter zu punktieren^
wenn man sieht, daß keine Folgeerscheinungen auftreten.
Außerdem haben wir ab und zu einmal kleine piale bezw. venöse
Blutungen von Halberbsengröße oder dünne, den Stichkanal begleitende
Gerinnsel, einmal eine größere piale Suffusion gesehen, niemals irgend
welche darauf zu beziehenden klinischen Erscheinungen beobachtet.
Arterielle oder Sinusblutungen sind uns nie begegnet.
ScUuB.
Ueberblicken wir die Resultate, die in der vorliegenden Arbeit zu-
sammengestellt sind, so wird folgendes gesagt werden können:
1) Die Punktion und Probepunktion des Gehirns in der ange-
gebenen Weise stellt sich als eine, bei einiger Uebung leicht zu hand-
habende Vornahme dar. Sie wird bei genügender Vorbereitung in
wenigen Minuten und ohne Anwendung der Narkose ausgeführt
2) Zu ihrer ersprießlichen Ausübung bedarf es erstens der An-
wendung höchster Rotationsgeschwindigkeit und eines ganz feinen,
glatten, platten Bohrers; ferner neben der Benutzung aller
übrigen Hülfsmittel der Hirndiagnostik und genügender
Indikationsstellung, der Kenntnis einer Reihe von Punkten, an
denen man ohne die Gefahr einer Verletzung größerer Blutgefäße oder
sonstiger lebenswichtiger Teile punktieren kann.
3) Wir haben versucht, eine Reihe solcher Punkte festzustellen,
die für die Zwecke der Probepunktion besonders geeignet sind und ein
möglichst gefahrloses Vorgehen verbürgen und haben an diesen eine
große Anzahl von Malen punktiert
4) Bei Einhaltung gewisser, von uns angegebener Vorsichtsmaßregeln
erschien als einzige Gefahr, mit der man zu rechnen hat, die einer
Blutung.
Die arterielle (Meningea-)Blutung konnte durch die richtige
Wahl der Punktionsstellen mit großer Sicherheit vermieden werden.
Wir haben bei 138 Punktionen keine arterielle Blutung gehabt Der
untere Teil der motorischen Region in der Umgebung der SYLVischen
Furche muß indessen, wenn möglich, vermieden werden bezw. muß das
höhere Risiko durch eine dringende Indikation gerechtfertigt sein.
Sinusverletzungen können unter allen Umständen vermieden
werden.
Was die Verletzung der oberflächlichen Hirnvenen betrifft, so
gilt für die untere motorische Region und die Fossa Sylvii das eben
bei der arteriellen Blutung Gesagte ; im übrigen ist zwar das Anstechen
von Hirnvenen nicht mit Sicherheit zu vermeiden, in der weitaus
862 Ernst Neisaer und Kurt Pollack,
größten Mehrzahl aller Fälle handelt es sich aber um kleine, gänzlich
unbedeutende Extravasate.
Leute mit starker Himhjperämie (Plethorische, mit stark gerötetem
Gesicht! Pressen, Jaktation) neigen stärker zu Blutungen; bei ihnen
kann unter Umständen einmal die Narkose indiziert sein.
5) Die Punktion hat uns bei der Diagnose der Art und des Sitzes
verschiedener Hirnleiden sowohl durch Ausschluß von Erkrankungen,
die eventuell eine Operation erfordert hätten, wie durch Zutagefordern
von altem Blut in verschiedenen Formen, Hämatoidin, Cystenflüssigkeit
Liquor, Eiter, serös-eiteriger Meningealflüssigkeit, sowie Tumorpartikel-
chen vorzügliche Dienste geleistet und hat in einer Reihe
von Fällen durch rechtzeitige operative Entleerung großer
Blutergüsse, eines extraduralen Abscesses, Entfernung eines sehr kleinen
und eines walnußgroßen Hirntumors — schließlich auch ohne nach-
folgende Operation durch Entleerung von Cystenflüssigkeit^ Blut.
blutigem Serum — abgesehen von sehr günstigen Wirkungen gerin-
gerer Art — lebensrettend gewirkt.
Knnkeiigescliiehteii,
L G. Hermann, 37 J., 24. Jan. 1903 bis 31. Jan. 1903 (f).
Anamnese: P. arbeitet viel mit Blei ; war früher gesund ; seit
November Schwindel, Erbrechen, Ohnmächten, Appetitlosigkeit, Lieib-
schmerzen, unregelmäßiger Stuhl (wegen Bleivergiftung ärztlich behandelt).
Gestern nachmittags Yj^ ^^^ ^^^^ ^ seinem Zimmer von Nachbarn ge-
hört ! 1 1 Uhr abends bewulitlos aufgefunden ; er war blaß und schnarchte.
Sofortiger Transport ins Krankenhaus. P. erbricht dabei.
Befund: Auffallende Blässe, tiefes Coma, schnarchende Atmung.
Parese im rechten Arm. Patellarreflexe gesteigert, Puls 100, sehr klein,
Pupillen stecknadelkopfgroß. Kein Fieber.
25. Jan. Temperatur 39,2; sonst Status idem. Leichte Zuckungen
im rechten Bein.
26. Jan. Parese des rechten unteren Facialis. Urin frei von Eiweiß.
Der zweite Aortenton klappt deutlich. Puls 116. Atmung unregelmäßig,
sehr beschleunigt. Starke Schweiße. Während der nächsten Tage hält
das Fieber und das tiefe Coma an.
Diagnose: Zu Anfang an Hirnblutung, später an eiterigen Prozeß
in der Schädelhöhle gedacht. Daher: 29. Jan. Hirnpunktion; Bereich des
linken Facialis resp. Armzentrums. Ohne Ergebnis. Also kein Hirnabsceß hier.
31. Jan. Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Kleine Blutungen in beiden Linsenkapseln,
chronische Nephritis, Säuferveränderungen in den verschiedensten Organen.
Aus dem Sektionsprotokoll: Zwei feine perforierende Kanäle
am Schädel, an der Dura entsprechen ihnen zwei kaum linsengroße Flecken,
deren Peripherie rot, deren Zentrum grau weißlich gefärbt ist. In letzterem
eine minimale Stichöffnung. Pia hier ohne Besonderheiten, speziell keine Spur
von Blutungen ; auch im Gehirn von den Stichkanälen nichts mehr zu sehen.
2. A. Nickel, 19 J., 1. Febr. 1903 (aufgenommen und gestorben).
P. wird vormittags in völlig benommenem Zustand mit hohem Fieber
Die Himpunkiion. 863
und den ausgeprägten Zeichen einer Meningitis eingeliefert. Anamnestisch
nur zu erfahren : Früher rechtsseitige Mittelohrentzündung, jetzt seit einigen
Tagen mit Fieber und schweren Allgemeinerscheinungen erkrankt und bald
bewußtlos geworden«
Lubalpunktion : Wasserklare Flüssigkeit^).
Da an otitischen Hirnabsceß gedacht wird:
Punktion I des rechten Schläfenlappens; ohne Ergebnis.
Punktion II. Rechtes Kleinhirn : Aus ziemlicher Tiefe wird reiner
Eiter entleert.
Diagnose: Rechtsseitiger Kleinhirnabsceß. Operation nicht mehr
möglich, da Pat. stirbt.
Sektionsdiagnose: Diffuse eiterige Meningitis im Anschluß an
eine rechtsseitige eiterige Otitis media.
Aus dem Sektionsprotokoll. Die zwei Punktionskanäle im
Schädel ohne Besonderheiten. An der temporalen Punktionsstelle extra-
dural zwei Fingerhut voll Cruormassen, die der Dura locker aufliegen.
Unter der Dura an dieser Stelle einige flächenhafte kleine Blutgerinnsel . . .
Zwischen dem Tentohum und Kleinhirn, sowie zwischen ersterem und
dem Hinterhauptslappen findet sich eine reichliche Anhäufung teils festerer,
teils flüssiger eiteriger Massen (hiervon bei der Punktion Eiter aspiriert!).
8. E. Pietsch, 6 J., 8. Okt. 1902 bis 6. Nov. 1902.
Anamnese: Früher gesund, Kopf seit der Oeburt auffallend groß;
mit 5 Jahren Pneumonie. Seit Mai 1902 allmählich erkrankt mit Kopf-
schmerzen, Erbrechen, Schief halten des Kopfes, taumelndem Gang, Fallen
nach links.
Befund: Intelligenter kräftiger Junge, gut genährt, Kopf auffallend
groß. Kopf umfang 54^5 cm (statt 51 cm). Kopf immer nach links ge-
neigt (Zwangshaltung). Schädelnähte, besonders Eli-anznaht, verdickt.
Pupillen mittelweit, reagieren. Doppelseitige schwere Stauungspapille mit
Uebergang in Atrophie. Taumelnder spastischer Gang. Fallen nach links,
Patellarreflexe stark gesteigert, Fußklonus. Sensibilität normal.
Lumbalpunktion: Druck sa 1360(!) mm. Wasserklare, farblose
Flüssigkeit, die kein Gerinnsel bildet, von ^/2Voo Albumen; spezifisches
Gewicht 1008.
Verlauf: Häufige leichte Temperatursteigerungen; ab und zu Er-
brechen.
Diagnose: Zu Anfang Tumor der hinteren Schädelgrube, später
Meningitis serosa auf der Basis eines schon länger bestehenden Hydro-
cephalus (mäßigen Grades).
Therapie: Lumbalpunktionen. Schmierkur. Jodkali.
Aufenthalt IL 27. Febr. bis 13. März 1903.
Pat. kommt wegen Verschlechterung speziell des Ganges wieder herein.
Status wie früher, Kopf noch größer geworden. Umfang 58 cm. Kein
Fieber. Da durch Lumbalpunktion keine Flüssigkeit mehr zu entfernen,
so wird am 4. März 1903 die Punktion des linken Seitenventrikels vor-
genommen. Ganz allmählich ca. 100 ccm Liquor abgelassen. 5. — 11. März.
Status idem. 12. März. Plötzlicher Fieberanstieg auf 39,2, später 40,3,
Puls über 140. Klonische und tonische Beugekrämpfe in den Extremitäten.
Erbrechen, Durchfälle, Kopfschmerzen, Nackenstarre angedeutet.
Diagnose: Meningitis infolge Schädelpunktion.
1) Nach 24 Stunden bildete sich ein Gerinnsel in der Flüssigkeit.
864 Ernst Neisser und Kart Pollack,
Sektionsdiagnose: KleichimBarkom mit enormem sekandiren
Hydrocephalus intemas. Keine Spur von Meningitis!
Ans dem Sektionsprotokoll: ... Stirn- und Scheitelbeine in
der Eoronamaht ganz locker verbunden, lassen sich mit leichter Mühe
gegeneinander verschieben. Schädeldach papierdünn ! . . . Der Bohrkanal
ist an seiner äußeren Mündung durch einen kleinen graugelben Pfropf
verschlossen (Orsnulationsgewebe) ; innere Mündung stecknadelspitzgroS,
keine Spur von Eiterung oder Entzündung . . . Die Großhirnhemisphären
bilden einen großen fluktuierenden Sack, Gyri und Sulci ganz verstrichen . . .
Ventiikel enorm erweitert mit massenhafter, fast klarer Flüssigkeit an-
gefüllt ... Im Kleinhirn ein zentral sitzender, kleinapfelgroßer Tumor,
weich, grau-weißlich, zentrale Teile völlig erweicht zu bräunlichen Massen.
Der Tumor drückt auf die Vena magna Galeni und reicht noch weit in
beide Kleinhimhemisphären hinein.
4. B. Pahl, 47 J., Hülfsweichensteller. Aufenthalt I. 13. Jan. 1903
bis 22. JuU 1903.
Anamnese. Oktober 1902. Quetschung der rechten Hand zwischen
zwei Eisenbahnpuffem. Zur selben Zeit, kurz darauf oder auch vorher
schon mäßige Stimkopfsch merzen. Neujahr 1902/1908 Verschlimmerung
der Kopfschmerzen, unsicherer Gang, ab und zu Erbrechen.
Seit 2 Tagen heftigste Kopfschmerzen, ganz unsicherer Gang, Fat.
konnte sich kaum erheben. Appetitlosigkeit, Verstopfung.
Befund: 13. Jan. £[räftiger, großer Mann, schwankt und taumelt
beim Gehen, klagt über intensive Kopfschmerzen, die von der Stirn ins
Hinterhaupt ausstrahlen. Kein Klopfschmerz, Pupillen ohne Besonder-
heiten, Patellarreflexe vorhanden, Puls 52, mittelkräftig. Kein Fieber.
Augenhintergrund normal; geringe Albuminurie, linker Mundwinkel hängt
beim Sprechen etwas herunter. Gaumensegel beim Intonieren gut ge-
hoben, Bomberg stark positiv. Pat. ist auffallend still, doch nicht eigent-
lich benommen. Keine Lähmungen. Angabe der Prau: Zwei Abort«,
ein Kind lebt, Infectio negatur.
Verlauf: 20. Jan. Lumbalpunktion. Starker Ueberdruck, klare
Flüssigkeit, kein Gerinnsel.
21. Jan. bis 28. Jan. Erbrechen, Kopfschmerz, Pulsverlangsamung
halten an, Benommenheit nimmt zu. Gehen und Stehen unmöglich.
2. Febr. Sopor.
Punktion. L Bechtes Stirnhirn, ganz oberflächlich einige Gubikcenti-
meter liquor aspiriert.
Punktion IL Linkes Stirnhim: ohne Ergebnis.
11. Febr. Punktion III. Bechtes Kleinhirn, etwas normale Him-
substanz.
14. Febr. Der Sopor geht in Coma über. Puls enorm ver-
langsamt, aussetzend; 3 — 4 Atemzüge pro Minute. Pat.
macht den Eindruck eines Sterbenden.
Punktion IV. Linkes Stirnhim. Alter Stichkanal. Ziemlich ober-
flächlich wird Liquor cerebrospinalis entleert (deutlicher Ueberdruck;
30 ccm abgelassen).
Punktion V. Linkes Kleinhirn, ganz oberflächlich wird eine
klare, intensiv gelb gefärbte Flüssigkeit aspiriert, die
schon nach wenigen Minuten spontan gerinnt (25 ccm werden ent-
leert). Sofort darauf Lumbalpunktion: Klare, farblose Flüssigkeit ent-
leert sich ohne Ueberdruck. Sehr bald nach der Punktion völliger
Die HimpunktioD. 865
Umschwung im Befinden, Benommenheit verschwindet,
Puls hebt sich, Atmung wird regelmäßig. Fat. nimmt an
allem teil, lacht, witzelt
16. Febr. Erysipel^) von einem vorderen Bohrloch ausgehend.
Ende Februar nach Ueberwanderung des rechten Ohres Abheilung
des Erysipels. Otitis media dextra purulenta. Anfang März zunehmende
Benommenheit, doppelseitige ausgesprochene Stauungs-
papille.
Punktion VI. Linkes Kleinhirn, alte Stelle: ca. 20 ccm spontan
schnell gerinnende Flüssigkeit entleert, gelb, klar. Bald
darauf Besserung des Befindens, Pat. nimmt wieder gut Nahrung
zu sich.
7. März. Fieberanstieg bis 40 ^ Lumbalpunktion: Trübe Flüssig-
keit. Darin massenhaft Leukocyten und intracelluläre Diplo-
kokken.
Pat. ist unklar, klagt über ausstrahlende Schmerzen in beiden Beinen.
Therapie: EoUargol.
11. März. Lumbalpunktion: Flüssigkeit klar, setzt kleines Gerinnsel
ab, keine Bakterien, Fieberabfall, Euphorie!
13. März. Fieberanstieg, Puls 100. Temperatur 39,0. Keinerlei
Schmerzen. Keine Nackenstarre. Augenhintergrund fast normal.
Lumbalpunktion: Erhöher Druck, trübe Flüssigkeit. Darin massen-
haft Leukocyten, Diplokokken in Semmelform, intracellulär, auch in
Tetraden, entfärben sich bei starker Oramentfkrbung.
Therapie : Kollargol. 15. März. Entfieberung. Im Verlauf des März
gehen alle Symptome zurück. Das Körpergewicht steigt auf 70,5 kg.
Augenhintergrund normal.
April. Ausgezeichnetes Allgemeinbefinden, kein Fieber, Puls zwischen
100 und 140.
20. April. Körpergewicht: 85 kg!
Anfang Mai. Eechtes Ohr läuft wieder, Senkung der oberen Wand
des Meatus acusticus ; Kopfschmerzen in der Stimgegend.
4. Mai. Gewicht 89,5 kg. Die Ohrerscheinungen gehen ohne Ein-
griff zurück.
In den nächsten Tagen Unsicherheit aufden Beinen, dauernde
Kopfs ohmerzen.
18. Mai: Lumbalpunktion: normale Verhältnisse.
23. Mai. Unsicherheit beim Oehen nimmt zu. Pat. fällt leicht
nach rechts; Augenhintergrund normal. Puls 80, kein Fieber. Starker
Schwindel beim Aufsein.
25. Mai. Starker Kopfschmerz.
26. Mai. Erbrechen. Puls geht von 120 allmählich auf
70 herunter.
27. Mai. Augenhintergrund normal.
Punktion VII. Linkes Kleinhirn punktiert. 40 ccm der früher
beschriebenen Flüssigkeit entleert, die bald erstarrt. Eiweißgehalt
3 Proz.; spezifisches Gewicht 1010. Nach der Punktion sinkt der Puls zu-
nächst auf 50 — 60. Brechneigung. Nachmittags fühlt sich Pat. besser;
1) Zur Anlegung des Bohrkanals war der Thermokauter benutzt
worden, eine unzweckmäßige, später nicht mehr angewandte Methode
(vergl. die Technik).
866 Ernst Neisser und Enrt Pollack,
Puls hebt sich, Pat. kann im Bett ohne Schwindelgefühl auf-
sitzen!
28. Mai. Pat geht mit nur leichter Unsicherheit. Puls 8<j.
29. Mai. Schwindelgefühl beim Aufsitzen; Kopfschmerzen in der
rechten Kopf- bezw. Stirnhälfte.
Lumbalpunktion (zum Ausgleich eines vielleicht nach der Himpunk-
tion entstandenen negativen Druckes): Druck 145 mm, Wasser, ganz
klare Flüssigkeit, 42 ccm entleert. Euphorie!
31. Mai. Befinden ausgezeichnet. Pat. geht normal.
Bis zum 28. Juni völliges Wohlbefinden bis auf geringe Schmerzen
in der rechten Kopfhälfte. Vom 28. Juni an wieder Schwächegefübl in
den Beinen; stärkere Schmerzen in der rechten Scheitelgegend (Verdacht
auf Abscefi).
2. Juli. Punktion VIII des rechten Scheitellappens; ohne Ergebnis
(also kein AbsceE). In der nächsten Zeit gehen die Beschwerden allmäh-
lich ganz zurück. Pat wird am 27. Juli so gut wie geheilt ent-
lassen. Er stellt sich später noch mehrmals vor, ist dauernd bescbwerde-
frei und hat seine Arbeit in vollem Umfang wieder aufgenommen.
Diagnose. Vor der Punktion : Verdacht auf Hirntumor, nach
der Punktion: Meningealcyste der linken hinteren Schädel-
grube resp. umschriebene Meningitis mit einzelnen allgemein meningiti-
schen Schüben.
Aufenthalt IL 27. Okt. bis 12. Dez. 1903. Bis vor 2 Wochen
vollkommen gesund, seitdem halbseitiger Kopfschmerz rechts, taumeln-
der Gang. Zur Zeit heftiger Kopfschmerz.
Befund. Pat. ist sehr stark geworden (185 Pfund); Augenbinter-
grund normal. Druckschmerzhafügkeit der rechten Supraorbitalgegend,
Oang unsicher. Romberg stark positiv. Kein Fieber. Puls 54. Urin
frei von Eiweiß und Zucker. Subjektiv: Kopfschmerz und Schwindel.
28. Okt. Beschwerden nehmen zu.
29. Okt. Punktion IX. Linkes Kleinhirn (alter Kanal) ; 20 g der
bekannten gelblichen Flüssigkeit entleert, die zum Teil gallertartig gerinnt ;
darin Eiweiß 2 Proz.
30. Okt. Schwindelgefühl nimmt zu, daher Lumbalpunktion zum
Druckausgleich (17 ccm abgelassen). Abends Schwindel und Kopf-
schmerz verschwunden. Puls 64.
In den folgenden Tagen Verschlechterung.' Kopfschmerz, Schwin-
del, Taumeln, Druckpuls.
12. Nov. Punktion X. Alte Stelle (neuer Kanal). Oberflächlich
15 ccm intensiv gelber klarer Flüssigkeit aspiriert; sie gerinnt spontan;
4 Proz. Eiweiß. — Aus der Tiefe 20 g farbloser, hauchartig getrübter
Flüssigkeit entleert, die nicht gerinnt und nur Spuren Eiweiß enthält
(Liquor!). Puls steigt auf 80, Beschwerden gehen zurück.
12. Dez. Beschwerdefrei entlassen.
Aufenthalt II L 6.— 15. April 1904. Bis vor 3 Tagen gesund,
dann stellten sich die alten Beschwerden wieder ein und sind im An-
wachsen begriffen. Kopfschmerzen jetzt in der linken Kopfhälfte,
speziell im linken Hinterhaupt. Pat. kommt zur Punktion herein!
Befund : Mäßiges Schwanken beim Gehen, Augenhintergrund normal, kein
Fieber, Puls 70.
Punktion XI. Alte Stelle (neuer Kanal angelegt). 35 g der be-
kannten gelben Flüssigkeit entleert (nur so viel, wie von selbst abfließt).
Die Hirnpunktion. 867
Tiefe der Cyste zu 2«/^ cm bestimmt. Nach ihrer Passierung
Stückchen normaler Hiinsubstanz aspiriert
Beschwerden gehen zurück, sind nach 4 Tagen verschwunden.
Vorstellung auf dem Kongreß für innere Medizin,
Leipzig, 18.— 20. April 1904.
Aufenthalt IV. 26.-— 30. April. Da nach dem Kongreß wieder
alte Beschwerden.
26. April. Punktion XII. Durch den letzten Kanal entleert, was zu
aspirieren ist (3 6 g zeisiggelber, spontan gerinnender Flüssigkeit). Besse-
rung des Befindens. Auf Wunsch des Pat. Lumbalpunktion: Starker
Ueberdruck; 30 g Liquor entleert. Danach ist Pat. beschwerdefrei.
Als geheilt entlassen. (Seitdem völlig gesund.)
6. H. Maass, Böttcher, 54 Jahre, 19. März bis 2. Mai 1903.
Anamnese: Früher immer gesund. Vor 8 Wochen traten heftige
Kopfschmerzen auf, besonders nachts, die in den letzten 2 Wochen uner-
träglich wurden. Die Schmerzen beginnen in der Stirn und strahlen in
den Nacken aus, Pat. hat 4 gesunde Kinder, mehrere starben im jugend-
lichen Alter, keine Aborte der Frau; Infectio negatur.
Befund: Leichte Benommenheit. M. kann sich nur mit fremder
Hilfe aufrichten. Gang stark schwankend, M. iUUt nach rechts. Romberg
positiv; keine Lähmungen, Augenhintergrund normal. Puls klein, stark
verlangsamt 48 ! Kein Fieber, Urin frei. Es bestehen unerträgliche Kopf-
schmerzen. — Ord: Jodkali, Schmierkur.
Diagnose: Lues cerebri, jedoch zeitweise Verdacht auf Absceß.
22. März. Lumbalpunktion, normale Verhältnisse.
Punktion I und II. Beide Kleinhirnhemisphären.
Punktion III und IV. Beide Stimhimlappen.
Punktion V und VI. Beide Seitenventrikel.
Ergebnis aller 6 Punktionen negativ. Befinden nach den Punktionen
etwas besser; Schlafsucht, kein Fieber.
23. März. Abends Temperaturanstieg auf 39 <^; Puls 80, Kontraktur
des rechten Facialis. Verbandwechsel: Punktionsöfihungen ohne Be-
sonderheiten.
Lumbalpunktion wiederholt: Normale Verhältnisse.
Punktion VIL Linkes Facialiszentrum.
Punktion VIII. Linker Schläfenlappen.
Beide ohne Ergebnis.
Verdacht auf Hirnabsceß endgültig fallen gelassen.
In den nächsten Tagen gehen die Kopfschmerzen zurück, Pat. wird
klarer, Fieber verschwindet. Puls 70. In den letzten Tagen des März
noch einmal Verschlechterung, Puls 52! Kopfschmerzen, Benommenheit.
M. läßt unter sich, kein Fieber. Im April allmähliche Besserung. Kopf-
schmerzen verschwinden. Puls hebt sich auf 80. Pat wird völlig klar,
Gang zuerst noch unsicher, später normal. Starke Gewichtszunahme.
2. Mai. Geheilt entlassen.
Diagnose: Lues cerebri.
e. Karl Stark, Arbeiter, 42 Jahre, 14,-15. Mai 1903. f.
Pat. wird aus der Polizeiwache hereingebracht, wo er Krämpfe gehabt
haben soll. Anamnese fehlt.
Befund: Kräftiger Mann, leicht ikterisch, deliriert. Temperatur 39,4,
Puls 60. Nackenstarre und Nackenschmerzhafdgkeit. Pupillen different,
868 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
reagieren träge. Totale rechtsseitige Hemiplegie! Augenhintergrund nor-
mal. Lumbalpunktion: 816 mm Wasserdruck. Spinalflilssigkeit trübe,
enthält Eiter und Diplokokken.
Diagnose: Eiterige Meningitis.
15. Mai. Totale Benommenheit. Temperatur 40,2 <>. Puls 70! Lumbal-
punktion wie gestern. Da Verdacht auf linksseitigen Himabsceß:
Punktion I des linken Schläfenlappens.
Punktion II des linken Zentrallappens.
Punktion III des linken Kleinhirns.
Alle Punktionen ohne Ergebnis.
Pat. stirbt.
Diagnose: Meningitis purulenta, kein Absceß.
Sektionsdiagnose: Diffuse eiterige Meningitis im Anschluß an
alte Otitis media dextra. Trübe Schwellung der parenchymatösen Organe,
Lungenödem etc.
Aus dem Sektionsprotokoll: Die Stellen der Himpunktion
«ind nicht mehr aufzufinden.
7. Frau A. Brandt, 29 Jahre, 8. Juni bis 26. Juli.
Anamnese: Als junges Mädchen öfters Kopfschmerzen. Oktober
1902 Partus, seitdem allmählich mit Nackenschmerzen erkrankt. Ende
April fiel dem Mann zunehmende Apathie und unsicherer Gang auf, dann
«teilte sich öfters Erbrechen ein und völlige Appetitlosigkeit; Frau B.
wurde dauernd bettlägerig.
Befund: Pat. macht dementen Eindruck, antwortet auf Fragen erst
nach langem Besinnen mit lauter Stimme. Beim Versuch zu gehen knickt
sie in den Knieen ein und fällt nach hinten und rechts. Der Kopf sinkt in
aufrechter Haltung nach rechts und hinten. Pupillen reagieren träge,
rechte Pupille weiter als die linke. Deviation conjuguee nach rechts.
Doppelseitige Stauungspapille. Druckpuls (40), kein Fieber.
Diagnose: Kleinhirn- oder Stirnhirntumor.
12. Juni. Punktion beider Stimlappen und Kleinhirnhemisphären
ohne Ergebnis. Schließlich Punktion des linken Seitenventrikels (entleert
«twas Liquor).
Diagnose nach der Punktion: Vermutlich kein Kleinhirn- oder
Stirnhirntumor. — In der folgenden Zeit nimmt die Apathie zu. Pat. läßt
dauernd unter sich, ab und zu Erbrechen, kaum merkliche Parese des
linken Facialis und der rechten Extremitäten (?). Pat. hebt öfters den linken
Arm hoch und hält ihn einige Zeit von sich gestreckt.
29. Juni. Schlucken unmöglich, Fütterung mit der Sonde.
Vom 13. Juli an Temperaturanstieg, der nach einigen Tagen 40^ er-
reicht. Puls kaum zählbar, über 160.
Exitus am 20. Juli.
Sektionsdiagnose: Apfelgroßes Endotheliom der Dura im Bereich
der rechten motorischen Region.
Aus dem Sektionsprotokoll: Nach Abnahme des Schädeldaches
fällt sofort etwa im Bereich der rechten motorischen Region eine zwei-
markstückgroße Delle der Dura auf, in die man bequem den Daumenballen
legen kann. An der Innenseite des Schädeldaches, genau in die Delle
hineinpassend, eine flache, hügelartige Exostose der^Lamina interna! So-
fort wird durch die Dura hindurch mit einer Punktions-
spritze Substanz aspiriert. In dem schmutzig grau gelben
Brei, der herausbefördert wird, finden sich mikrosko-
Die Himpunktion. 869
pische Nester von großen Spindelzellen; danach Diagnose
Spindelzellensarkom. — Sämtliche Punktionsstellen ohne Zeichen
von Entzündung. Bohrlöcher durch graurötliche Massen verschlossen.
Beim Abziehen der Dura haftet diese im Bereich der Delle fest der
darunterliegenden Substanz an. Diese Substanz ist Tumormasse von grau-
roter Farbe. Der Tumor, konsistenter als die umliegende Hirnsubstanz
und scharf von ihr abzugrenzen, etwa halbkugelig (Basis an der Hirn-
oberfläche) mit einem Durchmesser von etwa 7 cm schiebt sich im Bereich
der unteren und mittleren motorischen Region, die Gjri auseinander-
drängend, etwa im Bereich des Sulc. praecentralis in die Himsubstanz ein ;
an der Oberfläche etwas über sie prominierend und mit seinem oberen
Rand noch 2 Finger breit vom Sulc. medianus entfernt. £r läßt sich
leicht aus dem Oehim herausschälen und erscheint von der Größe eines
mäßigen Apfels (reicht 4 cm in die Tiefe).
8. Fräulein A. Jaeckel, 65 Jahre, 2.— 31. Juli 1903. f.
Anamnese (von der Schwester erhoben):
Fat früher kräftig, bis vor 2 Jahren gesund. April 1901 mit Schwindel-
anftllen, Kopfschmerzen und häufigem Erbrechen erkrankt. Krämpfe oder
Lähmungen fehlten. Die Schwindelanflllle dauerten nur einen Augenblick,
sie selbst wußte nichts davon, auffiel der schleppende Gung, eine gewisse
Steifheit des Kopfes, die Veränderung ihres Wesens, Verschlossenheit
Später Zurückgehen der Erscheinungen, speziell des Erbrechens. 5. März
bis 5. April 1902 im Stadtkrankenhaus zu Stettin. Sie gab hier an, eines
Morgens plötzlich blind gewesen zu sein, femer Schwindel, Erbrechen und
Doppeltsehen gehabt zu haben. Damaliger Befund : geringe EinschränkuDg
des Gesichtsfeldes, geringe Anästhesien.
Diagnose: Hysterie.
Behandlung: Hydriatisch. Besserung, speziell des Ganges und
der SchwindelanfkUe. Psychisch unverändert. Später in verschiedenen
Anstalten; trotzdem Verschlechterung.
23. Juni 1903 fiel sie plötzlich morgens beim Aufstehen hin und
schlug mit der linken Kopfhälfte gegen die Bettkante. Ins Bett zurück-
gebracht^ liegt sie seitdem apathisch da, ist sehr vergeßlich, kann nicht
gehen oder stehen, läßt unter sich, schläft viel. Erbrechen fehlt. Aus-
fluß (?) aus der Nase, der vorhanden war, hat in letzter Zeit aufgehört.
Befund: Fat liegt apathisch im Bett, beantwortet Fragen sehr
zögernd, langsam und unvollständig. Hört mitten im Satz auf zu sprechen.
Gesichtsausdruck starr, keine Lähmungen oder Zuckungen, kein Fieber,
Augenhintergrund normal, Patellarreflexe gesteigert. Auf die Beine gestellt,
bricht sie sofort zusammen. Gut gestützt, geht sie wenige Schritte, f^llt
dabei nach rechts hinten. Sie muß geftLttert werden, ißt spontan überhaupt
nicht. Läßt unter sich. Ob Kopfschmerzen vorhanden, nicht festzustellen.
Ernährungszustand leidlich, innere Organe gesund.
Lumbalpunktion: 816 mm Wasserdruck, klare Flüssigkeit.
Diagnose: Verdacht auf Stirnhimtumor.
7. Juli. Puls dauernd zwischen 80-- 100. Erbrechen fehlt. Kopf-
schmerzen anscheinend vorhanden.
Pupillen reagieren träge. Schädel gegen Beklopfen unempfindlich.
Während der Untersuchung dreht sich plötzlich das rechte Auge
nach außen, die rechte Pupille wird weit, das rechte Lid
sinkt herab! Dies Phänomen geht schnell vorüber, wiederholt sich
später noch mehrmals.
MltMl. ». d. OranigeUcten d. Uedida n. Chlraivl«. Xm. Bd. 56
870 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
8. Juli. Punktion I. Linker Stimlappen, normale Himsubstanz und
etwas Blut aspiriert.
Punktion ü. Rechter Stimlappen. In 4 cm Tiefe entleert sieh etwas
blutiger Liquor. Nach der Punktion Erbrechen und eigentümliche rhyth-
mische Kaubewegungen nebst Oeldzfthlbewegung der rechten Hand. In
den nächsten Tagen zeitweise benommen, zeitweise klar. Appetit gut
Kein Fieber, Puls um 96. Mehrmals Erbrechen.
Diagnose S tirnhirntnmor fallen gelassen.
24. JulL Punktion ITL Linke motorische Region. Ziemlich oberfläch-
lich werden 65 g klaren Liquors entleert.
Punktion IV und V. Beide Kleinhimhemisphftren.
Beide Male oberflächlich Liquor entleert, ca. 80 g entfernt. Leichte
Temperatursteigerungen (38,1 ^).
27. Juli. Punktion VI des rechten Stirnlappens. Girka 50 g leicht
blutigen Liquors entleert.
Punktion VIT. Rechte motorische Region, 15 g Liquor und eine
Spur Blut entleert.
29. Juli. Exitus unter leichter Temperatursteigerung.
Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf Grund der Himpunktion:
Hydrocephalus chronicus (resp. Meningitis serosa).
Sektionsdiagnose: Hochgradiger Hydrocephalus internus und
extemus.
