Skip to main content

Full text of "Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie"

See other formats


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  preserved  for  generations  on  library  shelves  before  it  was  carefully  scanned  by  Google  as  part  of  a  project 
to  make  the  world's  books  discoverable  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 
to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 
are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  culture  and  knowledge  that 's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  marginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  file  -  a  reminder  of  this  book's  long  journey  from  the 
publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prevent  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  technical  restrictions  on  automated  querying. 

We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  of  the  file s  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  from  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machine 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  large  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encourage  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attribution  The  Google  "watermark"  you  see  on  each  file  is  essential  for  informing  people  about  this  project  and  helping  them  find 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  responsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can't  off  er  guidance  on  whether  any  specific  use  of 
any  specific  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  means  it  can  be  used  in  any  manner 
any  where  in  the  world.  Copyright  infringement  liability  can  be  quite  severe. 

About  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organize  the  world's  Information  and  to  make  it  universally  accessible  and  useful.  Google  Book  Search  helps  readers 
discover  the  world's  books  while  helping  authors  and  publishers  reach  new  audiences.  You  can  search  through  the  füll  text  of  this  book  on  the  web 


at|http  :  //books  .  google  .  com/ 


über  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Regalen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfügbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 

Das  Buch  hat  das  Urheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nutzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  partnerschaftlicher  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.  Nichtsdestotrotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  verhindern.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 

Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  für  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  für  diese  Zwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google -Markenelementen  Das  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppen  zu  erreichen. 


Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter  http  :  //books  .  google  .  com  durchsuchen. 


■«ÄS 


•J-.' .' 


MEPICAL    6C1KIOOL 


Mitteilungen 


aus  den 

Grenzgebieten  der  Medizin 

und  Chirurgie. 

Herausgegeben  von 

0.  TOB  Angrerer  (Mfinchen),  B.  Bardenheuer  (Köln),  K*  Ton  BerfriiiAiiii  (Berlin), 
Am  Bier  (Bonn),  P.  Ton  Bmns  (Tabingen).  H.  Cnrsehmami  (Leipzig),  Y.  Czemy 
(Heiddberff),  iu  Ton  Eiselflbeiv  (Wien),  W.  Ihrb  (Heidelberg),  C.  FOrstner  (BtraAburg), 
C.  Oarrft  fKönigsberg),  Th.  Koeher  (Bern),  W.  Orte  (Berlin),  F.  Kraus  (Berlin), 
R.  ü.  Krknlein  (ZOrich),  H.  Kttmmell  (Hamburg),  W.  Ton  Leube  (Wüizbnrg), 
E.  Ton  Leyden  (Berlin^  L.  liehtheim  (KGnigabenOi  0.  Madelung  (Strafiburg), 
J.  Ton  MUdiliei  Breslau),  0.  Minkowski  (Köln  a.  Bk),  B.  Nannyn  (Strafibnrg^ 
H.  Kothnagel  (Wien),  H.  Qnineke  (Kiel),  L.  Behn  (Frankfurt  a.  M.),  B.  Biedel  (Jena), 
BL  Sahli  (Bern),  K.  Sohoenbom  (WOrzburg),  Fr.  8ehnltse  (Bonn),  £.  Sonnenbarg 

(Berlin),  R.  Stintiing  (Jena),  A.  Ton  Strflmpeil  (BresUu),  A.  WlOfler  (PragV 

Redigiert  von 

J.  Ton  Mikulicz,        B.  Natuiyn, 


Breslau. 


Strasburg. 


Dreizehnter  Band. 

Mit  4  Tafeln,  44  Abbfldungen,  1  graphisohen  Beilage,  37  Kurven  und 
3  Kurvenbeilagen  im  Texte. 


Jena, 

Verlag  von  Gustav  Fischer. 
1904. 


Uebersetzungsrecht  vorbehalten. 


I  •  •  • 

I  •  •  • 
•  •  • 


•     #   •    ••  ••• 


Inhalt. 


L  Heft. 


S«ttc 


L  PosFiCKy  E.,  üeber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-ana- 
tomischen Unterrichtes  an  der  Hand  holoptischer  Betrach- 
tungsweise,   zugleich    ein   Beitrag    zur   Pneumaskos-Lehre. 

(Hierzu  Tafel  I) 1 

n.  Madblüng,  0.,  Ueber  postoperative  Pfropfung  von  Echino- 

kokkencysten.     (Hierzu  Tafel  11) 21 

m.  Cribobbn,  T.  L.  vok,  Ueber  Schädigungen  des  Herzens 
durch  eine  bestimmte  Art  von  indirekter  Gewalt  (Zusammen- 
knickung des  Rumpfes  über  seine  Vorderfiäche)    ....         28 

IV.  Orobbr,  J.,   Ein   Fall   von   Eopftetanus   (E.   Bosb).     (Mit 

1  Abbildung  im  Texte) 40 

V.  Ehbbt,  H.,  Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach 

Ischias.     (Mit  8  Abbildungen  im  Texte) 53 

VI.  Koch,  J.  A.,  Ueber  tropische  Leberabscesse.  (Mit  1  Abbil- 
dung im  Texte) 81 


n.  Heft 

VII.  Bjbknbr,    Die    Lymphdrüsenmetastasen    beim    Magenkrebs. 

(Mit  24  Abbildungen  im  Texte  und  1  graphischen  Tabelle)       113 
VUL  MiYAKB,  H.,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Bothriocepbalus  ligu- 

loides.     (Mit  2  Abbildungen  im  Texte) 145 

IX.  MiTAKB,  H.,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis 

infectiosa.     (Hierzu  Tafel  III) 155 

X.  Wyss,    Otto,    Ueber    einen    neuen    anaeroben    pathogenen 
Bacillus.     Beitrag  zur  Aetiologie  der  akuten  Osteomyelitis. 

(Hierzu  Tafel  IV  und  1  Kurve  im  Texte) 199 

XI.  Bbhr,  Max,  Ein  Fall  von  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes.       224 
XTT.  Fbdbrmünn,  A.,  Ueber  Perityphlitis,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Leukocytose.     Zweite  Mitteilung:  Begrenzte 
eiterige  Peritonitis.     (Mit  19  Kurven  im  Texte)     ....       230 
XUL  Ehrhardt,  0.,  Experimentelle  Beiträge  zur  Nierendekapsu- 

lation 281 


13213 


tV  Inhalt 

Sdte 

nL  Heft. 

Xiy.  Prbi8S,  P.,  Hyperglobulie  and  Milztamor 287 

XV.  Lbknandbr,  K.  G.,   Meine  Erfahmngen  über  Appendicitis       803 
XVI.  Kaposi,  Hbrmakn,  Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die 

Blutgerinnung?  £[ritische  u.  experimentelle  Untersuchungen       373 
XVn.  Saübrbbügh,  Die  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  und 
die  Grundlagen  meines  Verfahrens  zu  seiner  Ausschaltung. 
(Mit  9  Abbildungen  und  12  Kurven  im  Texte  und  2  Kurven- 

beilagen) 399 

XVUL  Bbaxtbr,  L.,  Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfolgen  mit  u 

Hilfe  des  Ueberdruckverfahrens.     (Mit  2  Abbildungen  im  '"-'^ 

Texte)  .    .     . 483  ;^] 

IV.  und  V.  Heft  [Silll 

XIX.  Gbbhardt,  D.,  Ueber  die  diagnostische  und  therapeutische 

Bedeutung  der  Lumbalpunktion 501 

XX.  Baybr,  Josbf,  Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz   .       523 
XXI.  ENaBLHAKDT,  G.,  Neuo  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung 

der  Aethernarkose 542 

XXTT.  GoBBBL,  Carl,  Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Pria- 
pismus       578 

XXIII.  Bloch,  Arthur,  Lymphogene  und  h&matogene  Eiterungen  F] 

bei  Pneumonie.     (Mit  1  Kurvenbeilage) 601  ;^^._ 

XXIV.  CoHN,  Max,  Erfahrungen  über  Serumbehandlung  der  Diph- 
therie.    (Mit  5  Kurven  im  Texte) 616 

XXV.  MoszKOwicz,  Ludwig,  Totale  Ausschaltung  des  Dickdarmes  ^  '^ 

bei  Colitis  ulcerosa 659  *  ii 

XXVI.  JuLiusBBRQ,  Fritz,  Ueber  „Tuberkulide^  und  disseminierte  [k 

Hauttuberkulosen 671 

XXVII.  MiYAKB,   H.,   Experimentelle   Studien   zur  Steigerung   der 

Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion  ...       719 
XXVni.  LossBN,   J.,   Zur  Kenntnis   des  BANTischen  Symptomkom-  " 

plexes 753  n 

XXIX.  Stich,  Büdolf,  Ueber  Massen blutungen  aus  gesunden  und 

kranken  Nieren 781 

XXX.  Nbissbr,  Ernst,  und  Pollack,  Kürt,  Die  Hirnpunktion. 
Probepunktion  und  Punktion  des  Gehirnes  und  seiner 
Häute   durch    den  intakten  Schädel.     (Mit  2  Abbildungen 

im  Texte)      .     .     • 807 

XXXI.  TiBGBL,   Max,   Ueber   peptische  Geschwüre   des  Jejunums 

nach  Gastroenterostomie 897 


o^- 


'S)<. 


Kachdruck  verboten. 


L 

Ueber  neue  Aufgaben 

des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes 

an  der  Hand  holoptischer  Betrachtungsweise, 

zugleich  ein  Beitrag  zur  Pneumaskos-Lehre^. 

Von 
E.  Fonflck-Breslau. 

(Hierzu  Tafel  I.) 


Fürchten  Sie  nicht,  sehr  geehrte  Herren,  daß  mich  das  angekündigte 
Thema  dazu  verleiten  werde,  eine  Frage  zu  behandeln,  die  irgendwelche 
noch  so  bedeutungsvolle  Einzelheiten  des  herrschenden  Obduktionsmodus 
zum  Gegenstande  hat,  also  etwa  Dinge,  die  mit  der  Technik  unserer 
Sektionsweise  zusammenhängen. 

Denn  einmal  würde  weder  dieser  Ort,  noch  der  gegenwärtige  Augen- 
blick zweckmäßig  gewählt  sein,  um  auf  die  Tagesordnung  eine  Frage  zu 
bringen,  die  wahrhaft  förderlich  doch  nur  behandelt  werden  kann  gestützt 
auf  unmittelbare  Anschauung. 

Sodann  aber  fehlt  es  uns  ja  für  das  bei  unseren  Obduktionen  ein- 
zuschlagende Vorgehen  durchaus  nicht  an  einem  Wegweiser,  der  mit 
Recht  allgemeinste  Anerkennung  genießt.  Besitzen  wir  doch  in  dem 
^Regulativ**  unseres  hochverehrten  Meisters  Rudolf  Virchow  eine 
Richtschnur,  die  sich  in  jahrzehntelanger  Uebung  bewährt  hat  und  die  keiner 
von  uns  allen  zu  missen,  in  ihren  wesentlichen  Punkten  gewiß  auch  nicht 
zu  bessern  vermag. 

Das,  worauf  ich  mir  heute  erlauben  möchte,  Ihr  Augenmerk  zu 
lenken,  hat  also  nichts  gemein  mit  dem  nächsten  —  diagnostischen  — 
Zwecke  jeder  Sektion,  d.  h.  dem  Bestreben,  zuvörderst  die  Todes- 
ursache irgendwelchen  Patienten  klarzustellen,  weiterhin  dessen  gesamten 
Krankheitszustand  aufzudecken. 

Da  wir  bei  Erfüllung  dieser  Aufgabe  in  erster  Linie  das  praktische 
Bedürfnis  zu  befriedigen  haben,  genügt  es  da  nicht  vollauf,  dem  durch  das 


1)  Nach  einem  am  22.  Sept.  1903    auf  der    6.  Tagung   der  Deutschen 
Pathologischen  Gesellschaft  gehaltenen  Vortrage. 

Mitteil.  a.  d.  OrenzffeUeten  d.  Medizin  n.  ChirarKie.   XIII.  Bd  1 


2  E.  Ponfick, 

Regulativ  vorgeschriebenen  Wege  zu  folgen?  Denn  natürlich  bleibt  uns 
ja,  auch  wenn  wir  ihn  im  großen  und  ganzen  innehalten,  stets  die  Frei- 
heit gewahrt,  diejenigen  Abweichungen,  d.  h.  Ausnahmen  von  der  all- 
gemeinen Regel  zu  machen,  welche  eine  das  Individuelle  jedes  Einzel- 
falles berücksichtigende  Kritik  ratsam  erscheinen  lassen  mag. 

Somit  brauche  ich  Sie  wohl  nicht  erst  zu  versichern,  sehr  geehrte 
Herren,  daß  sich  meine  Gedanken  und  Vorschläge  heute  in  durchaus 
anderer  Richtung  bewegen,  daß  sie  weit  hinausstreben  über  jenes  Ziel 
einer,  ich  möchte  sagen,  kasuistischen  Rubrizierung.  Weit  entfernt  also, 
sich  mit  der  Technik  als  solcher  zu  befassen,  zielen  sie  lediglich  darauf 
ab,  ein  neues  Prinzip  postmortaler  Betrachtungsweise  einzuführen. 

Hierbei  werde  ich  freilich  —  dessen  bin  ich  mir  von  vornherein  nur 
zu  wohl  bewußt  —  nicht  umhin  können,  insofern  auf  Ihre  Nachsicht  zu 
rechnen,  als  ich  Ihnen  heute  weder  über  neue  histologische  Methoden, 
noch  Befunde  zu  berichten  habe,  über  keine  zu  geistvollen  Theorien 
hinüberleitenden  Ergebnisse  zellularer  Forschung. 

Allein  dürfen  wir  uns  denn  wirklich  rühmen,  den  mit  bloßem  Auge 
erfaßbaren  Stoff  schon  in  seinem  ganzen  vielseitigen  Zusammenhange 
erfaßt  zu  haben?  Ist  er  vor  allem  in  derjenigen  Richtung  erschöpfend 
und  zugleich  nutzbringend  verwertet,  welche  für  den  werdenden  Arzt, 
vollends  aber  den  inmitten  des  Berufes  stehenden  die  Hauptsache  bleibt? 
Ich  meine  im  Sinne  eines  Einblickes  nicht  nur  in  den  Sitz  der  Krankheit 
an  und  für  sich,  sondern  zugleich  in  die  Fülle  örtlicher  Wechsel- 
beziehungen, welche  sie  einleitet,  aller  der  Folgewirkungen,  die  sie  auf 
die  anstoßenden  Organe  ausübt? 

In  der  Tat,  je  eindringlicher  ich  bemüht  gewesen  bin,  von  meinem 
Standpunkte  als  Lehrer  aus  die  modernen  Errungenschaften  der  klinischen, 
besonders  aber  der  chirurgischen  Diagnostik  zu  verfolgen,  je  mehr  ich 
mich  bestrebt  habe,  die  vor  wenigen  Jahrzehnten  kaum  noch  geahnte 
Vielseitigkeit  der  operativen  Eingriffe  und  Maßnahmen  zurückwirken  zu 
lassen  auf  das  Tun  und  Lassen  am  Sektionstische,  um  so  klarer 
ward  ich  mir  bewußt,  daß  wir  neueBahnen  zu  beschreiten 
haben,  wenn  anders  wir  fortfahren  wollen,  die  Klinik  in 
einer  ihren  heutigen  Aufgaben  entsprechenden  Weise  zu 
unterstützen.  Denn  mehr  als  je  zuvor  drängt  das  praktische  Be- 
dürfnis der  modernen  Medizin  darauf  hin,  über  das  erste  Ziel  der 
Diagnostik,  die  Erkenntnis  des  zunächst  erkrankten  Organes,  hinaus 
Einsicht  zu  gewinnen  in  dessen  mannigfache  Beziehungen  zu 
den  Nachbarteilen. 

Die  immer  engere  Verknüpfung  medizinischen  und  chirurgischen 
üntersuchens,  das  vielfache  Ineinandergreifen  innerlicher  und  operativer 
Therapie,  wie  sie  heute  gegenüber  einem  von  Tag  zu  Tage  sich  erwei- 
ternden Kreise  von  Krankheiten  geübt  wird,  sie  können  sich  nicht  aus- 
reichend  gefördert  fühlen,    solange   eben   der   pathologisch-anatomische 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.       3 

Unterricht  an  der  Leiche,  wie  die  ihm  dienenden  LehV'bücher  nnd  Bildwerke, 
ihr  hauptsächliches  Augenmerk  darauf  richten,  den  einzelnen  jeweils 
betroffenen  Körperteil  in  hellstes  licht  zu  rücken. 

Jene  Verbindung  medizinisch-chirurgischer  Diagnostik  führt  vielmehr 
mit  innerer  Notwendigkeit  zu  dem  Verlangen,  sämtliche  innerhalb 
einer  Region,  ja  einer  ganzen  Kör  per  höhle  eingetretenen 
Lageveränderungen  mit  Einem  Blicke  zu  überschauen. 

Wie  bekannt,  bringt  es  nun  aber  das  herrschende  Sektionsverfahren 
gleichwie  selbstverständlich  mit  sich,  daß  diese  Dislokationen  dem  Be- 
schauer durchaus  nicht  als  etwas  Einheitliches  entgegentreten.  Gemäß 
der  lokalistischen  Auffassungsweise  aller  „Krankheit**,  wie  sie  uns  als 
natürliche  Beaküon  gegen  humorale  Einseitigkeit,  die  Uebertreibungen 
der  Dyskrasienlehre  heute  allzu  sehr  erfüllt,  verkörpert  sie  sich  viel- 
mehr fast  immer  in  einzelnen  Organen:  in  Erkrankungsherden  also,  die 
das  Messer  des  Obdnzenten  unbarmherzig  aus  ihrer  Umgebung  zu  lösen 
gewußt,  die  es  von  den  ihnen  sei  es  nun  räumlich,  sei  es  funktionell 
näcbststefaenden  nur  allzu  gründlich  gesondert  hat. 

Dem  in  der  Sache  Bewanderten  allerdings  mag  es  in  manchen  Fällen 
nicht  so  schwer  werden,  diese  disjectamembra  einigermaßen  wieder  zu 
sammeln,  sie  mittelst  eines  geistigen  Bandes  rasch  genug  miteinander  zu 
verknüpfen.  Anderen  minder  Kundigen  mag  es  wenigstens  an  der  Hand 
eines  pathogenetisch  geschulten  Führers  gelingen,  den  inneren  Zusammen* 
hang  der  Dinge  zutreffend  zu  entwickeln,  ihn  zu  rekonstruieren.  Allein 
selbst  ein  solcher  mit  dem  Gegenstande  Vertrauter  wird  die  Trennung 
des  räumlichen  Nebeneinander,  wie  sie  die  uns  geläufige  Zerreißung  des 
topographischen  Konnexes  unvermeidlich  macht,  oft  genug  als  einen  ernsten 
Uebelstand  empfinden.  Da  sie  nämlich  eine  lückenlose  Einsicht  in  den 
natürlichen  Zusammenhang  von  Teilen  verhindert,  die  doch  aufeinander 
angewiesen  sind,  so  kann  es  garnicht  fehlen,  daß  sie  schon  dem  Erfah- 
renen den  Ueberblick  erschwert.  In  ganz  unverhältnismäßigem  Grade 
aber  muß  die  von  jener  teils  assoziierenden,  teils  kombinierenden  Geistes- 
tätigkeit unzertrennliche  Anstrengung  wachsen  für  den  Anfänger.  Denn 
ans  naheliegenden  Gründen  erfüllt  gerade  diesen  der  dringende  Wunsch, 
die  Krankheit  innerhalb  des  wenngleich  stark  verschobenen  Rahmens 
jenes  topographischen  Ensembles  erfassen  und  sich  einprägen  zu  dürfen, 
dessen  einzelne  Züge  er  jüngst  erst  mit  so  heißem  Bemühen  erlernt  und 
eben  noch  für  unverrückbar  gehalten  hat. 

Wie  ich  bereitwillig  zugebe,  aber  zugleich  mit  allem  Nachdruck  be- 
tone, sind  es  also  in  erster  Linie  didaktische  Erwägungen,  die  meines 
Erachtens  nicht  etwa  eine  Verbesserung  der  geltenden  Methode  fordern, 
wohl  aber  eine  weittragende  Ergänzung.  Indessen  —  wie  wir  später 
hören  werden  —  keineswegs  nur  eine  solche.  Vielmehr  ist  der  neue 
Erkenntnisweg,  erst  einmal  mit  zielbewußter  Folgerichtigkeit  beschritten, 
sogar  fähig,  uns  über  gewisse,  gerade  vom  praktischen  Standpunkte  aus, 

1* 


4  E.  Ponfick, 

sehr  bedeutsame  Seiten  desTatbestandesselber  Aufschlüsse  zu  ge- 
währen, die  eben,  weil  durchaus  neu  und  unerwartet,  doppelt  belehrend  sind. 
Der  eine  wie  der  andere  Gesichtspunkt  nun  veranlaßt  mich,  neben 
der  alltäglich  zu  übenden  Sektionsmethode,  unabhängig  von  ihr, 
eine  andere  anzuwenden,  die,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  keines- 
wegs bloß  für  den  Unterricht  des  Anfängers  neue  Bahnen  eröffnet,  son- 
dern die  sich  auch  in  hohem  Maße  förderlich  erweisen  wird  für  die 
topographische  Schulung  sowohl  des  Diagnostikers,  wie  des  künftigen 
Operateurs. 

I. 

Das  Mittel,  welches  ich  zur  Erreichung  solchen  Zieles  empfehle,  be- 
steht in  denkbar  strengster  Schonung  der  Beschaffenheit,  vor  allem  aber 
des  räumlichen  Nebeneinander  und  des  Zusammenhanges  sämtlicher  Or- 
gane einer  bestimmten  Körpergegend.  Es  gilt,  die  verschiedenen  Leibes- 
höhlen, sogar  die  umfangreichste,  das  Abdomen,  in  einer  Weise  zu  er- 
schließen, daß  sie  im  Gegensatze  zu  dem  Verfahren  einer  sezierenden, 
richtiger  eigentlich  dissezierenden  Obduktionsart  als  Ganzes  bloß- 
gelegt werden.  Im  Gegensatze  also  zu  jenem  Modus,  den  man  als  „me- 
toptischen" ^)  bezeichnen  könnte,  macht  der  von  mir  befürwortete 
„holoptische'' 2)  alle  Teile,  und  zwar  in  unversehrtem  Verbände,  den 
Blicken  zugänglich. 

Jedem  von  uns  leuchtet  es  sofort  ein,  daß  sich  ein  solches  Ziel  an 
der  Leiche  nicht  ohne  weiteres  erreichen  läßt.  Offenbar  muß  vielmehr 
voraufgegangen  sein  deren  Erstarrung  auf  dem  Wege  künst- 
lichen Gefrierens. 

In  der  Tat,  sobald  die  Kälte  auf  das  Innerste  des  Körpers  ein- 
dringlich genug  gewirkt  hat,  gelingt  es  mit  Leichtigkeit,  in  Verhältnisse 
einen  zuverlässigen  Einblick  zu  gewinnen,  die  wir  bis  dahin  immer  nur 
bruchstückweise  zu  sehen  bekommen  habend  Jetzt  hingegen  gelangen 
sie,  so  ausgedehnt  wir  die  zu  beschauenden  Flächen  auch  zu  gestalten 
vermögen,  in  so  unverfälschter  Naturwahrheit  und  zugleich  so 
plastisch  zur  Anschauung,  wie  das  eben  einzig  die  Natur  selber,  wenn 
nur  unversehrt  gelassen,  zu  leisten  fähig  ist. 

In  welch  geringem  Maße  die  nur  fälschlich  als  „unberührt"  zu 
bezeichnenden  Situsbilder,  wie  sie  uns  die  übliche  Sektionsmethode 
von  Brust-  oder  Bauchhöhle  liefern  mag,  berechtigt  seien,  auf  die  gleiche  Zu- 
verlässigkeit Anspruch  zu  machen,  das  bedarf  wohl  kaum  der  näheren  Dar- 
legung. Was  für  Lage  Verschiebungen  bringt  z.  B.  allein  schon  der  Druck 
der   äußeren   Luft  hervor,   sobald  diese  beim  ersten   Schnitte,   der 


1)  Weil  die  einzelnen  Organe  nach-,  d.  h.  hintereinander  vor  Augen 
gerückt  werden. 

2)  Weil  die  einzelnen  Organe  in  ungestörtem  Zusammenhange,  d.  h.  „als 
Ganzes",  vor  Augen  gerückt  werden. 


üeber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.       5 

das  Cavum  thoracis  oder  abdoroinis  eröffnet,  in  den  bis  dahin  luftleeren 
serösen  Sack  eingebrochen  ist.  üebt  sie  jetzt  doch  auf  eine  ganze  Reihe 
von  Organen  eiüe  ungewohnte  Kompression  aus,  die  gerade  zu  den  für 
die  allgemeine  Raumverteilung  maßgebendsten  gehören.  Kein  Zweifel 
sonach,  daß  jeder  Brustsitus  unter  ihrem  den  ursprünglichen  Zustand 
fälschenden,  mindestens  verwischenden  Einflüsse  steht. 

Das  gilt  auch  dann,  wenn  das  die  Krankheit  bedingende  Moment 
etwa  ein  intravitaler  Austritt  von  Luft  in  das  Cavum  pleurae  ge- 
wesen sein  sollte,  also  bereits  vorher  noch  so  grelle  Dislokationen  nach 
sich  gezogen  hätte.  Das  Beispiel  des  Pneumothorax  dürfte  deshalb 
trefflich  geeignet  sein,  um  als  Muster  dafür  zu  dienen,  wie  ungenügend, 
ja  irreführend  unser  gegenwärtiges  Vorgehen  sei,  wie  große  Vorteile  für 
naturwahre  Wiedergabe  hingegen  dasjenige  Verfahren  biete,  welches  ich 
vorschlage. 

In  der  Tat  ist  es,  schon  soweit  das  genannte  fremde  Medium,  Luft, 
ins  Spiel  kommt,  eine  physikalische  Unmöglichkeit,  mittelst  der  jetzt 
ausschließlich  geübten  Methode  jemals  ein  wirklich  getreues  Bild  zu 
erhalten  von  den  wechselseitigen  Beziehungen  der  Brust-  oder  Bauch- 
organe. Noch  weniger  wird  es  aber  —  es  sei  denn  auf  Teile  einer 
Minute  —  gelingen,  die  Lage  der  Teile  dann  zu  fixieren,  wenn  sich  zu  der 
Luftansammlung  im  Pleuraräume  etwa  bereits  der  Erguß  irgend  welcher 
Flüssigkeit  gesellt  hätte.  Denn  durch  welche  Macht  sollte*  diese,  mag 
sie  nun  seröser  oder  eitriger  Natur  sein,  wohl  verhindert  werden,  in  eben 
dem  Augenblicke  abzufließen,  da  das  Cavum  thoracis  mittelst  der  Weg- 
nahme des  Sternums  eröffnet  wird?  Vereinigt  sich  jetzt  doch  der  Effekt 
des  plötzlichen  Wegfalles  der  übermäßigen,  bis  dahin  innerhalb  der  Brust 
herrschenden  Spannung  mit  den  Erschütterungen,  welche  dessen  Wand 
sowohl  wie  Inhalt  bei  jener  Manipulation  erleiden,  um  das  Exsudat  zu- 
erst überlaufen,  dann  in  einem  allmählich  sich  verlangsamenden  Tempo 
abströmen  zu  lassen.  So  kann  es  denn  nicht  ausbleiben,  daß  sich  der 
staunende  Zuschauer  alsbald  nach  Beginn  der  Sektion  durchaus  anderen 
Lungen-  und  Herzgrenzen  gegenüber  sieht,  als  diejenigen  gewesen  sind, 
welche  er  in  der  Klinik  perkutiert  hat  oder  die  ihm  in  das  übliche  Schema 
eingezeichnet  worden  sind. 

Jedenfalls  in  dieser  Richtung  ganz  ähnlich  wie  die  Luft  verhalten 
sich  alle  anderen  Ansammlungen,  denen  wir  in  einer  der  drei  Höhlen 
des  Thorax  jemals  begegnen,  mag  nun  der  raumbeengende  Faktor 
Serum,  Eiter,  Blut  sein  oder  gar  irgendwelcher  bösartigen  Neubildung 
angehören. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  dem  Abdomen  zu.  Wenngleich  in  diesem 
die  Tatsache  einer  Ansammlung  von  Luft  bloß  unter  besonderen  Um- 
standen einen  so  erdrückenden  Einfluß  auf  die  Nachbarorgane  ausübt, 
oder  gar  das  Leben  gefährdet,  wie  im  Brustraum e,  so  ist  sie  doch  auch 
hier  von   größester  Tragweite.    Seltsamerweise  besitzen   wir  aber  noch 


6  E.  Ponfick, 

nicht  einmal  einen  allgemein  angenommenen  Namen  für  einen  Befund, 
der  sowohl  im  Hinblick  auf  sein  Grundleiden,  als  auch  die  Folgewir- 
kungen so  bedeutsam  ist,  der  sich  überdies  während  des  Lebens  mittels 
so  charakteristischer  Kennzeichen  feststellen  läßt.  Um  ihn  also  in  einem 
kurzen  Worte  zusammenfassen  zu  können,  möchte  ich  vorschlagen,  ihn 
als  „Pneumaskos^  zu  bezeichnen. 

Hinsichtlich  der  Bauchhöhle  machen  wir  nun  die  Wahrnehmung,  daß 
die  fraglichen  abnormen  Medien,  falls  eines,  vielleicht  gleichzeitig  mehrere, 
in  sie  ergossen  werden,  auf  die  davon  betroffenen  Organe  zwar  in  mannig- 
facher Hinsicht  ähnlich  wirken,  wie  die  in  den  Brustraum  geratenden. 
Allein  unstreitig  üben  sie  im  Abdomen  einen  geringeren  Einfluß  auf  die 
Funktionsfähigkeit  der  von  ihnen  verlagerten  oder  gefährdeten  Eingeweide 
aus,  als  es  innerhalb  des  Thorax  zu  geschehen  pflegt 

Diese  Tatsache  ist  nicht  allzu  schwer  verständlich,  sobald  man  nur 
die  Verschiedenheiten  beider  Körperhöhlen  in  Erwägung  zieht.  Offenbar 
sind  letztere  teils  in  der  Einheitlichkeit  des  Bauchraumes  gegenüber  der 
im  Brustraum  herrschenden  Dreiteilung  begründet,  teils  in  der  Konstruktion 
seiner  Wandungen.  Teils  endlich  liegen  sie  in  den  Bewegungs-Mechanismen, 
mittelst  deren  sein  Inhalt  in  Ruhe  wie  Tätigkeit  versetzt  wird. 

Was  zunächst  die  raumbeengenden  Faktoren  gasförmiger  Natur 
betrifft,  so  haben  sie  es  ihrem  geringeren  spezifischen  Gewichte  zu  ver- 
danken, daß  sie  im  allgemeinen  alsbald  in  die  Oberbauchgegend  hinauf- 
steigen. Im  speziellen  freilich  wird  die  Luft,  je  nach  der  Körperhaltung, 
welche  der  Patient  in  demjenigen  Augenblicke  gerade  einnimmt,  wo  ein 
Durchbruch  von  Magen  oder  Darm  zu  „Pneumaskos"  führt,  einen  sehr  un- 
gleichartigen Platz  einnehmen.  Ist  der  Kranke  nämlich  stehend  oder  gehend 
von  dem  Ereignisse  überrascht  worden,  so  gelangt  sie  zunächst  nur  bis 
zur  unteren  Fläche  der  Leber,  sei  es  nun  zwischen  1.  Lappen  und  Magen, 
sei  es  zwischen  unterer  Fläche  des  r.  und  Kolon  transversum.  Erst 
weiterhin  dringt  sie  zwischen  konvexe  Fläche  der  Leber  und  Zwerchfell 
empor,  während  sie  hierher  von  vornherein  nur  gerät,  falls  besonders 
günstige  Umstände  obwalten. 

Hat  ihn  die  Perforation  hingegen  während  der  Bettruhe  betroffen, 
so  wird  die  Luft,  nach  der  vorderen  Bauchwand  hinaufstrebend,  die 
Nabelgegend  erreichen.  Es  leuchtet  ein,  daß  sich  beide  Lokalisationen 
sehr  wohl  miteinander  kombinieren  können,  immer  nämlich  dann,  wenn 
ein  zuerst  noch  aufrechter  Kranker  demnächst  in  horizontale  Bettlage 
gebracht  worden  ist,  indeß  spät  genug,  um  die  an  ersterem  Punkte  an- 
gehäufte Luft  bereits  durch  Verklebungen  umfangen  und  festgehalten 
werden  zu  lassen. 

Die  Ursache  davon  nun,  daß  die  durch  die  ausgetretene  Luft  er- 
zeugten Verlagerungen  im  Bauche  weit  mannigfaltiger  sind,  als  die  im 
Brustraume  zu  beobachtenden,  liegt  einerseits  in  der  größeren  Aus- 
dehnung, andererseits  der  komplizierteren  Gestaltung,  welche  das  Abdomen 


lieber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.       7 

besitzt,  infolge  der  Vielheit  und  höchst  ungleichartigen  Konfiguration  der 
fallenden  Eingeweide.  Demgemäß  vermag  man  auch  den  Ort,  wo  wir 
sie  jedesmal  zu  erwarten  hätten,  weit  weniger  vorauszusehen. 

Was  sodann  die  flüssigen  Ausschwitzungen  anlangt,  so  ähnelt  dem 
Verhalten  von  Luft  das  von  Eiter  und  Blut  in  bedeutendem  Maße,  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  sogar  das  von  hydropischem  Transsudate:  und 
zwar  in  derjenigen  absteigenden  Reihenfolge,  in  der  sie  soeben  aufge- 
zählt sind.  Denn  dank  dem  dichten  Nebeneinander  so  zahlreicher  und  ihre 
Lage  so  vielfach  ändernder  Organe,  wie  sie  sich  im  Epi-  und  Meso- 
gastrium,  von  der  Peristaltik  aufs  wecfaselvoUste  bewegt,  zusammen- 
drängen, reduziert  sich  hier  das  Cavum  abdominis  auf  schmale,  nur  recht 
unvollkommen  miteinander  kommunizierende  Spalträume.  Es  ist  klar, 
daß  dieser  Umstand  ebensowohl  Liegenbleiben  des  ergossenen  Mediums 
fördern  muß,  wie  dessen  baldige  Abgrenzung  dadurch,  daß  hier  die  Serosa- 
flächen,  weil  von  vornherein  eng  zusammenstoßend,  unverhältnismäßig 
leicht  Verklebungen  eingehen. 

Hiermit  hängt  denn  auch  die  bekannte  Erfahrung  zusammen,  daß 
die  jeweiligen  Ursachen,  obwohl  doch  in  Brust-  wie  in  Bauchhöhle 
die  nämlichen,  in  letzterer  einmal  geneigter  sind,  mehrere,  ja  vielfältige 
Krankheitsherde  zu  erzeugen,  sodann  aber  ungleich  häufiger  zur  „Ab- 
sackung des  Exsudates"^  Anlaß  zu  geben.  Die  erste  der  genannten 
Erscheinungen  erklärt  sich  mühelos,  sobald  wir  uns  nur  die  Vorgänge 
etwas  näher  vergegenwärtigen,  die  hierbei  im  Spiele  sind.  Entweder  kann 
sich  nämlich  die  Lage  des  die  Quelle  der  Ausschwitzung  bildenden  Ein- 
geweides inzwischen  verschoben  haben.  Oder  —  falls  das  nicht  geschehen, 
letzteres  vielmehr  am  alten  Flecke  geblieben  sein  sollte  —  kann  es  sich 
nur  zu  schnell  ereignen,  daß  ein  Nachschub  von  Luft,  Blut  oder  Eiter 
die  immer  noch  losen  Pseudomembranen  in  plötzlichem  Anpralle  sprengt 
und  den  genannten  Medien  dadurch  neue  Bahnen  eröffnet,  neue  Nischen 
und  Winkel  zugänglich  macht  Indem  sich  der  hiermit  geschilderte  Vor- 
gang sei  es  in  längeren,  sei  es  in  kürzeren  Intervallen  mehrmals  wieder- 
holt, kann  die  Bauchhöhle  zuletzt  eine  fast  unübersehbare  Fülle  abge- 
sackter Herde  enthalten.  Allein  obwohl  die  einzelnen  scheinbar  von  ein- 
ander unabhängig  sind,  mindestens  mit  bloßem  Auge  sich  irgendwelche 
Kommunikation  zwischen  ihnen  nicht  entdecken  läßt,  verdanken  sie  nichts- 
destoweniger ihre  Entstehung  alle  der  gleichen  Ursache. 

Welches  sind  nun  aber  die  Mittel  und  Wege,  mittelst 
deren  es  uns  bei  Anwendung  der  üblichen  Sektions- 
methode gelingen  kann,  dem  Lernenden  solche  intra- 
abdominalen Ansammlungen  topographisch  exakt  oder 
gar  in  plastischer  Verkörperung  zur  Anschauung  zu 
bringen? 

Die  größte  Tragweite  wohnt  dieser  Frage  hier  unstreitig  inne  für  die 
gasförmigen  Medien.    Denn   es   bedarf  gewiß  keiner  näheren   Dar- 


8  E.  Ponfick, 

legung,  daß  und  warum  die  Schwierigkeiten,  welche  deren  postmortaler 
Erkennung^)  entgegenstehen,  weitaus  die  erheblichsten  sind.  Unter  den- 
jenigen Mitteln  nun,  die  man  bisher  gewohnt  war,  zu  deren  „Nachweise'' 
zu  benutzen,  ist  meines  Erachtens  keines  danach  angetan,  ihr  Vorhan- 
densein auf  direktem  Wege  darzutun.  Ist  es  doch  leider  unaus- 
führbar, diejenige  Manipulation,  deren  man  sich  zur  Feststellung  im 
Bereiche  der  Brusthöhle  angesammelter  Luft  zu  bedienen  pflegt,  indem 
man  sie  nämlich  in  eine  zwischen  die  Thoraxwand  und  deren  Weichteil- 
decken gegossene  Wasserschicht  entweichen  läßt,  auf  das  Abdomen  zu 
übertragen.  Infolgedessen  sind  wir  hier  gezwungen,  auf  das  so  über- 
zeugende Kriterium  des  Emporsteigens  von  Gasblasen  auf  jenen  Flüssig- 
keitsspiegel Verzicht  zu  leisten. 

Für  den  mangelnden  Erfolg  der  Inspektion  bietet  nun  zwar  das 
Geruchsorgan  einen  gewissen  Ersatz:  freilich  auch  dieses  nur  dann, 
wenn  die  Aufmerksamkeit  des  Untersuchers  gerade  in  dem  maßgebenden 
Augenblicke  darauf  gerichtet  ist.  Allerdings  erhebt  sich  da  sofort  die 
Frage,  inwieweit  die  tatsächlich  doch  so  oft  vorliegende  Möglichkeit  sich 
ausschließen  lasse,  daß  an  dem  in  Rede  stehenden  Sinneseindrucke  irgend 
ein  anderer  Faktor  schuld  sei.  Als  ein  solcher  kommt  häufig  genug  ein 
Eiter  in  Betracht,  der  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  fäkulente  Bei- 
mischungen enthält,  auf  alle  Fälle  aber  das  dicht  daneben  befindliche 
Eonvolut  der  Darmschlingen. 

Was  indes  für  jeden,  der  zugleich  dem  Bedürfhisse  des  Unterrichts 
Rechnung  zu  tragen  hat,-  noch  schwerer  wiegt  als  diese  Fehlerquellen, 
das  ist  der  Umstand,  daß  sich  bei  dem  üblichen  Vorgehen  die  Anwesen- 
heit jener  Luft  anderen  überhaupt  niemals  objektiv  demonstrieren  läßt. 

Offenbar  bleibt  demnach  gar  [nichts  anderes  übrig,  als  sich  auf  die 
indirekten  Merkmale  zu  stützen,  die  in  der  Tat,  falls  nur  die  Bedin- 
gungen einigermaßen  günstig,  kaum  minder  schlagend  sind.  Außer  stände 
also,  die  Luft  an  und  für  sich  selber  wahrzunehmen,  müssen  wir  uns 
darauf  beschränken,  ihre  Anwesenheit  aus  den  Wirkungen  zu  erschließen, 
die  sie  ihrerseits  hervorgebracht  hat. 

Unter  diesen  nenne  ich  in  erster  Linie  die  Kompressions-Spuren, 
welche  der  gewaltige  Druck,  den  sie  vermöge  ihrer  oft  so  hohen  Span- 
nung auszuüben  fähig  ist,  auf  der  Oberfläche  der  verschiedensten  Ein- 
geweide hinterlassen  kann.  Am  charakteristischsten  geben  sie  sich  an  der 
Leber  kund  in  Gestalt  oft  sehr  umfangreicher,  bald  tellerähnlicher  Mulden, 
bald  flacher  Gruben,  wie  wir  ihnen  am  ausgeprägtesten  an  deren  konvexer 
Fläche  begegnen.    Indes  auch  an  der  Milz  und  falls  das  Auge  nur  hin- 


1)  Da  natürlich  dasselbe  für  die  heute  gewiß  nicht  so  seltenen  Fälle 
gilt,  wo  sie  dem  prüfenden  Auge  schon  während  des  Lebens,  im  Ver- 
laufe einer  Laparotomie,  begegnen,  so  besitzen  die  folgenden  Be- 
rn erkungen  zugleich  für  den  operierenden  Chirurgen  unmittelbarste 
Nutz  anwend  ung. 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.       9 

reichend  geübt  ist,  sogar  am  Darme  liefern  sie  uns  wertvolle  Anhalts- 
punkte. Muß  man  sonach  bereitwillig  zugeben,  daß  uns  einer  oder  mehrere 
der  soeben  namhaft  gemachten  Befunde  zu  einem  positiven  Urteile  ver- 
helfen können,  so  darf  man  andererseits  doch  nicht  vergessen,  daß  wir 
auch  im  besten  Falle  außer  stände  bleiben,  über  die  Menge  der  jeweils 
angesammelten  Luft  mehr  als  eine  annähernde  Vorstellung  zu  ge- 
winnen. 

In  zweiter  Linie  weise  ich  auf  die  Austrocknung  hin,  wie  sie 
wenigstens  in  den  ersten  Stunden  nach  Eintritt  der  Perforation  aufs 
charakteristischste  wahrzunehmen  ist.  Nach  dieser  Frist  tritt  sie  allerdings 
gewöhnlich  dadurch  in  den  Hintergrund,  daß  die  endzündliche  Reaktion, 
welche  ja  im  Bereiche  der  angehauchten  Serosa  nicht  lange  auf  sich 
warten  läßt,  einen  mächtigen  Exsudatstrom  in  Gang  bringt.  So  wird 
denn  die  eben  noch  so  matt  aussehende,  weil  gleichsam  ausgedörrte 
Serosa  mehr  und  mehr  von  Flüssigkeit  benetzt.  Und  zwar  pflegt  letztere 
schon  infolge  der  pathogenen  Beschaffenheit  der  Luft  selber,  nicht  selten 
zugleich  vermöge  der  Beimengung  von  Partikeln  des  Darminhaltes  rasch 
genug  eiterigen  Charakter  anzunehmen.  Unter  solchen  Umständen  sieht 
man  die  ursprünglich  glanzlos  trockene  Fläche  des  Bauchfelles  jetzt  um- 
gekehrt von  reichlichem  Exsudate  bespült,  das  überdies  nicht  selten  fäku- 
lente  Beschaffenheit  zeigt. 

Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Darlegungen  ergibt,  kann  also  die- 
jenige Zeit,  während  welcher  die  Innenfläche  des  Bauchraumes  vermöge  ihrer 
Trockenheit  ein  für  Luftaustritt  pathogenetisches  Aussehen  gewährt,  nur 
eine  recht  kurze  sein.  Letzteres  verschwindet  aber  viel  zu  schnell  wieder, 
als  daß  es  danach  angetan  wäre,  uns  einen  durchschlagenden,  d.  h. 
in  sämtlichen  Stadien  brauchbaren  Anhalt  zu  liefern  für  einen  so  lang 
dauernden  Zustand,  wie  es  das  Vorhandensein  von  Luft  innerhalb  der 
Bauchhöhle  doch  sein  kann. 

Unstreitig  sind  somit  die  Lücken  unserer  Einsicht  in  einen  Befund, 
der  für  das  Gesamturteil  über  die  Krankheit,  ja  den  tödlichen  Ausgang 
unter  allen  Umständen  bedeutsam,  oft  genug  entscheidend  ist,  bis  heute 
ungemein  große  und  empfindliche  gewesen.  Je  mehr  wir  uns  dessen 
aber  bewußt  werden,  um  so  willkommener  muß  eine  Methode  erscheinen, 
welche  uns  befähigt,  nicht  nur  die  Tatsache  der  Luftansammlung  selber 
zweifelfrei  festzustellen,  sondern  zugleich  die  wechselvollen  Lageverschie- 
bungen in  unanfechtbarer  Naturtreue  zu  fixieren,  zu  welchen  sie  in 
jedem  Einzelfalle  geführt  hat. 

Diesem  wissenschaftlichen  Erfordernisse  vermag  nun  lediglich  eine 
Betrachtungsweise,  eben  die  holoptische,  von  Grund  aus  zu  genügen. 
Gelingt  es  doch  mit  ihrer  Hilfe,  d.  h.  der  sie  gewährleistenden  Gefrier- 
methode, sämtliche  ins  Spiel  kommenden  Medien,  sogar  das  am  schwersten 
faßbare  unter  ihnen:  die  Luft,  an  diejenige  Stelle  festzubannen,  die  sie 
während  des  Lebens  eingenommen  haben. 


10  E.  Ponfick, 

Als  Beispiel  hiefür  kann,  soweit  es  sich  um  die  Brusthöhle  handelt, 
sowohl  die  erste  als  die  letzte  Tafel  meines  topographischen  Atlas 
der  medizinisch-chirurgischen  Diagnostik^)  dienen,  hinsicht- 
lich der  Bauchhöhle  Tafel  IX. 

Prüfen  wir,  um  für  jedes  Cavum  nur  ein  Muster  zu  wählen,  für  diesmal 
bloß  Tafel  I  *).  Sie  zeigt  uns  die  Verlagerungen,  wie  sie  ein  1  i  n  k  s  s  e  i  t  i  g  e  r 
Pneumothorax  zu  wege  bringt.  Jeder  Beschauer  erkennt  sofort,  daß 
es  bei  noch  so  vorsichtigem  Eröffnen  des  Thorax,  schon  hinsichtlich  der  in 
diesem  enthaltenen  Organe,  ganz  unmöglich  sein  würde,  den  während 
des  Lebens  bestandenen  Situs  auch  nur  so  lange  festzuhalten,  wie  es  die 
sei  es  selbst  flüchtige  Anfertigung  einer  Farbenskizze  erfordern  würde. 
Noch  viel  weniger  würde  es  danach  aber  gelingen,  zugleich  eine  ent- 
sprechende Vorstellung  zu  gewinnen  von  dem  tiefgreifenden  Einflüsse, 
den  die  Luftansammlung  auf  die  benachbarten  Bauchorgane  ausübt. 
Denn  sobald  sich  die  Wirkung  der  Außenluft  geltend  macht,  verwischen 
sich  eben  auch  die  Grenzen  des  Zwerchfells  und  damit  die  derjenigen 
epigastrischen  Eingeweide,  welche  sich  mit  ihm  berühren. 

Wenn  hingegen  nicht  bloß  jede  EröflFnung  des  Thorax  unterbleibt, 
sondern  die  ganze  Leiche  überhaupt  unberührt  gelassen,  nur  möglichst 
hohen  Kältegraden  ausgesetzt  wird,  dann  sind  wir  sicher,  den  Situs  beider 
Körperhöhlen  im  Status  quo  ante  mortem  zu  bewahren. 

Als  diejenige  Schnittrichtung,  welche,  sobald  der  richtige  Augenblick 
gekommen,  danach  angetan  ist,  uns  den  umfassendsten  Einblick  in  die 
Gesamt-Topographie  zu  verschaffen,  läßt  sich  im  allgemeinen  die  fron- 
tale bezeichnen.  Deshalb  bin  ich  freilich  weit  davon  entfernt,  die  Be- 
lehrung gering  anzuschlagen,  welche  uns  unter  dafür  günstigen  Situs- 
bedingungen  der  Gebrauch  sagittaler,  ja  selbst  horizontaler  Ebenen  zu 
gewähren  vermag. 

Auch  zum  Zwecke  der  Lösung  des  uns  jetzt  beschäftigenden  Problems, 
nämlich  die  einem  linksseitigen  Pneumothorax  folgenden 
Dislokationen  kennen  zu  lernen,  habe  ich  den  Weg  gewählt,  eine 
frontale  Ebene  aufzuschließen  und  zwar  derart,  daß  der  Betrachtende 
im  Stande  sei,  in  medias  res  hineinzuschauen,  ohne  daß  die  Lunge  selber 
auch  nur  berührt  würde. 

Da  erblicken  wir  denn  den  linken  Lungenflügel  als  eine  welke  bläuliche 
Masse,  wie  sie,  dorsalwärts  tief  hinabgesunken,  den  Hintergrund  eines 
auf  weit  mehr  als  das  Doppelte  vergrößerten  Pleuraraumes  einnimmt 
Neben  einem  gewaltigen  Quantum  Luft  enthält  dieser  eine  geringe  Menge 
klarer  gelber  Flüssigkeit,  das  erste  Produkt  einer  Ausschwitzung,  mit  der 


1)  30  Tafeln  mit  Text,  in  5  Lief.     Jena  (Gustav  Fischer)  1899—1904. 

2)  Die  in  gewissem  Sinne  umgekehrten  Verschiebungen,  welche  die 
einen  rechtsseitigen  (Pyo-)Pneumothorax  darstellende  Tafel  XXX  ver- 
körpert, dürften  bei  umsichtiger  Vergleich ung  mit  Tafel  I  unschwer  ver- 
ständlich werden. 


Mitt.  a.  d,  Grenzgebieten  der  Medizin  u.  Chirurgie  Bd.  XIII. 


Tafel 


Pbnßdt 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 


Uebe 

iie  Sero? 
üfiie  ihr 
D'xh  zu 
"JeffDUi 
±1  Rii 

irlt  öliei 

LET  die 

#er  F( 
ieiieswe! 
ire:  and 
Im] 

ii'i  ihrer 
tt  Weht 
ri;>t 
t^  r.  Li 
ii-iiie. 
^■:>te  zu 

'>;:eüijt( 
:?rzhO 

'^i^'-ene 

^^He  bi 
'^^a  so 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.     11 

die  Serosa  erst  seit  wenigen  Stunden  begonnen  hat.  An  der  Vorder- 
fläche ihres  Oberlappens  aber  trägt  die  Lunge  die  Quelle  dieser,  wie  aller 
noch  zu  schildernden  Anomalien:  eine  allerdings  recht  unscheinbare 
Oeffnung  in  dem  pleuralen  üeberzuge.  Während  nun  ihr 
linker  Rand  der  Thoraxwand  erstaunlich  fern  bleibt,  reicht  der  rechte 
weit  über  die  Mittellinie  hinaus.  So  deckt  denn  jetzt  die  Lunge  nicht 
nur  die  Wirbelsäule  in  querer  Kichtung  völlig  zu,  sondern  auch  den 
größten  Teil  von  Aorta  und  Oesophagus,  die  sich  in  treppenartig  abge- 
stufter Folge  an  erstere  anschließen.  Dagegen  reicht  sie  nach  abwärts 
keineswegs  tief  genug,  um  nicht  ein  ansehnliches  Stück  des  Rückgrates 
frei  und  in  seiner  vollen  Breite  sichtbar  zu  lassen. 

Im  Hinblicke  auf  neuere  chirurgisch-anatomische  Untersuchungen, 
auf  welche  gestützt  sich  die  moderne  Oesophagoskopie  entwickelt 
und  ihrerseits  wiederum  fördernd  auf  jene  zurückgewirkt  hat,  sei  daneben 
die  leicht  S-förmige  Doppelkrümmung  der  Speiseröhre  hervorgehoben. 

Unstreitig  am  packendsten  ist  aber  das  Verhalten  des  Herzens  und 
der  r.  Lunge.  Denn  jenes  beginnt  nicht  nur,  genau  wie  bei  Dextro- 
kardie,  erst  jenseits  der  r.  ParaSternallinie,  um  sich  samt  der  aufs 
engste  zusammengepreßten  r.  Lunge  mit  dem  schmalen  Restraume  der 
r.  Thoraxhälfte  zu  begnügen.  Sondern  die  seitens  des  Pneumothorax 
ausgeübte  Druckwirkung  bekundet  sich  überdies  in  der  Engheit  der 
Herzhöhlen  und  des  einzigen  Gefäßstammes,  den  die  gewählte  Fron- 
talebene aufgeschlossen  hat,  der  Aorta  ascendens.  Erstere  sind  auf 
ein  so  knappes  Maß  reduziert,  daß  man  die  Hindernisse  durchaus  begreift, 
welche  bei  solchen  Patienten  nicht  bloß  die  Atmung,  sondern  auch  die 
Zirkulation  zu  überwinden  hat.  Die  Aorta  vollends  ist  dergestalt  ein- 
gezwängt zwischen  den  Ventriculus  dexter  und  den  ungemein  ver- 
schmächtigten  Lobus  superior  pulmonis,  sie  stellt  auf  dem  Durchschnitte 
einen  so  schmalen,  säbelscheidenähnlichen  Spalt  dar,  daß  man  jetzt  nur 
allzugut  begreift,  wie  ein  derart  verengtes  Rohr  zuletzt  die  Fähigkeit 
eingebüßt  hatte,  die  Speisung  eines  so  weiten  GefiLßgebietes  aufrecht  zu 
erhalten  wie  des  großen  Kreislaufes. 

Was  schließlich  die  Bauchorgane  anlangt,  so  sei,  in  Erinnerung 
an  die  Verschiebung  der  Speiseröhre  nach  rechts,  zuvörderst  darauf  hin- 
gewiesen, daß  die  Cardia  bis  zur  r.  Parasternal-Linie  hinübergewandert 
ist  und  daß  der  Fundus  des  Magens  Trichtergestalt  angenommen 
bat.  Beide  Erscheinungen,  besonders  die  letztere,  hängen  damit  zu- 
sammen, daß  das  Zwerchfell  in  wahrhaft  verblüffendem  Grade  nach  ab- 
wärts gedrängt  ist  und  nun  den  Arcus  costalis  in  weitem,  nach  unten 
konvexem  Bogen  überflügelt.  Da  somit  der  Unterschied  zwischen  den 
beiden  Hälften  des  Diaphragmas  nicht  weniger  als  vier  Interkostalräume 
beträgt,   ist   ein  Hypochondrium  links  überhaupt  nicht  mehr  vorhanden. 

Es  leuchtet  ein,  daß  hiervon  ebensowenig  die  Milz  unberührt  hat 
bleiben  können.    In   der  Tat  ist   der  weite  Recessus,   welcher  sie  sonst 


12  E.  Ponfick, 

birgt,  in  einen  ganz  schmalen,  nach  1.  und  oben  sich  verzweigenden 
Spaltraum  umgewandelt.  Dieser  bietet  kaum  Platz  genug,  um  das  zwischen 
Zwerchfell  und  Magenwand  eingezwängte  und  dadurch  zu  einem  dünnen 
Lappen  ausgezogene  Organ  eben  aufzunehmen. 

Allein  selbst  gegenüber  dem  rechten  Hypochondrium  und  einer 
so  massigen  Drüse,  wie  der  Leber,  macht  sich  der  gewaltige  Druck 
geltend,  welcher  im  1.  Pleuraräume  herrscht.  Indem  nämlich  ihr  Breiten- 
durchmesser von  dem  gegen  den  1.  Lappen  andrängenden  Diaphragma 
bedeutend  vermindert  worden  ist,  hat  sie  eine  sehr  sinnfällige  Mißstaltung 
erfahren  müssen,  die  sich  in  außerordentlichem,  offenbar  ausgleichsweise 
entstandenem  Ueberwiegen  des  Längsdurchmessers  bekundet.  Im  Ein- 
klänge mit  dieser  raschen  ümmodellierung  der  Leber  selber  sind  auch 
ihre  topographischen  Adnexe,  die  Gallenblase  und  sogar  das  Duo- 
denum, weder  von  einer  Aenderung  ihrer  Lage  noch  Form  verschont 
geblieben.    (Demonstration.) 

Wenden  wir  uns  nunmehr  der  Tafel  IX  zu,  wo  Grund  und  Quelle 
aller  abdominalen  Verlagerungen  von  vornherein  im  Gebiete  der  Bauch- 
höhle zu  suchen  ist. 

Die  Perforation,  welche  hier  am  Magen  erfolgt  ist,  hat  die 
Topographie  des  Epi-  und  Mesogastriums  zwar  ebenfalls  verändert,  indes 
natürlich  nicht  erst  sekundär,  sondern  von  Anbeginn.  Allein  wenngleich 
die  durch  diese  Abbildung  verkörperten  Verhältnisse  eines  ^Pneumaskos" 
durchaus  nicht  allzuselten  wiederkehren  dürften,  so  haben  sie  doch  in 
der  Literatur  bis  heute  eine  ungleich  weniger  prägnante  und  einheitliche 
Schilderung  erfahren,  als  die  des  Pneumothorax.  Somit  würden  sie  ohne 
nähere  Erläuterung   wohl  auch  nur  einer  kleinen  Zahl  versländlich  sein. 

Auf  einem  durch  die  Oberbauchgegend  gelegten  Horizontal- 
schnitte gewährt  uns  diese  Tafel  einen  Ueberblick  über  das  ganze  Ab- 
domen eines  30-jährigen  Mannes,  der  schon  seit  10  Monaten  an  einem 
(doppelten)  Ulcus  rotundum  ventriculi  gelitten  hat.  Am  Christ- 
abend hatte  er  sich  nun,  obwohl  mehrfach  gewarnt,  durch  allzu  reich- 
lichen Genuß  von  Pfefferkuchen  eine  übermäßige  Ausdehnung  des  Magens 
zu  schulden  kommen  lassen.  Bereits  um  Mitternacht  erfolgte  plötzlich 
ein  Bersten  des  längst  morschen  Grundes  eines  an  der  vorderen  Magen- 
wand sitzenden  Geschwüres.  Hieran  schloß  sich  alsbald  außer  einem,  wie 
später  die  Sektion  lehrte,  sehr  reichlichen  Austritte  von  Luft,  eine  serös- 
fibrinöse  Entzündung  des  gesamten  Bauchfelles,  an  welcher  er  noch  im 
Laufe  des  zweiten  Feiertages,  also  nach  einem  im  ganzen  nur  40-stündigen 
Krankenlager,  zu  Grunde  ging. 

Das  wirklich  neue,  jedenfalls  das  bei  weitem  interessanteste  Moment 
dieses  Bildes  liegt  nun  darin,  daß  es  uns  nicht  bloß  den  erstaunlichen 
Umfang  und  die  eigentümliche  Gestalt  einer  solchen  Luftansammlung 
veranschaulicht,  sondern  auch  die  von  ihr  ausgegangenen  Folgewirkungen. 
Was  ersteren  Punkt  betrifft,  so  beläuft  sich  ihr  Durchmesser  in  der  Breite 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.     13 

auf  beinahe  24  cm,  in  der  Höhe  auf  11—12,  in  der  Tiefe  auf  3 — 4  cm.  Was 
sodann  ihre  Form  anlangt,  so  entspricht  diese  einer  Linse,  die  zwar  (den 
Patienten  stehend  gedacht)  der  Hauptsache  nach  aufrecht  gestellt  ist,  deren 
Längsachse  jedoch  eine  leichte  Abweichung  nach  oben  und  hinten  besitzt. 
Und  zwar  wird  die  Konvexität  der  vorderen  Fläche  dieses  linsenförmigen 
Luftraumes  durch  den  unteren  Teil  des  Thorax,  beziehungsweise  der 
Bauchdecken  gebildet,  die  hintere,  allerdings  schwächer  konvexe  Begren- 
zung dagegen  von  dem  (gefrorenen)  peritonitischen  Fluidum.  Besondere 
Beachtung  verdient  noch  der  Umstand,  daß  er  durch  das  in  fast  sagittaler 
Richtung  nach  hinten  ziehende  Ligamentum  Suspensorium  hepatis  in  zwei 
nicht  ganz  gleiche  Hälften  geteilt  wird  (Demonstration). 

Fassen  wir  nun  die  Folge  Wirkungen  ins  Auge,  welche  jene  Luft- 
ansammlung bedingt  hat,  so  müssen  wir  da  zweierlei  Einflüsse  unter- 
scheiden :  einmal  denjenigen,  welche  die  ins  Abdomen  gelangten  Magengase 
in  ihrem  eigensten  Bereiche  ausgeübt  haben,  sodann  aber  die  mittelbaren. 

Was  zunächst  die  direkten  anlangt,  so  wirken  sie  einerseits  auf 
den  Spannungsgrad  der  vorderen  Bauchwand  und  des  Zwerchfelles, 
andererseits  auf  die  gewohnte  Durchfeuchtung  der  abdominalen  Fläche 
des  Diaphragmas.  Jene  Steigerung  des  innerhalb  des  Epi-  und  Meso- 
gastriums  herrschenden  Druckes  äußert  sich  darin,  daß  sämtliche  Weich- 
teile, insbesondere  das  Stratum  musculare  der  beiden  Wände,  die  den 
gewaltigen  Luftraum  umgrenzen,  stark  vorgewölbt  sind.  Der  Effekt 
der  natürlichen  Trockenheit  der  Luft  hingegen  verrät  sich  dadurch,  daß 
das  Bauchfell,  am  deutlichsten  derUeberzug  des  Diaphragmas,  wie  aus'- 
gedörrt  aussieht  und  deshalb  seine  rote  Färbung  mit  einer  bräun- 
lichen vertauscht  hat. 

Die  übrigen  Folgen,  welche  wir,  weil  sie  bloß  in  die  Ferne  wirken, 
als  mittelbare  unterschieden  haben,  äußern  sich  in  massenhafter  Aus- 
schwitzung einer  serös-eitrigen  Flüssigkeit  in  dem  ganzen 
Reste  der  Bauchhöhle.  Die  gewählte  Schnittebene  ist  nun  zugleich  aus- 
nehmend geeignet,  uns  die  räumlichen  Beziehungen  zwischen  der  Luft  und 
diesem  Ergüsse  vor  Augen  zu  rücken.  Sie  macht  uns  aber  auch  klar, 
wie  das  nur  erst  leicht  getrübte  Fluidum  die  einzelnen  Eingeweide,  indem 
es  sie  rings  umflutet,  allmählich  aus  der  ursprünglichen  Lage  entfernt 
und  sogar  die  gewohnten  Verbindungen  zwischen  dicht  aneinander- 
stoßenden Nachbarorganen  immer  mehr  gelockert  hat  Im  Einklänge  hiermit 
kann  es  uns  nicht  wunder  nehmen,  daß  so  viel  Luft  und  Flüssigkeit 
im  Verein  dazu  geführt  hat,  sämtliche  Baucheingeweide  bis  zu  einem 
kaum  glaublichen  Maße  zusammenzudrücken.  So  sind  denn  Hohlkanäle,  wie 
Parenchyme,  sowohl  die  Rohre  des  Magens  und  des  Darmkanals,  als 
auch  die  solide  Substanz  der  Drüsen  (Leber  u.  a.),  die  wir  im  Exsudate 
teils  schweben,  teils  schwimmen  sehen,  allenthalben  von  ihm  umfangen 
und  schwer  beeinträchtigt  (Demonstration). 

An   die  hiermit  geschilderten  Beispiele  möchte  ich  kurz  noch  einige 


14  E.  Ponfick, 

anreihen,  die  danach  angetan  sind,  uns  über  die  Art  Aufschluß  zu  ge- 
währen, wie  sich  intraabdominale,  lediglich  aus  Flüssigkeiten 
bestehende  Ansammlungen  auf  die  einzelnen  Regionen  zu  ver- 
teilen pflegen.  Die  in  holoptischem  Sinne  gewonnenen  Schauflächen, 
welche  uns  das  klarmachen  sollen,  sind  um  so  belehrender,  als  sie 
mehrere,  durchaus  verschiedene  Richtungsebenen  wiedergeben,  also  bestens 
dazu  dienen  können,  sich  wechselseitig  zu  ergänzen. 

So  eröffnet  uns  Tafel  III  auf  einem  medianen  Sa gittal schnitte  einen 
Einblick  in  die  Weise,  wie  sich  ein  ascitisches  Fluidum  ausbreitet,  das 
neuerlich,  infolge  wiederholter  interkurrenter  Entzündungen,  eine  immer 
unverkennbarere  Trübung  erfahren  hat.  Sie  zeigt  uns,  in  welch  ungleichem 
Maße  es  die  einzelnen  Regionen  des  Abdomens  erfüllt  (Demonstration). 

Einen  weiteren  Beitrag  zu  der  aufgeworfenen  Frage  liefert  Tafel  IV, 
welche,  wie  Sie  sehen,  ein  durch  Leb  er c irrhose  bedingtes,  daher  zu- 
gleich ikterisches  Transsudat  wiedergibt.  Mittelst  der  frontalen  Schau- 
fläche, welche  auf  ihr  dargestellt  ist,  erfahren  wir,  daß  dessen  Hauptanteil 
die  Fossae  iliacae,  sowie  die  seitlichen  Partien  des  Bauchraumes  beher- 
bergen von  der  Regio  meso-  und  epigastrica  an  bis  tief  in  die  Hypo- 
chondrien hinein;  daß  außerdem  aber  nur  noch  ein  einigermaßen  selb- 
ständiger Bezirk  eine  bedeutendere  Ansammlung  umschließt,  nämlich: 
die  Bursa  omentalis. 

unverhältnismäßig  sparsam  ist  es  dagegen  zwischen  den  Darmschlingen 
und  innerhalb  der  Beckenhöhle.  Sehen  wir  also  ab  von  dem  Netzbeutel, 
so  sitzt  es  überwiegend  an  der  Peripherie  des  Abdominalsackes,  indem 
es,  einer  Eugelschale  vergleichbar,  den  zentralen  Knäuel  der  Darmschlingen 
rings  umspült,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  aber  auch  Milz  und  Leber 
umfangen  hält.    (Demonstration.) 

Eine  weitere,  gewiß  beachtenswerte  Vervollständigung  gewährt  hiezu 
Tafel  XX  Vn,  indem  sie  uns,  diesmal  auf  einer  Horizontal  ebene,  die 
staunenswerte  Geräumigkeit  vor  Augen  führt,  welche  eben  diese  Bursa 
omentalis  unter  dem  Einflüsse  eines  allgemeinen,  hier  durch  Miliartuber- 
kulose des  Bauchfelles  und  fettige  Entartung  des  Myokards  hervorge- 
rufenen Ascites  erfahren  kann.  Vielleicht  noch  überzeugender  kommt 
uns  da  zum  Bewußtsein,  wie  gewaltige  Flüssigkeitsmengen  dieser  retro- 
gastrische  Behälter  im  Notfalle  aufzunehmen  und  —  trotz  Punktion  — 
zurückzuhalten  fähig  ist. 

Diesem  Gedankengange  folgend,  wenden  wir  unser  Augenmerk  un- 
willkürlich der  Tafel  XXV  zu.  Ist  doch  die  umfangreiche  Fläche  der 
medianen  Sa  gittal  ebene,  die  sie  verkörpert,  ersichtlich  dazu  berufen, 
Lage  und  Beziehungen  eines  Haematoms  der  Bursa  omentalis 
zu  erläutern.  Schon  bei  flüchtigem  Betrachten  läßt  uns  dieses  Bild  die 
ganze  Tragweite  ermessen,  welche  einem  wie  immer  gearteten  Ergüsse 
in  jenem  Recessus  innewohnt,  dem  sein  naher  Zusammenhang  mit  Magen, 
Pankreas  und  Leber  hohe  chirurgische  Bedeutung  verleiht. 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.     15 

Ebenso  ist  offenbar  nur  ein  an  der  gefrorenen  Leiche  ausgeführter 
Sagittalschnitt,  und  zwar  gerade  ein  lateral  von  der  Wirbel- 
säule gelegter,  im  stände,  uns  die  Verbreitungs weise  der  Aktinomy- 
k  o  s  e  zu  veranschaulichen,  zu  zeigen,  wie  sie  alle  Schichten  des  Rumpfes 
durchwandert,  um  nach  langen  Monaten  an  entlegener  Stelle  hervorzu- 
brechen (Tafel  XXI).  In  einem  Ensemble,  wie  es  sich  für  die  chirurgische 
Therapie  kaum  fSrderlicher  wünschen  läßt,  lehrt  uns  dieses  Bild,  wie  sich 
der  schleichende  Prozeß  aktinomykotischer  Eiterung  aus  der  Tiefe  des 
Körpers  immer  mehr  emporwühlt,  wie  er  eine  der  sich  ihm  entgegen- 
stellenden Schranken  nach  der  anderen  sei  es  umgeht,  sei  es  überwindet, 
um  schließlich  in  mancherlei  Minengängen  an  der  Außenfläche  des 
Rumpfes  aufzutauchen  (Demonstration). 

Von  topographischem  Lehrinteresse  für  den  jungen  Diagnostiker  ist 
unstreitig  auch  Taf.  XXII,  die  eine  dem  untersten  Bereiche  des  Thorax 
angehörende  Horizontal  ebene  verkörpert  Erinnert  sie  uns  doch 
daran,  daß  es  im  unteren  Bereiche  der  Brust  ein  bestimmtes,  in  der 
ISngsrichtung  des  Körpers  allerdings  ziemlich  beschränktes  Niveau  gibt, 
wo  die  drei  großen  serösen  Säcke,  welche  hier  zusammenstoßen:  Gavum 
pericardii,  pleurae  et  abdominis,  alle  in  einer  und  der  nämlichen 
Ebene  gelegen  sind.  Zunächst  allerdings  wirkt  dieses  Bild  insofern  ver- 
blüffend, als  es  uns  nicht  nur  deren  Nebeneinander  vor  Augen  rückt,  sondern 
zugleich  ihr  höchst  wechselvolles  Ineinandergreifen.  Gerade  der  Blick 
hierauf  bringt  uns  aber  von  neuem  aufs  schlagendste  zum  Bewußtsein, 
wie  unerläßlich  es  sei,  dem  dissezierenden,  d.  h.  auseinanderreißenden 
Vorgehen  am  Leichentische,  wie  es  der  bei  unserer  Obduktionsmethode 
zu  erreichende  Nächstzweck  nun  einmal  unvermeidlich  macht,  ein 
Gegengewicht  zu  schaffen  durch  systematische  Pflege 
holoptischer  Betrachtungsweise. 

IL 

Allein  die  holoptische  Methode  besitzt  ja,  wie  ich  eingangs 
bereits  erklärt  habe,  außer  der  Fähigkeit,  einen  zuverlässigen  Einblick 
in  das  während  des  Lebens  herrschende  Nebeneinander  zu  gewähren, 
den  weiteren  Vorzug,  uns  mit  neuen  Einzelbefunden  bekannt 
zu  machen. 

Wie  mich  dünkt,  macht  man  sich  nämlich  nicht  genügend  klar,  daß 
das  übliche  Sektionsverfahren  —  seinem  ganzen  Wesen  nach  nur  be- 
greiflich —  stets  versagt,  sobald  es  sich  darum  handelt,  gewisse  labilere 
Veränderungen  festzuhalten.  Tatsächlich  ist  es  indes  nur  allzu  natür- 
lich, daß  sich  manche,  besonders  der  vergänglicheren  Anomalien,  nach 
dem  Tode  rasch  genug  verwischen  können.  Zieht  man  das  gebührend 
in  Rechnung,  so  hat  die  Entdeckung  durchaus  nichts  Ueberraschendes, 
daß  uns  die  oder  jene  von  den  Veränderungen  bis  heute  entweder  über- 
haupt entgangen  oder  mindestens,  daß   es  strittig  geblieben  ist,  in  wie- 


16  E.  Ponfick, 

weit  sie  dem  intra  vitam  vorhanden  gewesenen  Zustande  wirklich  ent- 
spreche. 

Demgegenüber  ist  der  Gefrierprozeß  durchaus  geeignet,  einmal  auch 
solche  Gestaltungen  zu  fixieren,  die  einem  sei  es  nun  an  sich  eigenartigen, 
deshalb  weder  gewohnten,  noch  erwarteten  Zustande  entspringen,  sei  es 
einem  bloß  für  kurze  Zeit  dauernden:  etwa  einer  augenblicklichen 
Muskelkontraktion,  einer  nur  zeitweisen  Dehnung  irgendwelchen  Rohres 
oder  Behälters  und  Aehnlichem. 

In  dem  nämb'chen  Sinne  vermag  die  Methode  gegenüber  solchen  Pro- 
dukten zu  wirken,  die  unter  den  üblichen  Umständen,  d.  h.  bei  mittlerer 
Zimmertemperatur,  fortfließen  würden,  die  sich  also  zerteilen,  ja  vielleicht 
ganz  verschwinden  können.  Hierzu  gehören  diejenigen  Exsudate,  Extra- 
vasate u.  a.,  die  sich  nicht  in  geschlossene  Höhlen  oder  solide  Parenchyme 
ergossen  haben,  sondern  in  natürliche  Kanäle. 

Indem  der  Gefrierprozeß  die  ersteren  in  ihre  —  sei  es  gleich  nur 
zeitweise  —  Lage  festbannt,  die  letzteren  an  den  Ort  ihrer  ursprüng- 
lichen Entstehung,  verhilft  er  uns  dazu,  bald  neue  Tatsachen  festzu- 
stellen, bald  solche  über  jeden  Zweifel  zu  erheben,  die  bis  dahin  ange- 
fochten gewesen  sind. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Kürze  der  mir  zugemessenen  Zeit  will  ich 
mich  auch  hier  darauf  beschränken,  sehr  geehrte  Herren,  Ihnen  einige 
wenige  Beispiele  vorzuführen. 

Zunächst  möchte  ich  anknüpfen  an  die  Ihnen  schon  bekannte  Taf.  IX, 
weil  eben  sie  danach  angetan  ist,  uns  auf  einem  Bilde  jene  beiden 
Seiten  der  holoptischen  Methode  vereint  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 
Denn  sie  veranschaulicht  uns  nicht  bloß  die  Art,  wie  sich  teils  die  Raum- 
verteilung, teils  das  Kaliber  der  Baucheingeweide  umwandelt  unter  dem 
Einflüsse  des  gewaltigen  Druckes,  den  ein  massenhaftes  Exsudat  ausübt. 
Sondern  sie  rückt  uns  zugleich  mit  einer  in  gleicher  Schärfe  noch  nie- 
mals dargestellten,  ja  auch  nur  geschauten  Körperlichkeit  sowohl  den 
gewaltigen  Umfang  wie  die  eigenartige  Form  jener  subphreuischen  Luft- 
ansammlung klar  vor  Augen. 

Als  zweites  Beispiel  nenne  ich  Taf.  XV,  die  auf  frontaler  Fläche  den 
Rumpfsitus  eines  28jährigen,  an  Insufficienz  und  Stenose  der 
Mitralis  leidenden  Mannes  wiedergibt  Diejenige  Erscheinung,  wegen 
deren  sie  in  erster  Linie  unsere  Aufmerksamkeit  verdient,  gehört  aller- 
dings nicht  dem  Herzen  an,  sondern  dem  Respirations-Apparate.  Sie  ist 
es  zugleich,  welche  uns  das  freilich  sehr  unerwartete  Substrat  liefert 
für  die  Todesursache.  Wenigstens  hoffe  ich,  daß  den  Gründen,  mit  denen 
ich  die  gegen  diese  Ansicht  zu  erhebenden  Einwände  zu  widerlegen  ge- 
denke, auch  Sie  beipflichten  werden. 

Der  größeste  Teil  des  rechten  Unterlappens  ist  nämlich  Sitz  einer 
frischen  hämorrhagischen  Infarzierung.  Diese  hat  lange  ge- 
nug, jedenfalls  schon  einige  Tage  bestanden,  um  infolge  der  Mitbeteiligung 


TJeber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.     17 

der  Serosa  zum  Ergüsse  eines  bereits  ziemlich  bedeutenden  serös-fibri- 
nösen  Exsudates  in  den  Pleuraraum  zu  führen.  Den  Urheber  dieser 
ganzen  Erscheinungsreihe,  einen  ansehnlichen  Embolus,  sehen  wir  in  den 
Hauptast  des  angeschoppten  Unterlappens  eingekeilt. 

Im  Hinblick  auf  mancherlei  anderweitige  Erfahrungen  könnte  es 
nun  wohl  scheinen,  als  ob  durch  das  immerhin  schwere  Primärleiden, 
jenes  Vitium  cordis,  in  Verbindung  mit  einer  so  ernsten  Komplikation 
wie  der  von  Pleuritis  begleiteten  Verdichtung  der  Lunge,  der  Tod  hin- 
reichend erklärt  sei. 

So  sehr  wir  nun  auch  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  bereit  sein 
mochten,  uns  mit  einer  Deutung  zu  begnügen,  die  auf  den  ersten  Blick 
alle  epikritischen  Ansprüche  befriedigt,  so  erachte  ich  mich  im  vor- 
liegenden Falle  heute  doch  nicht  mehr  für  berechtigt,  sehr  geehrte  Herren, 
Sie  damit  abzuspeisen. 

Nahe  dem  oberen  Rande  des  Bildes  nämlich  begegnet  unser  Auge 
einem  auffallenden  Befunde.  Vielleicht  wird  er  zwar  auf  den  einen  oder 
anderen  von  Ihnen  zuerst  gar  nicht  einmal  besonderen  Eindruck  machen. 
Allein  je  eindringender  Sie  ihn  würdigen,  desto  größere  Tragweite  werden 
gewiß  auch  Sie  nicht  umhin  können,  ihm  beizumessen.  Hier  erblicken 
wir  nämlich  das  weitgeöflfnete  Lumen  der  Trachea,  welche,  schräg  ge- 
troffen, nach  hinten  und  unten  zieht.  Sie  ist  prall  gespannt  und  enthält 
ein  so  massiges  schwarzrotes  Gerinnsel,  daß  sie  vollständig  davon  ver- 
stopft, daß  ihre  Lichtung  also  ganz  verschwunden  ist.  (De- 
monstration.) 

Hiernach  läßt  es  sich  nicht  länger  bezweifeln,  daß  der  Kranke  wäh- 
rend eines  Anfalles  schwerster  Hämorrhagie  in  die  Atem- 
wege erstickt  ist. 

Angesichts  solcher  Erkenntnis  erhebt  sich  nun  gebieterisch  die  Frage: 
^Würde  es  bei  dem  üblichen  Sektionsverfahren  wohl  jemals  möglich  ge- 
wesen sein,  einen  derartigen  Befund  zu  erhalten?  Würde  es  dabei  vol- 
lends möglich  gewesen  sein,  dessen  Beweiskraft  hinreichend  zu  gewähr- 
leisten, um  so  weitgehende  Schlüsse  daraus  zu  ziehen,  wie  er  es 
tatsächlich  verdient?" 

Denn  nichts  Geringeres  läßt  sich  ja,  auf  ihn  gestützt,  heute  behaupten, 
als  daß  ein  hämorrhagischer  Infarkt  der  Lunge  vermöge 
der  zuweilen  erstaunlichen  Blutmengen,  die  dabei  in  die 
Verzweigungen  des  Bronchialbaumes  geraten,  durchaus 
fähig  sei,  einen  großen  Zufuhrweg  der  Atmung,  ja  das 
Hauptrohr  selber  ganz  und  gar  abzusperren. 