Aus dem Sektionsprotokoll: Bohrlöcher und Kanäle ohne Be-
sonderheiten. Im Bereich des linken Stimlappens subdural etwas halb-
flüssiges Blut .... in der rechten hinteren Schädelgrube etwa 2 Teelöffel
voll geronnenes Blut .... im linken Seiten Ventrikel ein etwa 3 cm langes
und Y, cm dickes Blutgerinnsel .... im weilten Marklager nach aufien
vom linken Seitenventrikel ein haselnuEgroßes Blutgerinnsel ....
0. E. Lemcke, Schuhmacher. 9. Juli 1903 bis 12. Juli 1903 (f).
Anamnese unbekannt. Soll gefallen sein; dies ist aber nicht sicher.
Soll beim Transport doppelseitigen Krampfanfall gehabt haben.
Befund: Mann in mittleren Jahren. Handbreit ttber dem Ansatz
der linken Ohrmuschel Oedem und Schwellung der Haut nebst striemen-
artiger Abschürfung. Täuschendes Gefühl einer Knochendepression. Pat.
ist sehr benommen, macht zitternde Bewegungen mit dem linken Arm,
läßt unter sich, schluckt aber. Kein Fieber. Puls 90. Rechtsseitige
spastische Hemiparese. Rechter Facialis gelähmt, rechter Arm in Beuge*
kontraktur. Rechtsseitige Hemianästhesie. Rechter Patellarreflex erhöht.
Babinsky rechts deutlich positiv. Sprachstörung. Nystagmus. Herz-
arhythmio.
Bei Druck auf die ödematöse Stelle in der linken Scheitelgegend hat
Pat. offenbar Schmerzen und zuckt mit der linken Gesichtshälfte.
Diagnose: Verdacht auf linksseitige Meningeablutung.
10. Juli. Pat. ist klarer. Keine Hirndruckerscheinungen. Fieber! Puls
gegen 100.
11. Juli. Lumbalpunktion: Ueberdruck. Blutig tingierter! Liquor
entieert Augenhintergrund normal.
Abends: Allgemeine Unruhe. Fieber. Frequenter Puls. Eigentüm-
liche Streckbewegungen der linken Extremitäten.
12. JulL Kein Fieber. Benommenheit hat zugenommen. Puls 60!
Verlangsamte, tiefe Atmung. Pupillen weit, reagieren kaum.
Wegen der zunehmenden Druckerscheinungen: Himpunktion.
Die HimpunktioD. 871
'^^ Punktion I. Links, vorderer KRöNiiBiKScher Punkt. Ergebnis: nichts.
Punktion IL In der Mitte der ödematösen Hautpartie (s. oben).
Sofort nach Abnahme der Spritze tropft braune Flüssigkeit aus der Nadel
heraus. Beim Ansaugen wird reichlich dunkelschwarzbraune, blutige
Flüssigkeit entleert, in der schwarze GFerinnsel schwimmen. Auch etwas
zertrümmerte Himmasse aspiriert.
Der Puls steigt gleich nach der Punktion von 60 auf 841, Pupillen
verengen sich; der Eoi\junktivalreflez erscheint wieder.
Diagnose: Extraduraler resp. extraduraler -|- intraduraler Blut-
erguß. Himzertrtimmerung. Y, Stunde später Operation (Dr. Wkbbr).
Bildung eines WAONEBSchen Lappens im Bereich des hinteren Krön-
LBiNSchen Punktes. Nach Aufklappen des Lappens findet sich der Rest
eines extraduralen Extravasates, stark eingedrückte Diu'a! Nach Eröff-
nung der Dura vom sichtbaren Punktionsschlitz aus entleert sich altes
teils flüssiges, teils geronnenes Blut Hirnsubstanz erscheint gequetscht.
Aestchen der Meningea, das durchs Operationsfeld zieht, wird unterbunden.
Vemähung der Dura. Zurückklappung des Lappens etc. Der Puls hebt
sich nach der Operation. Pat. stirbt nach einigen Stunden im Coma.
Sektionsdiagnose: Extra- und intradurales Hämatom. Ausge-
dehnte Hirnzertrümmerung im Bereich der unteren motorischen Region
und des Schläfenlappens, sowie der Spitze des rechten Stimlappens durch
Contrecoup. Ausgebreiteter Bluterguß der Schädelweichteile im Bereich
der linken Schläfen- resp. Scheitelgegend. Intakter Schädel.
Aus dem Sektionsprotokoll: Nach Abheben des WAQNBRSchen
Lappens findet sich keine (extradurale) Nachblutung. Dura erscheint hier
stark eingedrückt und hier und da noch mit Spuren geronnenen Bluts
belegt Nach Spaltung der Dura strömt reichlich altes, schwärzlich-rotes
Blut hervor. Das Gehirn ist hier völlig zertrümmert und weist eine klein-
apfelgroße Höhle auf, die von geronnenem Blut ausgefüllt ist . . . An der
Basis findet sich nah der Spitze des rechten Stimlappens eine ausgedehnte
Zertrümmerung des Oehims; Himsubstanz mit Gruormassen gemischt
10. C. Krause, Schuhmacher. Alter unbekannt. 14. Juli 1903 bis
16. Juli 1903 (t).
Anamnese: Früher inmier gesund. Seit 4 Wochen mit Husten,
Auswurf, Bruststichen erkrankt. Seit 2 Tagen ist er völlig unklar.
Befund: Völlige Benommenheit. Kraftloser Husten, rubiginöses
Sputum, Lähmung des rechten Facialis, Schwäche des rechten Arms.
Puls 110, unregelmäßig. Temperatur leicht erhöht. Rechte Pupille weiter
als die linke, etwas verzogen. Augenhintergrund normal. Urin frei von
Eiweiß und Zucker. Hinten links unten Dämpfung und Knisterrasseln.
Diagnose: Coma. Pneumonie. Himpunktion an 3 Stellen des
linken Gyr. praecentralis ; ohne Ergebnis.
Pat stirbt unter zunehmendem Coma.
Sektionsdiagnose: Magencarcinom Lymphangitis carcinomatos.
pleurae. Hypostat Pneumonie.
Aus dem Sektionsprotokoll: Punktionskanäle ohne Besonder-
heiten. Punktionsstellen der Dura wie beabsichtigt 1 cm hinter dem vor-
deren Ast der Meningea media. Ein Stich hat eine oberflächlicho Him-
vene getroffen. Hier findet sich ein halberbsengroßes Blutgerinnsel. Der
Stichkanal ist hier in der Gehirnsubstanz durch einen schwärzlichen
Strich angedeutet, der durch ein fadenförmiges, ganz feines Blutgerinnsel
gebildet wird . . .
56*
872 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
U. A. üeck, Blechschmied. 40 Jahre. 9. Sept. 1903 bis 18. Okt 1903.
Anamnese (von der Frau erhoben). Früher gesund. Vor 6 Jahren
Kopftrauma (Stück Roheisen fiel ihm auf den Kopf). Er arbeitete weiter.
Vor 6 — 6 Jahren Schwindelanfall, bei dem er das Bewußtsein verlor.
Kam erst nach einiger Zeit zu sich. Ferner litt er früher öfters an
Nasenbluten und Schwindelgefühl. Erbrechen fehlte stets. Im ganzen
war Ueck in der letzten Zeit gesund; ab und zu klagte er über Kopf-
schmerzen. Für Lues kein Anhaltspunkt.
Heute Vormittag fiel er bei der Arbeit plötzlich um, sah blauschwarz
im Gesicht aus, biß sich auf die Zunge und zuckte mit den Gliedern.
Daumen waren eingeschlagen. Beim Fallen verletzte er sich hinten am
Kopf. Seitdem ist er benommen, gibt keine Antwort, fkhrt mit den
Armen in der Luft herum.
Befund: Ueck ist total benommen, sehr erregt Spricht wirres Zeug.
Macht ausfahrende Bewegungen mit den Armen und Abwehrbewegungen,
wenn man ihn anfaßt. Hält man ihn fest, so ruft und brüllt er laut,
schimpft und flucht.
In der linken Hinterhauptsgegend eine 4 cm lange Bißwunde. Tem-
peratur kaum zu messen, aber über 39,5 ^, Puls gegen 100. Milzdämpfung
vergrößert Lippen trocken, rissig, Zunge trocken, belegt. Etwas frisches
Blut im Munde. Erbrechen! wässeriger Flüssigkeit
Diagnose: Initialdelirium bei Typhus (?).
10., 11. Sept. Fieber verschwunden. Pat ist klarer. Klagt über
starke Kopfschmerzen. Puls 72.
13. Sept. Temperatur 37,6. Puls geht auf 60! herunter. Ueck ist
sehr still, leicht stuporös, Gesichtsausdruck leidend. Starker Stirn- und
Hinterkopfschmerz. Bei Beklopfen ist die Hinterhauptsgegend sehr schmerz-
haft; weniger, aber deutlich die Stimgegend Hyperästhesie der Stirn-
gegend gegen Nadelstiche. Zeitweise Zuckungen im rechten Facialis.
Beim Umhergehen fühlt er „Dröhnen'^ im Kopf. Er hält sich den Kopf mit
beiden Händen ; taumelt. Antworten gibt er einsilbig, mit klagender Stimme.
Pupillen mittelweit, reagieren.
Augenhintergrund: Hyperämie der Netzhaut; Grenzen der rechten
Papille leicht verwaschen. Gesichtsfeld frei. Kein Nystagmus. Ohren
ohne Besonderheiten.
Ord.: Schmierkur. Jodkali.
In den nächsten Tagen : Abendliche Temperatursteigerungon bis 38 ® ;
verbunden mit Senkung der Pulsfrequenz bis zu 60 Schlägen! in der
Minute. Heftigste Kopfschmerzen, besonders in der rechten Schläfen-
gegend. Stärkster Klopfschmerz dicht über der rechten Ohrmuschel.
Keine eigentliche Stauungspapille.
17. Sept Lumbalpunktion: 470! mm H,0-Druck. Farblose Flüssig-
keit, klar. Bildet kein GerinnseL
Wegen Verdacht auf Hirnabsceß:
Punktion I. B. Schläfenlappen (Stelle des heftigsten Klopfschmerzes).
Punktion IE. R motorische Region (Stelle des heftigsten Klopüschmerzes).
Punktion IIL R. Stirnlappen.
Bei allen 3 Punktionen oberflächlich nach Durchstechung der Dura
reichlich zitronengelbe klare Flüssigkeit entleert. Die-
selbe enthält reichlich Erythrocyten, bleibt selbst nach langem Zentri-
fugieren gelb gefärbt und gerinnt nicht Eiter nirgends gefunden.
Diagnose: Kein Absceßl — hämorrhagisches Menin-
gealödem.
Die Hirnpanktion. 873
Beschwerden gehen nach derEntleerungderFlüssigkeit
auffallend zurück, üeck ist unruhig, reißt sich den Verband ab.
18. Sept. Lumbalpunktion : 340 mm Wasserdruck. Farblose Flüssig-
keit wie oben.
19.— 24. Sept Fat. entfiebert ly tisch. Puls hebt sich von 50 all-
mählich auf 80 Schläge. Fat ist klar. Kopfschmerzen gering.
27. Sept. Puls 90. Kein Fieber. Allgemeinbefinden sehr gut. Ge-
ringe Kopfschmerzen. Kein Klopfschmerz mehr.
Anfang Oktober. Völlig beschwerdefrei. Augenhintergrund normal.
Körpergewicht hebt sich.
18. Okt. Nach vollendeter Sohmierkur geheilt entlassen.
Diagnose: Lues cerebri (Meningealödem ! ?)
12. Frau A. BüoheL (Unvollständig!) Gerichtsdienerfrau. 38 Jahr.
17. Aug. 1903 bis 23. Aug. 1903.
Anamnese: Früher gesund. Vom Gatten mit Lues infiziert. Mehr-
fache Schmierkur. Geschwürsbildung an den Beinen, die strahlige Narben
zurückließen.
Im vorigen Jahr hatte sie „hohen Leib", der bei Berührung schmerzte.
Arzt diagnostizierte Leberschwellung. Nach '/^ Jahren hob sich das Leiden.
Februar 1903 nächtlicher Anfall. Bewußtsein verloren. Kehrte erst
nach Stunden wieder. Mund war nach links verzogen. Linke Seite war
gelähmt! Lähmung ging nach einigen Tagen zurück.
4 Wochen später: Krampfanfall; Zuckungen in der linken Hand und
Gesichtshälfte. Aehnliche Anflllle zuerst alle 2 Wochen, dann wöchent-
lich einmal, später alle 2 Tage. In der letzten Woche täglich Zuckungen.
Bewußtsein während der AnfUlle zeitweise getrübt. Einmal Verletzung
am Ohr im Anfall.
Kopfschmerzen waren vorhanden. Erbrechen fehlte.
Arzt verordnete Jodkali, wonach die Anfalle noch zunahmen.
Befund: Schwächliche Frau. Leidender Gesichtsausdruck. Augen-
hintergrund normal. Gesichtsfeld frei. Keine Lähmungen. Kein Fieber.
Am linken Unterschenkel große strahlige Narben. (Lues?!) Moto-
rische Kraft beiderseits gleich. Sensibilität scheint links um ein weniges
herabgesetzt
Verlauf: AnftlUe hier nicht zu beobachten! (während sie vorher
täglich vorhanden gewesen sein sollen). Fat. liegt zu Bett, stöhnt über
starke Kopfschmerzen (besonders nachts!). Klopfschmerz im Bereich des
ganzen Schädels. Kein Druckpuls. Kein Erbrechen.
Ord.: Schmierkur. Jodipin.
Diagnose: Lues; oder Hysterie; ev. auch Tumor cerebri.
20. Juli. Himpunktion an den auf Klopfen empfindlichsten Stellen.
Punktion L B. Schläfenlappen.
Punktion II. R. Stirnhim.
Ergebnis: Etwas normale Himsubstanz, sonst nichts.
21. Juli. Kopfschmerzen heftiger. Lautes Schreien nachts.
23. Juli. Pat. wird gegen den Willen der Aerzte von ihrem Mann
herausgenommen! Punktionsstellen ohne jede Reaktion.
Spätere Schicksale:
Oktober 1903 im Krankenhaus Bethanien verstorben.
Sektionsbefund: Walnusgroßes Gumma der Hirnrinde im rechten
Parietallappen neben dem Sulc. centralis; mit der Dura verwachsen.
Lebergummata. Luetische Endoaortitis etc.
874 Ernst Neisser und Kart Pollack,
18. 0. Handt, Arbeiter, 25 Jahr, 9. Okt 1903 bis Mitte Nov. 1903.
Anamnese: H. kommt zu Faß ins Krankenhaas. Oibt an, früher
immer gesund gewesen zu sein. Am 2. Oktober sei er beim Läufer-
legen aasgeglitten and mit der rechten Seite des Hinterkopfes auf den
harten Parkettfaßboden aufgeschlagen. Er empfand dabei einen intensiven
Schmerz im Hinterhaupt, mußte nach Hause gehen, legte sich gleich zu
Bett, wo er 4 Tage und 4 Nächte angeblich ohne Schlaf zubrachte. Es
qu<en ihn heftige Kopfschmerzen, die in den letzten Tagen noch
zunahmen. Sonst kann er nichts angeben.
Später erfuhren wir vom Vater folgendes: "EL hat immer viel ge-
truDken, öfters reinen Spiritus; war oft betrunken. Am 2. Okt mittags
sei H etwas benommen gewesen ; er (der Vater) habe das für Betrunken-
heit gehalten. In einer der nächsten Nächte war H. sehr unruhig; dies
habe er auf ein beginnendes Delirium bezogen. Am 9. Okt. früh habe
Schaum vor dem Munde gestanden. Der Vater sorgte dann für sofortige
Ueberfdhrung ins Krankenhaus. Von Krämpfen wußte weder Vater noch
Sohn etwas zu berichten.
Beschwerden des H. zur Zeit der Aufnahme: Heftige Kopfschmerzen
und Schlaflosigkeit.
Befund: Sehr kräftiger junger Mann. Temperatur 38,2, Puls 85.
Am Kopf viele alte Narben; keine frische Verletzung. Sensorium frei,
zeitweise anscheinend leicht getrübt. Die Augen starren ins Leere, nur
wenn man H. anruft, sieht er einen an. Kopf und Augen sind beständig
nach rechts gedreht. Doppeltsehen bei bestimmten Augenstellungen.
Linker Arm in halbgebeugte Stellung gehalten (Zwangshaltung). H. ge-
braucht nur den rechten Arm! Linker Facialis völlig gelähmt
Die herausgestreckte Zunge weicht nach links ab. Gaumensegel nur
rechts innerviert. Pupillen reagieren. Speichelfluß.
Augenhintergrund normal.
Linksseitige geringe Hemianästhesie.
Bauchdecken-, Cremaster-, Kniescheiben-Reflex rechts deutlich, links
fehlend. Beim Gehen taumelt H. deutlich, stößt an die Gegenstände an.
Heftiger Schmerz bei Beklopfen der rechten Parietofrontalgegend.
Während der Untersuchung ca. 4 Krampfanfälle im
linken Pacialis von 5 — SO Sekunden Dauer; verbunden mit Cyanose und
leichter Bewußtseinstrübung. Einmal auch (auf der Höhe des Anfalls)
Zuckungen in der linken Hand.
Gegen Abend häufen sich ähnliche AnfUle (ca. 12 in l^s Stunden).
Auf 1 g Chloral ruhiger Schlaf von mehreren Stunden.
10. Okt. Puls 80. Temperatur 38,4 <>.
Verschlechterung. Pat. ist unklar, unorientiert ; glaubt bei sich zu
Hause zu sein. Ruft nach seinen Angehörigen. Witzelt zeitweise. Setzt
allen Vornahmen heftigen Widerstand entgegen ; schimpft:, schlägt um sich.
Mehrmals treten die erwähnten Anfälle auf. Benommenheit nimmt zu.
12 Uhr mittags: Hirnpunktion (rechtes Facialiszentrum) ; ober-
flächlich entleeren sich reichlich dunkelbraune, schoko-
ladenfarbige, dünnflüssige Massen, in denen festere schwärz-
l[iche Gerinnsel schwimmen (offenbar altes Blut).
Diagnose: Großes intrakranielles Hämatom. Häufung
der AnfiLlle!
1 Uhr: Operation (Prof. Häckbl).
Bildung eines 5-Markstückgroßen WAGNBRSchen Lappens im Bereich
der Punktionsstelle. (Auffallend dicker! Schädel) Dura pulsiert kaum.
Die Hirnpunktion. 875
Es schisunert bläulich dorch. Nach Eröfinuog der Dura und Zurück-
schlagen derselben sieht man ein anscheinend über handtellergroßes, dem
Hirn kalottenförmig aufsitzendes, ziemlich dickes Blutgerinnsel. Entfernung
der Cruormassen mittels scharfen Löffels. Hirn intakt. Verletztes OeSiß
nicht zu finden. Pulsation stellt sich allmählich wieder her.
Naht der Dura etc. etc.
Puls nach der Operation schlecht. Starker Blutverlust.
Abends: H; ist besinnungslos. Zuckungen in beiden Faciales. Tem-
peratur 380. PqIb 108. Kein Erbrechen.
11. Okt. Unaufhörliche Krämpfe im linken Facialis, aber auch im
linken Arm und Bein. Zunge geschwollen, blutet aus Bißwunden. H. ist
benommen; muß zeitweise gehalten werden. Temperatur und Puls un-
verändert.
12. Okt. Kein Fieber. Pat. ist ziemlich klar, gibt Antwort
Keine Krämpfe. Kopf nach rechts gedi*eht.
Abends: Fieber, Zuckungen im linken Facialis; L&hmung der linken
Extremitäten, Sensorium getrübt. Ab und zu Zuckungen im linken Arm
und Bein. Salivation.
13.— 16. Okt Status idem.
16. Okt. Kein Fieber, keine Krämpfe, keine Salivation, kein Kopf-
schmerz. Linke Extremitäten normal beweglich. Wunde reaktionslos.
18. Okt. Bis auf Parese im linken Facialis nichts mehr festzustellen.
Pat steht ohne Erlaubnis auf.
20. Okt. Nach Vernehmung durch einen Polizisten ist H. erregt,
klagt über Kopfschmerzen. Es werden Streckkrämpfe aller 4 Extremitäten
beobachtet, die ganz verschieden von den früheren Krämpfen und offenbar
als hysterische aufzufassen sind (arc de cercle angedeutet, Verdrehen
der Augen). Leichte Temperatursteigerung. Anfklle nur in Gegenwart
der Aerzte!
23. Okt Da Pat nachts aufsteht, die übrigen stört, Isolierung.
In der nächsten Zeit steht er zunächst noch öfters nachts auf, irrt
umher. Bei Tage ist er völlig verständig. Objektiv nichts mehr nach-
zuweisen. Wunde heilt allmählich. Dauernde Fieberlosigkeit. Nächtliche
„AnfUle^* verschwinden.
Mitte November 1903 völlig geheilt entlassen. Noch heute
völlig gesund.
14. Frau A. Pahnke, 60-jähr. Kaufinannsfrau. 29. Okt bis Anfang
Dezember 1808.
Anamnese (von einer Verwandten erhoben): Früher immer gesund.
Keine Kinder. Keine Aborte. Seit einem Jahr Klagen über aufsteigende
Hitze, Kopfschmerzen, Mattigkeit, großen Durst. Ist sehr „nervös^.
Seit ^/j Jahr redet sie wirres Zeug, schreit plötzlich auf, klagt über
blitzartige Schmerzen. Vor einigen Wochen plötzlich ganz unmotivierte
Verlobung mit vorher unbekanntem Herrn.
Seit 4 Wochen bettlägerig. Seit 8 Tagen sehr unruhig. Seit 6 Tagen
ganz unsicherer Qang. Sie ißt nicht mehr spontan, muß gefüttert werden.
Ist gegen alles völlig gleichgültig.
Befund: Gutgenährte, ruhige apathisch daliegende Frau. Sie ver-
steht jede Aufforderung, kommt jedem Befehl exakt nach. Auf Fragen
antwortet sie erst nach längerer Zeit, aber verständig. Muß sich häufig
erst auf Ausdrücke besinnen. Manche Fragen wiederholt sie. Vorge-
haltene Oegenstände erkennt sie. Greift sich öfters mit der linken Hand
876 Ernst Neisser und Kart Pollack,
nach dem Kopf. Ab und zu dementes Lachen. Einfache Kopfrechnungen
löst sie richtig, aber langsam. Starke Störung der Merkfähigkeit. Plötz-
liche schmerzhafte Verziehungen des Oesichts, infolge blitzartiger Schmerzen
an den verschiedensten Körperstellen. Es besteht eine Art Akinesia algera.
Ißt nicht spontan, muß gefüttert werden.
Händedruck kräftig. Gaumensegel beiderseits gleio^ stark innerviert.
Beide Arme längere Zeit hochgehalten, ebenso rechtes Bein, das linke
f^Ut gleich wieder herunter. Hypotonie der Beinmuskulatur.
Gang schwankend, Fallen nach rechts. Komberg.
Allgemeine Hauthjrperästhesie. Klopfschmerz der linken Vorder-
hauptsgegend. Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen des Kopfes
(speziell bei Beugen des Kinnes gegen die Brust).
Patellarreflez gesteigert. Pseudoklonus. Pupillen reagieren prompt
Augenhintergrund: Doppelseitige NeuritiB optica mäßigen Grades.
Fieber, Erbrechen fehlt. Puls 96, klein. Herztöne leise rein. Urin
frei. Gegen 8 1 täglich !
Ueber handflächengroße, strahlige Hautnarbe unten innen am rechten
Oberschenkel.
Lumbalpunktion : 408 ! mm Wasserdruck. E^are Flüssigkeit, kein Gre-
rinnsel.
Subjektive Beschwerden: Kopfschmerzen, blitzartige Schmerzen im
Körper, Gedächtnisschwäche.
Diagnose: Verdacht auf Kleinhirn- oder Stirnhirntumor.
Femer auch auf Lues cerebri.
Ord. Schmierkur. Jodkali.
SL Okt. 1908. Punktion I r. £^einhirn — normale Himsubstanz.
Punktion II ]. Kleinhirn — normale Himsubstanz und etwas Liquor cerebro-
spinalis.
4. Nov. 1908. Pat. läßt unter sich! Allgemeinzustand eher besser als
schlechter. Sensorium freier.
Punkt in 1. Stimhim. Einige Tropfen Liquors, sonst nichts. Punkt IV
r. Stimhim. Einige Tropfen Liquors, sonst nichts.
In der nächsten Zeit bessert sich das Befinden wesentlich. Apathie
schwindet, das Sensorium wird frei, der Gang normal. Selten Schmerzen
in der Brust.
Auffällt der starke Durst; 4600 ccm Urin in 24 Stunden.
Nach 6-wöchentlicher Schmierkur: alle objektiven und subjektiven
Störungen sind verschwunden. Bis auf Polyurie und leichte Abnormität (?)
im Wesen („komische Alte").
Geheilt entlassen.
Diagnose: Lues cerebri.
15. K. Kielgas, Arbeiter, 49 Jahre. 10—13. Nov. 1903 (f). K. wird
ohne Anamnese eingeliefert. Antwortet auf Befragen nur: es tue ihm
alles weh. (Wie wir später hörten, wegen Delir. trem. schon öfters im
Krankenhause gewesen.)
Befund: Pat. ist ziemlich benommen. Arbeitet mit dem rechten Arm
herum, der linke liegt still da.
Luxatio subcoracoidea sinistra. Sugillationen in der rechten Knie-
gegend.
Am Kopf keinerlei Verletzung; viele alte Narben. Parese (?) des
linken Facialis.
Die Hirnpunktion. 877
Temperatur 36^, Puls 110. Urin frei von pathologischen Bestand-
teilen. Lungen, Herz etc. gesund. Pupillen reagieren.
1 1. Nov. Benommenheit größer. Pat. stöhnt, schluckt leidlich, rasselt
etwas.
Temperatur 37,6, Puls 110, kräftig.
12. Nov. Benonunenheit hat zugenommen.
Mit Rücksicht auf die entfernte Möglichkeit einer Blutung aus
derMeningea oder einer größeren pachymeningitischen Blutung
wird die Himpunktion vorgenommen:
Punktion I 1. vord. ERÖNLBiNScher Punkt, ohne Ergebnis. Punktion
II r. vorderer ERÖHLBiNscher Punkt.
Gktnz oberflächlich ohokoladenfarbige Flüssigkeit entleert, in der braune
Flocken schwimmen (offenbar altes Blut). So 100 com entleert.
Diagnose: Durale Blutung.
Nach der Punktion ist Pat viel klarer, Temperatur 35^, Puls 92;
Pat. erholt sich offenbar (daher von Operation Abstand genommen).
13. Nov. Früh Temperatur 38,1, Puls 112—120. 9 Uhr vormittags:
Pat. ist plötzlich total benommen, rasselt; 11 Uhr: Puls fadenförmig,
Lungenödem. Da Operation nicht mehr möglich:
Punktion m durch den gestern angelegten Kanal (II): fördert etwas
frisches Blut zu Tage, daher sofort unterbrochen.
Einige Stunden später: Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Pachymeningitis haemorrhagica interna dextra
mit großem subduralem Bluterguß und ausgedehnter Depression der rechten
Hemisphäre. (Leptomeningitis chronica sinistra, Lungenödem, Herzdilatation,
Fettleber etc.).
Aus dem Sektionsprotokoll: Rechter Muse, temporalis mit
etwas frischem Blut durchsetzt (von der Punktion). Bohrkanäle ohne Be-
sonderheiten . . . Schädeldach völlig intakt.
Die Dura der rechten Hemisphäre ist zusammengefallen, in Falten ge-
legt, gibt das Oeföhl der Fluktuation. Beim Abziehen der Dura fließt
rechterseits dunkles flüssiges Blut zwischen Hirn und Dura hervor.
Auf der Unterfläche der harten Hirnhaut sieht man, soweit sie der
rechten Hemisphäre aufgesessen hat, schwarzrote Cruormassen zum Teil
auch mehr flüssiges Blut, überzogen und abgekapselt durch eine glatte,
durchsichtige, spinnwebene Pseudomembran. Letztere ist zusammengesunken
und hat offenbar noch viel mehr Blut vorher beherbergt (das zum Teil
bei der Sektion abgeflossen, zum Teil bei der Punktion entfernt war).
Die rechte Hemisphäre ist total platt gedrückt, Gyri und Sulci sind
verstrichen; die Oberfläche ist nicht konvex, sondern plan! . . . Himsub-
stanz, Schädelbasis völlig intakt.
. . . Pia im Bereich der linken Punktionsstelle leicht blutig suf-
fundiert . . .
le. A. Weber, Töpfer, 51 Jahre 13.— 16. Nov. 1903 (f).
Anamnese (von seiner Frau erhoben) : Früher gesund, heute Nacht
Schlaganfall. Lähmung der rechten Seite und Sprachstörung.
Befund: Benommenheit. Rechtsseitige Hemiplegie, Aphasie, Lähmung
des rechten Facialis und Hjrpoglossus. Kein Fieber. Puls 56! Leicht
arhythmisch.
Hochgradige Arteriosklerose; 2. Aortenton klappt, Urin frei.
Diagnose: Apoplexia sanguinea sinistra.
878 Ernst Neisser und Kurt Pol lack,
14.— 15. Nov. Temperatur steigt auf 38,2, Puls sinkt auf 44 Schläge,
ist sehr gespannt, Benommenheit nimmt zu.
16. Nov. Zeichen des progredient zunehmenden Himdruckes (Puls 40,
Atmung verlangsamt, Bewußtlosigkeit etc.).
Daher: Therapeutische Punktion (I) der 1. Hemisphäre (etwas
nach hinten und oben vom Schnittpunkt der Fissura Sylvii und Sulc. Bo-
landi): In geringer Hirntiefe anscheinend frisches Blut aspiriert; Punktion
sofort unterbrochen.
Nach der Punktion: Weitere Verlangsamung des Pulses. Sopor geht
in Coma über. Puls 40, Atmung stertorös.
Nachmittags Punktion II durch denselben Kanal ; ca. 5 cm tief älteres
mit Frischem vermischtes Blut gefunden ; 20 g entfernt. Atmung und All-
gemeinzustand bessert sich etwas.
Abends : Stertor, Pulsbeschleunigung, Atemlähmung. — Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Gh*oße linksseitige Apoplexie mit Durchbruch
in den linken Seitenventrikel und ausgedehnte Zertrümmerung der Hirn-
Substanz.
Aus dem Sektionsprotokoll: Flacher pialer Bluterguß im Be-
reich der Fissura Sylvii, entfernt von der durch einen kleinen blaugrauen
Fleck noch kenntlichen Punktionsstelle . . . der mächtige Bluterguß des
weißen Marklagers der linken Hemisphäre reicht stellenweise (auch im
Bereich der Punktionsstelle!) bis 1 cm und weniger an die Oberfläche
heran . . .
17. A. Adermann, Maschinist. Auf enthalt I 17. Okt. bis 7. Nov. 1902.
Anamnese: Früher gesund. Seit 1^/, Jahren Blasenstörungen:
Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Fähigkeiten.
Vor 4 Tagen, als er trinken wollte, war ihm die Kehle plötzlich wie
zugeschnürt, so daß er die Flüssigkeit erbrechen mußte.
Vor 3 Tagen plötzlicher Bewußtseinsverlust, er stürzte hin, kam bald
wieder zu sich. Er hatte Kopf- und Seitenstiche; das linke Auge war
,,klein'*, die Hände taub und kribbelten wie unter Nadelstichen. Später
nahmen die Kopfschmerzen (speziell in der linken Schläfengegend) zu, er
mußte erbrechen. Ein Arzt stellte starke Pulsverlangsamung fest Beim
Blicken nach links zeitweise Doppeltsehen.
Aus dem Befund: Kräftiger Mann. Fällt beim Gehen nach
links. Linkes Bein paretisch. Linksseitige Ptosis. Händedruck links
schwächer, als rechts. Patellarreflex links erloschen, rechts schwach.
Pupillen reagieren ; linke etwas enger als die rechte. Analgesia totalis.
Berührungsempfindlichkeit nur auf der linken Gesichtshälfte herabgesetzt.
Quälender S i n g u 1 1 u s ! Puls verlangsamt. Kein Fieber. Augenhinter-
grund normal. — Psychisch: leicht absent. — Potenz angeblich erhalten.
Lues nach den Angaben möglich.
Diagnose: Lues cerebro - spinalis oder Paralysis incipiens. Ord. :
Schmierkur.
Verlauf: Besserung der Beschwerden. Der Befund geht zurück bis auf
Schwäche der linken Seite, besonders des Beines. Gang bleibt breitbeinig.
7. Nov. Auf Wunsch entlassen. Fortsetzung der Schmierkur zu
Hause ans Herz gelegt.
Aufenthalt 11. 20. Nov. bis 16. Dez. 1903.
Seit der letzten Entlassung wieder arbeitsfähig gewesen. Arbeitete bis
vor 2 Tagen. Fühlt sich in den letzten 3 Wochen abgeschlagen, schwindelig,
hat Kopfschmerzen. Erbrechen fehlte.
Die Hirnpunktion. 879
Klagen zur Zeit: Schwindelgeflihl, heftige Kopfschmerzen von der
linken Schläfengegend bis ins linke Hinterhanpt Ein Trauma hat nicht
stattgefunden.
Befund: Fat. macht müden, kranken Eindruck, ist still, in sich ge-
kehrt. Antwortet langsam, mühsam, aber sachgemäß. Greift sich mit der
linken Hand öfters nach der linken Stimgegend. Grimassiert. Gang un-
sicher, Fallen nach links.
Puls 66, kein Fieber.
Doppelseitige Ptosis, links stärker, als rechts. Lähmung der Blick-
bewegung nach oben und unten! Seitliche Beweglichkeit frei. Augen-
hintergrund normal. Pupillen gleich weit, reagieren. Heftiger spontaner
Kopfschmerz und di£Puse Klopfschmerzhaftigkeit. Kein Erbrechen. Keine
Lähmungen, Paresen, Spasmen etc. Linker Patellarrefiex aufgehoben.
Urin frei. Entleerung von Stuhl, Urin in normaler Weise.
Diagnose: Lues cerebri.
Ord.: Schmierkur, Jodkali.
Verlauf: 22. — 23. Nov. Pat. ist völlig somnolent; geht zeitweise
aus dem Bett heraus, halluziniert, verschluckt sich beim Trinken. Puls 54.
Lumbalpunktion: 260 mm Wasserdruck; normale Flüssigkeit.
24. Nov. Völlige Benommenheit. Pat. läßt unter sich,
schluckt nicht mehr. Quälender Singultus. Herzschwäche.
Keine Herdsymptome.
Da Zustand sich rapide verschlechtert. Druckpuls zunimmt,
Trachealrasseln auftritt, wird mittags bei dem fast moribunden
Patienten die Himpunktion vorgenommen.
Punktion I rechtes Facialiszentrum (da der linke Facialis eine Spur
paretisch erscheint): ohne Ergebnis.
Punktion II (da -heftigster Singultus und Fallen nach links) in der
rechten hinteren Schädelgrube (an unserem Punkt k,): ganz oberfläch-
lich Blut gefunden, das dunkelblaurot geförbt, auf Porzellan ein
deutlich braunes Timbre zeigt.
Diagnose: Subduraler (pachymeningitischer) Bluterguß in
der rechten hinteren Schädelgrube.
So werden 130 g teils älteren, teils frischen Blutes
entleert
Der Puls steigt während der Punktion von 52 auf 64! Schläge.
Rasseln besteht fort.
Abends: Bassein geringer. Somnolenz. Puls 76, mittelkräftig.
26. Nov. Kein Fieber. Puls 72. Benommenheit besteht fort.
Mittags: Temperatur 38,6^. Puls 98. Benommenheit läßt nach.
Punktion III (alter Kanal 11 benutzt): noch 60 g Blut aspiriert
(Aussehen desselben wie gestern).
26. Nov. Pat ist viel klarer. Schluckt! Puls 84. Tempe-
ratur kaum erhöht.
27. Nov. Pat plaudert mit den Nachbarn. Witzelt (sägt
auf den Arzt: Siehste woU, da kimmt er etc.) Beklagt sich über das
Essen. Puls 96. Kein Fieber. Keine Kopfschmerzen mehr.
Gang noch etwas taumlig. Ptosis rechts geht zurück. Heben und Senken
der Bulbi schon etwas möglich. Antworten präzise. Aufforderungen strikt
befolgt. Ab und zu noch Grimassieren.
28. Nov. Urinretention. Leichte Parese des rechten Facialis, abends
Erbrechen. Puls 621 aussetzend. Singultus. Starker Schweiß. Dabei
gutes Allgemeinbefjiden !
880 Ernst Neisser und Kart Pollack,
29. Nov. Erbrechen verschwunden. Befinden gut. Puls 54. Kein
Fieber.
30. Nov. Leichte Kopfschmerzen. Puls gegen 80.
1. Dez. Völliges Wohlbefinden. Es besteht noch leichte Parese
des rechten Facialis, Fallen nach rechts, linksseitige Ptosis.
2. Dez. Pat. geht ganz sicher! Befinden vorzüglich. In den
nächsten Tagen noch eine leichte Temperatarsteigerung und leichte Kopf-
schmerzen.
10. Dez. Linksseitige Ptosis geht zurück, l'uls 80. Wohlbefinden
bis auf leichten Kopfdruck.
16. Dez. Linke Lidspalte noch etwas enger als die rechte. Blick-
bewegang frei. Facialis normal. Oanz geringer Kopfdruck. Entlassen.
Am 29. Dez. stellt er sich wieder vor : beschwerdefrei bis auf leichten
Schwindel.
Objektiv: absolut nichts! (bis auf leichte Arhythmia cordis).
6. April 1904. Stellt sich wieder vor: in allerletzter Zeit leichte
Verschlechterung: Doppeltsehen, Kopfschmerzen in der linken Seite,
Schwindelgefühl.
Objektiv : Leichtes Schwanken beim Gehen. Augenhintergrund normal.
Gesicht gerötet Sonst nichts zu finden.
Therapie: Venäsektion. Laxieren.
Die leichten Beschwerden gehen allmählich ganz zurück. (Dauernd
geheilt)
Diagnose: Pachymeningitis haemorrhagica besonders im
Bereiche der rechten hinteren Sohädelgrube. [Auch bei dem ersten Auf-
enthalt im Krankenhaus (s. oben 1902) lag offenbar eine solche pachy-
meningitisohe Blutung vor.]
18. A. Wellnitz, 48 Jahre, Landwirt. 26.-28. Nov. 1903 (f).
Anamnese: Früher immer gesund. Seit Y^ Jahr epileptiforme An-
falle und Kopfschmerzen später abgelöst durch psychische Veränderung,
(Unklarheit, Vergeßlichkeit, weinerliche Stimmung, Verminderung der
geistigen Fähigkeiten) Schlafsucht, Veränderung der Sprache.
Keine Lues. Kein Potatorium.
Befund: Pat. ist etwas benommen. Auffallend still. Gesiohtsaus-
druck starr. Parese des rechten unteren Facialis, der rechten Hand.
Klopfschmerz der linken Schläfengegend. Doppelseitige Neuritis optica
(rechts mehr, als links). Leitnngsaphasie (exquisite Paraphasie!).
Kein Druckpuls. Kein Fieber. Kein Erbrechen. Pupillen reagieren.
Patellarrefleze +. Sensibilität normal.
Lumbalpunktion: 250 mm Wasserdruck. Klare Flüssigkeit.
Diagnose: Hirntumor, möglicherweise der linken Bindenfacialis-
oder Inselgegend.
28. Nov. Punktion bei dem sehr unruhigen Mann, der um sich schlägt
und kaum zu halten ist:
Punktion I. Linkes Facialiszentrum. 1 cm hinter dem unteren Drittel-
punkt: Spur Blut aspiriert.
W., der bis dahin um sich geschlagen, laut gerufen hat, wird plötzlich
somnolent, schnarcht, der Puls sinkt auf 44!
Darauf schnell:
Punktion 11 1. I Temporalwindung.
Punktion III 1. Stirnlappen, hinterster Teil, etwas nach vorn zwischen
1. und 2. Drittelpunkt Beide Punktionen ohne Ergebnis.
Die Himpunktion. 881
Fat stirbt einige Stunden nach der Punktion.
Sektionsdiagnose: Großes Olioma apoplecticum der basalen Par-
tien des linken Schläfenlappens ; frische Blutung in dasselbe und Durch-
bruch der Blutung nach der Basis.
Aus dem Sektionsprotokoll: . . . An der Hirnbasis fällt im
Bereich des linken Ojr, hippocampi nach außen von den Corpora mamillaria
ein ca. 5-pfennigstückgroßes aus der Himsubstanz vorquellendes, frisches
Blutgerinnsel auf. Dasselbe bildet das Zentrum einer 5-markstückgroßeu,
fast zerfließenden, weichen Partie der EUmsubstanz, in deren Bereich die
Zeichnung der Gyri und Sulci völlig verwischt ist Ein Durchschnitt zeigt
eine ziemlich scharf umschriebene taubeneigroße, hämorrhagisch erweichte
Geschwulst, die etwa 3 cm in die Tiefe reicht und noch durch eine Brücke
gesunden Gewebes von dem Unterhorn getrennt ist ... Im Bereich des
linken Stimlappens findet sich ein flacher, subduraler resp. pialer Blut-
erguß, der sich in seinen Ausläufern bis zur Basis (Chiasma, Pons, Gyr.
Hippocampi) erstreckt.
Tumor mikroskopisch: Zellreiches Gliom von kleineren älteren und
großen frischen Blutungen durchsetzt
18. O. Bork, Arbeiter, 60 Jahre. 22. Okt bis 81. Dez. 1903.
Anamnese: Pat war früher stets gesund. Keine Lues. Kein Pota-
torium.
Vor 3 Monaten fiel er plötzlich auf der Straße um und blieb ca.
^/^ Stunde bewußtlos liegen. Dann kam er wieder zu sich und konnte
idlein nach Hause gehen. Seitdem leidet er an anfallsweise auftretenden
Zuckungen, die in der linken Gesichtshälfte beginnen und sich dann auch
noch auf die linke Hand erstrecken. Die kurz dauernden Anfälle treten
ca. 12 mal täglich auf. Bewußtsein dabei nicht getrübt Aura:
SLribbeln in der linken Augengegend.
Seit 2 Wochen Verschlechterung der Sprache.
Befund: Schlecht genährter, ganz intelligenter Mann. Sprache
anarthrisch, skandierend. Parese des linken Facialis (und Gaumensegels).
Motorische Kraft in der linken Hand beträchtlich herabgesetzt Be-
wegungen mit derselben ungeschickt, steif. Sensibilität^ Reflexe, Augen-
hintergrund normal. Schmerz bei Beklopfen in der rechten Schläfen- bezw.
Scheitelgegend. Augenbewegungen frei.
Puls 80 — 100, klein ; Arterie geschlängelt Kein Fieber. Keine Kopf-
schmerzen.
Es werden täglich etwa 5 — 6 Anfalle beobachtet : Beginn der Krämpfe
im linken Mundfacialis, es folgen Augenfacialis, Platysma ; dann Zuckungen
im linken Daumen (Flexor hallucis), 2. Finger und den Pronatoren des
Vorderarms. Zum Schluß wird der Unterarm spastisch gegen den Ober-
arm gebeugt In derselben Reihenfolge verschwinden die Krämpfe wieder.
Bewußtsein völlig ungestört dabeL Dauer: ^/, bis mehrere Minuten.
Oberarm und Bein ganz frei.
Diagnose: jAOKSONSche Epilepsie.
26. Okt Himpunktion.
Punktion I r. oberes FacialiszentrunL Punktion 11 r. unteres Facialis-
zentrum. Punktion III r. Hypoglossuszentrum.
Bei I und II Hirnsubstanz aspiriert Darin mikroskopisch: massen-
haft echte ^ämatoidinkrystalle.
Diagnose: Apoplek tisch er Herd (Ursache der jACKsoNschen
Epilepsie).
882 Ernst Neisser und Eurt Pollack,
27. — 28. Okt Leichte Temperatorsteigerung, die schnell wieder ab-
klingt.
In der nächsten Zeit Anfillle etwas seltener. Linke Hand besser be-
weglich, bei den Anfallen frei. Sprachstörung geringer.
Loa November nimmt die Zahl der AnfUle wieder zu, die linke Hand
und der Vorderarm werden wieder mitbefallen. Schließlich: alle Stunde
1 Anfall! Besonders durch Sprechen ausgelöst. Sonst Status idem.
8. Dez. 1903. Operation (Prof. Häckbl). Bildung eines 5-markstück-
großen WAONBRSchen Lappens im Bereich des rechten Facialiszentrums
(Punktionsstellen!) ...
Nach Eröffiaung des Schädels wölbt sich das Gehirn mit seinen Häuten
wenig pulsierend in die Knochenlücke. Auf der Tabula interna an
einer Punktionsstelle ein ca. 2 mm hoher Hügel von Knochenstaub, der
durch die Dura bis in die Hirnrinde reicht. Keine Spur entzündlicher
Reaktion. An einer Stelle, wo es bläulich durchschimmert, wird die Dura
kreuzförmig gespalten. Punktionsstellen als kleine Flecke an der Hirn-
Oberfläche sichtbar. An einer — abgetrennt von dem oben erwähnten
„HügeP^ — ein kleiner Hügel von Bohrstaub.
Sehr starkes Oedem der Pia, geringe Hirnpulsation.
Es entleert sich massenhaft Serum! Sonst nichts Besonderes zu
sehen. Probepunktion in die Himsubstanz ergibt nichts. Incision (2 cm
lang) im Bereich der Punktionsstellen wird bis zu etwa 1,5 cm vertieft.
Jetzt erscheint eine rötliche, weiche, etwa kirschkerngroße
Partie in der weißen Substanz. Hiervon etwas mit dem scharfen Löffel
entnommen.
Am Ende der Operation (nachdem sehr viel Serum abgeflossen), ist
das Hirn eingesunken und pulsiert gut!, so daß die Dura ohne Spannung
leicht vernäht werden kann. WAONiBRScher Lappen zurückgeklappt etc.
Mikroskopische Diagnose des ausgekratzten Stückchens (Prof. Dr.
Lubarsch): Gliom!
Klin. Diagnose: Beginnendes Gliom (Glioma apoplecticum) und
lokales Piaödem als Ursache der jACKSONschen Epilepsie.
In der folgenden Nacht noch angeblich 2 Anfälle.
10. Dez. Leichter Temperaturanstieg. Leichte Kop&chmerzen.
Puls 76. Keine Anfälle mehr. Facialisparese wie vorher. Sprechen
ungehindert
12. Dez. Völlige Euphorie. Keine Krämpfe mehr. Kein Fieber.
13. Dez. Schüttelfrost. Temperaturanstieg auf 38,8 •. Später: Kein
Fieber. Keine Beschwerden. Lähmung der Dorsalflektoren der
Hand! Taubes Gefühl im Vorderarm. Sonst nichts festzustellen.
15. Dez. Wunde heilt per primam. Kein Fieber. Keine Zuckungen.
Strecklähmung besteht fort.
26. Dez. Strecklähmung plötzlich verschwunden. Ob-
jektiv nur noch die geringe Facialisparese vorhanden.
31. Dez. Da Pat. völlig beschwerdefrei, entlassen.
(3 Monate später geht es ihm noch unverändert gut. Keine Anfalle
mehr aufgetreten.)
20. Frau B>. (Fall eines befreundeten Ohrenarztes; unvollständig!)
Anamnese: Seit September 1903 ohrenleidend. Zeichen von Otitis
media und Warzenfortsatzeiterung links.
11. Nov. 1903. Operation: Granulationen im Processus und wenig
Eiter.
•Die Himpunktion. 883
Besserung.
Später Kopfschmerzen, unsicherer Oang, Ohnmächten. Kein Fieber.
Fötide Ohreiterung. Wechselndes psychisches Verhalten.
22. Nov. Badikaloperation. Granulationen unterhalb der Tuben-
mündnng in der Gegend der Carotis interna.
Dann andauernde Kopfschmerzen, psychische Depressiouszustände.
Fötide Eiterung aus der Gegend der Tubenmündung.
27. Nov. Leichtes Oedem über der Squama. Temperatur 37,6^.
Verdacht auf eztraduralen Absceß.
3. Operation: Kleiner subperiostaler Absceß an der Wurzel des Proc.
zygomaticus. Eröffnung der mittleren Schädelgrube und Punktion des
Schläfenlappens. Ergebnis nichts. Temperatur abends 38,6^.
In den nächsten Tagen: Kein Fieber. Heftige Stirnkopfsohmerzen
links. Kein Erbrechen. Unruhe der Gesichtsmuskeln. Kniescheiben-
reflexe gesteigert, besonders rechts, Fufizittern. Romberg -f. Keine Nacken-
starre. Puls 84. Angeblich Zuckungen im rechten Arm und Bein. ELlopf-
schmerz über der linken Kleinhimgegend ! Augenhintergrund normal.
Diagnose: Linksseitiger Kleinhimabsceß. Von dem Kollegen zu-
gezogen punktierten wir am linken Kleinhimabsceßpunkt und erhielten
trübe, serös-eiterige Flüssigkeit (Lumbalpunktion leider nicht möglich!)
Diagnose: Entweder Peripherie eines Abscesses angestochen oder
Meningitis purulenta.
Operation (da Meningitis klinisch kaum denkbar): ergiebt normales
Kleinhirn, Sinus etc. Trübes Meningealödem !
Bald darauf Exitus.
Sektion: Diffuse eiterige Meningitis, ausgehend vom linken Canalis
caroticus; besonders entwickelt in der linken mittleren und vorderen
Schädelgrube.
Li den Cistemen trübe, serös-eiterige Flüssigkeit, die bei der Punktion
aspiriert war.
Otitis media sinistra.
2L E. Bohl, 4 Jahre alter Knabe. 26. Jan. 1904 bis 8. März 1904 (f).
Anamnese: Früher immer gesund. Vor 1 ^/^ Jahr Fall von einer
Treppe auf das linke Ohr ; darauf Bewußtlosigkeit, Blutung aus dem linken
Ohr. Arzt diagnostizierte Basisfraktur. Darauf eine Zeitlang hohes
Fieber (?). Dann Heilung bis auf Stirnkopfschmerzen. Michaelis 1903
so heftige Kopfschmerzen, daß er sich legen mußte; seitdem dauei-n die-
selben an. Kurz vor Weihnachten Krampfanfall: fiel mit einem Schrei
hintenüber, lag steif zurückgebogen da (keine Zuckungen), sah sehr blaß
aus. Erholte sich erst nach Y^ Stunde wieder. Anfang Januar 1904:
Zweiter Anfall, der nur einige Minuten dauerte; vor 8 Tagen dritter
Anfall (10 Minuten lang). Femer seit Weihnachten Verschlechterung des
Sehvermögens: innerhalb von 8 Tagen völlige Erblindung! Auch der
(}ang verschlechterte sich. Die Sprache soll seit dem Fall „langsam"
geworden sein. Eine Zeitlang ließ B. unter sich; in den letzten Wochen
nicht mehr.
Befund: Kleiner, ganz intelligenter, schlecht genährter Knabe.
Völlig erblindet. Oreifb sich öfters nach dem Kopf. Kein Fieber. Puls
zwischen 110 und 140! Weinerliche Stimmung, aUgemeine Hanthyper-
ästhesie. Lähmung des ganzen linken Facialis (peripherisch), Zunge
weicht nach links ab. Pupillen ad maximum erweitert, fast reaktionslos.
884 Ernst Neisser und Eart-Pollaok,
Parese des linken Beines. Gehen unmöglich. Patellarrefleze rechts eben
noch ausisulösen, links fehlend. Babinsky -f"* Es bestehen offenbar heftige
Kopfschmerzen. Augenhintergrund: schwere doppelseitige Stauungspapille
mit Uebergang in Atrophie (keine Extravasate).
Lumbalpunktion : Druck von 780 mm Wasser. Klare Flüssigkeit, die
kein Gerinnsel bildet
Diagnose: Tumor der hinteren Schädelgrube oder Meningitis serosa.
Verlauf: 28. Jan. Himpunktion I, rechtes Kleinhirn (ohne Er-
gebnis); Himpunktion U, linkes Kleinhirn, oberflächlich etwas gelbliche,
trübe (anscheinend serös-eiterige) Flüssigkeit aspiriert (ca. 1 — 2 ccm), die
kleine Partikelchen enthält.
Mikroskopisch: a) in der Flüssigkeit viele zerfallene Leukocyten;
b) in den Partikelchen (in Paraffin eingebettet): normale Kleinhirnrinde
und etwas nekrotische, von Leukocyten durchsetztes Himgewebe.
29. Jan. Tachycardie. Euphorie.
Punktion III hinten links an der alten Stelle: ohne Ergebnis.
30. Jan. Erbrechen, Kopfschmerzen dauern an. Sehr unregelmäßige
Atmung.
1. Febr. 1904. Punktion IV hinten links alte Stelle. Oberflächlich
wieder ein paar Tropfen trüber, eiteriger Flüssigkeit herausgezogen, die
zerfallene Leukocyten enthält. Tuberkelbacillen darin nicht gefunden.
Diagnose: basale Meningitis der hinteren Schädelgrube.
Punktion V des 1. Seitenventrikels : aus 2 cm Gehirntiefe quillt massen-
haft Liquor hervor; 23 ccm abgelassen (dann kein üeberdruok mehr).
Liquor klar, ohne Besonderheiten.
2. Febr. 1904. Große allgemeine Hyperästhesie, firbrechen. Pat
läßt unter sich. In den nächsten Tagen deutliche Besserung.
13. Febr. 1904. Punktion VI, 1. Eleinhim weiter nach hinten punk-
tiert; Punktion VII, ebenso r. Kleinhirn; ohne Ergebnis.
Punktion VIII r. Seitenventrikel; 13 com Liquor entleert.
Bedeutende Besserung des Allgemeinbefindens nach der Punktion.
Ende Februar wieder Verschlechterung. Fieber fehlt andauernd. Puls
zwischen 120 und 150.
27. Febr. 1904. Punktion IX, 1. Stimhim. Punktion X, r. Stimhirn.
In 4 cm Tiefe beiderseits Liquor gefunden, der herausspritzt. So werden
55 ccm abgelassen. Die Pupillen verengen sich während der Punktion.
Diagnose: Meningitis serosa ?I
Nach der Punktion bedeutende Besserung!
Später wieder Kopfschmerzen, Erbrechen. Cheyne Stokes. Puls um
160. Pupillen dilatiert. Schreit: „ich falle, ich falle".
Mehrfache Lumbalpunktion : starker Ueberdruck. Flüssigkeit zu-
nächst klar, später leicht getrübt, dann wieder klar, aber mit einem Stich
ins Gelblichgrüne. Begelmäßig Bildung eines zarten Gerinnsels!
Verdacht auf tuberkulöse Meningitis (eventuell Schub einer
serösen Meningitis), obgleich keine Tuberkelbacillen gefunden.
Zeitweise Fiebersteigerungen. Zunehmende Benommenheit. Eigen-
tümliche Anfälle von Zittern des Bumpfes und der Extremitäten bei Be-
rührung, auch spontan. Erbrechen.
Anfang März noch eine Remission; erhebliche Besserung. Dann
rapide Verschlechterung.
7. März 1904. Punktion XI. L. Seitenventrikel von vorn durch den
alten Kanal punktiert: 16 ccm Liquor entleert, in dem sich zartes Ge-
rinnsel bildet Vorübergehende Besserung.
Die Hirnpunktion. 885
8. März 1904. Punktion Xu, desgl. r. Seitenventrikel. Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Zwei Tuberkel der 1. Kleinhirnhemisphäre;
sekundärer Hydrocephalus internus mit starker Erweiterung der Hirn-
ventrikel. Basale tuberkulöse Meningitis speziell der hinteren Schädelgrube.
Aus dem Sektionsprotokoll:
1. Betreffend die Punktionsstellen:
a) außen am Schädeldach: keine Besonderheiten.
b) innen am Schädeldach: einige Bohrkanäle leicht aufgeworfen,
andere glatt
c) an der Außenfläche der Dura : beide Stimpunktionsstellen zu sehen ;
rechts eine linsengroße flächenhafte Blutinflltration ; links eine leicht er-
habene, rötlichgelbe, kömige Auflagerung (Blutfarbsto£F ^- Bohrstaub).
d) an der Innenseite der Dura, r. Stimpunktionsstelle : linsengroße
BlutsufiPusion ; 1. Seitenventrikelpunktionsstelle : kleiner Schlitz in der
Dura, ohne jede Reaktion ; r. Seitenventrikelpunktionsstelle : kein Loch in
der Dura, sondern kleiner, 1 — 2 mm hoher Hügel aus Knochenstaub.
e) an der Himoberfläche : ohne jede Reaktion oder Blutung; größten-
teils nicht wiederzufinden.
2. Betreffend den übrigen Befund. Gehirn von schwappen-
der Konsistenz ... In den Cistemen der Basis reichlich trübe, grau-
gelbliche Flüssigkeit . . . Pia der Basis getrübt, sukkulent, gelblichgrün
verfärbt, stellenweise rein eiterig infiltriert. Hie ufid da — speziell im
Bereich der Gefäße — grauweißliche, submiliare Knötchen. Pia im Be-
reich der hinteren Schädelgrube größtenteils eiterig infiltriert ... In der
1. Kleinhimhemisphäre dicht unter der Rinde 2 fast walnußgroße, harte
Knoten, von den der eine sich in den 4. Ventrikel hineinwölbt. (Der
äußere Knoten ist bei der Punktion offenbar getroffen worden) . . . Auf
dem Durchschnitt bestehen beide Knoten aus einer trockenen, käseähnlichen
Masse von gelblicher Färbung, die in ihren zentralen Partien erweicht
ist . . . Ventrikel stark erweitert mit massenhaft leicht getrübtem Liquor
erfüllt. In das Unterhom kann man mit Leichtigkeit einen Finger hinein-
führen.
Diagnose mikroskopisch und makroskopisch: Kleinhimtaberkel.
22. K. Mallisch, Brunnenmacher, 37 Jahre. 17.— 20. Febr. 1904 (f).
Anamnese (von der Frau erhoben): Seit 6 Jahren leidend (morgend-
liches Erbrechen, Schwäche in den Beinen). Alcoholica hat er viel ge-
nossen. Im Herbst 1903 wurde er hier schon einmal behandelt (Diagnose :
Potator. Neuritis!). Nach der Entlassung trank er wieder viel. Seit
2 Wochen heftiges Erbrechen. Seit 3 Tagen konnte er nicht mehr auf-
stehen. Heut zum erstenmal etwas unklar; sah doppelt; fuhr mit den
Händen in der Luft herum. (Frau hatte 2 Aborte ; keine lebenden Kinder ;
seit 2 Jahren ist der Mann impotent.)
Bef un d : Schlecht genährter Mann ; völlig comatös ! „Große Atmung."
Keine Verletzungen. Keine Lähmungen (Parese des 1. Facialis ?). Spasmen
in Armen und Beinen. Befleze normal. Kein Druckpuls, kein Fieber,
keine Nackenstarre. Augenhintergrund normal. Urin frei von Eiweiß,
Zucker, Aceton. Zunge trocken. Herz, Lungen gesund. Leber nicht ver-
größert Pat. schluckt einigermaßen. Brechneigung.
Lumbalpunktion: klare Flüssigkeit, 246 mm Wasserdruck.
Diagnose: Verdacht auf Hämatom der Dura. Ord. : Schmierkur.
19. Febr. 1904. Verschlechterung des Zustandes. Cheyne-Stokes.
Puls 90. Kein Fieber.
HittefL a. d. GTenz«:ebietcn d. Medldn o. Chlrargie. Xm. Bd. 57
886 Ernst Neisser and Kurt Pollack,
Hirnpunktion I, rechter vorderer KRÖNLEiKscher Pankt. Entleerung
von 20 com dunklen Blutes, das anscheinend frisch ist. Erst bei ge-
nauerer Betrachtung sieht man darin einige etwa stecknadelkopfgroße^
schwarze Körner, die sich mikroskopisch als aus amorphem und kristalli-
nischem Blutpigment zusammengesetzt erweisen.
Punktion II. 1 cm nach hinten von der vorigen Stelle. Erst Liquor^
dann 10 ccm ziemlich helles Blut entleert.
Punktion III, rechte hintere KRöNLEiNSche Punkt: ohne Ergebnis.
Diagnose: extra- oder intradurales Hämatom.
20. Febr. 1904. Puls 65. Temperatur 38,2. Unter Kleinerwerden
des Pulses txitt allmählich der Tod ein.
Sektionsdiagnose: Ausgedehnte Blutung in das Marklager der
r. Hemisphäre mit Durchbruch nach außen in den pialen nnd subduralen
Raum. Chronische Nephritis, Fettleber, beginnende Pneumonie, Herz-
dilatation, Lungenemphysem etc.
Aus dem Sektionsprotokoll: Nach Eröffnung der Dura fließt
rechterseits reichlich flüssiges dunkles Blut ab. Innenfläche der Dura
glatt, feucht, ohne Beläge. Pia im Bereich des r. Stirn-, Zentral- und
Schläfenlappens blutig suffundiert. Auch weiter nach der Basis zu sub-
piale und subdurale Blutergüsse . . . Ventrikel ganz leer . . . Das Mark-
lager der rechten Hemisphäre ist zum größten Teil zertrümmert und von
flüssigem und geronnenem Blut durchsetzt. Diese Blutmassen gehen kon-
tinuierlich in die oben beschriebenen subpialen resp. subduralen Blut-
ergüsse über.
Betreffend die Punktionsstellen: No. 1 und 2 treifen die subduralen
Blutergüsse (dahier hier Blut bei der Punktion aspiriert!); No. 3 trifft
die Stelle, wo nur subpiale Blutsuffusion ist, eine größere subdurale Blut-
ansammlung dagegen fehlt (daher hier nichts aspiriert I).
23. F. BShr, Knabe von ly^ Jahren. Aufgenommen den 29. Febr. 1904.
Anamnese: Vor 14 Tagen flel das Dienstmädchen mit dem Kinde
eine Treppe herunter. Dieses schlug heftig mit der rechten Kopfhälfte
auf. (Keine offene Verletzung.) Es war völlig besinnungslos und lag
3 Tage lang mit geschlossenen Augen; die Sprache war fast ganz fort.
Ab und zu stellte sich Fieber ein; femer war das Kind, das vorher gut
sah, seit dem Unfall blind. Ein zugezogener Arzt diagnostizierte Oe-
himerschütterung und Schädelbruch und konstatierte Schwäche des linken
Armes.
In den letzten Tagen wurde das Kind immer unklarer, machte einen
schwer kranken Eindruck.
Befund: Kleines, ganz gut genährtes Kind, sehr weinerlich, deut-
lich benommen. Schädel (Knochen, Weichteile) intakt. Kein Fieber. Puls
über 160! sehr klein, fadenförmig. Allgemeine Hauthyperästhesie. Linker
Arm in Beugekon traktur, scheint leicht paretisch; auch das linke Bein
bleibt bei Bewegungen deutlich zurück. Linker Facialis eine Spur pare-
tisch (?). Deutliche Deviation der Augen nach links. Augenhintergrund :
rechterseits etwas nach außen von der Papille ziemlich ausgedehnte,
subretinale Blutung; links normal.
1. März 1904. Status idem. Sehr schlechter Allgemeinzustand.
Diagnose: Verdacht auf traumatische, extra- oder intradurale
Blutung.
Punktion I, rechte motorische Region (1 cm hinter dem oberen
Drittelpunkt). Sofort nach der Perforation des Schädeldaches
Die Himpunktioo. 887
quillt eine dünne bräunliche Flüssigkeit aus dem Bohr-
loch. Einführung der stumpfen Nadel ; Entleerung von lOccm bräun-
lich tingierten Serums. Nun erst wird die Dura mit der spitzen
Nadel durchstochen und aspiriert, jedoch ohne Ergebnis.
Diagnose: extradurales Extravasat.
Punktion IT, rechte hintere EBöNLEiKSche Punkt. Ergebnis: Extra-
dural (stumpfe Nadel) nichts! Intradaral (spitze Nadel): zertrümmerte
Himsubstanz mit schwärzlich-bräunlichen Massen (altem Blut) durchmischt
(also Contusio cerebri an dieser Stelle).
2. März 1904. Bedeutende Besserung des Zustandes bald
nach der Punktion. Puls geht auf 110, dann 100 Schläge herunter.
Kein Fieber. Der Knabe schreit noch viel, ist noch etwas unruhig. Er-
kennt den Vater an der Stimme. Fixiert aber nicht.
4. März. Viel ruhiger. Spricht einzelne Worte.
5. März. Ist ganz ruhig, spielt mit dem Löffel.
7. März. Wohlbefinden. Puls zwischen 90 und 100. Lacht im Bade.
Spricht.
10. März. Puls 90. Knabe spielt, ist munter. Dauernd normale
Temperatur.
In der nächsten Zeit völlige Genesung, bis auf eine sich entwickelnde
doppelseitige Opticusatrophie. (Folge einer Basisfraktur?!)
Geheilt entlassen.
24. G. Freitag, Kutscher. 18. März 1904 (f).
Junger Mensch, der morgens ohne Anamnese eingeliefert wird.
Befund: F. riecht nach Schnaps. Gesicht gerötet. Ziemlich starke
Benommenheit. Temperatur 35^. Puls 96. Hautabschürfungen am linken
Oberschenkel, beiden Knien, am rechten Auge. Schädel intakt. Lähmungen
nicht feststellbar.
12 Uhr mittags Anfall. F. wird blau, zuckt mit dem rechten Arm;
Mund nach links verzogen, linkes Auge zugekniflFen (Angaben der Schwester).
Dauer des Anfalles 1 — 2 Minuten. Danach völlige Benommenheit, tiefe
Atmung. Springende Pupillen. Patellarreflexe gesteigert. Augenhinter-
grund normal.
Lumbalpunktion ergibt ganz geringen Ueberdruck, sonst normale Ver-
hältnisse.
1 Uhr mittags: Puls 102, gespannt; Atmung aussetzend. Rasseln!
Deutliche Zeichen von Hirndruck fehlen!
Da aber doch Verdacht aufMeningeablutung: Himpunktion I.
linke vordere KRöNLBiNsche Punkt: ohne Ergebnis.
Punktion II, linke hintere KRöNLBiNsche Punkt, anscheinend subdural
einige Kubikzentimeter dunkles Blut von bräunlichem Timbre entleert, in
dem kleine schwärzliche Partikelchen schwimmen, die mikroskopisch aus
kristallinischem und amorphem Blutpigment bestehen.
Größere Mengen Blut können nicht entfernt werden.
Diagnose: vermutlich intradurales Hämatom.
Punktion III, rechte vordere KRöNLBmsche Punkt, ohne Ergebnis.
Punktion IV, rechte hintere KRöNLEiEsche Punkt, ohne Ergebnis.
Punktion V, da Krämpfe im rechten Arm : linkes Armzentrum : einige
Kubikzentimeter Blut von der obigen Beschaffenheit punktiert.
Befinden nach der Punktion unverändert. Ab und zu Zucken im
rechten Arm.
Operation nicht vorgenommen, da 1) Fehlen von Hirndruck; 2) er-
57*
888 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
haltene Blatmenge sehr geriog, somit umschriebener, größerer, entfembarer
Bluterguß unwahrscheinlich ! !
Nachmittags 3 Uhr : Temperatur 37,9. Völlige Benommenheit. Schluckt
nicht mehr.
4 Uhr: 2 epileptiforme Anfalle. Beim ersten zuckt die ganze rechte
Seite; beim zweiten nur linker Arm und linker Facialis.
Atmung aussetzend, Bassein, weicher frequenter Puls.
Punktion VI, rechte motorische Region (hinter dem unteren Drittel-
punkt) ohne Ergebnis.
Punktion VII, hintere KRöNLSiNSche Punkt links (alter Kanal): etwas
altes Blut.
Punktion VIII, zwischen Punktionsstelle 11 und V (an denen beiden
altes Blut gefunden) : sofort quillt bräunliche Flüssigkeit — offenbar altes
Blut — aus dem Bohrloch. Einige Kubikzentimeter altes Blut lassen sich
noch aspirieren und etwas zertrümmerte Himsubstanz.
Abends doch noch zur Operation geschritten. Kurz vorher noch ein
epileptiformer Anfall, bei dem die ganze rechte Seite zuckt.
7 Uhr Operation (Dr. Dbblin). Bildung eines WAONBRschen Lappens,
der Punktionsstelle 11 und VIII noch mit in seinen Bereich nimmt Extra-
dural findet sich nichts. Die Dura zeigt keine Pulsation, auch schimmert
es blau durch. Nach Eröffnung der Dura fließt mäßig viel teils älteres,
teils frisches Blut ab. Das vorliegende Gehirn erscheint hier leicht ge-
quetscht. Stillung der Blutung durch Tamponade, Zurückklappung des
Lappens.