Unstreitig  bietet  diese  neu  gewonnene  Einsicht  für  uns  alle,  und 
zugleich  für  den  Gerichtsarzt,  ein  nicht  geringes  Interesse  dar.  Rückt 
sie  doch  jedem  eine  neue,  dem  hämorrhagischen  Infarkte  innewohnende 
Gefahr  vor  Augen :  eine  Folgewirkung,  die  ihm  mit  gleicher  Zuverlässig- 

.  a.  d.  OrMiftbtotaa  d.  Slodlsin  n.  Chirnrgi«.    2m.  Bd.  2 


18  K  Ponfick, 

keit,  wie  ich  sie  für  die  bei  dem  fraglichen  Patienten  ergossene  Blut- 
menge habe  dartun  können,  noch  nirgends  zugeschrieben  worden  ist. 

Nicht  minder  bedeutsame  Belehrung  bringt  sie  aber,  wenn  ich  mich 
nicht  täusche,  dem  Kliniker.  Gewährt  sie  ihm  doch  Aufschluß  über  den 
Ursprung  so  manchen  einigermaßen  rätselhaft  gebliebenen  Todesfalles 
Herzkranker,  mancher  heftigen  Dyspnoe,  die  unter  erstickungsähnlichen 
Symptomen  verblüffend  schnell  eine  letale  Wendung  genommen. 

Endlich  und  wahrlich  nicht  am  letzten  gibt  der  geschilderte  Befund 
den  Gedanken  des  allgemeinen  Pathologen  ungeahnte  Nahrung.  Denn 
wer  hätte  wohl  glauben  können,  daß  eine  doch  nur  auf  diape  de  tisch  em 
Wege  entstandene  Extravasation  hinreichend  beträchtliche  Blutmengen  in 
Fluß  zu  bringen  vermöge,  um  ein  so  weites  Rohr,  wie  die  Trachea 
eines  Erwachsenen,  unrettbar  zu  verlegen! 

Freilich  wissen  wir  ja  von  anderen,  der  gleichen  Quelle  entsprin- 
genden Hämorrhagien  —  ich  erinnere  bloß  an  die  im  Gefolge  von 
Lebercirrhose  in  Magen  und  Darmkanal  auftretenden  — ,  einen  wie  be- 
drohlichen Umfang  sie  erreichen  können.  Allein  deshalb  ist  es  sicherlich 
von  nicht  geringerem  Wertö,  nunmehr  darüber  vollste  Gewißheit  zu  be- 
sitzen, daß  keineswegs  nur  die  auf  Rhexis  beruhenden  Pneumorrhagien 
der  Phthisiker  lebensgefährlich,  sondern  daß  auch  Herzkranke  davon 
bedroht  sind,  einer  diesmal  lediglich  durch  Diapedese  bedingten  Lungen- 
blutung  zu  erliegen. 

Das  dritte  Beispiel  endlich,  auf  das  ich  Ihre  Aufmerksamkeit  lenken 
will,  ist  ein  durch  gewaltige  Blutansammlung  ungemein  aus- 
gedehnterMagen.  Teils  infolge  eines  so  abnormen  Inhaltes,  teils  infolge 
des  Druckes,  den  das  die  Bursa  omentalis  füllende  Transsudat  auf  das  ge- 
nannte Organ  von  hinten  ausübt,  sehen  wir  es  aufs  dichteste  an  die  vor- 
dere Bauchwand  angedrängt,  während  sich  zwischen  diese  und  die  seit- 
lichen Eingeweide  eine  breite  Schicht  ascitischen  Fluidums  schiebt. 

Außer  jenem  hämorrhagischen  Inhalte  fällt  uns  nun  an  dem  so 
dilatierten  Behälter  alsbald  eine  abnorme  Konfiguration  auf^  die 
ich  mich  weder  selber  erinnern  kann,  ohne  irgendwelche  organische  Ver- 
änderung seiner  Wandung  jemals  angetroffen  zu  haben,  noch  von 
anderen  geschildert  weiß.  Er  besitzt  nämlich  annähernd  die  Gestalt 
einesWinkelmaßes.  Soweit  die  bisherigen  Erfahrungen  reichen,  ver- 
läugnet  aber  der  Magen  sein  schlauchähnliches  Aussehen  auch  bei  noch  so 
bedeutenden  Ausweitungen  insofern  nicht,  als  die  elliptische  Grundform, 
so  sehr  sie  sich  dabei  ins  Breite  und  Plumpe  verändern  mag,  im  großen 
und  ganzen  dennoch  bewahrt  bleibt. 

Im  Gegensatze  dazu  bemerken  wir  hier,  wie  der  blutgefüllte  Sack 
etwa  in  der  Ebene  der  r.  ParaSternallinie  die  frontale  Richtung  plötzlich 
verläßt,  welche  er  im  Einklänge  mit  der  normalen  Lageweise  bis  dahin 
innegehalten.  In  fast  genau  rechtem  Winkel  umbiegend,  vertauscht  er 
die  letztere  vielmehr  mit  einer  rein  sagittalen,  wie  sie  sogar  die  Pars 
horizontalis  duodeni  superior  noch  eine  Strecke  weit  fortsetzt. 


Ueber  neue  Aufgaben  des  pathologisch-anatomischen  Unterrichtes.     19 

Offenbar  im  Zusammenhange  mit  einer  so  au^lligen  Deviation 
seiner  Längsachse  steht  eine  andere,  nicht  minder  ungewöhnliche 
Erscheinung.  Ich  meine  die  deutliche  Sonderung  des  Magens 
in  zwei  allerdings  recht  ungleiche  Hälften;  ein  Verhalten, 
für  das  irgendwelche  allgemeine  Anhaltspunkte  physiologischer  Art  wohl 
kaum  gegeben  sind.  Indes  auch  unter  pathologischen  Bedingungen,  noch 
so  hohen  Graden  einer  überdies  habituell  gewordenen  Dilatation  ist  bis 
jetzt  wenigstens  nichts  davon  bekannt  geworden,  daß  sich  zwischen  Fundus 
und  Pars  pylorica  eine  so  stark  vorspringende  Leiste  beobachten  lasse, 
um  den  Sack  dadurch  in  zwei  bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständige 
Abteilungen  geschieden  zu  sehen.  (Demonstration.) 

Unwillkürlich  fühlt  man  sich  hierdurch  an  die  bekannte  Tatsache 
erinnert,  daß  Fundus  und  Pförtnerteil,  die  sich  ja  bei  manchen  Tieren 
auf  eine  schon  äußerlich  bemerkbare  Weise  gegeneinander  abheben,  beim 
Menschen  nicht  nur  vermöge  ihrer  mikroskopischen  Struktur  wesentlich 
voneinander  verschieden  sind,  sondern  daß  auch  funktionell  jedem  von 
Urnen  eine  eigene  Rolle  zufällt.  Angesichts  der  auffallenden  Verdickung, 
welche  im  Bereiche  der  Pars  pylorica  —  und  lediglich  in  dieser  —  die 
Muscularis  erkennen  läßt,  drängt  sich  überdies  die  Frage  auf,  inwieweit 
etwa  auch  sie  an  der  Sonderstellung  des  Pförtners  mitbeteiligt  sei. 

Wie  immer  die  Entscheidung  über  diese  physiologische  Seite  der 
Frage  künftig  auch  fallen  mag,  unter  allen  Umständen  haben  wir  es  hier 
abermals  mit  einem  Befunde  zu  tun,  den  uns  ersichtlich  einzig  und  allein 
das  holoptische  Verfahren  zu  erheben  befähigt  hat. 

FreiUch  ist  es  keineswegs  bloß  ein  neuer  und  unerwarteter  Zuwachs 
unserer  Kenntnisse,  den  wir  ihr  damit  verdanken.  Wertvoller  macht  ihn 
zweifellos  der  Umstand,  daß  er  in  direktem  Widerspruche  steht  mit  allen 
unseren  bisherigen  Anschauungen  über  mögliche  abnorme  Konfigurationen 
des  Magens.  Ist  er  somit  danach  angetan,  den  Pathologen  eine  Fülle 
neuer  Fragen  aufwerfen  zu  lassen,  so  ist  er  kaum  minder  geeignet,  bei 
dem  Physiologen  manch  fruchtbaren  Gedanken  anzuregen.  Gewährt  er 
diesem  doch  verstärkte  Unterlagen  für  eine  innere  Sonderung  der 
beiden  zwar  zu  einer  morphologischen  Einheit  verbundenen,  indes  vermöge 
ihres  feineren  Baues,  wie  der  gelieferten  Sekretionsprodukte  durchaus 
eigenartigen  Bestandteile. 

Ob  es  sich  hierbei  um  eine  häufiger  vorkommende  Erscheinung 
handele,  oder  ob  für  den  ungewöhnlichen  Befund  lediglich  die  Anwesen- 
heit einer  ausnahlnsweise  beträchtlichen  Blutmenge  innerhalb  des  Cavum 
ventriculi  verantwortlich  zu  machen  sei,  darüber  wird  sich  erst  dann 
Klarheit  gewinnen  lassen,  wenn  eine  umfassendere  Anwendung  der  holop- 
tischen Methode  dazu  geführt  hat,  in  der  gleichen  Richtung  weitere  Tat- 
sachen zu  sammeln. 


2* 


20  E.  Ponfick,  Ueber  neue  Aufgaben  etc. 

Fassen  wir  zum  Schlüsse  dieses  zweiten  Kapitels  die  Befunde  zu- 
sammen, über  welche  ich  an  der  Hand  der  sie  verkörpernden  Abbildungen 
soeben  berichtet  habe,  so  stimmen  sie,  so  sehr  sie  sonst  auch  vonein- 
ander verschieden  sind,  doch  in  einem  sehr  wesentlichen  Punkte  überein. 
Allesamt  bereichern  sie  nämlich  unser  Wissen  durch  eine 
neue  und  überraschende  Erfahrung.  Allesamt  beweisen  sie  also, 
daß  das  holoptische  Vorgehen  neben  den  Diensten,  die  es  vermöge 
topographischer  Veranschaulichung  der  Diagnostik  leistet,  zugleich  ein 
Mittel  ist,  um  durch  Aufdeckung  ungeahnter  Einzeltatsachen  den  Ein- 
blick in  pathologisches  Geschehen  fort  und  fort  zu  erweitern. 


Nachdruck  verboten. 


IL 

lieber  postoperative  Pfropfung  von  Echino- 
kokkencysten^). 

Von 

O.  Madelung  in  Straßburg  i.  E. 

(Hierzu  Tafel  11.) 


Seit  ich  von  Rostock  nach  Straßburg  übergesiedelt  bin,  habe  ich 
selten  Gelegenheit  gehabt,  mich  mit  Echinokokkenkrankheit  praktisch 
zu  beschäftigen. 

Einiges  Neue  habe  ich  aber  doch  gelernt,  und  eine  Beobachtung, 
die  ich  machte  und  im  nachfolgenden  mitteilen  will,  hat  prinzipielle 
Bedeutung. 

Im  November  1900  hatte  ich  bei  einem  31-jähr.  Manne  einen  von 
der  Leberkonkavität  ausgehenden  Hydatidensack  nach  einzeitiger  Me- 
thode operiert.  Die  Einstellung  der  Geschwulst  in  die  Bauchwand- 
wunde war  etwas  schwierig:  im  übrigen  bot  die  Operation  nichts  Be- 
sonderes dar.  Auch  die  Heilung  erfolgte  in  der  gewöhnlichen  Weise. 
Als  P.  Anfang  Februar  1901,  9  Wochen  nach  der  Operation,  aus  der 
Klinik  entlassen  wurde,  war  die  Wunde  bis  auf  eine  ganz  kleine  (1  cm 
lange  und  kaum  ^/^  cm  tiefe)  granulierende  Stelle  verheilt. 

Wir  bekamen  ihn  erst  Ende  1902  (also  ca.  2  Jahre  post  operationem) 
wieder  zu  sehen,  als  er  Hilfe  suchte  wegen  der  Folgezustände  einer 
im  Sommer  erlittenen  Kopfverletzung.  Die  von  der  Laparotomie  her- 
rührende Narbe  hatte  die  Beschaffenheit,  welche  das  Bild  zeigt.  P. 
behauptete,  daß  der  größere,  im  lateralen  Teile  der  Narbe  bestehende 
Knoten  schon  3  Wochen  nach  seiner  Entlassung  aus  der  Klinik  zu 
bemerken   gewesen,   dann  langsam   gewachsen   sei.     Die  Bauchtiarbe 


1)  Ueber  denselben  Gegenstand  habe  ich  in  der  Sitzung  des  Straßburger 
Naturwissenschaftlich  -  medizinischen  Vereins  am  13.  Febr.  1903  imd  in 
der  chimrgischen  Abteilung  der  75.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher 
und  Aerzte  in  Cassel  1908  vorgetragen. 


22  0.  Madelung, 

schien  an.  Eingeweiden  nicht  fixiert  Die  Leber  war  nicht  vergrößert, 
üeberhaupt  war  im  Leibe  nichts  Abnormes  nachzuweisen.  Der  Mann 
war  von  allen  früheren  Beschwerden  frei,  durchaus  arbeitsfähig. 

Es  war  sofort  klar,  daß  an  zwei  voneinander  getrennten  Stellen 
in  der  Bauchwandnarbe  Echinokokkencysten  sich  entwickelt  hatten. 

Ich  entfernte  dieselben  mit  Wegnahme  von  Teilen  der  sie  deckenden 
Narbe.  Die  Bauchhöhle  brauchte  nicht  eröffnet  zu  werden.  Die  Blasen 
enthielten  zahlreiche  Tochterblasen,  Scolices,  wasserklare  Flüssigkeit. 
Zweifellos  waren  die  Parasiten  in  voll  lebensfähigem  Zustande. 

Die  Wunden  heilten  p.  I.  i.  Bis  jetzt  —  P.  wurde  am  20.  Okt. 
1903,  also  1  Jahr  nach  der  Rezidivoperation,  zuletzt  untersucht  — 
hat  sich  weder  in  der  Narbe  noch  im  Leibe  die  Entwickelung  neuer 
Cysten  erkennen  lassen. 

Meiner  Ansicht  nach  ist  nur  eine  Deutung  für  diese  Beobachtung 
möglich.  Bei  der  Operation,  oder  in  der  unmittelbar  derselben 
folgenden  Zeit  sind  kleinste  Echinokokkenkeime  zwischen  die  Schichten 
der  Bauchwandwunde  gekommen,  aufgepfropft  worden.  Sie  haben 
hier  alle  Bedingungen  für  ihre  Weiterentwickelung  gefunden. 

Etwas  Aehnliches  habe  ich  selbst  niemals  gesehen.  Ich  habe  Ö4mal 
Echinokokkencysten  der  Leber  und  21mal  solche  anderer  Körperteile  zu 
operieren  gehabt. 

Langenbugh,  der  für  sein  bekanntes  Buch  die  Eckinokokken- 
kasuistik  bis  zum  Jahre  1894  sorgfältigst  durchgearbeitet  hat,  erwähnt 
solches  Vorkommnis  auch  nicht. 

Ich  fand  dann  aber  bei  Durchsicht  der  neueren  Literatur,  daß  ganz 
gleiche  Beobachtungen  auch  von  anderen  gemacht  worden  sind.  Aus 
dem  Jahre  1892  stammt  eine  betreffende  Mitteilung,  die  Billroth  in 
einer  Sitzung  der  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  gemacht  hat.  In 
Sitzungen  der  Socio t6  de  Chirurgie  de  Paris  in  den  Jahren  1899  und 
1900  und  der  Soci6t6  anatomique  im  Jahre  1900  haben  mehrere  fran- 
zösische Chirurgen  ähnliche  Erlebnisse  erzählt. 

Billboth^)  hatte  bei  einer  Frau  einen  Echinococcus  „in  gewöhnlicher 
Weise"  operiert,  l^j^  Jahre  nachher  kam  sie  wieder  mit  einer  hühnerei- 
großen Geschwulst  in  der  Narbe.  Nach  dem  Hautschnitte  sprang  eine 
Echinococcusblase  heraus.  „Hier  wollte  es  also  der  Zufall",  sagt  Billroth, 
„daß  bei  der  ersten  Operation  ein  Kopf  gerade  in  der  Haut  zurück- 
gehalten wurde." 

Courtier  2).  Im  Oktober  1891  wird  ein  vereiterter  Echinococcus  des 
Thorax  operiert  Die  Mutterblase  wird  erst  nach  2  Monaten  ausgestoßen. 
Sehr  starke  Eiterung  dauert  noch  weitere  3  Monate  an.  Im  Juni  1892, 
also  Yi  Jahre  p.  op.,  macht  C.  Operation  nach  Esthlandbr.     Nach  Haut- 


1)  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1892,  No.  21,  p.  314. 

2)  Joum.  de  M^d.  de  Bordeaux,  1893,  p.  285,   ref.   bei  F.  Devä,  De 
TEchinococcose  secondaire.     Th^se  de  Paris,  1901. 


Ueber  postoperative  Pfropfung  von  Echinokokkencysten.  23 

schnitt  in   der  Gegend  der  alten  Wunde  finden  sich  am  Rande  derselben 
in  den  Muskeln  3  kleine  Cysten. 

RouTiBR^).  1895  hatte  Hartmann  im  Hospital  Bichat  bei  einem 
Manne,  der  einige  30  Jahre  alt  war,  2  Echinokokkencysten  operiert.  Eine 
saß  an  der  oberen,  die  andere  an  der  unteren  Fläche  der  Leber.  Sie 
waren  voll  von  kleinen  Hydatiden. 

1897  mußte  Hartmann  von  neuem  operieren,  da  Hydatidencysten  sich 
in  der  Bauchwand  gebildet  hatten  (formant  de  petites  tumeurs  au  niveau 
de  la  cicatrice).  Als  Routibr  den  Mann  1898  im  Hospital  Necker  sah, 
war  die  Narbe  durch  2  runde,  nvißgroße  Cysten  erhoben.  1899  wurde 
eine  4.  Operation  nötig.  Eine  beträchtliche  Anzahl  von  Hydatiden,  in 
Trauben  form  angeordnet,  lag  im  subkutanen  Zellgewebe.  Bei  der  Aus- 
lösung derselben  fand  sich  dann  auch  noch  zwischen  der  unteren  Fläche 
der  Leber  und  dem  Halse  der  Gallenblase  eine  htihnereigroße  Cyste. 

QüÄNU*)  operierte  1898  mit  Incision  und  Drainage  bei  einer  25-jähr. 
Frau  eine  Echinococcuscyste,  die  von  der  Unterfläche  der  Leber  ausging. 
Sie  enthielt  6  1  Flüssigkeit.  Die  vollständige  Vernarbung  erforderte  5  Monate. 
18  Monate  nach  der  Operation  bemerkte  Fat.  eine  kleine  Kugel  am 
unteren  Ende  des  Hautschnittes.  Dieselbe  vergrößerte  sich.  Ein  halbes  Jahr 
später  hatte  sie  die  Größe  eines  kleinen  Taubeneies  erreicht,  war  beweglich 
gegen  die  tieferen  Teile,  nur  von  Haut  und  Narbe  gedeckt.  Bei  der 
!Excision  wurde  festgestellt,  daß  sie  sich  im  subkutanen  Fettgewebe  ent- 
wickelt hatte,  ohne  irgend  einen  Stiel  nach  der  Tiefe. 

PoTHBRAT*)  sah  —  nach  Operation  (par  marsupialisation)  einer  sehr 
großen  Cyste  —  bei  einem  8- jähr.  Kinde  unter  der  Narbe  eine  Blase  so  groß 
wie  eine  Nuß.     Er  entfernte  dieselbe  durch  einen  Einschnitt. 

TüFFiBR*)  operierte  1890  (par  marsupialisation)  bei  einem  jungen 
Mädchen  eine  große  Lebercyste.  2  Monate  nach  der  Heilung  der  Ope- 
rationswunde kam  die  Pat.  wieder  mit  einer  Echinococcuscyste,  die  sub- 
kutan in  der  Narbe  saß.  Dieselbe  —  sie  enthielt  wasserklare  Flüssigkeit 
—  wurde  ausgeschnitten. 

Pbtit,  J.  *)  QufeNU  operierte  (9.  Juni  1898)  bei  einer  Frau  einen 
Milzechinococcus.  Die  Pat.  kam  2  Jahre  nach  der  Operation  wieder.  Sie 
hatte  seit  einem  halben  Jahre  die  Entstehung  einer  Geschwulst  in  der 
Narbe  bemerkt.  Dieselbe  hatte  die  Größe  eines  großen  Hühnereies,  bestand 
aus  zwei  voneinander  getrennten  Cysten,  war,  wie  sich  bei  der  Operation 
zeigte,  vollständig  im  subkutanen  Zellgewebe  gelagert.  Beide  Cysten  ent- 
liielten  wasserklare  Flüssigkeit,  größere  und  kleinere  Tochterblasen. 

Alle  Beobachter  (mit  Ausnahme  von  Potherat)  sind  davon  über- 
zeugt gewesen  —  in  der  Sitzung  der  Pariser  chirurgischen  Gesellschaft 
vom  21.  März  1900  ist  dies  mit  besonderem  Nachdrucke  ausgesprochen 
worden  —  daß  die  sekundären  Echinokokkencysten  durch  Pfropfung 
bei  und  nach  der  Operation  entstanden  sind. 


1)  Bull,  et  Mem.  de  la  Soc.  de  Chir.  de  Paris,   T.  25,    1899,    p.  716. 

2)  u.  3)  u.  4)  Ball,  et  M6m.  de  la  8oc.  de  Chir.  de  Paris,  T.  26,   1900, 
p.  314. 

6)  Bull,  de  M6m.  de  la  Soc.  anatom.  de  Paris,  1900,  p.  713. 


24  0.  Madelang, 

Die  Falle  sind  in  merkwürdiger  Weise  übereinstimmend. 

In  gleicher  Weise  entwickeln  sich  im  unmittelbaren  Anschluß  an 
Operationen  von  Leber-,  von  Milz-  und  Pleuraechinococcus,  unter  und 
in  der  Nachbarschaft  der  Operationsnarben  die  Cysten.  Schon  nach  3  Mo- 
naten (Madelung),  nach  6  (Petit),  nach  18  Monaten  (QufiNu)  werden 
dieselben  den  Patienten  selbst  bemerkbar.  Alle  kommen  —  zu  Nuß-, 
Taubenei-,  Hühnereigröße  entwickelt  —  1—2  Jahre  nach  der  ersten 
Operation  zur  ärztlichen  Kenntnis.  Sie  sind  im  subkutanen  Zell-  und 
Fettgewebe,  in  den  Muskeln  gelagert,  sind  ohne  jeden  Zusammenhang 
mit  dem  Eingeweide,  in  dem  bei  der  ersten  Operation  der  Echinococcus 
gefunden  wurde. 

Nur  in  dem  Falle  Roütiers  wird  bei  der  Operation  außer  den 
in  der  Narbe  gelegenen  Cysten  noch  an  anderer  Stelle  ein  Rezidiv  ge- 
funden. Es  erscheint  nicht  zweifelhaft,  daß  die  zwischen  Gallenblasen- 
hals und  Leber  gelegenen  Cyste  gleichfals  einer  postoperativen  Pfropfung 
ihre  Entstehung  verdankte. 

Soweit  aus  den  Berichten  zu  sehen,  war  in  allen  Fällen  der  primäre 
Echinococcus  durch  Einschnitt  und  Annähen  nach  einzeitiger  Methode 
operiert  worden,  die  Ausheilung  in  langsamer  Weise  und  bei  monate- 
langer Eiterung  der  Wunde  zu  stände  gekommen.  Die  letztere  hatte 
also  nicht  gehindert,  daß  Echinokokkenkeime,  die  in  die  Wunde  ge- 
kommen waren,  lebensfähig  blieben  und  einheilten. 

Ja  selbst  Keime,  die  aus  einem  vor  der  Operation  vereiterten  Echino- 
coccus stammten,  —  Dfivfi  hebt  die  Wichtigkeit  dieser  Beobachtung 
mit  Recht  besonders  hervor  —  sind  aufgepfropft  worden. 

Ebensowenig  haben  die  bei  den  in  den  letzten  10  Jahren  operierten 
Fällen  sicher  immer  verwendeten  Antiseptika  die  Keime  abgetötet. 

Die  Bildung  der  beschriebenen  postoperativen  Pfropfungsrezidive 
ist  an  sich  immer  ein  für  den  Patienten  harmloses  Ereignis  gewesen. 
Ihre  Auslösung  war  leicht.  Nur  in  dem  Falle  von  Roütier  waren 
mehrere  Operationen  nötig.  Nur  in  demselben  Falle  fanden  sich  neben 
den  Echinokokken  in  der  Narbe  solche,  die  intraperitonealer  Infektion 
bei  der  primären  Operation  ihre  Entstehung  verdanken  konnten. 

Alle  betreffenden  Kranken  sind,  soweit  man  nach  den  Publi- 
kationen urteilen  kann,  nach  Beseitigung  der  Narbenrezidive  dauernd 
geheilt  geblieben. 

Ich  sagte  im  Eingange,  daß  die  Beobachtungen  von  postoperativen 
Pfropfungen  prinzipielle  Bedeutung  hätten. 

Wir  sehen  seit  einem  Jahrzehnt  alle  Chirurgen,  die  sich  mit  Echino- 
kokkenoperationen an  Baucheingeweiden  zu  beschäftigen  hatten,  bestrebt, 
neue  Methoden  zu  erfinden,  die  schnelle  Heilung  der  angelegten 
Wunden  ermöglichen. 

Diese  Neuerungen  streben  an  —  wenn  man  absieht  von  den  nur 
für  seltenste  Ausnahmefälle  benutzbaren  Resektionen  der  Leberteile,  in 


Mut.  a  d  Gmugebietai  d  Medizäi  u  Oünuyie  Bd.  XJIf. 


j'iäQe.^jr.3. 


Ve.':  J  (l.lLStaV  r 


Taf.II. 


■>ffe 


'A 


Liüi Anst.v .-j.  Arndt  Jena 


Ueber  postoperative  Pfropfung  von  Echinokokkencysten.  25 

denen  die  Cyste  liegt  —  entweder  die  Abtötung  des  Parasiten  durch 
Injektion  von  parasitiziden  Flüssigkeiten  (Baggei^li,  Franke  u.  a.),  oder 
die  in  einem  Operationsakte  durchzuführende  vollständige  Ausräumung 
des  Inhaltes  der  Cystenkapsel  mit  nachfolgender  Vernähung  der  letzteren 
und  Versenkung  des  Organes,  in  welchem  die  Echinokokkenbildung 
stattgefunden  hatte,  in  die  Bauchhöhle  (Billroth,  Posadas-Bobrow, 
Delbet). 

Daß  diese  neuen  Methoden  sehr  rasch,  oft  in  wenigen  Tagen  Heilung 
herbeiführen  können,  daß  dieselben  direkt  das  Leben  der  Patienten 
nicht  in  größerer  Weise  gefährden,  ist  genügend  bewiesen.  Aber  sie 
alle  bringen,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  in  sehr  viel  höherem 
Grade  als  die  alten  Methoden  die  Gefahr  mit  sich,  daß  Cysteninhalt, 
d.  h.  daß  Echinokokkenkeime  in  die  Bauchhöhle  gelangen,  die  dort  sich 
ansiedeln  können. 

An  Warnungen,  bei  jeder  Operation  eines  intraperitoneal  gelegenen 
Echinococcus  diese  Gefahr  an  erster  Stelle  zu  berücksichtigen,  hat  es 
seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  nicht  gefehlt.  Für  diejenigen,  denen 
die  zahlreichen  klinischen  Erfahrungen  [Folgen  der  Spontanrupturen, 
der  Probepunktionen  u.  s.  w.]  ^  nicht  genügten,  wurden  unanfechtbare 
Beweise  für  die  Möglichkeit  der  Entstehung  von  multiplen  (meist  jeder 
Therapie  unzugänglichen)  Echinokokken  der  Bauchhöhle  nach  Impfung 
geliefert  durch  die  Ergebnisse  der  in  den  letzten  10  Jahren  gemachten 
Tierexperimente. 

Dieselben  haben  gezeigt,  daß  „die  Blasen  des  multiplen  Echino- 
coccus sich  nicht  nur  aus  herausgefallenen  Tochterblasen  der  primären 
Echinokokkencysten,  sondern  auch  aus  ihren  Brutkapseln  und  Scolices 
entwickeln**  (Alexinsky  ;  Bestätigung  durch  Riemann  und  Dfivfi),  mit 
anderen  Worten,  daß  auch  das  Eindringen  von  Cystenflüssigkeit,  die 
für  das  unbewaShete  Auge  geformte  Massen  nicht  zu  enthalten  scheint, 
in  hohem  Grade  die  Gefahr  der  „Keimzerstreuung^  in  der  Bauchhöhle 
mit  sich  bringt. 

Zu  allen  diesen  Warnungen  gesellen  sich  nun  noch  die  in  neuester 
Zeit  gemachten  Beobachtungen  von  Aufpfropfungen  von  Echino- 
kokkencysten in  Operationsnarben. 

F.  D6v6  -  Rouen,  der,  wie  ich  im  vorstehenden  schon  mehrfach 
hervorhob,  sich  mit  dem  Thema  der  sekundären  Echinococcose  in  ein- 
gehendster Weise  beschäftigte,  hat,  um  die  Gefahren  der  operativen  Keim- 
zerstreuung zu  beseitigen,  beachtenswerte  Vorschläge  gemacht^). 


1)  In  vortrefflicher  Weise  hat  in  seiner  oben  erwähnten  Arbeit  Dävä 
die  Kasuistik  der  sekundären  Echinococcose  zusammengestellt. 

2)  Dfevfe,  oben  erwähnte  Th6se  von  1891,  weiter:  Des  greffes  hyda- 
tiques  postopÄratives,  Rev.  de  Chir.,  T.  22,  1902,  p.  534.  —  De  Taction 
parasiticide  du  sublim^  et  du  formol  sur  les  germes  hydatiques,  Compt. 
rend.  des  sdances  de  la  Soc.  de  Biologie,  17.  May  1902  et  17.  Janv.  1903. 


26  0.  Madelung, 

Dävä  empfiehlt  an,  jedem  wegen  Echinokokken  in  der  Bauchhöhle 
unternommenen  Eingriff  Maßnahmen  vorangehen  zu  lassen,  die  die 
Abtötung  des  Parasiten  bewirken.  Dieselben  sollen  in  folgendem 
bestehen : 

Nachdem  die  Cyste  freigelegt  ist  und  die  benachbarten  Gewebe  ge- 
nügend gedeckt  sind,  soll  (mit  dem  PoTAiKSchen  oder  DisüLAFOYSchen 
Apparate  [1])  durch  Punktion  die  Cyste  von  ihrem  Inhalte  entleert  werden. 
Jeder  Druck  auf  die  Cyste  ist  hierbei  zu  vermeiden.  Es  soll  dann  (2)  in 
die  Höhle  eine  der  entleerten  Flüssigkeit  fast  gleiche  Menge  einer  para- 
sitiziden  Flüssigkeit  injiziert  werden.  Dieselbe  bleibt  einige  Zeit  in  der 
Cyste;  dann  (3)  wird  sie  entleert.  Nun  erst  soll  die  Ausräumung  des 
Parasitensackes  und  die  (4)  Versorgung  der  Cystenkapsel  nach  irgend 
einer  für  den  Fall  passenden  Methode  folgen. 

Dtvt  hat  durch  zahlreiche  Tierexperimente  für  diesen  seinen  Vorschlag 
Grundlagen  zu  schaffen  gesucht,  und  glaubt  damit  festgestellt  zu  haben, 
daß  „die  Injektion  einer  Lösung  von  Sublimat  von  1  :  1000  oder  von 
Formol  von  1 :  100,  die  während  5  Minuten  im  Zusammenhange  mit  der 
inneren  Oberfläche  der  Cyste  gelassen  wird,  genügt,  die  Lebensfähigkeit 
der  Echinokokkenkeime  zu  zerstören.  ^^ 

Wie  DiiVB  aber  selbst  bemerkt,  ist  —  wohlgemerkt  —  dieser  Erfolg  nur 
zu  erwarten  in  Fällen  der  „univesikulären  Varietät",  d.  h.  dann,  „wenn 
die  parasitäre  Geschwulst  aus  einer  intakten  Mutterblase  besteht,  die  die 
ganze  Kapsel  einnimmt 

Däv6  nimmt  an,  daß  diese  Fälle  die  häufigsten  seien.  Nach  meinen 
Operationserfahrungen  muß  ich  dem  widersprechen.  Ich  fand  in  Leber, 
Milz,  Nieren  nur  in  Ausnahmefkllen  univesikuläre  Cysten. 

Bei  der  „forme  complexe",  „wenn  eine  Anhäufung  von  Tochterblasen 
der  verschiedensten  Größe  zusammengebacken  inmitten  von  gelatinösem 
Detritus  vorhanden",  ist  die  Entleerung  durch  Punktion  oft  genug  voll- 
ständig unmöglich,  immer  ungenügend.  Demnach  erscheint  auch  die  In- 
jektion von  parasitizider  Flüssigkeit  unstatthaft. 

Im  Juli  1903  hat  Qujönu  ^)  von  3  Operationen  berichtet,  bei  denen  er 
das  eben  beschriebene  D6v£sche  Verfahren  zur  Anwendung  brachte.  2mal 
handelte  es  sich  um  univesikuläre,  Imal  um  multivesikuläre  Leberechino- 
kokken. Verwendet  wurde  Formollösung  (1  :  100,  Menge  300—350  ccm, 
5  Minuten  in  der  Cyste  gelassen). 

Dävä,  der  bei  der  ersten  Operation  zugegen  war,  untersuchte  die  bei 
dieser  (nach  der  versuchten  Abtötung)  entleerten  parasitären  Teile  auf 
ihre  Lebensfähigkeit  mittelst  des  Tierexperimentes.  8  subkutane  Injektionen 
bei  4  Kaninchen  ergaben  negatives  Resultat. 

Wenn  man  weiß,  daß  derselbe  Experimentator  bei  seinen  früheren 
Impfungen  mit  nicht- sterilisiertem  Materiale  (u.  a.  bei  11  subkutanen 
Impfungen)  immer  (d'une  fa9on  constante)  die  Bildung  von  cystischen 
Tumoren  erzielt  hat,  so  ist  dieses  Resultat  gewiß  in  hohem  Grade  ein 
Zeugnis  für  den  Wert  des  D^vÄsohen  Verfahrens. 

In  einem  dritten  Operationsfalle  hatte  Quänu  einen  multivesikulären 
Echinococcus  zu  bebandeln.  Immerhin  ließen  sich  620  g  klarer  Flüssigkeit 
entleeren  und  300  g  Formol .  injizieren.  Bei  der  später  vorgenommenen 
Ausräumung  fanden  sich  Hunderte  von  Blasen.  Qu^nu  ließ  den  Inhalt 
von  zwei  derselben  chemisch  daraufhin  untersuchen,  ob  das  Formol 
durch  die  Wand  diffundiert  sei.     Es  ließ  sich  solches  nachweisen. 


1)  Bull,  et  M6m.  de  la  Soc.  de  Chir.,  T.  29,  1903,  p.  719. 


üeber  postoperative  Pfropfung  von  Echinokokkencysten.  27 

Ob  mit  diesem  chemischen  Befunde  wirklich  der  Beweis  geliefert  ist, 
daß  alle  Keime  der  multivesikulären  Cysten  abgetötet  worden  sind,  wird 
man  bezweifeln  können,  im  besonderen  wenn  man  sich  daran  erinnert, 
daß  Lebedbff  und  Andrejew  bei  ihren  Tierexperimenten  mit  Erfolg 
Cysten  in  die  Bauchhöhle  einpflanzen  konnten,  die  vorher  mit  Karbol- 
lösung (2,5 :  100)  gewaschen,  und  andere,  die  außerdem  sogar  3  Tage 
lang  in  50-proz.  Alkohol  aufbewahrt  waren,  daß  Dbvä  aus  2 — 3  Minuten 
lang  mit  Formol  (Y^)  behandelten  Scolices  nach  subkutaner  Einimpfung 
polycystische  Tumoren  entstehen  sah.  Die  Widerstandsfähigkeit  der  Echino- 
kokkenkeime (im  besonderen  der  mikroskopischen  Elemente)  gegen  Gifte 
ist  sehr  viel  größer,  als  man  früher  annehmen  konnte. 

Aber,  abgesehen  davon,  der  Gedanke,  der  den)  D^väschen  Verfahren 
zu  Grunde  liegt,  ist  zweifellos  richtig,  und  zweifellos  sind  weitere  Versuche 
in  derselben  Richtung  dringend  notwendig.  Der  Wunsch,  zu  diesen  an- 
zuregen, bestimmte  mich,  über  die  in  Deutschland  anscheinend  bisher 
nicht  beachteten  Veröffentlichungen  Dl:vi:s  zu  referieren. 


Aus  der  medizinischen  Poliklinik  der  Universität  Leipzig. 


Nachdrack  verboten. 

III. 

Ueber  Schädigungen  des  Herzens  durch  eine 

bestimmte  Art  von  indirekter  Gewalt 
(Zusammenknickung  des  Rumpfes  über  seine 

Yorderfläche). 

Von 
Privatdozent  Dr.  T.  L.  TOn  Criegem, 

ehemaligem  Assistenten  der  Poliklinik. 


Die  moderne  Form  der  Lebensfürsorge  durch  Versicherungen  pri- 
vater und  öffentlicher  Natur  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß  die  trauma- 
tische Entstehung  innerer  Krankheiten  in  viel  höherem  Maße  Gegenstand 
des  ärztlichen  Interesses  geworden  ist  als  früher.  Zugleich  stehen  heute 
auch  sonst  die  Erkrankungen  des  Herzens  im  Mittelpunkte  einer  leb- 
haften Diskussion.  So  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  die  traumatische 
Entstehung  von  Herzkrankheiten  bereits  viel  studiert  und  literarisch 
eingehend  gewürdigt  ist.  Daher  bedarf  ein  kasuistischer  Beitrag  auf 
diesem  Gebiete  einer  besonderen  Motivierung,  wenn  er  nicht  überflüssig 
erscheinen  soll.  Für  die  vorliegende  kleine  Arbeit  glaube  ich  dieselbe 
in  der  Art  des  Traumas  suchen  zu  dürfen,  welches  ein  indirektes  ist 
und  in  einem  ganz  bestimmten  Sinne  wirkt,  nämlich  durch  Zusammen- 
knickung des  Rumpfes  über  seine  Vorderfläche. 

Die  Literatur  beschäftigt  sich  ganz  überwiegend  mit  den  Wirkungen 
des  direkten  Traumas.  Wesentlich  drei  Arten  lassen  sich  hierunter 
unterscheiden:  die  Verwundungen  (einschließlich  des  Eindringens  von 
Fremdkörpern  von  außen  her),  die  rein  örtlichen  Traumen  durch  stumpfe 
Gewalt  und  die  Kompressionen  des  Thorax.  Alle  drei  sind  in  ihren 
Wirkungen  sehr  ähnlich :  Die  letzte  Abart  unter  ihnen,  die  Kompression 
des  Thorax,  leitet  in  gewisser  Weise  zum  indirekten  Trauma  hinüber, 
und  so  läßt  es  sich  auch  für  unser  Thema  nicht  vollständig  umgehen, 
wenigstens  ganz  kurz  die  Folgen  der  direkten  Gewalteinwirkung  zu  er- 
wähnen, um  sie  vergleichen  zu  können. 

Das  örtliche  Trauma  durch  stumpfe  Gewalt  bildet  die  Hauptmenge 
der  Kasuistik.    Selbstverständlich,  denn  solche  Fälle  sind  sehr  häufig. 


T.  L.  von  Criegern,  Ueber  Schädigungen  des  Herzens  etc.       29 

Leider  ist  es  nicht  immer  leicht,  genau  den  Beweis  zu  führen,  daß  das 
Trauma  nun  auch  wirklich  die  beschädigte  Stelle  erreicht  hat,  z.  B.  die 
klinisch  erkennbare  Aorteninsufficienz,  oder  auch,  wenn  der  Fall  zur 
Obduktion  kam,  die  anatomisch  nachweisbare  Kontinuitätstrennung  der 
Klappe  bewirkt  hat.  Die  Fälle  bleiben  in  der  Regel  lange  am  Leben, 
und  man  muß  sich  schließlich  meist  begnügen,  zu  sagen:  der  Stoß  kann 
die  Klappe  abgerissen,  oder  er  kann  eine  gewisse  Menge  Parenchym 
zertrümmert  und  dadurch  die  schrumpfende  Narbe  erzeugt  haben,  oder 
was  für  eine  Folge  sonst  vorliegt.  Umgekehrt  pflegen  die  Kompres- 
sionen des  Thorax,  welche  das  Herz  schädigen,  meist  rasch  zum  Tode 
zu  führen:  und  es  ist  nachher  nicht  zu  sagen,  was  aus  der  frischen 
Ruptur  der  Klappe  geworden  wäre,  wenn  das  Leben  länger  angedauert 
hätte.  Ungleich  besser  lassen  sich  die  Fälle  von  Verwundungen  des 
Herzens  übersehen :  man  kann  hier  stets  mit  Sicherheit  sagen :  dort- 
hin ist  die  Waffe  gedrungen,  hat  diese  oder  jene  Verletzung  gesetzt. 
Es  macht  dann  keine  Schwierigkeiten,  weiter  zu  analysieren:  infolge 
der  primären  Verstümmelung  findet  nun  diese  oder  jene  Behinderung 
der  Herztätigkeit  statt,  und  wir  sehen  daher  die  gegenwärtige  sekundäre 
Folge  des  Traumas.  Ein  Fall  von  Verwundung  des  Herzens  wird  sich 
daher  am  besten  als  Vergleichsmuster  aus  der  Gruppe  der  direkten 
Traumen  eignen. 

Die  Seltenheit  einschlägiger  Beobachtungen  mag  es  entschuldigen, 
wenn  ich  mich  dazu  eines  Falles  bediene,  den  Riethüs  in  der  Deutschen 
Zeitschrift  für  Chirurgie,  Bd.  67,  p.  414  bereits  veröffentlicht  hat,  da 
ich  denselben  lange  Zeit  mit  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 

Ein  19-jähr.  Kaufmann  hatte  sich  am  27.  Juni  1901  mit  einem  Revolver 
von  6  mm  Kaliber  mitten  in  die  Brust  geschossen.  Die  Kugel  war  ins 
Herz  eingedrungen  und  dort  eingeheilt.  Man  konnte  ihren  Schatten,  nach- 
dem die  Wunde  verheilt  und  der  Kranke  wieder  ambulant  geworden  war, 
deutlich  von  allen  Seiten  im  Schatten  des  Herzens  auf  dem  fluorescierenden 
Schirme  (und  RöNTOBN-Photogramm)  erkennen.  Die  Kugel  war  isochron 
mit  der  Herzaktion  beweglich  und  machte  unter  bestimmten  Bedingungen 
Schleuderbewegungen,  schien  also  mindestens  teilweise  frei  beweglich  zu 
sein.  Bezüglich  der  genaueren  Lokalisierung  in  einer  der  Herzhöhlen 
sprach  die  Röntgenuntersuchung  selbst  mehr  für  den  rechten  Vorhof,  der 
klinische  Verlauf  des  Falles  mehr  flir  den  rechten  Ventrikel.  Uns  inter- 
essieren hier  die  Folgen  der  Verletzung  für  das  Herz.  Die  primären 
Folgen  der  Verwundung  zeigten  sich  im  wesentlichen  in  schwerem  Kollaps 
mit  subnormaler  Temperatur.  Die  Anwesenheit  eines  Fremdkörpers  im 
Herzen  machte  sich  zunächst  auffallenderweise  durch  keine  der  sonst  gewöhn- 
lichen primären  Erscheinungen  (Irregularität  des  Pulses)  geltend,  sondern 
erst  später,  etwa  von  der  3.  Woche  ab,  vielleicht  infolge  einer  Wanderung 
des  Projektiles.  Aber  sie  gingen  vorüber  und  vom  8.  Monat  ab  waren 
bis  zum  Schlüsse  meiner  Beobachtung  (Anfang  1903)  nur  mehr  allgemeine 
Beschwerden  übrig :  subjektive  Empfindungen  (Herzklopfen),  leichte  Ermüd- 
barkeit und  Atemnot  mit  leichter  Cyanose  und  starker  Pulsfrequenz  bei  An- 
strengungen, sowie  neurasthenische  Erscheinungen.    Alles  zusammen  deutet 


30  T.  L.  von  Criegern, 

indessen  darauf  hin,  daß  das  Herz  zur  Zeit  unter  ungünstigen  Bedingungen 
mit  erheblicher  Anstrengung  arbeitet,  und  diese  zwecklose  Vermehrung 
der  Arbeitsleistung,  welche  in  der  unaufhörlichen  Bewegung  der  Kugel 
besteht,  ist  als  die  sekundäre  Folge  der  Verletzung  zu  betrachten.  Es 
wird  abzuwarten  sein,  ob  schlielSlich  ein  vorzeitiges  Erlahmen  der  Herz- 
kraft eintritt,  wie  es  wohl  wahrscheinlich  ist.  (Wegen  weiterer  Einzel- 
heiten vgl.  die  Abhandlung  von  Riethus.) 

Schneller  als  eine  theoretische  Auseinandersetzung  läßt  uns  die  Re- 
kapitulation eines  solchen  Falles  die  Bedeutung  des  direkten  Traumas  für 
das  Herz  erkennen :  als  primäre  Folgen  der  Gewebszertrümmerung  Kollaps 
mit  Absinken  der  Temperatur;  in  anderen  Fällen,  bei  unverschließbarer 
Perforation  nach  dem  Herzbeutel,  Hämoperikardium  oder,  bei  Reizung 
des  Endothels,  Pulsstörungen  u.  s.  f.  Als  sekundäre  Folge  ist  die  nach- 
bleibende zu  hohe  Anforderung  an  die  Arbeitskraft  des  Herzens  zu 
würdigen:  sei  es,  daß  eine  Klappenzerreißung  zur  Ventilstörung  führt, 
sei  es,  daß  ein  eingeheilter  Fremdkörper,  eine  schwer  dehnbare  Narbe 
zu  ihrer  Bewegung  für  den  Haushalt  des  Körpers  zwecklose  Arbeit 
verlangen,  stets  ist  die  Mehrforderung  von  Arbeit  der  Kernpunkt  Wir 
werden  sehen,  ob  die  Schädigungen  des  Herzens  durch  die  oben  skizzierte 
indirekte  Gewalt,  zu  denen  wir  nun  übergehen,  sich  gleichfalls  in  dieses 
Schema  einfügen  lassen. 

An  die  Spitze  von  ihnen  möchte  ich  den  folgenden  stellen. 

Eine  23-jähr.  Schneidersfrau  ist  schon  seit  längerer  Zeit  der  medizi- 
nischen üniversitätspoliklinik  bekannt,  da  sie  an  einem  gut  kompensierten 
Mitralfehler  (InsufEcienz  und  Stenose)  infolge  eines  früher  überstandenen 
Gelenkrheumatismus  leidet.  In  Behandlung  hat  sie  nicht  gestanden,  sondern 
am  27.  Sept.  1898  ist  sie  nur  gelegentlich  einmal  zur  Konsultation  ge- 
kommen und  dabei  ist  denn  der  Herzfehler  aufgefunden  worden.  (Genauere 
Angaben  sind  im  einzelnen  nicht  notiert  worden.)  Am  2.  Okt  1900  kommt 
sie  unter  Unterstützung  ihrer  Schwester  geführt  zur  Sprechstunde  (den  Weg 
hat  sie  im  Wagen  zurücklegen  müssen)  mit  folgender  Angabe :  Vor  5  Tagen 
habe  sie  abends  auf  dem  Tische  gesessen,  als  ihr  Mann  ins  Zimmer  ge- 
kommen sei  und  überraschend  die  herabhängenden  Füße  ergriffen  und 
ihr  „über  den  Kopf  geworfen"  habe.  Sie  sei  dabei  abgeglitten,  auf  den 
Bücken  gefallen  und  habe  sich  überschlagen,  wobei  der  Ehemann  noch 
durch  Zusammendrücken  des  Rumpfes  von  der  Beckengegend  her  nach- 
geholfen habe.  Sofort  habe  sie  einen  starken  Schmerz  in  der  Oberbauch- 
gegend empfanden,  starke  Atemnot  bekommen  und  sei  zu  schwach  gewesen, 
sich  allein  wieder  aufzurichten.  Das  habe  sich  bis  jetzt  noch  nicht  wieder 
gegeben,  sondern  sie  sei  noch  nicht  f^hig,  ihren  Haushalt  zu  versorgen, 
die  Atemnot  bestehe  noch,  auch  der  Schmerz,  wiewohl  dieser  geringer 
geworden  sei.  Aber  seither  spüre  sie  starkes  Herzklopfen,  welches  die 
ganze  linke  Brusthälfte  erschüttere,  und  ihre  Gesichtsfarbe  sei  bläulich 
geworden. 

Der  Status  ergab  eine  gracile  Frau  von  mittlerem  Ernährungszustände, 
Gesichtsfarbe  blaß-cyanotisch,  besonders  die  peripheren  Teile  blau  gefUrbt. 
(Kleine  linksseitige  Struma.)  Die  relative  Herzdämpfung  begann  an  der 
dritten  Bippe,   überschritt  die  linke  Mammillarlinie    um  einen  Centimeter, 


Ueber  Schädigungen  des  Herzens  etc.  31 

während  sie  von  der  rechten  noch  um  ebensoviel  entfernt  blieb.  Die 
ortodiagraphische  Untersuchung  bestätigte  diese  Grenzen  (13  +  15  cm). 
Zugleich  fanden  sich  die  diaskopischen  Kennzeichen  der  allgemeinen  Er- 
weiterung des  Herzens:  starke  Erweiterung  beider  Vorhöfe,  geringere  der 
Ventrikel.  Der  2.  Pulmonalton  war  accentuiert;  ein  systolisches  Geräusch 
fand  sich  an  allen  Ostien,  ein  präsystolisches  nur  an  der  Spitze.  Deut- 
licher, wenn  auch  geringer  herzsystolischer,  zentrifugaler  Venenpuls.  Im 
ganzen  Bereich  der  Dämpfung  ist  die  Herzaktion  sieht-  und  fühlbar,  auch 
darüber  hinaus  wird  die  Brustwand  noch  erschüttert,  in  der  Gegend  der 
Herzspitze  ist  der  Herzstoß  hebend.  Der  Puls  in  den  fühlbaren  Arterien 
ist  klein  und  frequent  (um  100  herum);  keine  Oedeme!  Die  Leber  war 
groß  und  derb,  der  Urin  hochgestellt,  eiweißfrei. 

Der  Zustand  wird  aufgefaßt  als  eine  akute  Dilatation  des  Herzens: 
dafür  kamen  in  Betracht:  die  Vergrößerung  des  Herzens ;  der  („MARTiussche") 
Gegensatz  zwischen  dem  verstärkten  Stoß  des  vergrößerten  Herzens  und 
dem  kleinen  Puls  in  den  peripheren  Arterien,  endlich  das  charakteristische 
Röntgenbild.  Dementsprechend  wurde  die  Kranke  behandelt  mit  absoluter 
Bettruhe,  Bedeckung  der  Herzgegend  mit  einer  Eisblase,  und  innerlicher 
Verabreichung  von  Digitalis.  Es  erfolgte  Rekonvaleszenz,  und  am  23.  Okt. 
1900  findet  sich  verzeichnet:  Herzdämpfung  verkleinert,  beginnt  im  3. 
Interstitium,  reicht  nach  links  bis  zur  Mammillarlinie,  nach  rechts  noch 
nicht  ganz  bis  zum  rechten  Thorakalrand  (orthodiagraphisch  freilich  noch 
darüber  hinaus :  9 :  10  cm).  Der  2.  Pulmonalton  ist  accentuiert,  nur  an 
der  Spitze  besteht  noch  ein  systolisches  Geräusch  (ein  präsystolisches  ist 
nicht  deutlich),  Venenpuls  besteht  nicht  mehr,  der  Puls  in  der  Radialis  ist 
voll  und  kräftig,  88.  Auf  diesem  Status  bleibt  die  Patientin  nun  auch 
weiter  bestehen,  nachdem  sie  allmählich  wieder  aufgestanden  und  ihrem 
Berufe  nachgegangen  ist.  (Zuletzt  kontrolliert  am  16.  Nov.  1900.)  Die 
Röntgenuntersuchung  hatte  am  2.  Okt.  die  Zeichen  der  allgemeinen 
Dilatation  ergaben :  Erweiterung  des  Ventrikelanteiles  und  beider  Vorhöfe, 
jetzt  zeigte  sie  im  wesentlichen  nur  die  Erweiterung  des  linken  Vorhofes 
(das  diaskopische  Kennzeichen  länger  bestehender  Mitralfehler). 

Den  nächsten  Fall,  der  diesem  in  vielen  Punkten  ähnelt,  hatte  ich 
schon  früher  beobachtet. 

Eine  51 -jähr.  Weißnäherin  stand  in  gelegentlicher  Behandlung  der 
Distriktspoliklinik  wegen  leichten  Lungenemphysems  (untere  Lungengrenze 
am  11.  Dorsal  Wirbel,  vorn  an  der  7.  Bippe,  überall  Vesikulärathmen  mit 
verlängertem  Exspirium)  und  hysterischen  Beschwerden.  Diese  hatte  ihre 
Ursache  in  häuslichem  Unfrieden,  da  der  Mann  ein  starker  Trinker  und 
Herumtreiber  war.  Am  21.  Eebruar  1899  bat  sie  um  ärztlichen  Besuch: 
am  Abend  vorher  war  es  wieder  zum  Streite  mit  ihrem  Mann  gekommen, 
und  dieser  hatte  ihr  ihre  Nähmaschine  mit  einem  Beil  zerschlagen.  Beim 
Versuch,  ihn  daran  zu  hindern,  hatte  sie  mit  ihm  gerungen,  war  aber 
überwältigt  und  an  den  Schultern  zu  Boden  gedrückt  worden,  bis  ihre 
Kräfte  nachgelassen  hatten.  Seither  hatte  sie  Atemnot  bereits  beim  Um- 
hergehen im  Zimmer,  große  Mattigkeit,  Druck  und  Beklemmung  auf  der 
Brusi. 

Status :  Mäßig  genährte  Frau  mit  den  oben  bereits  angeführten  Zeichen 
an  Lungenemphysem  und  geringer  Arteriosklerose.  Einige  Kontusionen 
am  Körper.  Inkarnat  bleich,  Akrocyanose.  Schon  bei  Bewegung  im  Zimmer 
Dyspnoe.     Die  Herzdämpfung  begann  im  3.  Literstitium    und  reichte  vom 


32  T.  L.  von  Criegern, 

rechten  Stern alrand  bis  1  Finger  breit  außerhalb  der  linken  Mammillar- 
linie.  Der  Herzstoß  war  stark  verbreitert  und  es  bestand  epigastrische 
Pulsation.  Die  Herztöne  waren  rein.  Der  Puls  war  klein  und  weich, 
dabei  frequent.  Mitunter  setzte  ein  Schlag  an  der  Eadialis  aus,  dem 
dann  ein  kurzer  Ton  am  Herzen  entsprach.  Manchmal  fiel  auch  eine 
Eeihe  kleiner  sehr  frequenter  Pulse  ein,  die  dann  meist  nicht  an  der 
Peripherie  zu  fühlen  waren.  Körperliche  Bewegung  vermehrte  die  Irre- 
gularität der  Herztätigkeit  wesentlich. 

Der  Zustand  wurde  als  eine  akute  Herzerweiterung  aufgefaßt  und 
mit  absoluter  Bettruhe,  Eisbeutel  auf  die  Herzgegend  und  Digitalisdarrei- 
chung behandelt.  Mitte  März  stand  die  Kranke  —  auf  eigene  Verant- 
wortung —  auf:  damals  war  die  Herzdämpfung  verkleinert,  nach  rechte 
überschritt  sie  noch  etwas  den  linken  Sternalrand,  nach  links  reichte  sie 
nur  mehr  bis  zur  Mammillarlinie.  Die  Herztöne  waren  rein,  der  Puls  war 
von  annähernd  normaler  Frequenz,  mittlerer  Füllung  und  setzte  noch  immer 
ab  und  zu  einmal  aus.  Der  Herzstoß  war  auf  umschriebener  Stelle  im 
5.  Interstitium  links  1  cm  breit  einwärts  der  linken  Mammillarlinie  zu 
fühlen,  nicht  zu  sehen,  epigastrische  Pulsation  bestand  noch  immer.  In 
der  folgenden  Zeit  besuchte  die  Kranke  die  Disti'iktspoliklinik  nur  höchst 
unregelmäßig,  noch  immer  myokarditische  Symptome  aufweisend. 

Am  13.  Aug.  1900  kam  sie  wieder  wegen  einer  stärkeren  Störung. 
Status:  Mäßig  genährt.  Arteriosklerose  stärker.  Mäßige  Dyspnoe  in  der 
Ruhe,  stärkere  bei  Anstrengungen.  Hautfarbe  leicht  cyanotisch,  vielleicht 
auch  etwas  ikterisch.  Knöchelödeme.  Lungenbefuud  wie  früher.  Herzstoß 
sehr  verbreitert.  Herzdämpfung  beginnt  im  3.  Interstitium,  erreicht  fast 
den  rechten  Sternalrand  und  überschreitet  die  linke  Mammillarlinie  um 
reichlich  eine  Fingerbreite.  Herztöne  rein.  Puls  mäßig  gefüllt,  altemans, 
deliciens  und  intermittens.  Leberrand  derb,  stumpf,  2  Finger  breit  unter 
dem  Hippenbogen.  Im  Urin  findet  man  jetzt  Eiweiß  und  Cylinder.  Die 
Kranke  bleibt  zunächst  bis  April  1901  in  Behandlung  der  Distriktspoli- 
klinik (Herr  Dr.  Uhlmann):  Das  Befinden  ist  wechselnd,  die  Stauungs- 
erscheinungen nehmen  ab  und  wieder  zu,  am  Herzen  erfolgt  keine  wesent- 
liche Veränderung. 

Nur  ganz  anhangsweise  möchte  ich  hier  anfügen ,  daß  eine  33- 
jähr.  Schmiedsfrau  vom  13.  Nov.  1900  bis  12.  Jan.  1901  in  Behand- 
lung der  med.  Univ.-Poliklinik  stand  wegen  Symptomen,  die  trotz  des 
jugendlichen  Alters  der  Eranken  sehr  ftlr  Myocarditis  sprachen.  (Am 
Herzen  weder  auskultatorisch  noch  perkussorisch  ein  besonderer  Befund, 
aber  starke  Irregularität  der  Herztätigkeit.)  Dieselbe  behauptete,  daß  ihr 
Leiden  vor  12  Jahren  plötzlich  entstanden  sei,  nachdem  sie  von  ihrem 
Manne  im  Streite  mit  großer  Gewalt  3mal  zu  Boden  gedrückt  worden  sei. 
Damals  habe  sie  einen  heftigen  Schmerz  in  der  linken  Seite  empfunden 
und  wegen  großer  Schwäche  und  Atemnot  längere  Zeit  das  Bett  hüten 
müssen'. 

Sehen  wir  ab  von  diesem  letzten  Falle  als  im  Anfangsstadium  nicht 
selbst  beobachtet  und  daher  zu  wenig  sicher,  so  haben  wir  2  Fälle,  in 
denen  sich  an  eine  Gewalteinwirkung  eine  akute  Dilatation  des  Herzens 
anschließt.  Dabei  ist  beide  Male  die  Art  der  Einwirkung  die  gleiche: 
mit  ziemlicher  Heftigkeit  wird  der  Rumpf  von  oben  nach  unten  zu- 
sammengedrückt und  über  seine  vordere  Fläche  gebogen,  er  erfährt 
also   eine   „Stauchung"^.     Dabei   besteht  kein   Zeichen   eines   direkten 


Ueber  Schädigaogen  des  Herzens  etc.  33 

Tranmas  auf  die  Herzgegend.  Anscheinend  sind  die  primären  Folgen 
desselben  die  gleichen,  nämlich  der  Eintritt  einer  akuten  Herzdilatation ; 
verschieden  erweisen  sich  aber  die  sekundären  Folgen.  Im  ersten  Falle 
geht  die  Herzerweiterung  wieder  zurtlck;  scheinbar  ohne  dauernden 
Schaden  tritt  der  Status  quo  ante  wieder  ein ;  im  zweiten  dagegen  läßt 
sich  von  jetzt  ab  der  Symptomenkomplex  der  Myocarditis  erkennen. 
(Kann  man  den  Angaben  des  dritten  Falles  trauen,  so  hätte  man  in 
diesem  die  gleiche  spätere  Folge  vor  sich  wie  im  zweiten.) 

Es  entsteht  die  Frage,  ob  man  die  anscheinend  primäre  Folge  wohl 
dem  Trauma  als  solchem  zutrauen  kann.  Fernwirkungen  eines  Traumas 
sind  in  der  Lehre  von  den  Verletzungen  nichts  Ungewöhnliches.  In 
allen  typischen  Fällen  ist  leicht,  sich  das  mechanische  Mittel  klar  zu 
machen,  welches  die  Gewalt  überträgt,  z.  B.  einen  starren  Hebel, 
eine  inkompressible  Flüssigkeitsschicht  u.  a.  m.  Solche  Ueberträger 
von  Kraft  kann  man  sich  auch  im  Rumpfe  konstruieren.  So  kommen 
bekanntlich  z.  B.  nach  Fall  aus  beträchtlicher  Höhe  durch  Fernwirkung 
Läsionen  (speziell  Rupturen)  innerer  Organe,  u.  a.  auch  Rupturen  des 
Herzens,  vor.  Auch  die  traumatischen  Schädigungen  des  Herzens  nach 
Kompressionen  des  Brustkorbes  werden  auf  diese  Weise  erklärt.  Trotz- 
dem ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  daß  dieser  Erklärungsmodus  für 
unsere  Fälle  zulässig  ist,  obwohl  auch  eine  gewisse  Kompression  des 
Brustkorbes  offenbar  stattgefunden  hat.  Denn  in  diesen  ist  die  schein- 
bare Primärwirkung  des  Traumas  eine  Erweiterung  des  Herzens,  während 
es  sich  in  jenen  um  eine  eigentliche  Läsion,  meist  eine  Ruptur  handelt. 
Für  eine  solche  fanden  wir  aber  keinen  Anhaltspunkt.  Ueberdies  sollte 
man  doch  nach  einer  Kompression  eher  eine  Verkleinerung  als  eine 
Erweiterung  des  geschädigten  Organes  erwarten.  Weiterhin  ist  doch 
die  Art  der  einwirkenden  Gewalt  sehr  verschieden.  Beim  Fall  aus 
grofier  Höhe  ist  die  Gewalt  viel  größer  und  wirkt  viel  geschwinder  ein, 
bei  der  schweren  Kompression  des  Thorax,  z.  B.  durch  Verschüttungen, 
ist  der  Endeffekt  viel  sicherer,  als  in  unseren  Fällen,  in  denen  das 
attackierte  Individuum  gegenarbeiten  konnte,  und  infolge  des  langsamen 
Ansteigens  des  Druckes  auf  seinen  Höhepunkt  die  Innenteile  auch  Zeit 
zum  Ausweichen  gehabt  hätten.  Es  ist  also  nötig,  nach  einer  anderen 
Erklärung  für  die  scheinbare  Primärwirkung  zu  suchen. 

Wenn  man  jemandes  Thorax  unter  den  hier  angeführten  Umständen 
zusammendrückt,  so  findet  man  stets,  daß  es  bei  den  Abwehrbewegungen 
zu  irrationeller  Respiration  kommt.  Und  zwar  füllt  der  Betreffende 
den  Thorax  zunächst  möglichst  mit  Luft,  um  dem  Ausgedrücktwerden 
entgegenzuarbeiten,  und  um  die  Atemnot  zu  vermindern,  da  ihm 
durch  den  Druck  die  gleichmäßige  Respiration  erschwert  ist.  Anderer- 
seits aber  kontrahiert  er  die  Bauchmuskeln  krampfhaft,  um  dem  em- 
pfindlichen Drucke  auf  die  Vorderfläche  des  Bauches  zu  entgehen,  er 

3flttaO.  a.  d.  OreniffeUeton  d.  Madlztn  a.  Chirurgie.    21 U.  Bd.  3 


34  T.  L.  von  Criegern, 

macht  also  eine  Muskelanspannung,  die  zu  einer  forcierten  Exspiration 
gehört,  und  arbeitet  damit  eigentlich  seiner  Aufblähung  des  Thorax,  als 
einer  forcierten  Inspiration  entgegen.  Wenn  nun  auch  aus  äußeren 
Gründen  unmöglich  ist,  einen  derartigen  Versuch,  den  oben  beschriebenen 
kasuistischen  Bedingungen  entsprechend,  anzustellen,  und  ihn  dann  etwa 
im  Röntgenbilde  zu  beobachten,  so  kann  man  doch  statt  dessen  sich 
mit  der  Anstellung  des  VALSALVAschen  Versuches  begnügen.  Man  läßt 
also  jemanden  möglichst  tief  einatmen,  dann  die  Glottis  schließen  und 
die  Ausatmungsbewegung  in  forcierter  Weise  machen.  Statt  des  Glottis- 
schlusses, der  vielen  Leuten  nicht  gelingt,  kann  man  auch  Mund  und 
Nase  schließen;  bei  den  oben  geschilderten  Abwehrbewegungen  bei 
Druck  auf  den  Thorax  kommt  es  bei  den  meisten  Leuten  zum  Luft- 
abschluß durch  Hebung  des  Zungengrundes,  unter  diesen  umständen 
sieht  man  nun  bekanntlich  auf  dem  fluoreszierenden  Schirme  den  Vor- 
hofsteil des  Herzens  anschwellen.  Dabei  kann  es  bleiben,  oder  es  kann 
sich  dann  auch  der  Ventrikelteil  verändern,  indem  zunächst  die  diasto- 
lische Vergrößerung  des  Schattens  erheblicher  ausfällt,  während  die 
systolische  Verkleinerung  noch  auf  genau  dasselbe  Maß  zurückgeht,  wie 
vorher  (Uebergang  in  den  starken  Aktionstypus).  Das  gilt  aber  nur 
für  die  gesunden  Herzen  kräftiger  Personen.  Bei  weniger  leistungs- 
fähigen Herzen  kommt  es  oft  nicht  zur  Ausbildung  genügend  kräftiger 
Systolen,  um  die  vorigen  Grenzen  wieder  zu  erreichen.  Man  beobachtet 
dann  eine  während  des  ganzen  Versuches  dauernde  Vergrößerung  des 
Herzschattens,  welche  aber  nach  dem  Einstellen  desselben  sofort  wieder 
verschwindet  Man  kann  dies  als  eine  Vorstufe  einer  Herzerweiterung 
betrachten.  Personen  mit  sehr  geschwächten  Herzen,  z.  B.  Herzfehler- 
kranke im  Stadium  der  Dekompensation,  vertragen  den  Versuch  über- 
haupt nicht,  sondern  es  kommt  zu  den  bekannten  üblen  Zufällen,  vor- 
übergehendem Aussetzen  der  Herztätigkeit,  Ohnmächten  u.  dgl.  Aus 
diesem  Grunde  ist  es  unmöglich,  ihn  bei  solchen  anzustellen ;  man  muß 
beim  ersten  Anzeichen  des  Nichtertragens  abbrechen.  Also  können  wir 
zusammenfassen,  daß  unser  Versuch  ein  Vorstadium  der  Herzerweiterung 
erzielen  kann,  daß  es  aber  von  der  Leistungsfähigkeit  des  Herzens  ab- 
hängt, inwieweit  er  dasselbe  erreicht,  daß  er  für  ein  gesundes  Herz 
bedeutungslos  ist,  von  einem  schwer  geschädigten  aber  überhaupt  nicht 
ertragen  wird.  Wir  können  noch  weiter  gehen :  man  beobachtet  ferner, 
daß  es  für  herzgesunde  kräftige  Leute  recht  schwierig  ist,  den  Versuch 
erfolgreich  anzustellen,  und  dies  gewöhnlich  einer  gewissen  Einübung 
bedarf.  Dagegen  beobachtet  man  die  typischen  Erscheinungen  oft  schon 
nach  mangelhafter  Ausführung  bei  empfindlichen,  kranken  Herzen. 

Wenden  wir  vorstehendes  auf  unsere  beiden  Fälle  an,  so  finden 
wir  die  Elemente  des  VALSALVASchen  Versuches  in  den  äußeren  zu- 
fälligen Umständen  jedes  einzelnen  wieder.    Forcierte  Einatmung  und 


Ueber  Schädigungen  des  Herzens  etc.  35 

Anhaltung  des  Atems,  und  gegenwirkende  exspirationsbefördernde  Mo- 
mente, Anspannung  der  Bauchmuskeln,  Druck  auf  den  Thorax.  Dennoch 
haben  wir  Grund,  den  Eintritt  jenes  Vorstadiums  der  Herzerweiterung 
auch  bei  ihnen  anzunehmen.  Aber  wir  sehen  sofort,  daß  es  viel  voraus- 
setzen heißt,  wollte  man  bei  diesen  ungeregelten  Abwehrbewegungen 
auf  eine  saubere  Ausführung  des  Glottisschlusses  rechnen,  wenn  wir 
auch  oft  den  gleichwertigen  Ersatz  durch  Hebung  des  Zungengrundes 
haben  werden.  Indessen  ist  dieselbe  nicht  nötig:  unter  der  Voraus- 
setzung eines  geschwächten  Herzens,  unter  welcher  der  VALSALVAsche 
Versuch  überhaupt  erst  wichtigere  Folgen  hat,  ist  auch  der  unvoll- 
ständig ausgeführte  zumeist  schon  wirksam.  Auf  die  Erfüllung  dieser 
Voraussetzung  ist  in  unseren  Fällen  zunächst  zu  achten.  Das  Bestehen 
einer  Schädigung  des  Herzens  schon  vor  dem  Unfälle  liegt  bei  der 
ersten  Frau  mit  dem  allerdings  von  vorn  herein  gut  kompensierten 
Herzfehler  klar  zu  Tage. 

Die  andere  Frau  wies  vor  der  Katastrophe  keine  Zeichen  einelr 
Herzerkrankung  auf.  Dagegen  war  sie  anderweitig  krank,  sie  wurde 
wegen  Arteriosklerose  und  Emphysem  behandelt.  Oft  genug  findet  sich 
nun  bei  diesen  Krankheiten  Myocarditis  als  dritte  im  Bunde,  auch  wenn 
auf  das  Bestehen  derselben  keine  besonderen  Symptome  hinweisen. 
Während  der  Beobachtung  nach  der  akuten  Dilatation  des  Herzens 
fanden  sich  dann  noch  Symptome  einer  chronischen  Nephritis,  welche 
Erkrankung  ja  auch  in  die  gleiche  Gruppe  gehört.  Also  ist  jedenfalls 
der  Verdacht  gerechtfertigt,  daß  das  Herz  auch  schon  vor  der  Ein- 
wirkung des  Traumas  nicht  intakt  gewesen  ist  Schwieriger  liegt  die 
Beurteilung  in  dem  anhangsweise  noch  erwähnten  dritten  Falle,  in  dem 
die  Beobachtung  so  unvollständig  war.  Leider  ließ  sich  nicht  einmal 
aus  den  schließlich  selbst  beobachteten  Symptomen  entscheiden,  was 
für  eine  Krankheit  nun  überhaupt  später  vorlag.  Wenn  auch  vieles 
fOr  eine  Myocarditis  sprach,  so  konnten  doch  auch  alle  Symptome 
lediglich  nervöser  Natur  sein.  Er  hat  wegen  dieser  Unklarheiten  aus 
der  Betrachtung  auszuscheiden;  nur  die  Aehnlichkeit  seiner  Anamnese 
mit  der  Symptomatik  des  zweiten  Falles  rechtfertigt,  daß  er  überhaupt 
erwähnt  wurde.  Es  ist  wohl  kaum  nötig,  darauf  hinzuweisen,  daß 
gerade  solche  vieldeutige  Symptome  gerne  auch  nach  akuten  Dilatationen 
vorher  gesunder  Herzen  zurückbleiben  (vergl.  Krehl  in  Nothnagel, 
Bd.  15,  1,  p.  235). 

Aus  dieser  Betrachtung  ergibt  sich,  daß  es  keineswegs  angeht,  die 
erste  Folge  des  indirekten  Traumas  in  unseren  Fällen,  die  Herz- 
erweiterung, mit  der  Primär wirhung  der  fortgeleiteten  Gewalt  bei  ge- 
wissen Kontusionen  und  Kompressionen  des  Thorax  parallel  zu  stellen. 
Ganz  im  Gegenteil !  Nicht  das  Trauma  als  solches  ist  wirksam,  sondern 
die  Steigerung  des  Blutdruckes  zunächst  im  Vorhofanteil  des  Herzens 

3* 


36  T.  L.  von  Criegern. 

durch  die  allseitige  Kompression  der  Atmungsluft.  Diese  ist  aber  der 
Effekt  der  Gregenarbeit  des  betreffenden  Individuums!  Es  ist  sogar 
fast  sicher,  daß  bei  völlig  widerstandslosem  Erdulden  der  Mißhandlung 
es  überhaupt  zu  keiner  Schädigung  des  Herzens  gekommen  wäre.  Und 
nun  finden  wir  noch  andere  Momente  wirksam:  die  ungewohnt  ener- 
gische Muskelanspannung  bei  der  Gegenwehr,  welche  den  Blutdruck 
steigert,  und  die  hochgradige  psychische  Erregung,  im  ersten  Falle 
wohl  zum  Teil  sexueller  Natur,  zum  Teil  auch  Schreck,  im  zweiten 
lediglich  zorniger  Affekt,  die  gleichfalls  den  Blutdruck  steigert,  und,, 
was  noch  schlimmer  ist,  die  Warnung  vor  Ueberanstrengung  des  Herzens 
durch  abnorme  Sensationen  am  Herzen  übersehen  läßt.  So  müssen 
wir  unsere  Fälle  demnach  in  Parallele  stellen  zu  denen  von  akuter 
Dilatation  des  Herzens  durch  Ueberanstrengung.  Sie  bilden  ein  Gegen- 
stück zu  ihnen,  in  welchem  nicht  die  muskuläre  Ueberanstrengung  durch 
arterielle  Blutdrucksteigerung  direkt  wirkt,  sondern  die  Kompression 
der  Luft  im  Thorax  durch  Behinderung  des  venösen  Abflusses. 

Wenn  ein  solcher  Fall  zur  Begutachtung  käme  infoge  zu  erhebender 
Entschädigungsansprüche  aus  einem  Versicherungsvertrage,  so  würde 
selbstverständlich  gleichwohl  dem  Antragsteller  stattzugeben  sein.  Es 
war,  wie  ich  hier  noch  bemerken  möchte,  für  den  Beobachter  sehr  an- 
genehm, daß  es  sich  niemals  um  solche  Verhältnisse  handelte.  So 
fielen  die  sattsam  bekannten  Uebertreibungen  des  Rentenanspruches 
weg,  welche  gemeinhin  die  wirklich  vorhandenen  Beschwerden  noch 
unter  einer  Fülle  hysterischer  Zutaten  bis  zur  Unauffindbarkeit  ver- 
stecken. 

Diese  Erweiterung  des  Herzens  durch  die  allseitige  Kompression 
der  eingeatmeten  Luft  kennzeichnet  der  Beginn  des  Blutdruckanstieges 
im  Vorhofsanteile  und  in  der  rechten  Herzhälfte.  Sollten  sich  einmal 
Zeichen  einer  gewissen  Lokalisation  der  Schädigung  im  Herzen  selbst 
finden,  also  vorzugsweises  Befallensein  eines  gewissen  Abschnittes  an 
der  Erweiterung,  oder  Komplikation  etwa  mit  der  Läsion  einer  Klappe, 
so  würden  wir  dieselbe  dementsprechend  am  Vorhofsteile  resp.  an  der 
rechten  Herzhälfte  zu  erwarten  haben.  Dagegen  wird  ein  Freibleiben 
der  linken  Herzkammer  und  der  Aorta  charakteristisch  sein,  da  man 
sich  leicht  davon  überzeugen  kann,  daß  auch  im  VALSALVAschen  Ver- 
suche die  Tätigkeit  der  linken  Kammer  und  die  Konfiguration  der  Aorta, 
wie  u.  a.  die  Kontrolle  am  fluoreszierenden  Schirm  erweist,  ungestört 
bleiben.  Würde  man  nun  etwa  beobachten,  daß  nach  der  Einwirkung 
eines  Traumas,  welches  sich  dem  in  unseren  vorerwähnten  Fällen  ver 
gleichen  läßt,  jemand  etwa  eine  Herzerweiterung  und  eine  vorwiegende 
Schädigung  des  linken  Herzens  oder  der  Aorta  davongetragen  hätte, 
so  wäre  das  eine  Aufforderung,  die  Erklärung  hier  von  einem  anderem 
Mechanismus  zu  fordern,  als  dem   der  Kompression  der  Atmungsluft 


lieber  Schädigungen  des  Herzens  etc.  37 

So  konnte  z.  B.  die  direkte  Fortleitung  des  Stoßes  wesentlich  mehr  in 
Betracht  kommen:  Wir  erinnern  uns,  daß  traumatische  Klappenzer- 
reißungen ganz  besonders  häufig  das  Ostium  arteriosum  sinistrum  be- 
treffen. Auch  Zerreißungen  und  Dehnungen  der  Gefäßwand  der  Aorta 
selbst  sind  gar  nicht  so  selten  traumatischen  Ursprunges.  Ganz  be- 
sonders aber  werden  wir  dem  Einflüsse  einer  etwa  gleichzeitigen  Muskel- 
anstrengung nachgehen  müssen;  denn  seit  den  Arbeiten  Thomas  und 
seiner  Schüler  ist  die  Exponierung  der  Aorta  thoracica  gegen  allgemeine 
Erhöhung  des  Blutdruckes  und  die  Bedeutung  dieses  Umstandes  für 
die  Pathologie  derselben  vielfach  gewürdigt.  Daß  aber  eine  solche 
Ueberlegung  sehr  wohl  gegebenen  Falles  praktisches  Interesse  haben 
kann,  mag  der  Auszug  einer  Krankengeschichte  zeigen,  den  ich  hier 
folgen  lasse. 

Ein  29-jähr.  Bahnarbeiter  versuchte  am  10.  März  1902  einen  bela- 
denen  Güterwagen  beim  Rangieren  mittels  eines  schweren  Brecheisens  auf- 
zuhalten. Das  ist  eigentlich  nicht  die  Aufgabe  eines  einzelnen  Mannes, 
aber  unser  Fat.  traute  sich  das  zu,  und  er  sah,  wie  er  selbst  schildert, 
das  Eisen  fest  in  der  Faust,  den  Atem  angehalten,  alle  Muskeln  ge- 
spannt, dem  Anpralle  des  Wagens  entgegen.  Indessen  hatte  der  Wagen 
zu  viel  Fahrt,  und  trotz  der  Aufbietung  seiner  letzten  Kräfte  wurde  dem 
Arbeiter  das  Brecheisen  aus  den  Händen  gerissen.  Er  bekam  dabei  einen 
heftigen  Ruck  durch  den  ganzen  Körper,  es  wurden  ihm  Arme  und  Schultern 
nach  abwärts  gezogen  und  der  Rumpf  energisch  über  die  Vorderfläche 
gebeugt.  Vollständig  zu  Falle  kam  er  nicht,  wohl  aber  in  gebückte 
Haltung,  die  Knie  eingeknickt,  die  Hände  den  Boden  berührend,  aus  der 
er  sich  nur  mühsam  und  mit  Unterstützung  wieder  aufrichten  konnte, 
denn  „es  versetzte  ihm  den  Atem",  er  bekam  Hustenreiz  und  das  Gefühl, 
als  ob  etwas  hinter  dem  Brustbein  nach  oben  dränge,  dazu  Herzklopfen 
und  tiefsitzenden  Schmerz  hinter  dem  Brustbein.  Er  hielt  sieh  zunächst 
nach  dem  Unfälle  10  Tage  lang  ruhig  zu  Hause,  ohne  einen  Arzt  zuzu- 
ziehen, versuchte  dann  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen,  konnte  das  aber 
nicht  durchführen,  da  er  durch  Herzklopfen,  tiefsitzenden  Schmerz  und 
das  Gefühl,  als  ob  etwas  hinter  dem  Sternum  nach  oben  drängte,  an  jeder 
Anstrengung  gehindert  wurde.  Am  25.  März  suchte  er  deshalb  einen 
Arzt  auf,  der  ihn  mit  der  Diagnose  einer  Herzerweiterung  an  die  Poli- 
klinik verwies.  Es  fand  sich  ein  kräftig  gebauter  Mann  von  gutem  Er- 
nährungszustande, an  dessen  peripheren  Arterien  Erweiterung  und  Schlän- 
gelung auffielen.  Der  Puls  war  frequent,  ca.  120  in  der  Ruhe,  stieg  aber 
schon  nach  leichten  Anstrengungen  bis  gegen  160,  trotz  guter  Füllung 
der  Arterien  nicht  groß.  Der  Herzstoß  war  verbreitert,  reichte  noch  etwas 
außerhalb  der  linken  Mamillarlinie.  Die  Größe  des  Herzens  (Röntgen- 
untersuchung) war  normal,  die  Aktion  schwach,  die  Töne  rein.  Der  Aorten- 
bogen war  normal  konfiguriert,  aber  breiter  als  normal.  Sonst  nichts  Auf- 
fallendes. Im  Verlaufe  der  Behandlung,  die  sich  bis  zum  Frühjahre  1903 
erstreckte,  bekam  der  zweite  Ton  an  der  Aorta  allmählich  klingenden 
Charakter,  dazu  kam  eine  geringe  Dämpfung  rechts  oben  neben  dem 
Sternum  und  die  Verbreiterung  des  Aorten  Schattens  im  Röntgenbilde  blieb 
die   alte.     Die  Neigung   zu  erhöhter  Pulsfrequenz,   besonders  bei  Anstren- 


38  T.  L.  von  Criegern, 

gangen,  blieb  bestehen  nnd  mitunter  trat  Irregalarität  des  Pulses  auf. 
Es  hatte  sich  also  schließlich  eine  deutliche  Sklerose  des  Aortenbogens 
ausgebildet. 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  dieser  Fall  für  den  ersten  Anblick 
viele  Berührungspunkte  mit  denen  unseres  Themas  aufweist.  Die  cha- 
rakteristische Knickung  des  Rumpfes  über  seine  Vorderfläche  ist  vor- 
handen; sie  erfolgte  zwar  nicht  durch  Druck,  sondern  durch  Zug,  in- 
dessen kann  dies  in  mechanischer  Hinsicht  wohl  einerlei  sein.  Das 
Anhalten  des  Atems  gab  dieser  Kranke  sogar  noch  spontan  an.  Auch 
die  komplizierende  körperliche  Anstrengung  war  vorhanden:  aber  sie 
beherrschte  doch  ungleich  mehr  die  anderen  Momente,  als  in  den  erst- 
besprochenen Fällen.  Wenn  auch  der  Kranke  ein  sehr  muskelkräftiger 
Mann  und  als  solcher  bekannt  war,  so  muß  doch  sogar  für  einen  solchen 
eine  außergewöhnliche  Anstrengung  vorgelegen  haben.  Denn  es  handelt 
sich  bei  dem  Aufhalten  des  Wagens  durch  einen  einzelnen  Mann  um 
ein  Bravourstück,  und  der  Ausgang  erwies,  daß  er  seine  Kräfte  über- 
schätzt hatte.  Leider  fehlt  die  genaue  ärztliche  Beobachtung  aus  der 
Zeit  unmittelbar  nach  dem  Unfälle.  Es  ist  wohl  möglich,  daß  eine 
akute  Herzerweiterung  bestanden  hat;  jedenfalls  lag  eine  solche  am 
25.  März  nicht  mehr  vor.  Der  Verdacht,  der  von  anderer  Seite  aus- 
gesprochen wurde,  hat  sich  wohl  auf  die  täuschende  Verbreiterung  des 
Herzstoßes  bezogen.  Dagegen  fand  sich  noch  eine  Erweiterung  des 
Aortenbogens :  und  die  subjektiven  Empfindungen  unmittelbar  nach  der 
Katastrophe,  welche  der  Kranke  angab,  lassen  darauf  schließen,  daß  sie 
bei  dieser  Gelegenheit  entstanden  ist.  So  kann  dieselbe,  und  das  halte 
ich  für  das  Wahrscheinlichere,  die  einzige  Folge  gewesen  sein.  Offenbar 
wird  bei  einer  solchen  Druckwirkung  der  schwächere  Teil  zuerst  nach- 
geben: die  Aorta,  wenn  Arteriosklerose  besteht,  das  Herz,  wenn  die 
Aorta  aushält  und  das  Herz  geschwächt  ist.  Nun  fanden  sich  aber 
Zeichen  peripherer  Arteriosklerose  schon  bei  der  ersten  Untersuchung 
am  25.  März,  die  doch  gewiß  nicht  erst  nach  dem  Unfälle  entstanden 
war,  also  widerspricht  dies  unserer  Meinung  nicht.  Die  im  späteren 
Verlaufe  beobachtete  Zunahme  der  Symptome  der  Erkrankung  des 
Aortenbogens  könnte  durchaus  im  Sinne  der  Lehren  der  TnoMAschen 
Schule  über  die  Lokalisation  der  arteriosklerotischen  Prozesse  gedacht 
werden. 

Alles  in  allem  zusammengefaßt,  kann  ich  den  letzten  Fall  also  nicht 
als  ein  Beispiel  unseres  Themas,  sondern  als  ein  solches  für  die  Schä- 
digung des  Herzens,  oder  richtiger  der  Aorta,  durch  üeberanstrengung 
ansehen.  Trotzdem  schien  mir  seine  kurze  Mitteilung  hier  zweckmäßig, 
da  er  zeigt,  wie  nahe  die  beiden  Vorgänge  nebeneinanderliegen  können. 
Wenn  man  sich  nun  auch  von  einem  Zusammenhange  einer  Schädigung 
des  arteriellen  Teiles  des  linken  Herzens  durch  die  Kompression  der 


lieber  Schädigucgen  des  Herzens  etc.  39 

Atmungsluft  zunächst  keine  Rechenschaft  geben  kann,  so  kann  man 
doch  daraufhin  in  der  Medizin  niemals  die  Unmöglichkeit  behaupten. 
Jedenfalls  wäre  die  Mitteilung  eines  beweiskräftigen  Falles  dieser  Art 
eines  großen  Interesses  gewiß,  und  nicht  weniger  die  Aufklärung  des 
Zusammenhanges. 

Die  in  der  vorliegenden  Arbeit  verwendeten  Fälle  entstammen  dem 
Materiale  der  medizinischen  Universitätspoliklinik  in  Leipzig;  ich 
spreche  auch  an  dieser  Stelle  dem  hochverehrten  Leiter  derselben, 
Herrn  6eh.-Rat  Prof.  Dr.  F.  A.  Hoffmann,  meinen  verbindlichsten 
Dank  aus  fOr  die  Ueberlassung  derselben  und  die  Nachprüfung  der 
Befunde. 


Aus  der  medizinischen  Universitätsklinik  in  Jena. 
Direktor:  Geh.  Med.-Rat.  R.  Stintzing. 


Nachdruck  verboten. 


IV. 
Ein  Fall  von  Kopftetanus  (E.  Rose). 

Von 

Privatdozent  Dr.  J.  Gkrober, 

Assistent  der  Klinik. 

(Hierzu  1  Abbildung  im  Texte.) 


Beim  experimentell  erzeugten  Tetanus  am  Tiere  ist  es  die 
Regel,  daß  an  derjenigen  Körpergegend,  an  der  die  TetanusbazUlen  in 
das  Gewebe  eingeführt  worden  sind,  die  Erscheinungen  des  Starrkrampfes 
zuerst  auftreten.  Erfolgte  z.  B.  die  Infektion  an  einer  Hinterextremität, 
so  werden  an  dieser  die  ersten  Muskelkrämpfe  beobachtet.  H.  Meter 
hat  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  angenommen,  daß  das  Tetanus- 
toxin  in  der  Nervensubstanz  selbst,  nicht  auf  dem  Wege  der  Blut-  oder 
Lymphbahnen,  im  Körper  zentralwärts  wandert  und  sich  weiter  aus- 
breitet, vor  allem  das  Gehirn  und  das  Rückenmark  selbst  erreicht. 

Bei  dem  mittelst  natürlicher  Infektion  entstandenen  Wund- 
starrkrämpfe des  Menschen  ist  der  Verlauf  ein  anderer.  Auch  hier 
wandert  das  Gift  in  den  Nerven  zu  den  motorischen  Ganglienzellen. 
Aber  einerlei,  wo  die  Eintrittspforte  der  Bazillen  gelegen  ist,  aller- 
meistens  tritt  zuerst,  soweit  wir  klinisch  beobachten  können,  der  Krampf 
der  Masseteren  auf,  dem  dann  Schluckbeschwerden,  Risus  sardonicus, 
und,  je  nach  dem  Verlauf  verschieden,  sich  langsamer  oder  schneller 
die  bekannten  anderen  Erscheinungen  der  Muskelstarre  und  Krampf- 
anfälle anschließen.  Auch  wenn  z.  B.  die  Infektion  am  Beine  erfolgte, 
so  tritt  nicht,  wie  im  Experimente,  hier  der  erste  Krampfanfall  auf, 
sondern  die  Krankheit  nimmt  regelmäßig  den  geschilderten  ganz  anders- 
artigen Verlauf.  Wie  der  motorische  Ast  des  N.  trigeminus,  der  die 
Masseteren  versorgt,  dazu  kommt,  der  erste  Nerv  zu  sein,  der  von  dem 
Gifte  befallen  oder  doch  beeinflußt  wird,  ist  noch  nicht  bekannt,  und 
keine  seiner  anatomischen  und  physiologischen  Eigenschaften  dürfte 
geeignet  sein,  einen  Anhaltepunkt  dafür  zu  geben. 

Wir  wissen  nicht,  ob  bei  künstlicher  Infektion  am  Menschen  eine 


J.  Grober,  Ein  Fall  von  Kopftetanus  (E.  Rose).  41 

dem  Tierversuche  gleichende  Entwickelung  der  Änfangsphänomene  beob- 
achtet wird.  Die  wenigen  traurigen  Fälle  von  Laboratoriumsinfektionen 
sind  nicht  beschrieben  worden. 

Nur  eine  Ausnahme  von  der  Regel  gibt  es;  wir  kennen  eine  Art 
von  Tetanusfällen  am  Menschen,  bei  der  zuerst  Nerven  im  Gebiete  der 
lokalen  Eingangspforte  die  Erscheinungen  der  Starrkrämpfe  zeigen,  und, 
freilich  sich  häufig  ihnen  bei  der  raschen  Ausbreitung  des  Prozesses 
superponierend,  erst  dann  die  anderen  Neryengebiete  ergriffen  werden. 
Das  ist  der  sogenannte  Eopftetanus,  der  zuerst  von  E.  Rose  eingehend 
beschrieben  wurde,  ein  verhältnismäßig  seltenes  Leiden,  von  dem  bisher 
überhaupt  erst  gegen  8U  Fälle  bekannt  geworden  sind,  von  denen  etwa 
20  geheilt  wurden. 

Der  Kopftetanus  entsteht,  soweit  wir  wissen,  nur  nach  Verletzungen 
im  Gesichte  und  am  Kopfe,  die  mit  Tetanuskeimen  infiziert  wurden.  In 
der  RosEschen  Zusammenstellung  betreffen  die  meisten  der  Verletzungen 
die  Stirn,  die  Augengegend,  die  Nase  und  Wangen,  aber  auch  kariöse 
Zähne,  Kieferfrakturen  und  Wunden  am  Schädeldache  werden  als  Ein- 
gangspforten bei  dieser  Abart  des  Wundstarrkrampfes  angeführt.  Das 
Ursprungsgebiet  beschränkt  sich  also  nicht  etwa  auf  die  Ausbreitungs- 
zone eines  bestimmten  Nerven,  wie  man  früher  vielfach  annahm.  Nach 
einer  meist  verhältnismäßig  langen  Inkubation  —  länger  als  bei  anderen 
Tetanusfällen  —  treten  die  ersten  Erscheinungen  an  den  Schlundmuskeln 
auf,  die  in  wirkliche  Schlingkrämpfe  verfallen ;  dann  erst  folgen,  durch- 
aus, zunächst  wenigstens,  in  den  Hintergrund  tretend,  Starre  der 
Masseteren  und  der  Muskeln  des  oberen  Teiles  des  Rumpfes,  der  Arme, 
des  Bauches  und  Rückens,  und  schließlich  der  Beine.  Wegen  der  sehr 
häufig  ganz  im  Vordergrunde  aller  klinischen  Erscheinungen  stehenden 
Schlingkrämpfe  sind  in  früherer  Zeit  Verwechselungen  mit  der  Wut 
häufig  vorgekommen  und  von  E.  Rose  in  zahlreichen  Fällen  aufgedeckt 
worden.  Nach  ihnen  nannte  er  die  von  ihm  zuerst  beschriebene  Er- 
krankung Tetanus  hydrophobicus,  später  hydrophobicoides,  um  immer 
noch  vorkommende  Verwechselungen  zu  verhüten. 

Abgesehen  von  der  großen  Heftigkeit  der  Schlingkrämpfe  kann  das 
vollendete  Krankheitsbild  durchaus  einem  anderen  traumatischen  Tetanus 
entsprechen  *) ;  in  den  meisten  Fällen  unterscheidet  sich  aber  der  Kopf- 

1)  Nur  ein  Fall,  von  Adrian  publiziert,  bietet  ähnliche  Verhältnisse 
einer  lokalen  Wirkung  des  Tetanustoxins.  Es  handelte  sich  um  einen 
sogenannten  idiopathischen  Tetanus,  bei  dem,  ohne  daß  es  möglich  war, 
eine  Wunde  als  Eingangspforte  nachzuweisen ,  bestimmte  regionär  zu- 
sammengehörige Muskelgruppen  von  der  tetanischen  Starre  befallen  waren. 

Einen  weiteren  außergewöhnlichen  Fall  hat  Prbobrashbnski  beschrieben. 
Xach  einer  Verletzung  am  unteren  linken  Augenlid  stellte  sich  neben  den 
anderen  Erscheinangen  des  Tetanus  auch  ein  Krampf  im  Gebiete  beider 
Xn.  faciales  ein.  Die  Autopsie  ergab  keinen  Anhaltepunkt  dafür,  daß  Pr. 
diesen  Fall  als  Tetanus  bulbaris  bezeichnen  darf. 


42  J.  Grober, 

tetanus  insofern  wesentlich  von  den  anderen  Fällen  von  Tetanus  trau- 
maticus,  als  bei  den  letzteren  nur  in  außerordentlich  spärlicher  Zahl  — 
wenn  man  von  den  Endstadien  des  Krankheitsverlaufes  absieht  —  Läh- 
mungserscheinungen auftreten^),  die  Reizungssymptome  dagegen  das 
ganze  Bild  beherrschen,  wogegen  bei  ersterem  aber  gerade  die  Lähmung 
eines  Nerven,  des  Facialis  der  verletzten  Seite,  freilich  keine  für  den 
Verlauf  wesentliche,  aber  stark  in  die  Augen  fallende  Erscheinung  dar- 
stellt, welche  dem  Kopftetanus  seinen  heute  gebräuchlichsten  Namen 
Tetanus  facialis  gegeben  hat 

Aus  dem  Tierexperimente  wissen  wir  (A.  Knorr),  daß  der  Tetanus- 
bazillus  sowohl  ein  die  Erregbarkeit  der  motorischen  Ganglienzellen 
steigerndes  und  ein  dieselbe  abschwächendes  Toxin,  ein  Krampf-  und 
ein  Lähmunsgift  produziert;  das  letztere  kommt  aber  bei  dem  Wund- 
starrkrämpfe des  Menschen  mit  natürlicher  Infektion  für  gewöhnlich 
nicht  oder  erst  als  Causa  mortis  (Zwerchfellslähmung)  zur  Geltung.  Es 
müssen  besondere  Ursachen  vorhanden  sein,  die  die  frühere  Manifestation 
desselben  beim  Kopftetanus  bedingen  und  sie  gerade  in  einem  der  In- 
fektionsstelle stets  nahe  gelegenen  Nerven  auftreten  lassen. 

Wir  beobachteten  folgenden  Fall  von  Kopftetanus: 

Ein  46-jähr.  Gerbereiarbeiter  L.  V.  aus  N.  wurde  mit  „Krämpfen" 
in  die  Klinik  gebracht.  Aus  der  Anamnese  war  von  Wichtigkeit,  daß  er 
aus  gesimder  Familie  stamme,  verheiratet  sei  und  mehrere  ebenfalls  gesunde 
Kinder  habe.  Er  selbst  gab  an,  auÜer  den  Kinderkrankheiten  und  einer 
Lungen-  und  Rippenfellentzündung  von  seinem  17. — 44.  Jahre  an  epi- 
leptischen Krämpfen  gelitten  zu  haben,  die  seit  2  Jahren  ausgesetzt, 
nun  aber  wieder  begonnen  hätten.  Das  Bewußtsein  habe  er 
dabei  nie  ganz  verloren,  habe  sich  aber  setzen  müssen  um  nicht  zu  fallen, 
es  sei  ihm  schwindelig  geworden  und  es  habe  ihn  „geschüttelt^^,  die  Krämpfe 
seien  früher  in  den  Armen  und  Beinen  zu  bemerken  gewesen;  jetzt  „säßen 
sie  im  Hals.^     Potus  und  spezifische  Infektion  werden  negiert 

Seine  weiteren  Klagen,  daß  er  schlecht  schlucken  und  den  Mund 
nicht  ordentlich  aufmachen  könne,  lenkte  unsere  Aufmerksamkeit  sofort 
auf  diese  Symptome  des  Tetanus  traumaticus.*  Auf  Befragen  gab  er  an, 
daß  er  am  31.  Dez.  1902  abends  vor  seiner  Haustür  habe  fegen  wollen, 
dabei  sei  er  ausgeglitten  und  mit  der  linken  Stirnseite  auf  eine  Kante 
des  Schwellensteines  gefallen,  an  der  sich  nach  seiner  Angabe  keine 
Erde  befunden  hat.  Eine  kleine,  gegen  2  cm  lange  Rißwunde,  die  geblutet 
habe,  sei  entstanden ;  er  habe  sie  mit  frischem  Wasser  ausgewaschen  und 
sofort  mit  Heftpflaster  zugeklebt.  Die  Wunde  hat  etwas  geeitert,  sie 
heilte  langsam,   einen  Arzt  hatte  er  aber  deswegen  nicht  zugezogen.     Am 

16.  Jan.   früh   konnte   er   die   Kiefer   beim   Essen   schlecht   bewegen,   am 

17.  Jan  mußte  er  sich  das  Brot  mit  dem  Finger  in  den  Mund  schieben, 
am  18.  Jan.  konnte  er  feste  Bissen  überhaupt  nicht  mehr  einführen  und 
sie  auch  nicht  mehr  schlucken.     Seitdem  hat  er  anfallsweise  Krämpfe  an- 


1)  Die  vielfach  behaupteten  Augenmuskellähmungen  hat  E.  Rose  auf 
ihren  wirklichen  Wert  zurückgeführt. 


Ein  Fall  von  Kopftetanas  (E.  Boss).  43 

geblich  im  ganzen  Körper,  die  er  aber  auf  genaueres  Befragen  in  den 
Kinnbacken,  im  Schlund,  im  Rücken  und  auf  der  Brust  lokalisiert.  Arme 
und  Beine  könne  er  frei  bewegen.  Er  glaubt,  seine  Krankheit  entspreche 
einem  neuen  Auftreten  der  früheren  epileptischen  Krämpfe,  ebenso  seine 
Umgebung.     Am  19.  Jan.  abends  wurde  er  in  die  Klinik  gebracht. 

Die  Untersuchung  des  ziemlich  großen  und  kräftigen  Mannes  ergab 
zunächst,  daß  die  inneren  Organe  gesund  waren. 

Auf  der  linken  Stirnseite  befand  sich  eine  kleine,  halbgeschlossene, 
teilweise  mit  Borken  bedeckte,  teilweise  in  Vemarbung  begriffene  Wunde. 
Unter  der  Borke  befand  sich  nur  wenig  Eiter,  der  keine  Tetanusbazillen, 
nur  einige  spärliche  Staphylokokken  enthielt.  Mäuse,  damit  subkutan  in- 
fiziert, zeigten  weder  Erscheinungen  von  Tetanus  noch  von  Sepsis.  Auch 
die  Granulationen  am  Orunde  der  Bißwunde  waren  irei  von  Tetanus- 
bazillen. Die  Wunde  wurde  stark  antiseptisch  behandelt  und  ebenso 
verbunden. 

An  der  Haut  des  ganzen  Körpers  fand  beständig  eine  sehr  lebhafte 
Schweißsekretion  statt,  so  daß  die  Plüssigkeitstropfen  auf  der  Haut  hingen 
und  die  Bettwäsche  durchnäßten;  darüber  hatte  der  Kranke  auch  schon 
zu  Hause  geklagt. 

Die  Seusibilität  war  vollkommen  normal  ^),  die  Reflexe  nicht  gesteigert, 
nur  bezüglich  der  Motilität  fanden  sich  Abweichungen  von  der  Norm. 
Von  den  Muskeln  des  Körpers  waren  nur  die  Bauchmuskeln  beiderseits 
nicht  ganz  zu  entspannen  und  der  linke  M.  pectoralis  war  leicht  kontra- 
hiert, fühlte  sich  fest  an,  härter  wie  der  rechte,  und  konnte  nur  weniger 
wie  dieser  bewegt  werden.  Die  Brustmuskeln,  die  Arm-  und  Beinmus- 
kulatur, die  äußeren  Nacken-  und  Halsmuskeln  waren  alle  weich,  dabei 
frei  und  leicht  beweglich,  ebenso  die  des  Rückens,  wenigstens  bei  der 
Untersuchung  am  ersten  Tage  seines  klinischen  Aufenthaltes.  Er  lag  im 
Bette  mit  der  ganzen  Länge  des  Rückens  bequem  auf.  Die  Masseteren 
aber  waren  fest  kontrahiert,  fehlten  sich  bretthart  an  und  ließen  den 
Kiefern  nur  so  geringen  Spielraum,  daß  die  Zahnreihen  höchstens  Vs  ^^ 
voneinander  entfernt  werden  konnten.  Die  Muskelwülste  an  beiden  Seiten 
des  Mundes  waren  so  fest,  daß  man  darauf  den  tympanitischen  Ton  der 
Mundhöhle  perkutieren  konnte. 

Schluckversuche  mit  Flüssigkeiten  zeigten,  daß  es  dem  Kranken  schwer 
wurde,  diese  in  und  durch  die  Speiseröhre  zu  bringen,  festere  Bissen  von 
breiiger  Konsistenz  brachte  er  mit  erheblichen  Beschwerden,  feste  Brocken 
überhaupt  nicht  herunter.  Auch  diese  Erscheinungen  sollten  an  Intensität 
in  den  letzten  Tagen  erheblich  gewechselt  haben.  Jeder  Schluckversuch 
mit  festen  Speisen  rief  einen  an  den  Bewegungen  der  äußeren  Halsmuskeln 
und  an  dem  Hinauftreten  von  Zungenbein  und  Kehlkopf  leicht  erkenn- 
baren, einige  Minuten  andauernden  Schlingkrampf  hervor,  bei  dem  die 
Atmung  nicht  beeinflußt  wurde.  Bei  flüssigerer  Kost  traten  manchmal 
Anfalle  von  ähnlicher  Art,  aber  geringerer  Stärke,  auf. 

Bei  der  Untersuchung  der  Masseterenkontraktion  und  bei  den  Sprech- 
bewegungen der  Lippen  war  eine  leichte,  maskenartige  Ruhe  der  linken 
Oesichtshälfte  auch  trotz  des  bestehenden  Risus  sardonicus  auf- 


1)  Wir  haben  auf  die  von  E.  Rosb  hervorgehobene  Anästhesie  im 
Gebiete  der  beiden  sensiblen  Aeste  des  Quintus  geachtet,  sie  aber  nicht 
gefunden. 


44  J.  Grober, 

gefallen.  Die  nähere  Prüfung  ergab,  daß  eine  deutliche  Parese  des  linken 
Facialis  vorhanden  war,  von  der  der  Kranke  nichts  wußte.  Stirnkrausen 
konnte  links  nicht  so  gut  ausgeführt  werden  wie  rechts,  ebenso  war  der 
Augenschluß  links  mangelhafter.  Beim  Nasenrümpfen  blieb  die 
linke  Gesichtshälfte  fast  ganz  glatt,  rechts  zeigte  sich  die  gewöhnliche 
Falte.  Der  Mund  stand  etwas  schief,  und  zwar  hing  der  linke  Mund- 
winkel leicht  herab.  Auch  beim  Zähnefletschen  zeigte  sich  eine 
kleine,  aber  deutliche  Differenz  zu  Ungunsten  der  linken  Seite;  deutlicher 
wurde  die  Parese,  wenn  dem  Kranken  aufgegeben  wurde,  den  Mund  nach 
einer  Seite  zu  verziehen,  zu  pfeifen  oder  zu  lachen.  Einen  Einblick  in 
die  Mundhöhle  zu  gewinnen,  um  die  Bewegungen  anderer  Muskeln  zu 
beobachten,  gelang  uns  wegen  des  bestehenden  Trismus  nicht.  Der  Kranke 
konnte  uns  ebensowenig  wie  seine  Angehörigen  sagen,  wann  die  Lähmung 
des  linken  Facialis  eingetreten  sei,  da  sie  sie  nicht  bemerkt  hatten. 

Die  elektrische  Untersuchung  ergab  auf  der  rechten  und 
linken  Seite  am  Facialis  keine  Abweichung  von  der  Norm. 

Die  Nacht  —  der  Kranke  war  am  Abend  in  die  Klinik  gekommen  — 
verbrachte  er  leidlich.  Am  nächsten  Morgen  früh  wurde  ihm  auf  der 
linken  Seite  unter  die  Brusthaut  100  A.-E.  des  BEHRiNGschen  Tetanus- 
serums eingespritzt.  Dasselbe  war  aus  dem  Trockenserum,  das  wir  jeder- 
zeit vorrätig  halten,  steril  hergestellt  worden.  An  diesem  Morgen  wurde 
an  ihm  bei  der  klinischen  Vorstellung  genau  der  gleiche  Befund  auf- 
genommen, wie  am  vorhergehenden  Abend,  auch  im  Laufe  des  Tages 
änderte  sich  sein  Befinden  weder  subjektiv  noch  objektiv. 

Am  21.  Jan.,  dem  folgenden  Tage,  fand  sich  eine  neue  Erscheinung: 
der  rechte  Muse,  pectoralis  war  fest  angespannt,  ebenso  hatte  die  Starre 
der  Bauchmuskeln,  insbesondere  des  M.  rectus  abdominis  zugenommen. 
Auch  an  diesem  Tage  wurden,  diesmal  auf  die  rechte  Seite,  wieder  100  A.-E. 
injiziert.  Da  bei  dem  Verbandwechsel  die  Wunde  nur  wenig  fortschrei- 
tende Granulationen  zeigte,  und  außerdem  in  einer  Ecke  derselben  sich 
Eiter  angesammelt  hatte,  der  durch  einen  schwer  zu  sondierenden  feinen 
Kanal  aus  der  Tiefe  kam,  schlugen  wir  dem  Kranken  die  Excision  der 
Wunde  vor.  Wir  wurden  dabei  von  der  Ueberlegung  geleitet,  daß  bei 
der  langsamen  Ausbreitung  des  Prozesses  bisher  nur  wenig  Tetanusgift 
zur  Abgabe  und  Bindung  an  das  Nervensystem  gelangt  zu  sein  schien, 
daß  eine  weitere  Produktion  desselben  seitens  versteckt  liegender  Bazillen 
aber  durchaus  wahrscheinlich  und  gefährlich  sei.  Der  Kranke,  dem  der 
Ernst  seiner  Lage  woh*l  zum  Bewußtsein  gekommen  war,  ging  auf  unseren 
Vorschlag  ein.  Herr  Privatdozent  Dr.  GBOHfi  von  der  chirurgischen  Klinik 
hatte  die  Liebenswürdigkeit,  die  Operation  sofort  in  ScHLKicnscher  lokaler 
Narkose  auszuführen;  ihm  verdanken  wir  auch  die  Mitteilung,  daß  in  dem 
gehärteten  und  geschnittenen  excidierten  Gewebestück  sich  nirgends  Tetanus- 
bazillen fanden. 

Noch  am  Abend  dieses  Tages  bekam  der  Kranke  plötzlich  einen  hef- 
tigen Krampfanfall.  Die  Kontraktion  aller  bisher  ergriifenen  Muskeln 
nahm  währenddessen  erheblich  zu;  neu  beteiligten  sich  auch  die  Muskeln 
des  Rückens  an  dem  Vorgange,  so  daß  ein  deutlicher  Opisthotonus  zu 
Stande  kam.  Die  Kiefer  konnten  während  dieses  beinahe  ^/g  Stunde  dau- 
ernden Anfalles  kaum  um  1 — 2  mm  geöffnet  werden.  Die  Haut  war  durch 
heftigen  Schweißausbruch  stark  benetzt.  Die  Schlingkrämpfe  traten  stärker 
auf,    auch   schon    beim    Schlucken    von   Flüssigkeiten.      Die    Muskeln    des 


Ein  Fall  von  Kopftetanas  (EX  Rose), 


45 


Kopfes,  außer  den  Masseteren,  die  der  Arme  und  der  Beine  waren  frei, 
auch  die  Zwerchfellsatmung  ging  ohne  Störung  von  Statten.  Eine  Ver- 
schlimmerung der  Symptome  der  linken  Facialislähmung  konnte  während 
des  Anfalles  nicht  beobachtet  werden.  Die  elektrische  Untersuchung  ergab, 
wie  vorher,  auch  jetzt  beiderseits  normale  Verhältnisse.  Der  Kranke  erhielt 
'Ruhe  durch  Morphin  und  Chloralhydrat. 

Am  22.  Jan.  erreichten  die  Symptome  des  Wundstarrkrampfes  ihren 
Höhepunkt,  die  Krampfanfälle  wiederholten  sich  etwa  alle  Stunden,  dauerten 
jedesmal  Y^  Stunde,  so  daß  es  notwendig  wurde,  dem  Kranken  öfter 
Morphin  zu  geben.     Die  Anfälle  unterschieden  sich  in  ihren  Eigenschaften 


nicht  von  dem  des  vorigen  Tages,  nur  waren  jetzt  auch  alle  Bauch- 
muskeln bretthart  gespannt,  nicht  minder  die  gesamte  Hücli;enmuskulatur 
und  ebenso  schien  es,  als  ob  neben  den  großen  Muskeln,  die  vom  Schulter- 
und  Beckengürtel  zu  den  entsprechenden  Gliedern  führten,  auch  die  am 
zentralsten  gelegenen  Muskeln  des  Oberarmes  und  Oberschenkels  an  der 
Kontraktur  beteiligt  wären.  In  den  Anfällen  war  die  Atmung  erheblich 
erschwert,  anscheinend  beteiligten  sich  auch  die  Zwischenrippenmuskeln 
und  das  Zwerchfell  teilweise  an  dem  Starrkrämpfe  und  die  auxiliären 
Atemmuskeln  wurden  mit  in  Anspruch  genommen.  Die  Bauchpresse  funk- 
tionierte mangelhaft,  so  daß  für  Stuhl-  und  Blasenentleerung  gesorgt  werden 
mnßte. 

An   diesem   Tage   wurde    die  beigefügte  Photographie   aufgenommen; 
dabei  war  dem  Kranken  aufgegeben   worden,   die  Augen   mit   aller  Kraft 


46  X  Grober, 

zu  schließen.  Die  Abbildung  zeigt  deutlich,  daß  nur  die  rechte  Seite  an 
der  aufgegebenen  mimischen  Bewegung  teilnimmt.  Alle  Falten  an  der 
Nasenwurzel  gehen  von  rechts  unten  nach  links  oben;  die  kleinen  Falten 
am  geschlossenen  Lid  fehlen  links ;  die  Nasolabialfalte  ist.  links  verstrichen 
und  der  untere  Teil  der  Nase  durch  die  Kontraktion  der  rechtsseitigen 
Muskeln  nach  dieser  Seite  hinübergezogen.  Das  linke  obere  Augenlid 
erscheint  infolge  der  Lymphstauung  durch  Operation  und  Verband  etwas 
geschwollen. 

Am  23.  Jan.  war  der  Zustand  der  gleiche,  nur  glaubten  wir  fest- 
stellen zu  können,  daß  der  rechte  M.  pectoralis  erheblich  weicher  als  am 
vorhergehenden  Tage  anzufühlen  war.  Die  elektrische  Untersuchung  ergab 
wieder  normale  Verhältnisse  auf  beiden  Seiten.  Die  Ej-ampfan&lle  traten 
nicht  ganz  so  häufig,  aber  mit  der  gleichen  Stärke  auf,  wie  am  vorigen 
Tage.  Die  Nahrung  bestand  nur  aus  flüssigen  und  breiigen  Stoffen,  die 
der  Kranke  durch  eine  günstig  gelegene  Zahnlücke  aufnehmen  konnte. 
Festere  Speisen  lösten  sofort  einen  Schlingkrampf  auß,  der  meist  in  einen 
Krampfanfall  des  ganzen  Körpers  überging.  Auch  bei  der  Au&ahme  von 
Flüssigkeiten  geschah  dies  einige  Male.  Während  der  großen  Krampf- 
anfälle konnte  er  überhaupt  nichts  zu  sich  nehmen,  es  schien  sogar,  als 
wenn  einige  Male  der  Anblick  von  Speise  und  Getränk  genügte,  einen 
Elrampf  der  Schlundmuskulatur  hervorzurufen.  Auf  die  Gefahr  des  Ver- 
schluckens  aufmerksam  gemacht,  bemühte  der  Kranke  sich,  dies  zu  ver- 
meiden, wie  er  überhaupt  durch  sein  verständnisvolles  Entgegenkommen 
die  Behandlung  und  die  Krankenpflege  sehr  erleichterte. 

Die  Temperatur  hatte  während  der  vorigen  Tage  nur  einmal  nach 
der  Operation  im  Rektum  die  Höhe  von  38,3  ^  en*eicht ;  sie  war  und  blieb 
sonst  stets  normal. 

In  den  nächsten  Tagen  wurden  die  Starrkrämpfe  allmählich  seltener 
und  schwächer,  sie  dauerten  nicht  mehr  so  lange  und  waren  nicht  mehr 
von  so  heftigen  Schweißen  begleitet  wie  vorher.  Die  Kontrakturen  der 
einzelnen  Muskeln  lösten  sich  gleichfalls  in  den  folgenden  Tagen,  und 
zwar  wurden  zuerst  die  Atembewegungen  wieder  &ei;  es  folgten  die  Muskeln 
der  Oberarme  und  Oberschenkel,  sodann  die  des  Rückens  und  des  Bauches. 
Am  längsten  blieben  die  Kontrakturen  bestehen  im  linken  M.  pectoralis 
und  in  den  beiden  Masseteren.  Hier  konnten  wir  beobachten,  wie  von 
Tag  zu  Tag  die  Entfernung  der  beiden  Zahnreihen  bei  Oeifnung  des 
Mundes  zunahm,  jedoch  so,  daß  dieser  Zustand  im  Laufe  eines  Tages  sich 
manchmal  erheblich  veränderte;  er  gab  an,  er  könne  Flüssigkeit  ganz 
gut  aus  dem  Becher  trinken,  ein  anderes  Mal  gelänge  es  ihm  nur  mit 
dem  Strohhaljae,  den  er  während  des  Höhestadiums  der  Erkrankung  zu 
benutzen  gelernt  hatte.  Die  Wülste  der  Kiefermuskeln  waren  als  harte 
Masse  noch  in  den  ersten  Tagen  des  Februar  (3.  Febr.)  deutlich  wahrzu- 
nehmen. So  lange  dauerte  es  auch,  bis  die  Speisenaufnahme  wieder  voll- 
ständig normal  geworden  war,  d.  h.  bis  er  im  stände  war,  auch  wieder 
feste  Speisen  zu  genießen,  ohne  daß  dadurch  Krämpfe  der  Schlundmus- 
kulatur hervorgerufen  wurden.  Ebenso  wurden  die  letzten  Krampfanfälle, 
die  zum  Schluß  meist  mehrere  Male  in  der  Nacht  auftraten  und  etwa 
^/j  Stunde  dauerten,  um  diese  Zeit  beobachtet.  Dieselben  betrafen  be- 
sonders die  Nackenmuskulatnr  und  die  Masseteren,  einzeln  auch  die  Rücken- 
muskeln. Die  noch  ein  wenig  kontrahierten  und  starr  gebliebenen  Muskeln 
wurden  allmählich  weicher  und  konnten  gut  innerviert  werden. 


Ein  Fall  von  Kopftetanus  (E.  Rose).  47 

Die  Heilung  der  Excisionswunde  auf  der  linken  Stirnseite  machte 
sehr  gute  Fortschritte,  so  daß  am  10.  Febr.  eine  Transplantation  vom 
linken  Oberschenkel  auf  den  Defekt  —  gleichfalls  von  Herrn  Dr.  Orohä  — 
vorgenommen  werden  konnte,  die  ein  kosmetisch  nach  Lage  der  umstände 
vortreffliches  Brcsultat  lieferte.  Ein  leichtes  Oedem  des  linken  Oberlids 
blieb  noch  einige  Zeit  bestehen,  verschwand  dann  aber. 

Nicht  ganz  so  glatt  wie  die  Genesung  von  den  Symptomen  des  Tetanus 
ging  die  Besserung  der  Facialislähmung  vor  sich.  Wie  wir  bereits  gesehen 
haben,  ergaben  die  ersten  Prüfungen  der  elektrischen  Erregbarkeit  normale 
Werte  ftlr  beide  Seiten  bezüglich  des  Nervus  facialis  und  der  von  ihm 
versorgten  Muskeln.  In  der  Folge  wurden  die  wiederholten  Untersuchungen 
etwas  durch  den  Verband  erschwert.  Am  25.  Jan.  konnte  zum  ersten 
Male  und  von  da  ab  beständig  eine  geringe  Herabsetzung  der  galvanischen 
und  faradischen  Erregbarkeit  vom  Nerven  her  auf  der  linken  Seite  fest- 
gestellt werden;  eine  Stromstärke,  die  rechts  deutliche  Zuckungen  hervorrief, 
bewirkte  dies  links  noch  nicht.  Die  vom  N.  facialis  versorgten  Muskeln 
verhielten  sich  insofern  verschieden,  als  die  elektrische  Prüfung  für  die- 
jenigen der  linken  Seite  eine  geringe  Herabsetzung,  keine  Erhöhung  der 
Erregbarkeit  für  beide  Stromarten  ergab;  nur  im  oberen  Teile  wurde  bei 
direkter  galvanischer  Reizung  der  Muskeln  wenige  Male  eine  Erhöhung 
des  Wertes  der  AnSZ  gegenüber  der  £aSZ  beobachtet;  träge  Zuckungen 
traten  nicht  auf  und  auch  eine  erhöhte  Erregbarkeit  der  Muskeln  für  me- 
chanische Reize  konnte  nicht  festgestellt  werden. 

Der  sonst  bei  Facialislähmungen  fast  regelmäßig  beobachtete  Lagoph- 
thalmus  konnte  in  unserem  Falle  nur  in  geringem  Grade  beobachtet  werden 
(vgL  die  Abbildung)^  wenn  er  nicht  durch  das  Lidödem  vorgetäuscht  wurde. 
Epiphora  war  nicht  vorhanden. 

Störungen  seitens  des  Gehörs  sowohl  betreffs  des  N.  acusticus  wie 
des  N.  tensoris  tympani  fehlten. 

Ebenso  blieb  der  Kranke  verschont  von  den  bei  schwereren  Facialis- 
lähmungen von  Hitzig  zuerst  beobachteten  unangenehmen  Symptomen  er- 
höhter Reflezerregbarkeit ;  Kontrakturen,  Zuckungen  und  Mitbewegungen 
traten  nicht  ein.  Die  gewöhnlichen  Reflexbewegungen  seitens  des  Facialis 
blieben,  wie  sich  von  selbst  versteht,  auf  der  linken  Seite  im  Anfange  aus, 
traten  jedoch  im  Verlaufe  der  Besserung  allmählich  wieder  auf. 

Des  Trismus  wegen  waren  wir  längere  Zeit  hindurch  nicht  in  der 
Lage,  die  Prüfung  derjenigen  Symptome  vorzunehmen,  die,  wegen  der 
Abgabe  von  kleinen  Aesten  des  Facialis  an  andere  Nerven  und  Organe, 
eine  Diagnose  des  Sitzes  der  Lähmung  ermöglichen.  Sobald  es  möglich 
war,  mit  künstlicher  Beleuchtung  das  Innnre  der  Mundhöhle  dem  Auge 
zugänglich  zu  machen,  stellten  wir  fest,  daß  das  Gaumensegel  auf  beiden 
Seiten  gleichmäßig  innerviert  wurde,  daß  sowohl  der  Tastsinn  der  Zunge 
wie  die  Geschmacksempfindung  in  keiner  Weise  gestört  Waren,  und  daß 
keine  einseitige  Speichel  Verminderung  vorhanden  war.  Dieses  letztere 
Symptom,  das  der  Kranke  selbst  hätte  beobachten  können,  wurde  von 
ihm  auch  während  der  schweren  Tetanuserscheinungen  nicht  bemerkt. 

Bezüglich  des  Sitzes  der  Facialisläsion  läßt  sich  aus  den  vorher- 
gehenden Beobachtungen  schließen,  daß  derselbe  unterhalb  des  Foramen 
stylo-mastoideum  gelegen  sein  müsse.  Gegen  eine  cerebrale  oder  supra- 
nnkleäre  Lähmung  sprach  einmal  die  elektrische  Untersuchung,  dann 


48  J.  Grober, 

aber  auch  die  Erfahrungstatsache,  daß  bei  cerebralen  Facialislähmungen 
der  Stirnteil  meist  nicht  mitergriflFen  ist.  Und  das  war  hier  gerade 
in  stärkerem  Maße  der  Fall.  Allerdings  darf  nicht  vergessen  werden, 
daß  sowohl  durch  die  ursprüngliche  Rißwunde  wie  durch  die  später 
folgende  Excision  ein  Teil  der  Stimfacialisfasern  zerstört  sein  können, 
womit  die  stärkere  Lähmung  erklärt  sein  würde.  Andererseits  handelt 
es  sich  dabei  nur  um  eine  Vermutung  und  nur  um  wenige  Fasern. 
Auf  alle  Fälle  können  wir  den  Sitz  der  Lähmung  sehr  weit  peripher, 
unterhalb  der  Austrittstelle  des  Nerven  aus  dem  Schädel,  verlegen. 
Rose,  C.  Brunner  und  Bernhardt  haben  bei  den  wenigen  Fällen 
von  Tetanus  facialis,  die  bisher  eingehender  in  neurologischer  Hinsicht 
untersucht  worden  sind,  ebenso  wie  wir  in  unserem  Falle,  keine 
Geschmacks-  und  Gehörstörungen  beobachtet,  auch  Sekretionsverände- 
rungen und  Gaumensegellähmung  wurden  von  ihnen  nicht  bemerkt. 
Aber  Rose  verzeichnet  einen  Fall  von  Kopftetanus,  bei  dem  auch  der 
N.  auricularis  posterior  gelähmt  war,  bei  einem  Manne,  der  im  stände 
war,  die  Ohren  willkürlich  zu  bewegen,  und  Romberg  sah  einen  Fall 
mit  Lähmung  des  N.  stylohyoideus  (Abweichen  der  Zungenspitze).  Mit 
diesen  Beobachtungen  wird  der  Sitz  der  Facialislähmung  immer  mehr 
eingeengt  und  auf  eine  ganz  bestimmte  Stelle  festgelegt.  Zwischen 
dem  Punkte,  wo  der  N.  facialis  die  Chorda  tympani  abgibt,  und  der 
Abgangsstelle  des  N.  auricularis  posterior,  also  zwischen  dem  letzten 
nicht  gelähmten  und  dem  ersten  gelähmten  Zweige,  passiert  der  Haupt- 
stamm das  Foramen  stylo-mastoideum,  nachdem  er  den  FALLOPischen 
Kanal  durchlaufen  hat. 

Die  Entstehung  einer  Lähmung  beim  Tetanus  hat  mancherlei  Er- 
klärungen gefunden.  Das  Auftreten  eines  lähmenden  Toxins  neben 
dem  Krampfgifte  ist  bereits  hervorgehoben  worden;  man  hat  ange- 
nommen, daß  das  erstere  beim  Kopftetanus  besonders  früh  gerade  am 
Facialis  einsetze  und  hat  anatomische  Gründe  für  diese  Anschauung 
ins  Feld  geführt  (Kürze  des  Nerven,  oberflächliche  Lage).  An  anderen 
Nerven  ist  ja  gleichfalls  das  lähmende  Prinzip  wirksam  beobachtet 
worden,  aber  erst,  nachdem  Krämpfe  vorausgegangen  waren  (Zwerch- 
fell). Von  einem  voraufgegangenen  Krämpfe  ist  aber  bei  echten  Fällen 
von  Tetanus  facialis  nie  etwas  beobachtet  worden. 

Deshalb  erscheint  die  Erklärung  von  E.  Rose  plausibler,  der  ganz 
von  den  spezifischen  Eigenschaften  des  Tetanusgiftes  absieht  und  eine 
Drucklähmung  für  wahrscheinlich  hält.  Er  sah  oft  —  und  andere 
üntersucher  haben  das  bestätigt  —  an  den  Nerven  von  Menschen,  die 
an  Wundstarrkrampf  gestorben  waren,  Verdickungen,  die  in  größeren 
oder  geringeren  Abständen  an  den  einzelnen  Strängen  wie  kleine  Rosen- 
kranzperlen saßen.  Vielleicht  sind  diese  Verdickungen  mit  der  Gegen- 
wart des  Tetanustoxins  in  der  Nervensubstanz  selbst  in  Verbindung 


Ein  Fall  von  Kopftetanus  (E.  Bosb).  49 

zu  bringen.  Die  Annahme  Roses  geht  nun  dahin,  daß  solche  Ver- 
dickungen auch  am  Facialis  aufträten,  obgleich  sie  bei  den  bisher 
sezierten  Fällen  von  Kopftenus,  bei  denen  allerdings  nur  2  oder  3mal 
darauf  gefahndet  worden  ist,  nicht  gefunden  worden  sind.  Im  engen 
FALLOPischen  Kanäle  würde  so  der  verdickte  Nerv  gedrückt  werden 
und  deshalb  die  Lähmung  als  eine  Druckwirkung  aufzufassen  sein. 
Andere  haben  geglaubt,  daü  durch  den  Druck  des  verdickten  Nerven 
im  Kanal  das  im  Nerven  wandernde  Gift  zurückgehalten  werde  und  in 
dem  abgeschlossenen  Nerventeil  sich  der  lähmende  Anteil  des  Giftes 
früher  bemerkbar  machte,  als  wenn  demselben  noch  die  weiten  Gebiete 
des  gesamten  Nervensystemes  offen  ständen. 

Jedenfalls  kann  man  den  Ort  der  Läsion  nirgends  anders  hinver- 
legen, als  an  die  Austrittsstelle  des  VII.  Nerven  aus  dem  For.  stylo- 
mastoideum;  sicher  liegt  er  nicht,  wie  Bernhardt  noch  mit  in  Frage 
zog,  im  Facialiskeme. 

Bezüglich  der  Form  der  Lähmung  hat  schon  Bernhardt  aus  einer 
kleinen  Kasuistik  den  Satz  aufgestellt,  daß  die  Facialislähmung  bei 
Kopftetanus  nicht  der  schweren  Form  angehöre;  er  entnahm  aus  den 
wenigen  Fällen,  von  denen  er  Kenntnis  hatte,  daß  beim  Ueberstehen 
des  Wundstarrkrampfes  fast  stets  die  Lähmung  auch  ohne  Behandlung 
in  einigen  Wochen  heilt.  Aber  unter  den  10  Fällen  dieses  Autors  ist 
nur  bei  dreien  eine  elektrische  Untersuchung  gemacht  worden,  in  zweien 
davon  war  sie  unvollständig.  Rose  stellte  im  Jahre  1897,  72  bekannt 
gewordene  Fälle  von  Kopftetanus  zusammen,  aber  auch  unter  dieser 
größeren  Anzahl  ist  nur  5mal,  soweit  ich  sehen  kann,  die  elektrische 
Erregbarkeit  geprüft  worden  (ein  Fall  ist  beiden  Autoren  gemeinsam). 
Bei  den  7  neurologisch  untersuchten  Facialislähmungen  fanden  sich  also 
6mal  normale  Verhältnisse,  nur  in  dem  von  Bernhardt  und  Rose 
gemeinsam  beobachteten  Falle  wurden  im  Muse,  frontalis  träge  Zuckungen 
beobachtet,  12  Tage  nach  der  Verwundung  und  7  Tage  nach  Beginn 
des  Tetanus  und  (wahrscheinlich  auch)  der  Facialislähmung.  Da  aber 
dem  Kranken  eine  Dermoidgeschwulst  oberhalb  des  linken  Arcus  supra- 
orbitalis  exstirpiert  war  —  die  Eingangspforte  des  Tetanus  —  so  lag 
es  auch  für  Bernhardt  nahe  genug,  anzunehmen,  daß  bei  der  kleinen 
Operation  ein  Facialisast  verletzt  und  damit  die  Leitung  zwischen  Nerven- 
stamm und  Muskel  zerstört  wurde,  was  jedenfalls  die  träge  Zuckung 
erklären  würde.  Bei  unserem  Falle  haben  wir  gesehen,  daß  nur  eine 
Andeutung  der  Entartungsreaktion  in  dem  Anschwellen  der  AnSZ  gegen 
die  KSZ  vorhanden  war  und  sich  alsbald  in  kurzer  Zeit  verlor;  eine 
leichte  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  auf  der  gelähmten  Seite  blieb 
dagegen  längere  Zeit,  und  zwar  insbesondere  für  den  galvanischen  Strom, 
vom  Nerven  aus  bestehen. 

Die  Lähmung  der  linksseitigen  Gesichtsmuskeln  hatte  sich  bei  dem 

lOttdl.  a.  d.  Grenzgebieten  d.  Medlxln  a.  ChJrurrie.   XIII.  Bd  4 


50  J.  Grober, 

Kranken  auch  bei  seiner  Entlassung,  die  38  Tage  nach  dem  Auftreten 
der  ersten  Tetanussymptome,  4  Wochen  nach  seiner  Aufnahme  erfolgen 
konnte,  noch  nicht  völlig  gehoben.  Insbesondere  im  oberen  Teile  des 
Facialis  fand  sich  noch  eine  deutliche  Parese,  Stirnrunzeln  wurde  links 
erheblich  schlechter  als  rechts  ausgeführt,  das  Lid  konnte  schlechter 
gehoben  und  nur  mit  Anstrengung  ganz  geöffnet  werden,  während  die 
unteren  Facialisäste  gut  funktionierten.  Vi  Jahre  nach  seiner  Ent- 
lassung war  spontan  auch  der  letzte  Rest  der  ehemaligen  FaciaUs- 
lähmung  verschwunden,  ebenso  wie  die  Kontraktion  der  Masseteren 
sich  verloren  hatte,  so  daß  der  Mund  nach  Belieben  weit  geö&et  werden 
konnte. 

Daß  es  sich  bei  den  mit  Facialislähmungen  verbundenen  Tetanus- 
fällen  auch  einmal  um  leichtere  Formen  dieser  Krankheit  handeln  kann, 
hebt  Bernhardt  in  den  Schlußsätzen  seines  Aufsatzes  hervor.  In 
unserem  Falle  wies  schon  die  lange  Dauer  der  Inkubationszeit  (16  Tage) 
auf  einen  voraussichtlich  milderen  Verlauf  hin.  Der  Kopftetanus  unter- 
scheidet sich  von  anderen  Fällen  von  Wundstarrkrampf  nur  dadurch, 
daß  er  bei  besonderem  Sitz  der  Infektionspforte  außer  den  gewöhn- 
lichen Symptomen  K  r  ä  m  p  f  e  in  den  nahe  der  Eingangswunde  gelegenen 
Schlundmuskeln  (Schlingkrämpfe)  und  eine  Lähmung  eines  durch 
seine  topographischen  Beziehungen  besonders  ausgezeichneten  Nerven 
hervorruft 

Sieht  man  den  Facialistetanus  als  einen  im  Wesen  nicht  ver- 
änderten Wundstarrkrampf  an,  so  muß  die  Art  der  Behandlung  in 
beiden  Fällen  zunächst  die  gleiche  sein.  Man  könnte  daran  denken, 
in  den  späteren  Stadien,  wenn  die  Muskelstarre  abgelaufen  ist,  den 
elektrischen  Strom  therapeutisch  zu  verwenden,  aber  dies  ist  bei  keinem 
der  am  Leben  gebliebenen  Kranken,  die  in  der  Literatur  beschrieben 
sind,  soweit  ich  sehen  kann,  geschehen.  Bei  allen  ist  die  Facialis- 
lähmung  spontan  geheilt:  ein  weiterer  Beweis,  daß  es  sich  jedesmal 
um  die  leichte  Form  der  Lähmung  gehandelt  hat.  Die  gute  Prognose 
von  Lähmungen  nach  anderen  Infektionskrankheiten  ist  bekannt. 

Auch  beim  Kopftetanus  stehen  die  Erscheinungen  der  Muskelstarr- 
krämpfe, die  infizierte  Wunde  und  die  von  hier  aus  ihr  Toxin  dem 
Körper  mitteilenden  Tetanusbacillen  im  Vordergrunde  der  Aufmerksam- 
keit bezüglich  der  Behandlung.  Wir  haben  deshalb  nach  Erkennung 
des  Krankheitsbildes  und  seines  progressiven  Charakters  nicht  gezögert, 
dem  Kranken  die  auch  jetzt  noch  —  nach  ^/4  Jahren  —  leicht  ent- 
stellende Exstirpation  der  Wunde  vorzuschlagen,  haben  verhältnismäßig 
rasch  hintereinander  größere  Mengen  des  BEHRiNOschen  Tetanusserums 
angewendet,  dem  wir  einen  Teil  des  günstigen  Erfolges  zuzuschreiben 
geneigt  sind.  Die  geringen  Gaben  Chloralhydrat  und  Morphin  waren 
nur  Teile  einer  symptomatischen  Therapie. 


Ein  Fall  yon  Kopftetanus  (E.  Rosb). 


51 


Unsere  Erfahrungen  mit  dem  (bisher  käuflichen  — -  siehe 
Behrings  neueste  Publikation  über  diesen  Gegenstand)  Tetanusserum 
sind  derartig  gewesen,  daß  wir  es  soviel  und  sobald  als  möglich 
anzuwenden  streben.  Die  folgende  Tabelle,  in  der  die  Tetanusfälle 
unserer  Klinik  aus  den  letzten  5  Jahren  zusammengestellt  sind,  die 
ich  zum  Teil  selbst  mitbeobachtet  habe,  gibt  unsere  Erfahrungen  in 
Kürze  wieder. 


No. 


I 


Alter 
Jahre 


Verletzung 


Wund- 
behand- 
lung 


Tage 


Serom- 
mengen 


Bemerkungen 


1 

1899 

2 

1899 

3 

1899 

4 

1900 

5 

1901 

6 

1901 

7 

1902 

8 

1902 

9 

1902 

10 

1903 

11 

1903 

12 

1903 

13 

1903 

16 
18 
11 
13 
4 
45 
25 
25 
iTage 
46 

23 

26 

18 


an  d.  Schult 
erfror.  Füße 
keine 
am  Fuße 
am  Kopfe? 
am  Finger 
erfror.  Füße 
an  der  Hand 
Nabel? 
an  der  8tirn 

an  der  Hand 

am  Beine 
am  Beine 


keine 

Amputat. 

keine 

keine 

keine 

Amputat. 

Amputat. 

keine 

keine 

Ezcision 

Antisept 
Verband 
Exdsion 
Amputat. 


2   t 


keines 

IVöOO 

2X250,  1X125 


keines 
3X100 

100  4-200 


1^ 


100 
100 


Moribund  eingelief. 

Serumexanth.  Geh. 

Geheilt 

Geheilt 


Tetanus  neonatorum 
Der  hier  beechiebene 
Fall,  geheilt 


Mit  Sepsis  kombin. 


Die  Beziehung  zwischen  der  Dauer  der  Inkubation  und  dem  Ausgange 
des  Falles  tritt  deutlich  hervor;  im  übrigen  zeigen  unsere  TetanusfSlle 
eine  durch  die  gegebenen  Zahlen  genügend  charakterisierte  Verschieden- 
heit der  Virulenz  der  Bacillen  bezüglich  der  Disposition  der  Kranken. 
Einen  Einfluß  der  Antitoxinbehandlung  auf  den  Verlauf  der  Facialis- 
lähmung  hat  man  bei  den  wenigen  Fällen,  die  seit  dem  Erscheinen 
des  Mittels  im  Handel  beobachtet  sind,  nicht  gesehen ;  eine  Vergleichung 
ist  deshalb  nicht  möglich.  Die  Entstehung  der  Facialisparalyse  durch 
Druck,  wie  sie  der  unzweifelhaft  erfahrenste  Kenner  der  Krankheit, 
Rose,  annimmt,  schlösse  ja  auch  eine  Beeinflussung  aus.  Nicht  viel 
anders  wäre  es,  wenn  es  sich  um  eine  durch  das  Gift  verursachte  Ver- 
änderung am  Nerven  handelte,  da  das  Tetanusantitoxin,  wie  aus  den 
Untersuchungen  Knorrs  bekannt  ist,  die  Bindung  des  Toxins  an  das 
lebende  Protoplasma  nicht  mehr  lösen,  sondern  nur  noch  ungebundenes 
Toxin  neutralisieren  kann. 


4* 


52  J.  Grober,  Ein  Fall  von  Kopftetanus  (E.  Robb). 


Literatur. 

1)  Adrian,  üeber  einen  eigentümlichen  Fall  von  Tetanus.  Mitteil.  a.  d. 
Qrenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  6,  1901,  Heft  4/6. 

2)  Bbhking,  E.  y.,  Zur  antitoxiscben  Tetannstherapie.  Dtsoh.  med.  Wochen- 
schrift, 1903,  No.  35. 

3)  Bernhardt,  M.,  Ein  Beitrag  zur  Lehre  vom  Kopftetanus.  Zeitschr.  f. 
klin.  Med.,  Bd.  7,  1884,  p.  410. 

4)  Brunnbr,  C,  Neuropathologische  Mitteilungen.  Berl.  klin.  Wochenschr., 
1886,  p.  101. 

5)  Hitzig,  E.,  üeber  die  Auffassung  einiger  Anomalien  der  Muskel- 
innervation.     Arch.  f.  Psychiatrie,  Bd.  3,  p.  601. 

6)  Knorr,  A.,  Das  Tetanusgift  und  seine  Beziehungen  zum  Organismus. 
Münch.  med.  Wochenschr.,  1898,  No.  11  u.  12,  und  Habilitationschrifb 
Marburg,  1898. 

7)  Mbybr,  H.,  und  Eansoh,  Fr.,  Untersuchungen  über  den  Tetanus.  Arch. 
f.  experiment.  Patholog.  u.  Pharmak.,  Bd.  49,  Heft  6. 

8)  Prbobrashbnski,  Ein  Fall  von  Tetanus  bulbaris  mit  Autopsie.  Medi- 
cinskoje  Obosrenje,  1901,  August. 

9)  BrOMBBRO,  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten  des  Menschen.  3.  AufL, 
Bd.  1,  1867. 

10)  RosB,    E.,   üeber   den   Starrkrampf.     Pitha-Billroths  Handbuch    der 
allgemeinen  und  speziellen  Chirurgie.     Erlangen  1870. 

11)  —  Der  Starrkrampf  beim  Menschen.    Dtsch.  Chir.,  Vm,  Stuttgart  1897. 


Nachdruck  verboten. 

V. 

Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose 
nach  Ischias. 

Von 

Dr.  H.  ElLret, 

Privatdozent  für  innere  Medizin  an  der  Universität  Straßbarg. 

(Hierzu  dr  Abbildungen  im  Texte.) 


In  einer  früheren  Arbeit^)  habe  ich  den  Versuch  gemacht,  sicher- 
zustellen, daß  die  Entstehung  der  bei  und  nach  Ischias  so  häufig  auf- 
tretenden Skoliose  auf  eine  eigentümliche  Stellung  des  erkrankten  Beines, 
die  sich  schon  bei  den  bettlägerigen  Patienten  gleich  in  den  ersten 
Tagen  der  Krankheit  einstellt,  zurückzuführen  ist  Da  diese  Stellung 
des  erkrankten  Beines,  wie  anatomische  Untersuchungen  lehrten,  den 
Nervus  ischiadicus  von  Druck  und  Zug  entlastet,  ist  sie  zweckmäßig 
als  Selbsthilfestellung  zu  bezeichnen.  Sie  besteht  im  wesentlichen  in 
Abduktion,  Flexion  im  Hüftgelenk  und  Rotation  des  Beines  nach  außen. 
Dazu  gesellt  sich  noch  eine  leichte  Flexion  im  Kniegelenk^).  Steht 
der  Ischiaskranke  auf,  so  wird  diese  Beinstellung  beibehalten.  Um  bei 
der  bestehenden  Abduktion  des  erkrankten  Beines  ein  Gehen  zu  er- 
möglichen, muß  das  Becken  auf  der  erkrankten  Seite  gesenkt  werden. 
In  dieser  sekundären  Beckensenkung  ist  die  Ursache  der  seitlichen  Ver- 
biegung  der  Wirbelsäule  zu  suchen.  Um  die  Rotation  des  kranken 
Beines  nach  außen  zu  verdecken  und  zu  kompensieren,  wird  das  Becken 
im  entgegengesetzten  Sinne  gedreht,  der  Oberkörper  wiederum  wird 
durch  eine  Drehung  in  der  Wirbelsäule  (im  entgegengesetzten  Sinne 
der  Beckendrehung)  nach  vorn  gerichtet.  Darin  finden  wir  die  Er- 
klärung der  schon  längst  gemachten  Beobachtung,  daß  die  Beckenquer- 


1)  H.  Ehret,  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.     Mitteil. 
a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  4,  1899. 

2)  Die  ftlr  das  Verständnis  dieser  Arbeit  zum  Teil  wichtigen  Einzel- 
heiten sind  im  Original  nachzusehen. 


54  H.  Ehret, 

achse  und  die  Querachse  des  Rumpfes  in  Schulterhöhe  bei  Skoliose 
nach  Ischias  gelegentlich  nicht  in  einer  Ebene  liegen.  Die  Flexion  des 
Beines  im  Hüftgelenk  endlich  erfordert  eine  größere  Neigung  des  Beckens 
nach  vom,  welche  Neigung  des  Beckens  ihrerseits,  da  der  Rumpf  auf- 
gerichtet werden  muß,  eine  Verstärkung  der  physiologischen  Lordose 
der  Lendenwirbelsäule  darstellt,  welche  bei  Skoliose  nach  Ischias,  so- 
wohl in  stehender  wie  in  liegender  Stellung  des  Kranken  nie  fehlt. 
Durch  die  ängstliche  Innehaltung  dieser  Setbsthilfstellung  des  Beines 
gegenüber  dem  Becken  werden  beim  Gehen,  Stehen,  Sichaufrichten 
u.  s.  w.  Eigentümlichkeiten  bedingt,  auf  die  an  dieser  Stelle  nicht  näher 
eingegangen  werden  kann. 

In  den  vergangenen  5  Jahren  hatte  ich  Gelegenheit,  sowohl  in  der 
hiesigen  medizinischen  Klinik  wie  in  der  Privatpraxis,  ganz  besonders 
aber  bei  der  Begutachtung  von  Unfallverletzten  zahlreiche  Fälle  von 
Ischias  zu  untersuchen  und  zu  beobachten.  Im  folgenden  gebe  ich 
das  Ergebnis  der  auf  diese  Weise  gewonnenen  neuen  Erfahrungen, 
welche  die  früher  entworfene  Lehre  von  cler  Skoliose  nach  Ischias  er- 
gänzen und  ausbauen. 

Nach  unserer  Auffassung,  wie  sie  aus  der  vorausgeschickten  Zu- 
sammenfassung entnommen  werden  kann,  ist  die  Skoliose  nach  Ischias 
eine  rein  statisch-mechanische  Verbiegung  der  Wirbelsäule.  Sie  entsteht 
aus  Veränderung  der  Stellung  des  erkrankten  Beines,  welche  Stellung 
im  wesentlichen  eine  Höhenlageveränderung  des  Beckens  auf  einer 
Seite  zur  Folge  hat.  Der  Hauptfaktor  der  seitlichen  Verbiegung  der 
Wirbelsäule  ist  eine  Senkung  des  Beckens  auf  der  erkrankten  Seite^ 
also  dieselbe  Erscheinung,  die  z.  B.  bei  traumatischer  Verkürzung  eines 
Beines  die  nachfolgende  Skoliose  verursacht:  einseitiger  Beckentiefstand. 
Die  Erkrankung  des  Nervus  ischiadicus  selbst  hat  mit  der  Skoliose  nur 
insofern  etwas  zu  tun,  als  durch  diese  Erkrankung  die  Abduktion  des 
Beines,  d.  h.  die  beim  Gehen  einer  Verkürzung  gleichkommende  Stellung 
des  Beines  bedingt  wird.  Bei  Schmerzen  im  Ischiadicusgebiete  muß 
jedoch  die  uns  beschäftigende  Beckensenkung  die  Eigentümlichkeit  haben, 
daß  sie  nicht  ausgeglichen  werden  kann,  z.  B.  durch  höhere  Schuh- 
sohlen oder  durch  Schuheinlagen,  wie  dies  bei  Beckensenkungen  infolge 
von  wirklicher  Beinverkürzung  der  Fall  ist.  Eine  derartige  künstliche 
Verlängerung  der  an  Ischias  erkrankten  Stütze  des  Körpers  würde, 
falls  sie  die  Beckensenkung  beeinflussen  sollte  und  könnte,  notwendiger- 
weise auch  eine  Veränderung  des  Abduktionswinkels  im  verkleinernden 
Sinne  bedeuten,  also  die  Stellung  des  Beines,  welche  durch  die  Er- 
krankung des  N.  ischiadicus  bedingt  ist,  in  einem  der  Selbsthilfe  ent- 
gegengerichteten Sinne  beeinflussen.  Dieser  unerwünschten  Wirkung 
entgeht  der  Ischiaskranke  in  der  Regel  dadurch,  daß  er  die  etwa  durch 
Erhöhung  der  Schuhsohle  bedingte  künstliche  Verlängerung  des  Beines 
durch  weitere  Flexion  des  Knies  illusorisch  macht.    Auf  diese  Weise 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  55 

ist  das  Versagen  derartiger  gegen  die  Skoliose  nach  Ischias  gerichteter 
therapeutischer  Maßnahmen  zu  erklären,  welche  ich  in  mehreren 
Fällen  beginnender  Skoliose  gesehen  habe  ^).  Solange  der  N.  ischiadicus 
noch  Sitz,  wenn  auch  nur  geringer  Schmerzhaftigkeit  ist,  kann  durch 
künstliche  Verlängerung  des  befallenen  Beines  eine  günstige  Beein- 
flussung der  Skoliose  in  der  Begel  weder  erwartet  noch  tatsächlich 
erzielt  werden.  Sind  dagegen  die  Prozesse,  die  im  N.  ischiadicus  ge- 
spielt haben,  abgelaufen,  so  daß  von  der  eigentlichen  Ischias  nichts 
mehr  zurückbleibt,  so  können  vorhandene,  von  der  Ischias  ausgelöste 
Skoliosen,  wie  wir  sehen  werden,  unter  Umständen  sehr  wohl  durch 
höhere  Schuheinlagen  u.  s.  w.  beeinflußt  werden.  Auf  keinen  Fall  darf 
aber,  und  deshalb  sind  diese  Dinge  an  dieser  Stelle  zu  erwähnen,  das 
Fehlschlagen  der  künstlichen  Verlängerung  des  kranken  Beines  in  das 
Feld  geführt  werden  gegen  die  Annahme  einer  rein  mechanischen  Ent- 
stehung der  Skoliose  nach  Ischias.  Besondere  Verhältnisse 
machen  jede  Verlängerung  illusorisch.  Für  die  statisch- 
mechanische Entstehung  der  Skoliose  spricht  ihre  Beeinflußbarkeit  durch 
künstliche  Verlängerung  des  Beines,  sobald  diese  besonderen  Verhält- 
nisse, d.  h.  die  die  Beinstellung  bedingende  Schmerzhaftigkeit  im  N. 
ischiadicus,  geschwunden  sind. 

Zur  weiteren  Stütze  dafür,  daß  die  Erkrankung  des  N.  ischiadicus 
an  und  für  sich  nichts  mit  der  Entstehung  der  Skoliose  zu  tun  hat, 
daß  dieselbe  vielmehr  als  eine  statische,  wie  sie  z.  B.  bei  Verkürzung 
eines  Beines  auftritt,  aufgefaßt  werden  muß,  kann  ich  zwei  eigenartige 
Fälle  anführen. 

Fall  L  F.  M.,  46  J.  alt,  landwirtschaftb'cher  Arbeiter,  hatte  sich 
angeblich  durch  einen  Unfall  eine  heftige  Ischias  zugezogen.  Dieselbe 
war  als  Unfallsfolge  anerkannt  worden.  Für  die  erwerbsbeeinträchtigenden 
Folgen  dieser  Ischias  bezog  Fat  1  Jahr  nach  dem  Unfälle,  als  er  zum 
ersten  Male  von  mir  untersucht  und  begutachtet  werden  sollte,  noch  eine 
30-proz.  Bronte. 

Der  Befund  bei  der  damaligen  Untersuchung  war  folgender: 
Ausgesprochenes  Ischiasphänomen  links,  lebhafbe  Druckpunkte  am 
unteren  Bande  des  linken  Olutaeus  maximus  und  in  der  Mitte  des  Ober- 
schenkels hinten;  linkes  Bein  etwas  nach  außen  gedreht,  deutlich  ab- 
duziert.  Von  Flexion  im  Hüftgelenk  nichts  Sicheres  wahrzunehmen.  Leichte 
Flexion  im  Kniegelenk.  Die  Glutäalfalte  steht  links  1^2  cm  tiefer  als 
rechts;  desgleichen  der  linke  Darmbeinkamm.  Geringe,  aber  deutliche 
Skoliose;  der  Verlauf  derselben  ist  nur  bei  Abtastung  der  Wirbelsäule 
sicherzustellen.  Die  Konkavität  im  Dorsolumbalteile  ist  nach  links  ge- 
richtet. 

Derselbe  Patient  wurde  mir  nach  weiteren  9  Monaten  zu  einer 
erneuten  Untersuchung  zugeschickt.  Kurz  nach  der  ersten  Untersuchung 
durch  mich  hatte  der  an  linksseitiger  Ischias  leidende  Kranke  einen 


1)  Vergl.  die  therapeutischen  Bemerkungen  am  Schlüsse  dieser  Arbeit. 


56  H.  Ehret, 

zweiten  Unfall  erlitten  und  einen  ebenfalls  linksseitigen  Unterschenkelbruch 
davongetragen.  Letzterer  war  angeblich  gut  geheilt.  (Dieser  zweite  Unfall 
war,  da  er  im  Wirtshause  passiert  war,  kein  rentenpflichtiger  1) 

Schon  beim  Gehen  des  angekleideten  Pat.  fUUt  diesmal  eine  erheb- 
liche Verbiegung  der  Wirbelsäule  auf.  Die  linke  Schulter  steht  etwas  höher 
als  die  rechte.  Pat.  geht  im  übrigen  mit  Hilfe  eines  Stockes  ziemlich 
flott.  Er  hat  bis  zur  Bahn,  bei  schlechten  Wegen,  eine  Strecke  von  6  km 
zurückgelegt.  Die  genauere  Untersuchung  ergibt,  daß  das  Ischiasphänomen 
und  die  Druckpunkte,  wenn  auch  in  geringerer  Intensität,  noch  deutlich 
vorhanden  sind.  Desgleichen  ist  die  Dotation  des  linken  Beines  nach 
außen  noch  vorhanden,  jedoch  nicht  stärker  geworden.  Dagegen  UM  auf, 
daß  der  Darmbeinkamm  links  erheblich  tiefer  steht,  als  rechts.  Es  zeigt 
sich  ferner,  daß  die  Abduktion  des  linken  Beines  im  Hüftgelenk  starker 
geworden  ist.  Die  Wirbelsäule  zeigt  eine  hochgradige,  schon  weit- 
hin sichtbare  Verkrümmung,  deren  Konkavität  im  Dorsolumbalteile 
nach  rechts  gerichtet  ist  Von  dem  Senkel,  der  mit  der  Spitze  über  der  Mitte 
des  ersten  Sakralwirbels  steht,  entfernt  sich  die  Wirbelsäule,  vom  Processus 
spinosus  an  gemessen,  um  4^/2  cm.  Das  linke  Bein  ist  um  2^^2^l^  cm 
verkürzt,  welche  Verkürzung  lediglich  auf  den  Untersc)ienkel  entfallt 

In  diesem  Falle  haben  wir  es  im  wesentlichen  mit  folgenden  Ver- 
hältnissen zu  tun:  Durch  die  an  und  für  sich  nicht  bedeutende  Ver- 
kürzung eines  Beines  infolge  einer  Fraktur  des  Unterschenkels,  welche 
Verkürzung  (es  handelt  sich  um  2  cm),  in  der  Regel,  eine  erhebliche 
Skoliose  kaum  macht,  wird  bei  einem  Menschen,  der  an  Ischias  des- 
selben Beines  gelitten  hat,  vielleicht  noch  jetzt  leidet,  eine  ganz  mächtige 
Skoliose  hervorgebracht,  wie  ich  sie  bei  derartigen  Fällen  von  Ischias 
noch  nicht  gesehen  habe.  Dieses  Vorkommnis  zu  erklären,  dürfte  nach 
dem  oben  Gesagten  nicht  allzu  schwer  fallen.  Eine  Verkürzung  des 
erkrankten  Beines,  Verkürzung,  die  in  unserem  Falle  durch  den  Unter- 
schenkelbruch bewerkstelligt  wurde,  muß  dem  Ischiaskranken,  wenn 
unsere  Auffassung  von  den  Verhältnissen  stimmt,  erwünscht  sein,  da 
sie  den  erkrankten  N.  ischiadicus  unter  noch  günstigere  Zug-  und 
Druckverhältnisse  bringt.  Diese  Annahme  findet  in  folgender  Ueber- 
legung  eine  Stütze;  der  einseitigen  Beckensenkung,  bei  beiderseits 
gleicher  Beinlänge,  oder  in  anderen  Worten,  der  für  den  erkrankten 
Ischiadicus  günstigen  und  angestrebten  Abduktionsstellnng  des  kranken 
Beines  sind  gewisse  Schranken  gezogen.  Während  der  Gang  bei  nur 
leicht  gebeugtem  Knie  Schwierigkeiten  größerer  Art  nicht  bietet,  ist 
derselbe  bei  stärker  gebeugtem  Knie  mit  großer  Ermüdung  verbunden. 
Auf  die  Dauer  kann  ein  Mensch  mit  stärker  gebeugtem  Knie,  sofern 
dasselbe  nicht  fixiert  ist,  nicht  gehen.  Der  Organismus  sträubt  sich 
beim  Gehen,  von  wegen  der  damit  verbundenen  Ermüdung,  eine  zu 
starke  Flexion  des  Knies  beizubehalten.  Eine  derart  starke  Beugung 
des  Knies  ist  aber,  bei  beiderseits  gleicher  Beinlänge,  zu  einer  erheb- 
lichen Senkung  des  Beckens  auf  einer  Seite,  d.  h.  zur  Beibehaltung 
einer  starken  Abduktionsstellung  des  Beines  unerläßlich.    Darum   wird 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  57 

auch  die  beim  bettlägerigen  Ischiaskranken  stark  ausgesprochene  Ab- 
duktionsstellung  beim  Gehen  und  Stehen  eine  gewisse  Einschränkung 
erfahren.  Diese  Beobachtung,  Verkleinerung  der  Abduktion,  kann  bei 
der  größten  Mehrzahl  von  Ischiaskranken  mit  stark  ausgesprochener 
Selbsthilfestellung  gemacht  werden,  wenn  sie  von  der  liegenden  Stellung 
fOr  längere  Zeit  in  die  stehende  übergehen;  mit  anderen  Worten,  es 
wird  in  der  Norm  die  Skoliose  eine  geringere,  als  nach  der  Beinstellung 
zu  erwarten  gewesen  wäre.  In  unserem  Falle  wurde  nun,  auch  beim 
Gehen,  eine  stärkere  Abduktionsstellung  ermöglicht,  ohne  stärkere  Flexion 
des  Knies,  lediglich  durch  die  Verkürzung  des  Unterschenkels.  Die  Ver- 
kürzung des  erkrankten  Beines  ist  dem  Ischiaskranken  willkommen,  da 
dieselbe  es  ihm  ermöglicht,  mit  stärker  abduziertem  Beine  zu  gehen. 
Es  muß  somit,  die  Verkürzung  des  an  Ischias  erkrankten  Beines  der 
Skoliose  Gelegenheit  geben,  sich  in  ihrem  vollen  Umfange  zu  etablieren. 

Wir  können  in  diesem  Falle  auch  von  einer  Addition  der  Faktoren 
sprechen.  Zu  der  Verkürzung  des  Beines  durch  die  Ischiasabduktions- 
stellnng  gesellt  sich  eine  weitere  Verkürzung  durch  Bruch  des  Unter- 
schenkels. Es  spricht  die  Tatsache,  daß  sich  diese  Faktoren  einfach 
addieren,  d.  h.  daß  die  Skoliose  nach  Ischias  sich  mit  der  Skoliose 
nach  Verkürzung  des  Beines  einfach  summiert,  ohne  daß  nach  der  einen 
oder  anderen  Richtung  eine  Modifikation  der  entstehenden  Skoliose  zu 
beobachten  wäre,  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  für  ihre  Gleichwertig- 
keit. Es  darf  wohl  daraus  geschlossen  werden,  daß  die  Skoliose  bei 
und  nach  Ischias  und  die  Skoliose  bei  Verkürzung  des  Beines  durch 
Bruch,  im  großen  und  ganzen  auf  die  gleiche  Weise  zu  stände  kommt. 