Bald nach der Operation: Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Subduraler Bluterguß mäßigen Grades der
linken Hemisphäre; Contusio cerebri im Bereich des linken Schläfen-
lappens. Hochgradige potatorische Veränderungen (Degeneration von Herz
und Nieren). (Schädel intakt Punktionsstellen ohne Besonderheiten.)
Wie wir später erfuhren, war F. ein Vagabund, der sich lange ar-
beitsscheu umhertrieb und völlig verkommen war!
26. O. Hartmann, Schreiber, 16 Jahre. 19. März bis 22. März 1904 (f).
Anamnese: Bis vor 14 Tagen ganz gesund gewesen. Dann er-
krankte er mit Schnupfen und Appetitlosigkeit. Seit 5 Tagen legte er
sich, hatte heftigen Stirn kopfschmerz. Seit gestern ist er unklar, be-
nommen. Kopfschmerzen dauern heftig an. In den letzten Tagen häufiges
Erbrechen !
Befund: Sehr blasser, magerer junger Mann. Völlig benommen.
Es besteht starke Bhinitis. Puls 60, unregelmäßig. Temperatur 37®.
Linker Facialis (unterer) gelähmt. Zunge schwer beweglich, weicht beim
Vorschieben nach links ab; ist trocken. Sonst keine Lähmungen oder
Paresen. Herz, Lungen ohne Besonderheiten. Rechts hinten unten Schall-
verkürzung. Atemgeräusch kaum hörbar. Milz klein. Augenhintergrund
normal. Ohren gesund. Lumbalpunktion: Druck 400 mm Wasser, klare
Flüssigkeit, die kein Gerinnsel absetzt.
Diagnose schwankt zwischen (rhinogenem) Himabsceß und eventuell
tuberkulöser Meningitis.
20. März. Linke Hand leicht paretisch und anästhetisch.
Punktion I, rechtes Facialiszentrum.
Punktion II, rechter Stirnlappen (Pol).
Punktion III, rechtes Annzentrum.
Punktion IV, rechter Schläfenlappen (Absceßpunkt).
Die Hirapunktion. 889
Panktion V, rechter Stimlappen (Zentrum).
Alle Punktionen ohne Ergebnis (etwas normaler Liquor, Blut und
Hirnsubstanz entleert).
Diagnose: Kein Himabsceß.
Nach der Punktion ist H. viel klarer, verlangt zu essen. Deviation
conjugu^e nach rechts. Puls 70 — 80. Temperatur 37— 38<>. Abends Be-
nommenheit. Lumbalpunktion (II): 136 mm Wasserdruck. Fltlssigkeit
opalesziert leicht. Im Sediment reichlich Lymphocyten und Tuberkel-
bacillen!
Diagnose: Tuberkulöse Meningitis.
22. März. Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Tuberkulöse Meningitis speziell der Basis und
Sylvischen Furche.
Tuberkulöse Bronchitis und Peribronchitis. Bronchopneumonien. Be-
ginnende Hepatisation des linken Unterlappens.
Disseminierte Tuberkulose des ganzen Peritoneums. Herzdilatation.
Stauungsorgane etc.
[Punktionsstellen an Schädel, Dura, Hirn ohne Besonderheiten; kaum
noch aufzufinden. An einer eine kleine SufFusion der Pia.]
ae) W. Lindner, 8-jähr. Mädchen. 12. April 1904 (f).
Anamnese: Früher immer blutarm gewesen. Am I.April plötzlich
erkrankt mit Mattigkeit, Appetitlosigkeit ; darauf stellten sich Schmerzen in
der Nasen- und Stirngegend, sowie heftige Kopfechmerzen ein. Der Stuhl-
gang war angehalten. — An den Ohren hat L. nie gelitten, auch nie ge-
hustet. — Vor 5 Tagen traten Schmerzen im rechten Fußgelenk auf. Seit
2 Tagen ist sie besinnungslos, bohrt den Kopf in die Kissen, zieht den
Leib ein.
Befund: Sehr blasses Kind, völlig benommen. Nackensteifigkeit,
Opisthotonus, eingezogener Leib. Deviation conjugu^e nach links. Bechts-
seitige Hemiplegie (links leichte Spasmen). Pupillen ad maximnm
dilatiert. Puls 124. Kein Fieber. Schwellung und Bötung der rechten
äußeren Knöchelgegend.
Etwa alle 10 Minuten Zuckungen im rechten Facialis, Arm
und Bein, die schließlich auch auf die linke Seite übergreifen.
Ohren, Herz, Lungen ohne Besonderheiten.
Lumbalpunktion: 680 mm Wasserdruck; Flüssigkeit trübe, enthält
reichliches eiteriges Sediment mit massenhaften Streptokokken.
Diagnose: Eiterige Meningitis. Da Verdacht auf Himabsceß:
Punktion I 1. Schläfenlappen (Absceßpunkt) ohne Ergebnis ; Punktion II
nach vom und oben davon, ohne Ergebnis ; Punktion III nach hinten und
oben davon, ohne Ergebnis; Punktion IV 1. Kleinhirn (Absceßpunkt):
80 com serös-eiteriger Flüssigkeit aspiriert (offenbar aus dem Subarachnoidal-
raum) ; Punktion V 1. Armzentmm, ohne Ergebnis ; Punktion VI 1. Stirnhirn
(Pol), ohne Ergebnis ; Punktion VII 1. Stimhim (Zentrum), ohne Ergebnis.
Also kein Absceß.
Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Diffuse eiterige Meningitis. Metastatische Eite-
rung des rechten Fußgelenkes.
Aus dem Sektionsprotokoll: An der Dura einzelne Punktions-
stellen durch kleine, bis höchstens linsengroße Blutextravasate gekenn-
zeichnet .... Ein Punktionsstichkanal noch durch ein strichförmiges, etwa
3 mm dickes und 2 cm langes Blutgerinnsel in der weißen Substanz an-
890 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
gedeutet. Im rechten vorderen Nucleus candatus ein kleiner Bluterguß
von der Größe einer halben Erbse .... In den großen Cistemen der
Basis massenhaft schmutzige, bräunlichgelbe, eiterige Flüssigkeit ....
Knochen, Sinus intakt, beide Mittelohren, Nasenhöhle frei .... Eiteriger
Erguß im Fußgelenk.
Brust- und Bauchsektion verboten.
27) K. Trapp, Schiffsstauer, 52 Jahre, 2.— 14. April 1904 (f).
Anamnese: Früher an Polyarthritis, Herzerweiterung gelitten.
Potatorium! (Trinkerheilanstalt). In den letzten Jahren bis auf leichte
Attacken von Schwindel, Unwohlsein, gesund.
Am 21. Febr. 1904 fiel T. kurz hintereinander zweimal hin. Seine
Frau bemerkte, daß er die Augen verdrehte, das Öesicht schief stand und
der linke Arm gelähmt war. T. sah eigentümlich aus und klagte über
Kopf- und Bückenschmerzen. Er lag 4 Wochen, stand dann auf; die
linke Seite war dauernd gelähmt; T. war sehr unruhig, verstört, redete
wirres Zeug, griff nach einem Bevolver, wollte unbekleidet fortgehen
u. dergl. Der Gang war taumelnd. Kopfschmerzen — die schon seit
Ende Februar ab und zu auftraten — wurden unerträglich. Daher über-
wies ihn ein Arzt dem Krankenhaus. — Alcoholica in den letzten Jahren
angeblich kaum genossen. — Für Lues kein Anhaltspunkt.
Befund: Großer, starker Mann mit mächtigem Fettpolster. Kein
Fieber. Puls 80, regelmäßig. Urin frei von Eiweiß und Zucker.
Allgemeine Unruhe, heftige Kopfschmerzen, leichte Benommenheit.
Fat. gibt verkehrte Antworten, redet wirres Zeug. Innere Organe gesund.
Leib stark aufgetrieben. Urinretention. Reflexe vorhanden. Stark schwan-
kender Gang. Doppelseitige Neuritis optica. Leichte Parese im linken
Facialis und Arm. Keine Lähmungen.
Diagnose: Tumor cerebri (eventuell Gumma) oder Pachjmeningitis
haemorrhagica.
Ord.: Schmierkur. JodkalL
3. ApriL Erbrechen.
4. April. Parese der linken Abducens ! Erbrechen. Leichte Temperatur-
steigerung.
9. April. Benommenheit nimmt zu. Parese des linken Hypoglossus.
Stauungspapille stärker. Pat. läßt unter sich.
11. April. Lumbalpunktion: Starker Ueberdruck. Flüssigkeit klar,
bildet kein Gerinnsel.
Punktion I. R. hintere Schädelgrube: Spuren altes Blut (mikrosko-
pisches Blutpigment) ! Punktion II. B. Hinterhauptslappen, ohne Ergebnis.
Punktion lEL L. hintere Schädelgrube, ohne Ergebnis. Punktion IV.
Durch den Kanal I: etwas venöses Blut (wohl aus Vene). Danach
Besserung des Befindens.
Diagnose: Punktion läßt größere pachymeningitische Blutung im
Bereich der Punktionsstellen ausschließen. Sonst ohne Einfluß auf die
Diagnose.
12. April. Leichte Temperatursteigerung. Totale Benommenheit
13. April. Fieber. Rasseln. Völlige Bewußtlosigkeit. Exitus letalis.
Sektionsdiagnose: Mächtiges Glioma apoplecticüm der rechten
Großhirnhemisphäre mit roter Erweichung in seiner Umgebung. — Piale
Blutungen speziell im Bereich der hinteren Schädelgrube. — Fettherz,
Stauungsorgane, chronische Nephritis, enorme allgemeine Adipositas.
[Punktionsstellen ohne Besonderheiten.]
Die Hirnpunktion. 891
28. F. Berg, Versicherungsbeamter, 44 Jahr, 6. April bis Mitte Mai 1904.
Anamnese (von der Frau erhoben): Als Kind 2-mal an Nasen-
polypen operiert. Vor 8 Jahren Diphtherie. Vor 4 Jahren heftige rechts-
seitige Qesichtsneuralgie. In den letzten Jahren sehr nervös, reizbar.
Reiste vor 5 Wochen gesund ab, kehrte vor ly, Wochen anscheinend
erkältet zurück (Husten, Schnupfen). War psychisch angeblich ganz nor-
mal. In den letzten Tagen heftige Kopf- bezw. Genickschmerzen. Arzt
schickte ihn ins Krankenhaus mit der Diagnose Influenza und Mandel-
entzündung. — Frau ist gesund, hatte 2 Aborte.
Befund: Riesiger Mann. Rechtsseitiger Nasenrachenpolyp, der hinter
dem Gaumenbogen hervorguckt.
Fat. ist unklar, spricht verworren. Fällt beim Gehen nach rechts.
Es bestehen offenbar heftige Kopfschmerzen. Kein Fieber. Puls 72.
Zunge belegt. Reflexe vorhanden. Augenhintergrund normal (linke Papille
etwas hyperämisch).
8. April. Benommenheit stärker. Puls 64! Cheyne-Stokes ! Lumbal-
punktion ergibt normale Verhältnisse. Ohren gesund.
Da Möglichkeit einer pachymeningitischen Blutung, und
auch Hirnabsceß nicht auszuschließen:
Punktion I 1. hintere Schädelgrube; Hirnmasse und schwärzliche
Kömchen aspiriert, die krystallinisches Blutpigment enthielten.
Punktion II 1. hintere KitöNLBiN-Punkt : In ca. 2 cm Hirntiefe spritzt
Liquor hervor. Davon 20 ccm abgelassen (derselbe ist ganz klar, farblos).
Danach hebt sich der Puls auf 90 Schläge; die Atmung
wird regelmäßig.
Diagnose: Keine größere Blutung im Bereich der Punktionsstellen ;
akuter Hydrocephalus des Seitenventrikels.
Punktion III 1. Schläfenlappen, ohne Ergebnis. Punktion IV 1. Stirn-
hirn, ohne Ergebnis. Punktion V r. Kleinhirn, ohne Ergebnis. Punktion VI
alter Kanal I benutzt, ohne Ergebnis.
Danach: Kein Fieber. Puls zwischen 80 und 92.
Unter Schmierkur bessert sich der Zustand weiter. Es bleibt nur
leichte Witzelsucht und kaum merkliche Gangstörung.
Diagnose: Lues cerebri.
Ende Mai stellt sich Pat als gesund vor.
29. W. Böhm, Schneider, 24.-26. Mai 1904 (f).
Anamnese (von der Frau erhoben): Vorgestern abend stürzte er
die Treppe herunter. Er blutete aus dem linken Ohr, erholte sich bald,
ging umher bis gestern abend. Da wurde er benommen. Die Benommen-
heit nahm immer mehr zu; Erbrechen stellte sich ein.
Befund:' Kräftiger Mann, komatös. Linker äußerer Gehörgang und
Ohrmuschel mit weichen Cruormassen ausgestopft, ly, c°^ lange Biß-
wunde am Hinterkopf. Gesicht gerötet. Atmung schnarchend. Tempe-
ratur 37,8. Puls 64! Geringe, aber deutliche rechtsseitige Hemiparese.
Reflexe normal. Pat. läßt unter sich. Erbricht ab und zu.
Diagnose: Basisfraktur und Blutung aus der linken Art men. med.
Operation von chirurgischer Seite abgelehnt.
2 Stundeb später: Tiefes Coma, rechtsseitige Hemiparese ausgesprochen.
Bechte Backe aufgeblasen, linke nicht Es sickert frisches Blut aus dem
linken Ohr heraus. Puls gespannt, 60. Pupillen eng.
Hirnpunktion (um die Anwesenheit einer größeren entfembaren Blu-
tung zu demonstrieren):
892 Ernst Neisser und Kart Pollack,
Punktion I. Linke vordere Krönlbin -Punkt : reichlich teils älteres^
teils frischeres Blut entleert.
Punktion ü. Linke hintere KRöNLEiH-Punkt : bräunliche, schmutzig»
Flüssigkeit entleert, die zum Teil einen Stich ins Orüne hat und zer-
trümmerte Himsubstanz.
7 Uhr abends: Operation. WAONBRScher Lappen gebildet, der den
vorderen und hinteren KRöNZ^iNSchen Punkt noch fast mitnimmt. Extra-
dural; einige Eßlöffel voll flüssiges, ziemlich frisches Blut. Keine Pulsation
der Dura. Spaltung den Dura: über 1 cm dickes und über handteller-
großes schwarzrotes Blutgerinnsel, das calottenförmig der Himsubstanz.
aufsitzt und in einzelnen Portionen herausgeschafft wird. Auch in der
Umgebung der freigelegten Partie zwischen Dura und Hirn Kruormassen^
die, soweit möglich, durch Finger und' scharfen Löffel hervorgeholt werden.
Hirn anscheinend intakt. Pulsiert gegen Ende der Operation gut. Tam-
ponade etc. Puls nach der Operation gegen 80.
Am nächsten Tage Besserung, dann zunehmende Benommenheit und
Tod nach 2 Tagen.
Sektionsdiagnose: Linksseitige Basisfraktur mit Eröffnung des
Mittelohres und Blutung in dasselbe. Ausgebreitete subdurale Blutung
speziell der Konvexität der linken Hemisphäre. Kontusion des linken und
des rechten (Contre coup!) Schläfenlappens.
[Punktionsstellen olme Besonderheiten.]
80. 0. Nagel, Buchdruckerlehrling, 16 Jahre, 20. April bis 20. Mai 1904.
Anamnese: Seit dem 10. Lebensjahr leidet er an häufig auftreten-
den Anfällen. Dieselben bestanden früher in einer 4 — 5mal wöchentlich
auftretenden Lähmung, die in den Fingerspitzen der linken Hand und im
linken Fuü begann und sich dann auf die ganze linke Seite erstreckte.
Er war dabei bewußtlos und kam erst nach 2 Stunden zu sich. Voran
ging Kribbeln in der linken Seite; nach dem Anfall waren noch 1 Tag
lang Kopfschmerzen vorhanden.
In der Zwischenzeit zwischen den Anfällen, die in letzter Zeit seltener
wurden, blieb allmählich eine Schwäche der linken Seite zurück und eine
Herabsetzung des Gefühls.
Später traten an Stelle der Lähmungen Krampfanfälle von 10 Minuten
Dauer, während welcher das Bewußtsein erhalten blieb. Es waren klo>
nische Krämpfe der linken Seite, die bald im linken Fuß, bald in den
Fingern der linken Hand begannen. Die Finger waren während des An>
falles tonisch gebeugt. Häufige Zungenbisse!
Schließlich hatte N. in neuester Zeit schwerste Anfälle von Krämpfen
mit sich anschließenden Lähmungen und erloschenem Bewußtsein. (Li
diesem Jahr schon 9 solcher Anfälle.)
Aus dem Befund: Sensibilität und motorische Kraft am linken Arm
und Bein herabgesetzt. Patellarreflexe links gesteigert. Fußklonus links.
Pupillen reagieren. Kein Fieber etc.
Ein leichter Anfall hier beobachtet: Zuckungen der linken Seite, die
in der linken Hand beginnen, ohne Bewußtseinstrübung.
Diagnose: jACKSONSche Epilepsie.
Um eine eventuelle Cyste als Ursache der Epilepsie auszuschließen :
Hirnpunktion.
Punktion I. R. Zentrallappen (Zwischen Zentrum der Finger und
der Zehen).
Punktion IL R. Zentrallappen (Zentrum der Finger).
Die Himpunktion. 893
Beide Punktionen ohne Ergebnis. Also keine Cyste! Nach der
2. Punktion einmaliges ^brechen.
81. Herr Witt, Bestaurateur, 43 Jahr. 25. Mai bis Ende Juni 1904.
Anamnese (zum Teil von der Frau erhoben): Pat. ist seit 17 Jahren
Restaurateur. Starkes Potatorium wird zugegeben; besonders im letzten
halben Jahr!
Er war bis vor 4 Wochen gesund. Damals stürzte er plötzlich am
Büffet um und lag eine halbe Stunde besinnungslos da. Dann kam er
zu sich und klagt seitdem über andauernde und heftige Kopfschmerzen,
besonders in der rechten Kopfhälfte, die nachts ezacerbieren. Er lag die
letzten Wochen größtenteils zu Bett, schlief viel; die Denkkraft nahm ab.
Appetit und Stuhlgang waren in normaler Weise vorhanden. Erbrechen
und Schwindelgefühl fehlte. Abends fröstelte er ab und zu. Die Kraft
in den Beinen ließ nach, während die Arme kräftig blieben. Eine In-
fektion wird strikt negiert. Er hat 3 gesunde Kinder. Die Frau hat nie
Aborte oder Fehlgeburten gehabt.
Zur Zeit klagt er nur über heftige Kopfschmerzen in der rechten
Kopfhälfte speziell der rechten Scheitelgegend !
Befund: Out genährter Mann. Klar, gibt verständige Antworten
auf Befragen ; dieselben sind teilweise leicht humoristisch gefkrbt (W i t z e 1 -
sucht?)
Fieber fehlt. Puls regelmäßig, gegen 80. Deutlicher Klopfschmerz
der rechten Kopfhälfte, am intensivsten in der rechten unteren Scheitel-
gegend, ca. 4 Finger breit oberhalb des Ansatzes der Ohrmuschel ; weniger
stark in der rechten Stirngegend. Schwere doppelseitige Stauungspapille
mit Netzhautblutungen.
Mimische Parese des linken (unteren) Facialis; motorische Kraft der
Extremitäten anscheinend gut, doch ist der linke Arm vielleicht leicht
paretisch. Sensibilität an der ganzen linken Körperhälfte leicht herab-
gesetzt.
Pupillen reagieren auf Licht, „springen" zeitweise, sind meist sehr
weit. Patellarreäexe gesteigert, besonders links. Oang etwas zögernd
und langsam, sonst ohne Besonderheiten.
Kein Erbrechen, kein Schwindel, keine deutliche Puls verlangsamung.
Diagnose: Lues cerebri oder Tumor cerebri.
Ord. Schmierkur und Jedipin.
Verlauf: Zu Anfang Besserung ; Kopfschmerzen gehen zurück; Pat
steht auf.
Später Verschlechterung: Erbrechen stellt sich ein; Pat ist leicht
benommen, ja ganz unklar. Die Kopfschmerzen werden heftiger. Der
Puls geht zeitweise auf 60! in der Minute herunter. Fieber fehlt völlig.
14. Juni. Lumbalpunktion: Druck 500 mm Wasser. Klare
Flüssigkeit, die kein Oerinnsel bildet. Pat ist völlig benommen,
läßt unter sich: Puls 56, gespannt
15. Juni. Pat ist comatös.
Punktion I. An der Stelle des stärksten Druckschmerzes (rechte
Scheitelgegend): ohne Ergebnis (normale Hirnsubstanz aspiriert).
Punktion IL Etwas nach vom von Punktion L Ergebnis wie bei
Punktion L
In den nächsten Tagen leichte Besserung. Puls hebt sich etwas.
18. Juni, Puls geht auf 56 herunter. Pat. ist wieder
ganz comatös.
894 Ernst Neisser und Kurt Pollack,
Punktion IIL Am oberen Stirnpunkt rechts (F^). Extra-
dural: nichts.
Intradural: aus 3 cm Tiefe (»s ca. 1,5 cm Oehimtiefe) entleert
sich blutige Flüssigkeit bezw. blutige Massen. Bräunliche Flocken
und Stückchen zeigen altes Blut an. Darin schwimmen femer Ge-
webspartikelchen von grauer bis grau-gelblicher Farbe.
Mikroskopisch frisch: massenhaft Fettkörnchenzellen; femer
polygonale und polymorphe Zellen.
In Paraffin eingebettet: a) normale, weiße Substanz ; b) Haufen
von ziemlich großen, protoplasmareichen Zellen; heben sich deutlich von
der Himsubstanz ab. Werden als Tumorzellen gedeutet.
Weitere Punktionen, um die Ausdehnung des vermuteten Tumors
festzustellen :
Punktion IV. Etwas nach hinten und außen von Punktion III: nor-
male Hirnsubstanz aspiriert.
19. Juni. Starkes Erbrechen. Die Benommenheit nimmt zu. Kein Fieber.
Punktion V. Nach vorn, von Punktion in.
Punktion VI. Nach vorn und außen, von Punktion III.
Punktion VII. Nach hinten, von Punktion III.
Ergebnis bei allen 3 Punktionen : normales Hirngewebe.
20. Juni. Fat. schluckt nicht mehr.
Punktion VIII. Am unteren Stimpunkt {F^): normale Himsubstanz.
Punktion IX. Medial von Punktion III (oberer Stirnpunkt):
die Nadel wird erst senkrecht zur Oberfläche eingeführt: kein Ergebnis.
Nadel dann etwas schräg nach außen dirigiert; man fühlt einen
Widerstand, der durchstochen wird. Sofort quillt (in etwa 2 cm Him-
tiefe), gelbe, leicht getrübte Flüssigkeit heraus, die sich später
blutig tingiert. So 5 g entleert, dann Punktion unterbrochen.
Im Sediment der Flüssigkeit: altes Blut (Hämosiderin), Fett,
Detritus, Leukocyten und Tumorzellen (s. oben).
Diagnose: Tumor (vermutlich Sarkom) des rechten Stirn-
lappens im Bereich unseres oberen Stirnpunktes und
medial davon, von nicht bedeutender Flächenausdehnung
und zentraler cystischer und blutiger Erweichung.
Nach der Punktion: Puls hebt sich bis 96! Pat. ist viel
klarer. Er witzelt!
Pat wird zur Operation auf die äußere Abteilung verlegt.
Operation am 22. Juni 1904 durch Herrn Prof. Häckel. Bildung
eines WAONERschen Lappens im Bereich von Punktionsstelle HI und IX.
Dura sehr stark gespannt! Keine Hirnpulsation!
Dura durch Kreuzschnitt eröffnet: es liegt leicht blutig suffundierte
Pia vor. Im Zentrum der freigelegten Himpartie fällt sofort eine runde,
circa markstückgroße, veränderte Hirnpartie auf, die leicht
über die Umgebung erhaben ist und sich fester anfUhlt. Es
handelt sich um die Oberfläche eines ziemlich harten Tumors, der sich
leicht aus der umliegenden Hirnsubstanz herausschälen läßt; er hat
die Gestalt eines Kegels, dessen Basis der Hirnoberfläche entspricht
und die Größe einer großen Walnuß. EEie und da ist die graugelb-
liche Tumorsubstanz durch Blutungen rot gesprenkelt. Auf dem Durch-
schnitt sieht man in dem unteren Teil der Geschwulst (nahe der Spitze
des Kegels) die zusammengesunkene, fast ganz durch die Punktion
entleerte Cyste bezw. cystische Erweichung.
Nach Herausschäl ung des Tumors sinkt die Hirnsubstanz zusammen,
Die Hirnpunktion. 895
die Bänder legen sich gut aneinander. Schließang der Dura ohne Schwierig-
keiten. Zurückklappung des Lappens.
Weiterer Verlauf auffallend schnell und günstig. Die Beschwerden
verschwinden fast mit einem Schlage. W. macht nach
wenigen Tagen den Eindruck eines ganz gesunden Mannes.
Völlige Heilung (auch die leichte Facialisparese schwindet).
Mikroskopische Untersuchung des Tumors ergibt: ein alveoläres
Sarkom bezw. Endotheliom. (Ausgangspunkt vermutlich die Pia.)
Die kegelförmige Gestalt des oberflächlichen Tumors erklärt^ daß man
rings herum vergeblich punktiert hat.
32. E. B., 12-jähr, Mädchen. Idiotisch. Verdacht auf Hirncyste.
Funktion I, linker Hinterhauptslappen.
Punktion II, linker Hinterhauptslappen.
Punktion III, linke motorische Eegion.
Punktion IV, linke motorische Begion.
Ohne Ergebnis. Beaktionsloser Verlauf.
88. Schlie, Mann. Kopfeiterung nach Schußverletzung. Verdacht auf
Schläfenlappenabsceß. 3 Punktionen; ohne Ergebnis. Also kein Absceß!
Beaktionsloser Verlauf. Spätere Sektion bestätigt das Fehlen eines Hirn-
abscesses.
84. Bmü Werner» 28 Jahr, 20. Juli 1904.
Anamnese: Vor 2 Tagen erkrankt mit Schmerzen im linken Ohr.
Das Ohr lief nicht. Seit heute mittag besteht hohes Fieber, Fröste,
völlige Benommenheit Kein Erbrechen, keine Krämpfe.
Befund: Völlig benommener Mann. Oedem und Druckschmerzhaftig-
keit in der Gegend des linken Warzenfortsatzes. Temperatur 38,3^, Puls
gegen 70, dikrot. Nackensteifigkeit. Rechtsseitige Facialisparese. Un-
regelmäßige Atmung (Cheyne-Stokes !). Pupillen eng, reaktionslos, Patellar-
reflexe erloschen.
Lumbalpunktion : 472 mm Wasserdruck ; leicht getrübte Flüssigkeit, in
der sich massenhafte Leukocy ten, keine Bakterien finden. Gleich darauf er-
weitern sich die Pupillen; der Puls steigt auf 80.
Augenhintergrund: erweiterte Venen, keine Stauungspapille.
Diagnose: Eiterige Meningitis im Anschluß an Otitis media sinistra.
Verdacht auf otitischen Himabsceß.
21. Juli. Temperatur 37,7, später 38<>. Puls 64 Rechtsseitige Parese
von Arm, Bein und Facialis. Cheyne-Stokes. Pat. liegt in ex-
tremis.
Hirnpunktion I. Linkes Kleinhirn: ohne Ergebnis.
Hirnpunktion II. Linker Schläfenlappen (Absceßpunkt) : Nach Durch-
bohrung des Schädels wird extradural reichlich blutig-seröse, leicht eiterig
getrübte Flüssigkeit aspiriert. Darin massenhafte Leukocyten und Strepto-
kokken. Nunmehr Dura durchstochen und wieder aspiriert: ohne Ergebnis.
Diagnose: Extraduraler Absceß im Bereich des linken
Schläfenlappens; kein Himabsceß.
Die gleich darauf wiederholte Lumbalpunktion ergibt wieder eiterig
getrübte, aber bakteiienfreie Flüssigkeit.
Während der Punktion: völlige Atemlähmung; Einleitung künstlicher
Kespiration! Allmählich stellt sich die Atmung wieder her.
Sofort Operation angeschlossen (Prof. Häckel).
Nach Freilegung der Punktionsstelle sieht man aus der äußeren
896 Ernst Neisser und Kurt Pollack, Die Hirnpunktion.
Bohröffnung reichlich eiterig-blutige Flüssigkeit hervor-
spritzen!
Trepanation. Die Dura ist eiterig belegt, es finden sich noch etwa
2 Teelöffel Eiter vor. Probepunktion durch die Dura ergibt nichts.
Darauf Aufmeißelung des linken Warzenfortsatzes: Zellen desselben
mit Eiter angefüllt.
Direkter Zusammenhang mit dem extraduralen Absceß.
Verlauf: Nach der Operation bedeutende Besserung. Das Fieber
verschwindet Pat. ist viel klarer. Die Lähmung geht zurück.
24. Juli. Eieberschub. Lumbalpunktion: kein Ueberdruck mehr; klare
Flüssigkeit Im Sediment Leukocyten; keine Bakterien.
Fieber und die übrigen Erscheinungen gehen allmählich zurück. Nach
12 Tagen völlige Entfieberung. — Heilung.
Anhang.
1. G., dementer Knabe mit chronischer Encephalitis.
Punktion des linken Seitenventrikels. Reaktionsloser Verlauf.
2. N., Frau; Fall von Tetanus.
Punktion des Seiten Ventrikels nach Kocher und Injektion von
Behrings Heilserum. Exitus.
Aus dem Sektionsprotokoll: Im linken Seiten Ventrikel ein
wurmartiges, mehrere Centimeter langes Blutgerinnsel; ein kleineres im
4. Ventrikel. Stichkanal durch die Himsubstanz als feiner, blauschwarzer
Strich zu sehen.
Inhaltsverzeichnis. gelte
Literatur 807
Technik 815
Anatomischer Teil (Wahl der Punktionsstelle) 821
Punktion der einzelnen Lappen 822
Stirnhim 822 — Kleinhirn 823 — Zentrallappen 824 — Schlafenlappen 827
Scheitel- und Hinterhauptslappen 828, 829
Punktion der typischen Abscesse und Blutungen 830
Absceßpunkte ► 830
Schl^enabscefipunkt 831 — Eleiohirnabsceßpunkt 834 — Andere Ab-
scesse 835
Blutungspunkte 836
Tiefe der Punktion 837
Zusammenfassung 838
Klinischer Teil 838
Positive Ergebnisse der Punktion 839
Altes Blut (intrakranieile BlutuDg) 839 — Hämatoidin 846 — Cystenflüiwig-
keit (Cyste, Tumor) 846 — Eiter (Absceß, Meningitis) 847 — Serös-eiterige
Flüssigkeit 849 — Pathologisches Gewebe (Tuberkel, Tumor) 850 — Hämor-
rhagisches Oedem 853 — Liquor cerebrospinalis (Meningitis serosa) 854
Negative Ergebnisse der Punktion 854
Kein Absceß 854 — Kein Tumor 855
Uebersicht über sämtliche punktierte Fälle 856
Zahl der Punktionen 859
Unangenehme Zwischenfälle bezw. Folgen der Punktion .... 859
Befunde an den Punktionsstellen 860
Schluß 861
Krankengeschichten 856
Aus der Breslauer chirurgischen Klinik (Prof. v. Mikulicz).
Nachdruck verboten.
XXXL
tJeber peptische Geschwüre des Jejimums
nach Gastroenterostomie.
Von
Dr. Max Tiegel»
Volontärarzt an der Klinik.
Zu den nach Gastroenterostomie beobachteten Komplikationen ist
in den letzten Jahren eine neue hinzugetreten : das Ulcus pepticum
jejuni. Seitdem Braun als erster 1899 auf dem Chirurgenkongreß
einen solchen Fall mitgeteilt hat, haben sich derartige Beobachtungen
gemehrt. Und wenn sie auch immerhin noch zu den seltenen Ausnahmen
gehören, so sind sie doch gerade häufig genug, daß der Chirurg bei
der Anlegung einer Gastroenterostomie mit ihnen rechnen muß.
Die bisher beobachteten Fälle sind meist vereinzelt auf Kongressen
mitgeteilt worden ; eine zusammenfassende Darstellung haben sie meines
Wissens nach noch nicht gefunden. Bei dem Interesse, das von selten
der Chirurgen diesen Beobachtungen entgegengebracht wurde, bei der
Wichtigkeit, die sie für das Gebiet der Abdominalchirurgie gewinnen, er-
scheint es angezeigt, die bisher gemachten Erfahrungen einmal zu
sammeln und zusammenzustellen.
In der Breslauer Klinik kamen seit dem Jahre 1899 5 Fälle von
Ulcus pepticum jejuni zur Operation, also Fälle mit absolut sicherer
Diagnose. Dazu kommt ein sechster Fall, in welchem auf Grund der
vorliegenden Symptome mit größter Wahrscheinlichkeit ein Ulcus jejuni
angenommen werden mußte. Ich lasse zunächst die Krankengeschichten
dieser 6 Fälle folgen i).
1) Die 3 ersten Fälle sind bereits von Kaüsch auf den Chirurgenkon-
gressen 1899, 1900 und 1902, sowie im Handbuch der praktischen Chirurgie,
von V. Bergmann, v. Bruns und v. Mikulicz (II. Aufl., Bd. 3, p. 110)
erwähnt. Femer findet sich eine Mitteilung der ersten 5 Fälle, versehen
mit einer Abbildung des anatomischen Präparates des ersten Falles von
Herrn Oeheimrat v. Mikulicz in dem Boston Medical and Surgical Journal
(No. 23, 1903).
Max Tiegel,
Fall II). Klara W., 2 Monate alt.
Am 28. Sept 1900 als ausgetragenes Kind geboren; erhielt Matter-
brüst; entwickelte sich während des ersten Lebensmonates völlig normal.
Mit Beginn des 2. Lebensmonates stellt sich einige Male Erbrechen ein;
die Nahrungsmengen steigen nicht an; das Körpergewicht nimmt ab.
Gegen Ende des 2. Lebensmonates treten nach etwa einwöchentlicher Re-
mission diese Symptome wieder auf. Bei täglicher Nahrungsaufnahme von
300 g mehrere Male am Tage Erbrechen, meist unmittelbar nach dem
Trinken, bisweilen aber erst 3 — 4 Stunden nach der Mahlzeit. Die Unter-
suchung mit GüNZBTTROschem Reagens ergab fast stets freie Salzsäure.