Für  diese  Annahme  spricht,  im  Verein  mit  dem  eben  beschriebenen, 
ein  2.  Fall.  Derselbe  bildet  eine  Ergänzung  und  zugleich  ein  Gegen- 
stück zu  dem  vorhergehenden.  Er  dürfte  schon  wegen  der  Seltenheit 
der  zusammengetroffenen  Faktoren,  besonders  aber  wegen  seiner,  man 
kann  sagen  therapeutischen,  Konsequenzen  bemerkenswert  sein. 

Fall  H.  In  demselben  handelt  es  sich  um  einen  28-jähr.  Herrn,  der 
schon  seit  6  Jahren,  infolge  von  ünterschenkelbruch,  eine  Verkürzung  des 
linken  Beines  mit  entsprechender  Skoliose  hatte.  Die  Verkürzung  betrug 
4  cm,  dabei  bestand,  wie  der  Hausarzt  des  Pat  mir  mitteilte,  eine  deut- 
hche  Skoliose.  Nähere  Angaben  über  die  Art  der  Skoliose  sind  nicht  zu 
erhalten.  Dieser  Pat  erkrankte,  wahrscheinlich  infolge  von  Erkältung 
(Pat  litt  außerdem  an  chronischer  Gicht),  an  heftiger  rechtsseitiger  Ischias. 
Die  Schmerzen  erstreckten  sich  in  den  ersten  Wochen  sowohl  auf  die 
hintere  wie  auch  auf  die  vordere  Seite  des  Schenkels.  Im  Bette  zeigte 
Pat  die  ausgesprochene  Ischiaslage  mit  Selbsthilfestellung  des  Beines 
(Abduktion,  Flexion  und  Rotation  nach  außen).  Nach  8  Mon.  sah  ich  den 
Kranken  wieder.  Es  hatte  sehr  lange  gedauert,  ehe  er  aufstehen  konnte. 
Die  Gehversuche  selbst  waren  sehr  lange  Zeit  wegen  Schmerzen  erfolglos 
geblieben,  so  daß  Pat.  sich  fast  3  Monate  lang  einer  Krücke  bedient 
hat  Damals  konnte  er  wieder  gehen,  und  klagte  nur  noch  zeitweise 
über  Schmerzen.     Noch  deutliches  Ischiasphänomen,  keine  sicheren  Druck- 


58  .H.  Ehret, 

punkte;  beträchtliche  Abmagerung  des  rechten  Beines,  leichte  Flexion  in 
demselben  Kniegelenk.  Beide  Darmbeinkämme  stehen  gleich  hoch,  von 
einer  Verbiegung  der  Wirbelsäule  ist  nichts  mehr  nach- 
zuweisen. Auch  in  der  Folge,  es  sind  jetzt  2  Jahre  verstrichen,  ist 
von  einer  Verbiegung  der  Wirbelsäule  nichts  mehr  aufgetreten. 

Während  in  dem  ersten  Falle  eine  nach  Ischias  entstandene  Skoliose 
durch  hinzutretende  Verkürzung  desselben  Beines  infolge  von  Bruch 
des  Unterschenkels  erheblich  verschlimmert  wird,  haben  wir  hier  die 
etwas  eigentümliche  Tatsache  vor  uns,  daß  eine  infolge  von  Beinver- 
kürzung schon  lange  bestehende  Skoliose  durch  eine  das  andere  Bein 
befallende  Ischias  einfach  zum  Verschwinden  gebracht  wird.  Zum  Ver- 
ständnis dieses  Vorganges  ist  folgendes  zu  bedenken.  Es  steht  außer 
Zweifel,  daß  Patient  vor  der  Ischias  eine  Skoliose  hatte,  auch  ohne 
Bestätigung  durch  den  Arzt  wäre  dies  als  sicher  zu  betrachten  gewesen, 
da  eine  seitliche  Verbiegung  der  Wirbelsäule  bei  einer  Beinverkürzung 
von  4  cm  nicht  auszubleiben  pflegt,  lieber  die  spezielle  Form  der- 
selben sind  dagegen  Angaben  nicht  vorhanden;  erfahrungsgemäß  ist 
jedoch  anzunehmen,  daß  die  Konkavität  der  bestehenden  Skoliose  im 
unteren  Teile  der  Wirbelsäule  auch  in  unserem  Falle  nach  der  anderen 
unverkürzten  Seite  gerichtet  gewesen  sein  muß.  Da  das  linke  Bein 
das  verkürzte  war,  mußte  der  Patient  eine  Skoliose  haben,  die  ihre 
Konkavität  im  unteren  Teile  der  Wirbelsäule  nach  rechts  öShete.  In 
anderen  Worten:  Unter  Festhaltung  der  Linksseitigkeit  der  Er- 
krankung mußte  Patient  eine  Skoliose  haben,  die  als  heterolog  zu 
bezeichnen  war. 

Falls  die  hinzutretende  Ischias  des  rechten  Beines  eine  Skoliose 
gemacht  hätte  (es  hat  sich  um  eine  reine  Ischias,  also  lediglich  um 
schmerzhafte  Prozesse  im  Beine  gehandelt),  so  würde  diese  Skoliose, 
entsprechend  der  Regel  mit  Bezug  auf  die  rechte  Seite,  eine  hete- 
rologe  gewesen  sein.  Die  bei  unserem  Patienten  durch  die  Ischias 
bedingte  Skoliose  hätte  also  eine  der  Skoliose  infolge  des  Unter- 
schenkelbruches entgegengesetzte  Form  haben  müssen.  Hatte 
der  Patient  vor  der  Ischias  eine  mit  Bezug  auf  links  heterologe  Skoliose, 
so  mußte  das  rechte  Bein  dauernd  in  entsprechender  Adduktionsstellung 
sich  befunden  haben.  Die  hinzutretende  rechtsseitige  Erkrankung,  die 
sowohl  im  N.  ischiadicus  selbst  wie  auch  im  N.  cruralis  spielte,  mußte, 
besonders  wegen  der  Schmerzhaftigkeit  in  letzterem  Nerv,  bei  dem 
Patienten  das  Bestreben  unterhalten,  das  rechte  Bein  aus  der  für  die 
Entspannung  der  Nerven  ungünstigen  Adduktionsstellung  herauszu- 
bringen und  letztere  womöglich  in  die  für  die  Entspannung  der  Nerven 
günstigere  Abduktionsstellung  umzuwandeln.  Als  Erfolg  dieses  Be- 
strebens muß  die  Tatsache  gelten,  daß  die  Beckenkante,  welche  früher 
rechts  höher  stand,  später  in  gleicher  Höhe  stand,  wie  die  linke.  Dies 
kam  folgendermaßen:   Während  das  Becken  links,  infolge  der  Beinver- 


Weitere  Beiträge  zar  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  59 

kürzung,  vor  der  Ischias  tiefer  stand  als  rechts,  senkte  sich  infolge 
der  Ischias,  von  wegen  des  Bestrebens,  das  aus  der  Adduktionsstellong 
herausgebrachte  Bein  auf  den  Boden  zu  bringen,  das  Becken  auch  auf 
der  anderen  rechten  Seite.  Dieses  Tiefertreten  des  Beckens  auf  der 
rechten  Seite  wurde  ausgeglichen  und  zur  gleichen  Zeit  ermöglicht 
durch  die  festgestellte  leichte  Flexion  im  Knie,  deren  zweiter  Zweck 
die  Entspannung  des  Nervus  ischiadicus  war. 

Das  Verschwinden  der  Skoliose,  welche  infolge  der  linksseitigen 
Beinverkürzung  aufgetreten  war,  ist  somit  einfach  als  eine  Kompen- 
sation durch  die  infolge  der  Veränderung  der  Stellung  des  rechten 
Beines  benötigte  Biegung  der  Wirbelsäule  im  entgegengesetzten  Sinne 
zu  erklären.  Eine  einfachere  Deutung  für  den  eigentümlichen  Vorgang 
ist  meines  Erachtens  nicht  zu  geben.  Wenn  aber  eine  Skoliose  infolge 
von  Beinverkürzung  und  eine  Skoliose  infolge  von  Ischias  sich  einmal 
summieren  (Fall  I),  ein  andermal  kompensieren  (Fall  II),  so  muß  der 
Mechanismus  ihrer  Entstehung  im  Prinzip  der  gleiche  sein.  Es  wäre 
schlechterdings  nicht  denkbar,  daß  eine  Skoliose  infolge  von  Beinver- 
kürzung durch  eine  Skoliose  nach  Ischias  einfach  aufgehoben  würde, 
wenn  letztere  z.  B.,  wie  dies  früher  angenommen  wurde,  aus  dem  Be- 
streben hervorginge,  das  Rückenmark  oder  die  Wurzeln  von  Druck  zu 
entlasten ;  träfe  dies  zu,  so  hätte  die  Skoliose  wirklich  zu  stände  kommen 
müssen,  um  eine  Entlastung  herbeizuführen.  Oder  wenn  die  Skoliose 
nach  Ischias  lediglich  Ausdruck  des  Bestrebens  wäre,  die  erkrankte 
Körperhälft«  vom  Körpergewichte  zu  entlasten.  Daß  dies  nicht  der  Fall 
ist,  lehren  übrigens  auch  die  Beobachtungen  unserer  ersten  Arbeit. 
Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  betonen,  daß  eine  kompensierte 
Skoliose,  d.  h.  eine  solche,  die  im  unteren  Teile,  z.  B.  nach  rechts, 
konkav,  in  ihrem  oberen  Teile  nach  links  konkav  ist,  nicht  im  stände 
ist  eine  Stütze  des  Körpers  zu  entlasten.  Entlasten  kann  nur  eine 
Verbiegung  der  Wirbelsäule,  die  nicht  kompensiert  ist,  also  eine  ein- 
fache nach  rechts  oder  nach  links  konkave  Biegung  der  gesamten 
Wirbelsäule.  Eine  derartige  einmalige  Verbiegung  der  gesamten  Wirbel- 
säule ist  jedoch  unter  den  Skoliosen  nach  Ischias  eine  sehr  große 
Seltenheit  Falls  sie  vorkommt,  ist  ihre  Entstehung  ganz  besonderen 
Verhältnissen,  auf  die  wir  weiter  unten  eingehen  werden,  zuzuschreiben. 

Mit  diesen  beiden  Fällen  ist  meines  Erachtens  ein  weiterer  Beweis 
dafür  erbracht  daß  wir  in  der  nach  Ischias  so  häufigen  heterologen 
Skoliose  lediglich  die  Folge  der  in  der  ersten  Arbeit  beschriebenen 
einer  Verkürzung  des  erkrankten  Beines  gleichkommenden  Stellung  des 
erkrankten  Beines  zu  erblicken  haben. 

In  der  schon  mehrfach  erwähnten  Arbeit  wurde  hervorgehoben, 
daß  die  bei  und  nach  Ischias  gelegentlich  vorkommenden  homologen 
Skoliosen  im  ganzen  doch  nur  als  Ausnahmen,  jedenfalls  als  Selten- 
heiten zu  bezeichnen  sind.    Falls  die  Skoliose  nach  Ischias  rein  statisch- 


60  H.  Ehret, 

mechanische  Ursachen  hat,  und  darauf  geht  meine  Behauptung  hinaus, 
müßte  man  a  priori  meinen,  daß  diese  homologen  Skoliosen  gerade  aus 
der  der  gewöhnlichen  Beinstellung  (Abduktion,  Flexion,  Rotation  nach 
außen)  entgegengesetzten  Stellung  hervorgehen.  Es  ist  jedoch  nicht 
ohne  weiteres  ersichtlich,  wie  die  Adduktion,  d.  h.  die  auf  diese  Weise 
abgeleitete  Entstehungsursache  der  der  homologen  Skoliose  mit  unserer 
Auffassung  der  Selbsthilfestellung  und  der  durch  dieselbe  bedingten 
Entstehungsweise  der  Skoliose  bei  und  nach  Ischias  überhaupt  in  Ein- 
klang zu  bringen  wären.  Seither  habe  ich  einige  Fälle,  im  ganzen 
sind  es  4,  von  homologer  Skoliose  gesehen,  unter  welchen  ich  haupt- 
sächlich 2  hervorheben  möchte,  da  dieselben  für  die  Entstehungsweisen 
der  homologen  Skoliosen  und  für  ihr  Verhältnis  zu  der  Selbsthilfe- 
stellung des  Beines  sehr  lehrreich  sind.  Außerdem  sind  von  Rumpf  ^) 
homologe  Skoliosen  bei  schmerzhaften  Prozessen  im  Plexus  lumbalis 
publiziert  worden,  auf  die  ich  kurz  zurückkommen  werde. 

In  dem  einen  der  erwähnten  von  mir  beobachteten  Fälle  handelte 
es  sich  neben  Schmerzhaftigkeit  im  linken  Nervus  ischiadicus  noch  um 
starke  Schmerzen  im  gleichseitigen  Lendengebiete. 

Fall  III.  Es  waren  ausgesprochene  Druckpunkte  zu  beiden  Seiten 
der  Wirbelsäule  nachzuweisen.  Gegenüber  den  Schmerzen  im  Gebiete  des 
Plexus  lumbalis  standen,  nach  den  Angaben  des  Pat,  die  eigentlichen 
Ischiasschmerzen  im  Hintergrunde;  im  ganzen  wurde,  und  zwar  besonders 
im  Anfange  der  Krankheit,  viel  mehr  über  die  Schmerzen  in  der  Lenden- 
gegend geklagt.  Es  bestand  jedoch  deutliches  Ischiasphänomen  und  zu- 
weilen über  das  ganze  Bein  ausstrahlende  Schmerzen,  so  daß  an  der 
Diagnose  Ischias  nicht  zu  zweifeln  war.  Der  38-jähr.  Kranke  zeigte 
schon  sehr  früh  eine  ausgesprochene  homologe  Skoliose,  welche  homologe 
Skoliose  in  der  Folge  auch  bestehen  blieb').  Trotz  dieser  homologen 
Skoliose  hatte  jedoch  der  Pat  die  bei  Ischias  als  gewöhnlich  zu  bezeich- 
nende Bein-  und  Beckenstellung:  Abduktion,  Flexion,  Eotation  nach  außen, 
Tieferstehen  des  Beckens  und  der  Glutäalfalte  auf  der  kranken  Seite. 
Diese  bei  Ischias  üblichen  Stellungsanomalien  waren  zweifellos  sicher- 
zustellen. Sie  mußten  jedoch  im  Verhältnis  zu  dem  hohen  Grade  der 
Skoliose  nach  den  sonst  von  mir  gemachten  Erfahrungen  als  auffallend 
gering  bezeichnet  werden. 

Die  Deutung  dieses  Falles,  in  welchem  trotz  der  Stellung  des 
Beines  und  des  Beckens  die  in  der  Regel  zur  Bildung  einer  hetero- 
logen  Skoliose  führt  und  nach  unserer  Auffasssung  führen  muß,  eine 
homologe  Skoliose  zu  stände  kam,  ist  schon  im  Anschluß  an  die 
in  der  zweiten  Anmerkung  erwähnten  ähnlichen  Beobachtung  von   mir 


1)  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1903,  V.-B.  147. 

2)  In  meiner  ersten  Arbeit  findet  sich  ein  ähnlicher  Fall,  der  jedoch, 
zum  Unterschiede  von  dem  jetzt  beschriebenen,  nur  im  Anfange  eine  homo- 
loge Skoliose  zeigte,  welche  homologe  Skoliose  in  der  Folge  in  die  ge- 
wöhnliche heterologe  überging. 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  61 

versucht  worden.  Der  eben  beschriebene  Fall,  welcher  dauernd  eine 
homologe  Skoliose  behielt,  kann  die  damals  in  Bezug  auf  die  vorüber- 
gehende homologe  Skoliose  ausgesprochene  Ansicht  nur  bekräftigen: 
Erstreckt  sich  die  schmerzhafte  Erkrankung  nicht  nur  auf  den  Plexus 
sacralis  und  den  aus  demselben  hervorgehenden  Nerven,  dessen  vor- 
nehmster der  N.  ischiadicus  ist,  sondern  durch  die  Verbindungsbrücke 
zum  Plexus  lumbaüs,  als  solche  ist  der  Truncus  lumbo-sacralis  aufzu- 
fassen, noch  auf  den  Plexus  lumbalis,  so  können  infolgedessen  schmerz- 
hafte Empfindungen  —  wie  sie  im  wesentlichen  den  sogenannten  Lum- 
bago ausmachen  —  unter  anderem  auch  im  Musculus  quadratus  lum- 
borum,  im  Musculus  transversus  abdominis  und  im  M.  obliquus  internus, 
welche  von  diesem  Plexus  aus  versorgt  werden,  bestehen.  Ist  eine 
solche  Mitbeteiligung  des  Plexus 
lumbalis  vorhanden,  wie  dies  in 
unserem  Falle  in  hohem  Maße 
zutraf,  so  wird  eine  Entspannung 

der  eben  genannten  Muskeln  an-  \    ^  ^  ^  ^^PP* 

gestrebt  werden,  da  eine  der- 
artige Entspannung  ebenfalls  ent- 
spannend auf  die  die  Muskeln  /  \r  Flankenabstand 
versorgenden  und  durchsetzenden 
Nerven  wirkt.  Die  Entspannung 
dieser  Muskeln  ist  aber  gleich-                       "       ^  ^  Beekinfuerachs^ 

bedeutend  mit  der  Verkleinerung  YigA.  Heterologe  Skoliose  bei  r.  Ischias. 

des  sogenannten  Flankenabstan-     Schematisch,  von  hinten  gesehen, 
des  auf  der  betroffenen  Seite*). 

Wie  wir  aus  der  Kenntnis  der  normalen  heterologen  Skoliose  wissen,  hat 
dieselbe,  besonders  wenn  der  Patient  anfängt  zu  gehen,  eine  Vergröße- 
rung dieses  Flankenabstandes  zur  Folge.  Das  Becken  auf  der  erkrankten 
Seite  steht  tiefer,  der  untere  Rippensaum  dagegen  infolge  der  kompen- 
satorisch geradestrebenden  Wirbelsäule  höher  (Fig.  1).  Daß  diese  Ver- 
größerung des  Flankenabstandes  behindert  werden  muß,  wenn  die  Aeste 
der  bei  der  Vergrößerung  desselben  in  Spannung  zu  versetzenden  Muskeln 
befallen  sind,  ja  die  Schmerzen  in  diesen  Muskeln  im  Vordergrunde  des 
Krankheitsbildes  stehen,  ist  nicht  weiter  wunderbar.  Auf  diese  Weise  sind 
die  Fälle  zu  erklären,  in  welchen,  bei  sonst  typischer  Beinstellung  und 
Beckenstellung,  die  Vergrößerung  des  Flankenabstandes  ausbleibt,  oder 
statt  der  Vergrößerung,  wie  dies  in  unserem  Falle  zu  beobachten  war, 
eine  Verkleinerung  des  Flankenabstandes  eintritt.  Ich  habe  bis  jetzt 
keine  Verkleinerung  des  Flankenabstandes  auf  der  kranken  Seite  ge- 
sehen, ohne  daß  das  Ausbreitungsgebiet  des  Plexus  lumbalis  mitbefallen 
gewesen  wäre. 

1)  Unter  Flankenabstand   ist   die  Entfernung   vom  oberen  Rande  der 
Darmbeinschaufel  bis  zu  den  untersten  Rippen  zu  verstehen. 


62  H.  Ehret, 

Das  Ausbleiben  der  Vergrößerung  oder  die  Verkleinerung  des 
Flankenabstandes  kann,  besonders  bei  Beckentiefstand,  nur  bewerkstelligt 
werden  durch  eine  Biegung  der  Wirbelsäule,  welche  Biegung,  zur  Er- 
reichung dieses  Zweckes,  ihre  Konkavität  im  unteren  Teile  nach  der 
erkrankten  Seite  öffnen  muß.  Anfangs  hing  unser  Patient  mit  dem 
ganzen  Oberkörper  nach  der  kranken  linken  Seite  über.  Später  richtete 
sich  jedoch  der  Oberkörper  auf.  Die  sekundäre  kompensatorische  Gerade- 
richtung  des  oberen  Rumpfteiles  geschah  jedoch  in  diesem  Falle  viel 
weiter  oben,  als  es  bei  der  typischen  heterologen  Skoliose  zu  geschehen 
pflegt,  nämlich  in  der  Mitte  des  Brustteiles  der  Wirbelsäule  (Fig.  2  u.  3). 

Fig.  3. 
Fig.  2. 


HrRippe  j     ^  MrRippe 


Beekenqaerachse  *"  .*  Beckenqiierttehi& 


Fig.  2.  Verkleinerung  des  Flankenabstandes  bei  beginnender  homologer  Skoliose 
(Ischias  und  Erkrankung  aes  Plexus  lumbalis.) 

Fig.  3.  Verkleinerung  des  Flankenabstandes  bei  ausgebildeter  homologer  Skoliose 
mit  der  gewöhnlichen  typischen  Beckenstellung  (Ischias  und  Erkrankung  des  Plexus 
lumbalis  rechts). 


In  diesem  Falle  bestand  somit  eine  homologe  Skoliose  bei  Ischias, 
hervorgegangen  aus  der  sonst  die  heterologe  Skoliose  verursachenden 
Bein-  und  Beckenstellung.  Die  Ursache  der  Entstehung  der  homologen 
Skoliose  finden  wir  in  der  Mitbeteiligung  des  Plexus  lumbalis  und  zwar 
hauptsächlich  in  der  schmerzhaften  Erkrankung  der  die  Muskeln  der 
Bauchwand  versorgenden  Aeste,  welcher  Umstand  die  zur  Bildung  der 
gewöhnlichen  heterologischen  Skoliose  notwendige  Vergrößerung  des 
Flankenabstandes  verhinderte. 

Eine  ganz  andere  Art  von  homologer  Skoliose  zeigte  ein  anderer, 
der  einzige  derartige  von  mir  beobachtete  Fall.  In  der  älteren  Literatur 
sind  Fälle  zu  finden,  aus  deren  Beschreibungen  mit  Sicherheit  zu  ent- 
nehmen ist,  daß  statt  Abduktion  des  kranken  Beines  Adduktion  des- 
selben, statt  Senkung  des  Beckens  auf  der  erkrankten  Seite  Hochstand 
desselben  bestanden  hat.  Daß  diese  Bein-  und  Beckenstellung  eine 
homologe  Skoliose  zur  Folge  haben  muß,  ist  ohne  weiteres  klar.    Da- 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  63 

gegen  stand  die  Möglichkeit  dieser  Bein-  und  Beckenstellung  selbst 
mit  den  von  mir  abgeleiteten  Grundsätzen  der  Selbsthilfestellung  des 
Beines  bei  Ischias  in  einem  gewissen  Widerspruche,  da  die  anatomi- 
schen Untersuchungen  gezeigt  haben,  daß  die  Entspannung  des  Nervus 
ischiadicus,  welche  bei  Ädduktion  des  Beines  auftritt,  unverhältnismäßig 
geringer  ist  als  diejenige,  welche  durch  Abduktion  erreicht  wird.  Der 
Entstehungsmodus  dieser  seltenen  Beinstellung  scheint  mir  durch  diesen 
zweiten  Fall  klargestellt  zu  werden. 

Fall  IV.  In  demselben  handelt  es  sich  ebenfalls  nicht  um  eine  reine 
Ischias;  vielmehr  bestanden  von  vornherein  sehr  lebhafte  Schmerzen  im 
Gebiete  des  Plexus  lumbalis.  Ich  sah  die  d4-jähr.  unverheiratete  Kranke 
erst,  als  sie  nicht  mehr  bettlägerig  war,  ungefähr  in  der  15.  Woche  nach 
Beginn  der  Erkrankung.  Der  behandelnde  Arzt  berichtete,  daß  der  sehr 
heftige  Prozeß  mit  voller  Intensität  plötzlich,  d.  h.  innerhalb  2 — 3  Stunden, 
ohne  nachweisbare  Ursache  begonnen  hatte,  und  zwar  mit  Schmerzen  in 
der  Lendengegend,  besonders  aber  mit  sehr  heftigen  ziehenden  Schmerzen 
im  Bauche,  welche  bis  in  den  rechten  Oberschenkel  ausstrahlten,  dessen 
vordere  Fläche  sie  ganz  einnahmen.  In  der  ersten  Nacht  bestand  der 
Verdacht  einer  Gallensteinerkrankung  oder  einer  Bauchfellentzündung.  Als 
diese  großen  Schmerzen,  die  3  Wochen  anhielten  und  die  Pat.  unbeweglich 
in  das  Bett  zwangen,  geringer  geworden  waren,  traten  Klagen  über  Schmerzen 
in  dem  Beine  der  erkrankten  Seite  hervor.  Schon  in  den  ersten  Tagen 
war  dem  Arzte  eine  intensive  Beugestellung  des  linken  Knies  aufgefallen, 
welche  Stellung  die  Pat.  durch  Kissen  stützen  ließ.  Die  Beugung  war 
derart  stark,  daß  die  Kranke  Tag  und  Nacht,  mit  aufgerichtetem  Kjiie, 
den  Unterschenkel  auf  der  ganzen  Fußsohle  ruhen  ließ.  Streckungsversuche, 
d,  h.  Versuche,  das  Bein  auf  die  Unterlage  hinzulegen,  die  im  Anfange 
vom  Arzte  versucht  wurden,  mußten  bald  wegen  heftiger  Schmerzen,  die 
sie  auslösten,  unterbleiben.  Als  ich  die  Pat.  sah,  fiel  zunächst  eine 
mächtige  Verstärkung  der  physiologischen  Lordose  im  Lendenteile  der 
Wirbelsäule  auf,  außerdem  war  der  Fuß  der  erkrankten  Seite  stark  nach 
außen  gerichtet  Das  Becken  der  erkrankten  Seite  stand  beim  Gehen  vor. 
Nebstdem  bestand  eine  deutliche  homologe  Skoliose  mit  Hochstand  des 
Beckens  auf  der  erkrankten  Seite.  Entsprechend  diesem  Hochstande,  ließ 
sich  eine  geringe,  aber  deutliche  Ädduktion  des  erkrankten  Beines  fest- 
stellen. Am  auffallendsten  war,  im  Verhältnis  zu  anderen  ähnlichen 
Fällen^  die  Verstärkung  der  physiologischen  Lordose  und  die  Drehung  des 
Beines  nach  außen.  Diese  Verstärkung  der  physiologischen  Lordose  ver- 
schwand beim  Sitzen  der  Pat.  nicht  nur  vollständig,  sondern  schlug  in 
eine  leichte  Kyphose  um,  sobald  die  Pat.  auf  der  Tischplatte  oder  dem 
Erdboden  aus  liegender  in  sitzende  Stellung  übergingt).  Sie  mußte  auf- 
gefaßt werden  als  die  kompensatorische  Folge  der  starken  Beugung  im 
Hüftgelenk,  welche  Beugung  sich  dann  auch  ohne  weiteres  demon- 
strieren ließ. 

In  Verfolgung  der  Ursachen,  welche  die  abnorm  starke  Flexion  im 
Hüftgelenk  und  die  Rotation  nach  außen  bedingen  konnten,  zeigten  ana- 
tomische Betrachtungen,  daß  eine  derartige  Stellung  Beugung  mit  Drehung 


1)  VergL  die  hierher  gehörenden  Betrachtungen  der  ersten  Arbeit. 


64  H.  Ehret, 

nach  außen  bei  gleichzeitiger,  wenn  auch  geringer  Adduktion,  vor  allem 
eine  mächtige  Entspannung  des  Musculus  psoas  herbeiführt.  Dieser 
M.  psoas  wird  aber  von  den  Nerven  des  Plexus  lumbalus  nicht  nur  ver- 
sorgt, sondern  auch  durchsetzt.  Die  heftigen  Schmerzen  im  Bauche,  die 
hinabzogen  bis  in  den  Oberschenkel  und  die  zuerst  spontan,  später  bei 
jedem  Versuche,  das  Bein  gerade  auf  die  Unterlage  zu  bringen,  auf- 
traten, weisen  direkt  auf  die  Mitbeteiligung  dieses  Muskels  hin. 

Als  ich  die  Fat.  sah,  zeigte  sie  auch  in  liegender  Stellung  noch  eine 
leichte  Flexion  des  Knies.  Diese  Flexion  konnte  schmerzlos  ausgeglichen 
werden  durch  entsprechende  Hebung  des  Fußes  und  des  Unterschenkels. 
Auch  dauernde  Streckung  des  Kniegelenkes  durch  Unterstützung  des  Unter- 
schenkels mit  Kissen  lösten  keine  Beschwerden  aus.  Dagegen  stellte 
sich  bei  dem  Versuche,  die  Streckung  des  Beines  durch  Aufdrücken  des 
Knies  auf  die  Unterlage  zu  erzielen,  heraus,  daß  die  Streckung  schmerz- 
haft war,  femer,  daß  sie  nur  durch  entsprechende  Mitbewegung  des  Beckens 
in  dem  untersten  Teile  der  Wirbelsäule  ermöglicht  wurde.  Eine  Ver- 
stärkung der  Beugung  des  Knies  war  ebenfalls  schmerzhaft,  jedoch  sehr 
viel  weniger,  als  der  zuletzt  beschriebene  Streckungsversuch.  Eine  Mit- 
bewegung des  Beckens  war  dabei  nicht  festzustellen. 

In  diesem  Falle  ist  meines  Erachtens  die  homologe  Skoliose  anzu- 
sprechen als  eine  spezielle  Folge  der  Schmerzhaftigkeit  der  den  Musculus 
psoas  versorgenden  und  durchsetzenden  Nerven.  In  der  Erkrankung 
dieser  Nerven  finden  zunächst  die  Schmerzen  im  Bauche  eine  Erklärung. 
Desgleichen  stimmt  mit  derselben  überein  die  Entspannung  des  Musculus 
psoas,  d.  h.  das  Bestreben,  diesen  Muskel  durch  stärkere  Flexion  und 
Rotation  den  Beines  nach  außen,  verbunden  mit  geringer  Adduktion, 
zu  schonen.  Bei  dem  Vorwiegen  und  dem  zeitlichen  Vorangehen  der 
Lumbagoschmerzen  gegenüber  den  Schmerzen  im  Nervus  ischiadicus 
ist  es  ohne  weiteres  erklärlich,  daß  die  durch  diese  Lumbago-psoas- 
Schmerzen  bedingte  Stellung  vorgewogen  hat  auf  Kosten  der  bei  reiner 
Ischias  typischen  Beinstellung.  Während  beide  Stellungen,  d.  h.  die 
gewöhnliche  Selbsthilfestellung  bei  Ischias  und  die  speziell  durch  die 
Erkrankung  der  Psoasnerven  bedingte  Stellung  in  Rotation  und  Flexion 
übereinstimmen,  unterscheiden  sich  dieselben  dadurch,  daß  erstere  eine 
Abduktion,  letztere  eine  Adduktion  bedingt.  Die  Tatsache,  daß  die 
Flexion  und  die  Rotation  so  stark  ausgeprägt  waren  gegenüber  der 
nur  geringen  Adduktion,  dürfte  dadurch  zu  erklären  sein,  daß  erstere 
sowohl  infolge  der  Erkrankung  des  Plexus  lumbalis,  wie  derjenigen  des 
Nervus  ischiadicus  angestrebt  wurden.  Die  bestehende  nur  geringe 
Adduktion  dagegen  wurde  lediglich  hervorgebracht  durch  das  Ueber- 
wiegen  der  schmerzhaften  Prozesse  im  Plexus  lumbalis  über  diejenigen 
im  Nervus  ischiadicus.  Die  Adduktionsstellung  mußte  im  vorliegenden 
Falle  außerdem  noch  bekämpft  werden  durch  die  schmerzhaften  Pro- 
zesse im  Nervus  ischiadicus  anticus,  die  sicher  mitgespielt  haben  (aus- 
strahlende Schmerzen  auch  auf  die  Vorderseite  des  Oberschenkels  1). 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  65 

Es  ist  nämlich  die  Abduktion  zur  Entspannung  des  Nervus  cruralis 
die  günstigste  Beinstellung.  Es  müssen  somit  gleichzeitige  schmerz- 
hafte Prozesse  im  Nervus  cruralis  und  im  Musculus  psoas  in  ihrer 
Wirkung  auf  die  Beinstellung,  was  die  Adduktion  bezw.  Abduktion 
anbetrifft,  sich  bekämpfen. 

Die  in  unseren  beiden  Fällen  beobachteten  homologen  Skoliosen 
sind  das  Produkt  einer  Mitbeteiligung  des  Plexus  lumbalis  bei  gleich- 
zeitiger Ischias,  oder  sie  sind  auch  das  Zeichen  des  Ueberwiegens  der 
schmerzhaften  Prozesse  im  Plexus  lumbalis  über  die  eigentlichen  Ischias- 
schmerzen. In  dem  ersteren  Falle  haben  wir  bei  typischer  Bein-  und 
Beckenstellung  eine  abnorme  Beeinflussung  der  Rumpfstellung.  Im 
zweiten  Falle  wird  die  Beinstellung  in  einem  Punkte  (Abduktion)  voll- 
ständig verändert,  in  zwei  anderen  (Flexion  und  Rotation)  accentuiert 
Dadurch  wird  in  der  typischen  Bein-Becken  Stellung  bei  sonst  gleich- 
bleibenden Merkmalen  statt  Abduktion  des  Beines  Adduktion  desselben, 
und  folglich  statt  Tiefstand  Hochstand  des  Beckens  bewirkt. 

Wir  haben  in  einem  Falle  homologe  Skoliose  trotz  der  gewöhnlichen 
in  der  Regel  zur  heterologen  Skoliose  führenden  Beinstellung,  im  anderen 
homologe  Skoliose,  verursacht  durch  eine  Modifikation  der  typischen 
Beinstellung.  Und  so  kommen  wir  zur  Einsicht,  daß,  während  die 
heterologe  Skoliose  nach  Ischias  eine  regelmäßige  typische  Gestalt 
hat,  mit  sich  gleichbleibenden  Merkmalen,  die  gelegentlich  zu  beobach- 
tenden homologen  Skoliosen  keine  einheitliche  Form  darstellen,  viel- 
mehr in  ihrer  Gestaltung  von  Fall  zu  Fall  wechseln.  Sie  sind  das 
Produkt  von  besonderen  Verhältnissen,  welche  die  typische  heterologe 
Skoliose  beeinflussen  und  mehr  oder  weniger  modifizieren,  welche  Ver- 
hältnisse hauptsächlich  in  der  Mitbeteiligung  des  Plexus  lumbalis  oder 
in  dem  Ueberwiegen  der  Erkrankung  desselben  zu  suchen  sind.  Weitere 
Beobachtungen  müssen  lehren,  ob  diese  Erklärung  für  alle  Fälle  von 
homologer  Skoliose  zutriflft.  Die  schon  erwähnten,  von  Rümpf  publi- 
zierten Fälle  sprechen  jedenfalls  für  ihre  Richtigkeit.  In  denselben 
handelt  es  sich  zum  Teil  um  reine  Erkrankungen  im  Gebiete  des  Plexus 
lumbalis,  also  ohne  Mitbeteiligung  des  Nervus  ischiadicus.  In  diesen 
letzteren  Fällen  bestand  nun  eine  deutliche,  ja  starke  Verbiegung  der 
Wirbelsäule,  welche  als  homologe  Skoliose  anzusprechen  ist.  Es  geht 
daraus  hervor,  daß  schmerzhafte  Prozesse  im  Gebiete  des  Plexus  lum- 
balis im  Stande  sind,  an  und  für  sich  Verbiegungen  der  Wirbelsäule  zu 
verursachen;  und  zwar  kommen  diese  Verbiegungen,  wie  nach  unseren 
Ausführungen  zu  schließen  ist,  durch  die  Beeinflussung  des  Flanken- 
abstandes zu  Stande.  Es  kann  somit  das  Bestehen  derartiger  Schmerzen 
neben  Ischias  nicht  ohne  Einfluß  sein  auf  die  durch  die  Ischias  selbst 
verursachte  Verbiegung  der  Wirbelsäule.  Dieser  Einfluß  wird  im  großen 
und  ganzen  immer  darauf  hinausgehen,  die  Skoliose,  wenn  möglich,  zu 
einer  homologen  zu  machen. 

IfStUO.  a.  d.  QnaxgtMttm  d.  Madlstn  o.  Chirnrgie.    JLIU.  Bd.  5 


66  H.  Ehret, 

Um  vollständig  zu  sein,  müssen  wir  noch  eine  andere,  allerdings 
außerordentlich  seltene  Form  der  Skoliose,  die  bei  oder  nach  Ischias 
gelegentlich  beobachtet  worden  ist,  erwähnen:  Die  sogenannte  alter- 
nierende Skoliose,  d.  h.  eine  Verbiegung  der  Wirbelsäule,  die  bald 
heterologe,  bald  homologe  Gestaltung  zeigt.  Und  zwar  zeichnen  sich 
die  bis  jetzt  beschriebenen  drei  oder  vier  Fälle  alternierender  Skoliose 
dadurch  aus,  daß  die  Inhaber  dieselben  willkürlich  verändern  konnten. 
In  den  beschriebenen  Fällen  dieser  Art  hat  es  sich  durchweg  um  spe- 
ziell geschulte  Menschen,  Akrobaten,  Zirkusreiter,  Schlangenmenschen 
u.  s.  w.  gehandelt.  In  den  vorhandenen  Beschreibungen  fehlen  Angaben« 
die  einen  Schluß  auf  die  Stellung  des  Beckens  erlauben.  Ging  mit 
der  Veränderung  der  Skoliose  auch  eine  Veränderung  der  Beckenstellung 
Hand  in  Hand?  Diese  für  die  Kenntnis  der  Vorgänge  notwendig  zu 
beantwortende  Frage  ist  aus  dem  vorhandenen  Material  nicht  zu  lösen. 

Einen  derartigen  Fall  willkürlich  veränderter  Skoliose  nach 
Ischias  habe  ich  in  den  letzten  Jahren  nicht  gesehen.  Dagegen  hatte 
ich  Gelegenheit  einen  etwas  anders  gearteten  Fall  zu  beobachten,  der 
zweifellos  in  diese  Kategorie  einzureihen  ist,  obgleich  bei  demselben 
von  einer  Willkürlichkeit  des  Umschlages  von  einer  Form  der  Skoliose 
in  die  andere  nicht  gesprochen  werden  kann.  Die  betreffende  Kranke 
zeigte  in  der  Regel  eine  heterologe,  dazwischen  gelegentlich  eine  homo- 
loge Form  der  Skoliose,  ohne  daß  jedoch  die  Kranke  selbst  im  stände 
gewesen  wäre,  bestimmend  auf  die  Form  der  Skoliose  mit  einzuwirken. 
Der  Umschlag  selbst  von  einer  Form  in  die  andere  konnte  nicht  be- 
obachtet werden;  es  liegt  jedoch  Grund  zur  Annahme  vor,  daß  derselbe 
sich'}  nicht  ruckweise,  sondern  allmählich  in  einer  gewissen  Spanne  Zeit 
vollzog.  Daß  aus  einer  zunächst  homologen  Skoliose  in  der  Folge 
eine  heterologe  werden  kann,  habe  ich  schon  früher  erwähnt.  Dabei 
handelt  es  sich  doch  nur  um  einen  einmaligen  Umschlag  aus  einer 
vorübergehenden  zu  einer  Dauerform.  Der  FaU  alternierender  Skoliose 
verhielt  sich  folgendermaßen: 

Fall  V.  M.  V.,  38-jähr.  Frau,  zwei  Geburten.  Pat.  wurde  zunächst 
von  einer  heftigen  Ischias  befallen,  welche  sehr  lange  Zeit  anhielt.  Ich 
sah  die  Kranke  ungefähr  1 1  Monate  nach  Beginn  der  rechtsseitigen  Ischias- 
erkrankung, als  dieselbe  schon  6  Monate  nicht  mehr  bettlägerig  war. 
Damals  bestand  eine  ausgesprochene,  heterologe  Skoliose  mit  allen  üblichen 
Erscheinungen:  Beckentiefstand,  Drehung  des  Fu^es  nach  aulSen,  Ver- 
stärkung der  physiologischen  Lordose  im  Lendenteil,  Vergrößerung  des 
Flankenabstandes  und  Tiefstand  der  Glutäalfalte  auf  der  kranken  Seite. 
Diese  Pat.  wurde  18  Monate  nach  Beginn  der  Ischias,  als  sie  sich  von 
derselben  genesen  betrachtete,  durch  neue  Schmerzen  befallen,  diesmal 
ausschließlich  im  Ausbreitungsgebiet  des  Plexus  lumbalis.  Pat.  lag  über 
6  Wochen  an  diesem  Lumbago  zu  Bett.  Ich  sah  sie  ungefähr  3  Monate 
nach  Beginn  dieser  letzteren  Erkrankung  zum  zweitenmal.  Von  der 
Ischias  wollte  sie  damals  Beschwerden  nicht  mehr  haben.  Die  Untersuch- 
ung  ergab   nun   eine   ausgesprochene    homologe    Skoliose    mit    deutlichem 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  67 

Beckenhochstand  und  Verkleinerung  des  Flankenabstandes  auf  der  kranken 
Seite.  Das  rechte  Bein  war  mindestens  eben  so  stark,  wenn  nicht  stärker 
nach  außen  gedreht  als  früher.  In  der  Folge  habe  ich  die  Fat.  noch 
wiederholt  gesehen  und  bei  ihr  zweimal  eine  heterologe  Form  der  Skoliose 
mit  den  typischen  zuerst  aufgezählten  Eigenschaften  feststellen  können, 
dreimal  eine  homologe  Form  derselben,  mit  den  zuletzt  erwähnten  Eigen- 
tümlichkeiten. Die  Fat.  klagte  mit  großer  Regelmäßigkeit,  wenn  die 
homologe  Skoliose  zu  finden  war,  vorwiegend  über  Schmerzen  in  der 
Lienden-  und  Gesäßgegend;  bestand  die  heterologe  Skoliose,  so  bezogen 
sich  die  Klagen  hauptsächlich  auf  das  rechte  Bein.  Konstant  in  dem 
Wechsel  war  nur  die  Drehung  des  Beines  nach  außen. 

Nach  den  voraufgegangenen  Ausführungen  bedarf  der  Mechanismus 
dieser  unzweifelhaft  als  alternierende  [Skoliose  zu  bezeichnender  Ver- 
krümmung der  Wirbelsäule  nur  einer  kurzen  Besprechung.  Die  sub- 
jektiven Erscheinungen  krankhafter  Vorgänge  im  nervösen  Apparat 
überhaupt,  in  den  peripheren  Nerven  insbesondere,  sind  bekanntlich 
sehr  großen  Intensitätsschwankungen  unterworfen,  deren  Ursachen  wir 
zum  TeU  noch  gar  nicht,  zum  Teil  recht  unvollkommen  übersehen 
(Aufregung,  Zorn,  Witterungseinflüsse,  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft, 
Gewitter  u.  s.  w.).  So  standen  bei  unserer  Patientin,  ohne  daß  die 
Ursachen  des  Wechsels  nachgewiesen  werden  konnten,  bald  die  Schmerzen 
im  Gebiet  des  Plexus  lumbalis,  bald  die  richtigen  Ischiasschmerzen  im 
Vordergrund,  und  je  nachdem  die  einen  oder  die  anderen  überwogen, 
wurde  bald  die  homologe  Skoliose  (Plexusschmerzen)  bald  die  heterologe 
Skoliose  (Ischiasschmerzen)  beobachtet.  Dieser  Wechsel  hatte  seine 
Ursache  in  der  Beeinflussung  in  der  Bein-  und  Beckenstellung,  folglich 
auch  der  Wirbelsäulestellung  (die  Patientin  war  dauernd  auf)  durch  die 
vorherrschenden  Schmerzen,  Beeinflussung,  wie  wir  sie  gelegentlich  als 
dauernde,  bei  ähnlichen  Vorgängen  beobachtet  haben  (siehe  oben).  Ver- 
schwinden die  Plexusschmerzen,  oder  treten  sie  gegenüber  den  Ischias- 
beschwerden in  den  Hintergrund,  so  hatten  wir  die  reine  typische  Bein-, 
Becken-  und  Wirbelsäulestellung  der  Ischias.  Daß  in  diesem  Falle 
nicht  wie  in  anderen  eine  dauernde  Mittelstellung  hervorgebracht  wurde, 
ist  jedenfalls  dem  Umstände  zuzuschreiben,  daß  die  Erkrankung  die 
beiden  Gebiete  getrennt,  in  zwei  weit  auseinanderliegenden  Zeitab- 
schnitten befallen  hat. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  der  Uebergang  einer  homologen  Skoliose 
in  eine  heterologe,  wie  wir  ihn  als  einmaligen  früher  kennen  gelernt 
haben,  und  der  jetzt  beschriebene  wiederholte  Wechsel  zwischen  beiden 
Stellungen  richtige  alternierende  Skoliosen  sind,  und  als  Vorstufen  auf- 
gefaßt werden  müssen  zu  den  so  seltenen  willkürlich  veränderlichen 
Fällen.  Im  Prinzip  dürften  bei  allen  die  Erscheinungen  dieselben  sein. 
Es  wird  mehr  Uebungssache  und  Schulung  des  damit  Behafteten  sein, 
aus  einem  Fall,  wie  er  eben  beschrieben  wurde,  eine  willkürlich  alter- 
nierende Form  zu   machen.    Ist  der  Krankheitsprozeß  in  beiden  Ge- 

5* 


68  H,  Ehret, 

bieten  abgeklungen,  so  wird  der  Kranke,  wenn  er  sich  beizeiten  darauf 
einübt  und  seine  Aufmerksamkeit  darauf  gerichtet  ist,  bald  die  eine, 
bald  die  andere  Form  der  Skoliose  vorzaubem  können. 

Fassen  wir  an  dieser  Stelle  einmal  die  bis  jetzt  beobachteten  Merk- 
male der  Skoliose  bei  Ischias  zusammen,  die  sich  zwanglos  mit  dem  von 
mir  gelehrten  Mechanismus  ihrer  Entstehung  erklären  lassen,  so  sind 
aufzuzählen:  Abduktion  des  kranken  Beines,  Flexion  im  Hüftgelenk, 
Flexion  im  Kniegelenk,  Rotation  nach  außen,  Tiefstand  des  Beckens, 
Verstärkung  der  physiologischen  Lordose,  Drehung  der  Wirbelsäule  um 
ihre  Längsachse,  abnorm  starke  Ausbildung  eines  jeden  einzelnen  dieser 
Merkmale  in  dem  einen  oder  anderen  Fall,  Beckentiefstand,  Adduktion 
des  Beines,  Vergrößerung  des  Flankenabstandes,  Verkleinerung  des 
Flankenabstandes,  Tieferstehen  der  Glutäalfalte,  Höherstehen  derselben, 
heterologe,  homologe,  alternierende  Skoliose.  Es  bleibt  nur  eine  einzige 
in  seltensten  Fällen  angegebene  Erscheinung,  die  bis  jetzt  mit  unserer 
Erklärung  der  Skoliose  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist;  es  ist  dies 
die  Rotation  des  Beines  nach  innen,  die  in  dem  einen  oder  anderen  in 
der  Literatur  sich  findenden  Fall  bestanden  haben  soll.  Ich  selbst  habe 
auch  unter  den  ziemlich  zahlreichen  Fällen  der  letzten  Jahre  eine  Ro- 
tation nach  innen  nie  beobachten  können.  Aus  diesem  Grunde  will  ich 
mit  einem  Urteil  über  das  tatsächliche  Vorkommen  dieser  Stellung  und 
ihre  etwaige  Vortäuschung  durch  Drehung  in  der  Wirbelsäule  sowie 
ihre  eventuelle  Erklärung  zurückhalten. 

Nach  dem  Voraufgegangenen  ist  eine  Mitbeteiligung  des  Plexus 
lumbalis  bei  der  Beurteilung  der  Sachlage  in  dem  einzelnen  Fall  von 
großer  Bedeutung.  So  leicht  diese  Mitbeteiligung  gelegentlich  schon 
in  den  angegebenen  Schmerzen  und  Beschwerden  zu  erkennen  ist,  so 
schwer  kann  unter  Umständen  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  das 
Ausbreitungsgebiet  des  Plexus  lumbalis  zum  Teil  miterkrankt  ist  oder 
nicht,  sich  gestalten.  Es  liegen  hier  genau  dieselben  Verhältnisse  vor, 
wie  für  die  Ischias:  unter  Umständen  ist  es  nicht  leicht,  das  Bestehen 
einer  Ischias  festzustellen.  In  derartigen  Fällen  ist  uns  das  Ischias- 
phänomen ein  willkommenes  Hilfsmittel.  Dieses  Ischiasphänomen  be- 
steht im  wesentlichen  darin,  daß  die  Hebung  des  Unterschenkels,  voraus- 
gesetzt, daß  der  Kranke  mit  gebeugtem  Knie  im  Bette  liegt,  bis  in  die 
Verlängerung  des  stark  flektierten  Oberschenkels,  Schmerzen  auslöst. 
Haben  wir  schmerzhafte  Prozesse,  die  die  Lenden-  und  Gesäßgegend 
einnehmen  und  liegt  solchen  Prozessen  keine  Ischias,  sondern  eine  Er- 
krankung des  Plexus  lumbalis  zu  Grunde,  so  bleibt  die  Schmerzäußerung 
bei  Hebung  des  Unterschenkels  bis  in  die  Verlängerung  des  flektierten 
Oberschenkels  aus.  Dagegen  ist  ein  Versuch,  das  Bein  durch  Durch- 
drücken des  Kniees  in  seiner  ganzen  Länge  auf  die  Unterlage  zu  brnigen, 
schmerzhaft. 

Ist  zugleich  Ischias  und  Erkrankung  des  Plexus  lumbalis  vorhanden, 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  69 

SO  ist  die  Prüfung  nicht  zu  gebrauchen,  da  dieses  Durchdrücken  auch  bei 
Ischias  Schmerzen  verursacht.  Um  die  Mitbeteiligung  des  Plexus  lum- 
balis  bei  gleichzeitiger  Ischias  in  zweifelhaften  Fällen  festzustellen,  ist 
es  empfehlenswert,  (den  Kranken  auf  die  gesunde  Seite  zu  legen,  das 
Knie  der  erkrankten  Seite  zu  flektieren  und  dann  zu  versuchen,  den 
Oberschenkel  im  Hüftgelenk  zu  strecken.  Es  pflegt  dieses  in  gewissen 
Fällen  hauptsächlich  wenn  die  Nerven  des  Psoas  erkrankt  sind,  Schmerzen 
auszulösen,  die  nicht  selten  in  den  Bauch  verlegt  werden.  Eine  andere 
Methode,  die  besonders  bei  nicht  bettlägerigen  Patienten  mit  mehr  un- 
bestimmten Schmerzen  Anwendung  finden  kann,  ist  folgende:  Dem 
Kranken  wird  aufgegeben,  den  Rumpf  nach  der  gesunden  Seite  möglichst 
stark  seitwärts  zu  neigen,  was  beim  Gesunden  gleichbedeutend  ist  mit 
einer  Vergrößerung  des  Flankenabstandes  auf  der  entgegengesetzten 
Seite.  Sind  nun  auf  dieser  entgegengesetzten  Seite  schmerzhafte  Pro- 
zesse im  Musculus  quadratus  lumborum,  im  Musculus  transversus  ab- 
dominis,  im  Musculus  obliquus  internus  vorhanden,  so  wird  in  der 
Regel  bei  dieser  Bewegung  der  Fuß  auf  der  erkrankten  Seite  vom  Erd- 
boden gehoben.  Diese  Hebung  des  Fußes  ist  als  Ausdruck  des  Be- 
strebens aufzufassen,  einer  Vergrößerung  des  Flankenabstaudes  auf  der 
kranken  Seite  durch  die  gleichzeitig  stattfindende  Hebung  des  Beckens 
vorzubeugen. 

Schließlich  müssen  wir  noch  derjenigen  Fälle  von  Ischias  gedenken, 
die  eine  Skoliose  überhaupt  nicht  verursachen.  Obwohl  die  Skoliose 
eine  häufige  Folgeerscheinung  der  Ischias  ist,  tritt  sie  jedoch  keines- 
wegs immer  auf.  Es  muß  betont  werden,  daß  die  Skoliose  tatsächlich 
seltener  fehlt  als  wohl  angenommen  wird,  häufig  sind  die  Erscheinungen 
der  Skoliose  aber  so  gering,  daß  sie  keine  Beachtung  finden.  In  anderen 
Fällen  besteht  eine  Verbiegung  der  Wirbelsäule  nur  vorrübergehend,  und 
wird  mit  dem  Aufhören  der  Schmerzen  recht  bald  wieder  ganz  ausge- 
glichen. Die  Fälle,  in  denen  eine  ausgesprochene  Ischias  ohne  jeden  Ein- 
fluß auf  die  Wirbelsäule  bleibt,  sind  entschieden  in  der  Minderzahl.  Da- 
gegen gehört  das  Auftreten  hochgradiger  Skoliose  nach  Ischias  entschieden 
nicht  zu  den  Seltenheiten.  Es  ist  nicht  leicht,  ein  nur  annähernd  zuver- 
lässiges Urteil  über  die  Häufigkeit  der  Skoliose  überhaupt,  der  hochgra- 
digen Skoliose  insbesondere  abzugeben.  Ich  schätze  nach  den  von  mir  ge- 
machten Erfahrungen,  daß  auf  100  Fälle  von  Ischias  ca.  70—80  eine  Ver- 
biegung der  Wirbelsäule  zeigen,  und  daß  es  sich  in  der  Hälfte  von  diesen 
Fällen  um  eine  nicht  zu  übersehende  Skoliose  handelt.  Die  Beobachtung 
hat  mir  gezeigt,  daß  das  Zustandekommen  der  Skoliose  sowie  der  Grad 
ihrer  Ausbildung  keineswegs  ohne  weiteres  abhängt  von  der  Intensität 
der  Schmerzen.  Es  gibt  sehr  heftige  Ischiasfälle,  die  auf  die  Wirbel- 
säule einen  weit  geringeren  Einfluß  ausüben  als  minder  heftige.  la 
letzteren  handelt  es  sich,  das  sei  hier  vorweg  genommen,  mehr  um 
subchronische   bis  chronische  Erkrankung.    Während   in  Fällen  außer- 


70  H.  Ehret, 

ordentlicher  Schmerzhaftigkeit,  die,  solange  sie  besteht,  beständige  Bett- 
ruhe erheischt,  meiner  Erfahrung  nach,  eine  nennenswerte  Verbiegung 
der  Wirbelsäule  in  der  Folge  eher  ausbleibt,  tritt  nicht  selten  eine  sehr 
hochgradige  auf  in  Ischiasfällen,  in  denen  die  Kranken  eigentlich  nie 
zu  dauernder  Bettruhe  gezwungen  sind  und  die  mit  weit  geringerer 
Schmerzhaftigkeit  verlaufen.  Diese  aus  der  Beobachtung  hervorgegangene 
Regel  scheint  mir  mit  folgendem  zusammenzuhängen:  Zunächst  ist 
es  nicht  gleichgültig,  welche  Partie  des  Nervus  ischiadicus  der  Sitz  der 
Schmerzen  ist  In  der  Regel  läßt  sich  sagen,  daß  für  das  Zustande- 
kommen oder  NichtZustandekommen  der  Skoliose  die  Mitbeteiligung  des 
eigentlichen  Nervenstammes  ausschlaggebend  ist.  Fehlt  die  Erkrankung 
des  Nervenstames,  und  spielt  sich  der  schmerzhafte  Prozeß  lediglich  in 
den  peripheren  Aesten  ab,  so  kann  trotz  größter  Schmerzhaftigkeit  die 
Verbiegung  der  Wirbelsäule  ausbleiben;  andererseits  kann  bei  Er- 
krankung des  Nervenstammes,  auch  bei  ganz  geringen  Schmerzen,  eine 
Verbiegung  der  Wirbelsäule  auftreten.  Es  ist  diese  Abhängigkeit  der 
Skoliose  von  der  Lokalisation  der  Erkrankung  eigentlich  selbstverständ- 
lich, denn  die  primäre  Ursache  der  Skoliose  ist  die  Selbsthilfestellung 
des  erkrankten  Beines,  und  diese  wirkt  hauptsächlich  entspannend  auf 
den  Nervenstamm,  während  ihr  entspannender  Einfluß  auf  die  peripheren 
Aeste  nur  gering  ist.  Diese  Selbsthilfestellung,  also  die  Ursache 
der  Skoliose,  wird  darum  stärker  ausfallen  in  den  Fällen,  wo  der 
Nervenstamm  selbst  der  Sitz  der  Erkrankung  ist.  Schließlich  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  daß  trotz  der  Erkrankung  des  Nervenstammes  die 
Selbsthilfestellung  und  die  Skoliose  vollständig  ausbleiben.  Nämlich, 
wenn  daneben  eine  Schmerzhaftigkeit  in  den  peripheren  Aesten  und 
ihrem  Ausbreitungsgebiet  in  solcher  Intensität  vorhanden  ist,  daß  die 
aktive  Beteiligung  der  Muskel  und  die  passive  Inanspruchnahme  der 
Fascien,  Bänder  u.  s.  w.,  welche  die  Einnahme  und  Einhaltung  der 
Selbsthilfestellung  erheischt,  von  wegen  der  Schmerzhaftigkeit  unmöglich 
gemacht  wird.  Es  können  unter  Umständen  die  geringen  Zerrungen 
und  Bewegungen,  die  zur  Einnahme  der  Selbsthilfestellung  nötig  sind, 
derartige  Schmerzen  auslösen,  daß  sie  das  Bein  einfach  lahmlegen.  In 
derartigen  Fällen  wird  die  Skoliose  entweder  nur  sehr  wenig  angedeutet 
sein,  oder  ganz  ausbleiben.  Ferner  mag  die  Art  der  Erkrankung  selbst 
für  das  Zustandekommen  oder  NichtZustandekommen  der  Skoliose  nicht 
gleichgültig  sein.  Ueber  die  anatomisch-pathologischen  Befunde  der 
Ischias  ist  verhältnismäßig  nur  wenig  bekannt.  Wahrscheinlich  ist  es 
jedoch,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  daß  Krankheitsprozesse,  welche 
Infiltration  und  Schwellungen  des  Nerven  machen,  eine  größere  Ent- 
spannung des  Nerven  wünschenswert  machen  als  Fälle,  in  denen  der 
Nerv  selbst  nicht  verändert  ist.  Es  ist  jedenfalls  das  gelegentliche 
Ausbleiben  der  Skoliose  auch  nach  heftigster  Ischias  leicht  zu  erklären. 
Dieses    gelegentliche  Ausbleiben    der  Skoliose,   gerade    bei  heftigsten 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  71 

Fällen  von  Ischias,  steht  mit  der  Annahme  der  Entstehung  der  Skoliose 
überhaupt  im  Einklang.  Wo  es  nicht  zur  Skoliose  kommt,  fehlt  von 
vornherein  auch  die  stark  ausgesprochene  Beinstellung.  Fälle,  bei  denen 
es  ohne  ausgeprägte  Beinstellung  zur  Skoliose  gekommen  wäre,  habe 
ich  nicht  gesehen.  Auf  weitere  Momente,  die  das  Zustandekommen, 
bezw.  das  NichtZustandekommen  der  Skoliose  begünstigen,  werden  wir 
weiter  unten  zu  sprechen  kommen. 

Fassen  wir  das  Ergebnis  unserer  Betrachtungen  zusammen,  so 
kommen  wir  zu  folgenden  Schlüssen:  1)  Die  typische  Skoliose  nach 
Ischias,  d.  h.  die  durch  die  Ischias  als  solche  bedingte  Skoliose  ist  die 
sogenannte  heterologe  Skoliose.  2)  Diese  Skoliose  hat  ihre  Ursache  in 
rein  statisch-mechanischen  Ursachen.  Sie  geht  hervor  aus  der  eigen- 
tümlichen, im  wesentlichen  einer  Verkürzung  des  erkrankten  Beines 
gleichkommenden,  früher  beschriebenen  Selbsthilfestellung  desselben. 
3)  Andere  Formen  der  Skoliose  (homologe,  alternierende  Form)  werden 
durch  besondere  Verhältnisse  bedingt,  die  mit  der  eigentlichen  Ischias 
nichts  zu  tun  haben,  die  aber  die  primäre  Stellung  des  Beines  oder 
die  sekundäre  Stellung  des  Beckens  in  dem  einen  oder  anderen  Punkt 
beeinflussen. 

Therapeutische  Bemerkungen.  Es  ist  nicht  meine  Absicht, 
an  dieser  Stelle  die  Therapie  der  Ischias  überhaupt  zu  besprechen. 
Die  gegen  die  Ischias  empfohlenen  Mittel  sind  außerordentlich  zahlreich. 
Es  ist  entschieden  nicht  ganz  leicht,  etwas  zu  erwähnen,  was  nicht  em- 
pfohlen wäre.  Am  Schlüsse  habe  ich  die  wichtigsten  Arbeiten  der 
letzten  fünf  Jahre  über  dies  Thema  zusammengestellt.  Ihr  Inhalt  inter- 
essiert uns  hier  doch  nur,  soweit  er  die  Verhütung  und  die  Therapie 
der  Skoliose  betrifft.  In  dieser  Beziehung  allerdings  sind  die  Bemer- 
kungen und  Angaben  in  der  Literatur  außerordentlich  spärlich.  Die 
Verhütung  und  die  Therapie  der  Skoliose  wird  jedoch,  wie  wir  sehen 
werden,  nicht  durchweg  vollständig  getrennt  zu  behandeln  sein  von  der 
Therapie  der  Ischias  selbst  In  einzelnen  Punkten  wird  die  Verhütung 
und  die  Behandlung  der  Skoliose  einerseits  mit  der  Behandlung  der 
Ischias  selbst  übereinstimmen.  Die  Therapie  und  Verhütung  der  Skoliose 
kann  hier  jedoch  auch  nur  behandelt  werden,  soweit  dieselbe  sich  aus 
unserer  Annalune  der  Entstehung  der  Skoliose  ergeben.  In  folgendem 
unterscheiden  wir :  a)  Therapie  der  Skoliose  soweit  sie  mit  unserer  An- 
nahme der  Entstehung  der  Skoliose  in  Zusammenhang  steht,  b)  Die 
Therapie  der  Iscliias,  soweit  dieselbe  mit  den  unter  a)  unterzubringenden 
Maßnahmen  zusammenfallt. 

Zunächst  zur  Verhütung  und  Therapie  der  Skoliose.  Vorausschicken 
will  ich,  daß  mit  der  Bezeichnung  Skoliose  hier  und  im  folgenden 
die  typische  heterologe  Skoliose  gemeint  ist;  für  die  Abweichungen  von 
dieser  nach  Ischias  typischen  Skoliose  ergeben   sich  gewisse  Modifika- 


72  H.  Ehret, 

tionen  der  einzuschlagenden  Therapie,  auf  die  ich  hier  nicht  näher  ein- 
gehen will,  und  die  sich  zum  Teil  von  selbst  ergeben. 

Für  die  Therapie  wichtig  ist  die  genauere  Kenntnis  derjenigen  Mo- 
mente, welche  die  Bildung  einer  Skoliose  bei  der  Ischias  begünstigen,  bezw. 
vereiteln.  Diese  Momente  lernten  wir  wenigstens  zum  Teil  schon  kennen, 
als  wir  die  Regeln  für  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Skoliose 
ableiteten.  Allerdings  sind  wir,  da  in  der  Literatur  über  die  Momente, 
die  die  Bildung  der  Skoliose  nach  Ischias  begünstigen  oder  vereiteln, 
nichts  zu  finden  ist,  lediglich  auf  persönliche  Erfahrungen  angewiesen. 
Bis  jetzt  verfüge  ich  ungefähr  über  105  Fälle  von  Ischias.  Es  muß 
jedoch  die  Beobachtung  weit  größerer  Reihen  noch  zeigen,  ob  die  An- 
sicht, die  ich  nur  aus  diesen  Fällen  über  die  hierher  gehörenden  Fragen 
gebildet  habe,  die  richtige  ist.  Daß  die  heftigsten  Ischiasfalle  nicht 
auch  die  hochgradigsten  Skoliosen  machen,  habe  ich  schon  erwähnt. 
Außerdem  ist  es  außerordentlich  selten,  daß  eine  akut  einsetzende, 
akut  verlaufende  und  zu  Ende  gehende  Ischias  eine  erhebliche  Skoliose 
bedingt,  auch  wenn  die  Schmerzen  während  der  Erkrankung  noch  so 
heftig  sind.  In  fünf  Fällen  heftigster  akuter  Ischias  meiner  Beobach- 
tung, die  zum  Teil  während  des  Krankenlagers  eine  ausge- 
sprochene Selbsthilfestellung  des  erkrankten  Beines  zeigten,  kam  es 
nicht  zur  Entwickelung  einer  Skoliose.  In  einem  sechsten  ähnUchen 
Fall  dagegen  kam  eine  stark  entwickelte  Skoliose  zu  stände.  Während 
die  ersten  fünf  Ischiaskranken  während  der  ganzen  Dauer  der  Erkran- 
kung im  Bette  blieben,  stand  dieser  letzte  Patient  nach  vierwöchent- 
licher Dauer  der  Krankheit  dringender  Geschäfte  halber  auf  und  blieb  außer 
Bett ;  während  die  Heilung  der  Ischias  in  den  ersten  fünf  Fällen  ziem- 
lich rasch  vor  sich  ging,  nahm  das  letztere  eine  mehr  chronische  Form 
an  und  hielt,  allerdings  in  ganz  mäßiger  Intensität,  monatelang  an.  In 
der  Literatur  habe  ich  nur  einen  Fall  gefunden,  in  welchem  sich  bei 
heftigster  akut  verlaufender  Ischias  eine  bedeutende  Skoliose  entwickelt 
hat.  Viel  häufiger  als  bei  akuten  Fällen,  ist  die  Skoliose  bei  chronisch 
verlaufender  Ischias,  oder  bei  solchen,  die  nach  akutem  Anfang  einen 
subchronischen  oder  chronischen  Verlauf  annehmen.  Die  hochgradigste 
Skoliose,  die  ich  überhaupt  gesehen  habe,  betraf  einen  Patienten,  der 
nie  zu  Bett  gelegen  hatte.  Diese  durch  die  Erfahrung  gelehrte  Regel 
über  das  Vorkommen  der  Skoliose  ist  mit  unserer  Annahme  der  Ent- 
stehung der  Skoliose  sehr  wohl  in  Einklang  zu  bringen,  und  wird  durch 
sie  erst  verständlich.  Die  Entstehungsweise  der  Skoliose  gibt  uns  in 
der  Tat  die  Erklärung  für  die  Beobachtung,  daß  aklite,  wenn  auch 
heftigste  Ischias  nicht  so  häufig  zur  Skoliose  führt  als  minder  heftige, 
aber  chronische:  Fälle.  Als  erstes  haben  wir  die  Beinstellung,  die 
sogenannte  Selbsthilfestellung;  sie  ist  das  eigentlich  Primäre.  In  zweiter 
Linie  erst  kommen,  durch  erstere  bedingt,  die  Veränderung  der  Becken- 
stellung, welche  Veränderung  der  Beckenstellung  endlich  die  Verkrüm- 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  73 

mung  der  Wirbelsäule  hervorbringt.  Geht  also  die  Beinstellung  zurück, 
so  kommt  es  auch  nicht  zu  den  Konsequenzen,  d.  h.  zu  den  Verände- 
rungen der  Beckenstellung  und  der  Verkrümmung  der  Wirbelsäule. 
Diese  durch  Kompensation  hervorgebrachte  Verkrümmung  der  Wirbel- 
säule ist  eben  wegen  ihrer  Entstehungsursache  hauptsächlich  an  die 
aufrechte  Körperstellung  gebunden.  Theoretisch  sollte  sich  die  Ver- 
biegung  der  Wirbelsäule  erst  einleiten  (vergl.  Skoliose  bei  traumatischer 
Beinverkürzung),  wenn  der  Patient  anfängt  aufzustehen,  und  damit  eine 
Kompensation  der  Bein-  und  Beckenstellung  nötig  wird.  Dieses  trifft 
jedoch  tatsächlich  nicht  vollständig  zu.  Eine  Verbiegung  der  Wirbel- 
säule tritt  gelegentlich  schon  im  Bett  auf,  wenn  die  Kranken  noch  gar 
nicht  aufgestanden  sind.  Es  hängt  dieses  Auftreten  der  Verbiegung 
der  Wirbelsäule  im  Bett,  die  jedoch  immer  in  gewissen  geringeren 
Grenzen  bleibt,  mit  folgenden  Umständen  zusammen:  Die  Selbsthilfe- 
stellung des  Beines  ist  an  und  für  sich  mit  gewissen  Beschwerden  und 
Unbequemlichkeiten  für  den  Kranken  verknüpft.  Der  Patient  muß  die 
Selbsthilfestellung,  solange  sie  nicht  kompensiert  ist,  ängstlich  einhalten; 
beobachtet  er  diese  Stellung  nicht,  und  fällt  er  aus  derselben  heraus, 
wie  dies  z.  B.  gelegentlich  im  Schlafe  geschieht,  so  werden  oft  sehr 
lebhafte  Schmerzen  ausgelöst ;  andererseits  ist  die  offene  unkompensierte 
Selbsthilfestellung  des  Beines  höchst  unbequem,  da  infolge  der  Flexion 
des  Kniees  die  Bettdecke  in  die  Höhe  gehoben  wird  und  sich  anderer- 
seits infolge  der  Abduktion  des  doch  schließlich  in  die  Mitte  des 
Bettes  gelangenden  erkrankten  Beines  die  Körperlage  sehr  unbequem 
gestaltet  In  diesen  Nebenumständen  haben  wir  wohl  die  Ursache  da- 
für zu  suchen,  daß  der  Kranke  bestrebt  ist,  die  Selbsthilfestellung  des 
Beines  recht  frühzeitig  zu  kompensieren,  und  zwar  derart,  daß  die 
Einzelheiten  der  Selbsthilfestellung  in  manchen  Fällen  fast  vollständig 
verdeckt  werden.  Das  Becken  senkt  sich  auf  der  kranken  Seite,  durch 
eine  Biegung  der  Wirbelsäule  wird  der  Oberkörper  in  die  Mitte  des 
Bettes  gebracht.  Jedenfalls  haben  wir  schon  bei  länger  dauernder 
Bettlage,  wenn  nicht  eine  voll  ausgebildete,  so  doch  eine  angedeutete 
Verkrümmung  der  Wirbelsäule.  Obgleich  die  ausgesprochen  bleibende 
Skoliose  vor  allen  Dingen  ein  Produkt  ist  des  Aufstehens  und  Auf- 
bleibens des  Patienten,  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  bei  lange 
dauernder  Bettlage,  auch  schon  während  des  Krankenlagers,  und  zwar 
besonders  bei  Nachlassen  der  Schmerzhaftigkeit  eine  Verbiegung  der 
Wirbelsäule  sich  ausbildet:  Die  kompensierte  Selbsthilfestellung  ist  in 
allen  Punkten  für  den  Kranken  bequemer. 

Demnach  müssen  diejenigen  Fälle,  die  einen  raschen  Verlauf  zeigen, 
so  heftig  sie  auch  sind,  falls  sie  nicht  in  subchronischen  oder  chro- 
nischen Zustand  übergehen,  für  das  NichtZustandekommen  der  Skoliose 
die  günstigste  Prognose  geben;  wenn  diese  Kranken  aufstehen,  wenn 
also  der  Hauptfaktor  für  das  Zustandekommen  der  Skoliose  bei   be- 


74  H.  Ehret, 

stehender  Selbsthilfestellung  in  Kraft  tritt,  ist  letztere,  wegen  des  Ver- 
schwindens  der  Schmerzen,  kaum  noch  vorhanden.  Dagegen  geben  die 
schlechteren  Aussichten  diejenigen  Fälle,  die  chronisch  verlaufen  und 
ein  Aufstehen  des  Patienten  wegen  geringerer  Schmerzhaftigkeit  dauernd 
ermöglichen.  Es  stimmen  somit  die  theoretischen  Erwägungen  voll- 
ständig mit  den  tatsächlichen  Beobachtungen  überein.  Demnach  wären 
die  Verhütungsmaßregeln,  die  wir  gegen  das  Zustandekommen  der  Skoliose 
zu  ergreifen  hätten,  folgende: 

a)  Einmal  müssen  wir  das  schädigende  Moment,  nämlich  das  Auf- 
sein des  Patienten,  hinausschieben,  bis  die  Schmerzen,  und  mit  ihnen 
die  Selbsthilfestellung,  wenn  möglich  ganz  verschwunden  sind.  Je  früher 
wir  den  Patienten  bei  noch  vorhandenen  Schmerzen  gestatten  aufzu- 
stehen und  aufzubleiben,  um  so  mehr  setzen  wir  sie  der  Gefahr  einer 
erheblichen  Verbiegung  der  Wirbelsäule  aus.  Es  empfiehlt  sich  deshalb, 
die  Ischiaskranken,  wenn  nur  irgend  möglich,  bis  zum  Ablauf  der  Er- 
krankung in  horizontaler  Lage  zu  lassen.  Aeußerer  Umstände  halber 
wird  dieses  jedoch  nur  in  den  seltensten  Fällen  durchzuführen  sein. 
Muß  und  will  der  Kranke  aufstehen,  ehe  wir  es  aus  jenen  Gründen 
für  angezeigt  halten,  so  können  wir  ihm  das  Aufsein  unter  Verminde- 
rung der  Skoliosengefahr  ermöglichen,  indem  wir  ihn  an  Krücken  gehen 
lassen.  Auf  diese  Weise  gewinnt  der  Körper  neue  Stützpunkte,  die 
oberhalb  der  Beckenanomalie  einsetzen,  so  daß  letztere,  in  stehender 
Stellung,  eine  geringere  Wirkung  auf  die  Wirbelsäule  ausübt.  Der 
Gebrauch  der  Krücken  ist  für  jeden  ernsteren  Ischiasfall,  für  den  Anfang 
des  Aufstehens  um  so  dringender  zu  empfehlen,  als  erfahrungsgemäß 
gerade  bei  den  ersten  Gehversuchen,  die  die  schmerzhaftesten  sind, 
dem  Drange  zur  schlechten  Körperhaltung  nachgegeben  wird« 

b)  Unser  zweites  Bestreben,  und  dieses  ist  in  der  Praxis  am  besten 
durchzuführen,  muß  dahin  gehen,  die  schon  im  Bette  sich  einleitende 
Kompensation  der  Selbsthilfestellung  des  Beines  durch  Becken-  und 
Wirbelsäuleveränderung  unmöglich  zu  machen.  Da  das  Einhalten  der 
offenkundigen  Selbsthilfestellung,  wie  wir  gesehen  haben,  den  Patienten 
Beschwerden  verursacht  und  ihm  unter  Umständen  das  Liegen  sehr 
unbequem  macht,  was  die  Hauptursache  der  frühzeitig  auftretenden 
Kompensation  im  Bette  ist,  müssen  wir  darauf  hinausgehen,  diese  Haupt- 
ursache zu  beseitigen  und  den  Kranken  von  der  Unbequemlichkeit  und 
der  Sorge  dieser  Selbsthilfestellung  zu  befreien.  Dieser  Zweck  wird 
erreicht  durch  das  Anlegen  eines  festen  Verbandes  um  das  befallene 
Bein,  unter  strengster  Innehaltung,  ja  sogar  unter  einer  gewissen  Ueber- 
treibung  der  vorhandenen  oder  mangelhaft  entwickelten  Selbsthilfe- 
stellung des  Beines.  Diese  Fixierung  der  Beinstellung  in  der  noch 
offenkundigen  nicht  kompensierten  Selbsthilfestellung  entbindet  nicht 
nur  den  Kranken  von  der  ängstlichen  Anstrengung  der  Innehaltung 
derselben,   sie  verhindert  auch  zum  großen  Teil  das  spätere  Zustande- 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  75 

kommen  der  Kompensation  durch  Becken-  und  Wirbelveränderung;  und 
zwar  hauptsächlich  dadurch,  daß  das  Knie  in  der  stärkeren  Flexions- 
stellung fixiert  ist.  Ist  die  ängstliche  Sorge  des  Patienten  für  die  Inne- 
haltung der  Selbsthilfestellung  geschwunden,  so  ist  die  Neigung  zur  Kom- 
pensation eine  geringere;  die  Fixierung  des  Knies  in  der  initialen 
übertriebenen  Flexion  genügt,  um  ihr  Zustandekommen  zu  verhindern. 
In  denjenigen  Fällen,  bei  denen  das  Bein  infolge  eingetretener  Kom- 
pensation durch  das  Becken  und  die  Wirbelsäule  in  anscheinend  nor- 
maler Lage  im  Bette  liegt,  muß  bei  oder  vor  Anlegung  des  Verbandes 
diese  Kompensation  rückgängig  gemacht  werden.  Es  geschieht  dies  in 
der  Regel  am  besten  dadurch,  daß  man  den  Versuch  macht,  das  kranke 
Bein  zu  abduzieren,  nach  außen  zu  drehen  und  im  Hüftgelenk  zu  beugen. 
Dieser  Versuch,  es  bleibt  bei  schmerzhaften  Fällen  immer  beim  Versuch, 
da  eine  Veränderung  der  Beinstellung  gegenüber  dem  Becken  nicht 
auftritt,  genügt  in  der  Regel,  um  die  kompensatorischen  Stellungsano- 
nialien  des  Beckens  und  der  Wirbelsäule  wieder  rückgängig  und  die 
Selbsthilfestellung  wieder  offenkundig  zu  machen :  Becken-  und  Wirbel- 
säule folgen  der  Bewegung,  und  so  wird  auf  diese  Weise  eine  weitere 
Flexion,  Abduktion  und  Rotation  vereitelt. 

Bei  der  Anlegung  des  festen  Verbandes  kommt  es,  soll  der  Verband 
ertragen  werden  und  die  gewollte  Wirkung  haben,  sehr  darauf  an,  daß 
das  kranke  Bein  mit  entsprechend  flektiertem  Knie  festgelegt  wird.  Es 
ist  dies  die  Hauptsache,  da  bei  mangelhafter  Flexion  die  Kompensation 
nicht  nur  nicht  verhindert,  sondern  geradezu  befördert  wird.  Oft  liegen 
die  Kranken  im  Bett,  ohne  daß  eine  erheblichere  Flexion  des  Knies, 
geringe  Beugung  ist  immer  vorhanden,  zu  sehen  wäre.  Es  rührt  dies 
daher,  daß  eine  geringe  Beugung  im  Kniegelenk  zur  Entspannung  des 
Nervus  ischiadicus  notwendig  ist,  während  bei  Bettlage  die  stärkeren 
Grade  der  Beugung  im  Kniegelenk  bedingt  werden  durch  die  Flexion 
im  Hüftgelenk.  Es  wird  jedoch  diese  stärkere  Beugung  im  Knie  zum 
Teil  aus  den  schon  erwähnten  Gründen  dem  Kranken  bald  unangenehm, 
da  er  in  dieser  Stellung  größeren  schmerzhaften  Bewegungen  ausgesetzt 
ist.  Jedenfalls  verkleinert  er  die  Flexion  im  Kniegelenk  bei  gleich- 
bleibender Beugung  im  Hüftgelenk  durch  Verstärkung  der  physio- 
logischen Lordose  im  Lendenteil  der  Wirbelsäule:  Die  stärkere  Flexion 
im  Knie  wird  dadurch  entbehrlich  gemacht,  daß  sich  das  Becken  nach 
vorn  neigt,  was  in  liegender  Stellung  eine  Verstärkung  der  physio- 
logischen Lordose  bedingen  muß.  Ischiaskranke,  die  mit  nur  unbe- 
deutend flektiertem  Knie  im  Bette  liegen,  zeigen  in  der  Regel  eine 
sehr  starke  Wölbung  im  Lendenteile  der  Wirbelsäule;  es  gelingt,  die 
Hand,  ja  sogar  die  Faust  an  dieser  Stelle,  ohne  die  Kranken  zu  be- 
rühren, unter  dieselben  zu  schieben.  Es  muß  deshalb  bei  Anlegung 
des  Verbandes  immer  mit  besonderer  Sorgfalt  auf  eine  vorhandene 
Verstärkung  der  physiologischen  Lordose  geachtet  werden;  wo  sie  vor- 


76  H.  Ehret, 

banden  ist,  muß  sie,  bei  und  während  der  Anlegung  des  Verbandes, 
beseitigt  werden.  Es  ist  dies  leicht  zu  bewerkstelligen.  Dazu  bedarf 
es  nur  des  Versuches,  das  Kniegelenk  zu  flektieren.  Eine  stärkere 
Flexion  im  Kniegelenk  würde  eine  stärkere  Beugung  im  Hüftgelenk  be- 
dingen. Dieser  stärkeren  Beugung,  die  wie  jede  Veränderung  der 
Selbsthilfestellung  schmerzhaft  wäre,  entgeht  der  Kranke  dadurch,  daß 
er  die  Bewegungen  im  unteren  Teile  der  Wirbelsäule  ausführt,  indem 
er  das  Becken  samt  Oberschenkel  aufrichtet.  Auf  diese  Weise  wird 
die  physiologische  Lordose  nicht  nur  bis  zur  Norm  abgeflacht,  sondern 
sie  schlägt  in  manchen  Fällen  und  unter  gewissen  Umständen  in  das 
Gegenteil,  in  eine  flache  Kyphose  um  (vergl.  Fig.  1,  6  u.  8  der  ersten 
Arbeit).  In  einem  Wort:  Der  Verband  muß  das  Bein  in  der  primären 
offenkundigen,  nicht  kompensierten  Selbsthilfestellung  fixieren ;  nur  wenn 
das  gelingt,  ist  Aussicht  vorhanden,  daß  die  Skoliose  verhütet  wird. 

Bis  jetzt  habe  ich  den  festen  Verband  unter  diesen  Gesichtspunkten 
in  14  Fällen  angewendet,  und  in  keinem  dieser  Fälle  habe  ich  eine 
hochgradigere,  schon  durch  die  Kleidung  sichtbare  Skoliose  gesehen. 
In  Fällen,  in  welchen  die  Selbsthilfestellung  nur  gering  ist  (es  muß 
jedoch  erst  festgestellt  werden,  ob  dieselbe  nicht  infolge  von  Kompen- 
sation nur  gering  scheint),  kann  man  sich  mit  Sandsäcken,  Spreukissen 
u.  s.  w.  behelfen,  dabei  ist  jedoch  täglich  darauf  zu  achten,  daß  es 
nicht  zu  einer  Kompensation  der,  wenn  auch  noch  so  geringen,  Selbst- 
hilfestellung kommt:  Die  Lage  des  Kranken  ist  richtig,  wenn  man  auf 
den  ersten  Blick  Abduktion,  Flexion  und  Rotation  nach  außen  sieht. 
Wegen  der  Schwierigkeiten,  die  die  Kontrolle  des  Grades  dieser  Stellungs- 
anamalien  bietet,  rate  ich  jedoch  entschieden,  auch  in  diesen  Fällen, 
besonders  wenn  es  sich  um  chronische  Formen  handelt,  den  Verband 
anzuwenden. 

Was  nun  den  Verband  und  die  Anlegung  desselben  betrifft,  so 
wäre  folgendes  zu  bemerken:  Es  hat  sich  mir  der  Wasserglasverband 
als  der  zweckmäßigste  erwiesen.  Der  Verband  muß  das  ganze  Bein 
von  den  Zehen  bis  hoch  hinauf  an  den  Oberschenkel,  in  seltenen  Fällen 
auch  die  Hüfte,  umfassen.  Zunächst  kommt  auf  die  Haut  eine  mög- 
lichst faltenlos  angelegte  Flanellbinde;  besser  eignet  sich  noch,  weil  in 
manchen  Fällen  auch  die  kleinste  Falte  schmerzhaft  empfunden  wird, 
eine  Trikotbinde,  da  sie  sich  besser  anschmiegt.  Die  Zehen  werden 
vorher  durch  Wattepolster  voneinander  getrennt.  Nach  Anlegung  der 
Flanell-  oder  Trikotbinde  werden  die  vorspringenden  Teile  (Malleolen, 
Kondylen)  mit  etwas  Watte  gepolstert.  Nun  wird  eine  ziemlich  breite 
Gambricbinde  um  das  ganze  Bein  gelegt  und  auf  diese  werden  die 
reichlich  mit  Wasserglas  getränkten  Gazebinden  gewickelt.  Der  Verband 
kann  durch  Einlagen  von  Schusterspähnen  verstärkt  werden,  so  daß 
eine  dünnere  Schicht  von  Wasserglas  genügt,  um  die  erforderliche  Steifig- 
keit, die  möglichst  groß  sein  muß,  zu  erhalten.    Jedoch  ist  dies  bei 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  77 

der  oft  überaus  großen  Empfindlichkeit  der  Patienten  etwas  gewagt,  da 
nicht  selten  in  der  Gegend  der  Schusterspähne  über  Schmerzen  geklagt 
wird.  Ist  der  Verband  angelegt,  so  ist  die  Hauptsache,  die  Stellung 
des  Beines  noch  einmal  zu  kontrollieren,  wenn  nötig  zu  berichtigen, 
und  durch  Kissen,  die  mit  Papier  bedeckt  werden  können,  genau  in 
derselben  zu  erhalten,  bis  der  Verband  getrocknet  ist.  So  einfach  die 
Anlegung  dieses  Verbandes  klingt,  so  erheischt  er  doch  bei  akuter 
Ischias  eine  gewisse  Geschicklichkeit,  da  die  geringsten  Bewegungen 
und  Berührung  oft  mit  heftigsten  Schmerzen  verbunden  sind.  Es 
empfiehlt  sich  deshalb,  ein  paar  Minuten  vor  Anlegung  des  Verbandes 
derartigen  Kranken  eine  größere  Morphiumdosis,  etwa  2  cg,  subkutan 
zu  verabreichen.  Dadurch  wird  in  den  meisten  Fällen  die  Empfindlich- 
keit etwas  gemildert. 

Der  Verband  bleibt,  je  nach  den  Umständen  und  dem  Fall,  mindes- 
tens 10  Tage,  selten  länger  wie  3  Wochen  liegen ;  sobald  die  schmerz- 
haften Prozesse  sich  vermindert  haben  oder  ganz  geschwunden  sind, 
wird  die  Wasserglashülse  unter  teilweiser  Opferung  der  Cambricbinde, 
aber  unter  Schonung  der  Flanellbinde,  an  der  Außenseite  des  Beines  in 
gerader  Linie  aufgeschnitten.  Es  gelingt  dann  durch  diesen  Schnitt  den 
ganzen  Verband,  der  nun  eine  brauchbare  Hülse  von  der  Form  des 
Beines  darstellt,  zu  entfernen.  Anfänglich  wird  der  Verband  nur  1 — 2 
Stunden  täglich,  allmählich  längere  Zeit  entfernt.  In  der  übrigen  Zeit, 
besonders  des  Nachts,  wird  die  Hülse  wieder  angelegt  und  mit  einer 
Binde  festgelegt.  Der  das  erkrankte  Bein  in  unkompensierter  Selbst- 
hilfestellung fixierende  Verband  hat  zunächst  den  Zweck  und  den  Erfolg, 
daß  er  die  Skoliose  vollständig  verhütet  oder  in  geringen  Grenzen  hält 
Zu  diesem  Zweck  kann  ich  ihn  eindringlichst  empfehlen.  Außerdem  hat 
er  jedoch  noch  einen  anderen,  in  vielen  Fällen  für  den  Kranken  selbst 
viel  wichtigeren  Erfolg,  nämlich  denjenigen,  sehr  stark  beruhigend  auf 
die  Schmerzen  zu  wirken.  Diese  schmerzberuhigende  Wirkung  hängt 
wohl  von  folgenden  Verhältnissen* ab;  erstens  einmal  wirkt  die  absolute 
Rnhigstellung  des  Beines  (auch  während  des  Schlafes)  günstig.  Dieser 
Punkt  ist  von  Bedeutung,  da  bei  geringster  unwillkürlicher  Bewegung  die 
Schmerzen  sehr  steigen:  der  Kranke  braucht  nicht  mehr  so  ängstlich 
auf  sein  krankes  Bein  zu  achten,  er  kann  gelegentlich  einschlafen,  ohne 
durch  heftigste  Schmerzen  aus  dem  Schlaf  geschreckt  zu  werden.  Außer- 
dem hält  aber  der  Verband,  sofern  er  gut  angelegt  ist,  das  Bein  in  der 
initialen  stark  ausgeprägten  Selbsthilfestellung  fest,  so  daß  der  Kranke 
in  derselben  nicht  in  dem  Maße  nachläßt,  in  welchem  die  Schmerzen 
verschwinden;  es  ist  darum  die  Entspannung  eine  reichliche.  Es  gibt 
nun  eine  besondere  Kategorie  von  Ischiasfällen,  in  welchen  die  Anlegung 
des  Verbandes  wirklich  überraschenden  Erfolg  hat,  so  daß  die  Kranken 
die  Tage  und  Nächte  die  heftigsten  Schmerzen  empfinden,  wie  auf  einen 
Schlag  durch  den  Verband  erlöst  werden.    Es  sind  dies  solche  Fälle, 


78  H.  Ehret, 

in  welchen  die  Ischias  mit  heftigsten  Schmerzen  auch  in  den  peripheren 
und  periphersten  Aesten,  sowie  in  ihrem  Ausbreitungsgebiet  einsetzt. 
Die  heftigsten  Schmerzen  im  Bein  legen  dasselbe  gleichsam  krampfhaft 
lahm,  aus  Furcht  durch  Bewegung  die  Schmerzen  zu  verstärken.  Sie 
hindern  jedenfalls,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Zustandekommen  der 
Selbsthilfestellung.  Dieses  Hindernis,  welches  an  und  für  sich  fQr  die 
Verhütung  der  Skoliose  nicht  ungünstig  ist,  ist  aber  andererseits  für 
die  Schmerzen  von  üblen  Folgen,  da  dadurch  dem  erkrankten  Nerven- 
stamm die  notwendige  Schonung,  d.  h.  Entspannung  nicht  zuteil  wird. 
Legt  man  derartige  Fälle,  was  unter  Morphiumwirkung  geschehen  muß, 
unter  Herstellung  der  fehlenden  oder  mangelnden  Selbsthilfestellung  in 
den  festen  Verband,  so  erlebt  man,  nach  Anlegung  des  Verbandes,  ge- 
wöhnlich eine  plötzliche  und  dauernde  Beseitigung  der  Schmerzen. 
Diese  Fälle  eignen  sich  zu  dieser  Behandlung  umsomehr,  als  sie,  was 
die  Skoliose  anbelangt,  auch  eine  günstige  Prognose  geben:  die  künst- 
lich hervorgebrachte  Beinstellung  hat  kaum  Neigung,  sich  zu  kompen- 
sieren. Nach  Schwund  der  Schmerzen  kehrt,  nach  dauernder  Entfernung 
des  Verbandes,  das  Bein  bald  in  die  normale  Stellung  zurück.  Insofern 
ist  also  das  beste  Mittel  gegen  die  Skoliose  in  manchen  Fällen  auch 
das  beste  Mittel  gegen  die  Ischias  selbst. 

Die  eigentliche  Behandlung  einer  bestehenden  Skoliose  bietet  wenig 
erfreuliches.  Ich  will  hier  nur  die  Anwendung  von  künstlichen  Ver- 
längerungen des  Beines  (Schuheinlagen  u.  s.  w.)  kurz  besprechen.  Der- 
artige Maßnahmen  geben,  wie  gesagt,  wenigstens  solange  die  Schmerzen 
bestehen,  keine  günstigen  Resultate.  Die  Ursachen  dieses  Fehlschlagens 
sind  schon  im  Eingang  klar  gelegt  worden.  Nur  zwei  Punkte  möchte 
ich  besonders  betonen :  1)  Hat  man  es  mit  einer  alten  Skoliose  zu  tun, 
die  von  einer,  erst  nach  langer  Dauer  ganz  geschwundenen  Ischias 
zurückgeblieben  ist,  so  kann  man  dieselbe  zweifellos  günstig  beein- 
flussen durch  andauernde  Erhöhung  der  Schuhsohle  auf  der  erkrankten 
Seite.  Dabei  ist  es  jedoch  nötig,  gleicH  eine  ziemlich  beträchtliche  Dicke 
zu  wählen.  In  einem  Fall  habe  ich  mit  einer  Einlage  von  3  cm  inner- 
halb 18  Monaten  eine  ziemlich  erhebliche  Skoliose  verschwinden  sehen, 
die  von  einer  Ischias  zurückgeblieben  war,  welche  4V2  Jahre  gedauert 
hat.  2)  Unter  Umständen  können  wir  durch  Erhöhung  der  Fußsohle 
auf  der  gesunden  Seite  dem  Kranken  das  Gehen  erleichtern,  der  trotz 
unseres  Rates,  nicht  bis  zur  vollständigen  Beseitigung  der  Schmerzen 
im  Bett  aushalten  kann.  Die  Erhöhung  der  Schuhsohle  auf  der  gesunden 
Seite  erleichtert  dem  Kranken  die  Abduktion  des  kranken  Beines.  Da- 
durch, und  das  gibt  die  Kontraindikation  dafür  ab,  wird  jedoch  die 
Neigung  zur  Skoliosenbildung  vergrößert,  so  daß  dieses  für  den  Kranken 
momentan  sehr  willkommene  Hilfsmittel  in  der  Folge  unangenehme 
Erscheinungen  machen  kann. 

Aus  diesen  Betrachtungen  ergibt  sich,  daß  die  Behandlung  der 


Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias.  79 

Skoliose  bei  und  nach  Ischias  hauptsächlich  eine  prophylaktische  ist. 
In  dieser  Beziehung  können  wir  jedoch  durch  den  festen  Verband, 
welcher  nach  den  oben  dargelegten  Gesichtspunkten  angelegt  ist,  ent- 
schieden viel  erreichen.  Auch  für  die  Behandlung  der  Ischias  selbst 
leistet  dieser  Verband  in  vielen  Fällen  willkommenes,  in  manchen 
ausgezeichnetes. 


Literatur. 

1)  Allbn,  f.  H.,  Galvanisme  in  the  treatment  of  sciatica.     Therap.  Öaz., 
Detroit,  Vol.  16,  1900,  p.  368—369. 

2)  Ariemzo,   G.,  La  luce  elettrica  bleu  nella  cura  dell  nevralg.     Ann.  di 
elett.  med.,  Napoli  1903,  p.  67—74. 

8)  Bayliss,  R.  A.,  The  application  of  hydrochloric  acid  in  sciatica.     Brit. 
med.  Joum.,  London  1898,  p.  1550. 

4)  BucsLLi,  N.,  8al  alcuni  metodi  speciali  di  cura  della  nevralgia  sciatica. 
Clin.  med.  ital,  Milano  1898,  p.  649—656. 

5)  —  n  methodo  elettroterapico  nell.  nevrag.  sciatica.  Ebenda,  1898,  p.  720. 

6)  Bailby,  G.  L.,  Sciatica.     Cincin.  Lancet  Clinic,  1903,  p.  527—531. 

7)  BocRO,  Le  iniezioni  snttocutan.    d'acido   fenico  nell  cura  dell  nevralg. 
Snppl.  al.  Policlin.,  Roma  1901,  T.  7,  p.  628. 

8)  Carri^rb,  G.,  et  Vanvbrts,  J.,  Sur  un  cas  de  sciatique  gu^ri  par  une  in- 
jection  intra-rachidienne  de  cocame.    Nord  Med.,  Lille  1901,  p.  139 — 140. 

9)  Capuccio,   La  scoliose  sciatique  ou  signe  de  Vangetti.     Gaz.  hebd.  de 
Paris  1902,  p.  1225—1228. 

10)  Capblli,  L.,  Contribato  alla  deformit.  del  tronco  nella  sciatica.  Arch. 
di  ortop.,  Milano  1898,  T.  18,  p.  177—181. 

11)  Capitax,  Le  traitement  61ectrique  des  n^vralgies.  Med.  mod.,  Paris 
1900,  p.  403,  413  u.  414. 

12)  Castro,  Gonzalez  J.,  Tratamiento  de  la  neuralg.  sciatica  porla  cauteri- 
zacion  del  helix.   Rev.  di  med.  y  cirurg.  prat.,  Madrid  1898,  p.  498 — 502. 

13)  Dennu,  La  scoliose  dite  sciatique.     Rev.  d'orthop.,  T.  ö,  1899. 

14)  D^^jBRiKB,  Traitement  de  la  sciatique  chronique.  Journ.  de  med.  intern.^ 
Paris  1901,  p.  824—825. 

15)  Da  Costa  (J.  M.),  The  treatment  of  sciatic  neuritis.  Med.  Fortnightly^ 
St.  Louis  1899,  p.  103. 

16)  Deidbshbihbr,  G.,  Ueber  Resultate  der  Behandlung  der  chronischen 
Ischias  durch  blutige  Dehnung  des  Nervus  ischiadicus.  Inaug.-Diss. 
Straßburg,  1900. 

17)  DxxBOis,  Traitement  des  n^vralgies  rebelles  par  les  courants  Continus 
k  intensitö  ^lev^e.     Bull.  Soc.  m6d.  de  Reims,    1898,  p.  225—228. 

18)  —  Deux  cas  de  növralgie  du  sciatique  et  de  ses  branches  d'origine 
grippale.     Joum.  de  Neurologie,  Bruxelles  1900,  T.  5,  p.  131—135. 

19)  Durand,  N6vralgie  sciatique  gu^rie  par  le  gaüacol  Chloroform^  satur^ 
d'orthoforme.     Union  med.  de  Nord-Est,  Reims  1900,  p.  131  u.  132. 

20)  DicKSON,  H.,  Le  traitement  ^lectrique  de  la  sciatique.  Bull.  off.  Soo. 
franp.  d'Electrother.,  Paris  1900,  p.  62  u.  63. 

21)  Dbbuck,  0.,  Even  geval  van  abnormal  Ischias.  Med.  Weekblatt^ 
Amsterdam  1898—1899,  p.  221. 

22)  EuLBNBURO,  A.,  Zur  Pathologie  und  Therapie  der  Neuralgien.  Berl. 
klin.  Wochenschr.,  1898,  p.  721—725. 


80     H.  Ehret,  Weitere  Beiträge  zur  Lehre  der  Skoliose  nach  Ischias. 

23)  Eljasz  Radzikowbki,  S.,  Behandlung  der  Ischias  durch  innere  Ver- 
abreichung von  Salzsäure.     Przegl.  lek.,  Krakow  1898,  p.  549  u.  565. 

24)  Eichhorst,  H.,  Ueber  Neuralgien.  Dtsch.  klin.  Wochenschr.,  Wien  u. 
Berlin  1901,  Bd.  6,  Abt.  2. 

25)  Ehret,  Zur  Begutachtung  der  erwerbsbeeinträchtigenden  Folgen  der 
Ischias.     Monatsber.  f.  Unfall,  Bd.  7,  2,  1900,  p.  37. 

26)  EsfiTiK,  F.,  Traitement  mecanique  de  la  sciatique.  Joum.  de  Med., 
Paris  1900,  T.  23,  p.  16—18. 

27)  GiBBES,  J.  M.,  Treatment  of  sciatica.  Australas.  Med.  Gaz.,  Sydney 
1898,  p.  62. 

28)  Ghetti,  A.,  Una  nuova  cura  del  sciatic.  Gaz.  de  osp.  Milano,  1900, 
T.  21,  p.  1195-1196. 

29)  Hirschkorn.  J.,  Zur  Behandlung  der  Ischias.  Gentralbl.  f.  d.  ges. 
Ther.,  Wien  1898,  p.  513—524. 

30)  —  Ischias  gonorrhoica.  Verhandig.  d.  dtsch.  dermatolog.  Gesellsch., 
6.  Kongr.,  Wien  (Braumüller)  1899,  p.  466. 

31)  Krafft,    f..   Zur   Ischiasbehandlung.     Therap.  Monatsh.,   Berlin  1903. 

32)  Laporte,  Charles,  Du  traitement  de  la  sciatique  et  en  particulier  de 
son  traitement  par  les  injections  de  cocaine  intra-  et  extradurales. 
Paris  (L.  Berger)   1901,  p.  623. 

33)  Munter,  L.,  Du  traitement  de  la  sciatique  par  le  massage.  Gaz.  med. 
de  Liege,  1897—1898,  p.  384—386. 

34)  Marie,  P.,  Crouzon,  0.,  Quelques  r^sultats  du  traitement  des  n^vralgies 
par  des  injections  sous-cutan6es  d'air  athmosph^rique.  Bull,  et  m6m. 
de  la  soc.  m^d.  de  hop.  de  Paris,   1902,  p.  1085  et  1088. 

35)  Miglibwitsch,  A.,  Vingt  cas  de  nevralgie  sciatique,  traitös  par  Fölon- 
gatiou,  les  mouvements  combin^s  etc.  Rev.  de  kin^sic,  1903,  p.  108 — 112. 

36)  Marie,  P.,  et  Guillain,  G.,  Sur  le  traitement  de  la  sciatique  par  in- 
ject] on  intra-arachnoidiennes  de  doses  minimes  de  cocaine.  Soc.  M6d. 
des  höp.  de  Paris,  T.   18,  1901,  p.  328. 

37)  Marty,  A.,  Du  traitement  de  la  sciatique  rebelle  par  le  hersage.  Tribun, 
m^d.,  Paris  1898,  T.  30,  p.  446—449. 

38)  Mesnard,  L.,  Sciatique  et  dilatation  de  Testomac.  Ann.  de  la  policlin. 
de  Bordeaux,  1897—1898,  p.  663—665. 

89)  Pulli  (F.),  L'iniezione  alla  Bier  nella  sciatica.  Riforma  med.,  Roma 
1901,  p.  519. 

40)  Pommbbol,  Sciatique  chronique  gu^rie  par  une  piqure  de  vipere.  Gaz. 
des  höp.,  Paris  1900,  T.  73,  p.  876. 

41)  Parascandolo,  C.,  La  cura  chirurgica  della  nevralgia.  Arch.  med., 
Napoli  1900,  T.  2,  p.  941—943. 

42)  Pj^rez  -  Valdes,  R.,  Tratamiento  de  la  sciatica  par  las  inyeccions  de 
glicero-fosfatos  alculinos.  Rev.  de  mid.  y  cirurg.  prat.,  Madrid  1898, 
p.  689—694. 

43)  Renault,  C,  Du  traitement  de  la  sciatique  par  une  m6thode  61ectrique. 
Journ.  de  m^d.,  Paris  1898,  T.  10,  p.  253. 

44)  SuBVE,  Some  thing  about  the  nature  and  treatment  of  sciatica.  St.  Paul 
med,  Journ.,  Vol.  2,  1900,  p.  540—546. 

46)  Stanowski,  Der  Wert  der  Elektrizität  bei  der  Behandlung  der  Ischias. 

Dtsch.  med.  Wochenschr.,  Bd.  24,  1898,  1. 
46)  ToMMASOLi,  F.,  Della  sciatica  e  me  divers,  terapic.     Raccoglitore  med. 

Fort.,  1900,  p.  169—175. 


Nachdruck  yerbotoi. 


VL 
lieber  tropische  Leberabscesse. 

Von 

Dn  J.  A.  Eooh, 

Klinik  Soerabaia  (Java). 

(Hierzu  1  Abbildung  im  Texte.) 


Das  Thema  ^Leberabsceß^  wurde  in  den  letzten  15  Jahren  bereits 
so  vielfach  behandelt,  daß  man  mit  der  einschlägigen  Literatur  eine 
kleine  Bibliothek  füllen  könnte.  Das  klassische  Werk  von  Langen- 
buch (34)  und  von  Sachs  (59),  das  anziehend  geschriebene  Buch  von 
Patric  Manson  (47),  sowie  das  von  Scheube  (61)  und  die  sorgfältige 
Abhandlung  von  Smit  (63)  geben  über  dieses  Thema  eine  vortreffliche 
Uebersicht  während  kleinere  Beiträge  meiner  holländischen  Landsleute 
Pel  (48),  Maasland  (41),  Smit  (63),  Peters  (49),  Pruis  (50)  und 
van  Dyk  (10)  noch  auf  eine  Anzahl  interessanter  Einzelheiten  und 
Komplikationen  hinweisen. 

Wenn  ich  es  wage,  dieses  Thema  nochmals  zu  behandeln,  so  findet 
dies  seinen  Grund  in  der  großen  praktischen  Bedeutung  der  Sache. 
Wie  viele  Niederländer  gehen  noch  jährlich  an  Leberabsceß  zu  Grunde, 
ein&ch  darum,  weil  sie  nicht  frühzeitig  genug  ärztliche  Hilfe  in  An- 
spruch nehmen  I  Wie  viele  sterben  eines  plötzlichen,  rätselhaften  Todes, 
vrährend  ein  schleichender  Leberabsceß  mit  Perforation  die  geheimnis- 
volle Ursache  war !  Wie  leicht  hätten  die  meisten  von  ihnen  durch  eine 
einfache  Operation  gerettet  werden  können!  Neben  Cholera,  Dysenterie 
und  Malaria  sind  es  denn  auch  die  Leberabscesse,  die  der  Tropenfurcht 
der  Niederländer  heute  noch  immer  zu  Grunde  liegen  und  verursachen, 
daß  ein  Land,  so  groß  wie  halb  Europa,  noch  weniger  Holländer  be- 
herrbergt,  als  eine  unserer  Provinzialstädte.  Und  doch  hat  gerade  der 
Arzt  bei  Leberabsceß  ein  so  äußerst  dankbares  Arbeitsfeld.  Während 
ohne  operative  Hilfe  die  Mortalität  mit  80  Proz.  (Rouis)  oder  76  Proz. 
[Castro  (9)J  angegeben  wird,  kann  sie  durch  eine  einfache  Operation 

Mitten,  a.  d,  GremceWeten  d.  Medizin  n.  Chlnircie.    2IIL  Bd.  Q 


82  J.  A.  Koch, 

leicht  auf  20—14  Proz.  eingeschränkt  werden.  Von  16  Patienten,  die 
in  der  Klinik  zu  Soerabaia  von  mir  operiert  wurden,  genasen  14 1). 
Wenn  man  nun  bedenkt,  daß  die  2  Patienten,  bei  denen  die  Operation 
keinen  Erfolg  hatte,  auch  vor  der  Operation  schon  so  schwach  waren, 
daß  an  eine  Heilung  auf  Grund  der  Krankengeschichte  nicht  mehr 
gedacht  werden  konnte^),  dann  folgt  daraus  die  erfreuliche  Tatsache, 
daß  alle  Kranken  mit  Leberabsceß,  die  rechtzeitig  ope- 
riert wurden,  genasen. 

Es  sei  mir  nun  gestattet,  die  einzelnen  Phasen  des  so  kompli- 
zierten Krankheitsbildes  etwas  näher  zu  besprechen,  während  am  Schluß 
die  Krankengeschichten  wiedergegeben  werden  sollen.  Allererst  etwas 
über  die  Aetiologie. 

Pyämische  Leberabscesse,  eiterige  Echinococcuscysten,  Abscesse  nach 
Entzündung  des  Processus  vermiformis  u.  s.  w.  bleiben  außer  Besprechung, 
so  daß  wir  uns  allein  auf  die  tropischen  Leberabscesse  beschränken. 
Manson  definiert  sie  als  eine  Suppuration  der  Leber,  die  speziell  in 
warmen  Klimaten  vorkommt,  bei  männlichen  Europäern  am  häufigsten 
und  meistens  in  Verbindung  mit  Dysenterie.  Diese  Auffassung 
ist  richtig.  Nur  muß  dann  unter  Dysenterie  die  Amöbendysenterie 
verstanden  werden,  die  besonders  häufig  in  den  Tropen  vorkommt  Die 
Dysenterie  kommt,  wenn  wir  darunter  den  bekannten  Symptomenkomplex 
verstehen :  häufiger  Abgang  vom  Schleim,  Blut  und  Eiter  mit  Tenesmus, 
in  beinahe  allen  Klimaten  vor,  außer  in  den  arktischen,  sie  ist  durchaus 
aber  keine  einheitliche  Krankheit.  Im  Gegenteil,  unter  dem  Namen 
Dysenterie  werden  ganz  verschiedene  Krankheitsbilder  durcheinander 
geworfen,  die  nichts  miteinander  gemein  haben.  In  den  gemäßigten 
und  kälteren  Zonen  kommt  die  durch  den  Bacillus  dysenteriae 
Shioa  verursachte  Dysenterie  vor,  die  meistens  epidemisch  verläuft 
(epid.  Dysenterie).  Auch  endemisch  tritt  in  diesen  Gegenden  Dysenterie 
auf  (Asyldysenterie),  bei  der  als  ursächlicher  Erreger  eine  Varietät  des 
Bacillus  von  Shioa  gefunden  wurde  [Spronck  (64)].  Im  Rectum  und 
Kolon  findet  man  hierbei  flache  Geschwüre,  deren  Ränder  nicht  unter- 
miniert sind,  also  eine  krupös-diphtheritische  Entzündung. 

In  den  Tropen  kommt  die  durch  die  Amoeba  dysenteriae 
LÖSCH  verursachte  Dysenterie  vor.    Diese  Amöbendysenterie  sucht  ihre 


1)  In  Wirklichkeit  war  die  Anzahl  der  von  mir  operierten  Kranken 
mit  Leberabsceß  größer,  nämlich  21,  doch  wurde  von  5  Patienten  die  Kranken- 
geschichte nicht  aufgezeichnet.  .  Auch  mein  Freund  Dr.  Kobfobd,  mit  dem 
ich  stets  zusammenarbeitete,  operierte  eine  gleiche  Anzahl  Patienten  mit  dem- 
selben Erfolge,  so  daß  unsere  gesamte  Erfahrung  sich  in  den  Jahren  1896 
— 1902  auf  ungefähr  42  Pat.  erstreckte,   von   denen    87 Yg  Proz.   genasen. 

2)  Der  eine  Patient  hatte  bereits  vor  der  Operation  einen  Durchbruch 
des  Abscesses  in  die  Lunge  mit  Lungengangrän  (Pat.  4),  und  der  andere 
bereits  eine  Perforationsperitonitis  (Pat.  5). 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  83 

Opfer  mehr  zerstreut  auf,  besonders  in  den  feuchten,  warmen  Ge- 
genden. Sie  zeigt  eine  besondere  Neigung  zu  Rezidiven  und  Exacer- 
bationen, wodurch  ein  chronischer  und  schleichender  Verlauf  entsteht. 
Die  Entzündung  des  Kolon  ist  hier  nicht  eine  krupös-diphtheritische, 
sondern  eine  phlegmonöse.  In  der  Submucosa  entwickelt  sich  ein 
Exsudat,  das  durch  die  Mucosa  durchbricht  und  dann  ein  Geschwür 
mit  stark  unterminierten  Rändern  hinterläßt.  Untersucht  man  die  De- 
jektionen  dieser  Patienten,  dann  findet  man  sehr  viele  Amöben.  Diese 
Dysenterieamöben  von  Lösch  sind  3— 5mal  größer  als  die  gewöhnlichen, 
unschuldigen  Amoebae  coli,  die  auch  bei  vielen  gesunden  Personen  ge- 
fanden werden.  Sie  sind  viel  zahlreicher  und  beweglicher  als  Amoeba 
coli  und  können  in  allen  Schichten  der  Darmwand  vorkommen,  be- 
sonders in  der  Nähe  der  Ulcera.  In  den  Dysenterieamöben  liegen  oft 
rote  Blutkörperchen. 

Gerade  nach  dieser  Amöbendysenterie  sieht  man  sehr  oft  Leber- 
abscesse entstehen,  was  nach  der  epidemischen  Dysenterie  in  den  ge- 
mäßigten Zonen  nicht  der  Fall  ist. 

Es  lag  also  auf  der  Hand,  auch  bei  Leberabscessen  nach  Amöben 
zu  suchen.  Die  Resultate  dieser  Untersuchungen  waren  sehr  ver- 
schieden. Einige  fanden  Amöben  im  Eiter,  andere  nicht,  aber  wohl  in 
der  Absceßwand,  im  umliegenden  Lebergewebe,  oder  in  den  Leber- 
kapillaren (Lafleur).  Wieder  andere  fanden  im  Eiter  nur  Staphylo- 
kokken, Streptokokken,  Diplokokken,  Bacterium  coli  commune  u.  s.  w. 
und  keine  Amöben.  In  einigen  alten  großen  Abscessen  war  der  Eiter 
selbst  steril. 

Als  sicher  können  wir  vorläufig  annehmen,  daß  ziemlich  oft  Amöben 
in  tropischen  Leberabscessen  gefunden  werden.  Vermutlich  sind  diese 
mit  den  Dysenterieamöben  identisch.  Da  in  allen  Schichten  der  Darm- 
wand die  Amöben  gefunden  werden,  ist  es  verständlich,  daß  sie  durch 
die  Bahnen  der  Vena  portae  in  die  Leber  gelangen  können. 

Auf  welche  Weise  die  Amöben  nun  eigentlich  den  Leberabsceß 
zur  Entwickelung  kommen  lassen,  ist  nicht  recht  klar.  Einige  meinten, 
daß  die  Amöbe  selbst  die  Ursache  der  Eiterbildung  sei.  Ihre  Beweg- 
lichkeit und  die  Eigenschaft,  auch  in  das  gesunde  Lebergewebe  einzu- 
dringen, sollen  das  schnelle  Wachstum  des  Abscesses  erklären.  Andere 
waren  der  Meinung,  daß  die  Amöben  Staphylokokken,  Streptokokken 
und  andere  pyogene  Bakterien  mit  sich  führen  und  so  nur  als  Träger 
der  Eiterbildner  dienten.    Gelöst  ist  diese  Frage  noch  nicht. 

AufEallend  ist  es  nun,  daß,  während  allgemein  die  Amöbendysenterie 
als  Ursache  der  Leberabscesse  angenommen  wird,  einige  diesen  Zu- 
sammenhang auf  das  bestimmteste  verneinen.  Als  Grund  hierfür  muß 
wohl  angenommen  werden,  daß,  wovon  ich  mich  selbst  habe  überzeugen 
können,  auch  in  den  tropischen  Ländern  die  Dysenterie  so  äußerst 
verschieden  verläuft.    Zunächst  ist  an  die  Möglichkeit  zu  denken,  daß 

6* 


84  J.  A.  Koch, 

die  epidemische  und  endemische  Dysenterie  der  gemäßigten  Zonen  auch 
in  den  Tropen  vorkommt.  So  sah  ich  selbst  wiederholt  viele  Patienten, 
auch  Kinder,  an  epi-  oder  endemischer  Dysenterie  erkranken,  die  wieder 
in  sehr  kurzer  Zeit  oder  ohne  Behandlung  genasen,  ohne  jemals  wieder 
Rezidive  zu  bekommen.  Wenn  solche  Patienten  keinen  Leberabsceß 
bekamen,  so  ist  das  nicht  auffällig;  vermutlich  handelte  es  sich  in  diesen 
Fällen  gar  nicht  um  eine  Amöbendysenterie. 

Auffallend  ist  es  ferner,  daß  auch  die  zu  hartnäckigen  Rezidiven 
Anlaß  gebenden  leichten  Formen  der  Amöbendysenterie  in  der  Regel 
nicht  als  solche  erkannt  werden^).  Bei  den  leichteren  Formen  der 
Amöbendysenterie  klagt  der  Patient  wohl  über  etwas  dünnen  Stuhlgang, 
aber  er  hält  dies  für  gewöhnliche  Diarrhöe.  Wohl  geht  er  4 — ömal 
täglich  zu  Stuhl,  dieser  ist  aber  nicht  so  besonders  dünn  und  der  ganze 
Zustand  schwächt  den  Patienten  nur  wenig.  Nach  5—6  Tagen  lassen 
überdies  die  Leibschmerzen  nach  und  der  Patient  beunruhigt  sich  nicht 
weiter.  Wohnt  Patient  in  der  Nähe  eines  Arztes,  so  wird  er  vielleicht 
um  Rat  fragen,  wenn  die  Diarrhöe  bereits  14  Tage  gedauert  hat. 
Wohnt  er  dagegen  abgelegen,  so  läßt  er  die  Sache  einfach  gehen,  und, 
wenn  er  früher  an  Obstipation  litt,  dann  ist  er  vielleicht  selbst  erfreut, 
daß  der  Stuhlgang  so  bequem  von  statten  geht.  Untersucht  man  in 
solchen  Fällen  die  Dejektionen  genauer,  dann  findet  man  auch  im  chro- 
nischen Stadium  noch  deutlich  Schleim  und  Blutstreifchen,  wovon  ich 
mich  wiederholt  überzeugen  konnte. 

Zur  Sektion  kommen  diese  Formen  von  leichter  katarrhalischer 
Dysenterie  nicht.  Wenn  hier  auch  nicht  die  ausgebreiteten  submukösen 
Phlegmonen  und  fistulösen  Gänge  der  ulcerösen  und  gangränösen 
Dysenterie  entwickelt  sind,  so  kommen  doch  kleine  erbsengroße  Darm- 
geschwüre auf  den  Falten  der  Mucosa  auch  hier  vor,  ja,  aus  der  Sektion 
mancher  an  Leberabsceß  Gestorbenen  ergibt  sich,  daß  noch  tiefe  alte 
Ulcera  vorhanden  sein  können,  während  bereits  seit  langer  Zeit  der 
Stuhlgang  vollständig  normal  geworden  war.  Stellt  man  einem  derartigen 
Patienten  einige  Monate  später  die  Frage,  ob  er  jemals  an  Dysenterie 
gelitten  hat,  dann  wird  dies  bestimmt  verneint.  „Diarrhöe,  ja,  die  hätte 
er  wohl  einige  Wochen  lang  gehabt,  aber  nicht  besonders  dünn  und 
ohne  daß  sie  ihn  besonders  schwächte.  Blut  wäre  nie  im  Stuhlgang 
gewesen,  wohl  ab  und  zu  etwas  Schleim."  Obwohl  diese  Patienten  also 
Wochen-  oder  monatelang  an  Amöbendysenterie  gelitten  haben,  die  eine 
so  starke  Neigung  zu  Rezidiven  hat,  rechnen  sie  sich  selbst  am  aller- 
wenigsten unter  die  Dysenteriekranken. 

Hierin  liegt  meines  Erachtens  dann  auch  der  Grund,  warum  noch  ein- 
zelne amerikanische  und  englische  Aerzte  in  den  Tropen  die  Dysenterie  nicht 


1)  Es   müßte   in    allen    derartigen  Fällen    eine  mikroskopische  Unter- 
suchung der  Dejektionen  stattfinden. 


üeber  tropische  Leberabscesse.  85 

als  Ursache  von  Leberabscessen  anerkennen  wollen.  Auf  der  einen 
Seite  ist  nicht  jede  dysenterische  Affektion  eine  Amöbendysent^rie,  auf 
der  anderen  Seite  werden  die  leichten  Formen  dieser  meistens  übersehen. 

Ich  hatte  das  Glück,  daß  meine  16  Patienten,  über  die  weiter 
unten  näher  berichtet  werden  soll,  alle  den  gebildeten  Ständen  angehörige 
Personen  waren,  so  daß  sie  alle  über  ihre  Vergangenheit'  und  ihre  Be- 
schwerden richtige  und  scharfe  Angaben  machen  konnten.  Von  den 
16  Patienten  erklärten  13  Dysenterie  gehabt  zu  haben  und  6  waren 
auch  bei  der  Operation  noch  nicht  ganz  genesen.  Die  3  übrigen  hatten 
„Dickdarm-  oder  Mastdarmkatarrh''  während  mehrerer  Wochen  oder 
Monate  gehabt.  Ich  erachte  mich  denn  auch  zu  der  Schlußfolgerung 
berechtigt,  daß  bei  allen  16  Patienten  dem  Leberabsceß 
Amöbendysenterie  vorangegangen  war. 

Eine  weitere  schwierige  Frage  in  der  Aetiologie  des  Leberabscesses 
ist  die,  weshalb  unter  den  europäischen  Bewohnern  die  Männer  so  oft, 
die  Frauen  und  Kinder  so  selten  hieran  erkranken,  während  es  eben- 
ÜEÜIs  auffällig  ist,  daß  männliche  Europäer  viel  empfänglicher  sind  als 
männliche  Inländer.  Die  Antwort,  die  Langenbuch ^)  auf  beide 
Fragen  gibt,  ist  die,  daß  die  europäischen  Männer  eine  unzweckmäßige  und 
unmäßige  Lebensweise  führen.  Manson,  Scheube  und  andere  schlössen 
sich  dieser  Erklärung  an  und  nehmen  auch  eine  unmäßige  Lebensweise 
der  männlichen  Europäer  als  die  prädisponierende  Ursache  für  Leber- 
abceß  nach  Amöbendysenterie  an.  Wie  sehr  nun  auch  diese  hygienische 
Lebensweise  sonst  verurteilt  werden  muß  und  wie  schnell  auch  der 
Alkohol  in  den  Tropen  einerseits  das  Muskel-  und  Nervensystem 
schwächt  und  andererseits  Leberhypertrophie  verursacht,  einen  Ein- 
fluß auf  die  Entstehung  von  Leberabsceß  konnte  ich  nicht 
feststellen. 

Meine  16  Patienten  lebten  alle  sehr  mäßig,  ja  einzelne  genossen 
niemals  Alkohol.  Auch  bei  den  anderen  hier  nicht  besprochenen  Pa- 
tienten war  dies  der  Fall.  Ich  glaube  darum  auch  nicht,  daß  in  der 
Lebensweise  die  Ursache  gelegen  ist,  weshalb  europäische  Männer  so 
viel  öfter  Leberabsceß  erwerben  als  europäische  Frauen  und  Kinder. 
Die  Ursache  ist  vielleicht  eine  ganz  andere:  Der  ganze  Verdauungs- 


1)  Sehr  treffend  sagt  Lanobnbüch:  Ein  reich  mit  Speisen  und  Qe- 
tr&Dken  versehener  Tisch  ersetzt  vielen  Männern  in  den  Tropen,  was  ihnen 
sonst  an  Vergnügungen  abgeht  Scharfe  und  gepfefferte  Gewürze  regen 
dabei  den  Appetit  an,  der  wegen  der  Wärme  und  des  Mangels  an  Körper- 
bewegung sonst  fehlen  würde.  Auf  diese  Weise  wird  doch  viel  gegessen 
and  scharfe  alkoholische  Getränke  müssen  dann  den  durch  die  scharfen 
Speisen  entstandenen  Durst  wieder  löschen.  Fügt  man  hier  noch  einen 
viel  zu  reichlichen  Gebrauch  an  Kaffee  und  Tee  und  einen  großen  Miß- 
brauch mit  Abführmitteln  hinzu,  dann  muß  jedermann  sich  wohl  verwundern 
über  den  großen  Strom  schädlicher  Stoffe,  die  die  Leber  täglich  passieren. 


86  J.  A.  Koch, 

apparat  funktioniert  bei  Männern,  Frauen  und  Kindern  nicht  ganz  gleich. 
Jeder  Arzt  sieht  täglich,  daß  lästige  Obstipatio  alvi  bei  Frauen  viel  mehr 
vorkommt  als  bei  Männern.  Diarrhöe  und  Dysenterie  sah  ich  in  Indien 
mehr  bei  Männern  als  bei  Frauen.  Kinderdysenterie  verlief  in  anderer 
Weise  und  gutartiger  als  bei  Männern  und  wurde  dann  auch  häufig  — 
obgleich  frequente  dünne  Stühle,  mit  Blut  und  Schleim  gemengt,  ab- 
gingen —  einfach  als  Kinderproctitis  bezeichnet.  Da  nun  die  Leber 
ein  wichtiger  Teil  des  großen  Verdauungsapparates  ist,  so  kann  es  nicht 
verwundern,  daß  diese  in  Uebereinstimmung  hiermit  bei  Männern  viel 
häufiger  krank  wird.  Wenn  wir  weiter  bedenken,  daß  besonders  Ruhe 
und  horizontale  Lage  kräftige  Faktoren  für  eine  schnelle  und  bleibende 
Heilung  der  Dysenterie  sind,  und  wie  gerade  Ruhe  von  den  europäischen 
Männern  beinahe  niemals  in  genügender  Weise  gepflegt  wird,  dann 
finden  wir  hierin  schließlich  eine  genügende  Erklärung  der  rätselhaften 
Tatsache,  daß  es  ganz  besonders  die  männlichen  Europäer  sind,  die 
an  Leberabsceß  leiden. 

Warum  männliche  Europäer  soviel  öfter  Leberabsceß  erwerben  als 
männliche  Inländer?  Ich  möchte  darauf  antworten,  daß  dies  mit  einer 
angeborenen  Disposition  zusammenhängt,  also  seinen  Grund  in  einem 
Rassenunterschied  hat,  ebenso  wie  in  Europa  Kaukasier  und  Israeliten 
für  verschiedene  Krankheiten  nicht  gleich  empfänglich  sind.  Warum 
erkranken  in  Indien  mehr  Holländer  an  Denguefieber  und  Rubeolae  als 
Javanen?  Warum  verläuft  Syphilis  beim  Inländer,  auch  ohne  jede 
Therapie,  dennoch  meistens  verhältnismäßig  leicht?  Warum  heilen 
bei  der  braunen  Rasse  die  gonorrhoischen  Entzündungen  so  leicht  spon- 
tan und  haben  die  javanischen  Frauen  so  selten  gefährliche  Salpingo- 
oophoritis?  Das  alles  ist  eine  Rasseneigentümlichkeit;  sie  besitzen  eben 
gegen  diese  Krankheiten  ein  größeres  Widerstandsvermögen. 

Ebenso  nun  sind  die  Inländer  weniger  empfänglich  für  Leberabscesse 
nach  Amöbendysenterie;  ihre  Leber  wird  weniger  leicht  infiziert.  Eine 
Eigenschaft,  die  sie  ihrer  Rasse  verdanken  und  nicht  ihrer  einfacheren 
Lebensweise. 

Wir  wollen  jetzt  einen  Augenblick  die  Diagnose  und  den  Verlauf 
der  Leberabscesse  ins  Auge  fassen.  Es  gibt  nur  wenige  Krankheiten, 
bei  denen  die  Sjrmptome  mehr  wechseln.  Des  klaren  Verständnisses 
halber  wollen  wir  erst  eine  einfache  kurze  Krankheitsgeschichte  eines 
meiner  Patienten  folgen  lassen,  um  danach  einzelne  Symptome  noch 
etwas  ausführlicher  zu  besprechen. 

Herr  v.  L,  28  Jahre,  Beamter  an  einer  Zuckerfabrik  in  Kediri,  hatte 
seit  8  Wochen  schmerzhafte  Beschwerden  in  der  Magengegend,  ab  und  zu 
mit  üebelkeit  verbunden.  Er  tat  aber  seine  gewöhnliche  Arbeit,  mußte 
Geschäfte  halber  in  Soerabaia  sein  und  kam  zufllllig  in  meine  Sprech- 
stunde, um  ein  Mittelchen  gegen  seine  Magenbeschwerden  zu  erfragen.  In 
den    letzten   Wochen    war    er    auffallend    mager    geworden.     Von   Fieber 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  87 

wußte  er  nichts.  Vor  einem  Jahre  hatte  er  in  geringem  Maße  Dysenterie, 
die  niemals  vollkommen  geheilt  war. 

Der  früher  fröhliche  kräftige  junge  Mann  fühlt  sich  in  den  letzten 
Wochen  stark  niedergeschlagen.  (Als  ich  ihm  sagte,  daß  er  einen  Leberabsceß 
habe,  lachte  er  mich  erst  herzlich  aus.) 

Status  praesens:  Die  Gesichtsfarbe  ist  blaß  und  etwas  gelb.  Die 
Lippen  sind  blaß.     Puls  90,  Temperatur  abends  38  ^ 

Bei  der  Untersuchung  zeigt  sich  die  Leber  vergrößert  Nach  oben 
reicht  sie  in  der  Papillarlinie  bis  zur  sechsten  Rippe,  nach  unten  besteht 
eine  ballonförmige  Hervorwölbung  unter  dem  rechten  M.  rectus  abdominis, 
die  bis  auf  5  cm  an  den  Nabel  heranreicht.  Obschon  die  Haut  hier  nicht 
verdickt  und  normal  beweglich  ist,  hat  der  Tumor  doch  einen  so  harten 
scharfen  Eand,  daß  man  meinen  könnte,  denselben  noch  innerhalb  der 
Bauchwand  selbst  zu  fühlen.  Der  Perkussionston  ist  hier  gedämpft  und 
die  Stelle  ist  spontan  und  bei  Druck  schmerzhaft.  Bei  tiefer  Lsspiration 
senkt  sich  die  obere  Lebergrenze  ly^  Pinger  breit,  die  untere  kaum  1  cm. 

Harn  wird  nur  in  geringen  Mengen  abgeschieden,  ist  dunkel,  ohne 
Eiweiß  und  enthält  Spuren  Gallenfarbstoff.  Faeces,  dreimal  pro  die,  ent- 
halten Schleim,  Blutstreifchen  und  etwas  Eiter. 

Diagnose:  Leberabsceß  an  der  unteren  Vorderfläche,  ziemlich  klein, 
vermutlich  verwachsen  mit  der  vorderen  Bauchwand.    Dysenterie. 

Operation  am  5.  März  1900.  Schiefer  Schnitt  unter  und  parallel  mit 
dem  Rippenbogen.  Beim  Durchschneiden  des  M.  rectus  mit  seiner  Scheide 
zeigt  sich  das  präperitoneale  Fettgewebe  unter  dem  Muse  rectus  etwas 
ödematös.  Seitwärts  wird  die  Laoision  nicht  weiter  vergrößert  und  nur 
in  der  Mitte  wird  vorsichtig  Schicht  für  Schicht  in  die  Tiefe  eingedrungen. 
Das  präperitoneale  Fettgewebe  ist  dabei  mehr  und  mehr  infiltriert,  „kuchen- 
artig^  und  blutreich.  Noch  tiefer  gehend,  kann  man  Peritoneum  und 
Leber  nicht  mehr  voneinander  unterscheiden,  und  plötzlich  kommt  Eiter 
hervor.  Die  kleine  Oeffnung  wird  nun  sehr  vorsichtig  erweitert,  um  ohne 
Gefahr  die  zirkumskripten  Adhäsionen  nicht  zu  überschreiten.  Bei  der 
Digitaluntersuchung  zeigt  sich  die  Absceflhöhle  etwas  mehr  als  apfelgroß 
and  dicht  beim  Magen  gelegen.  Ein  Drain  und  ein  Gazestreifen  werden 
in  die  Höhle  gebracht. 

Nach  2  Tagen  wird  der  Drain  entfernt  und  nur  tamponiert.  Nach 
10  Tagen  ist  die  gut  granulierende  Leberöffnung  geschlossen.  Unter 
Jodofonnlavement  heilt  auch  die  Dysenterie  schnell.  Nach  18  Tagen  ver- 
läßt Patient  geheilt  die  Klinik. 

Das  soeben  beschriebene  Krankheitsbild  ist  viel  einfacher  als 
wir  es  in  der  Kegel  antreffen.  Doch  sei  es  gestattet,  an  diesem  Bei- 
spiele einige  Symptome  etwas  ausführlicher  zu  besprechen, 

Geringes  Fieber  haben  die  Patienten  meistens  täglich,  z.  B. 
abends  38  ^  doch  ist  es  ihnen  selbst  unbekannt.  Einige  haben  vor- 
übergehend auch  hohes  Fieber,  zwischen  39^  und  40  ^  besonders  nach 
stärkerer  Körperbewegung  am  Tage,  vor  allem  nach  einer  Reise  ^).    Die 


1)  Nicht  selten  sieht  man  auch  beim  Beginn  der  Absceßbildung 
hohes  Fieber  auftreten,  bis  zu  39,8  ö,  während  später,  wenn  der  Eiterherd 
bereits  eine  gewisse  Größe  erreicht  hat,  hektisches  Fieber  bis  38,2^ 
(Abendtemperatur)  in  den  Vordergrund  tritt 


88  J.  A.  Koch, 

Temperaturkurve  schwankt  stark  und  paßt  dadurch  in  kein  anderes 
Erankheitsbild  hinein. 

Zu  Unrecht  wird  oft  an  Malaria  gedacht,  selbst  so  weit,  daß  Malaria 
als  ätiologisches  Moment  angenommen!  wird.  Schüttelfröste,  womit  der 
Fieberanfall  oft  bei  Leberabscessen  eingeleitet  wird,  geben  um  so  leichter 
zu  diesem  Irrtume  Veranlassung.  Eine  gewissenhafte  Untersuchung 
nach  Plasmodien  wird  im  allgemeinen  diese  Verwechselung  verhüten 
und  hat  mir  persönlich  oftmals  gute  Dienste  erwiesen.  Außerdem  wird 
man  stets  fehlgehen,  eine  Lebervergrößerung  der  Malaria  zuzuschreiben, 
wenn  nicht  gleichzeitig  eine  beträchtliche  Milzvergrößerung  vorhanden  ist 

Abmagerung,  viel  schneller  entwickelt  als  mit  dem  geringen 
Fieber  in  Uebereinstimmung  steht,  fehlt  niemals.  Man  achte  also  be- 
sonders auf  das  sogenannte   „unerklärliche  Abmagern^. 

Viele  Patienten  bekommen  einige  Wochen  vor  der  Entwickelung 
des  Abscesses  Hepatitis  mit  heftigen  Schmerzen.  Andere  haben  nur 
ein  Gefühl  von  Schwere  und  Vollsein  in  der  Lebergegend,  Schmerz 
ist  aber  im  allgemeinen  eine  nur  wenig  in  den  Vordergrund  tretende  Er- 
scheinung. Oft  muß  man  eindringlich  nach  etwaigen  Schmerzen  fragen. 
Selten  werden  sie  dann  als  Früherscheinung  vermißt.  Heftiger  Schmerz 
kommt  nur  selten  vor.  Wenn  sehr  konstant  dieselbe  Stelle  in  der 
Lebergegend  als  schmerzhaft  angegeben  vdrd,  dann  befindet  sich  hier 
vermutlich  ein  oberflächlicher  Absceß.  Wenn  bei  tief  gelegenen  Abscessen 
Schmerz  vorkommt,  ist  derselbe  meist  diffus  und  die  schmerzhaften 
Stellen  wechseln  stark.  Tiefe  Inspiration,  Husten,  Gähnen,  Erbrechen 
oder  Schütteln  des  Oberköjpers  verursachen  oft  Schmerzen  oder  ver- 
stärken dieselben. 

Schulter  schmerzen  kommen  ungefähr  in  15  Proz.  der  Fälle 
vor,  am  Schulterblatt,  Acromion,  Clavicula,  Nacken  oder  Arm.  Irradieren 
des  N.  phrenicus  auf  den  vierten  Cervinalnerven  wird  als  Ursache  an- 
gegeben. 

Tussis  hepatica  kommt  ziemlich  oft  vor.  Ich  sah  sie  ungefähr 
bei  der  Hälfte  meiner  Patienten.  Für  die  lokale  Diagnose  hat  sie 
keinen  Wert.  In  vielen  Fällen  sah  ich  sehr  heftiges  Husten,  während 
doch  der  Absceß  so  weit  wie  möglich  von  der  Lunge  entfernt  war^. 
Langenbuch  (34)  faßt  es  als  eine  Reflexerscheinung  des  Nerv,  phre- 
nicus auf. 

Es  ist  selbstredend,  daß  das  Husten  eine  gründliche  Untersuchung 
der  Lungen  erfordert.    Findet  man  Pleuritis,  Rhonchi  in  der  Nähe  der 


1)  So  gebrauchte  Patient  No.  2  (Dr.  0.)  bereits  seit  langer  Zeit  Pulvis 
Doveri,  um  den  sehr  lästigen  Hustenreiz  zu  verhindern,  besonders  nachts. 
An  anderer  Stelle  war  denn  auch  die  Diagnose  auf  einen  Absceß  unter 
dem  Diaphragma  gestellt.  Später  ergab  sich  jedoch,  daß  der  Leberabsceß 
gegen  Magen  und  Kolon  zu  entwickelt  war. 


Ueber  tropische  I^eberabscesse.  89 

LoBgenlebergrenze ,  KompressionserscheinungeD  der  Lunge  oder  eine 
lokaJe  Hervorwölbung  des  Diaphragma  nach  oben,  dann  werden 
diese  Erscheinungen  gewiß  ihren  Wert  behalten.  Sie  weisen  auf  eine 
zu  erwartende  Perforation  des  Leberabscesses  nach  der  Lunge.  Aber 
der  Hustenreiz  allein,  selbst  sehr  heftiges  Husten,  beweist  durchaus 
nicht,  daß  der  Absceß  in  der  Nähe  des  Diaphragma  gelegen  ist. 

Inspektion:  Sehr  auffallend  ist  die  gelbblasse  Gesichtsfarbe  der 
Patienten.  Diese  hält  die  Mitte  zwischen  der  fahlblassen  Farbe  der 
Krebskranken  im  letzten  Stadium  und  der  gelben  Farbe  der  ikterischen 
Patienten.  Die  Conjunctiva  ist  blaßgelb  und  wachsartig.  Der  Gresichts- 
aasdruck  zeigt  das  Bild  eines  Schwerkranken. 

Sehr  oft  fiel  mir  der  Gang  des  Patienten  auf.  Bei  vielen 
Kranken  stellte  ich  dadurch  unwillkürlich  bereits  bei  ihrem  Hereintreten 
die  Diagnose,  obgleich  der  Absceß  noch  im  Anfangsstadium  war  und 
der  Kranke  selbst  niemals  an  einen  Leberabsceß  gedacht  hätte.  Es  ist, 
als  ob  die  Patienten  mit  ihrem  Leberabsceß  unter  dem  Arm  laufen. 
Aenßerst  vorsichtig  und  mit  kleinen  Schritten  kommen  sie  herein. 
Ober-  und  Unterarm  gegen  die  Lebergegend  gedrückt.  Dabei  laufen 
sie  etwas  vornüber  und  vollständig  schief,  mit  deutlicher  Dorsalskoliose 
konvex  nach  links,  um  die  Muskeln  an  der  rechten  Rumpfseite  dadurch 
zu  entspannen.  Beim  Niederlegen  sieht  man  etwas  Aehnliches,  wenn  auch 
weniger  konstant  Bittet  man  den  Patienten,  sich  auf  eine  Ruhebank 
zu  legen,  dann  setzt  er  sich  erst  vorsichtig  hin.  Dann  dreht  er  lang- 
sam die  Leberseite  nach  unten  und  hält  seinen  Körper  beim  Niederlegen 
so  steif  wie  einen  Stock.  Fordert  man  ihn  auf,  sich  auf  die  linke 
Seite  zu  legen,  dann  dreht  er  sich  erst  vollständig  nach  rechts,  richtet 
sich  dann  langsam  und  schwerfällig  auf  oder  bittet  selbst  um  Hilfe. 

Wenn  der  Patient  für  Schmerzen  weniger  emfindlich  ist,  dann  ist 
auch  diese  eigentümliche  steife  Haltung  des  Körpers  beim  Gehen  und 
Niederlegen  weniger  prägnant.  Selten  sah  ich  diese  Erscheinung 
ganz  fehlen^). 

Auch  die  Atmung  ist,  wenn  Schmerzen  oder  Hustenreiz  besteht, 
oberflächlich  und  schnell.  In  den  meisten  schweren  Fällen  wurde 
hierdurch  auch  die  Sprache  skandiert  (Patient  No.  15). 

Verdauungsstörungen  sind  stets  vorhanden.  Besonders 
während  der  Tage,  an  denen  Fieber  und  Schmerz  den  Patienten  plagen, 
ist  der  Appetit  vollständig  verschwunden.  Abscesse  an  der  Unterfläche 
der  Leber  geben  die  stärksten  Magensymptome,  ja  sie  können  selbst 
durch  Druck  auf  den  Pylorus  unstillbares  Erbrechen  verursachen  (Patient 
No.  1  und  2).  Besonders  Abscesse  des  Lob.  Spiegelii  und  des  Lob. 
qnadratns  sind  in   dieser  Beziehung  bekannt.     Durch  Verschluß    des 


1)  Andere  Prozesse  in  dieser  Gegend,  die  bei  Druck  Schmerzen  ver- 
ursachen, werden  natürlich  dieselbe  Erscheinung  zeigen. 


90  J.  A*  Koch, 

Ductus  choledochus  oder  hepaticus  können  sie  auch  starken  Ikterus 
verursachen  (Patient  No.  5). 

Diarrhöe  kommt  oft  vor  und  läßt  stets  frühere  Dysenterie  vermuten. 

Palpation  und  Perkussion  lehren  uns  die  Lebergrenze 
kennen : 

1)  Vergrößerung  der  ganzen  Leber  findet  man  bei  jedem 
Leberabsceß.  Sowohl  nach  unten  wie  nach  oben  ist  die  Leber  vergrößert, 
manchmal  auch  nach  links. 

2)  Vergrößerung  nach  oben  ist  besonders  im  Beginn  der 
Absceßbildung  am  meisten  auffallend.  Die  Ursache  ist  nach  meiner 
Meinung  die  Schmerzhaft igkeit.  Das  Zwerchfell  kontrahiert  sich 
nicht  mehr  kräftig  und  steigt  dadurch  1— IV«  Finger  breit. 

3)  Vergrößerung  nach  unten  tritt  besonders  später,  bei  der 
stetigen  Vergrößerung  der  Leber,  mehr  in  den  Vordergrund. 

Wo  eine  scharf  umschriebene  Hervorwölbung  der  Leber  beobachtet 
wird,  an  der  oberen  oder  unteren  Grenze,  darf  ein  Absceß  an  dieser 
Stelle  vermutet  werden. 

Meiner  Meinung  nach  werden  diese  Verhältnisse  in  den  Lehrbüchern 
zu  einfach  angegeben  —  bei  einem  Absceß  am  oberen  Rande:  zirkum- 
skripte Hervorwölbung  des  Diaphragma  nach  oben  —  bei  einem  Absceß 
am  unteren  Rande:  umschriebene  Wölbung  des  ünterrandes.  Dies 
findet  man  in  der  Tat  bei  Abscessen,  die  unmittelbar  unter  der 
Leberoberfläche  liegen  oder  unter  der  Leberkapsel.  Wenn  aber  noch 
eine  dünne  Leberlage  (1— 1 V2  cm)  den  Absceß  bedeckt,  dann  sieht  man 
sowohl  bei  hoch  wie  bei  niedrig  gelegenen  Abscessen,  außer  der  oben- 
genannten geringen  Diaphragmasteigung  (1—1 V«  Finger  breit)  nur 
den  unteren  Leberrand  sich  senken  und  zwar  in  dem  Maße 
stärker,  als  der  Absceß  größer  wird.  Während  also  ein  außer- 
gewöhnlicher Hochstand  des  Diaphragma  (4.  oder  3.  Rippe)  bestimmt 
andeutet,  daß  der  Absceß  unmittelbar  unter  demselben  lokalisiert  ist, 
beweist  eine  besonders  niedrige  Lebergrenze  durchaus  noch  nicht,  daß 
auch  der  Absceß  in  der  Nähe  der  unteren  Grenze  gelegen  ist.  Er  kann 
selbst  auch  dann  im  oberen  Teile  der  Leber  liegen. 

In  der  Literatur  werden  diese  Verhältnisse  nicht  beschrieben.  Es 
kann  sein,  daß  die  folgende  Erklärung  die  richtige  ist: 

Wenn  ein  Absceß  die  obere  Leberkapsel  untergräbt,  mit  dem  Zwerch- 
fell verwächst  oder  dieses  entzündlich  infiltriert,  werden  die  angrenzenden 
Muskelfasern  des  Diaphragma,  sowohl  infolge  einer  serösen  Imbibition, 
als  auch  infolge  einer  reflektorischen  Paralyse  erschlaffen.  Eine  hernien- 
artige  Hervorwölbung  des  Diaphragma  nach  der  Lunge  hin  wird  an- 
deuten, wo  ein  Absceß  nach  der  Brusthöhle  hin  versucht  durchzubrechen. 
Wo  aber  der  Abstand  zwischen  Absceß  und  Diaphragma  größer  wird, 
so  daß  dieses  nicht  entzündlich  affiziert  wird,  da  sieht  man  das  Dia- 
phragma nicht   weiter    als  die  obengenannten  P/^   Fingerbreite  nach 


üeber  tropische  Leberabscesse.  91 

oben  steigen,  jedoch  wohl  die  untere  Lebergrenze  sich  immer  weiter 
senken. 

Die  Leber  befindet  sich,  wenn  der  Patient  auf  dem  Rücken  liegte 
in  einem  gewissen  Gleichgewicht  zwischen  dem  positiven  abdominalen 
Druck  von  unten  und  der  Spannung  des  Diaphragma  von  oben.  Wenn 
nun  die  Leber  durch  einen  Absceß  an  Umfang  zunimmt,  dann  wird 
sich  zu  allererst,  um  Schmerzen  zu  vermeiden,  das  Diaphragma  nicht 
mehr  kräftig  zusammenziehen. 

Wenn  nun  der  Absceß  immer  größer  wird,  wird  auch  die  Leber 
fortwährend  an  Umfang  zunehmen  und  versuchen,  sich  sowohl  nach 
unten  als  auch  nach  oben  auszudehnen.  Eine  geringe  Ausdehnung  des 
Zwerchfells  wird  jedoch  schon  bald  eine  nicht  unbedeutende  Spannungs- 
vermehrung mit  sich  bringen,  die  schon  bald  nicht  mehr  tiberschritten 
werden  kann. 

Ganz  anders  aber  verhält  sich  die  Sache  nach  der  Bauchhöhle  hin. 
Hier  lassen  sich  die  Intestina  immer  mehr  verdrängen.  Wohl  wölbt 
und  spannt  sich  der  Bauch  ein  wenig,  aber  stets  bleibt  noch  Raum  für 
eine  weitere  Ausdehnung  übrig.  Aus  diesem  Grunde  ist  auch  bei 
großen  Abscessen  die  Verschiebung  nach  unten  am  meisten  auffallend. 
Aus  diesem  Grunde  besteht  aber  auch  die  wichtige  Regel,  daß  im  all- 
gemeinen die  Lebervergrößerung  nach  unten  keine  Bedeutung  für  die 
Lokalisation  des  Leberabscesses  hat.  Wenn  man,  weil  die  untere  Leber- 
grenze so  niedrig  steht,  einen  Absceß  an  der  Unterfläche  diagnostiziert, 
wird  man  sehr  oft  fruchtlos  operieren  ^).  Wo  keine  umschriebene  Wöl- 
bung nach  unten  vorhanden  ist,  da  sei  man  vorsichtig. 

Für  die  weitere  Lokalisierung  des  Abscesses  ist  ein  mäßiger  Druck 
mit  den  Fingerspitzen  ein  sehr  verläßliches  Hilfsmittel.  Die  ganze 
Lebergegend  mit  allen  Interkostalräumen  wird  methodisch  palpiert.  Ein 
deutlicher  und  konstant  schmerzhafter  Druckpunkt  zeigt  hierbei  meistens 
die  Stelle  an,  wo  ein  Absceß  in  nicht  allzu  großer  Tiefe  gelegen  ist. 
Das  Ende  der  falschen  Rippen  und  eine  kleine  Stelle  unter  dem 
Proc.  ensiformis  sind  normal  bereits  ziemlich  empfindlich,  womit  man 
rechnen  muß. 

Hat  man  über  die  Lokalisation  eine  bestimmte  Vermutung,  dann 
wünscht  man  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  Adhäsionen  zwischen 
den  Peritoneal-  oder  den  Pleurablättern  bestehen  oder  nicht.    Wo  die 


1)  Viele  Beispiele  hierfür  sind  in  der  Literatur  vorhanden.  Man 
legte  durch  Laparotomie  die  enorm  vergrößerte  Leber  frei,  doch  ein  Absceß 
wurde  nicht  gefunden.  Bei  der  Sektion  ergab  sich  einige  Tage  später, 
da£  der  Absceß  ein  wenig  höher  lag,  als  an  der  Stelle,  wo  man  gesucht 
hatte.  —  Bei  unseren  16  Patienten  zeigten  No.  6,  9,  12  eine  Hervorwölbung 
von  4  oder  5  Fingerbreiten  unter  dem  Rippenbogen.  Bei  No.  9  und  12 
wurde  jedoch  der  Absceß  mitten  in  der  Leber  gefunden,  und  bei  No.  6 
selbst  hoch  unter  dem  Diaphragma. 


92  J.  A.  Koch, 

Leber  bei  tiefer  Atmung  sich  frei  hebt  und  senkt,  wo  die  Lebergrenzen 
bei  Rücken-  und  Seitenlage  und  ebenso  bei  vertikaler  und  liegender 
Haltung  einen  bedeutenden  Unterschied  zeigen  (Pel),  da  bestehen 
sicher  keine  Adhäsionen.  Aber  man  hüte  sich  vor  der  Schlußfolgerung, 
daß  da,  wo  die  Lebergrenzen  vollständig  unbeweglich  sind,  sowohl  bei 
Lageveränderung  als  auch  bei  Atmung  sicher  Adhäsionen  bestehen. 
Denn  wenn  die  Atmung  infolge  Schmerzhaftigkeit  oberflächlich  ist,  dann 
sieht  man  sehr  oft  wegen  dieser  oberflächlichen  Atmung  keine  beweg- 
lichen Lungen-Lebergrenzen,  während,  wenn  der  Patient  für  die  Ope- 
ration in  Narkose  gebracht  ist,  die  Leber  sich  plötzlich  wieder  auf-  und 
abbewegt,  so  daß  unsere  Vermutung  von  Adhäsionen  sich  als  irrig 
erweist.  Diese  Schmerzhaftigkeit  führt  so  oft  zu  einer  scheinbaren 
Unbeweglichkeit,  daß  man  vorsichtshalber  nur  dann,  wenn  deutlich 
Entzündungserscheinungen  an  der  Bauch-  oder  Brustwand  vorhanden 
sind,  das  Bestehen  von  Adhäsionen  mit  Sicherheit  annehmen  darf.  Man 
verwechsle  indessen  ein  geringes  Oedem  nicht  mit  Entzündungserschei- 
nungen. Sehr  oft  sah  ich  ein  solches  Oedem,  ohne  daß  Adhäsionen 
bestanden  (Patient  No.  6), 

Als  bestes  und  letztes  Hilfsmittel  für  die  lokale  Diagnose  haben 
wir  endlich  die  Probepunktion.  Wie  schlecht  dieses  Verfahren  auch 
in  der  Chirurgie  angeschrieben  steht,  bei  der  Behandlung  der  Leber- 
abscesse  können  wir  es  nicht  entbehren.  Doch  muß  man  bei  dessen 
Anwendung  vorsichtig  sein. 

Allererst  werden  oft  bei  der  Probepunktion  zu  lange  Nadeln  ge- 
braucht ScHEUBE  (61)  rät,  Nadeln  von  10—15  cm  Länge  zu  ver- 
wenden, doch  sicher  mit  dem  Zweck,  dieselben  eventuell  auch  in  ihrer 
vollen  Länge  einzustechen!  Das  ist  nun  sicherlich  gefährlich.  Arteria 
und  Vena  hepatica  laufen  dabei  Gefahr,  ja,  auch  die  Vena  cava  ist  nicht 
mehr  sicher.  Die  von  mir  verwendete  Nadel  war  nicht  länger  als  7  cm, 
die  Dicke  2  mm,  und  die  Spritze  enthielt  10  ccm.  Wenn  man  übrigens 
auch  in  einer  Tiefe  von  10—12  cm  Eiter  fände,  dann  wäre  es  doch 
gut,  eine  andere  Stelle  aufzusuchen,  wo  sich  der  Eiter  mehr  der  Ober- 
fläche nähert.  Die  Schwierigkeiten,  einen  Absceß  in  so  großer  Tiefe 
genügend  zu  eröffnen,  sind  nicht  klein  und  die  Aussicht  auf  eine 
günstige  Heilwirkung  wird  geringer,  je  länger  und  komplizierter  der 
Zugang  ist. 

Viele  Probepunktionen  dicht  beieinander  sind  ebenfalls  zu  ver- 
urteilen, weil,  wenn  an  einer  bestimmten  Stelle  kein  Eiter  gefunden 
wird,  die  Aussicht,  unmittelbar  daneben  Eiter  zu  finden,  sicherlich  klein 
ist,  Ueberdies  läßt  es  sich  verstehen,  daß  bei  verschiedenen  Probe- 
punktionen hintereinander  unwillkürlich  die  Vorsicht  geringer  wird  und 
vielleicht  die  Gefahr  einer  Blutung  zunimmt.  Diese  Gefahren  werden 
um  so  größer,  je  mehr  man  sich  dem  Hilus  nähert.  Hier  liegen  die 
größeren  Gefäße.    Eine  Probepunktion  unter  dem  Rippenbogen  ist  des- 


üeber  tropisdie  Leberabsoesse.  93 

halb  abzuraten.  Eine  kleine  Probelaparotomie  ist  dann  viel  zweck- 
mäßiger ^). 

Eine  weit  größere  Gefahr  als  die  der  Blutung  ist  bei  der  Probepunk- 
tion die  Möglichkeit  einer  Infektion.  Nachdem  die  Nadel  zurückge- 
zogen ist,  schließt  sich  der  Stichkanal  nur  da,  wo  der  Absceß  ziemlich 
tief  gelegen  ist.  Ist  dies  nicht  der  Fall  und  liegt  der  Eiterherd  ober- 
flächlich, dann  fließt  noch  ziemlich  viel  dünner  Eiter  nach  außen.  Leber- 
eiter ist  ja  ein  Gemisch,  aus  dicken  Flocken  und  viel  seröser  Flüssig- 
keit bestehend.  In  den  meisten  Fällen  wird  ein  derartiges  Ausfließen 
nicht  bemerkt  Der  Patient  hatte  vor  der  Punktion  Schmerzen  in  der 
Lebergegend  und  Fieber,  und  nach  der  Punktion  wurde  dies  nicht 
anders.  Ueberdies  wird  am  folgenden  Tage  operiert  und  nach  der 
Spaltung  des  Diaphragma  fließt  die  wenige  Flüssigkeit,  die  sich  zwischen 
ZwerchfeU  und  Leber  angehäuft  hat,  nach  außen,  ohne  daß  man  in  der 
tiefen,  blutenden  Wunde  viel  davon  bemerkt.  Wenn  man  sich  jedoch 
die  Mühe  nimmt,  nach  exakter  Blutstillung  genau  die  Punktionsöfliiung 
zu  besichtigen,  dann  sieht  man  aus  ihr  beinahe  immer  noch  eine  trübe 
Flüssigkeit  tröpfeln  (Patient  No.  9). 

Viel  schlimmer  wird  die  Sache,  wenn  die  Probepunktion  durch  die 
Bauchhöhle  hindurch,  also  unter  dem  Rippenbogen  geschah.  Wenn  hier 
ein  Absceß  oberflächlich  gelegen  ist,  z.  B.  unter  der  GLissoNschen  Kapsel, 
dann  spritzt,  wie  man  während  der  Laparotomie  beobachten  kann,  der 
Eiter  nach  dem  Einstich  öfter  in  einem  feinen  Strahl  nach  außen. 
Wäre  die  Probepunktion  ins  Blinde  hinein  gemacht,  dann  würde  infolge 
davon  vielleicht  eine  Peritonitis  entstanden  sein  [Patient  No.  5*)]. 

Durch  verschiedene  Mittel  kann  man  diese  Gefahren 
verhüten: 

a)  Vor  allem  darf  man  niemals  eine  Probepunktion  unter  dem 
Rippenbogen  machen.  Besteht  genügende  Wahrscheinlichkeit  für  einen 
Absceß  nahe  der  Bauchhöhle,  dann  mache  man  eine  Probelaparotomie. 

b)  Weiter  ist  zu  verurteilen,  was  in  englischen  Lehrbüchern  geraten 


1)  Ein  Patient,  bei  dem  man  Probepunktion  gemacht  hatte,  starb  bereits 

1  Stunde  später  an  Verblutung  in  die  Bauchhöhle  (Maasland  und  van 
DER  ScHEXB  [41]).  Smits  (63)  Sah,  wie  bei  der  Operation  die  Stichkanälchen 
beim  Berühren  aufs  neue  zu  bluten  anfingen,  obgleich  die  Probepunktion 
bereits  einige  Tage  vorher  gemacht  war.  Brtant  sah  Tod  durch  Ver- 
blutung, weil  ein  Zweig  der  Vena  portae  angestochen  war. 

2)  Bruno  Leick  (6)  machte  eine  Probepunktion  bei  einem  kleinen 
Abceß  an  der  Unterfläche  der  Leber.  Am  folgenden  Tage  fand  er  einen 
kleinen  Absceß  zwischen  Peritoneum  und  Leber,  verursacht  durch  Eiter, 
der    aus   dem   Stichkanal   geflossen    war.     Der   ursprüngliche   Absceß   lag 

2  cm  unter  der  Leberoberfläche  und  war  kindskopfgroß.  Sbndler  sab 
nach  einer  ezplorativen  Punktion  zirkumskripte  Pentonitis  folgen.  Rushton 
Parker  (58)  machte  bei  einem  Patienten  mit  Leberabsceß  die  Punktion.  Nach 
24  Stunden  bestand  floride  Peritonitis,  woran  Pat  bald  starb. 


94  J.  A.  Ktch, 

wird  (Manson),  den  Patienten  zuerst  zu  narkotisieren  und  dann  eine 
große  Anzahl  Probepunktionen  zu  machen.  Wenn  ungefähr  3  Probe- 
punktionen an  sorgfältig  gewählten  Stellen  keinen  Eiter  feststellen, 
dann  findet  man  ihn  auch  nicht  bei  einem  Dutzend  Einstichen.  AUge- 
meine  Narkose  ist  meines  Erachtens  hierbei  unerlaubt  oder  man  muß 
die  Absicht  haben  und  auch  dazu  im  stände  sein,  augenblicklich  die 
Operation  folgen  zu  lassen.  Eine  zweite  Narkose  ist  doch  bei  solchen 
schwachen  Patienten  nicht  gleichgültig.  Wohl  wird  man  ohne  Narkose 
in  der  Anzahl  der  Probepunktionen  beschränkt  sein,  doch  auf  die  wün- 
schenswerte Sparsamkeit  mit  der  Probepunktion  wurde  schon  oben  hin- 
gewiesen. Man  verrichte  diese  nur  dann,  wenn  schon  andere  dia- 
gnostische Hilfsmittel  den  Absceß  mit  Wahrscheinlichkeit  lokalisiert 
haben. 