Bisweilen trat sichtbare Peristaltik auf; die Welle verlief von links nach
rechts. Die Falpation des Abdomens ergab nichts Besonderes. Die Diagnose
lautete auf angeborene Pylorusstenose.
Da trotz interner Therapie der Zustand sich nicht änderte, das Körper-
gewicht mehr und mehr abnahm, wurde das Kind unserer Klinik zur Ope-
ration tiberwiesen. (Bis dahin war es in der Univ. Kinderklinik behandelt
worden.)
Am 27. Nov. 1900: Operation (Prof. v. Mikulicz). Nach Eröffnung
der Bauchhöhle fand sich in der Pylorusgegend ein etwa walnußgroßer
solider Tumor, dessen Längsdurchmesser auf ungefähr 3,5 cm, dessen
Dickendurchmesser auf l^/j — 2 cm geschätzt wurde. Es wurde eine
Gastroenterostomia antecolica anterior mit Enteroanastomose mittels Naht
ausgeführt. Dauer der Operation 35 Min. Narkose ohne Zwischenfall.
Heilungsverlauf war völlig fieberfrei. In der ersten Woche nach der
Operation wurde die Nahrungsaufnahme erheblich eingeschränkt; dann
wieder unbeschränkte Nahrungsaufnahme wie früher. Die tägliche Nahrungs-
menge und auch das Körpergewicht nahmen zu; Erbrechen stellte sich
nicht wieder ein: die bestehenden Störungen waren durch die Operation
völlig behoben worden.
Die weitere Rekonvaleszenz wurde durch einen heftigen, 3 Wochen
nach der Operation einsetzenden und 3—4 Wochen anhaltenden Bronchial-
katharrh gestört; dann wieder Wohlbefinden.
In der Nacht vom 2. zum 3. Febr. traten zwei schwarze Stuhlent-
leerungen auf; in der Frühe eine profuse Magen blutuug. Ein chirurgischer
Eingriff wurde für aussichtslos gehalten. Das Kind erholte sich wieder.
Am 10. Febr. trat noch einmal schwarzer Stuhl ein. Auf mehrere
Injektionen von 2-proz. Oelatinelösnng keine Blutung mehr.
Unter hohem Fieber entwickelte sich eine Phlegmone der Kreuzbein-
gegend.
Am 17. Febr. stellten sich Symptome von Peritonitis ein; an dem-
selben Tage Exitus. In der Zeit nach der Operation ließ sich keine
H3'perchlorhydrie nachweisen ; es fand sich häufig keine freie Salzsäure im
Mageninhalt.
Bei der Obduktion ergab sich folgender Befund : Bei Eröffnung des
überaus gespannten Abdomens hört man deutlich eine reichliche Menge
Luft entweichen. Im kleinen Becken finden sich ca. 25 ccm einer gelb-
grauen, gröbere Bröckel enthaltenden Flüssigkeit, der ganz zweifellos
Darminhalt beigemischt ist. Die Serosa allgemein leicht getrübt, aber ohne
besondere Injektion. Die Leberoberfiäche ist deutlich trocken. Nach
1) Bereits publiziert: Freund, üeber Pylorusstenose im Säuglingsalter.
Mitteilungen aus d. Grenzgeb., Bd. 11, p. 309.
Ueber pep tische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie.
Lösung einiger leicht lösbaren Adhäsionen zeigt es sich, daß an den ver-
größerten Magen eine Jejuniunschlinge herangezogen ist, die mit ihm in
der Mitte der großen Kurvatur durch eine Gastrojejuno- Anastomose kom-
muniziert. Die beiden Schenkel der Jejunumschlinge sind außerdem durch
eine Enteroanastomose verbunden.
An beiden Stellen ist die Verklebung der Serosafiächen eine ganz
feste. Ueber den Sitz der Perforationsöffnung läßt sich zunächst nichts
bestimmtes aussagen; man sieht indessen, daß sie sich offenbar im Ope-
rationsgebiet befinden muß. Bei Druck auf den Magen quillt Inhalt hinter
einer kleinen Falte der vorderen Begrenzungsmembran der Possa omentalis
hervor. £rst nachdem der Magen bis zur Anheftungsstelle des Jejunums
aufgeschnitten ist, ebenso die beiden Schenkel der Jejunumschlinge, werden
die Verhältnisse klar. In der Jejunumschleimhaut, welche sich etwas blasser
von der mehr rosa gefärbten Magenschleimhaut gut absetzt, finden sich
mehrere Substanzverluste: im abführenden Schenkel ein größerer und ein
kleinerer; desgleichen im zuführenden. Dieselben liegen in unmittelbarer
Nähe der Gastroenteroanastomose. Die kleineren Defekte betreffen nur die
Schleimhaut; die größeren, rund, terassenförmig in die Tiefe gehend, legen
die Muscularis bloß. Im zuführenden Schenkel findet sich nun die erbsen-
große Perforationsöffnung, die den Grund des größeren Ulcus darstellt. Die
ganze Auskleidung der Bursa omentalis ist mit Ingestis bedeckt und mit
ßbrinÖB-eiterigen Niederschlägen besät. Außer einer mäßigen Intumeszenz
der Mesenterialdrüsen und einer extremen Blässe sämtlicher Unterleibs-
organe findet sich bis auf den Magen nichts Besonderes. Der Magen er-
weist sich im ganzen sehr muskulös, besonders stellt aber die Pars pylo-
rica einen sehr festen Cylinder dar, der eine sehr starke Muscularis be-
sitzt. Vom Duodenum aus betrachtet, stülpt sich der Pylorusteil portio-
artig in das Darmlumen vor.
Fall II. Markus W., 32 Jahre, Kürschner.
Familienanamnese ist ohne Belang. Als Kind von 5 Jahren wurde
er wegen einer Anschwellung des rechten Ellenbogengelenkes operiert;
seitdem Steifheit dieses Gelenkes. Mit 7 Jahren war Pat. vorübergehend
halskrank. Seine Magenbeschwerden fingen vor 12 Jahren mit Schmerzen
in der Seite an. Vor 6 Jahren stand Pat. in poliklinischer Behandlung
eines hiesigen Krankenhauses. In dieser ganzen Zeit bestand vorüber-
gehendes Erbrechen. Am 2. Sept. 1898 wurde Pat, in eben demselben
Hospital operiert. Bei der Operation fand sich der Magen sehr groß, der
Pylorus eng (deutlicher, narbiger Schnürring). Es wurde die Gastroentero-
stomia antecolica anterior an der großen Kurvatur vorgenommen. Die
Stelle am Darm lag 50 cm unterhalb des Duodenums.
Nach der Operation bestand vorübergehende Besserung. Im Januar 1899
erfolgte wiederum Aufnahme wegen Schmerzen und Abmagerung. Die
Untersuchung des Mageninhaltes ergab damals : etwas verminderte Motilität^
Acidität 90—110, keine Milchsäure.
Am 24. Januar 1899 wurde Pat. wiederum operiert. Nach Eröffnung
des Leibes in Medianlinie, im alten Schnitt, liegt die Gastroenteroanastomose
vor; oberhalb derselben der dilatierte Magen; links von ihr Verwachsungen
des Magens und der Anastomose mit der vorderen Bauchwand. Nach
Lösung derselben befindet sich hier eine Perforation an der Stelle der
Anastomose. Die genauere Untersuchung zeigt, daß an dieser Stelle ein
runder Defekt von lYj cm Durchmesser der Schleimhaut und der übrigen
Wand vorliegt ; etwa zur Hälfte dem Magen, zur Hälfte dem Jejunum an-
900 Max Tiegel,
gehörend. Rings herum befinden sich Verwachsungen. Das bestehende
Ulcus greift noch ein wenig in die vordere Bauchwand hinein. Die festen
Verwachsungen haben offenbar die Anastomose und den nächstliegenden
Teil des Darmes verengt. Die Perforationsstelle durch 2-reihige Naht —
im Sinne der Gastroenterostomie, also in frontaler Nahtlinie — geschlossen.
10 cm unterhalb derselben wird eine Enteroanastomose mittels Naht an-
gelegt. Jodoformgazetamponade. Am 8. Febr. völliges Wohlbefinden.
8 Tage später fingen die Schmerzen wieder an und wurden oft äußerst
heftig. Gewichtszunahme in dieser Zeit um 4 Pfd.
Am 29. Juni 1899 erfolgte wiederum Aufnahme in unsere Klinik.
Status: Mittelgroßer Mann, leidend aussehend. Muskelatrophie des
rechten Oberarms. Bechtes Ellenbogengelenk in Beugestellung fixiert;
nur wenig beweglich. Innere Organe ohne pathologischen Befund. Urin:
sauer, frei von Albumen und Zucker. Die funktionelle Magenuntersuchung
ergibt folgendes: L Frtlh in nüchternem Zustande ist der Magen leer.
n. *|4 Stunden nach Probefrühstück (400 Hafermehlsuppe) findet sich Ge-
samtacidität (Phenolphth.) 44, freie HCl (Kongo): 32. III. 12 Stunden
nach Probemahlzeit (125 g Beefsteak, 1 Semmel, 300 g Wasser). Menge:
42 com. Gesamtacidität (Phenolphth.). 34 Keine Milchsäure.
7. Juli Operation. Ruhige Chloroformnarkose. Die Narbe am Bauche
wird excidiert, wobei das Peritoneum eröffnet wird. Es zeigt sich, daB
die Stelle der Gastroenterostomie mit der Bauchwand verwachsen ist. Bei
der Ablösung derselben, wird ein an dieser Stelle bestehendes Geschwür
freigelegt; Magen und Darm sind nun an der Vorderseite der Verbindungs-
stelle geöffnet Es wird nun der zuführende Schenkel durchtrennt und
der nach dem Duodenum zu liegende Teil desselben nach Doyen geschlosseu.
Die hierbei freigelegte Enteroanastomose erweist sich ftlr 3 Finger durch-
gängig. Der an dem Magen fixierte Teil des zuführenden Schenkels wird
aus demselben herausgelöst; die Vorderseite der Anastomose zwischen
Magen und abführendem Schenkel vernäht. Zur gröiieren Sicherung wird
diese Stelle noch mit Netz übemäht. Schlui! der Bauchwunde bis auf eine
kleine Stelle in der Mitte, wo ein nach der übernähten Netzpartie fiihrender
Jodoformgazestreifen herausgeleitet wird.
In den folgenden Tagen mehrere Male geringes Blutbrechen. Am
9. Juli Tampon entfernt; Schluß der Bauchwunde. Am 1. Aug. 1899
gebessert entlassen. Noch vor seiner Entlassung stellten sich wieder
Schmerzen in der Magengegend ein. Diese änderten später ihren Sitz
und traten hauptsächlich in der rechten Seite und im Bücken auf. Nur
wenn sie sehr heftig wurden, nahmen sie die ganze Magengegend ein.
Die Schmerzen wurden stärker ly^ Stunden nach der Mahlzeit, sowie
Abends beim Liegen. Im September 3 Tage lang blutiger Stuhl.
Wiederaufnahme: 12. Dez. 1899. Status: Blasser Mann in schlecht
tem Ernährungszustande.
Innere Organe ohne Befund.
I. Im nüchternen Zustande ist der Magen leer; IL nach Probefrühstück
(nach */^ Stunden ausgehebert) Menge 300 ccm; keine Milchsäure;
IIL 5 Stunden nach der Probemahlzeit 300 ccm, Rest 130, Gesamt-
acidität 99; freie HCl 65. Pat. klagt über Schmerzen in der rechten
Seite, unter dem Rippenbogen, die hauptsächlich in der Nacht auftreten.
2 — 3 Stunden nach dem Essen stellen sich Schmerzen in der Magengrube
ein, die auf Magenspülungen und Gebrauch von Karlsbader Salz und
Magnes. usta nachlassen.
9. Jan. 1900. Operation.
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroeuterostomie. 901
Nach Excision der alten Narbe, wobei das Peritoneum eröffnet wird,
und nach Er weiterang des Schnittes auf 12 cm ergibt sich, daß zwischen
Darm und Magen einerseits und der Bauchwand andererseits keine Ver-
wachsungen bestehen. Die Oeffnungen der Gastroenteroanastomose, sowie
der Enteroanastomose sind reichlich für 2 Finger durchgängig. Die Pal-
pation der Magenwand ergibt zwei Knoten in der Nähe des Pylorus, die
für Ulcera angesprochen werden. Es wird nun an dem blindsackartigen
Teil des Dünndarms, der bei der vorigen Operation durch Durch trenn ung
des zuführenden Schenkels entstanden ist, eine WiTZBLsche Fistel ange-
legt. Das eingelegte Drain führt durch die Enteroanastomose in den ab-
führenden Schenkel.
Vollständige Primaheilung.
Einige Tage nach der Operation klagt Pat. noch über starke Schmerzen.
Dieselben lassen jedoch bald nach; nach einer Woche ist Pat. völlig
schmerzfrei. Seine Ernährung erfolgt ausschliei^lich durch die Fistel.
Per OS nimmt Pat. nur Bismuth. subnitr. (tägl. 4,0) mit Wasser.
Am 9. Febr. wird Pat. in ausgezeichnetem Wohlbefinden aus der
Klinik entlassen. Am 12. Febr. stellt sich Pat. wieder vor mit heftigen
Schmerzen im Kreuz und in der Lebergegend, die seit dem 10. Febr.
bestehen, hauptsächlich nachts, jedoch auch bei Tage, anfallsweise vor
und nach dem Essen auftreten. Pat. hat Stuhlgang gehabt, der voll-
kommen schwarz aussah.
Am 13. Febr. Wiederaufnahme. Die Schmerzanfälle bestehen fort.
Pat hebert sich selbst den Magen aus, was die Schmerzen jedoch nur
etwa V2 Stunde verschwinden läßt. Beim Aushebern entleeren sich
Speiseteile in einer Menge von 600 — 700 ccm aus dem Magen. Der in
der anfallsfreien Pause ausgeheberte Mageninhalt wies eine Gesamtacidität
von 60 — 72; freie HCl 36 auf, der während des Anfalls gewonnene da-
gegen eine solche von 80 — 112, freie HCl (Kongo) 64 — 90. Milchsäure
stets negativ.
16. März. Operation.
Laparotomie; an der großen und kleinen Kurvatur werden etwas
rechts von der Mitte alle sichtbaren Ge£&&e und Nerven doppelt ligiert
und durchgeschnitten. Die Schmerzanfölle bestehen auch nach der Operation
fort. Seit dem 24. März nimmt Pat. auch per os Nahrung zu sich (Hafer-
mehlsuppe, Kakao, Kaffee).
1. April wurde Pat. entlassen. Er nahm nun den größten Teil seiner
Nahrung per os zu sich; den kleinern Teil durch die Fistel, ohne sonder-
lich Schmerzen zu haben. 2 — 3mal am Tage heberte und spülte er sich
den Magen aus; der Appetit war mäßig; häufig bestand schlechter Ge-
schmack im Munde. Am 1. Mai ließ er sich wieder in die Klinik auf-
nehmen. Allgemeinstatus gegen früher nicht geändert. Pat. war stark
abgemagert. Im Unterleib ist nirgends eine Besistenz fühlbar. 5 Stunden
nach der Probemahlzeit werden 460 ccm einer trüben, grünlich-braunen,
Speisereste enthaltenden Flüssigkeit gewonnen; Gesamtacidität 118, freie
HCl 75. Es werden häufige MagensptQungen vorgenommen. Pat. wird
wiederum ausschließlich durch die Fistel ernährt. Trotzdem ist im Magen
stets Inhalt enthalten, der grünlich gefärbt ist und reichlich Gallen-
farbstoff enthält. Ob er auch Speisereste enthält, ist nicht sicher nach-
zuweisen. Um festzustellen, ob ein retrograder Transport von der Fistel
aus in den Magen stattfinde, wird durch dieselbe eine Aufschwemmung
von fein geriebener Holzkohle eingegossen. Nach 1^/^ Stunden finden
sich Kohleteilchen im ausgeheberten Mageninhalt. 8. Mai 1900 gebessert
MlttoU. a. fl. üreas«eMeten d. Medlztn u. Ctdroiri«. Xm. Bd. 58
902 Max Tiegel,
entlassen. 5 Wochen lang nach seiner Entlassung goß sich Pat. seine
Nahrung ausschließlich durch den Schlauch ein; er hatte in dieser Zeit
keinerlei Beschwerden; nahm 4 Pfund zu. Nach Wechseln und Ver«
kürzung des Schlauches gelangten die durch denselben eingegossenen
Speisen wieder in den Magen; die Schmerzen traten von neuem auf;
Pat. mußte sich wieder den Magen ausspülen (2 — 8mal täglich). Im
August 1900 Blutbrechen. Nach einer Kur in Salzbrunn trat geringe
Besserung seines Zustandes ein. Pat. entfernte nun den Schlauch aus
der Fistel und nahm alle Nahrung per es. Gegen die Schmerzen öfters
Magenspülungen, sowie starke Morphiumdosen. Aus der Fistel entleerte
sich Mageninhalt in wechselnder Menge.
Wiederaufnahme: 17. Mai 1901. Allgemeinstatus unverändert.
I. Aus nüchternem Magen werden 160 ccm hellgrüner Flüssigkeit
ausgehebeit: Gesamtacidität 37 ; freie HCl 20; Milchsäure 0. ü. 5 Stunden
nach Probemahlzeit werden 600 ccm mit reichlichen Speiseresten aus-
gehebert. Gesamtacidität 109; freie HCl 62. Der Magen ist stark
dilatiert; bei Aufblähung reicht die große Kurvatur 4 Pinger breit unter
den Nabel. Die Sondierung der Fistel mittels eines Schlauches gelingt
nicht. 10. Juni. Patient wird auf Wunsch entlassen.
Fall ITT. W., August, 26 J. alt, Arbeiter. Aufgenommen am 26. Juli 1 899.
Anamnese. Pat. stammt aus gesunder Familie. Im Februar 1898
wurde Pat. in einem hiesigen Krankenhaus 4 Wochen an Blinddarm-
entzündung behandelt. Vor ungefähr 1 Jahre erkrankte er an Durchfall^
der ca. Vs J&hi* anhielt. Der Stuhl war manchmal schwarz. Es stellte
sich in dieser Zeit öfters am Tage Erbrechen ein, das nach Y, J&^^^
nachließ. An einem Tage war das Erbrochene schwarz. Appetitlosigkeit
hat damals nicht bestanden. In letzter Zeit hat der Appetit abgenommen.
Pat. leidet, wenn er viel trinkt, an Aufstoßen; kein Erbrechen. Wenn
er viel Flüssigkeit im Magen hat, was Pat. an Plätschergeräuschen merkt^
hat er auch Schmerzen. Urinmengen trotz reichlichem Flüssigkeitsgenuß
nur gering. Seit 1 Jahr hat er ca. 60 Pfund abgenommen.
Status: Sehr großer, kräftig gebauter Mann ; Muskulatur nur mäßig
entwickelt. Innere Organe ohne Befund. Urin ohne Eiweiß und Zucker.
Baucbd ecken schlaff. Beim Schütteln des Leibes deutliches Plätscher-
geräusch. Bei Aufblähung des Magens kommt die große Kurvatur in
Nabelhöhe zu stehen. Gleich nach Ankunft des Pat. wird der Magen
ausgehebert. Pat. preßt mit Leichtigkeit 1 Liter Flüssigkeit aus von
folgender Beschaffenheit: Gesamtacidität 99; freie HCl 66; Milchsäure
negativ. I. ^j^ Stunden nach 400 g Schleimsuppe (Boas) werden 400 ccm
ausgehebert. Gesamtacidität 65; freie HCl 48. U. Probemahlzeit,
abends verabreicht, früh ausgehebert, Menge 26 ccm; Gesamtacidität 68;
freie HCl 42; Milchsäure negativ.
27. Juli Operation. In ruhiger Chloroformnarkose wird ein Ein-
schnitt in der Medianlinie gemacht Der vorliegende Magen ist sehr groß.
Der Pylorus in die Höhe gezogen und als kleiner Tumor in der Gegend
der Porta hepatis fühlbar; sein Lumen ist nicht festzustellen. Kein Ulcus
zu fühlen. Keine Drüsen. Es wird eine Gastroenterostomia anterior ante-
colica und eine Enteroanastomose (beide mittels Naht) angelegt. Schluß
der Bauchwunde in typischer Weise. Die Wunde heilt per primam.
Heilungsverlauf durch Pneumonie kompliziert. Pat. wird am 9. Aug. ge-
heilt entlassen.
Nach seiner Entlassung war sein Zustand zunächst ein ziemlich
Ueber peptische Oeschwüre des Jejonums nach Gastroenterostomie. 903
guter; nur merkte Fat., wenn er abends viel Getränke zu sich genommen
hatte, am nächsten Morgen Plätschern und Gui-ren. Auch hatte er das
Gefühl, als ob der Magen stets angefüllt sei. Später verspürte er von
Zeit zu Zeit stärkere Uebelkeit ; steckte er sich dann einen Finger in den
Schlund, so kam schwarze, sehr bitter schmeckende Flüssigkeit heraus;
Fat. fühlte sich dann etwas erleichtert ; der Stuhl war stets schwarz oder
sehr dunkel. Am 7. Okt., abends, wurde er bei der Arbeit schwindelig;
es entleerte sich wieder schwärzliche Flüssigkeit Als er sehr schnell
nach Hause lief, stellte sich Erbrechen ein, wodurch eine schwarze Masse
entleert wurde, deren Menge Fat. auf 2 — 3 Liter schätzt. Er fühlte sich
danach sehr schwach; Wiederaufnahme am 8. Okt.
Status: AUgemeinstAtus ohne Besonderheiten. Bei Bewegungen
hört man im Abdomen deutliches Flätschern. Der Stuhl ist schwarz.
Kein Erbrechen. Bei Flüssigkeitsaufnahme hat Fat. Schmerzen unter dem
Eippenbogen, etwas links von der Mittellinie. Eine Untersuchung des
Magens unterbleibt wegen Verdacht auf Ulcus. Bei völliger Bettruhe und
Milchdiät erholt sich Fat. bald und nimmt an Gewicht zu. Der Stuhl ist
schon am Tage nach seiner Aufnahme wieder von normaler Farbe. Am
25. Dez. steht er auf und erhält mit Vorsicht feste Nahrung. Seine Be-
schwerden — Flätschern und drückende Schmerzen im Magen nach reich-
lichem Flüssigkeitsgenuß — bestehen fort. 4. Nov. (ca. 4 Wochen nach
der letzten Blutung). Untersuchung des Mageninhalts: I. 7i Stunden
nach Frobesuppe (400 com Haferschleim) 85 ccm Inhalt; Gesamtacidität
42; freie HCl 30. IL 3 Stunden nach Frobemahlzeit 200 ccm Inhalt;
Gesamtacidität 110; freie HCl 75, Nach der Ausheberung treten heftige
Magenschmerzen auf, die jedoch unter Bettruhe und Milchdiät bald wieder
verschwinden. Seine alten Beschwerden bestehen zunächst unverändert
fort; nach Gebrauch von Karlsbader Salz bessern sie sich jedoch, so daß
Fat. am 15. Nov. in relativem Wohlbefindem auf seinen Wunsch ent-
lassen wird.
Am 22. Jan. 1901 Wiederaufnahme. Fat. klagt wieder über starke
Schmerzen, die besonders in der Nacht, wenn Fat zu Bett liegt, so heftig
werden, daß er schreien muß. Erbrechen hat er nicht. Es sind keine
Blutungen vorgekommen. Die funktionelle Magenuntersuchung ergibt
folgendes: I. Nach Frobesuppe 230 ccm Inhalt; Gesamtacidität 64; freie
HCl 53. II. Nach Frobemahlzeit (abends gegeben) wird am anderen
Morgen der Magen leer gefunden. lU. 6 Stunden nach der Frobemahlzeit
100 ccm Inhalt; Gesamtacidität 62; freie HCl 43; Milchsäure negativ.
Mikroskopisch nichts zu finden. Unter dem linken Eippenbogen fühlt man
bei Druck eine größere Besistenz als an der gleichen Stelle rechts.
25. Jan. 1 901. Operation. In ruhiger Chloroformnarkose Excision
der Narbe. Dieselbe ist sehr fest. Eröffnung des Feritoneums im Be-
reich des Hautschnittes : Hier bestehen keinerlei Verwachsungen. Dagegen
bestehen solche weiter oberhalb des Schnittes, weshalb derselbe nach
oben verlängert wird. Dabei wird die Serosa des Magens an einer Stelle
angeschnitten. Erst nachdem dem Medianschnitt noch ein zweiter, senk-
recht zu ihm, nach links zu führender Schnitt hinzugefügt, läßt sich die
Situation überschauen. Der Magen ist mit der Gastroenterostomiestelle
an der Bauchwand, links von der Mittellinie, fixiert. Beim Loslösen wird
der Magen eröffnet. Es ergibt sich dabei, daß an der Gastroenterostomie-
stelle ein Ulcus entstanden ist, das die Magenwand perforiert hat. Bei
näherer Betrachtung nach Ablösung des Magens stellt sich heraus, daß
das Ulcus nicht in der Magenwand sitzt, sondern lediglich dem zuführen-
58*
904 Max Tiegel,
den Schenkel der Jejunumschlinge angehört. Die Gastxoenteroanastomose
ist bequem für 3, die Enteroanastomose für 2 Finger durchgängig. Die
Palpation des Mageninnern ergibt ein frisches zirkuläres Ulcus am Pylorus,
das denselben so stenosiert hat, da£ nur noch die Spitze einer Komzange
hindurchgeht. Nach Excision des Ulcus im Jejunum wird der Defekt
durch innere fortlaufende Catgutnaht und durch äußere Einzelseiden nähte
geschlossen. Serosariß am Magen durch Seidennaht verschlossen. Darauf
wird eine Jejunostomie angelegt und zwar derart, daß im zufUhi-endeu
Schenkel direkt neben der Enteroanastomose eine WiTZELSche Fistel an-
gelegt wird, durch welche dann ein Drain in den abführenden Schenkel
(durch die Enteroanastomose) geleitet wird. Das Drain wird in die Mitte
des Medianschnittes eingelegt. Schluß der Bauchwunde in typischer Weise.
Dieselbe heilte völlig per primam. Sofort nach der Operation ver-
schwanden die früheren Magenbeschwerden. Fat. nahm zu. Die Er-
nährung erfolgte ausschließlich durch die Fistel. Am 11. Febr. 1901
wurde Fat. ohne jegliche Beschwerden entlassen.
Nach Verlassen der Klinik fühlte sich Fat. völlig wohl. Der Schlauch
blieb noch ^/^ Jahr in der Fistel liegen, und die Nahrung wurde aus-
schließlich durch denselben genommen. Nach der Entfernung desselben
heilte die Fistel in 14 Tagen zu. Die Speisen wurden nun per os ohne
Beschwerden genommen. Fat. konnte alles essen.
Anfang September 1901 stellte sich nach Essen und Trinken heftiges
Drücken und Brennen in der Magengegend ein. Der Schmerz war
gut an einem Funkte lokalisiert, vergrößerte sich bei Berühren dieser
Stelle, beim Husten oder Fressen. Fat. litt häufig an Uebelkeit, Auf-
stoßen, Kollern im Leibe; jedoch niemals an Erbrechen. Um das Ge-
fühl der Uebelkeit zu lindem, suchte Fat Erbrechen herbeizuführen, was
jedoch nie gelang; es kam stets nur etwas stark sauer schmeckender
Schleim heraus. Appetit war die ganze Zeit über gut. Stuhl regelmäßig;
nie schwarz. Gewichtsabnahme ca. 15 Ffd.
Wiederaufnahme am 17. Okt. 1901. Allgemeinstatus ohne Besonder-
heiten. Eine kleine Stelle (ca. 5 cm unterhalb des linken Rippenbogens,
3 cm links von der Mittellinie), ist auf Druck oder Berührung sehr
schmerzhaft. Nirgends am Abdomen eine Dämpfung.
Die funktionelle Magenuntersuchung ergibt: I. In nüchternem Zu-
stande, früh morgens, ist der Magen leer. II. ^/^ Stunden nach der Probe-
suppe: Inhalt 18,5; berechneter Rest 10; Milchsäure 0. Gesamtacidität
45; freie HCl 32. III. 5 Stunden nach Frobemahlzeit ausgehebert: 130 ccm.
berechneter Rest 22 ccm. Gesamtacidität 75; freie HCl 60.
31. Okt. 1901. Operation. Ruhige Morphium-Aethernarkose. Haut-
schnitt links von der Mittellinie; dazu senkrecht ein Schnitt medianwärts
geführt. Man kommt sofort in festes, infiltriertes Gewebe. Nach Aus-
einanderziehen der Wundränder wird lateral von der infiltrierten Stelle
das Peritoneum eröffnet und dann dieses unter Kontrolle des Fingers mit
der Schere von der Bauchwand losgelöst. Dabei wird an zwei Stellen
der Darm eröffnet; die Löcher werden sofort mit Hakenklemmen zuge-
klemmt. Beim Hervorziehen der nunmehr vollständig freigemachten, etwa
6-Markstückgroßen, infiltrierten Stelle und bei Palpation derselben zeigt
sich, daß derselben ein über markstückgroßes Geschwür entspricht Die
ganze infiltrierte Stelle, etwa 1 — 2 cm vom Geschwürsrande entfernt, wird
exstirpiert. Das herausgenommene Geschwür stellt sich als eine ovale,
über markstückgroße, tiefgreifende Einsenkung mit stark gewulsteten
Rändern dar. Der Sitz entspricht dem vorderen und oberen Rande der
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 905
Enteroanastomose. Die Gastroenterostomie ist für 2 Finger durchgängig.
Die Oeffnung im Darme durch Seidennaht geschlossen. Schluß der Bauch-
wunde in typischer Weise.
In den nächsten Tagen nach der Operation stellt sich sehr heftiges,
reichliches Erbrechen ein. In dem Erbrochenen finden sich schwärzliche,
Kaffeesatz-ähnliche Massen. In der Annahme, daß durch die Excision des
Ulcus und die Vernähung eine Stenose oder ein Circulus vitiosus ent-
standen ist, wird am 7. Nov. zu einer nochmaligen Operation geschritten.
Morphium-Aethernarkose. Nach Entfernung der Hautnähte zeigt sich das
darunterliegende Gewebe schmierig, rötlich-grau. Verschorfung dieser
Partie mit Paquelin. Die Stelle des excidierten Ulcus ist mit der Bauch-
wand leicht verklebt; sie wird gelöst und hervorgezogen. Es wird nun
etwa 5 cm unterhalb der alten Enteroanastomose eine neue mittels Naht
angelegt ; oberhalb derselben eine neue Gastroenterostomie mittels Murphy-
knopf. Dieselbe gelingt nur mit größter Schwierigkeit. Da der Knopf
nicht gut liegt, werden noch eine Anzahl Serosanähte darüber gelegt.
Bauchwunde bis auf eine kleine Oeffnung geschlossen, in welche ein Jodo-
formgazetampon eingefühet wird.
In den nächsten Tagen nach der Operation wiederum Erbrechen von
stark saurer Flüssigkeit. Am 14. Nov. stellen sich Schmerzen in der linken
Bauchseite ein. Am folgenden Tage Temperatursteigerung auf 38. Die
Druckempfindlichkeit des Abdomens hat zugenommen; aus der Tampon-
öffnung entleert sich Eiter. Fat. verfällt sichtlich; schließlich stellt sich
Benommenheit ein. Am 17. Nov. Exitus.
Die Obduktion ergibt als Todesursache Peritonitis infolge einer
Perforationsöffnung in der Magenwand, an der Stelle, wo der Knopf liegt.
Der übrige Befund ist hier nicht von Interesse.
Fall IV. Christian M. 53 Jahr. Kaufmann. Aufgen. (Privatklinik)
13. Okt. 1898.
Anamnese: Familien anamnese ohne Belang. Als Kind war Pat.
gesund; als junger Mann hat er Typhus durchgemacht. Vor 9 Jahren
angeblich ein Gichtanfall, der seitdem nicht wiederkehrte. Im Januar
1897 stellten sich ganz plötzlich Schmerzen in der rechten oberen Bauch-
seite ein, die nicht nach den Schultern oder dem Rücken ausstrahlen;
kein Schüttelfrost, kein Fieber, keine Gelbfärbung. Die Schmerzen waren
unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Zu Beginn der Erkrankung nur
geringes Erbrechen; etwa 4 Wochen später wurde das Erbrechen häufiger,
fast täglich. Das Erbrochene bestand aus farbloser Flüssigkeit; gelegent-
lich in sehr großer Menge. Bei dem Erbrechen selbst keine Schmerzen;
vorher saurer Geschmack. Hatte Pat. einmal viel erbrochen, so wurde
das Erbrochene dunkelbraun (blutig); etwa alle paar Tage einmal. Aerzt-
licherseits wurden Magenspülungen vorgeschlagen, aber nicht gemacht.
Mai 1897 wurde eine Leberschwellung konstatiert, welche wieder zurück-
ging (Jodgebrauch). Im August 1897 stellte sich Bluterbrechen ein, das
auf Magenspülungen nachließ; Pat. erholte sich sehr gut. Februar 1898
Blutung ohne Erbrechen; der Stuhl war teerartig schwarz. Pat. machte
eine 14-tägige Karlsbader Kur durch, die ihn sehr herunterbrachte. Es
bestanden heftige krampfartige Schmerzen in der rechten Magengegend;
Erbrechen ohne Blut. Auf Magenspülungen erholte sich der Pat. wiederum
bald. Im August 1898 stellte sich wiederum ein Anfall mit heftigen
Schmerzen und Blutbrechen ein. In der Folgezeit dann noch öfters
derartige Anfälle, bis Pat. sich am 13. Okt. 1898 in die Klinik auf-
906 Max Tiegel,
nehmen lielS. Der Stuhl war stets angehalten; zur Zeit der AnftUe nur
auf Klysma.
Status: MittelgroISer, schlecht genährter Mann, mit leidlich gesunder
Gesichtsfarbe. Innere Organe ohne Befund. Bei Bewegungen lautes
Plätschergeräusch in der Magengegend. Bei der Aufnahme werden
700 ccm trübe, nicht blutige Flüssigkeit ausgehebert, Gesamtacidität 75,
freie Salzsäure 46. I. «/^ Stunde nach Boas Probefrühstück (400 ccm)
ausgehebert 420 ccm; Gesamtacidität 81; freie Salzsäure 60. IL Morgens
nüchtern ausgehebert, 150 ccm trübe Flüssigkeit von: Gesamtacidität 91;
freie Salzsäure 70. Aufblähung des Magens unterbleibt.