In  Fällen,  in  denen  die  Probepunktion  wider  Erwarten  negativ  aus- 
fällt, warte  man  einige  Tage.  Die  meisten  Leberabscesse  vergrößern 
sich  schnell  und  meistens  kann  man  in  kurzer  Zeit  die  Lokalisation 
des  Abscesses  feststellen.  Eine  später  wiederholte  Probepunktion  fällt 
oft  positiv  aus  (Patient  No.  8  und  12). 

c)  Wenn  man  Eiter  findet,  wird  es  gut  sein  —  um  eine  Infektion 
zu  verhüten  —  auch  die  Spannung  in  der  Absceßhöhle  zu  vermindern. 
Je  nachdem  man  einen  kleinen  oder  großen  Absceß  erwartet,  saugt 
man  direkt  mit  der  Probespritze  15 — 50  g  aus.  Der  Eiter  kommt  hier- 
durch unter  geringere  Spannung,  wodurch  die  Möglichkeit  des  Heraus- 
laufens aus  dem  Stichkanal  kleiner  wird. 

d)  Noch  besser  ist  es,  die  Nadel  einfach  sitzen  zu  lassen  und  schnell 
zu  operieren.  Man  schließt  dann  vorläufig  die  Nadel  mit  einem  kleinen 
Propfen.  Mit  einiger  Vorsicht  lassen  sich  um  die  Nadel  herum  ganz 
gut  Pleura-  und  Peritonealblätter  aneinandernähen.  Man  sorge  nur 
dafür,  daß  die  zwischen  der  Incision  gelegenen  Weichteile  genau  ge- 
spalten werden. 

Schließlich,  und  dies  möge  als  Hauptsache  noch  einmal  nachdrücklich 
gesagt  sein,  ist  es  wünschenswert,  daß  die  Operation  unmittel- 
bar auf  die  Probepunktion  folgt.  Man  muß  sich  zur  Probe- 
punktion erst  dann  entschließen,  nachdem  man  sein  Instrumentarium 
für  die  Operation  vollständig  in  Ordnung  gebracht  hat 

Operation:  Nach  einer  positiven  Probepunktion  folgt  also  un- 
mittelbar die  Operation. 

Zwar  können  einzelne  Patienten  nach  Perforation  des  Abscesses 
in  Lunge,  Darm  oder  Magen  sich  erholen,  doch  weitaus  die  meisten 
sterben  auch  dann  noch.  Spontane  Perforation  durch  die  Haut  ist 
noch  ungünstiger,  weil  dann  die  Perforation  in  der  Regel  durch  sehr 
lange  Gänge  stattfindet,  welche  ein  ungenügendes  Abfließen  des  Eiters 
verursachen  und  leicht  zu  einer  sekundären  Infektion  Veranlassung 
geben.    Wer  also  einen  Kranken  mit  suppurativer  Hepatitis  retten  will, 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  95 

freue  sich  darüber,  Eiter  gefunden  zu  haben,  und  operiere  so  frühzeitig 
wie  nur  möglich.    Jeder  Tag  Wartens  läßt  viel  verlieren. 

Mit  Recht  verurteilt  Langen  buch  (34)  das  Operieren  durch  Punktion 
und  auch  die  Schnellmethode  von  Little. 

Nachstehend  beschreibe  ich  die  von  mir  angewandte  Methode, 
welche  nur  in  wenigen  Einzelheiten  von  der  am  meisten  gebräuchlichen 
Methode  abweicht. 

Wenn  der  Absceß  im  Bereich  der  Bauchhöhle  geöffnet  werden  soll, 
incidiert  man  an  derjenigen  Stelle,  wo  die  Leberwölbung  am  stärksten 
hervortritt,  durch  einen  mit  dem  Bippenbogen  parallelen  Schnitt  Faure(I) 
rät,  in  longitudinaler  Richtung  zu  incidieren.  Es  ist  aber  wünschenswert, 
da,  wo  Adhäsionen  bestehen,  innerhalb  derselben  zu  bleiben  und  das  er- 
reicht man  viel  sicherer,  wenn  man  den  Schnitt  dem  Leberrand  parallel 
macht.  Sind  Adhäsionen  vorhanden,  dann  sorge  man  dafür,  in  der  Tiefe 
innerhalb  derselben  zu  bleiben.  Bestehen  solche  nicht,  dann  lege  man  die 
Leber  einfach  bloß  und  untersucht  auf  Fluktuation.  Dann  löst  man  das 
Peritoneum  parietale  von  den  beiden  Wundrändem  und  näht  dasselbe  an 
die  Leber  fest,  so  daß  die  fluktuierende  Stelle  sichtbar  bleibt.  Diese  Naht 
reißt  nicht,  da  das  losgelöste  parietale  Blatt  jetzt  leicht  die  großen  At- 
mungsbewegungen der  Leber  mitmachen  kann.  Dann  incidiert  man  den 
Absceß.  Ein  kurzes  dickes  und  ein  langes  dünneres  Drainrohr  werden  nun 
in  die  Absceßhöhle  eingebracht,  an  der  Haut  festgenäht  und  da  kurz  ab- 
geschnitten. Eine  Anzahl  drainierender  Gazestreifen  umgeben  weiter  die 
Röhren.     Verband. 

Muß  durch  eine  Rippenresektion  der  Absceß  geöffnet  werden, 
dann  denke  man  zu  allererst  daran,  daß  nach  der  Operation  der  Patient 
am  liebsten  gerade  auf  dem  Rücken  liegt.  Je  mehr  also  die  Oeffnung 
nach  hinten  angelegt  wird,  je  besser  wird  der  Absceß  sich  vollkommen 
entleeren.  Wird  die  Oeffnung  aus  anderen  Gründen  doch  mehr  nach  vorne 
angelegt,  dann  bringt  man  den  Pat  am  besten  während  der  Nachbehandlung 
auf  eine  Wassermatratze  in  rechter  Seitenlage. 

An  tief  gelegenen  Stellen  kann  man  durch  Rippenresektion  die  Leber 
erreichen,  ohne  daß  man  durch  die  Pleura  behindert  wird.  Bleibt  man 
dicht  beim  Rippenbogen,  dann  brauchen  nur  Peritonealnähte  angelegt  zu 
werden. 

Operiert  man  höher,  dann  trifft  man  in  erster  Linie  auf  die  Pleura. 
Sehr  vorsichtig  wird  ein  Rippen^stück  (6 — 8  cm)  weggenommen,  wobei  man 
dafür  sorgt,  daß  die  Pleura  costalis  nicht  einreißt.  Den  Wundrändern 
entlang  werden  nun  überall  Pleura  costalis  und  Pleura  diaphragmatica 
durch  eine  fortlaufende  Naht  aneinander  fixiert.  Das  umsäumte  Stück 
doppelter  Pleura  wird  dann  weggenommen  und  die  Naht  hier  und  da  noch 
gesichert  Dies  alles  geht  leicht  von  statten,  weil  die  Pleura  durch  die 
darunter  liegende  Leber  gegen  die  Brustwand  angedrückt  wird.  Danach 
legt  man  durch  eine  genügend  große  Licision  des  Zwerchfelles  die  Leber 
frei.  Trotzdem  man  versucht,  diese  Oeffnung  groß  anzulegen,  wird  man 
schließlich  immer  enttäuscht,  so  daß  ein  Palpieren  der  Leber  fast  unmöglich 
ist.  Soviel  wie  möglich  versucht  man  jedoch,  die  Stichöffnung  von  der 
Probepunktion  her  zu  finden  und  diese  innerhalb  der  Lebemähte  zu 
fassen.  Wenn  man  die  Nadel  hat  sitzen  lassen,  dann  erleichtert  dies  die 
Sache  sehr. 


96  J.  A.  Koch, 

Das  Aneinandernähen  der  Leberkapsel  und  des  Diaphragma  ist  nicht 
leicht.  Bei  den  kräftigen  Atmungsbewegangen  schiebt  sich  immer  wieder 
ein  anderer  Teil  der  Leber  vor  die  kleine  Oeffnung  and  eine  einzelne  an- 
gelegte Naht  würde  beim  Knüpfen  direkt  reißen.  Hauptsache  ist  eine 
möglichst  große  Oeffhung  im  Diaphragma.  Weiter  gebraucht  man  sehr 
kleine  krumme  Nadeln  mit  weicher  Seide.  Erst  legt  man  eine  Anzahl  von 
Nähten  an,  läßt  dann  die  Leber  durch  Anspannung  dieser  Nähte  sich 
fixieren  und  knüpft  sie  erst  dann.  Die  eine  Naht  stützt  dann  die  andere. 
Ein  Nadelhalter  ist  hierbei  weniger  erwünscht;  er  hält  die  Nadel  zu  fest 
und  verursacht  dadurch  bei  den  Atmungsbewegungen  eine  kleine  Biß- 
wunde in  der  Leber.  Eine  PBANsche  oder  anatomische  Pinzette  ist  zweck- 
mäßiger, weil  die  Nadel  schneller  losgelassen  werden  kann. 

KoGHiGB  (28)  reserziert  bei  dieser  Operation  lieber  zwei  Eippen. 
Dies  erleichtert  sicherlich  die  Technik  in  hohem  Maße.  Doch  gelang  es 
mir  immer  auch  mit  der  Wegnahme  von  nur  einer  B.ippe(l). 

Wer  nun  den  angelegten  Lebernähten  nicht  volles  Vertrauen  ent- 
gegenbringt, kann  auch  tamponieren  und  am  folgenden  Tage  incidieren. 
Das  ist  dann  schmerzlos  und  Narkose  ist  überflüssig. 

Eigentümlich  ist  es,  daß,  während  ich  bereits  in  24  Stunden  sehr  ge- 
nügende Adhäsionen  entstehen  sah,  Langenbugh  hierfür  7  Tage  nötig  er- 
achtet (34)  und  Smits  6—7  Tage  (63).  Ja  auch  nach  dieser  Zeit  sah  Smits 
noch  das  Omentum  in  die  Wunde  prolabieren,  wohl  ein  Beweis,  daß  die 
Adhäsionen  noch  ungenügend  waren. 

Die  Ursache  liegt  allein  in  einer  weniger  richtigen  Technik,  die 
folgendermaßen  beschrieben  wird:  Das  peritoneale  Blatt  des  Peritoneums 
wird  durchtrennt  und  mit  fortlaufenden  Catgutsuturen  an  die  Hautwund- 
ränder genäht.  Jetzt  wird  die  Wunde  durch  einen  langen  sterilen  Jodo- 
formstreifen ausgestopft  und  dann  dieser  Tampon  in  seiner  Lage  durch 
eine  die  Hautränder  über  ihm  fixierende  Sutur  befestigt 

Diese  Methode  führt  nicht  zu  dem  gewünschten  Erfolge.  Wenn  man 
zwei  Peritonealblätter  verwachsen  lassen  will,  müssen  diese  so  innig  wie 
möglich  aneinanderliegen  bleiben.  Aber  dies  geschieht  gerade  nicht,  wenn 
man  das  peritoneale  Blatt  an  die  Haut  näht  und  es  ektropioniert  und 
danach  die  Leber  durch  einen  übergenähten  Gazetampon  etwas  nach  innen 
drückt.  Auf  diese  Weise  werden  beide  serösen  Blätter  voneinander  ent- 
fernt und  die  Verklebung  gehindert.  Auch  glaube  ich  mit  Eecht  einen 
Einwurf  gegen  das  Uebemähen  der  Wund  fläche  mit  Haut  zu  erheben, 
denn  feuchte  sterile  Jodofoimgaze  übt  sehr  wenig  Beiz  auf  das  Peritoneum 
aus.  Das  erhellt  daraus,  daß,  wo  bei  einer  Laparotomie  ein  Stück  nasser 
Oaze  in  der  Bauchhöhle  vergessen  wurde,  diese  nach  einigen  Tagen  noch 
vollständig  frei  lag.  Soll  die  Gaze  die  oberflächlichen  Epithelzellen  zer- 
stören und  dadurch  Adhäsionen  verursachen,  dann  muß  die  Gaze  trocken 
oder  beinahe  trocken  sein  und  anstatt  die  Wunde  dicht  zu  nähen,  mui^ 
sie  gerade  weit  offen  bleiben. 

In  Ueberein Stimmung  mit  der  obigen  Behauptung  suchte  ich  darum 
immer  so  sorgfältig  wie  nur  möglich  das  parietale  Peritonealblatt  an  die 
Leber  zu  befestigen.  Wo  die  angelegte  Lebernaht  nicht  genügende  Sicher- 
heit gab,  um  in  einem  Tempo  zu  operieren  (Pat.  6)  da  wurde  ein  kleines 
Stückchen  Gaze,  mit  einem  Draht  versehen,  auf  die  Leber  gelegt.  Hier- 
auf folgten  viele  gerade  Gazestreifen,  die  parallel  zueinander  senkrecht 
auf  der  Leberoberfläche  stehen  und  als  fingerdicke  Drains  die  Flüssigkeit 
direkt  in  den  großen  äußeren  Verband  saugen.  Tatsächlich  sah  man  hier- 
bei, obgleich  der  äußere  Verband  trocken  blieb,  denselben  doch  über  eine 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  97 

große  Strecke  gelb  gefärbt,  als  Beweis,  wie  viel  Feuchtigkeit  aus  der 
Oberfläche  verdampft  war.  Entfernte  man  nun  nach  24  oder  48  Stunden 
die  Oaze,  dann  waren  nicht  allein  solide  Adhäsionen  vorhanden,  sondern 
Leber,  Diaphragma  und  Pleura  waren  durch  einen  fibrinösen  Belag  nicht 
mehr  voneinander  zu  unterscheiden«  Einige  Erkennungsnähte  in  der  Wunde 
zeigten  die  Stelle,  wo  man  inzidieren  mußte. 

Einen  sehr  praktischen  Bat  gab  unlängst  in  Indien  Kollege  Pruys: 
In  schwierigen  Fällen,  wo  man  mit  schlechter  Assistenz  operiert,  so  daß 
das  Annähen  der  Leber  nicht  gelingt,  kann  man  einfach  aus  dem  freige- 
legten Absceß  den  Eiter  mit  einem  Troikart  entfernen.  Dann  wird  die 
kleine  Wunde  mit  viel  Gaze  tamponiert  und  nach  ein  oder  zwei  Tagen 
reichlich  inzidiert  und  drainiert  Praktisch  wird  man  auf  diese  Weise 
sicher  manchen  Patienten  retten  können.  Diese  Methode  darf  jedoch  nur 
da  in  Anwendung  kommen,  wo  ungenügende  Assistenz  dazu  zwingt  Man 
kann  wohl  damit  anfangen,  den  Absceß  zu  entleeren,  aber  leer  bleiben  wird 
er  nicht  Aus  der  Oeffnung  wird  also  später  wieder  Eiter  fließen.  Wenn 
nun  die  Troikartöffiiung  genau  mitten  in  der  Wunde  bliebe,  dann  wäre 
hierbei  keine  Oefahr.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Wenn  die  Leber 
nach  Entleerung  des  Abscesses  ansehnlich  im  Umfang  abnimmt,  schiebt 
sie  sich  beinahe  immer  nach  oben,  gewöhnlich  nach  einigen  Stunden  um 
1 — 2  Fingerbreiten.  Inkongruenz  ist  hiervon  die  Folge.  Diese  sekundäre 
Inkongurenz  macht  sicher  die  Methode  weniger  vollkommen.  Doch  be- 
weisen die  Besnltate  von  Pruts,  daß  sie  praktisch  bei  ungenügender  Assistenz 
sehr  brauchbar  sein  kann. 

Hat  man  endlich  die  Leber  genügend  festgeheftet,  und  dadurch  die 
Bauchhöhle  sicher  abgeschlossen,  dann  wird  der  Absceß  geöffnet. 

Bei  sehr  oberflächlichen  Abscessen  incidiert  man  einfach^).  Liegt 
der  Absceß  tiefer,  dann  ist  die  gebräuchliche  Methode,  daß  man  mit 
dem  Paquelin  bis  in  den  Absceß  brennt  Die  Erfahrung  hat  mich  je- 
doch gelehrt,  daß  hierbei  die  Blutung  ziemlich  stark  sein  kann.  Der 
Paquelin  brennt  oft  ein  Loch  in  eine  große  Vene  und  unter  dem  Schorf 
entsteht  eine  difFusse  Blutung,  die  sehr  schwer  zu  stillen  ist.  Um 
diese  Unannehmlichkeiten  zu  verhüten,  habe  ich  folgendermaßen  operiert  : 
Bei  tiefgelegenen  Abscessen  wird  neben  der  Probenadel  nur  die  Leber- 
kapsel eingeschnitten  in  einer  Länge  von  1 — 2  cm.  Eine  stumpf  ab- 
geschliffene Hohlsonde  gleitet  nun  längs  der  Nadel  in  den  Absceß. 
Die  Nadel  wird  entfernt,  eine  stumpfe  Kornzange  gleitet  nach  innen 
und  erweitert  den  Zugang  so  weit,  daß  bequem  ein  Finger  hineingebracht 
werden  kann.  Die  Blutung  ist  hierbei  auffallend  gering,  selbst  wo  die 
stumpfe  Zange  einige  Centimeter  nach  innen  geschoben  wurde.  Schein- 
bar weichen  die  Gefäße  leicht  zur  Seite  ^).    Weiter  Drainage  wie  oben. 

1)  In  einigen  Fällen  kann  der  Absceß  so  unmittelbar  unter  der  Leber- 
kapsel liegen,  daß  ein  Aneinandemähen  von  Hepar  und  Diaphragma  nicht 
möglich  ist,  ohne  direkt  mit  der  Nadel  in  den  Absceß  zu  stechen.  Hier 
ist  es  besser,  erst  mit  einer  PoTAiNschen  Nadel  den  Absceß  zu  entleeren 
und  darnach  den  schlaffen  Sack  mit  Diaphragma  oder  Wunde  durch  Naht 
zu  vereinigen. 

2)  In   seltenen  Fällen   wird   ein   sehr    alter  Absceß   von   einer  festen 

Mitteü.  a.  d.  Oranxfebteten  d.  Medizin  a.  Chirargie.    XIIL  Bd.  7 


98  J.  A.  Koch, 

Von  MoNOD  ^)  und  Faüre  *)  wird  ein  ähnlicher  Rat  gegeben :  Nach- 
dem eine  Probenadel  in  der  Wunde  die  Stelle  des  Abscesses  markiert 
hat,  bohrt  man  einfach  mit  dem  Finger  durch  das  mürbe  Lebergewebe 
bis  in  den  AbsceB.  Faüre  konnte  so  in  einem  Falle  den  ganzen  Zeige- 
finger bis  auf  10  cm  Tiefe  in  die  Leber  bohren,  ohne  daß  eine  ernstliche 
Blutung  eintrat. 

Endlich  kommen  noch  Leberabscesse  vor,  zu  niedrig,  um  sie  durch 
eine  Rippenresektion  zu  erreichen,  zu  hoch  für  den  abdominalen  Weg. 
Hier  reseziert  man  nun  ein  Stück  des  Rippenbogens  nach  der  Methode 
von  Lannelongue.  Der  Hautschnitt  wird  hierbei  parallel  und  2  cm 
über  den  Rippenbogen  gemacht.  Die  Rippenknorpel  der  8.,  9.  und  10. 
Rippe  werden  weggenommen,  was  ziemliche  Blutung  verursacht.  Die 
Pleurahöhle  bleibt  hierbei  geschlossen.  Das  Aneinandernähen  des  Bauch- 
felles und  der  Leber  ist  ziemlich  einfach.  Der  Zugang  zum  Leberabscefi 
ist  hierbei  sehr  bequem. 

Es  sei  mir  gestattet,  jetzt  die  Krankengeschichten  in  Kürze  folgen 
zu  lassen. 

Zuerst  zwei  Patienten,  bei  denen  sich  der  Absceß  unter  dem 
Rippenbogen  befand  und  die  nach  einfacher  Incision  leicht  genasen: 

2.  Abscessus  hepatis  lobidextri.  Verwachsung  mit  der 
Bauchwand.     Incision.     Geheilt. 

Dr.  d.  0.,  40  Jahre,  bekam  vor  8  Wochen  Schmerzen  in  der  Magen- 
gegend,  begleitet  von  Üebelkeit  und  geringem  Fieber.  Beim  Erbrechen 
wurde  der  Schmerz  in  der  Magen-  und  Lebergegend  selbst  unerträglicL 
Dabei  bekam  er  heftige  Hustenanftlle,  wogegen  er  Pulv.  Doveri  gebrauchte. 
Die  behandelnden  Kollegen  diagnostizierten  einen  Leberabsceß.  Ein 
Aufenthalt  in  bergischer  Gegend  hatte  hierauf  keinen  günstigen  EinfluE. 
Er  kam  nach  Soerabaia,  wo  ich  diese  Diagnose  bestätigen  mußte.  Vor 
IY3  Jahren  erwarb  Pat.  eine  Dysenterie  und  noch  ein  ganzes  Jahr  später 
litt  er  an  Scbleimabgang,  was  erst  in  Holland  vollkommen  heilte. 

Status  praesens:  Pat.  ist  blaß  und  sieht  ermüdet  aus.  Puls  106, 
Atmung  28,  Husten  und  Erbrechen  sehr  schmerzhaft  Die  Leber  reicht 
in  der  Papillarlinie  oben  bis  zur  sechsten  Rippe,  unten  bis  lYs  Pinger- 
breite unter  den  Rippenbogen.  In  der  Gegend  der  Gallenblase  befindet 
sich  eine  kuppeiförmige  Wölbung,  die  bis  3  Fingerbreiten  nach  unten 
reicht.  Diese  Stelle  ist  bei  Druck  etwas  empfindlich,  während  spontan 
mehr  Schmerzen  in  der  Seite  angegeben  werden.  Bei  der  Atmung  bewegt 
sich  dieser  runde  Tumor  nicht  und  macht  den  Eindruck,  als  ob  er  noch 
in  der  Bauchwand  selbst  säße.  Die  Haut  tiher  ihm  ist  etwas  weniger 
beweglich  als  an  anderen  Stellen.  Diagnose:  Absceß  im  rechten  Lobus, 
mit  der  Bauchwand  verwachsen. 

Operation:  Februar  1901.  Eine  Probepunktion  wird  nicht  gemacht. 
An    der   gewölbten  Stelle   wird   inzidiert,    parallel   mit   den   Rippenbogen. 


fihriösen   Kapsel   umgeben,   die    alsdann   der  Zange   einen   unangenehmen 
Widerstand  entgegensetzt  (Patient  No.  9). 

1)  MoNOD  et  Vanverts,  Technique  op^ratoire,  T.  2,  p.  416. 

2)  Faübb,  Trait^  de  Chirurgie,  lb  Dbntu  et  Dblbbt,  T.  8.  p.  231. 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  99 

Der  Muse,  rectas  iat  ödematös.  Unter  ihm  fdhrt  ein  aasgebreitetes  ent» 
zündliches  Infiltrat  von  präperitonealem  Fettgewebe  in  einen  ^4  ^  ^^^* 
tenden  Abscefi.  Tamponade  mit  einigen  dicken  Gazestreifen,  dazwischen 
zentral  ein  kurzes  Drainrohr. 

Nach  8  Wochen  vollkommen  geheilt. 

Merkwürdig  ist  bei  diesem  Fall,  daß  Patient  s  o  heftig  hustete,  daß 
an  anderer  Stelle  bereits  ein  Absceß  unter  dem  Diaphragma  vermutet 
wurde.    Doch  lag  derselbe  vollständig  im  untersten  Teil  der  Leber. 

Günstig  war  auch  der  Verlauf  im  folgenden  Fall: 

3.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.  Verwachsung  mitder 
Bauchwand.     Incision.     Geheilt. 

Herr  A.,  35  Jahre,  fühlt  seit  3  Wochen  stechende  Schmerzen  unter 
dem  rechten  Eippenbogen,  die  nach  dem  Rücken  ausstrahlen.  Ein  Span- 
nungsgefühl hatte  er  schon  seit  2  Monaten.  Seit  4  Monaten  hatte  er  ab 
und  zu  etwas  Fieber.  Er  tat  aber  stets  seine  gewohnte  Arbeit.  Vor 
3  Jahren  hatte  er  Dysenterie,  die  Monate  dauerte  und  dann  heilte. 

Status  praesens:  Fat.  ist  stark  abgemagert.  Die  Haut  ist  gelb- 
blaß, ebenso  die  Konjunktiven.  Rechter  Rippenbogen  und  Hypochondrium 
sind  deutlich  vorgewölbt.  Die  Lungen-Lebergrenze  findet  man  in  der  rechten 
Mamillarlinie  bis  an  die  6.  Rippe;  sie  ist  bei  der  Atmung  unbeweglich. 
Nach  unten  reicht  die  Leber  handbreit  unter  den  Rippenbogen.  An  der 
Stelle,  wo  normal  die  Gallenblase  liegt,  ist  die  Haut  hyperämisch,  die 
Hautfalte  dicker,  weniger  beweglich  und  bei  Druck  schmerzhaft»  Auch 
klagt  Pat.  hier  über  Schmerzen,  wenn  man  in  der  rechten  Lendengegend 
drückt.  Diagnose:  Absceß  im  unteren  Teil  des  rechten  Lobus,  mit  der 
Banchwand  stark  verwachsen. 

Operation:  Einfache  Incision  des  Abscesses,  der  600  ccm  Eiter 
enthält     Drainage.     Verband.     Nach  3  Wochen  ist  Fat  geheilt. 

Im  Gegensatz  zu  den  ersten  drei  einfachen  Fällen,  konnten  die  beiden 
folgenden  Patienten  durch  operative  Hilfe  leider  nicht  mehr  gerettet 
werden. 

4.  Abcessus  hepatis  lobi  dextri.  Abscessus  subphre- 
nicus.  Perforatio  diaphragmatis.  Gangraena  pulmonis. 
Gestorben. 

Herr  C,  25  Jahre,  kam  am  1.  Februar  1897  in  sehr  traurigem  Zu- 
stand in  die  Klinik.  Seit  3  Wochen  hatte  er  fortwährend  hohes  Fieber, 
morgens  37,6  ^,  abends  39,7  ®  Dabei  hatte  er  Schmerzen  unter  dem  rechten 
Rippenbogen,  die  nach  der  Schulter  ausstrahlten.  Vor  4  Monaten  bekam, 
er  zuerst  leichtes  Fieber,  das  nicht  aufhörte  und  allmählich  an  Stärke 
zunahm.  Vor  3  Monaten  bekam  er  blutige  Diarrhöe,  die  nach  einigen 
Wochen  unter  Jodoformlavements  heilte.  Auch  hatte  er  am  Ende  des 
Jahres  1895  Dysenterie,  der  sich  nach  einem  Monate  Schmerzen  in  der 
Lebergegend  anschlössen.     Damals  erfolgte   vollkommene  Heilung. 

Status  praesens:  Pat  ist  stark  abgemagert  und  sehr  schwach. 
Das  Gesicht  fieberhaft  gerötet.  Die  Lippen  sind  jedoch  blaß  und  cya- 
notisch.  Atmung  50,  Puls  136,  sehr  klein.  Wegen  der  starken  Dyspnoe 
ist  die  Sprache  skandiert.  Nach  jedem  zweiten  Wort  macht  Pat.  eine  kleine 
Pause,  um  eben  zu  atmen.  Er  hustet  fortwährend,  wobei  mit  vieler  Mühe 
ein   etwas   bräunlicher,   unangenehm  riechender  Schleim » ausgehustet- t^^ird. 

7* 


100  J.  A.  Koch, 

Bei  der  Inspektion  ftllt  auf,  daß  die  ganze  rechte  Thorazhälfbe  stark  er- 
weitert ist,  besonders  der  rechte  Bippenbogen  und  das  rechte  Hjrpochon- 
drium.  An  der  hinteren  Seite  ist  diese  Ausdehnung  geringer.  Bei  der 
Atmung  steht  die  rechte  Hälfte  vollständig  still.  Der  Leberrand  reicht 
bei  der  Falpation  bis  3  Fingerbreiten  unter  den  Rippenbogen.  Diese 
Qegend  ist  nach  vorne  gewölbt,  bei  Druck  schmerzhaft  und  zeigt  tiefe 
Fluktuation.  Die  Hautfalte  ist  hier  dicker  als  links.  Bei  der  Perkussion 
findet  man  vorne  absolute  Dämpfung,  von  3  Fingerbreiten  unter  dem 
rechten  Eippenbogen  bis  an  die  2.  Kippe.  Diese  Grenze  ist  bei  der  At- 
mung unbeweglich.  Hinten  reicht  die  Dämpfung  bis  an  die  8.  Rippe. 
Atmungsgeräusche  und  Stimmfremitus  fehlen  auf  der  gedämpften  Stelle 
überall.  Die  Temperatur  ist  morgens  38,7^,  abends  39,7®.  Der  wenige 
Harn  enthält  etwas  Eiweiß  und  viel  Urobilin.  Diagnose:  Enorm  großer 
Leberabsceß  des  rechten  Lobus.  Perforation  durch  das  Diaphragma  in  die 
rechte  Lunge. 

Operation:  am  2.  Febr.  Auf  der  fluktuierenden  Stelle  unter  dem 
Rippenbogen  wird  eingeschnitten.  Durch  die  infiltrierte  Bauchwand  er- 
reicht man  einen  enormen  Absceß,  der  oben  bis  an  die  2.  Rippe  reicht. 
Zwei  Liter  Eiter  fließen  nach  außen.  Das  Diaphragma  kann  von  dieser 
Oeffnung  aus  mit  dem  Finger  nicht  erreicht  werden  und  die  Perforation 
nach  der  Lunge  ebenfalls  nicht.  Der  Absceß  erstreckt  sich  in  und  über 
die  Oberfläche  aus,     Drainage,     Verband. 

Nach  der  Operation  trat  während  4  Tagen  einige  Besserung  ein.  Die 
Abendtemperatur  betrag  37,6  <>.  Dann  stieg  sie  bis  39,3®.  Das  Aus- 
husten stinkenden  Sputums  hielt  an.  Es  wurde  deutlich,  daß  die  Lungen- 
gangrän bald  ein  trauriges  Ende  herbeiführen  würde.  Trotz  der  großen 
Schwäche  des  Pat.  wird  dennoch  beschlossen,  zur  Rettung  von  neuem 
einzugreifen.  10.  Febr.  In  der  Papillarlinie  werden  deshalb  von  der 
6.  und  7.  Rippe  8  cm  reseziert.  Die  starre,  weit  geöffnete  Absceßhöhle 
zeigt  sehr  wenig  Neigung,  sich  zu  verkleinern.  Das  Diaphragma  steht  jetzt 
in  der  Höhe  der  5.  Rippe.  Man  sieht  hierin  eine  Oeffnung  von  der  Größe 
eines  halben  Pfennigs,  mit  grauen  Rändern,  aus  welcher  unter  zischendem 
Geräusch  Luft  und  mißfarbiger  Eiter  zu  Tage  tritt  Diese  Oefliiung  wird 
bis  auf  4^2  cm  erweitert.  Darüber  flndet  man  in  der  Lunge  eine  apfel- 
große Höhle  mit  missfarbenen  nekrotischen  Wänden.  Nach  dem  Media- 
stinum hin  kann  eine  dicke  Sonde  noch  3  cm  weiter  hinaufgeschoben 
werden.  Alsdann  werden  mit  steriler  und  Dermatolgaze  die  gangränöse 
Höhle  in  der  Lunge  und  der  Absceß  in  der  Leber  tamponiert  und  dieser 
Verband  täglich  erneuert.  Obwohl  der  Husten  geringer  wird  und  die 
Expektoration  aufhört,  während  die  Temperatur  abends  nicht  höher  steigt 
als  37,6^,  bleibt  der  Appetit  schlecht  und  schwinden  die  Kräfte  immer 
mehr.  Endlich  nach  3  Wochen  geht  Pat.  an  zunehmender  Erschöpfung 
zu  Grunde. 

In  diesem  Falle  wäre  es  vielleicht  besser  gewesen,  direkt  mit  der 
Wegnahme  der  6.  und  7.  Rippe  zu  beginnen  und  auch  die  Lungen- 
gangrän direkt  offen  zu  legen.  Obwohl  Patient  auch  dann  vermutlich 
zu  schwach  gewesen  wäre,  um  geheilt  werden  zu  können,  wäre  doch 
die  Aussicht  auf  Heilung  hierdurch  etwas  größer  geworden. 

Der  andere  Fall,  der  auch  nicht  mehr  gerettet  werden  konnte,  war 
der  f0lgjfend.er  *     :  .  .        •  •     ..  ^ 


üeber  tropische  Leberabscesse.  101 

5.  Abscessus  lobi  Spigelii  sub  Capsula  Glissoni.  Peri- 
tonitis e  causa  perforationis.     Gestorben. 

Herr  W.,  43  Jahre,  bekam  heftige  Schmerzanfklle  in  der  Magengegend 
mit  Erbrechen  nnd  danach  Ikterus,  so  daß  an  eine  Cholelithiasis  gedacht 
wurde.  Während  der  Ikterus  zunahm,  wurden  auch  die  Magenschmerzen 
heftiger  und  das  Erbrechen  nahm  bis  lOmal  am  Tage  zu.  Dabei  fieberte 
Fat.  abends  bis  38,3  ^.  8  Wochen  vorher  hatte  er  Diarrhöe  mit  schleimigem 
und  blutigem  Abgang. 

Status  praesens:  Fat  ist  sehr  kräftig  gebaut.  Der  Puls  ist 
schwacL  Es  besteht  starker  Ikterus.  Auch  der  Harn  enthält  viel  Gallen- 
farbstoffe. Die  Leber  reicht  in  der  Fapillarlinie  bis  an  den  Oberraud  der 
6.  Rippe,  unten  bis  1  Fingerbreit  unter  dem  Eippenbogen.  In  der  Gegend 
der  Gallenblase  fühlt  man  bei  tiefem  Eindrücken  einen  Widerstand,  der 
bis  halbwegs  zum  Nabel  reicht.  Diagnose:  Absceß  an  der  Unterfläche 
der  Leber  in  der  Nähe  der  Wirbelsäule.  Durch  Druck  auf  den  Ductus 
choledochus  entstand  Ikterus,  durch  Druck  auf  den  Pylorus  Erbrechen. 
Gefahr  der  Perforationsperitonitis. 

Sofort  wurde  eine  Operation  angeraten.  Die  Familie  wünschte 
aber  zuerst  inländische  Medikamente  zu  geben.  Als  nach  2  Tagen  der 
Zustand  schlimmer  geworden  war,  wurde  die  Operation  beschlossen. 

Gesicht  und  Extremitäten  sind  jetzt  etwas  cyanotisch,  Hände  und  Füße 
kalt  Puls  140,  filiform.  Erbrechen  20mal  am  Tage.  Diagnose  Peritonitis. 
Beim  Oe&en  der  Bauchhöhle  findet  man  die  Intestina  hyperämisch  und 
mit  einem  leichten  fibrinösen  Belag  bedeckt  Nachdem  diese  zur  Seite 
geschoben  sind,  kommt  ein  sehr  schlaffer,  kokosnußgroßer  Sack  zum  Vor- 
schein, der  an  der  unteren  Fläche  der  Leber  sitzt  und  sich  bis  an  die 
Wirbelsäule  erstreckt.  Nachdem  zum  Schutze  erst  eine  Gazekompresse 
untergeschoben  ist,  wird  mit  dem  Aspirator  von  Potain  der  Eiter  entfernt. 
Der  schlaffe  Sack  wird  in  der  Wunde  festgenäht  und  drainiert  Verband. 
Der  weitere  Verlauf  war  leider,  wie  zu  erwarten  war,  ungünstig.  Die  all- 
gemeine Peritonitis  hatte  sich  bereits  zu  stark  entwickelt  und  nach  3  Tagen 
trat  der  Tod  ein. 

In  den  beiden  obigen  Fällen  waren  bereits  so  schwere  Kompli- 
kationen eingetreten  (Lungengangrän  und  allgemeine  Peritonitis),  daß 
auch  eine  Operation  keinen  Erfolg  mehr  hatte. 

Bei  allen  folgenden  11  Patienten  trat  jedoch  glücklicherweise  Heilung 
ein.    Zuerst  kommen  7  Fälle  mit  einfacher  Rippenresektion. 

6.  Abscessus  lobi  deztri  hepatis  sub  diaphragmate. 
Resectio  costae.     Geheilt 

General  8.,  63  Jahre,  ging  vor  einem  Monat  nach  Djocja  wegen  täg- 
hchen  Fiebers  von  39 — 39,7  ®  abends.  Hier  ging  die  Temperatur  bis  38,3 
herunter.  Die  Leber  war  vergröÜert  und  schmerzhaft,  auch  die  rechte 
Schulter  schmerzte.  Fat.  hustet  etwas.  Länger  als  1  Jahr  lang  litt  Fat. 
an  schleimigem  und  blutigem  Abgang.  Dr.  U  in  Djocja  diagnostizierte  einen 
Leberabsceß  und  schickte  Fat  in  die  Klinik  zu  Soerabaia. 

Status  praesens  (durch  Dr.  U. .  bereits  festgestellt):  Die  Leber 
reichte  in  der  Mamillarlinie  oben  bis  an  die  5.  Eippe.  Diese  Grenze 
war  deutlich  kuppeiförmig  nach  oben  (Radius  10  cm).  Nach  unten 
reichte  die  Leber  mit  einem  schlaffen  Rande  noch  2  Finger  breit 
unter  den  Eippenbogen.     Bei   Inspiration   senkte   sich   die   obere   Grenze 


102  J.  A,  Koch, 

nicht  merkbar,  die  untere  2  Finger  breit.  Ein  schmerzhafter  Druck- 
punkt fand  sich  in  der  vorderen  Axillarlinie,  unter  der  10.  Rippe. 
Wegen  der  sehr  scharfen  weichen  Lebergrenze  kann  sich  jedoch  hier 
unmöglich  ein  Absceß  befinden.  Die  obere  Dämpfungslinie  ist  dagegen  so 
auffallend  kuppelformig,  daß  das  Vorhandensein  von  Flüssigkeit  unter  iht 
sehr  wahrscheinlich  ist.  In  dem  7.  Interkostalraume,  zwischen  der  Axillar- 
und  Mamillarlinie,  wird  eine  Probepunktion  gemacht  Erst  in  einer  Tiefe 
von  7  cm  erreicht  man  Eiter,  wovon  40  com  entfernt  werden.  Wird  die 
Nadel  1  cm  zurückgezogen,  dann  ist  man  schon  außerhalb  des  Abscesses. 
Diagnose:  Abscefi  hoch  in  der  Leberkuppel  gelegen  und  weit  von  der 
Brustwand  entfernt 

Operation:  Die  8.  Rippe  wird  in  der  Axillarlinie  in  einer  Ausdehnung 
von  6  cm  reseziert  Die  Pleurablätter  werden  vernäht  und  das  Diaphragma 
gespalten.  Die  sehr  bewegliche  Leber  (Aethernarkose)  ist  normal  gef^bt, 
die  Konsistenz  ist  nicht  verändert  und  in  der  Tiefe  erkennt  man 
die  Punktionsö£fnung,  aus  der  kein  Eiter  fließt.  Leberkapsel  und  Dia- 
phragma werden  vereinigt  Bei  den  starken  Atmungsbewegungen  wird 
jedoch  diese  Naht  bedenklich  angespannt,  so  daß  aus  Vorsicht  lieber  vor- 
läuiig  tamponiert  wird.  Nach  2  Tagen  wird  die  Wunde  mit  50-proz. 
Cocain  befeuchtet.  Die  Verwachsung  ist  so  befriedigend,  daß  man  zwischen 
den  4  langen  Erkennungsnähten  suchen  muß,  um  die  Stelle  zu  finden, 
wo  inzidiert  werden  muß.  In  einer  Tiefe  von  4  cm  unter  der  Leber- 
kapsel findet  die  Probenadel  Eiter.  Die  Kapsel  wird  inzidiert  und  Hohl- 
sonde und  Komzange  dringen  in  den  Absceß.  Dieser  enthält  ly^  1.  Die 
obere  Grenze  liegt  hoch  in  der  Kuppel  des  Diaphragma  verborgen.  Hinten 
reicht  der  Absceß  bis  an  die  Wirbelsäule  und  hier  liegt  er  sehr  nahe  an 
den  Rippen.  Hier  hätte  man  denn  auch  sehr  leicht  den  Absceß  öffnen 
können.  Drainage.  Tamponade.  Verband.  Der  Wundverlauf  war  sehr 
günstig.  Schnell  erholte  sich  der  erschöpfte  Pat.  und  nach  5  Wochen 
war  er  geheilt.  Eine  kleine  granulierende  Wunde  war  14  Tage  später 
an  Bord  eiues  Dampfers  geschlossen. 

Dieser  Patient  war  der  einzige,  bei  dem  die  Operation  in  zwei 
Zeiten  ausgeführt  wurde. 

Einfach  war  der  folgende  Fall: 

7.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.  Resectio  costae. 
Geheilt 

Kontrolleur  v.  R.,  37  Jahre,  bekam  im  Jahre  1899  Mastdärmen tzttndung 
und  Fieber,  einige  Wochen  lang.  Im  November  1900  kehrte  das  Fieber 
wieder,  abends  39.  Chinin  und  Bergklima  halfen  nicht.  Das  Fieber  ging 
zwar  auf  eine  Abendtemperatur  von  38,3  ^  herunter,  hielt  jedoch  bis  April 
1901  an,  zu  welcher  Zeit  die  Lebergegend  noch  schmerzhaft  war  und 
auch  Schmerzen  in  der  Schulter  eintraten.  Pat.  konsultierte  Dr.  db  W. 
in  Malang,  der  sofort  einen  Leberabsceß  konstatierte  und  Pat  nach 
Soerabaia  wies. 

Status  praesens:  Pat  ist  korpulent,  wiegt  98  kg.  Die  Leber 
ist  nach  oben  und  nach  unten  vergrößert.  Die  Lungen-Lebergrenze  steht 
in  der  Mamillarlinie  an  dem  oberen  Rande  der  6.  Rippe.  Die  untere 
Orenze  fühlt  man  4  Finger  breit  unter  dem  Rippenbogen.  Bei  tiefer  In- 
spiration senken  sich  beide  Grenzen  nur  IV2  Co- 
operation: Durch  Probepunktion  wird  im  7.  Interkostalraume  der 
vorderen  Axülarlinie  Eiter  gefunden.     Die    8.    Rippe   wird   hier   reseziert. 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  103 

Nachdem  die  beiden  Pleurablätter  vereinigt  sind,  zeigt  sich  das  Diaphragma 
beim  Durchschneiden  auffallend  blutreich.  Es  ist  durch  Adhäsionen  mit 
der  Leber  verklebt.  Der  Absceß  kann  also  einfach  eröffnet  werden.  Nach 
6  Wochen  verließ  Fat.  geheilt  die  Klinik.  Ein  granulierendes  kurzes 
£anälchen  war  10  Tage  später  geschlossen. 

8.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.     Resectio  costae. 
Herr  L.,  82  Jahre,  Flötist,  bekam  Mitte  November  1899  jeden  Abend 

Fieber  bis  38,5  und  39,0  und  gleichzeitig  Schmerzen  in  der  Lebergegend. 
Die  Leber  reichte  in  der  Mamillarlinie  oben  bis  zur  6.  Eippe,  unten  bei- 
nahe bis  zu  Nabelhöhe.  Vor  einem  halben  Jahre  hatte  Fat.  Abgang  von 
Schleim  und  Blut  Am  4.  Dez.  wurde  die  Diagnose  auf  Leberabsceß  ge- 
stellt. Eine  Frobepunktion  ergab  jedoch  ein  negatives  Resultat,  vermutlich 
weil  der  Absceß  an  der  unteren  Fläche  der  Leber  gelegen  war.  Inzwischen 
bleibt  der  allgemeine  Zustand  merkwürdig  gut,  obschon  die  Temperatur 
38,2 — 38,3  abends  beträgt.  Am  15.  Dez.  wird  über  dem  Rippenknorpel 
der  8.  Rippe  durch  Frobepunktion  Eiter  gefunden. 

Operation:  Resektion  der  8.  Rippe.  Diaphragma  und  Leber  sind 
verwachsen  und  ein  ^j^  1  groHer  Absceß  wird  gefunden,  in  der  Hauptsache 
längs  der  Unterseite  der  Leber  gelegen.    Nach  4  Wochen  ist  Fat.  geheilt. 

Bei  dem  folgenden  Patienten  war  der  Leberabsceß  vermutlich  bereits 
1  Jahr  alt. 

9.  Abscessus  hepatis  centralis  lobi  dextri.  Resectio 
costae.     Geheilt. 

Herr  K.,  45  Jahre,  Kaufmann  in  Soerabaia,  war  bereits  20  Jahre  in 
Indien.  Vor  4  Jahren  bekam  er  Dysenterie,  worauf  zahllose  Rezidive 
folgten.  Vor  einem  Jahre  ging  er  nach  Europa,  scheinbar  gesund.  Doch 
ließ  er  sich  vorher  noch  in  der  Klinik  untersuchen.  Hier  wurde  eine 
stark  vergrößerte  Leber  gefunden,  so  daß  Fat.  mit  Rücksicht  auf  seine 
Vergangenheit  auf  die  Gefahr  eines  später  auftretenden  Abscesses  auf- 
merksam gemacht  wurde.  Bereits  2  Monate  nach  seiner  Ankunft  in  Deutsch- 
land bekam  er  Schmerzen  in  der  Magen-  und  Lebergegend.  Er  wurde 
hintereinander  in  verschiedenen  Universitätskliniken  aufgenommen.  Immer 
wurde  Gallensteinkolik  diagnostiziert,  und  stets  war  dann  der  Rat,  ^ch 
einer  Gallenblasenoperation  zu  unterwerfen,  für  den  Fat,  der  sehr  „messer- 
schen"  war,  ein  Grund,  die  Klinik  zu  verlassen.  Auch  eine  Kur  in 
Karlsbad  und  in  einer  Kaltwasserheilanstalt  brachten  keine  Besserung. 
Schließlich  nach  einem  Jahre  fühlte  sich  Fat.  so  krank  und  litt  er  so  an 
Schmerzen,  daß  er  voll  Heimweh  nach  seinem  „Indien"  zurückverlangte, 
wo  er  sich  niemals  so  elend  gefühlt  hatte  wie  in  Europa !  Er  kehrte  nach  Java 
snrück.  Leider  schien  das  indische  Klima  auch  nicht  zu  helfen.  Er  ging 
darauf  in  das  Bergklima  Malang,  wo  Dr.  db  Waard  sofort  einen  Leber- 
absceß entdeckte  und  ihn  in  die  Klinik  sandte. 

Status  praesens:  Fat.  macht  trotz  seines  kräftigen  Körperbaues 
und  gut  entwickelten  Fanniculus  adiposus  den  Eindruck  eines  Kranken. 
In  den  letzten  Monaten  hat  er  25  Ffund  an  Körpergewicht  abgenommen. 
Seit  14  Tagen  ist  die  Temperatur  morgens  37,3,  abends  38,3.  Die  Leber 
und  die  rechte  Schulter  sind  spontan  etwas  empfindlich.  Ein  schmerz- 
hafter Druckpunkt  wird  nicht  angegeben.  In  der  Mamillarlinie  reicht  die 
Leber  von  dem  oberen  Rande  der  6.  Rippe  bis  8  cm  unter  den  Rippen- 
bogen. 

Operation:   Eine  Frobepunktion   in  der  Mamillarlinie  oberhalb  des 


104  J«  A.  Koohy 

Knorpels  der  8.  Rippe  ergibt  Eiter  in  einer  Tiefe  von  7  cm.  Von  der 
8.  Rippe  wird  also  ein  Stück  und  auch  der  benachbarte  Knorpel  wegge- 
genommen.  Beim  Dnrchschneiden  des  Periostes  an  der  hinteren  Seite  ent- 
deckt man  ein  wenig  trübe,  pamlente  Flüssigkeit  Weiter  kommt  eine 
sehr  bewegliche  Fettmasse  zum  Vorschein,  die  dem  Omentum  merkwürdig 
ähnelt  Nach  ihrer  Entfernung  sieht  man  das  gestreifte  Diaphragma  und 
die  Punktionsöffhung,  aus  der  deutlich  dünner  Eiter  fließt  Nach  Ver- 
einigung der  Pleurablätter  wird  das  gespaltene  Diaphragma  an  die  Leber 
genäht.  Aus  der  Leberöffhung  fließt  stets  Flüssigkeit  ^).  In  diese  Punktions- 
öffnung wird  nun  aufs  Neue  die  Nadel  eingestochen.  Es  wird  aber,  auch 
in  verschiedenen  Richtungen  suchend,  kein  Eiter  gefunden.  Wohl  fühlt 
man,  mit  der  Nadel  vorsichtig  sondierend,  auf  4  cm  einen  festen  Wider- 
stand, der  den  Eindruck  eines  ziemlich  harten  und  großen  Fremdkörpers 
macht  Die  Nadel  wird  dann  mit  einiger  ELraft  gegen  diesen  rätselhaften 
Körper  angedrückt  Plötzlich  gleitet  sie  nach  innen  und  wird  Eiter  ge- 
funden. Nach  Incision  der  Kapsel  folgen  Hohlsonde,  Komzange  und 
Finger,  wobei  ohne  nennenswerte  Blutung  4  cm  Lebergewebe  vorsichtig 
durchbohrt  werden.  Bei  der  Palpation  ist  es  auffallend,  daß  die  800  com 
große  Höhle  mitten  in  der  Leber  gelegen,  besonders  harte  Wände  hat 
Festes  Bindegewebe  scheidet  die  alte  Eiterhöhle  von  dem  übrigen  Leber- 
gewebe ab.  Tamponade.  Drainage.  Nach  4  Wochen  verläßt  Pat  kräftig 
und  gesund  die  Klinik. 

Günstig  verlief  auch  der  folgende  Fall: 

10.  Abscessus  lobi  deztri  hepatis.  Resectio  costae. 
Qeheilt 

Herr  B.,  32  Jahre,  Beamter  der  Staatseisenbahn  in  Djocja,  litt  vor 
einem  Jahre  6  Monate  lang  an  Dysenterie.  Vor  6  Wochen  bekam  er 
Fieber  und  3  Wochen  später  Leberschmerzen  und  Anschwellung  der  Leber. 
Diese  reichte  oben  in  der  Mamillarlinie  bis  an  die  6.  Rippe,  unten  einen 
Finger  breit  unter  den  Rippenbogen.  Ein  schmerzhafter  Druckpunkt  befand 
sich  mitten  zwischen  der  vorderen  und  hinteren  Azillarlinie  im  10.  Inter- 
kostalraume,  wo  eine  Probepunktion  auch  Eiter  zu  Tage  fördert  Die 
10.  Rippe  wird  darauf  reseziert  Man  bleibt  hier  außerhalb  der  Pleura- 
höhle. Diaphragma  und  Leber  sind  verklebt  Ein  Absceß  von  dem  Lihalte 
eines  Liters  kommt  zum  Vorscheine,  er  ist  ziemlich  platt  und  liegt  an 
der  Unterseite  der  Leber.  Die  obere  Grenze  wird  durch  die  sehr  unregel- 
mäßig ausge&essene  Leber  gebildet,   die   untere   Grenze  ist  glatt,   dtlnn 


1)  Wenn  man  bedenkt,  daß  die  Probepunktionsnadel  erst  eine 
Viertelstunde  vorher  entfernt  war,  dann  war  doch  in  dieser  kurzen  Zeit 
ziemlich  viel  Eiter  nach  außen  geflossen.  Dies  kann  uns  nicht  so  be- 
sonders verwundern.  Bei  der  Probepunktion  eines  Echinococcus  hepatis 
geschieht  dasselbe,  wenn  auch  die  Spannung  der  Flüssigkeit  hier  etwas 
größer  ist  (Körtb  [32]).  Wer  mit  einem  Troikart  Ascitesflüssigkeit  ent- 
leert, sieht  oft  noch  tagelang  Flüssigkeit  abfließen,  und  doch  kann  dieser 
Kanal  bei  korpulenten  Personen  sicher  8  cm  lang  sein.  Auch  Lebereiter, 
meistens  eine  wasserdünne,  schokoladenfarbige  Flüssigkeit,  worin  festere 
Flocken  schweben,  kann  sehr  leicht  aus  einer  feinen  Stichöffnung  aus- 
fließen. In  unserem  Falle  war  der  Absceß  4  cm  unter  der  Leberkapsel 
gelegen,  und  doch  floß  noch  nach  einer  Viertelstunde  deutlich  Eiter  nach 
außen. 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  105 

und  beweglich  und  besteht  nur  aus  der  Leberkapsel.  Hier  bestand  also 
eine  drohende  Perforation  nach  der  Bauchhöhle  hin.  Tamponade.  Drainage. 
Nach  3  Wochen  ist  Pat.  geheilt 

Der  folgende  Patient  wurde  noch  in  alter  Weise  mit  dem  Troikart 
behandelt. 

11.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.  Besectio  costae. 
Geheilt 

Herr  8.,  22  Jahre,  Beamter  an  einer  Zuckerfabrik  in  Mitteljava, 
soll  seit  einigen  Jahren  an  Malaria  leiden.  Vor  einem  Jahre  hatte  er 
einige  Wochen  lang  Abgang  von  Schleim  und  Blut.  Vor  6  Wochen  bekam 
er  wieder  Fieber,  abends  38,4  und  außerdem  Schmerzen  in  der  Leber- 
gegend. Die  Leber  wurde  im  ganzen  größer,  hatte  einen  schmerzhaften 
Druckpunkt.  Der  Arzt  des  Pat.  stach  hier  einen  Troikart  ein,  der  k  demeure 
liegen  blieb.  Während  zweier  Tage  lief  viel  Eiter  ab  und  Pat.  fühlte 
sich  wirklich  besser.  Nach  2  Tagen  stieg  das  Fieber  an,  jetzt  bis  39,7 
und  39,8,  also  höher,  als  es  früher  je  gewesen  war.  Der  Troikart  wurde 
entfernt  und  Pat.  kam  nach  Soerabaia. 

Status  praesens:  Dezember  1898.  Pat,  ein  kräftig  gebauter 
junger  Mann,  ist  abgemagert  und  kurzatmig.  Er  läuft  sehr  steif.  Zwischen 
der  8.  und  9.  Kippe  in  der  vorderen  Axillarlinie  befindet  sich  eine  Stich- 
öfiTnung,  aus  welcher  Lebereiter  fließt.  Die  Nachbarschaft  dieser  Oeifnung 
ist  bedeutend  geschwollen,  vermutlich  weil  nach  der  Entfernung  des 
Troikarts  der  Eiter  teilweise  nach  außen,  teilweise  in  das  subkutane  Binde- 
gewebe lief.  Die  Lebergrenzen  befinden  sich  in  der  Mamillarlinie  oben  an 
der  6.  Rippe,  unten  2  Finger  breit  unter  dem  Kippenbogen.  Diagnose: 
Leberabsceß  des  rechten  Lobus,  der  durch  den  Troikart  wohl  getroffen, 
aber  ungenügend  drainiert  war,  wodurch  eine  Sekundärinfektion  durch  den 
restierenden  Eiters  eintrat. 

Operation:  Von  der  gefundenen  Stichöffnung  aus  wird  Schicht  für 
Schicht  incidiert,  wobei  das  umliegende  Gewebe  sich  deutlich  mit  Eiter 
durchtränkt  erweist.  Nach  Resektion  der  9.  Rippe  sieht  man,  daß  Pleura, 
Diaphragma  und  Leber  fest  miteinander  verwachsen  sind.  Incision.  Der 
Absceß  ist  700  ccm  groß.     Drainage.     Verband.     Nach  3  Wochen  geheilt. 

Eine  eigentümliche  Kombination  mit  „Pseudorheumatismus  infec- 
tiosus**  kam  vielleicht  im  folgenden  Falle  vor. 

12.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.  Res  e  c  ti  o  c  o  s  t  a  e. 
Geheilt 

Herr  S.,  35  Jahre,  Kaufmann  in  Soerabaia,  verließ  im  Oktober  1901 
die  warme  Stadt,  obwohl  er  vollkommen  gesund  war,  und  ging  nach  Tosari, 
Hier  bekam  er  nach  14  Tagen  Diarrhöe,  die  6  Wochen  anhielt  und  später 
ab  und  zu  hartnäckig  zurückkehrte.  Ln  Dezember  bekam  er  eine  akute 
Gelenkentzündung  beider  Füße  mit  Exsudat  und  in  geringerem  Maße  auch 
beider  Kniegelenke.  Die  Abendtemperatur  war  damals  39  C.  So  kam 
er  nach  Soerabaia  zurück.  Nach  einiger  Zeit  verschwanden  langsam  die 
Gelenkanschwellungen    und    das    Fieber   [Salicyn)].     Pat.    wurde    wieder 


1)  Diese  Gelenkschwellungen  im  Anschluß  an  dysenterische  Diarrhöe 
(auch  in  Soerabaia  war  noch  deutlich  Schleim  in  den  Dejektionen)  bei 
einem  Patienten,  der  früher  nie  an  Rheumatismus  articularis  acutus  ge- 
litten hatte,  lassen  vermuten,  daß  hier  ein  sogenannter  Pseudorheumatismus 


106  J.  A,  Koch, 

vollkommen  gesund.  Mitte  Januar  1902  stellte  sich  wieder  Fieber  ein, 
Abendtemperatur  38;  die  Füße  waren  jetzt  nicht  schmerzhaft,  die  Milz 
nicht  vergrößert,  die  Leber  wohl  etwas  vergrößent,  aber  nicht  schmerzhaft. 
Chinin  und  Salicyl  hatten  keinen  Erfolg.  Anfangs  Februar  wurde  das 
Fieber  höher,  abends  88,8,  und  Fat  begann  zu  husten.  An  einzelnen 
Abenden  hatte  er  Schmerzen  in  der  Lebergegend,  wodurch  er  nachts 
nicht  schlafen  konnte.  Die  Leber  ist  jetzt  deutlich  vergrößert.  Während 
sie  oben  in  der  Mamillarlinie  bis  an  die  6.  Rippe  reicht,  fühlt  man  sie 
unten  2  Finger  breit  unter  dem  Bippenbogen  hervortreten.  Im  9.  Inter- 
kostalraume  der  vorderen  Axillarlinie  findet  man  bei  der  Untersuchung 
konstant  einen  schmerzhaften  Druckpunkt.  Eine  Probepunktion  ergibt 
hier  jedoch  ein  negatives  Besultat.  Nach  5  Tagen  wird  an  derselben  Stelle 
eine  zweite  Probepunktion  gemacht  Jetzt  wird  Eiter  gefunden  und  direkt 
zur  Operation  übergegangen:  Die  9.  Rippe  wird  in  der  vorderen  Axillar- 
linie reseziert,  wobei  die  Probenadel  der  Vorsicht  halber  sitzen  bleibt 
Nach  Aneinandernähen  der  Pleura-  und  der  Peritonealblätter  kommt  ein  Y^  ^ 
großer  Absceß  zum  Vorschein,  2  cm  unter  der  Kapsel  und  mitten  in  der 
Leber  gelegen.  Tamponade,  Drainage.  Der  Wundverlauf  war  gut  und 
nach  4  Wochen  ging  Pat.  gesund  nach  Hause. 

Die  4  Patienten,  die  jetzt  noch  übrig  bleiben,  zeigten  alle  schwere 
Komplikationen,  die  ihr  Leben  in  unmittelbare  Gefahr  brachten.  Doch 
konnten  alle  durch  operative  Hilfe  noch  gerettet  werden. 

Zu  allererst  ein  Patient  mit  Perforation  des  Abscesses  längs  Vorder- 
und  Unterrand  der  Leber. 

13.  Abscessus  lobi  dextri  hepatis.     Abscessus  subphre-^ 
nicus     e     causa     perforationis    circumscriptae.      Besectio 
costae.     Geheilt. 

Herr  K.,  28  Jahre,  Ingenieur,  litt  in  Indien  viele  Jahre  an  Malaria- 
fieber und  Dysenterie.  Seit  einigen  Monaten  waren  Leber  und  Milz  deut- 
lich geschwollen,  so  daß  er  eiligst  nach  Holland  abreisen  sollte.  Am  Abend 
vor  seiner  Abreise,  machte  ich  eine  Probepunktion  im  8.  Interkostalraum 
der  rechten  Papillarlinie  und  fand  Eiter,  worauf  am  folgenden  Tage  die 
Operation  erfolgte. 

Status  praesens:  6.  April  1898.  Patient  ist  sehr  abgemagert 
die  Augenhöhlen  sind  eingefallen.  Pat  geht  mit  steifer  Haltung,  etwas 
nach  rechts  übergebogen.  Doch  ist  er  nicht  ängstlich  und  gibt  an,  keine 
Schmerzen  zu  haben.  Die  Lebergegend  ist  augenfällig  hervorgewölbt 
Nach  oben  reicht  die  Leber  in  der  Mamillarlinie  bis  an  die  5.  Rippe,  nach 
unten  bis  2  fingerbreit  unter  den  Rippenbogen.  Hier  ist  Druck  auf  die 
Bauch  wand  sehr  schmerzhaft.  Der  Puls,  120,  ist  klein.  Die  Temperatur 
beträgt  37,5.  Die  Haut  ist  mit  kaltem  Schweiß  bedeckt  Der  konzen- 
trierte Harn  enthält  GallenfarbstoflPe.     Die  Milz  ist  vergrößert. 

Von  der  9.  Rippe  wird  der  knorpelige  Teil  entfernt.  Diaphragma 
und  Properitonealfettgewebe  werden  gespalten.  Unter  dem  dünnen  Peri- 
toneum findet  man  einen  großen,  platten  Absceß,  zwischen  Leber  und 
Diaphragma,  aus  welchem  gelbgrauer  Eiter  fließt.  Die  obere  Grenze 
dieser  Höhle  kann  mit  dem  Finger  nicht  erreicht  werden,  unten  fühlt  man 
anein andergeklebte  Darmschlingen.     Nachdem  von  der  9.  Rippe  noch  4  cm 


infectiosus  bestanden  haben  kann.     Hraült  (7)  erachtet  dies  bei  einzelnen 
Pällen  von  Dysenterie  als  pathognomonisch  zueinander  gehörend. 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  107 

weggenommen  sind,  kann  man  die  Leber  in  genügender  Ausdehnung  übersehen 
imd  palpieren.  Man  fühlt  nun  auf  der  Leber  eine  guldeugroBe,  weiche 
Stelle,  die  bei  genauerer  Untersuchung  im  Zentrum  eine  kleine  OefFnung 
zeigt,  durch  welche  eine  feine  Sonde  hindurchgeführt  werden  kann. 
Nach  Erweiterung  dieser  OefFnung  kommt  ein  ziemlich  tiefer  Leberabscefl 
zum  Vorschein,  der  sich  nach  oben  und  hinten  ausdehnt.  Der  Inhalt  ist 
schokoladenfarbig.  Leberabsceß  und  subphrenische  Eiterhöhle  werden  beide 
getrennt  drainiert  und  tamponiert.  Der  Wundverlauf  war  sehr  günstig 
and  nach  5  Wochen  fuhr  Fat.  geheilt  nach  Europa  ab.  Bereits  aus  Padang 
schrieb  er,  daß  sein  erster  Walzer   an  Bord   ihm    gut    bekommen   wilre^). 

Der  einzige  Fall  eines  multiplen  Leberabscesses  ist  der  folgende: 

14.  Abscessus  hepatis  duplex  lobi  dextri.  Beide  Abs- 
cesse  geöffnet.     Geheilt. 

Hauptmann  B.,  44  Jahre,  wurde  6  Wochen  vorher  wegen  Leberabsceß 
an  seinem  Wohnplatz  operiert.  Operation  und  Wundverlauf  günstig,  nur 
das  Fieber,  das  vor  der  Operation  bis  39  stieg,  blieb  auch  nachher  un- 
verändert bestehen.  Nach  6  Wochen  war  Pat.  außerordentlich  geschwächt 
und  kam  gänzlich  erschöpft  in  Soerabaia  an.  Die  Untersuchung  ergab, 
daß  die  gut  granulierende  Wunde  auch  in  der  Tiefe  gut  aussah.  Eine 
dicke  Drainageröhre  führte  nach  dem  darunter  gelegenen,  apfelgroßen 
Leberabsceß,  der  gut  und  genügend  geöffnet  war.  Erst  bei  sehr  sorg- 
fältiger Untersuchung  mit  einer  langen  biegsamen  Sonde  ergab  sich,  daß 
die  Sonde,  die  überall  gegen  die  Wand  der  apfelgroßen  Höhle  stieß,  an 
einer  Stelle  15  cm  lang  in  der  Tiefe  verschwand.  Da  einige  Wochen 
vorher  bei  dem  Pat.  eine  Perforation  des  Abscesses  in  den  Darm  vermutet 
wurde,  wurde  erst  diese  Möglichkeit  erwogen.  Die  Sonde  führte  aber 
nicht  nach  unten,  sondern  im  Gegenteil  nach  oben  und  innen.  Ueberdies 
stammte  die  rotbraune  Flüssigkeit,  die  aus  dem  Anus  floß,  von  einer  noch 
nicht  geheilten  Dysenteria  necrotica  her.  Da  außerdem  die  Menge  Eiter, 
die  aus  dem  Absceß  herauskam,  viel  größer  war,  wie  man  aus  der  ge- 
fundenen apfelgroßen  Höhle  erklären  konnte,  mußte  wohl  ein  kommuni- 
zierender zweiter  Absceß  angenommen  werden. 

Operation:  Ueber  der  bestehenden  Leberwunde  wurde  zwischen  Ma- 
millar-  und  Axillarlinie  ein  7  cm  großes  Stück  der  8.  Rippe  reseziert,  das 
nach  dem  Verlauf  der  Sonde  den  zweiten  Absceß  bedecken  mußte.  Pleura- 
und  Peritonealblätter  waren  überall  verwachsen,  so  daß  man  leicht  zu  dem 
zweiten  Absceß  bequemen  Zugang  erhielt.  Drainage.  Tamponade.  Der 
weitere  Wund  verlauf  war  sehr  günstig.     Auch  die  Dysenterie  heilte  unter 


1)  Die  erste  Frage  ist  hier,  ob  auch  durch  die  Probepunktion  12 
Standen  vor  der  Operation  die  subphrenische  Perforation  verursacht  sein 
konnte?  Doch  das  ist  nicht  möglich.  Bei  der  Probepunktion  sahen  wir, 
daß  gelbgrauer  Eiter  gefunden  wurde,  während  der  eigentliche  Leberabsceß 
schokoledenfarbigen  Eiter  enthielt.  Außerdem  konnte  man  nur  Eiter  an? 
saugen,  solange  die  Nadel  ziemlich  an  der  Oberfläche  blieb.  Daß  die 
Oeffnung  gerade  im  Zentrum  der  erweichten  Stelle  gefunden  wurde,  ist 
auch  ein  Beweis,  daß  diese  spontan  zu  stände  kam.  Als  sicher  dürfen  wir 
annehmen,  daß  durch  die  Probepunktion  allein  der  subphrenische  Absceß  ge- 
funden und  angestochen  wurde.  Durch  Zerfall  des  Lebergewebes  war  der 
Lebereiter  schokoladenfarbig ;  für  den  subphrenischen  Absceß  bestand  diese 
Ursache  zur  Färbung  nicht,  daher  war  dieser  Eiter  gelbgrau. 


108 


J.  A.  Koch, 


Jodoformbehandlnng  schnell.  Pat,  der  seit  Wochen  zu  schwach  war,  um 
sich  selbst  umdrehen  zu  können,  überraschte  bereits  nach  15  Tagen  seine 
Frau,  indem  er  aufrechtstehend  Mücken  in  seinem  Klamboe  fing.  Nach 
6  Wochen  ging  er  vollkommen  geheilt  nach  Hause.  Er  wurde  dick  und 
kräftig  und  ging  täglich  auf  die  Jagd.  Leider  bekam  er  nach  Jahresfrist 
in  Magelang  Dysenterie,  woran  er  starb. 

Konnten  wir  hier  von  einer  vollkommenen  Heilung  sprechen,  da  die 
Dysenterie,  die  1  Jahr  später  wieder  zum  Ausbruch  kam,  als  eine  zufäl- 
lige Komplikation  betrachtet  werden  kann,  so  war  das  Resultat  im  fol- 
genden Fall  weniger  vollkommen,  wenn  auch  anfangs  das  unmittelbare  Resul- 
tat sehr  gut  schien.  Es  war  der  größte  Leberabsceß,  den  ich  jemals 
gesehen  habe,  ungefähr  6  Liter  groß,  wobei  scheinbar  der  halbe  Unter- 
leib des  Pat.  mit  Eiter  gefüllt  war. 

15.  Abscessus  lobi  dextri  et 
sinistri  hepatis.  P  erforatio  re- 
troperiton  ealis.  Resectio  Cos- 
ta e.     Geheilt 

Januar  1898.  Pastor  H.,  80  Jahre, 
wurde  3  Monate  vorher  von  seinem 
Arzt,  der  eine  Probepunktion  bei  ihm 
gemacht  hatte,  wegen  Leberabsceß  in 
die  Klinik  zu  Soerabaia  geschickt.  Auf 
der  Reise  jedoch  erhielt  er  von  einem 
anderen  Arzt  den  Rat,  lieber  nach  den 
Bergen  von  Ngadiwono  zu  gehen,  welchen 
Rat  Pat.  natürlich  gerne  befolgte.  In 
Ngadiwono  war  aber  damals  kein  Arzt 
und  hier  wurde  Pat.  je  länger,  je 
schwächer.  Im  höchsten  Maße  erschöpft, 
ging  Pat.  endlich  in  das  Krankenhaus 
von  Dr.  v.  G.  in  Malang,  wo  sofort  ein 
riesiger  Leberabsceß  mit  retroperitone- 
aler  Perforation  diagnostiziert  wurde. 
Abreise  nach  Soerabaia.  Ein  Jahr  vor- 
her hatte  Pat.  etwas  Dysenterie. 
Status  praesens:  Pat.  ist  äußerst  abgemagert.  Puls  120  und 
schwach.  Atmung  45,  Dyspnoe.  Sprache  skandiert.  Er  hustet.  Tempe- 
ratur abends  39,5,  morgens  38.  Haut  kalt  und  feucht.  Die  ganze  rechte 
Hälfte  des  Rumpfes  ist  stark  hervorgewölbt,  sowohl  Brust  wie  Bauch 
(s.  Fig.)  und  bei  der  Atmung  unbeweglich.  Die  Leberdämpfung  reicht 
vorne  bis  an  die  2.  Rippe,  in  der  Achsel  bis  an  den  3.  Interkostalraum 
und  hinten  bis  an  den  Angulus  scapulae.  Medran  reicht  die  Dämpfung 
bis  über  das  Stemum.  Unten  fühlt  man  den  Leberrand  noch  3  Finger 
breit  unter  dem  Rippenbogen.  Am  Bauch  fühlt  man  in  der  Nierengegend 
einen  großen  kugelförmigen  Tumor.  Dieser  reicht  median  bis  an  den 
Nabel,  unten  bis  zur  Leistenfalte  und  oben  bis  an  die  Leber.  Das 
Kolon  liegt  vor  demselben  und  nach  der  Nierengegend  wölbt  sich 
die  fluktuierende  Geschwulst  ebenfalls  stark  hervor.  In  der  Seite  ist 
die  Hautfalte  überall  etwas  dicker.  Diagnose:  Riesig  großer  Leber- 
absceß, der  beinahe  den  halben  Thorax  füllt.  Nach  hinten  ist  der  Absceß 
in  die  Nierengegend  perforiert.  Das  lose,  maschige  retroperitoneale  Ge- 
webe  ist   hier   zu   einer   großen,    mit  Eiter  geftlllten  Höhle  umgebildet,  so 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  109 

daÜ  das  Bild  auffallend  dem  einer  großen  Hydronephrose  gleicht.  Wegen 
der  starken  Dyspnoe  besteht  zu  allererst  eine  Indikation  für  die  OefPnung 
des  Leberabscesses. 

Operation:  Nachdem  die  8.  Eippe  in  der  Axillarlinie  in  einer  Aus- 
dehnung von  9  cm  weggenommen  ist,  wird  durch  das  infiltrierte  Gewebe 
der  enorme  Leberabsceß  bequem  geöffnet.  Circa  6  Liter  Eiter  fließen 
nun  langsam  nach  außen.  Wirklich  ergibt  sich  bei  der  Untersuchung, 
daß  die  Höhle  beinahe  den  halben  Thorax  einnimmt,  und  zwar  oben 
bis  zur  2.  Rippe,  median  bis  zum  Sternum  und  unten  bis  3  Finger  breit 
unter  den  Rippenbogen  (s.  Fig.).  Man  bekommt  den  Eindruck,  als  ob 
von  der  Leber  nichts  weiter  übrig  geblieben  wäre  als  die  Kapsel.  In  dieser 
Höhle  fühlt  man  endlich  nach  einigem  Suchen  hinten  unten  eine  OefPnung, 
die  die  Fingerspitze  passieren  läßt.  Diese  Oeffiiung  führt  nach  dem  großen 
retroperitonealen  Absceß,  der  jetzt  langsam  leerläuft.  Bei  dem  stark  er- 
schöpften Fat.  jetzt  noch  eine  Gegenöffnung  in  der  Nierengegend  zu  machen, 
wird  als  zu  eingreifend  verworfen.  Es  wird  beschlossen,  erst  einige  Tage 
abzuwarten.     Drainage.     Tamponade. 

Nachbehandlung.  Während  zweier  Tage  nach  der  Operation  ging 
alles  nach  Wunsch  und  betrug  die  Abendtemperatur  37,7.  Am  8.  und  4. 
Tage  stieg  die  Temperatur  abends  wieder  auf  39,2  und  39,6.  Der  Fat 
hatte  ein  schlechtes  Aussehen.  Beim  Verbandwechsel  ergab  sich,  daß  eine 
bedeutende  Eiterretention  hinter  der  Gaze  aufgetreten  war,  mit  sekun- 
därer Infektion,  denn  der  Eiter  stank  wenigstens.  In  der  Folge  wurde 
3mal  am  Tage  der  Verband  gewechselt  und  Imal  mit  gekochtem  Salicyl- 
wasser  irrigiert.  Fat.  lag  ausschließlich  auf  der  rechten  Seite  auf  einer 
Wassermatraze,  mit  erhöhtem  Becken,  so  daß  auch  der  Bauchabsceß  voll- 
ständig leerlaufen  konnte.  4  Tage  lang  blieb  die  Abendtemperatui*  noch 
auf  38,3.  Darauf  sank  sie  per  lysin  zur  Norm.  Der  Appetit  kam  lang- 
sam zurück  und  die  Körperkräfte  nahmen  zu.  Der  abdominale  Tumor 
war  verschwunden.  Durch  den  positiven  Bauchdruok  und  die  geneigte 
Lage  schien  aller  Eiter  aus  der  niedrig  gelegenen  Oeffnung  entfernt  zu 
werden,  so  daß  eine  Incision  in  der  Nierengegend  nicht  mehr  notwendig 
war.  Der  weitere  Wundverlauf  war  sehr  günstig.  Die  große  Höhle  im 
Thorax  verkleinerte  sich  merkwürdig  schnell  und  in  Uebereinstimmung 
hiermit  dilatierte  sich  die  komprimierte  rechte  Lunge  wieder  ausgiebig. 
Nach  6  Wochen  war  die  Wunde  geheilt.  Am  Bauche  konnte  man  nichts 
Abnormales  mehr  finden  und  die  Lungengrenze  reichte  in  der  MamiUarlinie 
bis  zur 7. Kippe.  EineLeberdämpfungbestandjedochso  gut  wie 
nicht.  Fat.  sah  blühend  und  gesund  aus  und  verließ  die  Klinik.  Einige 
Monate  lang  lebte  Fat  sehr  vorsichtig  und  befand  sich  gut.  Dann  wünschte 
er  wieder  fleißig  zu  arbeiten,  war  aber  dazu  nicht  im  stände.  So  blieb  er 
noch  2  Jahre  kränkelnd  in  Indien  und  blieb  auch  nach  seiner  Bückkehr 
in  Holland  schwach.  Ich  sah  den  Fat.  nicht  mehr,  vermute  aber,  daß 
durch  den  enormen  Verlust  an  Lebergewebe  der  Stoffwechsel  und  die 
Zirkulation  allein  bei  einem  sehr  ruhigen  Leben  noch  regelmäßig  vor  sich 
gehen  können. 

Viel  Schwierigkeiten  gab  der  folgende  Fall: 

16.  Abscessus  subphrenicus  e  causa  perforationis  abs- 
cessus  hepatis.  Fistulae  hepatis  lobi  dextri.  Multiple 
Operation.     Resectio  Lannelongue.     Geheilt. 

Herr    S.,   39  Jahre,   Makler,   kam    im  März  1901    in   die   Klinik   mit 


110  J.  A.  Koch, 

Anzeichen  von  Leberabsoeß.  Er  läuft  steif  und  gebückt.  Die  Leber 
reichte  in  der  Mamillarlinie  oben  bis  an  die  6.  Rippe,  unten  bis  1  Finger 
breit  unter  den  [Rippenbogen  und  war  difPus  schmerzhaft.  Mager  war 
Pat.  nicht.  Sein  Körpergewicht  hatte  aber  in  3  Monaten  um  20  kg  ab- 
genommen.    Seit  einem  halben  Jahre  bestand  ein  Dickdarmkatarrh. 

Eine  Probepunktion  im  8.  Interkostalraum  ergab  Eiter.  Die  8.  Rippe 
wurde  hierauf  in  der  Axillarlinie  reseziert.  Pleurablätter  und  Diaphragma 
waren  verklebt  und  nach  ihrer  Spaltung  fand  man  einen  tellergroßen, 
platten  Absceß  zwischen  Leber  und  Diaphragma.  Also  ein  subphrenischer 
Absceß.  Oewissenhaft  wurde  nun  soweit  wie  möglich  die  Leberoberfläche 
untersucht.  Man  fand  aber  nichts  Besonderes  an  ihr.  Nirgends  bestand 
ein  Anzeichen  an  der  Leber,  von  welcher  Stelle  aus  der  subphrenische 
Absceß  sich  hätte  entwickeln  können.  Es  wurde  also  nicht  ins  Blinde 
hinein  eine  weitere  Rippenresektion  ausgeführt,  sondern  lieber  vorläufig 
abgewartet. 