Am 14. Okt 1898: Operation. In ruhiger Chloroformnarkose 13 cm
langer Medianschnitt mit Excision des Nabels. Der Magen wird hervor-
gezogen. Er ist stark dilatiert; Muscularis kräftig. Der Pyloras ist ver-
engt von einer dicken, derben, den vorderen, oberen und unteren Teil des
ümfanges einnehmenden Narbe. Die Fingerkuppe dringt unter Einstülpung
der vorderen Magenwand gerade noch in den Pylorus ein. Es wird eine
Gastroenterostomia anterior antecolica mit einer 70 cm vom Duodenum
entfernten Darmschlinge gemacht. 10 cm von dieser entfernt wird eine
Enteroanastomose angelegt. Ein frisches Ulcus wird nicht gefunden.
Schluß der Bauchwunde in typischer Weise.
Die Wunde heilte per primam. Heilungsverlauf durch Pleuritis
kompliziert In den folgenden Tagen nach der Operation (bis 25. Okt.)
öfters blutiger Stuhl; kein Erbrechen.
Am 2. Nov. 1898 wird Pat. entlassen. Bis zum 12. Nov. 1899 be-
stand (laut eingezogenem Bericht) ausgezeichnetes Befinden; die Ver-
dauung war vorzüglich; Pat. konnte alles essen.
Am 12. Juni 1899 stellte sich wiederum heftige Magenblutung ein,
die sich in den folgenden Tagen (bis 20. Juni) wiederholte.
Im Juni 1902 ließ sich Pat. zur Untersuchung kurze Zeit aufnehmen.
Es wurde damals eine Hypersekretion und Hyperacidität des Magens
festgestellt. Auf Magenspülungen, Alkaligebrauch trat Besserung ein.
Wiederaufnahme: 29. Jan. 1903. Seit seiner Operation (am 14. Okt.
1898) hat Pat. 4 Magenblutungen durchgemacht, die ihn sehr herunter-
brachten. Die erste davon am 12. Juni 1899, die letzte und schwerste
am 30 Nov. 1903. In dieser Zeit bildete sich links in den Bauchdecken
(etwa auf der Grenze zwischen mittlerem und oberem Drittel des Rectus
abdom.) eine üach vorgewölbte, etwa apfelgroße, schmerzhafte Härte, welche
für einen luetischen Prozeß (Gumma, Myositis) gehalten wurde. Da sich
gleichzeitig eine Leberanschwellung fand, wurde Jodkalium und eine
Schmierkur verordnet, die jedoch wegen Stomatitis unterbrochen werden
mußte. Der Tumor und die Leberanschwellung gingen auf Jodkalium
zurück.
Die Anschwellung in den Bauchdecken ist in der Folgezeit bald größer,
bald kleiner geworden ; immer jedoch war dieselbe schmerzhaft ; besonders
nachts. Zur Zeit vor der Blutung war sie angeblich regelmäßig größer,
um nach derselben langsam zurückzugehen (wie das besonders bei der letzten
Blutung beobachtet werden konnte).
Zur Zeit bestehen Schmerzen auf der Höhe der Verdauung.
Status: Geringer Ernährungszustand ; Turgur der Haut herabgesetzt ;
Gesichtsfarbe leidlich gut. Innere Organe ohne Befund. Linkerseits be-
steht auf der Grenze zwischen mittlerem und oberem Rectusdrittel eine
fast kreisrunde Resistenz in den Bauchdecken, deren medialer Rand ziem-
lich scharf zu umgreifen ist, die im übrigen jedoch nicht deutlich abzu-
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Oastroenterostomie. 907
grenzen ist. Die Haut ist darüber verschieblich. Es besteht lebhafte
Druckempfindlichkeit an dieser Stelle.
3. Febr. 1903. Operation. 12 cm lauger Schnitt, über die Geschwulst,
parallel der Medianlinie. Man gelangt nach Durchtrennung der Fascie in
ein hartes, sehr gefäßreiches Gewebe. Das Zentrum dieser indurierten
Partie wird umgangen und so ein zweimarkstückgroßer Teil derselben um-
schnitten. Am Rande desselben gelangt man in die Peritonealhöhle. Nach
Eröffnung derselben zeigt sich, daß die Schwiele genau dem vorderen Um-
fange der Gastroenterostomie aufsitzt. Die Schwiele wird an ihrem Rande
umschnitten, und zwar zuerst an dem dem Magen angehörenden Teil. Da-
bei wird ein größeres Gefäß verletzt, das umstechen wird. Nachdem die
Schwiele vollends umschnitten ist, zeigt sich an ihrer Innenfläche ein
pfenniggroßes, perforierendes Ulcus, das zur Hälfte in der Magenwand,
zur Hälfte in der des angehefteten Darmes sitzt. Bei der Abtastung des
Mageninneren ist nichts zu finden.
Die entstandene Lücke in 2 Etagen in querer Richtung vernäht. An
die Nahtstelle wird ein Jodoformgazebeutel gelegt.
In den folgenden Tagen nach der Operation stellen sich Zeichen von
Peritonitis ein.
Am 6. März erfolgte Exitus im Kollaps. Sektion der Bauchhöhle er-
gibt folgenden Befund : Eibrinös-eiterige Beläge an den tieferen Dünn-
darmschlingen. An der Operationsstelle keine Perforation; die Naht ist
in allen Teilen dicht und intakt. Magen außerordentlich groß ; kein frisches
Ulcus. Pylorus kaum für Federkiel durchgängig.
Fall V. Robert P., 33 Jahre, Schlosser. Aufgenommen 1. März 1903.
Anamnese: Familien- und Voranamnese ohne Belang.
Vor ungefähr 12 — 13 Jahren bekam Pat., nachdem er sich angeblich
gegen die Magengegend stark gedrückt hatte, Magenbeschwerden: Druck-
und Völlegefühl, Uebelkeit, starke Schmerzen manchmal Yg — ^ Stunden
nach dem £ssen, brennendes Aufstoßen. Pat. mußte oft mit Hilfe des
Fingers Erbrechen herbeiführen, wonach immer Besserung einti*at. Besondere
Beschwerden hatte er nach sauren, fetten und sonstigen schwer verdaulichen
Speisen. Diät half nichts. Magenausspülungen, Gebrauch von Bismuth.
subnitr. und Ernährung per rectum brachten eine Zeitlang Besserung. Im
Jahre 1899 wurde in einem Berliner Hospital wegen Magenerweiterung
eine Gastroenterostomia antecolica anterior mit Enteroanastomose vorge-
nommen. Nach der Operation ging es dem Pat. ly, Jahre lang gut; er
konnte alles ohne Beschwerden essen. Dann begannen wieder allmählich
zunehmende Schmerzen ; sehr heftige Krampf anfalle, gegen die Pat.
Morphium bekam. Der auch früher schon oft angehaltene Stuhl erfolgte
nun noch schwerer; Pat. mußte oft Abführmittel einnehmen. Pat. wurde
dann 1901 nochmals in einem Krankenhause mit warmen Umschlägen,
Massage, Einlaufen behandelt, was eine vorübergehende Besserung herbei-
führte. Schließlich mußte er sich jedoch einer zweiten Operation unter-
ziehen. Da bei derselben der Magen an der Bauch wand flächenhaft ad-
härent gefunden und eröffnet warde, so wurde von der weiteren Operation
Abstand genommen. Seitdem wurde er mit Atropinpillen, Oelklystieren
behandelt. Seine Beschwerden aber haben sich sehr stark gesteigert. Seit
etwa 6 Monaten fühlt er eine Anschwellung in der Gegend der Operations-
wunde. Stuhl erfolgt ohne Einguß oder Abführmittel überhaupt kaum;
besteht meist aus kleinen Knollen. Erbrechen hat Pat. nicht: auch kein
Aufstoßen.
908 Max Tiegel,
Status: GroISer, kräftig gebauter Mann in leidlichem Ernährungs-
zustände. Innere Organe ohne Befund. Abdomen nicht aufgetrieben,
nicht eingezogen. Links vom Nabel eine ungeföhr apfelgroße, rundliche
Vorwölbung, umgrenzt von 3 langen, strahligen Narben. An dieser Stelle
starke Druckempfindlichkeit, namentlich in ihrem unteren Teile. Die Vor-
wölbung fühlt sich derb an, ist respiratorisch nicht, passiv nur wenig seit-
lich verschieblich. Bei Aufblähung des Magens bleibt der Tumor an seiner
Stelle und liegt dann im Bereich des Magenschalles. Per rectum nichts
zu fühlen. Untersuchung des Mageninhalts : I. Bei Ausheberung frühmorgens^
in nüchternem Zustande, nachdem Fat am Abend vorher 1 1 Haferschleim-
suppe genossen hat, wird der Magen leer gefunden. 11. ^/^ Stunden nach
400 ccm Haferschleimsuppe werden 115 ccm ausgehebert; Gesamtacidität
55, freie Salzsäure 47, Milchsäure negativ. III. 5 Stunden nach Probe-
mahlzeit (125 g gehacktes gebratenes Fleisch, 1 Semmel, 1 Glas Wasser)
werden 130 ccm ausgehebert; Gesamtacidität 62, freie Salzsäure 45, Milch-
säure negativ. Auf reine Milchdiät, Alkalien werden die Schmerzen geringer,
die Anschwellung wird weicher und kleiner, kaum noch schmerzhaft.
16. März 1903 Operation. Nach Eröffnung des Abdomens stößt man
sofort auf sehr ausgedehnte Adhäsionen, welche anscheinend sowohl Magen
wie Darm betreffen und eine genaue Untersuchung der Bauchhöhle un-
möglich machen. Der vorliegende Tumor wird umschnitten. Seine Ab-
lösung vom Darme erweist sich als unmöglich; der vorliegende Darmteil
wird dabei öfters angeschnitten. Der Tumor wird daher excidiert. E»
zeigt sich nun, daß er die Vorderwand des vorliegenden Darmstückes ein-
genommen hat, und daß es sich um ein typisches Ulcus jejuni handelt Ob
das Ulcus dem zuführenden oder abführenden Schenkel angehört, läßt sich
nicht sagen. Ebenso ist wegen der allzuvielen Adhäsionen nicht zu er-
mitteln, wie weit das Ulcus vom Pylorus entfernt ist, d. h. welche Jeju-
numschlinge seinerzeit zur Gastroenterostomie verwendet wurde. Die
Oefinung im Darm quer (im Sinne der Pyloroplastik) vernäht. Bauchwunde
bis auf eine kleine Stelle geschlossen, an welcher ein Jodoformgazestreifen
eingelegt wird.
Der Heilungsverlauf ist ungestört. Am 6. April 1903 wird Pat. ohne
Schmerzen entlassen«
Am 20. Nov. 1903 stellt sich Pat. wieder in der Klinik vor. Er war
seit seiner Operation bis vor 6 Wochen (also ca. 6^2 Monate) völlig be-
schwerdefrei. Er konnte in dieser Zeit alles essen, hatte keine Schmerzen^
verrichtete seine Arbeit. Vor 6 Wochen stellten sich zwickende Schmerzen
in der Operationsnarbe ein, die in den Rücken ausstrahlten. Die Schmerzen
bestehen andauernd mit zeitweisen Verschlimmerungen, die jedoch nicht
von der Nahrungsaufnahme abhängig sind, vielmehr eher nach körper-
lichen Bewegungen auftreten. Es bildete sich in der Operationswunde
ein fester Knoten, der auf Druck schmerzhaft war. Pat. ging sogleich zu
seinem Arzte, der Kicinusöl und später Opium tropfen, sowie warme Um-
schläge verordnete. Die Schmerzen steigerten sich zuerst und nahmen
einen kolikartigen Charakter an, ließen dann aber bald etwas nach. Seit
10 Tagen macht Pat. jede Nacht warme Einpackungen. Er hat nie er-
brochen, nie schwarzen Stuhl gehabt Seine Gewichtsabnahme in dieser
Zeit schätzt er auf 10 Pfd.
Der gegenwärtige Befund ist folgender: Im Bereich der Operations-
narbe fühlt man eine, nicht deutlich abgrenzbare, auf Druck schmerzhafte
Verhärtung. I. 4Y2 Stunden nach Probemahlzeit finden sich: Menge 230,
reichliche Speisereste, Gesamtacidität 42, freie HCl 22. Bei einer wieder-
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 909
holten Vorstellung am 19. Dez. ist der Befund derselbe. Die funktionelle
Magenuntersuchung ergibt folgendes: I. Nüchtern: Menge 128, ohne Speise-
reste, Gesamtacidität 22, freie HCl 9. II. Nach Probefrühstück: Menge
241, verdaute Speisereste, Gesamtacidität 20, freie HCl. 10. III. Nach
Probemahlzeit: Menge 240, geringe Speisereste, Gesamtacidität 75, freie
HCl. 38.
Außer diesen 5 operierten Fällen wurde noch ein weiterer Fall,
welcher nicht zur Operation gelangte, beobachtet. Das ganze Symptoraen-
bild desselben spricht mit größter Wahrscheinlichkeit für die Diagnose
Ulcus pepticum jejuni, so daß ich seine Krankengeschichte den obigen
hinzufüge.
VI. Robert M., 41 Jahr, Hausmeister. Aufnahme: 17. Juni 1901.
Pat. war bis vor 10 Jahren gesund. Damals stellten sich plötzlich
ziehende Schmerzen in der Magengegend ein, die nach der Seite und dem
Eücken zu ausstrahlten; zugleich bildete sich in der Magengegend eine
Auftreibung, die sich lebhaft peristaltisch bewegte. Pat. mußte dann er-
brechen und zwar große Mengen übelriechender Flüssigkeit. Nach dem
Erbrechen hatte er Erleichterung; das Erbrechen war von wechselnder
Häufigkeit ; mitunter blieb es auch einige Tage aus. Nach 2-jährigem Be-
stand des Leidens, während dem Medizin keine Besserung brachte, wurde
er mit Magenspülungen behandelt, die Pat. in den nächsten Jahren regel-
mäßig fortsetzte. Auf diese Spülungen und auf strenge Diät besserten
sich die Beschwerden ; die Schmerzen verschwanden ; das Erbrechen hörte
auf. In den letzten Jahren trat jedoch wieder Verschlimmerung ein. Es
stellten sich dieselben Beschwerden wie zu Anfang ein: Schmerzen, übel-
riechendes Aufstoßen, Erbrechen. Die Behandlung bestand wiederum in
Magenspülungen, strenger Diät und Gebrauch von Pulvern (?). In den
letzten 6 Wochen 10 Pfund Gewichtsabnahme.
Status: Mittelgroßer, mäßig kräftig gebauter Mann, in geringem Er-
nährungszustande und von blasser Gesichtsfarbe. Innere Organe ohne
Befund. Puls: regelmäßig, nicht gespannt, Arterienrohr weich. Abdomen
weich. Rechts und oberhalb vom Nabel auf Druck eine geringe Schmerz-
haftigkeit. Unmittelbar unterhalb des Proc. ensif. eine leichte Einsenkung.
Darunter eine, bis weit unter den Nabel reichende, nach unten bogenförmig
abgeschlossene Vorwölbung, die bei Palpation lebhafte Peristaltik zeigt.
Bei Hin- und Herschütteln hört man lautes Plätschern. Perkussion ergibt
überall t3rmpani tischen Schall. Bei Aufblähung des Magens tritt die untere
Grenze der Vorwölbung bis 2 Querfinger über die Symphyse. An keiner
Stelle fühlt man irgend welche Resistenz. Funktionelle Magenüntersuchung :
I. Nüchtern, nachdem Pat. abends vorher 400 g Hafermehlsuppe und
1 Semmel gegessen : Menge : 185, hellgrau, mit klumpigen, leicht grün-
lichen Massen vermischt, fr. HCl 0, Milchs. 0, Ges.-Acid. 15. II. Probe-
frühstück, 400 g Hafermehlsuppe, nach ^/^ Stunden ausgehebert; Menge:
360; fr. HCl 10; Ges.-Acid. 34, Milchs. 0. III. Probemahlzeit: 125 g
gehacktes Fleisch, gebraten, 100 Wasser, 1 Semmel, nach 5 Stunden
ausgehebert; Menge: 250; fr. HCl 25; Ges.-Acid. 98, Milchs. 0.
Diagnose: Gutartige Pylorusstenose mit Dilatation des Magens.
22. Juni Operation in Morphium- Aethernarkose. Längsschnitt in der
Medianlinie, mit Excision des Nabels, 7 — 8 cm lang. Der Magen ist sehr
diktiert, die Muskulatur hypertrophisch. Der Pylorus ist nicht verengt.
910 Max Tiegel,
eher etwas erweitert; dagegen findet sich 4 cm unterhalb desselben eine
ringförmige Stenose des Duodenums, die so eng ist, daß nicht einmal eine
Klemme durchgehen würde. An der Stenosenstelle finden sich leicht lös-
liche Adhäsionen. Es wird an der Vorderfiäche, nahe der großen Kurvatur,
eine Gastroenteroanastomose und unterhalb eine Enteroanastomose zwischen
zu- und abführendem Dünndarmschenkel mittels Naht angelegt
Der Heilungsverlauf war ein völlig normaler. Fat. wurde am 4. Juli
ohne Beschwerden entlassen, mit der Weisung, noch längere Zeit strenge
Diät innezuhalten.
Nach seiner Entlassung fühlte sich Fat. völlig wohl; er hatte keine
Schmerzen; der Appetit war gut. In der ersten Zeit beobachtete Fat.
noch strenge Diät: nach und nach aß er wieder alle Speisen ohne jede
Beschwerden. Er wurde kräftiger, nahm an Gewicht 20 Ffund zu, konnte
wieder vollauf seine Arbeit verrichten. Dieses Wohlbefinden hielt bis
August 1903 an. Um diese Zeit stellten sich heftige, stechende und
schneidende Schmerzen in der Gegend unterhalb des rechten Rippenbogens
ein, die nach hinten in die Weiche ausstrahlten. Die Schmerzen traten
in Anfällen auf, zwischen denen bisweilen tage- bis wochenlange schmerz-
freie Fausen lagen, bisweilen aber auch, besonders in letzter Zeit, traten
täglich 2 — 3 solcher Anflllle auf. Die Anfalle waren unabhängig von der
Nahrungsaufnahme, dauerten ^/^ bis */, Stunde. Nach Hinlegen, Genuß
heißer Getränke und auf warme Umschläge ließen die Schmerzen zuerst
stets nach. In letzter Zeit haben auch diese Maßnahmen wenig oder gar
nicht geholfen. Erbrechen, Uebelkeit, Aufstoßen hat nie bestanden. Der
Appetit war stets gut. Fat. hat alle Speisen gegessen. Der Stuhl war
stets angehalten, unregelmäßig, meist auf Abführmittel. Blut im Stuhl
oder Schwarzfkrbung hat Fat. nie bemerkt.
Bisherige Behandlung: Bald bei Beginn der jetzigen Beschwerden
begab sich Fat zum Arzt, der Morphiuminjektionen verordnete ; ein anderer
Arzt verschrieb Fulver und ölartige Medizin. Da sich die Beschwerden
etwas besserten, blieb Fat bald aus der ärztlichen Behandlung weg. Er
behalf sich in der Folgezeit selbst mit warmen Umschlägen, heißen Ge-
tränken und vorübergehendem Gebrauch von Natrium bicarb.
Status: Mittelgroßer Mann, in leidlichem Ernährungszustande, von
blassem Aussehen. Herz und Lungen sind ohne Befund. Unter dem
linken Kippenbogen findet sich eine nicht deutlich abgrenzbare, vielleicht
handtellergroße Resistenz, welche schon auf den leisesten Druck sehr
schmerzhaft ist. UngefUhr in Nabelhöhe eine quer verlaufende, geblähte
Darmschlinge. Keine Feristaltik zu sehen. Aufblähung des Magens ge-
lingt nicht, da die Luft sofort durch die Gastroenteroanastomose in den
Darm entweicht. Am Rücken, in der Höhe des 10. Brustwirbels, 3 Quer-
fingerbreit links von der Mittellinie, eine fünfmarkstückgroße, auf Druck
schmerzhafte Stelle.
Funktionelle Magen Untersuchung: I. Nüchtern (abends vorher: 400 g
Hafermehlsuppe, 125 g Fleisch, 2 Butterbrote); frühmorgens ausgehebert;
Menge: 26, ohne Speisereste; fr. HCl 12, Ges.-Acid. 28, Milchs. 0.
n. Frobefrühstück : 400 g Hafermehlsuppe nach */^ Stunden ausgehebert;
Menge: 140, enthält angedaute Stärkekörner; fr. HCl 33, Ges.-Acid. 49,
Milchs. 0. m. Frobemahlzeit ; 125 g gehacktes gebratenes Fleisch, 100 g
Wasser, 90 g Semmel; 5^/, Stunden nachher ausgehebert Menge: 130,
enthält wenig gut verdaute Speisereste; fr. HCl 9, Ges.-Acid. 31, Milchs. 0.
Therapie: Bettruhe. Fer os erhält Fat nur Milch, und zwar täg-
lich anfangs ca. 1*/^, später 2^/^ 1. Im übrigen Rektalernährung (täglich
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 911
6 Nährklystiere k 200 g Wasser, 50 g Wein). Bismuth. subnitr. täglich
6 X 1)0. Permanent heiße Breiumschläge. Unter dieser Therapie, die vom
12. Dez. bis 11. Jan. 1904 strikt durchgeführt wurde, besserte sich der
Zustand bedeutend. Pat. wurde völlig schmerzfrei. Nur bei Druck be-
stand noch eine Empfindlichkeit unterhalb des linken Rippenbogens. Hier
ist noch eine undeutliche, vielleicht dreimarkstückgroße Resistenz zu fühlen.
Pat. wurde auf seinen Wunsch entlassen, trotzdem ihm geraten wurde, die
Behandlung noch einige Zeit lang fortzusetzen.
Nach seiner Entlassung gebrauchte Pat noch 4 Tage lang Bismuth,
dann keine Medikamente mehr. Er hielt noch Diät (meist flüssige Kost),
über Nacht heiße Umschläge. Pat. fiihlte sich wohl, blieb schmerzfrei bis
18. März 1904. Dann stellten sich wiederum dieselben Schmerzanf^Ue
ein. Kein Erbrechen, keine Uebelkeit. Stuhl nie schwarz gefärbt. Vor-
stellung am 28. März 1904. Unter dem linken Rippenbogen ist wiederum
eine etwa handtellergroße Resistenz zu fühlen, die auf leisesten Druck
sehr schmerzhaft ist.
In der Literatur habe ich noch eine Reihe Veröffentlichungen ge-
fanden, die ich in folgendem zusammenstelle. In Anbetracht dessen,
daß dieselben meist vereinzelt in Kongreßberichten, klinischen Jahres-
berichten mitgeteilt sind, soll die Wiedergabe derselben mit genügender
Ausführlichkeit erfolgen.
Fall 11). [BRAUN-Göttingen, Chirurgenkongreß 1899.]
C. D., 25-jähr. Maurer. Seit vielen Jahren magenleidend. Seit
1 Jahre wesentliche Verschlimmerung: Pat. erbrach fast täglich (nie Blut).
Bei seiner Aufnahme am 11. Nov. 1897 bestanden starke Retentions-
erscheinungen (bei einer Ausheberung wurden 3 1 Flüssigkeit entleert).
Am 17. Nov. 1897 wurde wegen dieser Beschwerden eine Gastroentero-
stomia retrocolica posterior mittels Naht ausgeführt. In den folgenden
Tagen nach der Operation noch täglich Erbrechen, dann Wohlbefinden.
Pat. konnte am 29. Dez. 1897 in gutem Zustande entlassen werden. In-
folge mangelnder Diät stellten sich wiederum Magenbeschwerden ein, die
zu einer nochmaligen Krankenhausbehandlung führten (26. Jan. 1898).
Es wurde damals folgender Befund erhoben : der aufgeblähte Magen reicht
mit seiner groüen Kurvatur bis 2 Querfinger breit unter den Nabel. Am
2. Febr. wurden morgens nüchtern 120 ccm Mageninhalt ausgehebert, der
sauer reagierte, aber keine freie HCl enthielt.
Die Beschwerden besserten sich wieder; Pat. wurde am 8. März ent-
lassen. Am 18. Okt. 1898 erkrankte er plötzlich ohne besondere Ursache
unter äuiSerst heftigen Schmerzen in der Magengegend und häufigem Er-
brechen. Mit den Zeichen einer Peritonitis wurde er am 20. Oktober
wiederum in das Krankenhaus zu Kassel eingeliefert, wo er in der fol-
genden Nacht starb. Sektion: Peritonitis. Pylorus durch alte Narbe
hochgradig verengt. In dem abführenden Schenkel der an den Magen
gehefteten Jejunumschlinge, etwa 1 cm von der Gastroenteroanastomose
entfernt, findet sich eine Oeffnung, etwa 1 cm lang und */, cm breit, die
oberhalb des Colon transv. in die freie Bauchhöhle führt. Die Ränder
dieser Oeffnung sind vollkommen glatt, wie mit einem Locheisen ausge-
schlagen. Die Anastomose ist weit, die Schleimhaut von Magen und Darm
geht glatt ineinander über, ohne den geringsten Substanzverlust.
1) Kongreßbericht, 1899, II, p. 94.
912 Max Tiegel,
Fall n. [HAHN-Berlin, Chirurgenkongreß 1899 *).] Wegen gutartiger
Pylorusstenose war vor 1 Jahre eine Oastroenterostomia antecolica anterior
ausgeführt worden. Der Pat. erfreute sich nach der Operation einer
„auÜerord entlich guten Gesundheit ^^ bis er nach einem Jahre plötzlich beim
Wegschieben eines schweren Gegenstandes einen sehr heftigen Schmerz
im Leibe verspürte und bald unter Erscheinungen einer Perforationsperi-
tonitis erkrankte. Nach 24 Stunden Exitus. Bei der Sektion fand sich
ein Geschwür im Anfangsteil des Jejunums, 1 — 2 cm von der Gastro-
enterostomie entfernt. Obgleich anfangs an eine Darmruptur gedacht
worden war, ergab die Sektion unzweifelhaft, daß es sich um den Durch-
bruch eines, wahrscheinlich durch den Einfluß des Magensaftes entstandenen
Geschwürs im Jejunum handelte.
Pall m. [KöRTB-Berlin, Chirurgenkongreß 1900«).] W., 30-jähr,
Schuhmacher, litt seit einem Jahre an Magenbeschwerden : Schmerzen nach
dem Essen, Erbrechen (nie Blut). Abmagerung. Hyperacidität 66 — 76.
Der Magen war dilatiert, enthielt viel Reste. Tägliche Magenspülungen.
Da die Kachexie zunahm, wurde am 23. Febr. 1897 eine Gastroenterostomia
antecolica anterior ausgeführt. Der Heil ungs verlauf war ein glatter. Am
13. April 1897 wurde Pat. entlassen. Das Befinden blieb nun ein gutes;
Pat. konnte alle Speisen ohne Beschwerden genießen und war arbeitsfähig.
Er stellte sich in dieser Zeit mehrere Male vor. Dieses Wohlbefinden
hielt bis zum 15. März an. An diesem Tage erkrankte er abends plötz-
lich, ohne bekannte Ursache, an Leibschmerzen, Aufstoßen, Stuhlverstopfung.
Am 19. März wurde er in das Krankenhaus Am Urban aufgenommen, wo
die Diagnose Peritonitis gestellt und am 20. März eine Laparotomie vor-
genommen wurde. Dabei fand sich eine diffuse Peritonitis, als deren Aus-
gangspunkt der stark gerötete Wurmfortsatz angesprochen wurde. Ex-
stirpation desselben. Tamponade der Bauchhöhle. Am 21. März trat
Exitus ein. Sektionsbefund: Im linken subphrenischen Baume ein
Absceß, der durchgebrochen war und zur Peritonitis geführt hatte. Die
Anastomose weit offen; die Bänder glatt, Schleimhäute glatt vereinigt.
An der Vorderwand der mit dem Magen verbundenen Jejunumschlinge,
ca. 7 cm von der Gastroenterostomie entfernt, liegt ein über markstück-
großes, scharfrandiges, rundes Geschwür, welches die dünne Darmwand
bis auf die Subserosa durchsetzt. An dieser Stelle finden sich fibrinös-
eiterige Auflagerungen. Eine offene Perforation ließ sich nicht nachweisen.
Pylorus ist verdickt, starrwandig. Im Duodenum alte strahlige Ulcusnarbe.
Man nahm an, daß der subphrenische Absceß von dem Ulcus jejuni aus
entstanden war.
Fall IV. [STBiNTHAL-Stuttgart, Chirurgenkongreß 1900 8).J 44-jähr. Wirt.
Seit 9 Jahren Zeichen einer chronischen Gastritis, in letzter Zeit öfters
Erbrechen blutiger Massen. Wegen Pylorusstenose wurde eine hintere
Gasti-oenterostomie mit dem Murphyknopfe in typischer Weise ausgeführt.
Beim Zudrücken des Knopfes wurde nicht auffällig gequetscht Nach
10 Tagen Exitus an Perforationsperitonitis. Sektionsbefund: Es
fanden sich einige cm von der Anastomose zwei fünfzigpfennigstückgroße,
wie mit dem Locheisen herausgeschlagene Substanzverluste in der ab-
1) Kongreßbericht 1899, p. 74.
2) Kongreßbericht 1900, p. 137.
8) Kongreßbericht 1900, p. 139.
Ueber peptische Geschwlire des Jejunums nach Gastroenterostomie. 913
ftihrenden Schlinge, zwei ebensolche, dem Durchbruch nahe, gleichgroße
Defekte in der zuführenden. In der Umgebung derselben blutige Suf-
fusionen. Es bestand starke Atheromatose. Das Mesenterium war durch
eigentümliche Lagerung der Schlinge etwas geknickt.
Fall V. [KocHKR-Bern, Chirurgenkongreß 1902 1).] Wegen Magenbe-
schwerden Gastroenterostomia antecolica anterior (nach der Y-Methode).
Nachdem Fat. zuerst sich vorzüglich befunden, erkrannte er nach 3 Monaten
wiederum an Schmerzen, die durch die Mahlzeit zunächst gemildert wurden,
2 Stunden aber nach derselben, sowie in der Nacht sehr intensiv auftraten.
Es fand sich eine Geschwulst in der Bauchwand, am linken Bectusrand.
Magenuntersuchung ergab Verringerung der Salzsäure, etwas Milchsäure(?)
Bei der Operation zeigte sich ein perforiertes Ulcus jejuni, welches excidiert
wurde. Pat. wurde geheilt.
Fall VI. [Hbidbnhain- Worms, Chirurgenkongreß 1902«).] Bei einem
Manne in mittleren Jahren wurde im Jahre 1898 wegen blutenden Ulcus
und starker Stenose eine Gastroenterostomia antecolica anterior ausgeführt.
Nach einigen Monaten kam der Pat. wieder und klagte über starke
Schmerzen. Es bestand eine Infiltration im linken Bectus. Bei der Ope-
ration erwies sich, daß ein Ulcus perforans an der oberen Umrandung
der Gastroenterostomieöffnung bestand. Das Ulcus wurde vernäht, Pat.
entlassen. Nach einigen Monaten wiederum Aufnahme. Es fand sich wieder
ein Ulcus perforans, welches diesmal im Jejunum, einige Centimeter von der
Gastroenterostomie, saß. Das Ulcus war am Bectus adhärent. Vernähung
des Ulcus. Wegen Störungen an der Gastroenterostomie, welche zu Be-
tention führten, wurde nach 8 Tagen eine nochmalige Operation vorge-
nommen. Es wurde eine neue Gastroenterostomie links ganz hoch oben
am Fundus angelegt. Pat wurde geheilt entlassen. Eine auffällige
Hype roh lorhydrie hat nicht bestanden (nach Probefrühstück 0,22 Proz.
freie HCl). Nach einer Beobachtungszeit von 4 Jahren noch völliges
Wohlbefinden. Irgendwelche Symptome eines Ulcus haben in dieser Zeit
nicht bestanden.
Fall VII. [GoBPBL-Leipzig, Chirurgenkongreß 1902 3).] Gastroenterostomia
antecolica anterior wegen gutartiger Pylorusstenose mit sehr bedeutender
Magen er Weiterung und hohem Gehalt des Magensaftes an freier Salzsäure.
Nach 13 Monaten Perforationsperitonitis, der Pat. innerhalb 2 Tagen erlag.
Als Ursache derselben fand sich bei der Obduktion ein perforiertes Ulcus
im Jejunum durch einen 2 — 3 mm breiten Streifen Darm wand von der
Gastroenterostomienarbe getrennt.
Fall Vm. [GoEPEL-Leipzig, Chirurgenkongreß 1902*).] Vordere
Gastroenterostomie wegen gutartiger Pylorusstenose, mit Magenerweite-
rung und sehr viel freier HCl. 4 Monate später wurde Pat. beim Zeitungs-
lesen plötzlich von starken Leibschmerzen und Uebelkeit befallen, mit
einer solchen Heftigkeit, daß der Verdacht auf Perforation sofort erweckt
wurde. Die objektiven Veränderungen waren kurz vor der Operation sehi:
gering, das subjektive Befinden gebessert. 5 Stunden nach dem Anfall
1) Kongreßbericht 1902, p. 103.
2) Kongreßbericht 1902, p. 108.
3) Kongreßbericht 1902, p. 108.
4) Kongreßbericht 1902, p. 108.
914 Max Tiegel,
Operation. Nach EröfEaung der Bauchhöhle lag ein perforiertes Ulcus
jejuni vor Augen, aus dem sich Mageninhalt entleerte. Das Ulcus wurde
durch einige Catgutnähte verschlossen. Tamponade der Bauchhöhle.
Heilung ohne Zwischenfall. Das Ulcus saß, wie im vorigen Falle, 2 — 3 nmi
von der Gastroenterostomie getrennt.
Fall IX. [GoBPEL>Leipzig ^).] 34-jähr. Mann. Oastroenterostomia
antecolica anterior, ohne Enteroanastomose. Nach 9 Monaten, in denen
keinerlei Symptome bestanden haben, Perforation eines Ulcus jejuni. Heilung
durch baldige Operation.