Nach  der  Operation  genas  Pat.  schnell  und  sah  gesund  aus.  Man 
hätte  an  eine  vollkommene  Heilung  denken  können,  wenn  nicht  vom  sub- 
phrenischen  Absceß  ein  Fistelgang  übriggeblieben  wäre,  aus  dem  täglich 
ein  Fingerhut  voll  Eiter  herauskam.  Dieser  Gang  lief  von  der  Seite  bis 
an  den  Processus  ensiformis.  Hier  wurde  also  eine  Gegenöifnung  gemacht. 
Das  hatte  aber  wenig  Erfolg  und  die  Eiterabscheidung  blieb  unverändert 
bestehen.  Es  war  klar,  daß  die  Leber  breit  freigelegt  werden  mußte,  um 
den  Sitz  des  Eiters  zu  finden.  Zu  diesem  Zweck  wurde  nach  Lankblongue 
dem  Rippenbogen  entlang  incidiert.  Von  der  10.,  9.,  8.  und  7.  Rippe 
wurde  hintereinander  der  Knorpel  weggenommen.  Die  Blutung  war  dabei 
ziemlich  stark  und  wurde  sorgftltig  gestillt.  Die  Leber  war  tiberall,  so- 
wohl mit  dem  Diaphragma  als  auch  mit  dem  Peritoneum  verwachsen,  so 
daß  die  Bauchhöhle  geschlossen  bleiben  konnte.  Nach  Zurückziehen  der 
Wundränder  lag  die  Leber  über  eine  große  Strecke  frei  in  der  Wunde. 
Sorgftlltig  folgte  man  nun  dem  Fistelgang,  bis  man  die  Stelle  fand,  wo  er 
in  die  Leber  mündete.  Hier  wurde  die  Leber  mit  Hilfe  einer  Hohlsonde 
inzidiert,  wodurch  einige  Umstechungen  notwendig  wurden.  Zwei  ver- 
schiedene Fistelgänge  wurden  nun  in  der  Leber  gefunden.  Der  eine  lief 
in  medianer  Richtung  erst  horizontal,  um  dann  in  die  Tiefe  zu  dringen. 
Er  war  6  cm  lang.  Der  andere  Gang,  5  cm  lang,  lief  nach  unten  und 
blieb  oberfiächlich.  Dieser  letztere  wurde  bis  zu  seinem  Ende  hin  ge- 
spalten. Tamponade  mit  Jodoformgaze.  Von  der  tiefergehenden  6  cm 
langen  Fistel   wurde   mit   Schere   und   Messer   so  viel  gespalten,   bis    die 

I  Blutung  alles  unsichtbar  machte  ^).    Tamponade.    Weiter  wurde  die  Fistel 

bei  jedem  Verbandwechsel  von  der  ofi*en  tamponierten  Wunde  aus  täglich 

i  1   cm  weiter   gespalten,    so    daß   nach   4  Tagen   der   ganze    Gang   in   eine 

trichterförmige  Wunde  umgewandelt  war.  Während  in  beiden  großen  Leber* 
wunden  der  Jodoformgazetampon  täglich  gewechselt  wurde,  folgte  eine 
günstige  und,  was  die  Leberfisteln  anging,  auch  vollständige  Heilung. 
Einige  Enttäuschung  gab  das  Nekrotischwerden  eines  Rippenstückes.  Alle 
blosgelegten  Rippen  heilten  ohne  Störung,  nur  die  proximale  Schnittfläche 
der   7.  Rippe   wurde    oberflächlich  nekrotisch   und  Patient   ging  mit  einer 


1)  Vielleicht  hätte  hier  das  PAQUBLiNsche  Messer  mit  Vorteil  gebraucht 
werden  können.  Das  Unangenehme  hierbei  ist,  daß  eine  eventuelle  Blutunng 
unter  dem  Schorfe  sehr  diffus  stattfindet,  so  daß  man  nicht  mehr  sehen 
kann,  wo  die  Umstechung  erfolgen  soll. 


Ueber  tropische  Leberabscesse.  111 

kleinen  Fistel  nach  Hansa  Spontane  Heilung  trat  jedoch  nicht  ein.  Es 
entwickelte  sich  nach  einigen  Monaten  eine  progrediente  Periostitis  und 
Osteomyelitis,  die  schließlich  bis  an  das  Stemum  reichte.  Von  der  7.  Rippe 
mußte  nun  ein  6  cm  langes  Stück  aus  der  kleinen  entstandenen  Knochen- 
lade entfernt  werden,  bevor  endlich  eine  vollkommene  Heilung  erfolgte. 

Auch  bei  den  4  zuletzt  beschriebenen  Patienten  konnte  also  das 
schwer  bedrohte  Leben  noch  gerettet  werden. 


Literatur. 


1)  Adamidi  (Cairo),  Sem.  möd.,  1900,  p.  80.  —  2)  Auerbach,  Dtsch. 
med.  Wochenschr.,  1898,  p.  75.  Batb,  Lancet,  1901,  Sept.  21.  —  3)  Bbbgbr, 
Sem.  m6d.,  1897,  p.  262.  —  4)  Bbrgmann,  Mikulicz,  Brüns,  Handbuch  der 
prakt.  Chir.,  Bd.  3.  —  5)  Boinbt,  Sem.  m^d.,  1901,  p.  8;  ebenda  1898, 
p.  167.  —  6)  Bruno  Lbick,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1898,  p.  313.  — 
7)  Brault,  ref.  Tijdschr.  voor  Geneesk.  voor  Ned.  Ind.,   Dl.  39,   blz.  267. 

—  8)  Cadbt  bb  Gassicourt,  Sem.  m^d.,  1899,  p.  319;  Cantub,  Brit.  med. 
Journ.,  1901,  Sept.  14—9)  Castro,  Les  absces  du  foie  des  pays  chauds 
et  leur  traitement  chirurgical,  Paris  1870.  —  10)  van  Dijk,  Tijdschr.  voor 
Geneesk.  vor  Ned.  Ind.,  Dl.  32 ;  Dbpontainb,  Gaz.  des  Höp.,  1888,  No.  74 
—98;  Dick,  Brit.  med.  Journ.,  1901,  March  9,  p.  676.  —  11)  Ewald, 
Sem.  m6d.,  1897,  p.  71;  MüncL  med.  Wochenschr.,  1897,  p.  21;  Berl.  klin. 
Wochenschr.,  1897,  p.  169.  —  12)  Eykman  en  van  der  Schbbr,  Geneesk. 
Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,   Dl.  32  en  33;   Jaarverslag  Labor.  Weltevreden. 

—  13)  Faroanbl,  Centralbl.  f.  Chir.,  1889,  p.  602.  —  14)  Elbxnbr,  Centralbh 
f.  Chir.,  1897,  p.  1301.  —  15)  Fontan,  Centralbl.  f.  Chir.,  1899,  p.  306; 
Sem.  m^d.,  1900,  p.  80;  ebenda,  1898,  p.  397.  —  16)  Geil,  Geneesk. 
Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  32,  blz.  687.  —  17)  Gärard-Marchant,  Sem. 
med.,  1898,  p.  67.  —  18)  Gbssner,  Centralbl.  f.  Chir.,  1900,  p.  704; 
GiuuNi,  Münoh.  med.  Wochenschr.,  1901,  No.  11.  —  19)  Giordano,  Centralbl. 
f.  Chir.,  1900,  p.  1279;  Sem.  m^d.,  1900,  p.  272.  —  20)  de  Haan,  Ned. 
Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1893,  II,  blz.  205,  De  leer  der  protozoeninfectie. 

—  21)  Halb  White,  Lancet,  1894,  March,  p.  789;  Hobpfb,  Münch.  med. 
Wochenschr.,  1901,  No.  29.  —  22)  Hache  (Beyrouth),  Centralbl.  f.  Chir., 
1900,  p.  1878;  Sem.  m^d.,  1900,  p.  80.  —  23)  Huberts  von  Assenraad, 
Geneesk.  Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  32,  blz.  885.  —  24)  Jacobs,  Geneesk. 
Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  32,  blz.  731.  —  25)  Johnston,  Centralbl.  f. 
Chir.,  1889,  p.  399.  —  26)  Kartulis,  Zur  operativen  Behandlung  der 
Leberabscesse,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1886,  No.  26;  Virchows  Arch., 
Bd.  118,  1889,  p.  97.  —  27)  von  Kahldbn,  Münch.  med.  Wochenschr., 
1896,  p.  136.  —  28)  Kocher,  Chirurgische  Operationslehre.  —  29)  Welsch 
et  NiMiER,  Bull,  de  l'acad.  de  m^d.  de  Paris,  1900,  Mars  6;  Sem.  m6d., 
1900,  p.  80.  —  30)  VAN  Kerckhoff,  Geneesk.  Tijdschr.  voor  Ned.  Ind., 
Dl.  39,  blz.  352.  —  31)  König,  Spezielle  Chirurgie.  —  32)  Körte,  Berl. 
klin.  Wochenschr.,  1892,  No.  32;  Bruns'  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  1899,  23, 
p.272.  —  33)  Kruse,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1900,  No.  40.  —  34)  Langbn- 
buch,  Chirurgie  der  Leber  und  Gallenblase,  I,  Dtsch.  Chir.,  Bergmann  u. 
Bruns,  Liefrg.  46c.  —  35)  lb  Dbntu  et  Dblbbrt,  Traitö  de  Chirurgie.  — 


112  J.  A.  Koch,  üeber  tropische  Xieberabscesse. 

36)  Lapourcadb,  Sem.  m^d.,  1898,  p.  8.  —  37)  Lbjars,  Chir.  d'ürgence, 
p.  504.  —  38)  LiPSTBiN,   Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,    1899,   Bd.  52,   p.  162. 

—  39)  LoisoN,  Sem.  mM.,  1898,  p.  120;  Centralbl.  f.  Chir.,  1899,  p.  504; 
Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1900,  II,  hlz.  732.  —  40)  Lucas  Championni^rb, 
Sem.  m6d.,  1900,  p.  30.  —  41)  Maasland,  Geneesk.  Tijdschr.  voor  Ned. 
Ind.,  Dl.  39,  blz.  275.  —  42)  Mannbk,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1896, 
p.  129,  153.  —  43)  Malbot,  Centralbl.  f.  Chir.,  1900,  p.  574.  —  44)  Maclbod, 
Lancet,  1895,  Oct.  26,  p.  1037;  Brit  med.  Journ.,  1900,  Sept.  1.  — 
45)  Marcus,  Geneesk.  Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  33,  blz.  73.  —  46)  Monod 
et  Vanvbrts,  Trait^  de  technique  op^ratoire,  T.  2,  p.  416.  —  47)  Mansok 
(Patric),  Tropical  diseases.  —  48)  Pbl,  Berl.  klin  Wochenschr.,  1890, 
No.  34,  p.  765;  Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1900,  I,  blz.  879.  — 
49)  Pbtbrs,  Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1896,  I,  blz.  966.  —  50)  Pruys, 
Geneesk.  Tijdschr.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  41,  Afl.  5,  Leverabsces.  —  51  Pbyrot 
et  RoGBR,  Centralbl.  f.  Chir,,  1897,  p.  711,  ref.  —  52)  Potbjbnko,  Centralbl. 
f.  Chir.,  1899,  p.  682.  —  53)  Pothärat,  Sem.  m6d.,  1898,  p.  60.  — 
64)'Rbndu,  Sem.  möd.,  1897,  p,  262.  —  56)  Richblot,  Sem.  m6d.,  1898, 
p.  8.  —^56)  RisPAL,  Sem.  m6d.,  1898,  p.  86.  —  57)  Robert,  Sem.  m^d., 
1898,  p.  120.  —  58)  RusTHON  Parkbr,    Brit.  med.  Journ.,    1897,  p.  1577. 

—  59)  Sachs,  Operative  Behandlung  der  Leberabscesse,  Langbnbbcks  Arch., 
Bd.  19,  p.  235.  —  60)  van  der  Schbbr,  Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk., 
1900,  I,  blz.  72.  —  61)  Scheubb,   Die  Krankheiten  der  warmen  Länder. 

—  62)  Simon  Plbxnbb,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1898,  p.  8.  —  63)  Smits, 
Zur  Chirurgie  des  Leberabscesses,  Langenbbcks  Arch.,  Bd.  61.  —  63a)  Smits, 
Tijdschr.  voor  Geneesk.  voor  Ned.  Ind.,  Dl.  33,  Afl.  1.  —  64)  Spronck, 
Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1902,  No.  18,  Nov.  —  65)  Stichbr,  Dtsch. 
med.  Wochenschr.,  1898,  p.  8.  —  66)  Strbtton,  Lancet,  1894,  Oct,  p.  797. 

—  67)  Swain,  Centralbl.  f.  Chir.,  1899,  p.  318.  —  68)  Trevbs,  System  of 
Surgery.  —  69)  Vbrmby,  Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1890, 1,  No.  13.  — 

70)  Walter   Boyd   (Grenada),    British   med.   Journal,    1897,   p.   470.    — 

71)  Walthbr,  Centralbl.  f.  Chir.,  1899,  p.  48;  ebenda,  1897,  p.  663;  Sem. 
m^d.,  1898,  p.  67.  —  72)  Warning,  Brit.  med.  Journ.,  1898,  p.  673.  — 
73)  WiJNHOPP,  Ned.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  1888,  No.  2";  Watts,  Brit. 
med.  Jöurn.,  1901,  June  29,  p.  1618,  —  74)  Wijsman  en  Grippbling,  Berl. 
klin.  Wochenschr.,  1894,  No.  13,  p.  323.  —  75)  Zancarol,  Traitement 
chirurgical  des  absc^s  du  foie  des  pays  chauds. 


FrommaDOfche  Bnchdraektral  (Hermann  Fohle)  in  Jena.  *—  2642 


Aus  der  chirurgischen  Klinik  und  dem  pathologischen  Institute 
der  Kgl.  Universität  Breslau. 


Nachdruck  yerboteiu 


YIL 

Die  Lymphdrüsenmetastasen 
beim  Magenkrebs. 

Von 

Dr.  Rennery 

Volontärassistenten  der  Klinik. 
(Hierzu  24  Abbildungen  im  Texte  und  1  graphische  Tabelle.) 


Die  Untersuchungen,  welche  Lengemann  (1)  über  „die  Erkran- 
kungen der  regionären  Lymphdrüsen  beim  Krebs  der  Pars  pylorica  des 
Magens^  anstellte,  erstreckten  sich  seinem  Materiale  gemäß  nur  auf  die 
bei  Magenresektion  mit  entfernten  Drüsen.  Für  die  Entscheidung  der 
Frage,  wie  weit  die  regionären  Drüsen  mit  erkrankt  zu  sein  pflegen, 
erschien  daher  eine  Untersuchung  möglichst  aller  regionärer  Lymph- 
drüsen in  solchen  Fällen  von  Magenkrebs,  welche  zur  Autopsie  kamen, 
unumgänglich  notwendig.  Auf  Anregung  von  Herrn  Geh.-Rat  Prof. 
Dr.  TON  Mikulicz  übernahm  ich  diesen  Teil  der  Untersuchung,  welche 
mir  durch  die  liebenswürdige  Ueberlassung  des  Materiales  von  Herrn 
Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Ponpiok  ermöglicht  wurde.  Es  sei  mir  gestattet, 
Herrn  Prof.  Ponfice  an  dieser  Stelle  meinen  ergebensten  Dank  dafür 
aaszusprechen. 

Das  von  Lengemann  auf  das  Garcinom  der  Pars  pylorica  be- 
schränkte Arbeitsgebiet  erweiterte  ich  auf  Krebse  aller  Teile  des 
Magens,  um  überhaupt  die  bis  dahin  nicht  sehr  vollständigen  Unter- 
suchungen über  die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs  der  not- 
wendigen Ergänzung  zu  unterziehen.  Zu  diesem  Zwecke  schien  es 
auch  angebracht,  nicht  nur  resezierte  Fälle  zu  untersuchen,  sondern 
auch  nicht  operierte,  und  solche,  bei  denen  nur  die  Gastroenterostomie 
vorgenommen  werden  konnte.  Endlich  zog  ich  allmählich  nicht  nur 
die  regionären  Drüsen  erster  und  zweiter  Etappe  [Cun^o  (2)J  in  den 
Kreis  meiner  Untersuchungen,  sondern  auch  solche,  die  mit  dem  Lymph- 
system des  Magens  keinen  direkten  Zusammenhang  mehr  haben. 

Dadurch  wuchs  die  Zahl  der  in  den  einzelnen  Fällen  zu  unter- 

lOtteU.  a.  d.  GraBzgableten  d.  Mediiin  o.  Chinuvie.   ZIU.  Bd«  8 


114 


Benner, 


suchenden  Drüsen  außerordentlich,  und  ich  mußte  mich  infolgedessen 
mit  einer  verhältnismäßig  kleinen  Anzähl  von  Fällen  begnügen.  Es 
kamen  im  Laufe  der  IV2  Beobachtungsjahre  15  Fälle  zur  Autopsie. 

Bei  der  Bearbeitung  ergab  sich  eine  Reihe  neuer  Gesichtspunkte 
und  Fragen,  die  zum  Teil  erst  durch  Untersuchung  einer  viel  größeren 
Anzahl  von  Fällen  exakt  beantwortet  werden  können.  Ich  habe  mein 
Hauptaugenmerk  nur  auf  folgende  Fragen  gerichtet: 

1.^)  Läßt  der  makroskopische  Befund  einen  unbedingten  Schluß  auf 
etwaige  carcinomatöse  Infektion  einer  Drüse  zu? 

2.^)  Besteht  ein  Zusammenhang  zwischen  Sitz  des  Tumors  und 
Sitz  der  erkrankten  Drüsen,  und  ist  danach  Gun£os  (2)  Forderung  ge- 
rechtfertigt, alle  der  erkrankten  Partie  zukommenden  Drüsen  erster 
Ordnung  zu  entfernen? 

3.^)  Kommt  die  Metastasierung  der  Lymphdrüsen  in  der  Regel 
embolisch  oder  durch  kontinuierliches  Wachstum  zu  stände? 

4)  Fanden  sich  in  resezierten  Fällen  bei  der  Autopsie  noch  Drüsen- 
metastasen? 


Das  Material  bestand,  wie  schon  erwähnt,  aus  den  bei  der  Autopsie 
gewonnenen  Lymphdrüsen.  Nur  in  einem  Falle  (VI),  welcher  erst  nach 
Abschluß  der  LENOEMANNschen  Arbeit  zur  Operation  kam,  habe  ich  zur 
Vervollständigung  auch  die  bei  der  Operation  gewonnenen  Drüsen  mit- 
untersucht. 

üeber  die  Topographie  der 
regionären  Lymphdrüsen  muß  ich 
auf  die  erschöpfende  Darstellung 
Lengemanns  (1)  hinweisen.  Zur 
raschen  Orientierung  sei  aus  ihr 
die  Fig.  1,  und  aus  CuNfios  (2) 
Arbeit  die  Fig.  2  gegeben. 

Auch  meine  Untersuchungen 
können  keinen  Anspruch  auf  Voll- 
ständigkeit erheben.  In  einigen 
Fällen  verbot  das  Sammlungs- 
interesse eine  Zerstörung  inten- 
siver Verwachsungen,  durch  wel- 
che allein  manche  Drüsengruppe 
erst  zugänglich  geworden  wäre. 
Manchmal  waren  auch  die  topo- 
graphischen Verhältnisse  durch 
Verwachsungen ,     carcinomatöse 


Fig.  1.  Die  ersten  regionären  Lymph- 
drüsen des  Magens  (nach  Staub).  Die  schraf- 
fierten Drüsen  li^en  an  der  Hinterwand. 


1)  In  ergänzender  Beantwortung  der  schon   von  Lbnobmann  (1)   auf- 
gestellten Fragen. 


Die  LymphdrOseninetastasen  beim  Magenkrebs. 


115 


OlcMd.  curv,  min. 


Gland,  hepatic-^ 


Gl.  retropyk.. 
Gl.  fubpyl. 


Ton  der  Wurzel  d.  Mesocolon 


am  Stamm  der  Cor.  ventr.  ein. 
Ol.  euprapamer. 


Ol,  coeliac. 


Ol.  meeocol. 


Fig.  2.  Der  Magen  ist  in  der  Mitte  quer  dnrchjBchnitten  und  nach  rechts  und 
links  anseinandergeklappt  gedacht.  Leber  und  Colon  sind  nach  oben  bezw.  unten 
gezogen.    Ans:  Cüneo. 


Infiltration  oder  Schrumpfung  derart  verändert,  daß  die  regionären 
Drüsen  zum  Teil  entweder  überhaupt  nicht  aufzufinden,  oder  ihrem 
Sitze  nach  nicht  sicher  festzustellen  waren.  Speziell  bei  den  supra- 
pankreatischen  Drüsen  und  den  Drüsen  der  kleinen  Kurvatur  wird 
infolgedessen  hier  und  da  eine  Verwechselung  nicht  ausgeschlossen  sein. 
Die  Technik  der  Untersuchung  war  dieselbe,  wie  bei  Lengemann: 
Einbettung  in  Paraffin,  Zerlegung  in  10  ^  —  in  einzelnen  Fällen  auch 
dünnere  —  Schnitte,  Färbung  mit  Hämatoxylin-Eosin  und  Durchmikro- 
skopieren jedes  11.,  bei  kleineren  Drüsen  jedes  6.  Schnittes  mit  Hilfe 
des  verschiebbaren  Objekttisches.  Bei  ganz  kleinen  Objekten  wurden 
auch  lückenlose  Serien  untersucht. 


In  der  folgenden  Darstellung  beginne  ich  mit  den  resezierten 
6  Fällen.  Diesen  reihen  sich  3  Fälle  von  Gastroenterostomie  an, 
während  6  nicht  operierte  den  Schluß  bilden. 

L  P.  HL     Joum.-No.  chir.  Klinik  173/1901. 

In  vivo  waren  vergrößerte  Lymphdrüsen  nirgends  zu  fühlen.  Befund 
bei  der  Operation:  Sowohl  an  der  kleinen  wie  an  der  grollen  Kurvatur 
finden  sich  bohnengroße  Drüsen.  Im  Omentum  minus  reichen  sie  fast  bis 
zu  Cardiahöhe  empor.  Auch  auf  dem  Pankreas  liegen  Drüsen.  Die  Drüsen 
aas  dem  Omentum  minus  werden  flir  sich  ezstirpiert,  ebenso  die  auf  dem 
Pankre&s. 

Der  Tumor  saß  zirkulär,  ließ  aber  an  der  kleinen  Kurvatur  den  Py- 
lorus  frei. 

Mikroskopisch :  teilweise  Gylinderzellenkrebs,  teils  Carcinoma  solidum. 

Sektionsbefund:  Die  regionären  Lymphdrüsen  sind  bereits  bei  der 
Operation  entfernt  (cf.  Lbitobmann  IV). 

8* 


116  Renner, 

untersucht  werden:  Gruppen  1 — 6.  11  Lumbaidrüsen,  von  der  Gegend 
der  Abgangsstelle  der  Nierenarterien  etwa  handbreit  aufwärts.  Ihre  Kon- 
sistenz ist  mäßig  derb,  ihre  Größe  9X7,  7X3,  7Xö,  16X8,  10  X  9, 
15  Xö,  7X8,  14X^0  mm.  Sie  sind  sämtlich  frei  von  Krebs;  eine 
davon  (4)  ist  entzündlich  hyperplastisch. 

Gruppe  7,  2  Bronchialdrüsen  von  15  X^  ^^^  l^X^  "^"^  sind  eben- 
falls normal.  Hier  fanden  sich  also  in  den  untersuchten  Drüsen,  welche 
allerdings  nicht  mehr  dem  Lymphgef^ßsystem  des  Magens  angehören,  keine 
Metastasen  mehr.  Erwähnenswert  scheint  es,  daß  trotzdem  die  makro- 
skopische Sektionsdiagnose  gelautet  hatte:  Intumescentia  et  infiltratio  car- 
cinomatosa  glandularum  retroperitonealium. 

n.  B.  K     Journ.-No.  chir.  Klinik  488/1901. 

Befund  bei  der  Operation:  Drüsen  im  Ligamentum  gastrocolicum  und 
an  der  kleinen  Kurvatur  in  mäßiger  Menge.  Der  Tumor  saß  zirkulär  am 
Pylorus. 

Mikroskopisch:  zum  größten  Teil  Scirrhus,  stellenweise  Carcinoma 
solidum. 

Drüsen:  Von  regionären  Drüsen  erster  Station  wird  nichts  mehr 
gefunden  (cf.  Lbnobmann  V).  Eine  kirschgroße,  mäßig  derbe,  supra- 
pankreatische  (Gruppe  3)  ist  stark  degeneriert,  aber  frei  von  Csur- 
cinom.  Eine  gelblichweiße,  4  Finger  breit  über  dem  Zwerchfell  gelegene 
Mediastinaldrüse  von  löX^  nim  (Gruppe  1)  enthält  zahlreiche  Riesen- 
zellen, einzelne  verkäste  Partien  und  Tuberkel.  Ebenso  sind  2  andere 
in  Höhe  des  9.  und  8.  Brustwirbels  gelegene  Mediastinaldrüsen  von 
derber  Konsistenz  (6X^  nim  und  16  X^  mm)  tuberkulös  (Gruppe  4  u.  7). 
Von  3  derben  Bronchialdrüsen  (Gruppe  2)  ist  die  eine  (7X6  i^i"») 
normal,  die  beiden  anderen  sind  tuberkulös  (9X7  und  8X7  mm). 

Trotz  des  so  günstigen  Drüsenbefundes  in  diesem  Falle  bestand  in 
der  Leber  eine  Krebsmetastase. 

in.  G.  K     Journ.-No.  chir.  Klinik  672/1901. 

Befund  bei  der  Operation:  An  der  kleinen  Kurvatur  sind  vergrößerte 
oder  derbe  Drüsen  nicht  zu  fühlen.  Es  handelt  sich  hier  um  einen  zir- 
kulären, stark  stenosierenden  Pylorustumor. 

Mikroskopisch:  Adenoma  malignum. 

Die  regionären  Lymphdrüsen  sind  schon  bei  der  Operation  entfernt 
(cf.  Lbngbmann  XI).  An  der  Leberpforte  und  unter  dem  Kopfe  des  Pankreas 
liegt  je  ein  Paket  stark  vergrößerter,  verkäster  Lymphdrüsen.  Ebenso 
Enden  sich  längs  der  Wirbelsäule  bis  hinab  zum  Kreuzbein  eine  Menge 
neben-  und  hintereinanderliegender,  in  gleicher  Weise  veränderter  Drüsen. 

Da  somit  schon  makroskopisch  ausgedehnte  Tuberkulose  der  Lymph- 
drüsen festgestellt  werden  konnte  (es  bestand  außer  alter  Spitzentuberkulose 
auch  ein  großes  tuberkulöses  Geschwür  in  der  Gegend  der  BAUHiNischen 
Klappe),  wurden  nur  einige  Drüsen  als  Stichproben  untersucht,  und  zwar 
2  Lumbaidrüsen  (Gruppe  1),  2  Bronchialdrüsen  (Gruppe  2)  und  2  Mesen- 
terialdrüsen  (Gruppe  3).  Ihre  Maße  waren:  11X5,  12X8,  7X6.  ^X^, 
11,5X8,  9X8  mm.     Sie  erwiesen  sich  ausnahmslos  als  tuberkulös. 

An  der  kleinen  Kurvatur  waren  Drüsen  bei  der  Operation  nicht  gefühlt 
und  auch  nachträglich  nicht  von  Lbngbmann  am  resezierten  Stück  gefunden 
worden.  Daß  sie  ganz  gefehlt  haben,  ist  unwahrscheinlich,  da  ihr  Vor- 
kommen nach  allen  bisherigen  Untersuchungen  konstant  ist.  Man  maß 
wohl  annehmen,  daß  sie  ganz  klein  waren  und  bei  der  Operation  in  einem 
Stückchen  des  resezierten  Omentum  minus  verloren  gingen. 


Die  LymphdrOsemnetastasen  beim  Magenkrebs. 


117 


Die  von  Lkngbmann  untersuchten  subpylorischen  Drüsen  waren  sämt- 
lich frei  von  Carcinom.  Dem  entspricht,  daß  ich  bei  der  Sektion  ebenfalls 
keine  regionären  Drüsen  mehr  fand,  und  daß  die  entfernteren  unverdächtig 
erschienen,  bezw.  sicher  tuberkulös  waren. 

IV.  M.  W.     Journ.-No.  chir.  Klinik  728/1901. 

Befund  bei  der  Operation:  Geschwollene  Drüsen  im  Omentum  majus 
zwischen  Magen  und  Dickdarm  und  in  der  Umgebung  des  Pankreas. 
Nach  Vorziehen  des  Dickdarmes  lassen  sich  die  Drüsen  leicht  abklemmen 
and    exstirpieren ;    etwas    mehr   Schwierigkeiten    machen    die   Drtlsen    am 


Fig.  3. 


Fig.  4. 


In  allen  Figuren  bedeutet: 

normale  Drüse, 

entzündlich  hyperplastlBche  Drüse, 


^    carciDomatöse  Drüse. 

Die  Nummern  bei  den  Drüsen  ent- 
sprechen den  Gruppennummem  des  Textes. 


Pankreaskopfe.  Der  Tumor  war 
ein  ausgedehntes,  zirkuläres  Py- 
lomscarcinom,  mikroskopisch  Cy- 
linderzellencarcinom. 

Drüsen  (Fig.  3  u.  4) :  Die  re- 
gionären Drüsen  erster  Station  sind 
schon  bei  der  Operation  entfernt 
(cf.  Lenobmakn  VII).  Von  den 
Drüsen  zweiter  Station  findet  sich 
eine    ganze    Anzahl    mittelgroßer, 

ziemlich  derber,   suprapankreatischer  Drüsen,    und  zwar  7   von   der 
medialen  Hälfte  (Gruppe  8),  5  von  der  lienalen  Hälfte  (Gruppe  9). 

Gruppe  8 :  9,6  X  ö,2,  8,5  X  2,2,  8,3  X  ^,2  mm.  Sie  sind  stark  mit 
Carcinomzellsträngen  angefüllt,  welche  hauptsächlich  den  Lymphbahnen 
folgen.  Auch  in  der  Umgebung  der  Drüsen  liegen  mehrere  Herde,  so  daß 
Wer  wohl  Metastase  auf  dem  Wege  kontinuierlichen  Wachstums  ange- 
nommen werden  darf.  Auch  die  folgenden  (1,9  X^A  3,1X^,6,  5,1X^,2, 
7X6  mm)  sind  hochgradig  carcinomatös;  zum  Teil  befinden  sie  sich  in 
beginnender  Degeneration. 

Gruppe  9:  (7,7X10,7,  10,4X7,3,  4,4X6,2,  6,2X^,8,  7,3X^,3  mm.) 
Auch  hier  ist  die  Carcinomentwickelung  außerordentlich  weit  fortgeschritten; 
die  eine  Drüse  enthält  nur  noch  spärliche  Reste  von  Lymphdrüsengewebe. 

An  der  großen  Kurvatur,  viel  weiter  cardiawärts,  als  man  gewöhnlich 


118  Renner, 

Drüsen  za  finden  pflegt,  liegen  4  dunkle,  ziemlich  weiche  Drüsen,  die  ich 
noch  sn  den  snbpylorischen  rechnen  will  (Qnippe  10).  Sie  sind  kaum 
vergrößert  (3,7  XM,  ^^XM»  ^»9X2,2,  2,1  X2,4  mm).  Sie  bieten  alle 
das  Bild  mehr  oder  weniger  starker  katarrhalischer  Desquamation,  zum 
Teil  mit  Hämorrhagien,  sind  aber  frei  von  Garcinom. 

In  9  ziemlich  weichen  Sakral-  und  Lumbal drüsen  (Gruppe  1) 
ist  die  Metastasierung  außerordentlich  fortgeschritten.  Die  Carcinomzellen 
sind  teils  in  soliden  Strängen,  teils  mehr  diffus  infiltrierend  angeordnet. 
Selten  eine  Andeutung  von  Lumen.  Die  Größe  dieser  Drüsen  ist :  2,7  X  ^i 
6,2  X  3,6,  2,5  X  6,7,  6,6  X 1 1,1,  8,2  X  3,9,  2,4  X  10,3,  6,7  X 12,  13,4  X*  mm. 

9  weiter  aufwärts  gelegene  Lumbaldrtisen  (Gruppe  5)  von  5,5 X 3,ö, 
3,8X1,4,  0,6X6,1.  4X2,8,  7,8X3,2,  10X7,6,  7X&,  10X10,6,  5X4,4  mm 
bieten  ziemlich  dasselbe  Bild.  In  der  letzten  findet  sich  in  einem  zu- 
führenden, stark  erweiterten  Lymphgefäß  ein  Carcinomzellhaufen. 

Auf  der  linken  Nierenvene  liegen  7  ebenfalls  stark  carcinomatöse 
Lumbaidrüsen  (Gruppe  6  u.  4)  von  5,3X4,2,  3,6 X ^A  2,7X^,2, 
7,1  X  ö,2,  8,9  X 5j  15,6  X 4>ö»  1 1  X ö  mm.  1  weiche  Drüse  vom  Mesocolon 
(Gruppe  7)  5,8X2,9  mm  ist  carcinomfrei,  aber  entzündlich  und  hämor- 
rhagisch. Bei  2  mäßig  derben  Bronchialdrüsen  an  der  Teilungsstelle 
des  rechten  Hauptbronchus  (Gruppe  2:  8,8X1,6  ^t^^  1ö,1X11»6  mm)  ist 
die  Diagnose  auf  Fehlen  carcinomatöser  Infektion  nicht  mit  Sicherheit  zu 
stellen,  da  hochgradige  Anthrakose  neben  fibröser  Hyperplasie  und  viel- 
fach auch  Nekrose  besteht.  Von  3  Drüsen  an  der  Teilungsstelle  des  linken 
Bronchus  (Gruppe  3:  12,2X^,2,  11,6X6,1|  8,2X4  mm)  sind  2  carcino- 
matös,  1  frei. 

In  diesem  Falle  wurden  schon  bei  der  Operation  geschwollene  supra- 
pankreatische  Drüsen  gefühlt  und  entfernt.  Daß  sich  trotzdem  noch  eine 
so  große  Zahl  vergrößerter  und  ausnahmslos  krebsig  infiltrierter  Drüsen 
an  dieser  Stelle  bei  der  Sektion  fanden,  kann  keinen,  der  die  Schwierig- 
keit  des  Zuganges   zum  Pankreas    bei   der  Operation  kennt,   überraschen. 

Die  4  Drüsen  von  der  großen  Kurvatur  sind  infolge  ihrer  relativ 
geringen  Größe  und  Weichheit  bei  der  Operation  nicht  gefühlt,  oder  min- 
destens für  unverdächtig  gehalten  worden.  Nach  allen  früheren  Unter- 
suchungen, speziell  denen  von  Most  (3),  Cuni^ig  (2)  und  Sappe y  (4)  über 
die  Quellgebiete  der  Lymphdrüsen  des  Magens  ist  ja  auch  eine  Infektion 
dieser  Lymphdrüsen  bei  Sitz  des  Tumors  im  Pylorusteile  von  vornherein 
unwahrscheinlich.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergibt  nun  die  Be- 
rechtigung dieser  Annahme  und  kann  somit  wieder  als  indirekte  Bestäti- 
gung der  sich  zum  größten  Teile  nur  auf  anatomische  Studien  aufbauenden 
Einteilung  der  Lymphgebiete  des  Magens  dienen.  Da  diese  so  weit  nach 
dem  Fundus  zu  liegenden  Drüsen  wie  auch  Cunj^o  (2)  betont,  außerordentlich 
selten  gefunden  werden,  verdient  der  negative  Befund  an  ihnen  besonders 
hervorgehoben  zu  werden. 

V.  0.  F.     Journ.-No.  chir.  Klinik  1376|1902. 

In  vivo  fehlten  allgemeine  Lymphdrüsenschwellungen. 

Befund  bei  der  Operation:  Drüsenmetastasen  finden  sich  längs  der 
kleinen  Kurvatur,  und  hier  weiter  reichend,  als  an  der  großen.  Im  Omentum 
minus  und  auf  dem  Pankreas  sind  die  Drüsen  desgleichen  ergriffen.  Immer- 
hin ist  aber  der  Befund  ein  derartiger,  daß  die  Radikaloperation  be- 
schlossen wird.  Ablösung  der  großen  Kurvatur  mit  Resektion  eines  kleinen 
Pankreaszipfels  einschließlich  der  bezüglichen  Drüsen.  Darauf  Resektion 
der  von  Drüsen  durchsetzten  Teile  des  Omentum  minus. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


119 


Der  große,  zirkuläre  Tumor  läfit  an  der  großen  Kurvatur  2  cm  des 
Pylorus  frei.  Mikroskopisch :  Gallertkrebs  mit  teilweise  so  reichlicher  Binde- 
gewebsentwickelung,  daß  man  von  Mischform  mit  Scirrhus  reden  kann. 

Drüsen  (Fig.  6):  Von  regionären  Drüsen  erster  Station  (cf.  LsNaB- 
MANN  IX)  fand  sich  nur  noch  eine  mäßig  derbe  an  der  kleinen  Kur- 
vatur, schon  nahe  der  Cardia  (Gruppe  3),  4,5  X  ^fi  i^^^^^*  ^^^  enthält 
einige  kleine  Krebsherde;  außerdem  sind  mehrfach  ftiesenzellen  und  zwei 
kleine  nekrotische  Herde  vorhanden. 

3  suprapankreatische  Drüsen  (Gruppe  7  u.  8):  4,9X^7, 
6X3>2  ^nd  l^i^X^)^  °"^)  ^^^  nicht  carcinomatös.  Eine  enthält  einen 
nekrotischen  Herd  mit  Eiesenzellen ,  an  einer  zweiten  ist  stark  katar- 
rhalische Lymphadenitis  zu  bemerken. 

Von  4  weichen 
Drüsen  an  den  zur 
Leber  ziehenden 
Gefkßen  (Gruppe  9: 
ll,6X6,8nmi)und 
an  der  Leberpforte 
(Gruppe  1,  15,3  X 
5,2,  10,5X6,  ^X 
3  mm)  ist  eine  sicher 
tuberkulös,  und  bei 
dem  käsigen  Zerfall 
der  anderen  ist  das- 
selbe zu  vermuten. 
Ebenso  verhält  sich 
eine  Drttse  vom  Tri- 
pus  Halleri  (Gl. 
coeliaca)  Gruppe 
4:  12,6  X  7  mm. 
Vor  der  Cardia 
liegt  eine  normale 
Drüse  von  5,3  X 
2  mm  (Gruppe  2). 
7  lumbale  Lymph- 
drüsen (Gruppe  5 :  6,5  X  &,  6,2  X  9,  12,6  X  8,  3,7  X  3,  9,9  X  7  mm,  Gruppe  6 : 
13,1  X  ^1  "7,6  X  ^»8  mm)  sind  zum  größten  Teile  normal ;  zwei  zeigen 
katarrhalische  Desquamation  und  eine  käsigen  Zerfall. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  einzige  noch  auffindbare  regionäre  Drüse 
erster  Station  noch  einige  kleine  Krebsherde  enthält.  Während  bei  der 
Operation  die  Chancen  ftlr  eine  Badikalheilung  nicht  sehr  groß  erschienen, 
rechtfertigt  der  negative  mikroskopische  Befund  an  den  Drüsen  vollkommen 
den  Versuch  der  Badikaloperation. 

VL  J.  B.     Journ.-No.  chir.  Klinik  390/1902. 

Befund  bei  der  Operation:  An  der  kleinen  Kurvatur  hoch  hinauf- 
gehend viele,  zum  Teil  bohnengroße  Drüsen.  Li  der  Epikrise  wird  er- 
wähnt, daß  bei  der  Sektion  zahlreiche  pankreatische  Drüsen  gefunden 
wurden,  welche  bei  der  Operation  nicht  gefühlt  wurden.  Es  ist  dies  der 
letzte,  erst  nach  Abschluß  von  LsNaBMANNs  Arbeit  zur  Autopsie  gekommene 
Fall  von  Eesektion.  Im  Einverständnis  mit  L.  habe  ich  daher  die  schon 
bei  der  Operation  entfernten  Drüsen  mituntersucht  und  stelle  ihre  Be- 
schreibung voran. 


Fig.  5. 


120 


Benner, 


Großer,  stark  stenosierender  Tamor  (Pylorus  etwa  für  einen  Bleistifb 
durchgängig).  Er  umfaßt  hauptsächlich  die  Vorderwand  des  Magens  und 
erreicht  seine  größte  Ausdehnung  und  Dicke  an  der  großen  Kurvatur,  wo 
er  mit  einem  ca.  2  cm  hohen  Bande  ganz  steil  gegen  die  Magenschleim- 
haut abfallt  An  der  großen  Kurvatur  hat  er  eine  Längsausdehnung  von 
6  cm  und  reicht  bis  an  den  Pylorus;  an  der  kleinen  Kurvatur  ist  er 
etwa  4  cm  lang.  Von  der  großen  Kurvatur  aus  wird  er  nach  der  Vorder- 
fläche des  Magens  zu  allmählich  flacher  und  verliert  sich  mehr  in  diffuser, 
derber  Infiltration,  während  er  an  der  Hinterfläche  mehr  schroff  aufhört, 
allerdings  wohl  auch  feinere  Ausläufer  in  sie  entsendet  Von  innen  von 
der  Cardia  aus  gesehen,  bildet  der  Tumor  einen  halbmondförmigen  Wall, 
dessen  größte  Dicke  eben  an  der  großen  Kurvatur  liegt.  Das  resezierte 
Stück  hat  im  geschrumpften  Zustande  einen  Längsdurchmesser  von  10,5  cm, 
einen  Querdurchmesser  von  7  cm.  Das  duodenale  Ende  hat  8  cm  Durch- 
^  messer.      Der    Tumor    zeigt 

keine  besonders  ulcerierten 
Partien.  Mikroskopisch:  Die 
Krebszellen  sind  meist  in  ein- 
schichtigen Drüsengängen  an- 
geordnet, haben  aber  in  den 
älteren  Partien  eine  mehr 
diffuse  Ausbreitung.  In  den 
tieferen  Schichten  ist  das 
Zwischengewebe  enorm  stark 
mit  Bundzellen,  und  zwar 
polynukleären ,  durchsetzt. 
Stellenweise  gallertartige 
Umwandlung  der  Carcinom- 
zellen. 

Drüsen  (Fig.  6):  Sub- 
pylorisch  liegen  etwa  11 
Drüsen,  von  denen  einige 
durch  ihre  Größe  und  Härte 
schon  makroskopisch  als  car- 
cinomatös  imponieren,  so  daß  sie  nicht  erst  untersucht  werden. 

Im  allgemeinen  sind  die  Drüsen,  je  weiter  nach  dem  Pylorus  zu,  um 
so  größer.  Am  meisten  fiinduswärts  liegt  ein  ganz  kleines  (2X^  mm), 
rundes,  derbes  Drüschen  an  der  Arteria  gastroepiploica  (Gruppe  23).  Es 
enthält  im  Bandsinus  reichlich  Cylinderzellschläuohe  mit  weitem  Lumen 
und  einschichtigem  Epithel.  Weiter  pyloruswärts  folgt  an  der  Arterie 
eine  schon  makroskopisch  sicher  carcinomatöse  Drüse;  eine  größere  und 
eine  kleinere  ebensolche  liegen  unterhalb  der  Arterie.  Dann  folgt  ein 
derbes,  rundes  Knötchen,  welches  die  Arterie  vollkommen  umfaßt  (Gruppe  20), 
Die  Krebszellen  sind  hier  sehr  schön  schlauchartig  angeordnet.  Von  Drüsen- 
substanz ist  nichts  zu  sehen.  Augenscheinlich  handelt  es  sich  nur  um 
eine  Netzmetastase. 

Unterhalb  liegt  wieder  eine  weiche  Drüse  von  5  X  ^  ™^  (Gruppe  22). 
Auch  hier  reichliche  Carcinomentwickelung  mit  starker  Bindegewebsbe- 
teiligung.  Endlich  folgen  schon  ganz  nahe  am  Pylorus  und  dicht  an  der 
großen  Kurvatur  3  makroskopisch  sicher  carcinomatöse  Drüsen. 

2  dicht  danebenliegende,  Gruppe  21,  ziemlich  weich,  6X^  ^^ 
und  Gruppe  19,  ebenfalls  weich,  7  X  ^  ^^^^"^i  8^°<^  außerordentlich  stark 
krebsig  infiziert. 


Fig.  6. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


121 


Von  der  kleinen  Kurvatur  sind  anscheinend  eine  Anzahl  einzeln 
bei  der  Operation  ausgelöster  Drüsen  verloren  gegangen.  2  restierende 
(Gruppe  24:  12,6 X^  ^^^  ^X^  ™°^)  sind  mäßig  derb  und  ebenfalls  car- 
cinomatös,  zeigen  außerdem  hämorrhagische  Lymphadenitis. 

Bei  der  Autop- 
sie fanden  sich  nur 
noch  folgende  Drü- 
sen (Fig.  7  u.  8): 
An  der  kleinen 
Kurvatur  liegt 
ganz  dicht  an  der 

Resektionsstelle 
des  kleinen  Netzes 
eine  weiche  Drüse 
von    11  X  7    mm 
(Gruppe  1).  Sie  ent- 
hält einige  wenige 
Krebsherde.  5  wei- 
tere, ganz  hoch  oben 
an  der  kleinen  Kur- 
vatur sitzende 
(Gruppe   2;    11  X 
9  mm,   Gruppe  3: 
4  kleine     Drüsen) 
sind   dagegen  nor- 
mal.    Eine  r  e  t  r  o  - 
pylori  sehe  Drüse 
von    4  X  2,5    mm 
(Gh*uppe  18)istcarcinomatös. 
Suprapankreatisch 
(Fig.  8):  Gruppe  15:  15  X 
13  mm.   Am  meisten  median 
gelegen.    Ueberall  schieben 
sich  teils  schmale  Stränge, 
teils  dicke  Haufen  von  Car- 
cinomzellen  zwischen  stark 
vermehrtem     Bindegewebe 
vor.    Von  Follikeln  sind  nur 
in   einem  Teile   der  Drüse 
noch   spärliche   Reste   vor- 
handen.    Auch  in  der  Um- 
gebung der  Drüsen  besteht 
Carcinomentwickelung.  Von 
2   ziemlich   derben  Drüsen 
mehr  von  der  Mitte  des  Pan- 
kreasrandes     (Gruppe     16 : 
6X6  und  6,6  X  5  mm)  ist 
eine  carcinomatös. 

Eine  noch  weiter  kaudalwärts  gelegene  (Gruppe  17:  12  X^  ^^)  zeigt 
nur  katarrhalische  Desquamation.  5  hepatische  Drüsen  (Gruppe  4: 
8X7  u.  10X6  mm,  Gruppe  6:  6X5,  ^X^»  6X4  mm)  sind  nicht  er- 
gnffen.     Von   3    Cöliakaldrüsen    (Gruppe  5)  sind  2  normal  (5X4  ^ 


Fig.  7. 


Fig.  8. 


122  Renner, 

6X4:  mm);  in  der  dritten  (10,5X9  ^^)  besteht  ziemlich  diffuse  Aus- 
breitung von  Carcinom. 

Eine  präkardiale  Drüse  (Oruppe  7:  4X4  mm)  erwies  sich  als 
normal.  7  cm  von  der  Vereinigungsstelle  des  Magens  und  Darmes  abwärts 
im  Ligamentum  gastrocolicum  eine  sehr  harte  Drüse  von  2,5X2  mm 
(Gruppe  8).  Sie  ist  normal.  3  mäßig  derbe  Drüsen  vom  Mesocolon 
transversum  (4,5X2,  2X2,  4X2,5  mm)  sind  zum  Teil  entzündlich. 
Eine  knorpelharte  Drüse  von  derRadixmesenterii(7X4:  mm)  ist  normal. 
Vor  der  Wirbelsäule  liegen  überall  kleinere  und  größere,  derbe,  verdäch- 
tige Drüsen. 

Als  Stichproben  werden  3  Lumbaidrüsen  aus  der  Gegend  der 
Nierenge&ße  untersucht  und  erweisen  sich  als  carcinomatös  (Gruppe  11 
u.  12:  14X5,  11X4,  11X10  mm).  2  Bronchialdrüsen  (Gruppe  13 
u.  14:  13  X*^  ^'  10  X®  °^°^)  s^^*l  stark  anthrakotisch  und  fibrös  de- 
generiert. 

Bei  der  großen  Zahl  und  Ausdehnung  der  noch  gefundenen  Drüsen- 
metastasen, deren  Existenz  bei  der  Operation  unbemerkt  blieb,  war  hier 
eine  Badikalheilung  durch  die  Operation  ausgeschlossen.  Die  mikrosko- 
pischen Bilder  der  infizierten  Drüsen  geben  auch  gar  keinen  Anhalt  für 
die  Annahme,  daß  die  Drüsen  im  Kampfe  mit  den  eingeschleppten  Krebs- 
zellen die  Oberhand  gewinnen  würden;  im  Gegenteil  machten  die  Krebs- 
herde den  Eindruck  außerordentlicher  Propagationsfähigkeit 

Es  folgen  nun  die  3  Fälle  von  Gastroenterostomie. 

Vn.  R  K.     Journ.-No.  chir.  Klinik  367/1901. 

In  vivo  waren  überall  geschwollene  Drüsen  zu  fühlen,  besonders  in 
den  Achselhöhlen  und  Leistenbeugen.  Man  hatte  aber  nicht  den  Eindruck, 
daß  es  sich  um  Krebsmetastasen  handle. 

Befund  bei  der  Operation:  St€u:ker  Ascites.  An  der  kleinen  Kurvatur 
ftlhlt  man  einen  diese  zum  größten  Teil  durchsetzenden  harten  Tumor, 
welcher  mit  Sicherheit  ins  Pankreas  übergreift.  Nach  der  Leber  zu  ist 
er  ziemlich  gut,  aber  auch  nicht  mit  Sicherheit  abzugrenzen.  Zahlreiche 
Drüsen.  Keine  sicheren  Peritonealknötchen.  An  einer  Stelle  im  Dünn- 
darmmesenterium  zahlreiche,  dicht  aneinanderstehende  Knötchen,  so  daß 
die  Stelle  wie  bepudert  aussieht. 

Wegen  der  Verwachsungen  mit  dem  Pankreas  wird  nur  Gastro- 
enterostomie ausgeführt. 

Sektionsbefund:  Fast  faustgroßer  Tumor  der  Pylorusgegend.  Der 
Pylorus  ist  derart  durch  Geschwulstmasse  verengt,  daß  nur  mit  Mühe  die 
Spitze  des  kleinen  Fingers  eingeführt  werden  kann.  Die  retroperitonealen 
Lymphdrüsen  sind  vergrößert,  mit  Geschwulstmasse  infiltriert.  Beide  Ovarien, 
besonders  das  rechte,  zeigen  Krebsmetastasen. 

Drüsen  (Fig.  9) :  Das  große  Netz  und  Ligamentum  gastrocolicum  sind 
derart  geschrumpft  und  carcinomatös  infiltriert^  daß  das  Kolon  ganz  nahe 
an  den  Magen  gezogen  ist  In  der  geschrumpften  und  infiltrierten  Partie 
sind  aber  die  zweifellos  vollkommen  carcinomatös  degenerierten  subpy- 
lori sehen  Drüsen  nicht  zu  isolieren.  Nur  weiter  funduswärts  liegt  eine 
deutlich  kenntlich.  Sie  ist  jedoch  schon  makroskopisch  so  sicher  carcinomatös, 
daß  sie  nicht  untersucht  wird.  Von  ihr  zieht  ein  derber  Strang  zu  einer 
etwa  in  der  Mitte  der  großen  Kurvatur  gelegenen  Drüse  (Gruppe  7: 
5  X  ^  mm).  Sie  ist  derb,  zeigt  jedoch  mikroskopisch  nur  das  Bild  starker 
desquamativer  Lymphadenitis.  Der  derbe  zu  ihr  führende  Strang  wurde 
leider  nicht  mit  eingelegt,  weil  er  für  sicher  carcinomatös  gehalten  wurde. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


123 


An  der  kleinen  Kurvatur  liegen  ganze  Pakete  sehr  derber,  bis 
walnußgroßer  Drliaen,  die  schon  äußerlich  und  auf  dem  Durchschnitt  als 
carcinomatös  imponieren  und  daher  nicht  untersucht  werden.  Eine  nahe 
am  Tumor  gelegene  (Qruppe  6)  ist  ziemlich  weich  und  macht  den  Eindruck 
einer  tuberkulösen  Drüse.  Mikroskopisch  findet  sich  jedoch  nichts  für 
Tuberkulose  Charakteristisches,  aber  auch  nichts  für  Carcinom;  die  ganze 
Drüse  steht  im  Beginn  des  Zerfalles. 

Die  retropylorischen  Drüsen  sind  mit  dem  Tumor  fest  ver- 
wachsen und  sicher  carcinomatös.  Auch  das  kleine  Netz  ist  stark  ge- 
schrumpft. Die  in  der  Gegend  der  kleinen  Kurvatur  gelegenen 
Drüsen  bilden  mit  dem  Omentum  minus,  Pankreas  und  den  Drüsen  an 
der  Arteria  hepatica  ein  großes,  derbes  Paket,  so  daß  die  Zugehörigkeit 
einzelner  Drüsen 
nicht  immer  mit 
Sicherheit  festzu- 
stellen ist.  Immer- 
hin aber  läßt  sich 
unterscheiden,  daß 
außer  denen  der 
kleinen  Kurvatur 
auch  mehrere  su- 
prapankreati- 
sehe  und  hepa- 
tische stark  von 
Tumor  infiltriert 
sind.  In  einer  3  cm 
oberhalb  der  Car- 
dia  vor  dem  Oe- 
sophagus gele- 
genen weichen 
Drüse  von  19  X 
1 1  mm  (Gruppe  6) 
finden  sich  mi- 
kroskopisch doch 
einzelne  kleine 
Krebsherde. 

Die  Sakral- 
und  Lumbaidrüsen  sind  stark  vergrößert,  derb,  auf  dem  Durch- 
schnitt carcinomatös.  Von  6  mikroskopisch  untersuchten  Lumbal- 
drüsen  aus  der  Gegend  der  Abgangsstelle  der  Nierengefäße  ist  eine 
(Ghruppe  1:  18X8  ni^a)  käsig  zerfallen.  Die  anderen  (Gruppe  2,  3,  4: 
mit  Drüsen  von  16X10,  18X12,  16X5,  12X8  und  17X13  mm)  sind 
sämtlich  carcinomatös.  Die  beiden  ersten  Gruppen  davon  zeigen  sehr 
reichliche  Krebsentwickelung  und  enthalten  cystische,  mit  geronnenen 
Massen  und  Detritus  erfüllte  Räume.  In  der  dritten  Gruppe  sind  die 
Krebsherde  noch  sehr  klein;  oft  liegen  nur  einzelne  Zellen  hinterein- 
ander. 

Im  Mediastinum  und  im  Mesenterium  findet  sich  gleichfalls 
eine  Reihe  zweifellos  carcinomatöser  Lymphdrüsen. 

Das  Bild,  welches  der  Tumor  in  diesem  Falle  selbst  bietet:  außer- 
ordentliche Ausbreitungsenergie,  die  mit  rascher  Schrumpfung  und  sekun- 
därem Zerfalle  einhergeht,  tritt  uns  hier  auch  in  den  Drüsen  entgegen: 
weitgehende  Metastasen  und  rasch  eintretender  Zerfall. 


m  ak  rosk  op.  Ca  rcinom 

Fig.  9. 


124 


Renner, 


frelropylortsehj 


Fig.  10. 


Vni.  E.  K.     Jonrn.-No.  chir.  KUnik  165/1902. 

Befand  bei  der  Operation:  Magen  mit  den  Bauohdecken  verwachsen. 
Die  hintere  und  obere  Magenwand  ist  durch  einen  faustgroßen,  mit  dem 
Pankreas  verwachsenen  Tumor  der  Pylorusgegend  stark  fixiert.  Einige 
naheliegende   Drüsen   sind  infiltriert.     Mit  Bücksicht   auf  das   Alter   der 

Pat  und  die  Drü- 
senmetastase n 
wird  nur  Gastroen- 
terostomie vorge- 
nommen. 

Sektionsbefund  : 
In  der  Pylorusge- 
gend eine  faustgroße 
Geschwulst.  Nach 
Eröffnung  des  Ma- 
gens wölbt  sich  am 
Pylorus  eine  höcke- 
rige Geschwulst- 
masse portioartig  ge- 
gen das  Magenlumen 
vor.  Der  Pylorus  ist 
so  verengt,  daß  man 
mit  Mühe  den  kleinen 
Pinger  durchführen 
kann.  Die  Geschwulst 
ist  etwa  8  cm  lang. 
Mikroskopisch  : 
Carcinoma  simplex. 
An  der  Bursa  omen- 
talis  eine  haselnuß- 
große, mit  Ge- 
schwulstmasse infil- 
trierte Drüse.  Am 
Pankreaskopfe  ein 
walnußgroßer  Ge- 
schwulstknoten. 

Drüsen  (Fig.  10 
u.  11):    S ubpy lo- 
risch  werden    nur 
2  mäßig  derbe  Drü- 
sen, noch  im  Bereiche 
des  Tumors,  gefun- 
den (Gruppe  6 :  3,1  X 
2,8  und  13X7,1  mm). 
Die  größere  ist  rein 
hyperplastisch ,     die 
kleinere  normal. 
An  der  kleinen   Kurvatur   sitzen  eine  ganze  Reihe  (11)  kleiner, 
maßig  derber  Drüsen  von  6X3,   6X^,5,    13,5 XJ 4,6,    6X3,5,   4X2    bis 
6X^>  4X3,8,  4X3,5  nmi  (Gruppe  1  u.  2).      Sie  sind  fast  normal,   zum 
Teil  sehr  gefäßreich. 

Retropylorisch  liegt  eine  auffallend  große  Zahl  (6)  mäßig  derber 
Drüsen  von  8X3,5,  8X3,  7X4,  8X4,  6X4,  7X4  mm  (Gruppe  7). 
Sie  sind  alle  normal. 


UetaUM 

uaifc«cr««J 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  125 

Suprapankreatische  Drüsen.  Dicht  neben  dem  auch  mikro- 
skopisch sichergestellten  metastatisohen  Knoten  am  Pankreaskopfe  liegen 
4  Drüsen  (Gruppe  8  u.  3),  von  denen  jedoch  die  der  ersten  Oruppe  an- 
gehörenden (4X6  ^i^d  ^  X  ^  ^^^^^  ^^^  hyperplastisch  sind,  die  beiden  an- 
deren, stark  vergrößerten  (23^(^11  und  22X1*7  ^^)  dagegen  carcinomatös. 
Hier  ist  das  Lymphdrüsengewebe  bis  auf  schmale  Streifen  am  Bande 
durch  Cylinderzellenschläuche  und  -stränge  ersetzt. 

4  weitere  Drüsen  von  der  Mitte  und  dem  Pankreasschwanze  (Gruppe  9 : 
8X2,  2X2,  3X2  mm;  Gruppe  10:  10,5X6  mm)  sind  wieder  carcinom- 
freL     Letztere  bietet  das  Bild  der  desquamativen  Lymphadenitis. 

2  kardiale  Drüsen  von  6^(^4,6  und  6X*^»1  ^^  (Gruppe  4)  sind 
ebenfalls  frei.  In  der  einen  liegen  stark  erweiterte,  zum  Teil  thrombo- 
sierte  GefUße. 

3  hepatische  Drüsen  (Gruppe  5)  von  5,2X4,  ^^fiX^A  '^^ 
12,4X3  m™  bieten  nichts  Besonderes. 

Während  im  vorigen  Falle  die  Menge  und  Ausdehnung  der  Drüsen- 
metastasen überraschte,  ist  hier  bei  einem  ungef&hr  ebenso  großen  Tumor, 
welcher  auch  schon  in  seinem  Nachbarorgane  eine  große  Metastase  gesetzt 
hat,  gerade  das  umgekehrte  der  Fall:  Von  den  regionären  Drüsen  erster 
Station  ist  keine  erkrankt!  Von  den  subpylorischen  sind  allerdings  nur 
2  gefxinden  worden,  von  denen  an  der  kleinen  Kurvatur  dagegen  11.  Sie 
sind  nicht  einmal  erheblich  vergrößert  und  —  bis  auf  eine  Ausnahme  — 
in  ihrer  normalen  Struktur  kaum  verändert.  Ebenso  dio  subpylorischen 
Drüsen. 

Von  den  Drüsen  zweiter  Etappe  sind  nur  2  suprapankreatische,  welche 
ganz  in  der  Nähe  der  Pankreasmetastase  liegen,  carcinomatös  erkrankt, 
allerdings  hochgradig.  Sie  sind  aber  die  einzigen  überhaupt  in  diesem 
Falle  gefundenen  Drüsenmetastasen.  Und  doch  trugen  einige  bei  der 
Operation  für  carcinomatös  gehaltene  Drüsen  wenigstens  zu  dem  Entschlüsse 
bei,  nicht  zu  resezieren. 

ES.  G.  P.     Journ.-No.  chir.  Klinik  383/1902. 

In  vivo  fehlten  allgemeine  Drüsenschwellungen.  Befund  bei  der  Ope- 
ration: Ascites.  Omentum  majus  vollkommen  bis  auf  einen  perlschnur- 
artigen, der  großen  Kurvatur  anliegenden  Saum  geschrumpft,  welcher  mit 
kleinsten  Knötchen  durchsetzt  ist.  Drüsen  längs  der  kleinen  Kurvatur. 
Kleinste  Knötchen  auf  der  Leberoberfläche.  Daher  nur  Gastroentero- 
stomie. 

Sektionsbefund:  Apfelgroßer,  sehr  derber  Tumor  der  Pylorusgegend 
und  kleinen  Kurvatur.  Die  Magenwand  ist  außerordentlich  derb,  von 
einer  grauweißen  Geschwulstmasse  infiltriert.  Im  Pylorusring  selbst  ist 
die  Wand  2 — 3  cm  dick;  die  Geschwulst,  hier  außerordentlich  hart,  ver- 
engt das  Lumen  des  Pylorus  derart,  daß  nur  mit  Mühe  die  Kleinfinger- 
spitze  einzuführen  ist.  Das  Lumen  kann  jedoch  nicht  passiert  werden. 
An  der  Unterfläche  ist  der  Tumor  aufs  innigste  mit  dem  Pankreas  ver- 
wachsen. 

Mikroskopisch:  Der  Tumor  ist  außerordentlich  zellreich,  hat  wenig 
Stroma.  Er  breitet  sich  in  allen  Schichten  der  Magenwand  aus.  Me- 
dullarkrebs. 

Drüsen  (Fig.  12u.  13):  Subpylorisch:  Zeigefingerlang  vom  Pylorus 
entfernt  liegen  2  weiche  Drüsen  (Gruppe  5:  3,7  X^  i^^"^»  Gruppe  6: 
10X3,3  mm).  Die  erste  enthält  nur  einen  kleinen,  nur  auf  8  Schnitten 
sichtbaren  Herd.  Der  Randsinus  ist  frei.  Die  zweite  enthält  zahlreiche 
Herde.     Eine   etwa   halbwegs    von   hier  zum  Pylorus  liegende  derb  ange- 


126 


Benner, 


^    i 


Fig.  12. 


schwollene  Stelle  eines  Gef&ßes  (Gruppe  7)  ist  carcinomfrei.  Dicht  unter- 
halb des  Pylorus  liegen  3  verbackene,  kleine  derbe  Drüsen  von  4,5  X  &? 7, 
5,3X^)^1  ^)^X'^7^  TTiTTi  (Gruppe  8),  die  beiden  letzten  sind  normal,  auch 
ihre  Umgebung  carcinomfrei.     In   der  ersten  tritt  zonSUshst  im  9.  Schnitte 

in  einem  isoliert 
liegenden  Teile 
der  Drüse  Carci- 
nom    auf,    das  in 

den  folgenden 
Schnitten  an  Aus- 
dehnung gewinnt, 
bis  es  schließlich 
auch  auf  den  an- 
deren   Drüsen  teil 

übergeht,  dort 
aber  nur  geringe 
Ausdehnung    hat. 
Retropylo- 
risch  liegen  meh- 
rere kleine,  gelb- 
weiße, derbe  Drü- 
sen   (Gruppe   16: 
8,2X4,2,    6,9  X 
6,3,     6,7  X  7,8, 
7,6X46  mm).  Sie 
sind  sämtlich  car- 
cinomatös.  In  der 
ersten    ist    ein    Teil    der 
Drüse  fast  vollkommen  vom 
Tumor  ersetzt,  während  in 
anderen  die  Carcinoma  tose 
Infektion  erst  von  der  Peri- 
pherie    aus    fortschreitet. 
Doch  finden  sich  auch  im 
Innern  einzelne  Nester.  In 
einer  anderen  Drüse  liegt 
ihr   auf   der    einen   Seite 
carcinomatöses,  sehr  zell- 
reiches Gewebe  an,  gegen 
welches  sie  nicht  deutlich 
abgegrenzt  ist     Von  dort 
aus    ist    anscheinend    der 
Einbruch    in    die    Drüse 
erfolgt 

Pylorus  und  Pankreas 
sind  überhaupt  so  fest  ver- 
wachsen, daß  die  Drüsen  kaum  zu  isolieren  sind.  Die  Arteria  coronaria 
ventriculi  dextra  ist  ganz  in  Tumor  und  Drüsen  eingemauert.  Hart  an 
der  Grenze  der  Geschwulst  liegt  an  der  kleinen  Kurvatur  eine  große 
(10X10)2  mm)  derbe  Drüse,  welche  stark  carcinomatös  ist  (Gruppe  1). 
Die  Carcinomzellen  sehen  zum  Teile  hy dropisch  aus,  haben  genau  den- 
selben Charakter  und  Anordnung,  wie  im  Primärtumor. 

Gruppe  2:   Eine  etwas  weichere,  hoch  oben  an  der  kleinen  Kurvatur 


/*. 


Fig.  13. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  127 

gelegene  Drüse  von  13,2  X  %^  mm.  An  einem  Pole  ist  die  Drüse  von 
einem  dicken  Lager  sehr  spindelzellreichen  Gewebes  umgeben.  Hier  ist 
auch  die  Abgrenzung  nach  der  Drüse  zu  keine  scharfe.  In  dem  er- 
wähnten Bindegewebe  treten  auch  Carcinomzellen  an  die  Drüse  heran, 
die  aber  selbst  noch  nicht  affiziert,  sondern  ziemlich  normal  erscheint. 

Eine  fast  in  der  Höhe  der  Cardia  gelegene  derbe  Drüse  von  8,2  X  6)^  izun 
(Gruppe  3)  ist  vollkommen  carcinomatös. 

Im  übrigen  liegen  an  der  kleinen  Kurvatur  noch  eine  Unmenge  sehr 
derber,  schon  makroskopisch  sicher  carcinomatöser  Drüsen,  mit  dem  Tumor 
verwachsen. 

Präkardiale  Drüsen  sind  nicht  zu  finden.  Etwas  höher,  vor  dem 
Oesophagus,  liegen  geschwollene,  weiche,  aufwärts  immer  größer  werdende 
anthrakotische  Drüsen. 

Von  7  suprapankrea tischen  Drüsen  (Gruppe  10 — 14:  2,2X6,1, 
11,1X6,2,  5,7X3,6,  4,9X6,7,  6,5X11,8  7,3X8,^,  12,4X^,4  mm)  sind 
5  carcinomatös,  2  entzündlich. 

Bei  3  hepatischen  Drüsen  (Gruppe  4:  10X6,3,  1,1X^,6, 
5,8  X  14  mm)  handelt  es  sich  nur  um  hochgradigen  desquamativen  Katarrh 
der  Lymphsinus. 

Eine   Lumbaidrüse   (Gruppe  16:   7,9X6,2  mm)   ist   carcinomatös. 

Eine  Supraklavikulardrüse  von  jeder  Seite  (cervicales  pro- 
fandae  inferiores  nach  Sakata  [8])  ist  carcinomfrei,  aber  stark  entzündlich 
(Gruppe  17  u.  18:  9X7,6  und  7X6  mm).  Die  Bronchialdrüsen  sind 
groß,  weich,  stark  anthrakotisch. 

Die  Befunde  ganz  kleiner  Herde  in  Gruppe  5  und  8  beweisen  die 
Notwendigkeit  der  Untersuchung  recht  vieler  Schnitte.  Jedenfalls  dürfte 
man  aus  einem  nur  an  wenigen  Schnitten  gewonnenen  negativen  Befunde 
keinen  Schluß  auf  die  Litegrität  einer  Drüse  ziehen,  wie  das  bei  früheren 
Untersuchungen  vielfach  geschehen  ist. 

Es  folgen  jetzt  die  6  nicht  operierten  Fälle. 

X.  J.  W.     Aufgenommen  in  die  Kgl.  med.  Klinik  am  11.  Juli  1901. 

In  vivo  fanden  sich  in  der  rechten  Halsseite  und  der  linken  Achsel- 
höhle erbsengroße  Lymphdrüsen. 

Sektionsbefund:  An  der  Gardia  sitzt,  der  hinteren  Wand  angehörend, 
eine  etwa  talergroi^e,  rundliche  Geschwürsfläche,  in  deren  Bereich  die 
Magenwand  leicht  verdickt  und  sehr  derb  anzufühlen  ist.  Umgeben  ist 
diese  Stelle  von  einem  etwa  2  mm  hohen,  leicht  höckerigen,  wallartigen 
Rande.  Hält  man  den  aufgeschnittenen  Magen  gegen  das  Licht,  so  sieht 
man  —  besonders  an  der  Vorderwand  —  vom  Tumor  aus  pyloruswärts 
Stränge  verlaufen,  welche  sich  auch  etwas  derber  anfühlen,  als  die  um- 
gebende Schleimhaut.  Einer  derselben  endet  in  einem  kleinen,  länglichen, 
gut  gegen  das  Licht  sichtbaren,  weniger  deutlich  fühlbaren,  flachen  Knoten. 

Mikroskopisch :  Außerordentlich  zellreicher  Tumor.  Die  Carcinomzellen 
liegen  zum  Teil  in  kleinen  Alveolen,  zum  Teil  in  ganz  kleinen  Gruppen 
oder  einzeln,  von  feinsten  Bindegewebsfasern  umspannt,  so  daß  man  zuerst 
an  Sarkom  denken  könnte. 

Drüsen  (Fig.  14  und  15).  3  kardiale  Drüsen  (Gruppe  5  und  7: 
4X4,  5X^  ^nd  8X^  °^^)  BÜid  carcinomatös.  In  der  unmittelbaren 
Umgebung  der  beiden  letzten  schieben  sich  viele  Zellstränge  und  einzelne 
Carcinomzellen  vor. 

An  der  kleinen  Kurvatur  sind  die  Drüsen  kaum  vergrößert  und 
schwer  zu  finden.     Etwa  2  cm  abwärts  vom  Tumor  liegen  2  carcinomatöse 


128 


Renner, 


^fTi^Htek.l 


Fig.  14. 


Drüsen  von  4X2  und  6X4  mm  (Gruppe  6).     In   der   einen  ist  deutlich 
das  Fortschreiten  des  Carcinoms  vom  Bandsinus  aus  zu  beobachten. 

2  retropylorische  Drüsen  von  2,6X6)2  und  7,2X5  mm  (Gruppe  9) 
sind  auffallenderweise  ebenfalls  carcinomatös.     Wenn  hier  schon  nach  der 

Lage  der  Drüsen  eine 
Infektion  durch  kon- 
tinuierliches Wachs- 
tum unwahrschein- 
lich war,  so  spricht 
auch  noch  der  Um- 
stand für  embolische 
Infektion,  daB  die 
Umgebung  der  einen 
Drüse  frei  ist,  wäh- 
rend im  Bandsinus 
ziemlich  viel  Krebs- 
herde liegen.  2  etwa 
in  der  Mitte  des  obe- 
ren Pankreasran- 
des  gelegene  Drüsen 

von  5X2,5  und  2,2X 
2  mm  (Gruppe  8)  sind 
frei    von    Carcinom. 
Ein    weiteres ,     aus 
dieser   Gegend    ein- 
gelegtes Stück   erweist   sich 
nicht  als  Drüse,  sondern  als 
retikuläres  Gewebe,  zwischen 

dessen  Bindegewebszügen 
massenhaft  Carcinomzellen 
liegen.  3  am  Pankreas- 
kopfe  (Gruppe  10)  gelegene 
Drüsen  von  4,6  X  2,7,  4,7  X 
4,5  und  7,6X6,6  mm  sind 
carcinomatös.  Bei  der  einen 
liegen  wieder  im  Bandsinus 
größere,  nach  innen  zu  immer 
kleiner  werdende  Krebsherde 

in  alveolärer  Anordnung, 
während  die  Umgebung  der 
Drüse  frei  ist. 

4Mesenterialdrüsen 
(Gruppe  11)  vom  Duodenum 
(6,5X3,2  und  4,6X4  mm), 
Gruppe  12  von  der  Badix  mes- 
enterii  {(ofi  X  3)2  und  5,5  X  2,2  mm)  sind  gleichfalls  carcinomatös. 

Daß  auch  weit  entfernte  Drüsen  hier  ausgedehnt  carcinomatös  erkrankt 
sind,  beweisen  die  positiven  Befunde  bei  8ßronchialdrü8en  (Gruppe  4, 
2,  3,  1)  von  10X5,  6X3,  9X6,  7X2,  9X6,  8X5,  3X4,  7X4  mm. 
Die  so  außerordentliche  Verbreitung  der  Drüsenmetastasen  bei  Bestehen 
eines  kleinen  Cardiatumors  verdient  Beachtung.  Daß  die  Drüsen  der  kleinen 
Kurvatur  infiziert  sind,  ist  noch  am  ehesten  erklärlich,  da  die  so  hoch  ge- 
legenen Drüsen  wohl  noch  auf  direktem  Wege  infiziert  sein  können. 


Fig.  15. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


129 


Für  die  Erklärung  der  Metastasen  in  den  retropylorischen  und  supra- 
pankreatischen  Drüsen  glaube  ich  hier  ohne  die  Annahme  des  retrograden 
Transportes  auskommen  zu  können.  Wie  wir  gesehen  haben,  entsandte 
der  Tumor  feinste,  bei  gewöhnlicher  Betrachtung  kaum  zu  bemerkende 
Ausläufer  weit  pyloruswärts,  wo  sogar  dann  noch  wieder  eine  flache,  rund- 
liche Infiltration  zu  konstatieren  war.  Von  dort  aus  kann  zwangslos  die 
Infektion  jener  Gruppen  erklärt  werden. 

Auf  diese  Weise  wird  man  auch  manchen  anderen  Fall  von  Lymph- 
drüsenmetastase erklären  können.  Denn  das  Vorkommen  solcher  Oeschwulst- 
ausläufer  ist  gewiß  viel  häufiger,  als  man  annimmt  Auch  Bobrmann  (3) 
betont  ihr  Vorkommen  und  meint,  daß  scheinbar  isoliert  liegende  Knötchen 
durch  einen  oder  mehrere  ganz  feine  Stränge  mit  dem  primären  Garcinom 
in  Verbindung  stehen.  Trotzdem  aber  kann  ich  mich  nicht  zu  Borbmanns 
Ansicht  bekennen,  der  sogar  die  Metastasierung  der  Lymphdrüsen  a  1  s  i  n 
der  Regel  durch  solche  kontinuierlich  in  sie  hineingewachsene  Stränge 
verursacht  bezeichnet.  Auf  diesen  Punkt  konmie  ich  am  Schlüsse  der 
Arbeit  noch  zu  sprechen. 

XL  A.  B.     Aufgenommen  in  die  med.  Klinik  am  8.  Juli  190L 
In  vivo  waren  an  der  linken  Seite  des  Nackens,  in  der  linken  Achsel- 
höhle, in  beiden  Leistenbeugen  indolente,  harte,  vergrößerte  Lymphdrüsen 
zu  fühlen. 

Sektionsbefnnd:  An  der  Cardia  sitzt  ungefähr  1  cm  unterhalb  der 
Magenschleimhautgrenze  ein  taubeneigroßer  Geschwulstknoten  mit  breiter 
Basis  der  Magenwand  auf,  erhebt  sich  etwa  2  cm  auf  derselben,  hat  kreis- 
runde Form  und  steile  Bänder.  In  der  Mitte  seiner  Oberfläche  ist  das 
Oeschwulstgewebe  zerfallen.  Der  Tumor  selbst  grenzt  sich  gegen  die  um- 
gebende hintere  Magenwand  schroff  ab.  Unter  ihm  finden  sich  2  alte 
strahlige  Narben.  12  cm  von  diesem  ersten  Tumor  entfernt  sitzt  ein 
zweiter,  fast  gleich- 
großer der  Magen- 
wand auf.  Er  ist 
vom  Pylorus  noch 
4  cm  entfernt  und 
hat  annähernd  glei- 
che Form  wie  der 
erste,  nur  daß  seine 
Wände  sich  flach 
Dach  der  Magenwand 
senken  und  daselbst 
in  eine  etwa  2  bis 
3  mm  hohe  Ver- 
dickung der  umge- 
benden Magen- 
schleimhaut überge- 
hen. Pylorus  ganz 
frei,  für  3  Finger 
durchgängig.  Auch 
dieser  zweite  Tumor 
gehört  größtenteils 
der  hinteren  Magen- 
wand an,  erstreckt 
sich  nur  zum  kleinen 

Mlttdl.  a.  4.  OrnuffvUeteii  d.  Madisiii  a.  Chirnrgie.    2m.  Bd, 


•oshcpüscK  earcmematäß. 


Fig.  16. 


130  Renner, 

Teil  auf  die  Vorderwand,  indem  er  die  große  Kurvatur  um  ein  weniges 
überschreitet. 

Zahlreiche  Lebermetastasen. 

Mikroskopisch:  Cardiatumor:  In  der  Hauptsache  alveoläre  An- 
ordnung, zum  Teil  auch  Zellschläuche.  Wenig  Bindegewebe.  Im  Zentrum 
der  Alveolen  stellenweise  Nekrose.  Tumor  der  Pars  praepylorica: 
Typisch  alveolärer  Bau  (Carcinoma  simplex).  An  einzelnen  Stellen  sieht 
man  größere  und  kleinere,  mit  geronnenen  Massen  ausgefüllte  und  mit 
einschichtigem  Epithel  bekleidete  Hohlräume,  zwischen  denen  sich  Carcinom- 
alveolen  vorschieben.    Es  sind  anscheinend  stark  ausgedehnte  Magendrüsen. 

Drüsen  (Fig.  16):    4  kardiale   Drüsen   (Gruppe  3)   von   5,6X^,8, 

7.7  X  3)7,  10,6  X  5>6)  ^fi  X  ^fi  ^"^^  sind  nur  entzündlich  hy  per  plastisch, 
hämorrhagisch. 

Von  den  Drüsen  der  kleinen  Kurvatur  bietet  eine  mehr  cardia- 
wärts  gelegene  Gruppe  4  das  Bild  hämorrhagischer  Lymphadenitis  mit 
starker  katarrhalischer  Desquamation  (15,2  X  ^^  ^^^  ^^y^  X  ^)^  mm).  Die 
andere,  dem  Pylorus  näher  gelegene  Gruppe  2  weist  2  oarcinomatöse,  zum 
Teil  degenerierte  Drüsen  von  4,3X9»!  ^^^  ^j^X*^  °"^  *^^- 

Von  der  subpylorischen  Gruppe  1  sind  2  carcinomatös  (7,1X^,7 
und  8  X  ^^  mm),  die  dritte  (3,9  X  ^fi  ^^)  ^^^  ziemlich  normal.  Mehrere 
andere  subpylorische  Drüsen  scheinen  makroskopisch  schon  sicher  carci- 
nomatös. 

2  Mesenterialdrüsen  (Gruppe  6)  von  9,1  X^)^  ^^^  ^»^X^^  ^^ 
sind  stark  befallen. 

Bei  dem  Fehlen  der  Metastasen  in  den  kardialen  Lymphdrüsen  ist 
man  geneigt,  den  Cardiatumor,  obwohl  er  ein  wenig  größer  als  der  prä- 
pylorische  ist,  für  den  sekundären  zu  halten,  der  noch  nicht  zu  Metastasen 
geführt  hat  Hierfür  würden  vielleicht  auch  die  zahlreichen  Lebermeta- 
stasen sprechen.  Die  Glandulae  hepaticae  sind  in  diesem  Falle  leider 
der  Untersuchung  verloren  gegangen. 