Fall X. [KRÖNLBiN-Zürich, Chirurgenkongreß 1902 2).] Mann, wegen
Erscheinungen eines Ulcus pepticum duodeni vor 5 Jahren operiert. Es
wurde eine Gastroenterostomie ausgeführt, auf welcher die schweren Ulcus-
erscheinungen zurückgingen. Fat. wurde vollständig geheilt. Nach 4 Jahren
kam er wieder. Es war ein größerer Tumor der Bauchdecken zu fühlen.
Die Symptome waren ungefähr dieselben wie in Kochers Fall : Schmerzen
nach dem Essen. Bei der Operation fand sich ein Ulcus jejuni, welches
excidiert wurde. Anlegung einer Enteroanastomose. Pat wurde voll-
ständig geheilt. Nach einem Jahre stellten sich die alten Beschwerden
wieder ein.
Fall XL [NBUMANN-Berlin 3).] 24-jähr. Mann. Seit 6 Jahren Magen-
beschwerden. Aufstoßen, Drücken, Schmerzen. Hochgradige Dilatation^
Retention, abnorm viel freie HCl, stark verengter Pylorus. Am 29. Mars
1897 Gastroenterostomia antecolica anterior, zuerst ohne Enteroanastomose.
Wegen eintretender Circuluserscheinungen wurde am 10. Mai 1897 eine
Enteroanastomose angelegt. Mageninhalt noch stark sauer. 29. Juni ge-
heilt und beschwerdefrei entlassen. Schon nach einigen Monaten neue
Störungen, kolikartige Schmerzen, meist im Anschluß an Mahlzeiten. Es
bildet« sich rechts vom Nabel ein derber, schmerzhafter, etwa apfelgroßer
Tumor. 2. Mai 1898 Spaltung des Tumors. Man gelangt auf eine in
den Magen führende Fistel, welche ausgekratzt und tamponiert wurde.
Durch Granulation Verschluß der Fistel. Zunächst Besserung der Be-
schwerden.
Da dieselben sich wiederum steigerten, wurde im Nov. 1899 eine neue
Operation vorgenommen. Nahtlinie zwischen Magen und Jejunum völlig
frei von Verwachsungen. Der der Gastroenterostomie direkt anliegende An-
fangsteil der abführenden und ein kleiner Teil der zuführenden Jejunumschlinge
mit der vorderen Bauchwand flächenhaft festverwachsen. Bei Loslösung
dieser Verwachsungen wurde der Darm 3 cm lang und 2 cm breit eröfinet.
Es fand sich ein Geschwür von dieser Ausdehnung in der vorderen Bauch-
wand. Excision des Geschwürs, Oeffnung im Darm durch 2-reihige Naht
geschlossen. Nach 12 Wochen beschwerdefrei entlassen. ^/^ Jahr lang
völliges Wohlbefinden. Am 29. Juli 1900 bildete sich in der Naht plötz-
lich ohne Schmerzen wiederum eine Fistel. Vergeblicher Versuch, dieselbe
durch Anfrischung zu schließen. Es wurde wiederum laparotomiert : Ulcus
an der Gastroenteroanastomosenstelle. Dasselbe wurde excidiert, wodurch
in der Magenwand ein etwa dreimarkstückgroßes Loch entstand, die Ver-
bindungsbrücke auf ca. 1 cm Breite reduziert wurde. Da der Magen nicht
1) Nach einer Privatmitteilung.
2) Kongreßbericht 1902, p. 110.
S) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 58, p. 270.
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 915
mehr dilatiert war, der Pylorus sich für einen Pinger durchgängig erwies,
wurde die Verbindung zwischen Magen und Darm vollends gelöst. Magen-
öffnung vernäht. Die Verbindungsbrticke zwischen zu- und abführendem
Schenkel wurde reseziert, die beiden Jejunumlumina jedes für sich ver-
schlossen. Der Weg ging nun wieder durch den Pylorus und die Entero-
anastomose. Nach 12 Wochen in völligem Wohlbefinden entlassen. Mäßige
Hyperacidität, keine motorische Störung.
Fall Xn. [Jahresbricht der Heidelberger Klinik für 1902 1).] 59-jähr.
Mann. Im Jahre 1893 Gastroenterostomia post. retrocolica, mit Naht, wegen
Ulcusstenose. Heilung. Ueber 8 Jahre beschwerdefrei. Nach einem Viertel-
jahr Schmerzen in der Magengegend und Aufstoßen. Magen stark dilatiert.
Resistenz am Nabel fühlbar. Hyperacidität. 14. Mai 1902. Operation.
Spaltung der alten Narbe. Pylorus wenig verengert. An der Gastro-
enterostomie saß ein großes, buchtiges Geschwür. Starke Darm Verwach-
sungen werden gelöst. Die Dünndarmenden der Anastomose münden in
die Geschwürsfläche. Eesektion derselben und eines Teiles des Geschwürs-
grundes. Abführender Schenkel in die Magenöffnung eingenäht; zuführen-
der mit ersterem weiter unten durch Knopf verbunden. Naht der Wunde
am Pylorus. Tamponade. Zunehmende Schwäche; Peritonitis. Exitus
nach 4 Tagen an Peritonitis. Es bestand beginnende Atheromatose.
Fall Xm. [Jahresbericht der Heidelberger Klinik für 1902 2).] 42.jähr.
Mann. Wegen Ulcusstenose Gastroenterostomia retrocolica post. mit Knopf.
Nach 1/^ Jahre wegen erneuter Stenosenerscheinungen : Gastroenteroplastik
an der Anastomosenstelle. Nach '/^ Jahren wiederum heftige Schmerzen^
keine Hyperacidität (?). 13. Juli 1902. Operation. Pylorus stark stenosiert.
Ulcus am Pylorus. Resektion eines Stückes vom Duodenum und Magen.
Peptisches Geschwür an der Gastroenterostomiestelle , das bis an die
hintere Bauchwand reichte; erscheint nicht exstirpabel. Nahtanas tomose
zwischen Magen und Duodenalende. Exitus nach 6 Tagen an Peritonitis.
Der Choledochus endet blind in der Anastomosennaht ; er ist hier lädiert^
wodurch Galle in den Bauch floß.
Fall XIV. [Jahresbericht der Heidelberger Klinik für 1902 »).] 36-jahr.
Mann. Wegen Magenulcus, verbunden mit Dilatation und Hyperacidität, wurde
im November 1 900 eine Gastroenterostomia posterior mit Knopf ausgeführt.
Bis zum Juni 1902 war Pat. beschwerdefrei. Dann stellten sich Schmerzen
ein. Es fand sich Kot im Magen. Geringe Hyperacidität, 8. Nov. 1902.
Operation. Von der Gastroenterostomiestelle, welche nahe der großen
Kurvatur lag, ausgehend, hatte ein peptisches Geschwür auf die Vorder-
wand des Magens übergegriffen, zur Verlötung mit dem Colon trans-
versum und schließlich zur Perforation in dasselbe geführt. Colon ab-
getrennt und vernäht. Gastroenterostomie gelöst; Magen vernäht. Gastro-
enterostomie an neuer Stelle des Magens mittels Knopf angelegt. Glatte
Heilung.
Fall XV. [BRODNiTZ-Frankfurt a. M., Chir. Kongr. 1903*).] 58-jähr.
Mann. Wegen narbiger Pylorusstenose mit Magendilatation und Hyper-
1) Beitr. z. klin. Chir. v. P. v. Bruns, Bd. 39, p. 98.
2) Beitr. z. klin. Chir. v. Bruns, Bd. 39, p. 99.
3) Ibid.
4) Kongreßbericht 1903, p. 77.
916 Max Tiegel,
acidität wurde am 25. Jan. 1894 eine vordere Gastroenterostomie aus-
gefltthrt. Guter Heilungsverlauf. Völliges Wohlbefinden bis 3 Jahre und
9 Monate nach der Operation. Damals stellten sich nachts anfall weise
heftige Schmerzen ein, die Fat. in den Magen verlegte. In der Mitte der
Narbe fand sich ein etwa kirschkerngroßer, harter, auf Druck schmerz-
hafter Tumor, der zuerst für einen Netzbruch angesehen wurde. Inner-
halb 4 Wochen vergrößerte sich dieser Tumor etwas. Operation: Um-
schneidung des Tumors, der mit dem Darm adhärent war. Bei Lösung
dieser Adhäsionen zeigte sich ein ausgedehntes Ulcus an der Vorderwand
des Jejunums, das in die Bauchwand vorgedrungen ist. Ein zweites kleineres
Geschwür fand sich an dem hinteren Rande der AnastomosenöfPnung.
Resektion eines Teiles des Magens samt Anastomose und eines Stückes
der zu- und abführenden Jejunumschlinge. Verschluß des Magens und
der zuführenden Darmschlinge ; abführende in den Magen implantiert ;
finteroanastomose zwischen dieser und der zuführenden. Sobald Fat.
wieder Nahrung per os erhielt, stellte sich Druckschmerz in der Magen-
gegend ein (14. Tag). Am 19. Tage bildete sich eine feine Fistel, durch
welche getrunkene Flüssigkeiten sich sofort entleerten. 8 Tage lang
Rektalernährung; subkutan Atropin zur Herabsetzung der Magensekretion ;
die Fistel schloß sich wieder. Fat. nahm nunmehr vor und nach jeder
Mahlzeit eine Messerspitze Magnesia usta, um die Acidität des Magen^
Saftes zu vermindern. Fat. nahm an Gewicht zu; war nunmehr 5 Monate
lang völlig beschwerdefrei, dann stellten sich wieder Schmerzen ein; es
fand sich eine markstückgroße, druckempfindliche Infiltration im linken
Rectus, die auf einen neuen ulcerativen Frozeß bezogen wurde. Salz-
säuregehalt nach Frobefrühstück : 1,8 pro mille. Durch interne Behand-
lung (übliche Ulcustherapie) gingen die Schmerzen zurück ; die Infiltration
auf Druck nicht mehr empfindlich.
Fall XVI. [ScHLOFFER-Frag 1).] 33-jähr. Frau. Wegen Ulcus ventri-
culi am Fylorus Gastroenterostomie. Es kam zur Entwickelung eines Ulcus
pepticum jejuni an der Stelle der Gastroenterostomie. Auch eine neue
Gastroenteroanastomose wurde bald wieder in gleicher Weise verengt,
80 daß eine dritte Operation notwendig wurde. Es handelte sich jedesmal
um Geschwüre mit Ausbildung beträchtlicher entzündlicher Tumoren.
Wie wir aus dieser Zusammenstellung von 22 Fällen ersehen,
handelt es sich fast durchweg um Fatienten männlichen Geschlechtes.
Nur ein Fall betrifft ein Weib (Schloffer) ; ein Fall einen weiblichen
Säugling (unser Fall I).
Das Alter der Fatienten schwankte zwischen 4 Monaten und
59 Jahren; die überwiegende Mehrzahl gehört jedoch den höheren
Altersstufen an.
Es standen im Alter von
4 Monaten 1 Fall
20-30 Jahren 3 Fälle
30-40 , 6 „
40-50 „ 5 ,
50—60 „ 3 „
1) Wien. klin. Wochenschr., 1903, No. 16, p. 492.
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 917
Bei 4 Fällen fehlen Altersangaben.
Die Gastroenterostomien, nach denen ein Ulcus jejuni ent-
standen war, waren stets wegen gutartiger Magenaffek-
tionen ausgeführt worden. Es handelte sich meist um narbige
Pylorusstenosen infolge Ulcus, die zu hochgradiger Magendilatation
mit starken Retention^erscheinungen geführt hatten. Einmal war die
Stenose angeboren und funktioneller Natur (unser Fall I); einmal lag
ein Ulcus pepticum duodeni mit starker Infiltration des Pankreaskopfes
Tor (Krönlein).
Die Methoden der Gastroenterostomie, die zur Anwendung ge-
langten, waren in unseren 6 Fällen die typische Gastroenterostomia
antecolica anterior nach Wölfler mittels Naht. Zur Anastomose
wurde eine 50 cm von der Plica duodeno-jejunalis entfernte Darm-
schlinge gewählt. Um einen Circulus vitiosus zu vermeiden, wurde
stets zwischen den beiden Jejunumschenkeln, etwa 10 cm von der
Fixationsstelle am Magen entfernt, eine Enteroanastomose mittels Naht
angelegt. (In einem auswärts operierten Fall [II] wurde eine Entero-
anastomose erst bei der zweiten Operation hinzugefügt, die wegen eines
bereits bestehenden Ulcus jejuni vorgenommen wurde.) In derselben
Weise wurde noch ein Fall von Neümann operiert.
Kocher führte in seinem Falle die Gastroenterostomia antecolica
mit Implantation des zuführenden Schenkels in den abführenden aus
<Y-förmige G.E.). Bei 8 weiteren Fällen findet sich nur die Angabe,
daß eine Gastroenterostomia antecolica ausgeführt wurde; in 5 Fällen
gelangte die Gastroenterostomia retrocolica posterior zur Anwendung.
Wir finden also angewandt:
die G.E. antecolica anterior 16mal
davon mit Enteroanastomose 7 „
nach der Y-Methode 1 „
die G.E. retrocolica posterior 5 „
In einem Falle fehlt die Angabe der Operationsmethode.
Der Zeitraum, der zwischen der ersten Operation und der Bildung
des Geschwürs, resp. dem Auftreten der ersten Symptome liegt, schwankt
zwischen 10 Tagen (Steinthal) und 8 Jahren (Czerny).
Die Zwischenzeit betrug:
10 Tage in 1 Falle 2—3 Jahre in 1 Falle
2— 6 Monate in 7 Fällen 3-4 „ „ 3 Fällen
6-12 ,, 3 , 8 , , 1 Falle
1—2 Jahre „ 5 « Keine Angaben in 1 „
Wenn wir nun den klinischen Verlauf betrachten, so lassen sich
•deutlich zwei Gruppen von einander unterscheiden. Die eine Gruppe
zeichnet sich durch den völligen Mangel vorhergehender
klinischer Symptome aus. Die Patienten scheinen durch die
«rste Operation von ihrem Leiden geheilt und erfreuen sich des besten
MttML a. d. OmxfBMeteo d. Madidn u. Chlrarffle. XIIL Bd. 59
918 Max Tiegel,
Wohlbefindens. Sie können wieder alle Speisen ohne Beschwerden zu
sich nehmen; verrichten ihre Arbeit wie früher. Ganz plötzlich, wie
ein Blitz aus heiterem Himmel, überrascht sie in diesem Zustand schein-
barer Gesundheit ein Anfall heftiger Leibschmerzen, verbunden mit
Erbrechen. Bald gesellen sich auch die übrigen Symptome einer Per-
forationsperitonitis hinzu. Die Perforation erfolgte meist ohne jede
äußere Veranlassung und ohne die geringsten Vorboten»
Ein Patient wurde beim Zeitungslesen von ihr überrascht (Goepel).
Nur in einem Falle (Hahn) trat sie im Anschluß an schweres Heben
ein, weshalb zunächst eine Darmruptur angenommen wurde.
Die Perforation erfolgte in diesen Fällen meist direkt in die freie^
Bauchhöhle. Nur einmal führte sie zunächst zur Bildung eines sub-
phrenischen Abscesses, der dann später in die freie Bauchhöhle durch-
brach. Auch in diesem hatten bis zur Perforation des Abscesses keine
Beschwerden bestanden.
Wir hatten Gelegenheit, nur einen derartigen Fall zu beobachten
(Fall I), dessen Verlauf von dem oben geschilderten allerdings etwa&
abweicht. Die Geschwürsbildung, die zur Perforationsperitonitis führte,,
hatte sich hier schon Wochen vorher durch blutige Stühle und Magen-
blutung angekündigt.
Mit Einschluß dieses Falles sind es im ganzen 8 Fälle, in denen
das Ulcus zu plötzlicher Perforation in die freie Bauchhöhle führte^
darunter 6 Fälle mit letalem Ausgang wegen Peritonitis.
Anders verhalten sich die Fälle der zweiten Gruppe, welche 14
Beobachtungen umfaßt. Bei diesen stellen sich nach einer mehr oder
weniger langen beschwerdefreien Zwischenzeit wiederum Be-
schwerden ein, ähnlich denjenigen, wie sie durch ein penetrierendes^
Magenulcus herbeigeführt werden. Zunächst setzen wiederum Schmerzen
ein, die jedoch kein konstantes Verhalten zeigen. Bald werden sie als
mehr kontinuierlich, weniger intensiv angegeben, bald als sehr heftig,
krampfartig, anfallsweise auftretend; bald tritt während der Mahlzeiten
eine Steigerung der Schmerzen ein; bald werden dieselben durch da&
Essen gemildert und es erfolgt eine Exacerbation erst IVs — 2 Stunden
nach demselben. Die Schmerzen werden bisweilen in die Magengegend^
meist jedoch in die Gegend unterhalb des linken Rippenbogens bis zum
Nabel abwärts lokalisiert. In einem unserer Fälle (II) wurden Schmerzen,,
die anfangs in der Regio epigastrica bestanden, später in die rechte Seite
verlegt. Bei einer wiederholten Operation erwies sich die Annahme
eines rezidivierenden Jejunalgeschwürs als irrig; vielmehr fanden sich
zwei Knoten in der Nähe des Pylorus, die als UIcera angesprochen
wurden. In dem Falle Neümann gingen die Schmerzen von einem-
Punkte rechts vom Nabel aus.
Im Bereich jenes Bezirkes zwischen linkem Rippenbogen und
Nabelhöhe, der ungefähr der oberen Hälfte des linken Rectus entspricht^
lieber peptische Oeschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 919
bilden sich dann oft äußerst druckempfindliche Infiltrationen der Bauch-
decken, die bald nur als undeutliche Resistenzen imponieren, bald als
prominente, bis apfelgroße Tumoren sich gut abgrenzen lassen. Wir
selbst haben in 4 Fällen die Bildung solcher entzündlicher Tumoren
gesehen; die Zahl anderweitiger Beobachtungen dieser Art beläuft sich
auf 7.
In 2 Fällen zeigten sich von neuem Symptome von Stauung im
Magen: Dilatation. Plätschergeräusch, Gefühl von Vollsein, Neigung zu
Erbrechen (Gzernt, unser Fall II). In beiden Fällen sind wohl
diese Beschwerden als Folgen der Ulcerationen aufzufassen, die sich
an der Gastroenterostomie, resp. im abführenden Jejunumschenkel fanden.
Blutbrechen und blutige Stühle haben wir 4mal gefunden. Da
jedoch in 2 von diesen Fällen zugleich frische Ulcerationen in der
Pylorusgegend bestanden, so werden wir die Blutungen zum Teil
wenigstens auf diese beziehen müssen (Fall II und III). In den beiden
anderen Fällen war die Magenschleimhaut intakt (Fall I und IV).
Andere Autoren berichten nichts über Blutungen aus Magen oder Darm.
Als Kuriosum verdient hier noch der eine Fall aus der Heidel-
berger Klinik erwähnt zu werden. Es fand sich bei diesem Kot im
Magen, ohne daß sonst etwa Erscheinungen von Ileus bestanden. Eine
Erklärung hierfür fand sich bei der Operation : Durch Perforation eines
Ulcus in das Colon transversum war eine Kommunikation mit diesem
entstanden.
Auch prognostisch unterscheiden sich die Fälle der
zweiten Kategorie von jenen der ersten durch ihren gün-
stigeren Verlauf. Eine Perforation in die freie Bauchhöhle mit folgen-
der Peritonitis ist in keinem dieser Fälle zu verzeichnen. Diese Ver-
schiedenheit des klinischen Verlaufs und Ausgangs findet ihre Begründung
in den anatomischen Verhältnissen. In den zuerst aufgezählten Fällen
finden wir keinerlei Verwachsungen, die die PerforationsölSfnung von der
freien Bauchhöhle abschließen ; der Magendarminhalt kann sich ungehindert
in dieselbe ergießen. Anders bei den Fällen der letzten Art Hier haben
sich, wahrscheinlich infolge langsameren Fortschreitens der Geschwürs-
bildung, bevor es zur Perforation kommt, Verwachsungen gebildet, welche
die Bauchhöhle vor Infektion schützen. Durch diese Verwachsungen
kommt es nun leicht zu einem Uebergreifen des Geschwürs auf andere
Teile (auf die Bauchwand, auf das Kolon).
Auf diese Mitbeteiligung der Bauchdecken ist wohl auch
der größte Teil der klinischen Erscheinungen zurückzuführen. Solange
das Geschwür nur auf die Darm wand beschränkt bleibt, scheint es
keine Symptome hervorzurufen: darum auch das unvermutete Ein-
treten der Perforation. Erst wenn es zu Verklebungen und zur
Entzündung des empfindlichen Peritoneum parietale geführt
hat, beginnt es die geschilderten Beschwerden (Schmerzen etc.) zu ver-
59*
920 Max Tiegel,
nrsachen. Es entspricht dieses Verhalten völlig den Grundsätzen,
welche Lennander für die Sensibilität der Bauchhöhle aufgestellt hat ^).
Nach Lennander besitzen Magen und Darm keine Schmerz per-
zipierenden Nerven, während das Peritoneum parietale sehr empfindlich
ist Erkrankungen dieser Organe verursachen darum nicht eher Schmerz,
als bis sie auf die Bauchwand übergegriffen und hier eine begrenzte
Peritonitis erzeugt haben.
Besonderes Interesse beansprucht der rezidivierende Verlauf
in einer Anzahl der Fälle. Wir haben in 3 Fällen diese Neigung zu
Bezidiven beobachten können. Bei Fall II wurde bei einer späteren
Operation ein neues Geschwür an der Gastroenterostomiestelle, bei
Fall III ein solches an der Enteroanastomose gefunden. Der letztere
kam bald nach der Rezidivoperation zum Exitus. Bei dem ersteren
Fall wurden nach der ersten Rezidivoperation wegen der wiederkehrenden
Beschwerden noch wiederholt Operationen ausgeführt, bei denen sich
Ulcera am Pylorus, nicht im Jejunum fanden. Pat. wurde seinerzeit
(10. Mai 1901) mit seinen Beschwerden entlassen und ist seitdem unserer
Beobachtung entschwunden. Bei einem dritten Fall fV.J sind nach 6V2
Monate langem Wohlbefinden die alten Beschwerden wiedergekehrt
(Schmerzen, druckempfindliche Resistenz im linken Rectus), die wir auf
ein rezidivierendes Geschwür im Jejunum zurückführen. Die Diagnose
ist allerdings nicht durch eine Autopsie in vivo sichergestellt, jedoch
nach dem ganzen klinischen Bild sehr wahrscheinlich. Der Pat. wurde
intern weiter behandelt und steht noch unter unserer Beobachtung.
Zu diesen 3 kommen noch 5 von anderer Seite mitgeteilte Fälle.
Es sind dies die Fälle von Heidenhain und Neumann, in denen das
Ulcusrezidiv noch einen einmaligen Eingriff erforderte; der Fall
Schloffer, in welchem das Rezidiv noch ein zweites Mal wiederkehrte
und deswegen 2mal operiert werden mußte; ferner der Fall Krön-
lein, in welchem wiederum Symptome aufgetreten waren, die auf ein
Ulcusrezidiv schließen Ueßen, in welchem jedoch zur Zeit der Publi-
kation ein Operationsbefund noch nicht vorlag; schließlich der Fall
Brodnitz, in welchem das Rezidiv durch interne Behandlung zur
Heilung gebracht wurde.
lieber das Verhalten des Magensaftes vor der ersten
Operation (Gastroenterostomie) habe ich nur wenige Angaben gefunden.
In dem Falle Braun bestanden starke Retentionserscbeinungen ;
der Magensaft reagierte sauer; es fand sich keine Milchsäure, Sarcine.
Körte fand Retention und eine Hyperacidität von 66—77. In den 3
von GoEPEL mitgeteilten Fällen war sehr viel freie Salzsäure vorfeanden.
1) Lennander, Ueber Sensibilität der Bauchhöhle und über lokale
und allgemeine Anästhesie der Bruch- und Bauchoperationen. CentralbL
f. Chir. 1901, S. 209.
lieber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 921
Von unseren Fällen haben wir nur 3 vor der ersten Operation
selbst untersucht; in 2 davon (III, IV) fand sich geringe, in einem
(VI) keine Hyperacidität. Ein Fall [I.] war in der hiesigen Kinderklinik
vorher beobachtet worden. Es wurde hier bei dem 2-monatlichen
Säugling stets freie HCl festgestellt. Die beiden übrigen Fälle wurden
auswärts operiert; es fehlen uns daher diesbezügliche Angaben.
Da es sich jedoch in fast all diesen Fällen um Pylorusstenose
mit Dilatation handelte, so werden wir nicht fehlgehen, wenn wir auch
da, wo genauere Mitteilungen fehlen, eine abnorme Beschaffenheit des
Magensaftes (Hypersekretion und Hyperacidität) annehmen.
Auch über das Verhalten des Magensaftes naohderGastroenter-
ostomie, also zu jener Zeit, in welche die Entstehung des Ulcus jejuni
fällt, sind die Angaben sehr lückenhaft. Hier scheiden zunächst schon
alle Fälle der I. Gruppe aus, in welchen in dieser Zeit keine Be-
schwerden bestanden und aus diesem Grunde auch eine Untersuchung
unterblieb. Nur in 1 Falle dieser Kategorie (Braün) führten Magen-
beschwerden in der Zwischenzeit zu einer Untersuchung des Magen-
saftes, durch welche keine freie HCl in demselben festgestellt wurde.
Diese Untersuchung lag jedoch bereits 7^2 Monate vor der Perforation
zurück.
Außerdem habe ich noch folgende Angaben gefunden:
Heidenhain konstatierte keine auffällige Hyperchlorhydrie (nach
Probefrühstück 0,22 Proz.). Bei dem Falle Kocher war die Salzsäure
vermindert, während sich Milchsäure in Spuren fand (fraglich). In den
3 Heidelberger Fällen fand sich 2mal Hyperacidität (1 mal nur gering) ;
1 mal keine.
Brodnitz stellte nach Probefrühstück 1,8 pro mille freie HCl fest.
In unseren Fällen verfügen wir über zahlreiche genaue Unter-
suchungen, die ich im wesentlichen bereits in den Krankengeschichten
mitgeteilt habe. Ich will hier die Ergebnisse derselben nur kurz zu-
sammenfassen.
In 3 Fällen (II, III, IV) konnten wir eine stärkere Hyperacidität
konstatieren, die bisweilen Werte von 90 — 118 Gesamtacidität und
60 — 75 freie Sabssäure erreichte. In einem Falle (V) sahen wir nur
eine geringe Hyperacidität; in einem weiteren (VI) fanden wir normale
Aciditätsverhältnisse. Bei dem Falle, welcher in der Kinderklinik be-
handelt wurde (I) konnte in dieser Zeit der Nachweis der Hyperchlor-
hydrie nicht erbracht werden.
Soviel wir aus diesen Angaben ersehen können, ist also das Ver-
halten des Magensaftes durchaus kein konstantes: Neben Fällen
mit hochgradig gesteigerter Addität finden wir solche, wo sie nur wenig
vermehrt oder normal ist, ja sogar einen, wo der Säuregehalt des
Magensekrets vermindert erschien. Auch bei demselben Falle sind
922 Max Tiegel,
die Aciditätsverhältnisse bei den verschiedenen Untersuchungen sehr
wechselnd.
Die Geschwüre des Jejnnums gleichen sowohl in ihrer
äußeren Form, wie in ihrem mikroskopischen Bau vollkommen
den peptischen Geschwüren des Magens und Duodenums, so daß wir sie
als diesen völlig analoge Prozesse auffassen müssen. Als die ersten An-
fangsstadien finden sich kleine Blutergüsse in der Schleimhaut und daraus
sich entwickelnde hämorrhagische Nekrosen, wie sie Steinthal beob-
achtet hat. Durch Verdauung des nekrotischen Gewebes entstehen nun
Substanzverluste, die zuerst nur die Schleimhaut betreffen (unser Fall I),
schließlich aber in die Tiefe gehen und alle Schichten der Darmwand
ergreifen. Die Ränder sind in einem Teil der Fälle glatt und steil ab-
fallend; das Geschwür ist öfters kreisrund und wie mit einem Loch-
eisen herausgeschlagen. Diese Art findet sich besonders bei den ganz
akut verlaufenden Fällen und deutet auf einen sich rasch abspielenden
Prozeß hin. Bei anderen Fällen finden wir die Substanzverluste der
Schleimhautschicht größer als in den tieferen Schichten (Muscularis),
so daß ein terrassenförmiger Abfall der Geschwürsränder resultiert
Es spricht dies für ein mehr allmähliches, successives Vordringen in die
tieferen Schichten. Schließlich treten sekundäre, entzündliche Erschei-
nungen hinzu, die die ursprüngliche Gestaltung mehr oder weniger
verwischen. Die Ränder werden entzündlich infiltriert, starr, gewulstet.
Die Form der Geschwüre wird unregelmäßiger. Bei längerem Bestände
kommt es dann zu Verwachsungen mit Nachbarorganen, und die Ge-
schwüre greifen schließlich auch auf diese über. Wir haben dann jene
tiefen, kraterförmigen Substanzverluste, wie sie sich in den meisten
chronisch verlaufenden Fällen finden, und die dann schließlich zur Aus-
bildung von größeren entzündlichen Tumoren, eventuell zur Entstehung
einer Fistel führen.
In 2 unserer Fälle hatte trotz des chronischen Verlaufes das Ge-
schwür eine kreisrunde Form bewahrt. Von der Schleimhautseite ge-
sehen, stellte es sich als eine pfennigstückgroße runde Oeffnung dar,
mit wenig gewulsteten Rändern, durch welche man in eine Höhle ge-
langt, deren Lumen den Umfang der Perforationsöfihung übertrifft.
Die Höhle wird durch den Defekt in der vorderen Bauchwand gebildet,
den das Geschwür gesetzt hat.
Mikroskopisch bieten diese Geschwüre keinen besonderen Befund :
Defekte in der Schleimhaut, und je nach der Tiefe der Geschwüre auch
in den übrigen Schichten der Darmwand und eventuell auch in den
Bauchdecken; in der Umgebung derselben mehr oder weniger ausge-
sprochene Erscheinungen entzündlicher Infiltration.
Vernarbungsvorgänge oder fertige Narben wurden nicht beobachtet,
was für die geringe Heilungstendenz dieser Ulcerationen spricht.
lieber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 923
Der Sitz der Geschwüre war lOmal die Gastroenterostomiestelle
und einmal die Enteroanastomose. In den übrigen Fällen lagen die
Geschwüre in der Jejunalwand, meist in unmittelbarer Nähe der Gastro-
«nteroanastomose. Sie waren von derselben meist nur durch schmale
Streifen intakter Schleimhaut, von 2 mm bis 2 cm Breite getrennt.
Nur einmal betrug die Entfernung von der Gastroenterstomiestelle
7 cm (Körte).
Die Geschwüre traten meist in der Einzahl auf, nur in 3 Fällen
wurden mehrere nebeneinander beobachtet : Imal 2 Ulcerationen (Brod-
NiTz), 2mal 4 (Steinthal, unser Fall I). Diese Multiplizität steht in
unserem Falle vielleicht mit dem sehr geschwächten Allgemeinzustand
des kleinen Patienten, dessen Rekonvaleszenz nach der ersten Operation
schwere Störungen erlitten hatte, in einem gewissen kausalen Zusammen-
hange, in dem Falle von Steinthal vielleicht mit der hochgradigen
Arteriosklerose.
Mehrfach bestanden neben den Ulcerationen des Darmes auch
solche des Magens.
Die Stellung der Diagnose bietet gewisse Schwierigkeiten. In
den Fällen der ersten Gruppe liegen zwar klare und deutliche Sym-
ptome vor, die sofort die Diagnose Peritonitis ermöglichen ; der Verlauf
vor dem Eintreten derselben bietet jedoch keinerlei Anhaltspunkte, aus
denen sich im einzelnen Falle auf die Ursache der Peritonitis schließen
ließe. In der Tat ist man auch nie über die allgemeine Diagnose
Peritonitis hinausgegangen. Wo dies versucht wurde, bewegte sie sich
in falscher Richtung: einmal wurde eine Appendicitis (Körte), einmal
eine Darmruptur (Hahn) als Ursache angesprochen.
Es ist dies leicht erklärlich. Bei den ersten derartigen Fällen hat
man überhaupt nicht an die Möglichkeit eines Ulcus jejuni gedacht.
Heute indessen verfügen wir über eine Reihe von 8 Beobachtungen,
die sich alle durch einen gleichartigen Verlauf auszeichnen und uns
eine festere Grundlage für diagnostische Schlüsse abgeben.
Wir werden künftig in allen Fällen, wo längere Zeit nach einer
Gastroenterostomie wegen gutartiger Magenaffektion, plötzlich ohne be-
kannte Ursache und ohne vorhergehende Erscheinungen Peritonitis auf-
tritt, in erster Linie ein perforiertes Ulcus jejuni als Ausgangspunkt
der Peritonitis ins Auge fassen müssen. Gerade auf den Mangel
jeglicher Symptome vor der Perforation ist Wert zu legen, da
die anderen Erkrankungen, die zu einer Perforationsperitonitis führen
können, doch meist nicht so symptomlos verlaufen.
Für die Behandlung ergeben sich hieraus die Forderungen, den
chirurgischen Eingriff sofort vorzunehmen und bei demselben zuerst
die Gastroenterostomiestelle und die zur Anastomose verwandte Darm-
schlinge genau abzusuchen. Die beiden Erfolge Goepels sprechen
sehr zu Gunsten eines solchen Vorgehens.
924 Max Tiegel,
Auch bei den chronisch verlaufenden Fällen ist eine sichere
Diagnose nicht möglich. Die Symptome decken sich hier vollkommen
mit denen eines penetrierenden Magenulcus, welches auf die vordere
Bauchwand übergegriffen und zur Infiltration derselben geföhrt hat.
Während man früher ein derartiges Symptomenbild ohne weiteres auf
diese wohlbekannte und beschriebene Erkrankung als Folge eine&
offenen Ulcus ventriculi bezog, wird man nunmehr die Diagnose offen
lassen müssen zwischen einem penetrierenden Ulcus des Magens und
einem solchen des Jejunums. Die letztere Annahme wird an Wahr-
scheinlichkeit gewinnen, wenn die infiltrierte Stelle der Bauchwand link&
und tiefer unten liegt, also ungefähr der Lage der Anastomose oder
der dazu verwandten Schlinge entspricht oder wenn sich längere Zeit
nach der ersten Operation wieder Stenosenerscheinungen einstellen, die
auf eine Verengerung der Anastomose oder des abführenden Schenkels*
durch geschwürige Prozesse hinweisen. Für die Therapie ist jedoch in
diesen Fällen eine genaue Differentialdiagnose ohne wesentliche Be-
deutung.
Es ist nach dem Gesagten sehr wahrscheinlich, daß das Vorkommen
von peptischen Geschwüren im Jejunum nach Gastroenterostomien
häufiger ist, als es den Beobachtungen entspricht; daß ein Teil dieser
Fälle, wie wir auf Grund der Beobachtungen der Gruppe I annehmen
können, völlig latent verläuft und, wenn es nicht zur Perforation kommt,,
ausheilt und sich so überhaupt der Beobachtung entzieht, daß ein
anderer Teil, in dem keine neue Operation Klarheit schaffte, früher
unter falscher Diagnose (perforiertes oder penetrierendes Magenulcus)
geführt wurde und vielleicht auch heute noch wird. So erklärt sich
auch die Tatsache, daß, seitdem Braun zuerst darauf aufmerksam ge-
macht hat, also innerhalb von 5 Jahren, so zahlreiche Fälle bekannt
wurden, meist als überraschende, nicht vermutete Befunde bei Operationen
oder Autopsien, während in einer weit längeren Periode vor 1899 keine
derartigen Beobachtungen zu verzeichnen sind.
Was die Therapie des Ulcus jejuni anbelangt, so besitzen wir
über die interne Behandlung desselben bisher nur geringe Erfahrungen.
Ein Teil der Fälle scheidet hier von vornherein aus, nämlich alle
diejenigen, in denen keine Beschwerden bestanden, die zu einer ärzt-
lichen Behandlung Anlaß gegeben hätten, wo die Perforationsperitoniti&
plötzlich im Zustande des Wohlbefindens einsetzte. Bei den übrigen
Fällen können wir annehmen, daß erst eine innere Behandlung versucht
wurde, bevor die Patienten sich zu einer Operation entschlossen. Da
die Diagnose meist auf rezidivierendes Magenulcus gestellt wurde, so
wird auch die Behandlung eine dementsprechende gewesen sein. Eine
einzige genauere Mitteilung hierüber verdanken wir Brodnitz. Eine
Fistel, welche bei einem Patienten durch ein rezidivierendes Ulcus ent-
standen war, heilte unter 8-tägiger, ausschließlicher Rektalemährung^
Ueber peptische Geschwüre des Jejunums nach Gastroenterostomie. 925
Anwendung von subkutanen Atropininjektionen (zur Herabsetzung der
Magensekretion) und Gebrauch von Alkalien (Magnes. usta) wieder zu.
Als sich nach 5 Monate dauerndem Wohlbefinden von neuem Be-
schwerden einstellten, die auf ein Ulcusrezidiv zurückgeführt wurden,
gingen diese wiederum auf die übliche Ulcustherapie zurück.
ßei vier von unseren Fällen finden sich teils diesbezügliche anam-
nestische Angaben, teils sind die Fälle in unserer Klinik mit internen
Mitteln behandelt worden. In Fall III führten Bettruhe, Gebrauch von
Karlsbader Salz zu einer vorübergehenden Besserung des Zustandes.
In Fall IV wurden Magenspülungen und Gebrauch von Alkalien mit
dem gleichen Erfolge angewandt. In einem weiteren Falle (V) wurden
die Beschwerden durch warme Umschläge, Milchdiät und Darreichung
von Alkalien gebessert Die interne Behandlung dieser Fälle wurde
jedoch, soweit wenigstens die Behandlung in der Klinik in Betracht
kommt, nur kurze Zeit durchgeführt. Nur in einem Falle (VI) wurde
sie längere Zeit fortgesetzt, um uns ein Urteil über den Wert derselben
zu gestatten. Der Patient mußte zu Bett liegen, bekam auf die In-
filtration in der Bauchwand heiße Breiumschläge. Die Ernährung erfolgte
zum Teil per rectum durch täglich 6 Nährklystiere ä 200 g Wasser,
50 g Wein, während er per os nur 172» später 2*/, 1 Milch erhielt.
Von Medikamenten gebrauchte er täglich 6mal 1,0 Bismuth. subnitr.
Unter dieser Behandlung, die einen Monat lang strikte durchgeführt
wurde, besserte sich der Zustand des Patienten so, daß wir hofften, ihn
ganz geheilt entlassen zu können. Die Schmerzanfälle verschwanden,
die äußerst schmerzhafte Resistenz unter dem linken Rippenbogen
wurde kleiner und nur noch leicht druckempfindlich. Das Körper-
gewicht blieb unverändert Leider mußte auf Wunsch des Patienten
die Behandlung vorzeitig abgebrochen werden. Nach der Entlassung
blieb Patient 2 Monate beschwerdefrei, dann setzten wieder die alten
Beschwerden ein. Zu einem wiederholten Versuch mit interner Be-
handlung will sich Patient nun nicht mehr entschließen.
Zahlreicher sind die Erfahrungen, die wir über operative Eingriffe
besitzen. Da wo das Ulcus zur Perforationsperitonitis führte, waren es
die Symptome dieser, die die Operation veranlaßten. Goepel laparo-
tomierte in zwei Fällen schon frühzeitig nach der Perforation. Es ge-
lang ihm, die Perforationsstelle am Darm sogleich zu finden und zu
vernähen und auf diese Weise die beiden Patienten zu retten. Einmal
wurde noch von Körte aus derselben Veranlassung operiert. Der
Proc. vermif. wurde als Ausgangspunkt der Peritonitis angesehen und
entfernt. Erst bei der Obduktion stellte es sich heraus, daß die
wirkliche Ursache ein perforiertes Ulcus jejuni war.
Die übrigen operativ angegangenen Fälle, 13 an der Zahl, sind
solche mit chronischem Verlauf. Die andauernden Beschwerden, vor
allem die Schmerzen, sowie die objektiv sichtbaren entzündlichen Tu-
926 Max Tiegel,
moren gaben hier die Indikation zum Eingriff ab. Derselbe bestand
teils in der bloßen Vernähung des Geschwürs, nachdem die Verwach-
sungen mit den Bauchdecken gelöst waren, teils in der Excision des-
selben und Vernähung des gesetzten Defektes in der Darmwand, wobei
die infiltrierte Partie in der Bauchwand mitentfernt wurde. Die oft
ausgedehnten Verwachsungen zwischen Magen, Darm und Bauchwand
erschwerten die Orientierung sehr. Bei der Lösung derselben ließ sich
öfters eine Verletzung des Darmes nicht vermeiden.
Die Erfolge der Operationen sind recht ungünstige. Von den
13 Fällen endeten 3 letal im Anschluß an die Operation (Peritonitis),
in 8 Fällen stellte sich nach einer mehr oder weniger langen beschwerde-
freien Zwischenzeit ein Rezidiv ein, und nur in 2 Fällen brachte die
Operation Heilung, soweit die Beobachtung reichte. Dieser günstige
Ausgang verliert jedoch an Wert, da er nicht durch eine längere Nach-
beobachtung bestätigt ist. Auf eine solche aber dürfen wir keineswegs
verzichten, wenn wir bedenken, wie spät erst in manchen Fällen das
Rezidiv aufgetreten ist. Ebensowenig liegen Nachbeobachtungen vor von
jenen Fällen, die wegen Rezidiv nochmals operiert werden mußten, so
daß wir keine Kenntnis besitzen, ob diese nun endgültig rezidivfrei
geblieben sind, resp. bleiben werden. Nur Heidenhain hat bei seinem
Patienten nach der letzten Operation (Gastroenterostomia anterior im
Fundusteil des Magens) während einer 4-jährigen Beobachtungszeit
Rezidivfreiheit konstatiert. Soweit wir Gelegenheit zu Nachunter-
suchungen hatten, haben wir keine dauernden, befriedigenden Resultate
feststellen können.
Die immer wiederkehrenden Beschwerden veranlaßten uns in
zwei Fällen schließlich eine Jejunostomie auszuführen, um die Magen-
tätigkeit eine Zeitlang völlig auszuschalten und so die Geschwüre zur
Heilung zu bringen, resp. Rezidiven vorzubeugen. Der eine dieser
Fälle (II) scheidet für diese Frage aus, da sich hier Darm und
Anastomosenstelle intakt zeigten, dagegen frische Ulcera am Pylorus
bestanden. Die ^ Beschwerden, die nunmehr auf diese zurückzuführen
waren, wurden durch die Jejunostomie nur vorübergehend gebessert
In dem zweiten Falle (III) lag ein Ulcus an der Gastroenterostomie-
stelle vor. Dasselbe wurde exzidiert, und um nun ein Rezidiv zu ver-
hüten, wurde eine Jejunumfistel angelegt. Der Schlauch blieb ^4 J^^r
lang liegen und die Ernährung erfolgte ausschließlich durch denselben.
Während dieser Zeit, sowie noch 3^2 Monate nach Entfernung des
Drains, blieb Patient beschwerdefrei, dann zeigten sich wieder Sym-
ptome, als deren Ursache sich ein neues Ulcus an der Enteroanastomose
herausstellte. Trotz des vorübergehenden Erfolges hat hier also die
Jejunostomie auf die Dauer doch nicht gehalten, was man sich von
ihr versprochen hatte. Es wird sich darum, entgegen dem Vorschlage
Schloffers, empfehlen, in derartigen Fällen von der Jejunostomie
lieber peptische Geschwüre des Jejanums nach Gastroenterostomie. 927
ganz abzusehen und an ihrer Stelle die vorübergehende Ausschaltung
des Magens durch Rektalernährung herbeizuführen. Wenn diese auch
für die Ernährung geringeren Wert besitzt, so werden wir ihr doch,
in Anbetracht dessen, daß es sich nur um vorübergehende Maßnahmen
handelt, daß wir dem Patienten eine eingreifende, in ihrem Erfolge
zweifelhafte Operation ersparen, sowie daß auch bei der Jejunostomie
die Ernährungsverhältnisse durchaus keine idealen sind, den Vorzug
geben.
Wenn wir die Resultate der internen Behandlung denen der
chirurgischen gegenüberstellen, so müssen wir zu dem Schluß kommen,
daß der ersteren ein größeres Gebiet eingeräumt werden sollte. Die
wenig ermutigenden Erfolge der chirurgischen Eingriffe, auf der anderen
Seite die günstige Beeinflussung des Leidens durch interne Behandlung
(allerdings auch nicht durch Nachuntersuchungen kontrolliert) sollten
uns jedenfalls veranlassen, bei der Therapie des Ulcus jejuni in erster
Linie die interne ins Auge zu fassen, zum mindesten aber erst einen
ausgedehnten Versuch mit derselben zu machen. Die innere Behand-
lung muß, wenn man sich von ihr Erfolg versprechen will, konsequent
und längere Zeit durchgeführt werden, etwa in derselben Art und Weise
wie in unserem Fall VI (Bettruhe, Milchdiät, Rektalernährung, heiße
Breiumschläge, Bismuth. subnitr.). Erst wenn dann kein Erfolg zu
erkennen ist, sollte man zur Operation schreiten.
In jenen Fällen, in denen das Ulcus in die freie Bauchhöhle per-
forierte, ist selbstverständlich nur nach chirurgischen Grundsätzen zu
verfahren. (Sofortige Laparotomie; Aufsuchen der Perforationsstelle.)
Die Aetiologie des Ulcus pepticum jejuni ist ebenso wie die-
jenige der analogen Geschwürsbildungen im Magen und Duodenum
als keine einheitliche aufzufassen; vielmehr müssen wir annehmen, daß
die verschiedensten Ursachen und Bedingungen bei der Entstehung
derselben zusammenwirken.
Die wichtigste ätiologische Rolle ist jedenfalls der Einwirkung des
Magensekretes zuzuweisen. Für diese Annahme spricht zunächst der
Sitz der Geschwüre an der Gastroenterostomiestelle selbst oder in deren
nächster Nähe, also an Stellen, wo der Magensaft unmittelbar, mit un-
vermindeter Acidität hingelangt. Nach Kocher ^) wird die Geschwürs-
bildung an diesen Stellen noch dadurch begünstigt, daß sich der Darm
unterhalb der Gastroenteroanastomose kontrahiert, so daß es also in dem
obersten Darmabschnitt zur Stagnation und verlängerten Einwirkung
des Magensekretes kommt Diese Vermutung stützt sich auf die Be-
obachtung eines Falles, wo nach einer Gastroenterostomie eine Re-
1) Kongr.-Ber., 1902, p. 104.
928 Max Tiegel,
laparotomie vorgenommen wurde; ein Ulcus jejuni lag in diesem Falle
nicht vor. In den der Anastomose entfernteren Abschnitten, wo die
Acidität des Mageninhaltes durch Vermischung mit dem alkalischen
Darmsaft bereits herabgesetzt ist, finden wir keine derartigen Ulce-
rationen mehr. Wie wir schon hieraus schließen können, ist also in
dem Säuregehalt des Magensaftes ein Hauptfaktor zu suchen.
Dieser Schluß wird uns noch nahe gelegt durch die Tatsache, daß
peptische Geschwüre des Jejunums bisher nur beobachtet wurden nach
Gastroenterostomien , die wegen einer gutartigen Magenerkrankung
(Pylorusstenose) ausgeführt worden waren. Es sind dies zumeist Fälle,
die mit einer erhöhten Acidität des Magensaftes einhergingen. Dagegen
sind derartige Geschwüre nie beschrieben nach Gastroenterostomien
wegen Carcinom, also bei stark verminderter oder fehlender Acidität.
Nur einige abweichende Beobachtungen sind hier zu verzeichnen:
Unser Fall I, in dem sich keine freie HCl fand, sowie der Fall
Kochers, wo die Acidität vermindert war. Diese Fälle sind insofern
bemerkenswert, als sie darlegen, daß unter gewissen Bedingungen auch
ein subacider Magensaft peptische Geschwüre im Darm hervorzubringen
vermag. Wir müssen jedoch diese Erscheinung, die ja auch in ein-
zelnen Fällen von Ulcus ventriculi bekannt ist, ebenso wie dort als
Ausnahme ansehen und als Regel festhalten, daß in erster Linie der
Salzsäuregehalt des Magensaftes, vor allem eine Vermehrung
desselben, für die Geschwürsbildung verantwortlich zu machen ist.
Als ein weiteres ätiologisches Moment kommen Zirkulations-
störungen in Betracht. Bereits Virchow ^ hat in Bezug auf die Ent-
stehung des Magengeschwüres die Ansicht vertreten, daß Zirkulations-
störungen der Ausgangspunkt der Geschwürsbildung seien. Es liegt nun
nahe, diese Anschauung auf die analogen Erscheinungen des Jejunum
zu übertragen. Auch hier begünstigen Anomalien in der Blutversorgung
die peptische Wirkung des Magensaftes oder geben für dieselbe über-
haupt erst eine notwendige Vorbedingung ab. Der von ihnen be-
troffene Bezirk wird unter schlechtere Ernährungsverhältnisse gesetzt
und büßt so von seiner normalen Resistenz gegen die verdauende Kraft
des Magensekretes ein oder er fällt bei gänzlicher Unterbrechung der
Blutzufuhr der Nekrose anheim und wird dann wie ein fremdes ein-
geführtes Fleischstück verdaut. Besteht venöse Stauung, so kommt es
leicht zu Hämorrhagien der Schleimhaut, aus denen sich dann Nekrosen
und Ulcerationen entwickeln.
Derartige Zirkulationsstörungen können nun auf die verschiedenste
Art im Jejunum zu stände kommen. Einmal bei der Operation selbst:
1) RuD. Virchow, Historisches, Kritisches und Positives zur Lehre
der Unterleibsaffektionen. Virch. Arch., Bd. 5, p. 862.
lieber peptische Geschwüre des Jejunums nach Oastroenterostomie. 929
durch Verletzung und Ligatur von Gefäßen, durch die Naht, durch Zu-
sammendrucken des Knopfes oder durch Zerrung und Knickung des
Mesenteriums. In dem Falle von Steinthal werden wir nicht fehl-
gehen, wenn wir einen solchen Zusammenhang annehmen. Die Kürze
der Zeit (10 Tage), nach der die Geschwürsbildung auftrat, das Be-
stehen noch frischer Hämorrhagien neben bereits fortgeschrittenen und
perforierten Ulcerationen, die beobachtete Abknickung des Mesenteriums,
weisen darauf hin. In allen anderen Fällen spricht der lange Zwischen-
raum, der zwischen Operation und Geschwürsbildung liegt, scheinbar
gegen eine solche Annahme. Wenn wir jedoch in Erwägung ziehen,
daß bei dem Einsetzen der ersten klinischen Erscheinungen das Ge-
schwür in seinen Anfangsstadien vielleicht schon längere Zeit symptom-
los bestanden hat, so dürfen wir auch hier, selbst nach Monaten, nicht
absolut einen direkten kausalen Zusammenhang mit der Operation von
der Hand weisen. Nach der Ansicht des Herrn Geheimrat v. Mikulicz
hat auch die Richtung, in welcher das Jejunum an den Magen ange-
heftet wird, auf die späteren Zirkulationsverhältnisse Einfluß. Die Ge-
fahr der Umschnürung einer größern Zahl von Darmgefäßen, unmittelbar
an ihrem Austritt aus dem Mesenterium, ist bei longitudinaler Anheftung
größer als bei querer, wenn nicht darauf geachtet wird, daß der Darm
genau gegenüber dem Mesenterialansatz in den Magen implantiert wird.
In unserer Klinik wird bei der vorderen Gastroenterostomie der Darm
in der Regel longitudinal implantiert, bei der hinteren transversal.
Vielleicht erklärt dies, warum wir das Ulcus jejuni nach der hinteren
Gastroenterostomie noch nicht beobachtet haben.
Sodann sind auch nach der Operation noch Zirkulationsstörungen
zu befürchten, die aus der abnormen Lagerung und Fixation der zur
Anastomose verwandten Darmschlinge herzuleiten sind. Der Möglich-
keiten sind hier viele : Uebermäßige Anspannung der Darmschlinge und
des Mesenteriums derselben, Abknickung, Druck benachbarter Organe,
denen die fixierte Schlinge, resp. deren Mesenterium nicht auszu-
weichen vermag (z. B. von selten des Magen, des Colon transv., des
wieder mehr Fett ansetzenden Netzes).
Besonders schwer werden alle diese Schädlichkeiten ins Gewicht
fallen, wo schon von vornherein pathologische Zirkulationsverhältnisse
vorliegen (bei Herz- und Lungenleiden, bei Stauung im Pfortadergebiet
infolge Lebererkrankungen etc.) oder wo bereits atheromatöse Ver-
änderungen der Gefäßwände bestehen. In dem Falle von Steinthal ist
es höchst wahrscheinlich die hochgradige Arteriosklerose, die im Verein
mit einer geringen Abknickung des Mesenteriums den überaus pro-
gredienten Verlauf, das Auftreten multipler Geschwüre bedingt hat. In
einem weiteren Falle aus der Heidelberger Klinik wurde ebenfalls be-
ginnende Atheromatöse festgestellt. Sonst habe ich hierüber keinerlei
Angaben gefunden. Trotzdem möchte ich annehmen, daß bei dem Alter,
930 Max Tiegel,
in welchem ein großer Teil der männlichen Patienten gestanden hat,
atheromatöse Veränderungen häufiger vorgekommen sind.
Fernerhin bieten direkte Verletzungen der Schleimhaut dem
sauren Magensekret geeignete Angriflfspunkte. Diese können nun leicht
während der Operation entstanden sein : durch Instrumente (Klemmen*
druck), durch Zusammenpressen des Knopfes, durch die länger anhaltende
Druckwirkung des bereits fixierten Knopfes u. s. w., oder sie können erst
später zu stände kommen, durch harte, scharfe Speiseteile (Brotkrusten),
die die enge Gastroenterostoanastomose oder die kontrahierte, abführende
Schlinge passieren. Denselben Effekt werden natürlich kleine Schleim-
hautlücken haben, die infolge mangelnder Exaktheit bei Vereinigung der
Schleimhautränder bei Gastroenterostomie und Enteroanastomose be-
stehen bleiben oder später durch Versagen der Naht, schlechten Sitz
des Knopfes entstehen.
Schließlich müssen wir bei der Frage der Aetiologie auch noch einer
gewissen individuellen Disposition Rechnung tragen, wenn wir
auch über das Wesen derselben noch keine klaren Vorstellungen be-
sitzen. Die Tatsache, daß bei derartigen Individuen schon vorher Ge-
schwüre des Magens oder Duodenums bestanden, daß sich öfters gleich-
zeitig neben den Ulcerationen im Jejunum vriederum solche des Magens
entwickelt haben, sowie das häufige Auftreten von Rezidiven deuten
darauf hin.
Sehr interessant für diese Frage ist eine Beobachtung von Stephan
Watts, (John Hopkins Hosp. in Baltimore), über welche v. Mikulicz
berichtet ^). Es traten bei einem Hunde nach einer vorderen Gastroen-
terostomie, welche mittels Naht, ohne Anwendung mechanischer Hilfs-
mittel (Klemmen) ausgeführt worden war, 2 peptische Geschwüre,
mehrere Millimeter von der Nahtlinie entfernt, im Jejunum auf. Dieselben
lagen gegenüber der Anastomosenstelle ; eines war perforiert und hatte
nach 3-monatlichem vollkommenem Wohlbefinden des Tieres den Tod
herbeigeführt. Die Schlinge war etwa 20 cm vom Pylorus entfernt und
isoperistaltisch in die vordere Magenwand, unmittelbar über der großen
Kurvatur, implantiert.
Der Fall steht bisher vereinzelt da, so daß sich weitergehende Schlüsse
an ihn nicht knüpfen lassen. Von Bedeutung ist er jedoch insofern,
als er die Möglichkeit beweist, daß auch bei Hunden nach Gastroentero-
stomie peptische Geschwüre im Jejunum vorkommen können. Eine
experimentelle Erzeugung derselben wird bei der Resistenz des
Intestinaltraktus des Hundes gegen die peptische Wirkung des Magen-
safts jedenfalls auf große Schwierigkeiten stoßen *).
1) v. Mikulicz, Small Contribution to the Surgery of the Intestinal
Boston Med. and Surgical Journal, 1903, No. 23, p. 608—611.
2) Nach Erkundigungen, die ich von fach wissenschaftlicher Seite ein-
lieber peptische Geschwüre des Jejunums nach Oastroenterostomie. 931
Aus all diesen rein theoretischen Erwägungen ergibt sich nun für
den Chirurgen die praktisch wichtige Frage, inwieweit können durch
Operationsmethoden und Technik diese schädlichen Einflüsse vermieden
werden, inwieweit sind wir in der Lage, ihnen bei der Nachbehandlung
der Gastroenterostomie mit internen Mitteln entgegenzuarbeiten. In
erster Linie interessiert hier die Frage, welche Operationsmethoden am
geeignetsten erscheinen, derartige Geschwüre zu vermeiden. Eine be-
friedigende Antwort hierauf vermag nur eine ausgedehnte Statistik zu
geben. Da wir bei der geringen Zahl von Beobachtungen zur Zeit über
eine solche noch nicht verfügen, auch die bisherigen Beobachtungen, meist
als Kuriosa vereinzelt mitgeteilt, oft eine genaue Untersuchung aller in
Betracht kommenden Momente vermissen lassen, so werden wir auch
hier wieder zum Teil auf theoretische Erwägungen angewiesen sein.
Das Ulcus pepticum jejuni ist bisher 5 mal nach hinterer, 16 mal
nach vorderer Gastroenterostomie beobachtet. Dieses Zahlenverhältnis
scheint zu Gunsten der ersteren Methode zu sprechen. Ein sicheres
Urteil gestattet uns dasselbe indessen nicht, da wir nicht wissen, wie
oft die betreflfenden Operateure die vordere und die hintere Gastro-
enterostomie überhaupt ausgeführt haben. In unserer Klinik wurde das
Ulcus pepticum jejuni nach der Gastroenterostomia retrocolica, welche,
in den letzten Jahren bei gutartigen Affektionen fast ausschließlich
angewandt wurde, noch nicht beobachtet. Ich glaube, daß die Chancen
bei beiden Operationsmethoden, insoweit es sich bei der vorderen Gastro-
enterostomie um die ursprüngliche Methode ohne Enteroanastomose
handelt, in einem Punkte ähnliche sind. Bei der hinteren Gastro-
enterostomie kommt es vielleicht öfters durch das absichtliche straffe An-
spannen des zuführenden Schenkels zu einer Dehnung von Mesenterium
und Darmwand. In den vorliegenden Fällen von G.E. retrocolica
scheint der zuführende Darmschenkel möglichst kurz genommen zu sein.
Braun verwandte zur Anastomose den Anfangsteil des Jejunums.
Steinthal 1) nahm den zuführenden Schenkel etwa handbreit, doch
hatte er weder bei der Operation noch bei der Autopsie den Eindruck,
daß er straff angezogen war. In den 3 Fällen der Heidelberger Klinik
wurde jedenfalls nach den Regeln verfahren, wie sie Petersen *) auf
Grund der Erfahrungen dieser Klinik empfiehlt, nämlich die zuführende
Schlinge nur so lang zu nehmen, daß sie gerade verläuft und keinen
Bogen macht (etwa 10—12 cm). Bei der vorderen Gastroenterostomie
wird dieses zwar zu vermeiden gesucht, indem man eine möglichst weit
unten liegende Schlinge (in unseren Fällen 50 cm von der Plica duo-
gezogen habe, sind peptische Geschwüre des Magens und Duodenums bei
Hunden bisher nicht beobachtet worden.
1) Nach einer Privatmitteilung.
2) Kongreßbericht 1902, p. 113.
934 Max Tiegel,
werden diese bei Gastro- und Enteroanastomosen überhaupt nicht ver-
wandt, auch in der Literatur habe ich, abgesehen von der Mitteilung
KÖRTEs, welcher in seinem Falle federnde Klemmen nadi Doyen an-
wandte, keine Angaben hierüber gefunden, so daß ich diese Frage offen
lassen muß. Denkbar ist es natürlich, daß bei Anwendung von der-
artigen Kompressorien durch zu festes Zusammendrücken derselben
eher Lasionen von Gefäßen und Darmwand entstehen.
Die glänzenden Erfolge der Gastroenterostomie bei gutartigen
Magenerkrankungen und die darauf beruhende ausgedehnte Anwendung
derselben erleiden durch das Auftreten von Jejunalgeschwüren eine
gevrisse Einschränkung, solange wir es nicht in der Hand haben, die
Entstehung derselben sicher zu verhüten. Die sich mehrenden Beob-
achtungen solcher Geschwüre, der häufige tödliche Ausgang, der lang-
wierige, oft rezidivierende Verlauf, die Schwierigkeit der Heilung, das
alles muß uns veranlassen, die Indikation zur Gastroenterostomie bei
benignen Magenerkrankungen auf jene Fälle zu beschränken, bei
welchen sie strikte indiziert ist. Zu diesen Fällen gehören vor allem
die Fälle mit hochgradiger Pylorus- oder Magenstenose. Dagegen
werden wir bei allen gutartigen Affektionen ohne Stenose, zumal wenn
sie mit Hyperacidität des Magensaftes verbunden sind, äußerst zurück-
haltend sein. Hierher gehört das nicht komplizierte frische Magenulcus,
die Mageninsuffidenz, die auf atonische Zustände zurückzuführen ist,
die funktionelle Pylorusstenose (Pylorospasmus) und der Magensaftfluß.
Ist aber einmal ein chirurgischer Eingriff angezeigt, so sollte man
suchen, die Gastroenterostomie durch Operationsmethoden zu ersetzen,
die den physiologischen Verhältnissen näher kommen, dadurch einen
Teil der oben angedeuteten Schädlichkeiten vermeiden und uns größere
Sicherheit gewähren. Eine solche Methode besitzen wir in der Pyloro-
plastik nach Heinecke und v. Mikulicz, und deren Modifikation, der
FiNNYschen Operation. Nach der Pyloroplastik sind übrigens peptische
Geschwüre im Darm noch nicht beobachtet worden. Die Pyloroplastik
müßte darum, wo sie ausführbar ist, die Operation der Wahl sein.
In zweiter Linie käme dann noch die Gastroduodenostomie nach Henle
und Kocher in Betracht Erst wenn die lokalen Verhältnisse die
genannten Operationen unmöglich machen, soll die Gastroenterostomie,
und zwar die retrocolica, gemacht werden. Es liegt natürlich nahe,
die Gefahren dieser Operation durch eine Aenderung der Operations-
technik herabzusetzen. Eine solche Aenderung schlägt Goepel^) vor.
Von der Erwägung ausgehend, daß die übliche Gastroenterostomie ge-
wöhnlich im Pylorusteil des Magens, also dem „Quellgebiet der Salz-
säure", angelegt wird, daß dazu meist einer der tiefeten Punkte an der
großen Kurvatur gewählt wird, so daß das Magensekret kontinuierlich.
1) Bericht des Chir.-Kongr. 1902, p. 109.
Ueber peptische Geschwüre des Jejanums nach Gastroenterostomie. 935
gewissermaßen in die Oeffnung hineinßJlt, verlegte er die Stelle der
Anastomose in den Fundus des Magens, möglichst hoch nach der Gardia
zu. Dadurch entfernt er einmal die AnastomosenöfFnung aus den be-
sonders salzsäurereichen Partien des Magens; sodann bewirkt diese
Lage, daß das Magensekret nicht mehr permanent abfließt und den
Darm berieselt, sondern sich in den tieferen Partien ansammelt und
mit dem Speisebrei vermischt durch die Peristaltik hinausbefördert
wird. GoBPEL hat diese Methode, die er Gastroenterostomia fundosa
nennt, erst in wenigen Fällen von Sanduhrmagen angewandt, so daß
ein abschließendes Urteil darüber noch aussteht.
Eine Beobachtung Heidenhains scheint jedoch sehr zu Gunsten
dieser Methode zu sprechen. Bei einem Fall von wiederholt rezidi-
vierendem Jejunalulcus sah sich Heiden hain genötigt, eine neue
Gastroenterostomie anzulegen, und zwar wählte er hierzu eine Stelle
hoch oben am Fundus. Patient ist seit dieser Zeit während einer
4-jährigen Nachbeobachtungszeit von Bezidiven verschont geblieben.
Es erübrigt sich nun noch, zu erörtern, welcher prophylaktische
Wert einer internen Behandlung nach ausgeführter Gastroenterostomie
beizumessen ist. Nach den günstigen Erfahrungen derselben bei bereits
bestehendem Ulcus wird es sich empfehlen, auch bei der Prophylaxe
die innere Behandlung mehr zu berücksichtigen. Man sollte bald nach
der Gastroenterostomie, besonders wenn vor derselben Hyperacidität
bestanden, mit der Darreichung von Alkalien beginnen und diese längere
Zeit hindurch fortsetzen. Ich schließe mich hierin einem bereits von
KÖRTE *) gemachten Vorschlage an. Auch der Diät ist noch längere
Zeit nach der Operation eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Zusammenfassung.
1) Das Ulcus pepticum jejuni ist bisher nur nach Gastroenterosto-
mien wegen gutartiger Magenerkrankungen beobachtet worden; es be-
vorzugt das männliche Geschlecht im mittleren und höheren Alter.
2) Im klinischen Verlauf sind 2 Gruppen voneinander zu unter-
scheiden : einmal Fälle, die völlig symptomlos verlaufen und dann plötz-
lich zur Perforation in die freie Bauchhöhle führen, sodann Fälle mit
chronischem Verlauf, durch die heftigsten Beschwerden (besonders
Schmerzen) gekennzeichnet, wo es zu allmählicher Penetration des Ge-
schwüres, zu Adhäsionen, Uebergreifen auf benachbarte Organe und
Ausbildung beträchtlicher entzündlicher Tumoren kommt Letztere
Fälle bieten klinisch das Bild des penetrierenden Magenulcus und sind
von diesem diagnostisch kaum zu unterscheiden. Es besteht bei ihnen
große Neigung zu Rezidiven.
3) Die bisherigen Erfolge der operativen Therapie sind (besonders
1) Bericht d. Chir.-Kongr. 1900, p. 139.
60*
936 Max Tiegel, Ueber peptiBche Geschwüre des Jejunums etc.
quoad Rezidivfreiheit) keine guten, während die wenigen Erfahrungen,
die wir Aber interne Therapie besitzen, günstig lauten. Es sollte daher
bei den chronischen Fällen stets in erster Linie eine längere,, energische
innere Behandlung (wie bei Magenulcus) versucht werden, ehe man
sich zur abermaligen Operation entschließt. Bei den akuten Perfo-
rationsfällen ist selbstverständlich ein sofortiger chirurgischer Eingriff
am Platze.
4) Die Entstehung der Geschwüre ist in erster Linie auf die pep-
tische Wirkung des nicht immer stark aciden Magensaftes zurück-
zuführen, die durch Zirkulationsstörungen (Arteriosklerose), Läsionen
der Schleimhaut und vielleicht auch durch eine gewisse individuelle
Disposition unterstützt wird. Inwieweit ein Einfluß der Operations-
methode oder Technik besteht, läßt sich nach den bisherigen geringen
Erfahrungen noch nicht sicher beurteilen.
Auf Grund theoretischer Erwägungen empfiehlt es sich, die hintere
Gastroenterostomie der vorderen mit querer Anheftung der Schlinge
vorzuziehen.
5) Die sich häufenden Beobachtungen peptischer Jejunalgeschwüre
sind dazu geeignet, zu einer Einschränkung der Gastroenterostomie bei
gutartigen Magenaffektionen zu Gunsten der internen Therapie zu
führen. Wo ein operativer Eingriff streng angezeigt ist (Pylorusstenose),
ist die Gastroenterostomie in allen geeigneten Fällen durch die Pyloro-
plastik, eventuell Gastroduodenostomie zu ersetzen.
Wo nur eine Gastrojejunostomie ausführbar ist, erscheint eine von
GoEPEL angegebene Modifikation derselben, die G. E. fundosa, ganz
aussichtsreich und zu weiteren Versuchen ermutigend.
6) Auch bei der Prophylaxe ist auf interne Therapie ein größerer
Wert zu legen. Es ist nach jeder Gastroenterostomie wegen gutartiger
Magenaffektion durch längere Zeit Gebrauch von Alkalien und strenge
Diät zu empfehlen. ;^^
FrommAimsch« Bachdruckerei (Hermann Fohle) in Jena. - 2764
DAT£ OUE SLIP
ÜNTVERSITY OF CALirORKlA WEDICAX 8CH00L LIBEABY
THIS BOOK IS DUE ON T^ iJkST DATB
STAMPED BEIiOW
i
H
■■■■-■ •'^
^" -^^ «yv
m
V
f
•
•
1.