XIT.  K.  B.     Aufgenommen  in  die  med.  Klinik  am  6.  Juni  1901. 
In    vivo   wurden   kleine,   harte   Femoral-   und   Inguinaldrüsen    beiderseits, 
am  Halse  keine  geschwollenen  Drüsen  gefühlt. 

Sektionsbefund:  Ca.  faustgroßer  Tumor  der  kleinen  Kurvatur.  Die 
ganze  Wand  der  kleinen  Kurvatur  ist  in  der  dem  Pylorus  näher  ge- 
legenen Hälfte  durch  eine  an  mehreren  Stellen  tief  ulcerierte  Geschwulst, 
welche  fast  bis  an  den  Pylorus  heranreicht,  stark  verdickt.  Der  Tumor 
ist  mit  dem  kleinen  Netz  untrennbar  verwachsen,  und  dieses  so  ge- 
schrumpft, daß  Cardia  und  Pylorus  dabei  stark  aneinander  herangezogen  sind. 

Mikroskopisch:  Cylinderzellencarcinom.     Sehr  viele  Mitosen. 

Drüsen  (Fig.  17  u.  18):  Die  subpylorische  Gruppe  7  enthält 
am  meisten  funduswärts  eine  Drüse  mit  entzündlicher  Hyperplasie  (7,9  X 

4.8  mm).  Dann  folgt  eine  vollkommen  mit  Cylinderepithelschläuchen  an- 
gefüllte Drüse  (3,6  X^)^  ii^°^)-  Wiederum  auf  eine  stark  entzündliche 
mit  zentraler  Erweichung  (5,2  X  ^ß  ™™)  folgen  3  oarcinomatöse  Drüsen 
(3,9X9  ^^^  ö,2X^  TOiim).  Auffallend  ist,  daß  in  fast  allen  diesen  carci- 
nomatösen  Drüsen  die  Ersetzung  des  Drüsengewebes  durch  Tumor  eine 
80  vollständige  ist,  daß  man  nach  dem  mikroskopischen  Bilde  zuerst  kaum 
auf  den  Gedanken  kommen  würde,  Drüsen  vor  sich  zu  haben,  wenn  nicht 
die  rundliche  Abgrenzung  mit  einer  dicken,  fibrösen  Kapsel  und  vor  allem 
der  makroskopische  Befund  in  situ  die  Diagnose  stützten.  CuNifeo  (2) 
skizziert  diese  Schwierigkeit  sehr  treffend:   „On  en  arrive  alors   k   ce  r^- 


Die  L3nuph(irüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


131 


soltat  paradoxal,  d'etre  gSii6  pour  af£rmer  Texistence  de  l^sions  ganglion- 
naires  dans  les  cas  oü  ces  l^sions  pr^sentent  leur  maximum  d'intensitÄ.^ 
Die  Carcinomzellschläuche  sind,  wo  sie  nicht  dicht  aneinanderliegend  doroh 
breite  Züge  fibrösen  Qewebes  getrennt,  das  meist  auch  einen  dicken  Wall 


hmttr  dir  Cmrdia 


fr0tro]^ori$ck>J 


Fig.  17. 


um  die  ganze  Drüse  bildet.  Ein  Vergleich  mit  anderen  Drüsen,  in  denen 
neben  solchen  Teilen  noch  Reste  von  Drüsensubstanz  vorhanden  sind, 
nimmt  jeden  Zweifel,  daß  es  sich  auch  hier  um  Drüsen  und  nicht  einfach 
um  Tumormetastasen  im 
Netze  handelt. 

2  retropylorische 
Drüsen  (Gruppe  6)  von 
9,4  X  7,6  und  3,1  X  3,5  mm) 
befinden  sich  im  Stadium 
entzündlicher    Hyperplasie. 

An  der  kleinen  Kur- 
vatur ist  die  Verschmel- 
zuQg  des  infiltrierten  kleinen 
Netzes  mit  dem  Tumor  eine 
80  innige,  daß  Drüsen  nicht 
mit  Sicherheit  zu  isolieren 
sind.  Von  2  hier  entfernten 
und  makroskopisch  für  Drü-  Fig.  18. 

sen    gehaltenen    Knötchen 
(Gruppe  4)  handelt  es  sich 

bei  dem  einen  um  eine  Netzmetastase.  In  dem  anderen  sind  auch  keine 
Follikel  sichtbar.  Sehr  dicke  Bindegewebszüge  begrenzen  rundliche  oder 
ovale  Käume,  welche  teils  von  Rundzellen,  teils  von  Carcinomzellschläuchen, 
manchmal  auch  von  homogenen  Massen  erfüllt  sind.  Rechts  neben  der 
Cardia  liegen  2  Drüsen  (Gruppe  5)  von  5,3  X  7,7  und  7,5  X  ^ß  nun.  Sie 
sind  stark  entzündlich. 

9* 


132 


Renner, 


Hinter  der  Cardia  liegt  eine  etwas  vergrößerte  derbe  Drüse  (Gruppe  3) 
von  7,9  X  '7  ™™*  '^i^  ähnelt  den  vorigen,  ist  aber  carcinomatös.  Von 
den  Buprapankreatischen  sind  nur  einige  am  Schwänze  des  Pankreas 
zu  isolieren,  da  dieses  im  Mittelteile  mit  dem  Tumor  untrennbar  ver- 
wachsen ist  (Gruppe  2 :  4,8  X  3,8  und  5,6  X  ö»ß  ™™)'  Beide  sind  stark  ent- 
zündlich hyperpla- 
stisch. 

Die  Gruppe  8 
der  .  hepatischen 
Drüsen :  (4  Drüsen 
von  6X5,  6,1  X 
12,1,  6,7X10,5, 
6,2X6,1  mm)  sind 
frei  von  Carcinom, 
aber  entzündlich. 
Eine  davon  ist  stark 
schwarz  pigmen- 
tiert. Die  Gruppe  1 
von  3  Mediasti- 
naldrüsen  8  cm 
über  dem  Zwerch- 
fell rechts  von  der 
Aorta  (4,2  X  4,2, 
8  X  3,8  und  7,9  X 
3,9  mm)  zeigt  fi- 
bröse Hyperplasie. 


Fig.  19. 


XIILW.H.  Aufgenom- 
men in  die  med.  Klinik  am 
23.  Sept.  1901. 

Sektionsdiagnose :  Am 
Uebergange  der  Cardia  in 
den  Magen  befindet  sich  eine 
große  Geschwulstmasse,  wel- 
che sich  von  hier  längs  der 
kleinen  Kurvatur  bis  zum 
Pylorus  fortsetzt.  Man  sieht 
an  der  vorderen  und  hinteren 
Magenwand  eine  Menge  kar- 
toffelgroßer Geschwulstkno- 
ten frei  in  das  Magenlumen 
ragend,  so  daß  die  kleine 
Kurvatur  als  tiefe  Rinne 
zwischen  Vorder-  und  Hinter- 
wand verläuft.  1  cm  vom  Anfange  des  Duodenum  entfernt  hört  die 
Geschwulst  mit  wallartigem  Rande  auf,  so  daß  der  Pylorusring  frei  bleibt. 
Auf  ihrer  Höhe  sind  die  Geschwulstknoten  in  eine  schmierige,  grauweiße 
Masse  umgewandelt. 

Drüsen  (Fig.  19  u.  20);  Die  subpylorische  Gruppe  2  besteht  aus 
3  weichen  Drüsen  von  3,9X10,  8,8X5,^:,  10,8X6,7  mm.  Hier  finden 
sich  zum  Teil  nur  kleine  Herde.  Die  Carcinomzellen  sind  in  Cylinder- 
epithelschläuchen  mit  teilweise  sehr  weitem  Lumen  angeordnet. 

Die    retropylorische    Gruppe    3    bilden    3    derbe    Drüsen    von 


Fig.  20. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  138 

4,1  X  ö,9,  3,8  X  4,7  und  6,6  X  ö,6  mm.  Die  ersten  beiden  sind  carci- 
nomatös.  Die  dritte  hat  anf  der  einen  Seite  einen  dicken,  kleinzellig  in 
mehreren  Lagen  infiltrierten  Wall,  in  welchem  keine  Follikel  erkenn- 
bar sind. 

Eine  weitere  retropylorische  Drüse  (Gruppe  10:  3,1  X  ^»^  ^^^^^  ^^^ 
entzündlich. 

Gruppen  der  kleinen  Kurvatur: 

6)  nahe  dem  Pylorus  2  carcinomatöse  Drüsen  von  6,7  X  ^i^  ^uid 
6,2X10  mm; 

7)  2  sehr  stark  carcinomatöse  Drüsen  mehr  von  der  Mitte  der  kleinen 
Kurvatur   (die  eine  ist  weich,  fast  breiig,   3,8  X  6)5  i^^d  8,4  X  10,7  mm) ; 

8)  eine  sehr  weiche  Drüse   weiter   cardiawärts   (6,6  X  10,2  mm)   und 

9)  eine  breiweiche  Drüse,  dicht  unterhalb  der  Cardia  (6,8  X  10,1  mm), 
zeigen  kaum  noch  eine  Spur  von  Drüsengewebe;  auch  in  der  Umgebung 
liegen  Krebsherde.  Handbreit  über  der  Cardia  vor  dem  Oesophagus  liegen 
2  vergrößerte  Drüsen  (Gruppe  1 :  6,2  X  6»3  und  4,9  X  '^  ^^)i  welche  ziem- 
lich normal  sind.  An  der  Hinterwand,  2  Finger  breit  unter  der  Cardia, 
liegt   eine  mäßig   derbe,   mikroskopisch  normale  Drüse  von  6,6  X  ^A  °^^« 

2  mäßig  derbe,  suprapankreatische  Drüsen  (Gruppe  11:  7,8X^5 
und  6,4X5  13^^^)  s^Q^  ^^^^  ^^^  Carcinom.  An  den  zur  Leber  ziehenden 
Gefäßen  liegt  die  Gruppe  6  mit  4  mäßig  derben  Drüsen  von  3,6  X  5,1 1 
6,1X4,1,  3,3X3,7,  2,3X3,3  mm.  Alle  4  sind  nur  diffus  ferbbar,  so 
daß  eine  sichere  Diagnose  nicht  zu  stellen  ist;  eine  ist  krebsverdächtig. 
2  Drüsen  und  ein  Paket  von  4  kleineren  (Gruppe  4)  vom  Mesocolon 
zeigen  nur  starke  katarrhalische  Desquamation  (4,8  X  ^i^»  ^fi  X  ^fii  ^y^  X 
6,1  mm).  Endlich  wurde  noch  ein  Gefllßstrang  aus  der  Gegend  des  Ductus 
thoracicus  untersucht,  Erwies  sich  aber  vollkommen  frei  von  Krebs. 

Bemerkenswert  ist  die  Beschränkung  der  Metastasen  des  so  ausge- 
dehnten und  gewiß  schon  lange  bestehenden  Tumors  auf  die  streng 
regionären  Drüsen.  Ferner  erscheint  es  wichtig  für  Operationsbefunde, 
daß  so  weich  und  fast  breiig  aussehende  Drüsen,  wie  sie  hier  mehrfach 
vorkamen  (Gruppe  7,  8,  9),  vollkommen  carcinomatös  degeneriert  sein 
können. 

XIV.  K.  B.     Aufgenommen  in  die  med.  Klinik  am  30.  Jan.  1902. 

Sektionsbefund:  Der  Pylorus  ist  Sitz  eines  ihn  vollkommen  ein- 
nehmenden zirkulären  Tumors.  Seine  Beschaffenheit  ist  derb,  markig, 
die  Oberfläche  unregelmäßig  polypös.  Vom  ringförmigen  Tumor  schiebt 
sich  noch  ein  apfelfÖrmiger,  blumenkohlartiger  Keil  nach  vorn  und  oben 
vor.  Seine  Konsistenz  ist  ebenfalls  derb  markig.  Die  Serosabekleidung 
der  vorderen  Magenfläche  zeigt,  ungefllhr  der  Mitte  des  Tumors  ent- 
sprechend, einen  markstückgroßen  Defekt.  Hier  ist  das  Gewebe  bröcklig, 
der  tastende  Finger  kann  tief  durch  die  Magenwand  gegen  das  Lumen 
vordringen,  ohne  daß  eine  gröbere  Kommunikation  von  innen  nach  außen 
besteht  Die  Stenose  des  Pylorus  ist  so  erheblich,  daß  man  gerade  mit 
dem  Zeigefinger  passieren  kann. 

Drüsen  (Fig.  2 1  u.  22) :  Die  subpylorisch  gelegenen  Gruppen  3  und  1 
(6  Drüsen  von  4,1X3,5,  2,5X3,5,  5X^,  ^X^,  8X5  und  11X8  mm) 
sind  frei  von  Carcinom,  weisen  aber  zum  Teil  katarrhalische  Desqua- 
mation auf.  6  mäßig  derbe  Drüsen  an  der  kleinen  Kurvatur 
(Gruppe  5:  12  X  12,  8  X  7,  9  X  10,  8  X  9,  6,5  X  5,  9,1  X  6  mm)  sind 
krebsfrei,  ebenso  Gruppe  2  vor  der  Cardia  (18  X  1^  und  9X^  mm). 
Von    suprapankrea tischen    Drüsen    wurden    3    von    der    medialen 


134 


Renner, 


(Gruppe  6),  3  von  der  lienalen  Seite  (Gruppe  4)  untersucht  und  sind  alle 
krebsfrei  (10,6  X  6,  7  X  3,6,  5X2,  6,5  X  4,  10  X  8  mm).  Die  Glan- 
dulae hepaticae  konnten  wegen  der  zwischen  Leber  und  Milz  be- 
stehenden   Verwachsungen,    welche   zu   lösen   Sammlungsinteresse    verbot, 

nicht  isoliert  werden. 
Dieser  Fall  von 
vollkommen  fehlen- 
den Drüsenmetasta- 
sen dürfte  eine  sehr 
große  Seltenheit  bil- 
den. Lbnobmann  hat 
unter  seinen  21  Fäl- 
len zwar  auch  einen 
(11)  von  Drüsenme- 
tastasen ganz  freien. 
Da  in  seinem  Falle 
aber  nur  subpylori- 
sche  und  Drüsen  der 
kleinen  Kurvatur  zur 
Untersuchung  ka- 
men, kann  man  ihn 
nicht  als  vollbewei- 
send ansehen. 

XV.  S.S.  Journ.- 
No.   Chirurg.  Klinik 
212/1902. 
In    vivo    wurden    ge- 
schwollene    Drüsen     nicht 
gefühlt : 

Sektionsdiagnose:  Der 
Magen  zeigt  an  der  großen 
Kurvatur  eine  ganz  diffxise 

Tumorinfiltxation  von 
speckigem,  grauweißen  Aus- 
sehen. An  der  Cardia  macht 
die  Infiltration  mit  scharfer 
Grenze  Halt.  Die  infiltrierte 
Schleimhaut  engt  das  kar- 
diale Lumen  in  großen  Wül- 
sten höchstgradig  ein.  Auch 
am  Pylorus  macht  die  In- 
filtration   deutlich    an    der 

Magen-Duodenalgrenze 
Halt.  An  der  Vorderwand 
ist  vom  iPylorus  ein  fünf- 
markstückgroßer Bezirk  frei  von  Infiltration.  Großes  und  kleines  Netz  sind 
stark  geschrumpft  und  carcinomatös  infiltriert  Neben  der  Infiltration  ist 
auch  starke  Ulceration  vorhanden,  besonders  im  Fundus,  wo  sie  so  tief 
geht,  daß  Perforation  nur  durch  Verlötung  mit  Nachbarorganen  vermieden 
ist.  Die  Drüsen  an  der  großen  und  kleinen  Kurvatur,  im  Mesenterium, 
an  der  Porta  hepatis,  in  der  Lumbaigegend  und  oberhalb  des  Pankreas 
sind  vergrößert  und  markig  infiltriert.     Peritonealmetastasen. 


Fig.  21. 


Fig.  22. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 


136 


Drüsen   (Fig.    23  u.   24):    Da   die   regionären   Drüsen    schon   makro- 
skopisch carcinomatös  erscheinen,    werden    nur  einige  Proben   untersucht. 
Die   subpylorischen    sind    derb,    vergrößert,    aber  zum  Teil   ne- 


mair0sk»fCarc 


i 
Fig.  23. 


krotisch.  Ein  Stück  einer  solchen  ist  (Gruppe  5:9X7  mm)  stark  car- 
cinomatös. Die  Cardiadrüsen  sind  nicht  zu  isolieren.  Von  2  supra- 
pankreatischen  (Gruppe2) 
ist  eine  carcinomatös  ( 1 5  X  ^^ 
und  16X11  mm). 

2  hepatische  Drüsen 
(Gh-uppe  3:11  Xö  und  Gruppe 
4:  19  X  '7  mm)  sind  krebsfrei, 
aber     fibrös    hyperplastisch. 

Eine  Lumbaidrüse 
aus  der  Nierengegend 
(Gruppe  9 :  9  X  3,5  mm)  ent- 
hält ziemlich  zahlreiche  kleine 
Krebsherde* 

Von  5  Bronchial- 
d  r  ti  8  e  n  (Gruppen  7,  6, 1  mit 

8X5,5,  5X3,  12X9,  lOX 
9  mm)  sind  nur  t  in  Höhe  des 

unteren     Schilddrüsenrandes 

carcinomatös,  allerdings  stark. 

Eine    Doppeldrüse    aus    der    Gruppe    8    (Glandulae    clav.    pro  f. 
8up.)  von  11,5  X  4:  und  8  X  ^  ^^  ^^t  normal. 

Während    in  diesem  Falle    Ausdehnung    und   Sitz    des    Primärtumors 
ftuBt  die  gleichen  sind  wie  im  Falle  XTT,   besteht   doch  ein  großer  Unter- 


Fig.  24. 


136  Benner, 

schied  zwischen  beiden  in  Bezug  auf  Drüsenmetastasen :  Dort  Beschränkong 
auf  die  streng  regionären  Drüsen  erster  Station,  hier  außerordentlich 
weitgehende  Metastasierung,  bis  zum  Halse  hinauf,  außerdem  auch  Peri- 
tonealmetastasen. 

Betrachten  wir  nun  die  vorliegenden  Untersuchungsbefunde  nach 
den  eingangs  erwähnten  Gesichtspunkten,  so  ergibt  sich  folgendes: 

1)  Aus  der  Größe  und  Konsistenz  der  Drüsen  ist  ein  unbedingter 
Schluß  auf  Vorhandensein  oder  Fehlen  carcinomatöser  Infektion  nicht 
ohne  weiteres  zulässig.  Natürlich  wird  man  oft,  wie  ich  es  auch  mehr- 
fach getan  habe,  wenn  die  Drüsen  groß,  sehr  derb,  höckerig  sind,  auf 
dem  Durchschnitt  markig  aussehen,  ohne  weiteres  sagen  dürfen,  daß 
sie  carcinomatös  sind.  Andererseits  aber  können  sehr  große  Drüsen 
—  ich  spreche  hier  nur  von  solchen,  welche  die  Lymphe  aus  einem 
carcinomatösen  Gebiete  aufnehmen  —  vollkommen  frei  von  Carcinom, 
ja  sogar  manchmal  ^frei  von  entzündlichen  Erscheinungen  sein. 

Es  drängt  sich  da  die  Frage  auf,  welche  Drüsen  soll  man  als 
deutlich  vergrößert  bezeichnen?  Lengemann  hat  als  Mindestmaß  dafür 
einen  Längsdurchmesser  von  10  mm,  bei  querem  Durchmesser  von 
5  mm,  oder  bei  rundlichen  Drüsen  6X6  mm  angesehen.  Natürlich 
ist  es  sehr  mißlich,  überhaupt  ein  Maß  aufzustellen,  doch  glaube  ich 
es  zur  exakten  Beantwortung  obiger  Frage  tun  zu  sollen,  da  man  noch 
oft  genug  eine  große  Drüse  als  mindestens  sehr  verdächtig,  ganz  kleine 
als  unverdächtig  bezeichnen  sieht.  Ich  habe  mir  nun  die  Mühe  ge- 
nommen, aus  einer  großen  Anzahl  von  Drüsen,  die  den  verschiedensten 
Gebieten  entstammen,  einen  Durchschnitt  zu  ziehen,  indem  ich  an 
den  größten  Schnitten  jeder  Drüse  beide  Durchmesser  multiplizierte, 
also  ungefähr  den  Flächeninhalt  des  Durchschnittes  nahm.  Allerdings 
vernachlässigte  ich  hierbei  die  dritte  Dimension,  was  wohl  ohne  Schaden 
geschehen  kann,  da  die  Drüsen  zumeist  parallel  zu  ihrer  größten 
Fläche  geschnitten  wurden.  Ich  kam  so  auf  ein  Durchschnittsmaß  von 
45  qmm,  das  auch  ungefähr  dem  LENGEMANNschen  entspricht.  Zu  be- 
rücksichtigen ist  dabei,  daß  die  Drüsen  bei  der  Fixierung  und  Ein- 
bettung stark  schrumpfen,  daß  also  das  Maß  etwas  zu  klein  ge- 
worden ist,  andererseits  aber,  daß  überhaupt  wenig  ganz  normale 
Drüsen  dabei  sind,  also  die  resultierenden  Zahlen  dadurch  etwas  zu 
groß  werden.  Halten  wir  uns  an  dieses  Durchschnittsmaß,  so  sehen 
wir,  daß  erheblich  größere  Drüsen,  welche  noch  dazu  im  betreffenden 
Falle  die  regionären  Drüsen  des  Tumors  sind,  frei  von  Carcinom  sein 
können,  so  z.  B.  eine  Drüse  von  99  qmm  an  der  kleinen  Kurvatur  bei 
Pyloruscarcinom  (VI,  1)  eine  hepatische  von  81  qmm  bei  Carcinom  der 
kleinen  Kurvatur  mit  sonst  zahlreichen  Drüsenmetastasen  (IX,  4),  end- 
lich eine  suprapankreatische  von  1«50  qmm  bei  diffus  den  ganzen  Magen 
infiltrierendem  Carcinom  (XV,  2).  Auch  Fall  V  kann  hier  als  Beweis 
dienen:    trotz   der  bei   der   Operation   gefühlten   vergrößerten   supra- 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  137 

pankreatischen  Drüsen  wurde  die  Radikaloperation  vorgenommen,  und 
bei  der  Autopsie  fand  sich  keine  infizierte  suprapankreatische  Drüse  I 
Immerhin  wird  wegen  einzelner  —  und  es  handelt  sich  dabei  doch 
nur  um  seltenere  Fälle  —  stark  vergrößerter  Drüsen  eine  sonst  tech- 
nisch gut  ausführbare  Resektion  heute  wohl  kaum  unterlassen  werden 
dürfen.  Wichtiger  erscheint  es  dagegen,  wie  es  schon  Carle  und 
Faktino  (7),  sowie  Lenoemann  (1)  taten,  zu  betonen,  daß  auch  kleinste 
Drüsen,  ohne  sonst  äußerlich  irgendwie  die  Carcinose  zu  verraten, 
schon  intensiv  carcinomatös  erkrankt  sein  können. 
Beispiele  hierfür  sind: 

Fall  VI,  23,   Größe    4  qmm 

V    IV,    5,        „        5      „ 

„    IV,    6,       „        7      , 

„      X,    6,        „        ^      T) 

,    IV,    6,       „        9      „      ' 

7»       X,     2,        „       14      „ 

Letztere  Drüse  war  außerdem  noch  weich. 

Man  wird  also  gut  daran  tun,  [alle  im  Operationsgebiete  liegenden 
Drüsen,  mögen  sie  aussehen,  wie  sie  wollen,  mitzuentfernen,  soweit 
dadurch  nicht  die  Operation  ungebührlich  ausgedehnt  oder  gefähr- 
licher wird. 

Ich  möchte  hierbei  gleich  erwähnen,  daß  auf  dem  letzten  Ghirurgen- 
kongresse  Petersen  (14)  davor  gewarnt  hat,  beim  Magenkrebs  den 
Drüsenmetastasen  allzu  Jgroße  Bedeutung  beizumessen.  Er  vertritt, 
gestützt  auf  die  Resultate  der  Heidelberger  Klinik,  wo  von  18  die  Re- 
sektion überstehenden  Patienten  7  noch  4 — 12  Jahre  nachher  am  Leben 
sind,  trotzdem  besonders  in  der  ersten  Zeit  von  einer  systematischen 
Drfisenausräumung  dort  nicht  die  Rede  war,  die  Anschauung,  daß 
gerade  beim  Magenkrebs  sehr  viele  Carcinomzellen  in  ;den  Drüsen  zu 
Grunde  gehen.; 

Gewiß  kann  man  theoretisch  annehmen,  daß  {die  Drüsen  eventuell 
mit  der  in  sie  verschleppten  Neubildung  manchmal  fertig  zu  werden 
vermögen,  in  praxi  darf  man  sich  wohl  kaum  darauf  verlassen.  Man 
wird  Petersen  ohne  weiteres  zugeben  müssen,  daß  in  den  4  speziell 
von  ihm  erwähnten  Fällen  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  in  den  nicht 
exstirpierten  Drüsen  schon  Krebskeime  vorhanden  waren.  Aber  bei 
einer  so  kleinen  Anzahl  von  Fällen  darf  man  wohl  aus  der  Rezidiv- 
freiheit nicht  ohne  weiteres  schließen,  daß  beim  Magenkrebs  viele  Keime 
in  den  Drüsen  zu  Grunde  gehen.  Auch  ist  die  Möglichkeit  des  Spät- 
rezidivs nicht  ausgeschlossen.  Bemerkenswert  erscheinen  in  dieser 
Hinsicht  auch  Königs  (15)  Ausführungen  in  der  Diskussion  zu  Peter- 
sens Vortrag.    Er  betont,  daß  nach  seinen  Erfahrungen  Carcinomkeime 


138  Renner, 

sehr  lange  in  den  Drüsen  ruhen  und  erst  viele  Jahre  später  zum  Aus- 
bruch kommen  können. 

Pbtersek  selbst  gibt  zu,  daß  bisher  nur  sehr  wenige  Unter- 
suchungen darüber  vorliegen,  ob  die  Rezidive  von  zurfickgelassen^i 
Drüsen  oder  der  zurückgelassenen  Magenwand,  oder  endlich  entfernteren 
Metastasen  ausgehen.  Aber  gerade,  weil  das  nicht  sicher  feststeht  und 
unsere  Erfahrungen  bei  allen  übrigen  Krebsen  —  nehmen  wir  das 
Mammacarcinom  als  Vorbild  —  uns  veranlassen,  so  gewissenhaft  wie 
möglich  allen  Drüsen  nachzugehen,  sollten  wir  auch  beim  Magenkrebs 
diesen  Punkt  nicht  vernachlässigen. 

Jedenfalls  möchte  ich  aus  diesem  Anlasse  angesichts  der  Resultate 
meiner  Untersuchungen  nochmals  einer  möglichst  radikalen  Entfernung 
der  Drüsen  das  Wort  reden. 

Auf  die  Konsistenz  der  Drüsen  ist,  wenigstens  was  weiche  Drüsen 
anlangt,  noch  viel  weniger  zu  geben,  als  auf  die  Größe.  Ausgesprochen 
weiche  Drüsen  können  carcinomatös  sein,  ohne  daß  etwa  die  Weichheit 
durch  Zerfall  im  Innern  bedingt  wäre.  Beispiele  hierfür  sind  VI,  22, 
VI,  19,  XIII,  7,  VIII,  8. 

2)  Was  den  Zusammenhang  zwischen  Sitz  des  Tumors  und  Sitz 
der  Drüseninfektion  anlangt,  so  hat  diese  Frage  zwei  Seiten: 

a)  Müssen  immer  die  dem  Gebiete,  in  welchem  der  Tumor  liegt, 
nach  den  Untersuchungen  CüNfios  (2)  und  Sappets  (4)  zukommenden 
Drüsen  erkrankt  sein? 

b)  Können  nebenbei  auch  regionäre  Drüsen  erster  Ordnung, 
welche  einem  janderen  Lymphgebiete  des  Magens  zugehören,  erkrankt 
sein? 

Betrachten  wir  daraufhin  unsere  Fälle  unter  Zuziehung  der  Lenoe- 
MANNschen  Resultate,  so  finden  wir,  daß  unter  9  FUlen  von  Pylorus- 
carcinom  (I— VIII  und  XIV),  1  Falle  von  Carcinom  des  Pylorus  und 
der  kleinen  Kurvatur  (IX)  und  1  Falle  von  Carcinom  des  Pylorus  und 
der  Cardia  (XI),  nur  3  Fälle  sich  finden,  in  denen  die  subpylorischen 
Drüsen  nicht  erkrankt  sind.  In  2  davon  (Fall  III  und  XIV)  sind  aber 
überhaupt  keine  Drüsenmetastasen  gefunden  worden.  Ob  dies  im 
Falle  III  damit  zusammenhängt,  daß  Lungen-  und  Darmtuberkulose 
bestand,  mit  Ausbreitung  auf  viele  Lymphdrüsen,  möchte  ich  dahin- 
gestellt sein  lassen.  Im  3.  Falle  (VIII)  fanden  sich  überhaupt  nur 
2  Drüsenmetastasen,  und  zwar  am  Pankreas  dicht  neben  einer  dort 
entstandenen  Organmetastase. 

In  1  Falle  von  Carcinom  der  kleinen  Kurvatur  (XII)  und  in 
1  Falle  von  Carcinom  der  kleinen  Kurvatur  und  des  Pylorus  (IX)  sind 
die  Drüsen  der  kleinen  Kurvatur  carcinomatös.| 

In  1  Falle  von  Carcinom  der  Cardia  (X)  und  in  1  Falle  von 
Carcinom  der  Cardia  und  Pars  praepylorica  (XI)  sind  einmal  die 
cardialen  Lymphdrüsen  nicht  carcinomatös. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  139 

Die  beiden  FUle  von  carcinomatöser  Infiltration  fast  des  ganzen 
Magens  (XIII  und  XV)  lasse  ich  dabei  weg. 

Wir  finden  demnach  in  15  Fällen  llmal  die  Drüsen  der  betreffen- 
den Region  cardnomatös,  also  in  73  Proz.,  und  in  4  Fällen  intakt, 
also  in  26,6  Proz. 

Danach  sind  wir  wohl  befugt,  anzunehmen,  daß  nur 
in  Ausnahmefällen  eine  Infektion  der  zu  einem  Tumor- 
gebiete  gehörenden  regionären  Lymphdrüsen  ausbleiben 
wird,  woraus  sich  wieder  die  unbedingte  Notwendigkeit 
der  Fortnahme  der  betreffenden  Drüsen  ergibt.  Daß  diese 
Infektion  der  Drüsen  der  betreiFenden  Region  die  Regel  ist,  betonen 
auch  V.  Mikulicz  und  Eaüsch  im  Handbuche  der  praktischen  Chi- 
rurgie (11).  Lange,  ehe  durch  Lenoemanns  und  meine  Untersuchungen 
die  Berechtigung  dieser  Anschauung  und  der  sich  daraus  ergebenden 
Forderung,  alle  erreichbaren  Drüsen  zu  entfernen,  nachgewiesen  war, 
wurde  ihr  in  der  Breslauer  Klinik  schon  Rechnung  getragen,  .indem 
bei  der  von  Herrn  Geheimrat  v.  Mikulicz  angegebenen  und  typisch 
gewordenen  Operationstechnik  alle  regionären  Drüsen  entfernt  wurden, 
wie  es  Lenoemann  (1)  schildert.  Schon  1898  hat  v.  Mikulicz  (13) 
auf  dem  Chirurgenkongreß  sich  prinzipiell  für  die  Fortnahme  aller 
palpierbaren  Lymphdrüsen  erklärt.  In  neuerer  Zeit  hat  besonders 
CuNfio  (2)  wieder  dieselbe  Forderung  aufgestellt  und  noch  im  letzten 
Jahre  wiederholt  (12). 

Daß  neben  den  dem  betreffenden  Gebiete  zukommenden  Drüsen 
auch  andere  regionäre  Drüsen  infiziert  sein  können,  versteht  sich  wohl 
von  selbst.  Denn  einmal  grenzen  sich  die  Tumoren  nicht  so  scharf  ab, 
daß  sie  nur  ein  Quellgebiet  in  Anspruch  nehmen,  dann  entsenden  sie 
gewiß  oft,  wie  Borrmann  (6)  betont,  mikroskopisch  feine  Ausläufer 
weit  hinaus,  so  daß  man,  wie  ich  es  in  Fall  X  dargetan  zu  haben 
glaube,  zwanglos  eine  Infektion  regionärer  Drüsen  eines  der  anderen 
beiden  Quellgebiete  des  Magens  erklären  kann,  und  schließlich  bestehen 
noch  zwischen  einzelnen  Drüsengruppen  Anastomosen,  z.  B.  zwischen 
den  Glandulae  hepaticae  und  denen  der  kleinen  Kurvatur  durch  eine 
direkt  über  dem  Pylorus  liegende,  allerdings  inkonstante  Drüse. 

Solcher  Anastomosen  mögen  jedoch  noch  mehr  bestehen,  die  sich 
unserer  Kenntnis  entziehen.  Dafür  sprechen  z.  B.  auch  die  Unter- 
suchungen Sakatas  (8)  über  die  Lymphdrüsen  des  Oesophagus,  welcher 
Verbindungen  zwischen  dem  tieferen  Teil  des  Oesophagus  und  den 
in  der  Fossa  supraclavicularis  gelegenen  Drüsen  fand.  Es  darf  uns 
daher  nicht  wunder  nehmen,  wenn  wir  in  7  Fällen  von  Pylorustumor 
(ich  lasse  hier  diejenigen  weg,  in  denen  die  subpylorischen  Drüsen 
frei  waren)  ausnahmslos  carcinomatöse  Erkrankung  der  Drüsen  der 
kleinen  Kurvatur  finden  und  3mal  solche  der  retropylorischen  Drüsen. 
Es  ist  mir  ganz  fraglos,  daß  die  letzteren  viel  öfter,  wenn  nicht  sogar 


140  Renner, 

regelmäßig  krank  gefunden  würden,  falls  es  immer  gelänge,  sie  frei  zu 
legen.  Bei  obigen  7  Fällen  war  außer  den  3  positiven  nur  ein  nega- 
tiver Befund  zu  verzeichnen. 

Aus  alledem  geht  jedenfalls  wieder  zur  Evidenz  hervor,  daß 
wir  bei  Magenresektionen  sämtliche  erreichbaren  Drüsen  mit  entfernen 
sollten. 

3)  Da  die  Frage  nach  dem  Infektionsmodus  der  Lymphdrüsen  — 
durch  kontinuierliches  Wachstum  oder  embolisch  in  den  Ljmphbahnen 
—  von  Lenqemann  schon  sehr  exakt  bearbeitet  worden  ist,  habe  ich 
nur  hinzuzufügen,  daß  auch  ich  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  untersuchten 
Schnitte  (fast  5000  bei  über  300  Drüsen)  ziemlich  selten  Bilder  gefunden 
habe,  welche  zur  Annahme  des  kontinuierlichen  Wachstumes  zwangen. 
Daß  dieser  Modus  vorkommt,  ist  ganz  selbstverständlich.  Wäre  er 
aber  die  Regel,  wie  Borrmann  (6)  meint,  so  müßten  wir  das  schließlich 
auch  für  ganz  entfernte  Lymphdrüsen  annehmen,  also  z.  B.  bei  carci- 
nomatöser  Erkrankung  der  Bronchialdrüsen  einen  kontinuierlichen  carci- 
nomatösen  Strang  vom  Magen  bis  dorthin  vermuten.  Nun  habe  ich 
einige  Male  Stücke  aus  der  Gegend  des  Ductus  thoracicus,  die  zum 
Teil  derb  infiltriert  erschienen,  untersucht,  jedesmal  mit  negativem  Re- 
sultat, während  in  der  Nähe  liegende  Lymphdrüsen  carcinomatös  waren. 
Cun£o  gibt  allerdings  an,  daß  unter  17  Beobachtungen  von  Krebs  des 
Ductus  thoracicus  4mal  der  Magen  Sitz  der  Primärgeschwulst  war. 
Wichtiger  erscheint  natürlich  die  umgekehrte  Frage,  wie  oft  kommt 
beim  Magenkrebs  Infektion  des  Ductus  thoracicus  vor?  Letülle  (10) 
hat  sie  unter  12  Fällen  keinmal  gefunden.  Lehnen  wir  aber  Borrmanns 
Anschauung  ab,  so  kommen  wir  mangels  einer  besseren  Erklärung 
wieder  dazu,  die  Infektion  solcher  Lymphdrüsen,  welche  nicht  im  Ver- 
laufe des  Lymphstromes  liegen,  als  retrograd  anzusehen.  Es  ist  schwer 
einzusehen,  wie  Carcinomzellen,  wenn  man  ihnen  nicht  gerade  Eigen- 
bewegungen zusprechen  will,  dem  Lymphstrome  entgegenwandern  sollen, 
ohne  eine  fortlaufende  Kette  zu  bilden  und  ohne  Spuren  in  den  passierten 
Lymphbahnen  zu  hinterlassen. 

4)  Welche  Prognose  haben  nun  die  resezierten  Fälle  quoad  Radikal- 
heilung, wenn  man  die  bei  ihnen  bei  der  Rektion  noch  gefundenen  er- 
krankten Drüsen  berücksichtigt? 

Im  Falle  I  wurden  bei  der  Sektion  gar  keine  regionären  Drüsen 
mehr  gefunden.  Einige  entfernter  gelegene  Gruppen  waren  intakt. 
Aehnlich  lagen  die  Verhältnisse  bei  II  und  III.  Bei  IV  waren  noch 
einige  carcinomfreie  regionäre  Drüsen  erster  Etappe  vorhanden, 
dagegen  fand  sich  eine  ganze  Reihe  carcinomatöser  suprapankreatischer 
und  sogar  lumbaler  und  bronchialer  Drüsen.  Hier,  wo  also  die  Ver- 
hältnisse günstig  zu  liegen  schienen,  ein  so  schlechter  und  bei  der 
Operation  absolut  nicht  festzustellender  Befund. 

Günstiger  erscheint  dagegen  wieder  Fall  V,  in  welchem  sich  bei 


MitieiL  a.  d.  Grenzgeh,  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  XIII. 


Beilage  tu  p.  I4U 


Quadrate  gezeiclmet. 

In  der  Rubrik  a  stehen  die  bei  der  Operation  entfenJiakroskopisch  als  ganz  sicher 
carcinoniatos  imponierten,  daher  nicht  erst  mikroskopisch  untersuc! 

Die  Befunde  der  operativ  entfernten  Drüsen  (a)  in  de 


Renner. 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  141 

der  Sektion  zwar  eine  carcinomatöse  Drüse  hoch  oben  an  der  kleinen 
Kurvatur  fand,  sonst  aber  keine  Drüsen metastasen. 

Bei  VI  finden  wir  noch  infizierte  regionäre  Drüsen  erster  und  zweiter 
Station,  sowie  auch  femerliegende. 

Fasse  ich  zusammen: 

Von  6  operierten  Fällen  fanden  sich  in  3  Fällen  0  regionäre  Drüsen 
infiziert,  0  entferntere  Drüsen  infiziert; 

in  2  Fällen  regionäre  Drüsen  zweiter  Etappe  infiziert; 

in  2  Fällen  regionäre  Drüsen  erster  Etappe  infiziert. 

Nach  diesen  relativ  günstigen  Resultaten  wäre  es  sehr  interessant 
und  dankenswert,  bei  resezierten  Fällen,  die  noch  längere  Zeit  gelebt 
haben,  bei  Gelegenheit  von  Obduktionen  ausführliche  Untersuchungen 
über  den  Zustand  ihrer  regionären  Lymphdrüsen  des  Magens  anzu- 
stellen. 


Bei  einem  allgemeinen  Ueberblick  über  die  Drüsenbeteiligung,  den 
ich  durch  ein  Schema  zu  erleichtern  gesucht  habe  (vgl.  die  graphische 
Tabelle),  springt  die  regelmäßige  Beteiligung  der  Drüsen  der  kleinen 
Kurvatur  —  wenn  überhaupt  Drüsenmetastasen  vorhanden  waren  —  am 
meisten  ins  Auge.  Nur  einmal  unter  13  Fällen  fehlt  eine  Beteiligung 
der  kleinen  Kurvatur  (VIII),  aber  hier  fanden  sich,  wie  oben  erwähnt, 
überhaupt  nur  2  infizierte  (suprapankreatische)  Drüsen  ganz  nahe  an 
einer  Pankreasmetastase.  Die  subpylorischen  stehen  in  der  Beteiligung 
nur  um  einen  Fall  zurück.  Eine  Erklärung  für  die  geringe  Beteiligung 
der  retropylorischen  Drüsen  habe  ich  schon  oben  gegeben. 


Von  den  302  mikroskopisch  untersuchten  Drüsen  waren  176  frei 
(fast  60  Proz.),  127  carcinomatös  (42  Proz.).  Merkwürdigerweise 
sind  es  genau  die  von  Lenoemann  gefundenen  Prozentzahlen.  Das 
Resultat  bedarf  insofern  einer  Korrektur,  als  mehrfach  recht  zahlreiche 
Drüsen  schon  makroskopisch  sicher  carcinomatös  waren  und  deshalb 
nicht  mikroskopisch  untersucht  wurden,  so  daß  also  das  Resultat  noch 
erheblich  ungünstiger  sein  dürfte. 

Bei  der  Betrachtung  der  einzelnen  Drüsen gruppen  sei  es  mir  ge- 
stattet, die  LENGEMANNschen  Zahlen  mit  zu  verwerten,  da  wir  erst 
dann  zu  einer  richtigen  Anschauung  über  die  Ausdehnung  der  Infektion 
gelangen. 

Von  78  untersuchten  subpylorischen  Drüsen  (in  14  Fällen) 
sind  39  carcinomatös,  also  50  Proz.  Lenoemann  fand  nur  37  Proz.; 
dabei  habe  ich  hier  wiederum  die  makroskopisch  sicher  carcinomatösen 
nicht  mitgerechnet,  so  daß  man  mindestens  60  Proz.  annehmen  darf. 
Vielleicht  liegt  die  Erklärung  des  Unterschiedes  zum  Teil  darin,  daß 


142  Renner, 

in  den  nichtoperierten  Fällen  die  Tumoren  größere  Ausdehnung  hatten 
und  länger  bestanden. 

Von  24  retropylorischen  Drüsen  (in  8  Fällen)  sind  10  carci- 
nomatös  (4ä  Proz.)-    Lenoemann  fand  60  Proz. 

Von  71  Drüsen  an  der  kleinen  Kurvatur  (in  13  Fällen)  sind 
32  carcinomatös,  also  45  Proz.    (Bei  Lengemann  50  Proz.) 

Die  Drüsen  der  Card ia  zeigen  in  9  Fällen  5  carcinomatöse  unter  19 
(26  Proz.). 

In  8  Fällen  waren  einmal  die  hepatischen  Drüsen  schon  makro- 
skopisch sicher  carcinomatös.  Der  mikroskopische  Befund  in  den  anderen 
7  Fällen  war  negativ. 

Von  51  suprapankreatischen  Drüsen  in  11  Fällen  waren  25 
carcinomatös,  also  49  Proz.  Dazu  kommt  noch  eine  ganze  Reihe  ma- 
kroskopisch sicher  infizierter  Drüsen. 

Die  Cöliakaldrüsen  konnten  selten  mit  aller  Sicherheit  als  solche 
von  denen  im  Ligamentum  gastrohepaticum  bezw.  den  am  Stamme  der 
Art.  coron.  ventriculi  sin.  gelegenen  abgegrenzt  werden,  so  daß  sie  als 
eigene  Gruppe  nur  2mal  figurieren.  Schlüsse  aus  dieser  geringen  Zahl 
zu  ziehen,  verbietet  sich  von  selbst. 

Bei  18  Mesenterialdrüsen  in  6  Fällen  war  der  Befund  4mal 
positiv,  also  in  32  Proz.  Außerdem  waren  sie  in  2  Fällen  makro- 
skopisch sicher  carcinomatös. 

In  der  großen  Gruppe  der  Sakral-,  Lumbal-  und  Mediastinal- 
drüsen  kommen  auf  60  Drüsen  in  10  Fällen  35  erkrankte,  also 
58  Proz.  Außerdem  fand  sich  wieder  eine  große  Zahl  makroskopisch 
sicher  carcinomatöser. 

Endlich  waren  in  7  Fällen  mit  27  Bronchialdrüsen  diese  11  mal 
affiziert,  also  in  41  Proz.  Klavikular-  und  seitliche  Halsdrüsen  in  je 
einem  Falle  weitgehender  Infektion  erwiesen  sich  frei.  Auch  in  vivo 
waren  hier  keine  geschwollenen  Drüsen  gefühlt  worden. 


Wenn  wir  uns  nun  fragen,  ob  wir,  gestützt  auf  vorliegende 
Untersuchungen  über  die  Verbreitung  des  Magenkrebses  auf  die 
Lymphdrüsen  eine  Verminderung  der  Rezidivfälle  erwarten  können, 
80  ist  das  kaum  der  Fall.  In  den  2  Fällen  unter  6  operierten,  wo 
sich  bei  der  Sektion  noch  Metastasen  regionärer  Drüsen  fanden,  sind 
dies  vor  allem  die  suprapankreatischen.  Eine  radikalere  Entfernung 
dieser  erscheint  bei  ihrer  schweren  Zugänglichkeit  nur  selten  und  in 
geringem  Umfange  möglich,  so  daß  v.  Mikulicz  und  Kausch  (11) 
sagen:  „Ihre  Entfernung  bleibt  wegen  des  Sitzes  auf  und  im  Pankreas, 
wegen  der  Nähe  größerer,  wichtiger  Gefäße,  des  Ductus  choledochus, 
meist  unvollkommen.  Eine  ausgedehnte  Erkrankung  der  pankreatischen 
Drüsen  wird  daher  den  Operateur  von  der  Radikaloperation  meist  ganz 


Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs.  143 

abhalten.^  In  einem  in  Washington  19Ü3  gehaltenen  Vortrage^)  über 
die  Chirurgie  des  Pankreas  weist  v.  Mikulicz  nach,  daß  die  Gefahr 
der  Magenresektion  durch  jeden  Eingriff,  welcher  das  Drüsenparenchym 
des  Pankreas  freilegt,  außerordentlich  gesteigert  wird.  Die  Mortalität 
ist  in  solchen  Fällen  fast  3mal  so  groß,  wie  nach  den  Operationen  ohne 
die  genannte  Komplikation.  Es  ist  dies  ein  Grund  mehr,  von  der  Ent- 
fernung der  pankreatischen  Drfisen  abzusehen.  Außerdem  bestanden 
in  diesen  beiden  Fällen  auch  ausgedehnte  Metastasen  entfernter,  voll- 
kommen unzugänglicher  Drüsen.  Ich  befinde  mich  da  in  vollkommener 
Uebereinstimmung  mit  Most  (3),  welcher  sagt:  „Sind  die  Drüsen  auf 
dem  Pankreas  bereits  stärker  geschwollen  und  in  höherem  Grade  sicher 
krebsig  infiltriert,  dann  dürfte  eine  Radikalheilung  durch  Operation, 
selbst  wenn  sonst  die  Exstirpationsbedingungen  günstig  liegen  sollten, 
schwerlich  gehngen,  denn  dann  sind  wohl  auch  schon  die  retroperi- 
tonealen,  an  den  großen  Bauchgefäßen  gelegenen  Drüsen  infiziert,  welche 
dem  Messer  des  Chirurgen  wohl  nur  schwer  und  unvollkommen  zu- 
gänglich sind.^ 

Wenn  Most  (3)  noch  sagen  konnte,  daß  ihm  in  praxi  die  Not- 
wendigkeit der  Fortnahme  aller  erreichbaren  Drüsen  noch  nicht  erwiesen 
schiene,  glaube  ich  durch  meine  Untersuchungen  zur  Ausfüllung  dieser 
Lücke  beigetragen  zu  haben. 


Literatur. 


1)  Lbnobmann,  Die  Erkrankungen  der  regionären  Lymphdrüsen  beim 
Krebs  der  Pars  pylorica  des  Magens.     Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  68. 

2)  CuNäo,  De  l'envahissement  du  Systeme  lymphatirxue  dans  le  Cancer 
de  l'estomac.     Th^se  de  Paris,  1900. 

3)  Most,  Ueber  die  Lymphgefäße  und  die  regionären  Lymphdrüsen  des 
Magens  in  Rücksicht  auf  die  Verbreitung  der  Magencarcinome.  Ver- 
handlungen d.  dtsch.  Gesellsch.  f.  Chir.,  28.  Kongr.,  1899,  II. 

4)  SAPPBy,  Anatomie,  Physiologie,  Pathologie  des  vaisseaux  lymphatiques, 
consid^r^s  chez  Fhomme  et  les  vert^brös.     Paris  (Delahaye)  1874. 

6)  Mbttbehausbn,  Ueber  Kombination  von  Krebs  und  Tuberkulose.  Diss. 
Göttingen,  1897. 

6)  BoRRMANM,  Das  Wachstum  und  die  Verbreitungswege  des  Magen- 
carcinoms.  Mitteil.  a.  d.  Orenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  1.  Supplement- 
band, 1901. 

7)  Carle  e  Fantino,  Beiträge  für  Pathologie  und  Therapie  des  Magens. 
Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  56,  1898. 

8)  Sakata,  Ueber  die  Lymphgefäße  des  Oesophagus  und  über  seine 
regionären  Lymphdrüsen,  mit  Berücksichtigung  derl  Verbreitung  des 
Carcinoms.     Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,   Bd.    11,   Heft  6. 


1)  lieber   den   heutigen   Stand   der  Chirurgie   des  Pankreas.     Mitteil. 
a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  12,  p.  1. 


144        Renner,  Die  Lymphdrüsenmetastasen  beim  Magenkrebs. 

9)  Zbhndbr,  üeber  Krebsentwickelnng  in  Lymphdrüsen.    Virchows  Arch., 
Bd.  119. 

10)  Lbtullb,  Commnnic.  k  la  Soc.  m^d.  des  höp.,  Seance  du  26.  fSvrier 
1897. 

11)  y.  Mikulicz  und  Kaüsch,  Verletzungen  und  Erki-ankungen  des  Magens 
und  Darmes.     Handbuch  der  praktischen  Chirurgie,  1903. 

12)  CuNi^o,  B.,  Pathologische  Anatomie  des  Magenkrebses  vom  chirurgischen 
Gesichtspunkte.  Aus  Hartmans,  Travauz  de  Chirurgie  anatomo-cli- 
nique.     Paris  1903. 

13)  y.  Mikulicz,  Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms. 
Verhdl.  d.  dtsch.  Gesellsch.  f.  Chir.,  1898,  11,  p.  252. 

14)  Petersen,  Zur  pathologischen  Anatomie  der  Magen-  und  Darmcarci- 
nome.     Verhdl.  d.  dtsch.  Gesellsch.  f.  Chir.,  XXXTT,  p.  64 

16)  König,  ibid.,  p.  72. 


Nachdruck  verboten. 


VIIL 

Beiträge  zur  Kenntnis 
des  BotMocephalus  liguloides. 

Von 
Dr.  H.  Mijrake  aus  Japan. 

(Hierzu  2   Abbildungen  im  Texte.) 


Der  Bothriocephalus  liguloides  oder  die  Ligula  Man- 
soni  (CoBBOLD  1883)  kommt  beim  Menschen  nur  äußerst  selten  vor. 
Dementsprechend  sind  denn  auch  nur  10  Fälle  in  der  neuesten  euro- 
päischen Literatur  (Scheübe,  Braun)  bekannt  geworden,  nämlich 
ein  Fall  von  Manson  aus  Amoy  bei  einem  Chinesen,  je  ein  Fall  von 
ScHEUBE  und  DissE  und  7  Fälle  von  Ijima  und  Murata.  jDie  9 
letzteren  Fälle  betreffen  durchweg  Japaner.  Außer  diesen  Publikationen 
sind  noch  von  Zeit  zu  Zeit  vereinzelte  Angaben  —  im  ganzen  7mal  — 
in  japanischen  Zeitschriften  gemacht  {worden.  Dazu  kommen  noch 
einige  noch  nicht  veröffentlichte  Fälle,  die  mir  von  Kollegen  aus  ihrer 
persönlichen  Erfahrung  mitgeteilt  worden  sind.  Da  ich  hier  2  neue 
Fälle,  den  einen  von  Herrn  Kollegen  Shakurane,  den  anderen  aus 
meiner  eigenen  Erfahrung,  besprechen  möchte,  so  sei  es  mir  gestattet, 
bei  dieser  Gelegenheit  auch  über  die  7  in  der  europäischen  Literatur 
noch  unbekannten  Fälle  zusammen  mit  den  früher  schon  bekannten  in 
Tabellenform  kurz  zu  berichten.     Zunächst  zwei  IKrankengeschichten : 

Fall  1.  Hashimoto,  43 -jähr.  Apotheker  aus  Osaka.  Bothrio- 
cephalus liguloides  im  M.  quadriceps  femoris  (Fall  von 
Shakuranb).  Vor  10  Tagen  ließ  Fat.  einen  kleinen  AbsceE  in  der  linken 
Kniegegend  incidieren.  2  Tage  darauf  spürte  er  Schmerzen  und  An- 
schwellung an  der  Vorderfläche  des  linken  Oberschenkels.  Diese  Er- 
scheinungen nahmen  immer  mehr  zu.  Status  praesens  am  19.  März 
1901.  Mittelgroßer,  leidlich  ernährter  und  gebauter  Mann.  Linere  Organe 
sind  intakt.  Die  obere  Hälfte  des  linken  Oberschenkels  ist  diffus  ange- 
schwollen; man  ftlhlt  eine  derbe  Liflltration  im  M.  quadriceps  femoris, 
Fluktuation  in  der  Tiefe  zweifelhaft.  Litensive  Druckempflndlichkeit. 
Durch  Probepunktion  wurde  Eiter  nachgewiesen.    Nach  Licision  der  Haut 

Ulttaa.  a.  d.  Omsgebtotan  d.  Medliüi  o.  Ghlrargie.    Zm.  Bd.  IQ 


146  H.  Miyake, 

wurde,  indem  die  Gewebe  schichtweise  durchtreimt  wurden,  in  die  Tiefe 
gegangen  und  ein  Absceß  innerhalb  des  M.  quadriceps  femoris  gefunden. 
Nach  gründlicher  Entleerung  des  Eiters  erschien  aus  einer  Muskelspalte 
ein  eigentümliches  weißes,  bandartiges  Gebilde,  das  zum  größten  Teile 
noch  im  Muskel  versteckt  lag.  Nach  Spaltung  des  Muskels  wurde  ein 
Bothriocephalus  liguloides  extrahiert,  der  milchigweiß,  35  cm  lang  und 
3 — 5  mm  breit  war  und  lebhafte  peristaltische  Bewegungen  ausffihrte. 
An  dem  Orte,  wo  der  Wurm  saß,  konnte  keine  besondere  Cystenbildung 
nachgewiesen  werden,  vielmehr  fand  sich  nur  eine  einfache  Gewebsspalte. 
Da  das  Tier  am  nächsten  Tage  in  einer  ärztlichen  Versammlung  demon- 
striert werden  sollte,  wurde  es  in  physiologischer  Kochsalzlösung  bei 
Körpertemperatur  aufgehoben,  um  es  in  lebendem  Zustande  zeigen  zu 
können.  Leider  stieg  in  der  Nacht  die  Wärme  in  dem  schlecht  kon- 
struierten Brutschrank  bis  auf  40^,  und  es  zeigte  sich  am  nächsten 
Morgen,  daß  der  Wurm  verschwunden  war.  Nur  ein  weißer,  flockiger 
Niederschlag  bedeckte  den  Boden. 

Fall  2.  Shawada,  26-jähr.  Eisenwarenhändler  aus  Osaka.  Ligula 
Mansoni  des  rechten  Auges.  Pat.  war  als  Kind  schwächlich,  litt 
jedoch  nie  an  schwererer  Krankheit.  Ende  Januar  1901  schwoll  das 
rechte  Unterlid  an  und  wurde  rot  und  schmerzhaft,  doch  heilte  diese 
Anschwellung  unter  ärztlicher  Hilfe  bald  wieder.  Mitte  November  1901 
traten  an  derselben  Stelle  die  Schmerzen  von  neuem  auf.  Sie  strahlten 
vom  Unterlide  nach  der  Nasenwurzel  aus,  hörten  bei  Tage  auf,  um  in 
der  Nacht  anfallsweise  wieder  zu  beginnen.  Während  einer  akuten 
Osteomyelitis  des  linken  Oberschenkelknochens  bekam  Pat.  am  20.  Dez. 
1901  nachts  unerträgliche  Schmerzen  im  linken  Bulbus,  die  durch  wanne 
Umschläge  ^  gelindert  wurden.  Am  21.  Dez.  nachts  rieb  sich  Pat.  im 
Schlafe  unwillkürlich  das  schmerzende  Auge.  Dabei  kam  aus  diesem  ein 
fadenförmiges,  ca.  3  cm  langes  Gebilde  heraus,  das  abgerissen  und  weg- 
geworfen wurde.  Gegen  Morgen  des  nächsten  Tages  kamen  ebenfalls 
wurmartig  bewegliche,  weiße  Massen  aus  dem  Auge  zum  Vorschein.  Sta- 
tus praesens  am  22.  Nov.  1901.  Die  rechte  Gonjunctiva  ist  stark 
chemotisch  angeschwollen,  von  injizierten  Gefäßen  durchsetzt  und  bedeckt 
einen  Teil  der  Cornea  ringförmig.  Am  nasalen  Teile  der  Gonjunctiva  be- 
endet sich  ein  kleiaer  Spalt,  aus  dem  ein  milchigweißes,  bandartiges,  ca. 
3  cm  langes  und  0,3  cm  breites  bewegliches  Gebilde  herabhängt.  Die 
Anschwellung  erstreckt  sich  auf  das  Unterlid.  Beim  OefPnen  des  Auges 
fließen  reichliche  Tränen  heraus.  Pat.  klagt  über  einen  dumpfen  Schmerz 
im  kranken  Auge.  Nach  gründlicher  Beinigung  und  Kokai'nisierung 
wurde  die  Gonjunctiva  bulbi  so  weit  gespalten,  daß  der  Wurm  leicht 
herausgezogen  werden  konnte.  Dann  wurde  die  Wunde  erweitert,  um 
die  Höhle  genau  zu  besichtigen.  Der  Wurm  saß  im  lockeren  Binde- 
gewebe zwischen  Unterlied  und  Bulbus.  Ein  Teil  der  Höhle  war  glatt- 
randig,  der  andere  von  feinen  Fäden  netzartig  durchsetzt.  Eine  besondere 
Cysten  wand  war  nicht  nachweisbar.  Die  Wunde  wurde  ganz  zugenäht 
und  heilte  rasch  per  primam  intentionem.  Seit  der  Zeit  der  Wurm- 
extraktion haben  die  Schmerzen  vollständig   aufgehört. 

Morphologie  des  Wurmes.  Da  in  den  bisherigen  Publi- 
kationen über  die  Morphologie  des  lebenden  Wurmes  nur  mangelhafte 
Beschreibungen  erschienen  sind,  sei  dieselbe  hier  etwas  eingehender 
behandelt.     Der   im  letzten   Falle  extrahierte  Wurm   ist   zart   gebaut, 


Beiträge  zur  Kenntnis  des  Bothnocephalus  liguloides.  147 

milehigweiß,   sieht  auf  den  ersten  Blick  wie  ein  Bandwurm  aus  und 
macht   lebhafte   peristaltische   Bewegungen.     Länge   im   Ruhezustande 
12  cm,  gedehnt  16  cm^),  Breite  0,2—0,3  cm.    In  der  Maximalkontrak- 
tion ist  er  dick  und  plump  und  nur  4  cm  lang,  also  3mal  kürzer  als 
im  Ruhezustande.    Die  Breite  beträgt  dann  0,4—0,5  cm.     Das  Kopf- 
ende wird  im  Ruhezustande  durch  eine  leichte  Verdickung  gegenüber 
dem  verschmälerten  Halsteile  markiert.    Gegen  das  Schwanzende  nimmt 
die  Breite  zu.    Das  letztere  kann  ich  leider  nicht  beschreiben,  da  es 
fehlte.    Während  der  Kopf  in  der  Ruhe  leicht  verdickt   und   in   der 
Mitte  eingestülpt  ist,  dehnt  er  sich  bei  Bewegungen  zu  einer  langen 
feinen  Spitze  aus,  wie  der  gestreckte  Kopf  eines  Blutegels.    Sobald  wir 
ihn  dann  berühren,  zieht  ihn  der  Wurm  ähnlich  dem  Blutegel  zurück. 
Das  Schwanzende   steht  an  Dehnbarkeit  dem  Kopfe  bedeutend  nach. 
Es  endet  nach  der  genauen  Beschreibung  von   Omi   im   lebenden  Zu- 
stande stumpf  und  wird  durch  eine  längs  des  Körpers  ziehende  Längs- 
fnrche  eingekerbt  und  in  zwei  gleiche  Teile  geteilt.     Nach  dem   ge- 
nannten  Autor  bewegt  sich  das   Tier   nur  mit   dem    Kopfteile.     Das 
Schwanzende  bleibt  ruhig.    Längs  des   ganzen  Körpers  zieht,  wie  ge- 
sagt, eine  relativ  starke,  farblose,   rinnenartige  Furche,   die   aber   im 
oberen  Teile  wenig  ausgeprägt  ist,  während  sie  sich  gegen  den  Schwanz 
zu  allmählich  verbreitert.    Der  ganze  Körper  weist  feine,  regelmäßige 
Querstreifen  auf,  welche  dem  Wurme  das  Aussehen  verleihen,  als  be- 
stände er  aus  lauter  zusammenhängenden  Proglottiden,  was  aber  nicht 
der  Fall  ist.    Diese  Querfalten  werden  vom  Kopfe  nach  dem  Schwanz- 
ende zu  immer  deutlicher.     Bei  der  Dehnung  gleichen  sie  sich  ganz 
aus.     In   einer  Bouillon   von   Körpertemperatur   lebte   das   Tier   noch 
3  Stunden  unter  steter  abwechselnder  Dehnung  und  Zusammenziehung. 
Dann  aber  hörten  allmählich  seine  Bewegungen  auf,  es  schrumpfte  bis 
auf  eine  Länge  von  4  cm  zusammen  und  verlor  seinen  vitalen  Glanz, 
ohne  aber  in  der  Farbe   sich  zu  verändern.     Eine  sonderbare  Eigen- 
schaft des  Wurmes  ist  es,  daß  er  sich  innerhalb  kurzer  Zeit  in  Hydro- 
celenflüssigkeit  oder  physiologischer  Kochsalzlösung  zu  einer  struktur- 
losen, flockigen  Masse  auflöst.    Sowohl  der  zweite  von   Omi  als  auch 
der  von  Shakürane  beschriebene  hatte  dieses  Schicksal.    Omi  konnte 
den  Wurm  in   einer  Hydrocelenflüssigkeit  von  Bluttemperatur  2  Tage 
lang  am  Leben  erhalten,   am   nächsten  Tage  verschwand   der  Wurm 
aber,    ohne  das   etwas   weiteres   mit   ihm   geschehen  war,   vollständig 
und   ließ  nur   einen   flockigen  Niederschlag  zurück.     Shakürane  er- 
hielt das  Tier  in  physiologischer  Kochsalzlösung  bei  Körpertemperatur 
nur  einen  halben  Tag  lang  am  Leben.    Am  nächsten  Morgen  fand  er 
ihn  in  demselben  Zustande  vor  wie  Omi  den  seinen.     Im  natürlichen 


1)  Dazu  kommt  noch  ein  3  cm  langes  Stück,   das  der  Patient  abge- 
gerissen  hat. 

10* 


148 


H.  Miyake, 


Medium  scheint  aber  der  Parasit  sogar  den  Tod  des  Wirtes  noch 
mehrere  Tage  überleben  zu  können,  wenigstens  fand  ich  bei  einem 
Affen  12  Stück  noch  3  Tage  nach  seinem  Tode  lebend  im  Gewebe. 

Da  ich  leider  keine  genaue 
fig  2.  Zeichnung  von  dem  von  mir  ge- 

sehenen Wurme  besitze,  so  gebe 
ich  hier  die  Bilder  von  Herrn 
Omi  wieder,  die  mit  meinem 
nicht  nur  übereinstimmen,  son- 
dern sogar  noch  vollständiger 
sind,  da  ja  dem  von  mir  beob- 
achteten Tiere  das  Schwanzende 
fehlte. 

Mikroskopischer  Befund: 
Zur  mikroskopischen  Untersuchnng 
benutzte  ich  das  oben  beschriebene 
Tier  sowie  12  Stück,  die  ich  bei 
der  Sektion  eines  Affen  von  der 
in  Shikoku  vorkommenden  Art  zu- 
fällig fand.  10  von  ihnen  von  ver- 
schiedener Stärke  saßen  im  linken 
M.  pectoralis  maior,  2  im  Unter- 
hau tzellgewebe  der  linken  Inguinal- 
gegend.  Sie  alle  unterschieden  sich 
weder  makroskopisch  noch  mikro- 
skopisch irgendwie  von  dem  mensch- 
lichen Parasiten,  den  ich  geschildert 
habe.  Im  großen  und  ganzen  stimmt 
der  Befund  mit  dem  von  Lbuckast, 
LriBiA  und  Murata^)  beschriebe- 
nen überein,  nur  fand  ich  sowohl  in 
frischen  wie  in  Alkoholpräparaten 
zwischen  den  zahlreichen  runden 
oder  eiförmigen  Zellen  bald  aus- 
gestreute bald  haufenförmig  an- 
geordnete, ovale  oder  runde,  leicht  bräunlich  geübte  und  stark  licht- 
brechende zellenartige  Gebilde,  unter  denen  einige  bei  schärferer  Betrachtung 
perlen  artige,  konzentrische  Figuren  zeigten.  Von  vornherein  auszuschließen 
ist  der  Gedanke,  daß  hier  Eier  vorlägen,  weil  das  im  Finnenstadium  des 
Botriocephalus  undenkbar  ist.  Entweder  waren  diese  eigentümlichen  Gebilde 
als  Amyloidkörper  oder  als  verkalkte  Zellen  anzusprechen.  Durch  Zusatz 
von  Jodlösung  wurde  keine  Amyloidreaktion  hervorgerufen,  dagegen  ent- 
wickelten sich  bei  Zusatz  von  verdünnter  Salzsäure  reichliche  Giisblasen 
und  es  blieben  schließlich  strukturlose,  zellenartige  Gebilde  zurück.  Diese 
Frage  ist  somit  dahin  gelöst,  daß  es  sich  um  nichts  anderes,  als  um  ver- 
kalkte Zellen  gehandelt  hat. 

Auf  die  Beschreibung  der  übrigen  Befunde  verzichte  ich  deshalb,  weil 


..-»^ 


3 

Omib  2.  FalL  Bothr.  liguloides  im  le- 
benden ZuBtande;  natürliche  Größe. 

Fig.  1.  Ruhezustand :  a  verdickter,  ein- 
gestülpter Kopf,    b  Schwänzende. 

Fig.  2.  (Zehnter  Zustand:  a  zuge- 
spitzter ^opf.  h  eingekerbtes  Schwanzende. 
c  Langsf  urche. 


1)  Vergl.  das  Literaturverzeichnis. 


Beiträge  zur  Kenntnis  des  Bothriocephalus  liguloides.  149 

ich  seinerzeit  nicht  im  Stande  war,  den  Fachmann  zu  Eate  zu  ziehen  und 
die  Sache  so  einer  exakten  Forschung  zu  unterwerfen.  Ich  muß  den  Leser, 
der  sich  dafür  interessiert,  auf  die  angeführten  Arbeiten  von  Leuckart, 
Ijima  und  MüRATA  verweisen. 

Aus  der  nachstehenen  Tabelle  ergeben  sich  folgende  Schlußfolge- 
rungen : 

1.  Alter  und  Geschlecht  haben  gar  keinen  Einfluß. 

2.  Bezüglich  des  Wohnortes  der  Patienten:  Nach  der  bisherigen 
Erfahrung  kommt  die  Krankheit  ausschließlich  in  China  und  Japan, 
und  zwar  in  18  von  19  Fällen  in  Japan  vor.  Auf  der  Hauptinsel 
kommt  sie  in  allen  Gegenden,  wenn  auch  selten,  vor.  Besonders  häufig 
wurde  sie  in  der  Gegend  von  Kioto  (6mal)  und  Osaka  (5mal)  beob- 
achtet. Diese  beiden  Orte  sind  sehr  nahe  benachbart  und  stehen  in 
regem  wechselseitigen  Verkehre,  so  daß  sie  zusammen  als  eine  von 
der  Wurmkrankheit  verseuchte  Gegend  aufzufassen  sind.  Welche  Ursache 
hierbei  im  Spiele  ist,  können  wir  vorläufig  nicht  ermitteln.  Auch  auf 
Shikoku  und  Kiuschu  und  anderen  Inseln  scheint  die  Erkrankung  sich 
zu  finden.  Wie  schon  berichtet,  wurde  Bothricephalus  liguloides  auch 
bei  einem  Affen  von  der  auf  Shikoku  vorkommenden  Art  beobachtet. 

3.  Lokalisierung:  Darüber  können  wir  noch  nichts  Bestimmtes 
angeben,  doch  scheint  eine  gewisse  Disposition  bestimmter  Stellen  zu 
bestehen,  nämlich  der  Umgebung  des  Auges  und  des  Urogenital- 
trakt us.  Unter  19  Fällen  kamen  die  Tiere  4m al  aus  der  Umgebung 
des  Bulbus  und  6 mal  beim  Urinieren  spontan  aus  der  Urethra  hervor. 
Nach  Leuckart  scheint  der  Parasit  die  Eigenschaft  zu  haben,  im 
menschlichen  Körper  umherzuwandern  und  an  beliebigen  Stellen  des- 
selben zu  erscheinen.  Er  lebt  nicht  in  freien  Höhlen,  wie  der  Blase, 
dem  Nierenbecken  oder  den  Ureteren,  sondern  man  hat  sich  vorzu- 
stellen, daß  er  anfangs  innerhalb  der  Wand  saß,  dann  mit  dem  Wachs- 
tume  das  Gewebe  dieser  allmählich  durchbrach  und  nun  erst  in  der 
freien  Höhle  zum  Vorschein  kam.  Diese  Annahme  scheint  den  Tat- 
sachen zu  entsprechen.  Kann  man  doch  die  Wanderungsfahigkeit  des 
lebenden  Wurmes  in  der  Flüssigkeit  sehr  gut  sehen.  Wenn  ich  als 
Beginn  der  Entwickelung  des  Parasiten  bei  meinem  Patienten  den  Zeit- 
punkt der  ersten  Schmerzempfindung  und  Anschwellung  in  dem  be- 
troffenen Auge  annehme,  so  muß  der  Durchbruch  des  Gewebes  infolge 
des  Wachstumes  des  Tieres  ungefähr  4  Monate  später  erfolgt  sein. 
Gerade  dieser  Fall  ist  geeignet,  uns  davon  zu  überzeugen,  daß  der 
Parasit  mit  Durchbruch  der  Gewebe  in  freie  Körperhöhlen  zu  wandern 
vermag. 

4.  Symptome:  Die  meisten  Patienten  klagen  mehr  oder  weniger 
über  anfallsweise  auftretende  Schmerzen  und  über  Druckempfindlichkeit. 
Bei  den  Fällen,  in  welchen  die  Kranken  den  Wurm  beim  Urinieren  ent- 
leert haben,  waren  die  Symptome  verschieden,  bald  waren  es  Tenesmen 


150 


H.  Miyake, 


Autoren 

Alter 
und  Ge- 
schlecht 

Wohnort 

Sitz  des  Wurmes 

ECauptsymptome 

Makson 

Chinese 

Amoy 

Einer  im  recht  Brust- 
korb, 11  in  dem  peri- 
renale Bind^;ewebe 

"^ 

ßCHEUBB 

28.iähr. 
Pfeide- 
knecht 

Kioto 

Beim  Urinieren  entieert 

Tenesmus  b.  Urinieren, 
strahlende  Schmerzen 
in  der  Urethra  u.  der 
Blase 

NAMBA(beBchrb. 
von  LriMA  und 

MURATA) 

Junge 

(Alter 

nichtan- 

g^eben) 

Provinz 
Echigo 

T» 

Urintenesm.;  Urin  ent- 
leert sich  tropfenweise 

8HAiTO(be8chrb. 
von  Ijima  und 

MUBATA) 

25-jähr. 
Bauer 

Aus  der 

Nähe  von 

Kioto 

7» 

Urintenesmus ;  zeitweise 
Juck-  u.  DruckgefOhl 
der  Perirenalgegend 

ToYODA  (beschr. 
von  Ijima  und 

MUKATA) 

42-jähr. 
Mann 

Osaka 

Tl 

Leichte  Hämaturie 

NiSHIMURA 

28-jähr. 
Mann 

In  der 

Nähe  von 

Kioto 

T 

Vorh.  beschwerdefr.,nur 
b.  Erschein,  d.  Wurm. 

KOJDLA  U.  ItA- 
KURA 

33-jähr. 

Provinz 
Mikawa 

W 

Nur  Juckgefühl  in  der 
Hainröhre 

Sato  (beschr.  v. 
Ijima  und  Mü- 

RATA 

17-jähr. 
Junge 

Kanasawa  in 
Koga 

Aus  d.  inn.  Augenwink, 
spont.  heraus,  dann  m. 
der  Pinzette  extrahiert 

Leichte  Conjunctivitis 
vorhanden 

8HTNGU  (beschr. 
von  Ijima  und 

MURATA) 

15- jähr. 
Mädch. 

In  der 

Nähe  von 

Kioto 

Zwischen  Conj.  bulbi  u. 
Sclera  aus  d.  äußeren 
Augenw.  spont  heraus 

"~ 

Takahashi  und 

HAGIWARA(be- 

8chrieb.v.  Ijima 

MURATA) 

11-jähr. 
Mädch. 

Provinz 
Kösuke 

Zwischen  Ck)ni.  bulbi  u. 
Sclera;  durch  Incision 
entfernt 

Bohnengroßer  Tumor. 
Anfalisw.  Schmerzen 

Imai 

33-jähr. 
Bauer 

In  der 

Nähe  von 

Osaka 

In  dem  retrobuib.  Teil, 
neben  d.  Sehnerven 

AnfaLlsw.  Schmerzen  u. 
lichtscheu.  Leichter 
Exophthalmus 

Miyake 

20-jähr. 
Mann 

Osaka 

Aus  der  Konjunktival- 
spalte  spontan  heraus 

Anfalisw.  Schmerz.  Che- 
mosis 

NAGAO(be8chrb. 
von  Ijima  und 

MURATA) 
iNOUE 

Soldat 
(21-23  J. 

alt) 
47.jähr. 

Mann 

Toyama  aus 

der  Provinz 

Echu 

In  der 

Nähe  von 

Osaka 

In  dem  Unterhautzell- 
gewebe  der   Ijenden- 
gegend 

In  der  rechten  Mamma 

Anhdlsws.  Schmerzen. 
Abscedieri; 

Anfallsweise  stechende 
od.  dumpfe  Schmerze. 
Elast  hart.  Tumor 

Beitrage  zur  Kenntnis  des  Botbriocephalos  ligoloides. 


151 


DiagBoee 

Anagang 

Ezistens  einer 
Wunncyate 

Länge  und  Breite 
des  Wurmes 

Bemerkungen 

ZuiüJigbeid. 



Ein  StQok   frei   in 

L.»  12-14  IndiB. 

Bei  d.  Sekt  ein.  an 

BektioQ   ge- 

d.  PleurahöUe,  11 

Dysentu.btrictura 

fQDden 

aber  in  d.  einfach. 

oesoph.  gestorben. 
Mannes  12  Stfick 

Bindegewebespalt 

gefunden 

WeitVerlf. 
u.  Auflg.  un- 
bek.,wdLd. 
Fat  ins  Ge- 
f&ngniif  ein- 
gesp.  wurde 

L.«=18^  cm 

Ein  Stfick  ist  abge- 
rissen und  zurilä- 
geblieben 

~ 

Hetlong 

— 

In  d.  lebend.  Zustd. 
ca.  30cm lg.;  Alk.- 
Präp.  —  8cmlg.  u. 
1,75  mm  breit 

— 

1» 

— -. 

frisch  2  feet  lang  (6 
—1,5    mm    breit; 
Alkoholpräpant) 

~~ 

— 

„ 



j  /frisch  •=  36.4cm 
^\Alk.-P.-=10,5„ 



P  [frisch  =  1,2  « 
^•lAlk.-P.«  6,5  „ 

1» 

" 

L.  =  10  cm 

B. «  0,5  cm 

(Alkoholpraparat) 

~ 

1» 

L.  B 14  cm 

B. «  0,2  cm 

(frisch) 

Vor  3  J.  einm.  ähnl. 
Wurm  ebenf .  beim 
Urin.ent].  DamaL 
HauptkhSchmen. 
u.  ürinbeschwd.  u. 
HämaturiaNachd. 
Entleer,  d.  Wurmes 
prompt  geheilt 

w 

" 

L.  =  25  cm 
B.  — 1,5— 4  mm 
(Alkoholpraparat) 

■~~ 

— 

1» 

ElefinfingerkuppeD  - 
große  Cyste 

L.  — 12  cm 



B.  =  03—0,6  cm 

Alkoholpräparat 

Unbekannt, 

T) 

. 

L.  —  2,5  cm 

^_ 

erst  bei  der 

R  «^  0,2  cm 

IncLdon  klar 

Alkoholpräparat 

Betrobol- 

f) 

_ 

L.  —  30  cm 

bärer  Tumor 

B.«  0,2-0,3  cm 
(frisch) 

" 

1» 

Einfach  in  der  Ge- 
websspalte    einge- 
nistet 

L. « 12  cm 

B.  =  0,3  cm 

(frisch) 

— 

AlMoefl 

1» 

Cystenbildung    mit 
glatter  Innenfläche 

L. «  8,5  cm 
B.  «=  3,5—6,5  cm 
(Alkoholpraparat) 

— 

Unbekannter 

1» 

DeatUcheCystenbU- 

L.«34  cm 

— 

Tomor 

düng 

B.  =  0,4  cm 

(frisch) 

152 


H.  Miyake, 


Autoren 

Alter 
und  Ge- 
schlecht 

Wohnort 

Sitz  des  Wurmes 

ECauptsymptome 

Shakukane 

43.jähr- 
Mann 

"""■ 

Im  M.  quadriceps  fe- 
moris 

An&llsweise  dumpfe 
Schmerzen.  Abecediert 

DiBSE 

- 

— 

Bei  d.  anat.  Sezübg.  zuf. 
im  Unterhautzd&ewb. 
d.  Bauchwd.  entdeckt 

— 

Shawabe 

27-jähr. 
(Qeschl. 
nicht 
ange- 
geben) 

Wakayama 
aus  der 
Provinz 
Kischu 

Im  M.  pectoralis  major 

I^ngs  d.  Faserverl.  d. 
M.  pect  maj.  verl.  un- 
regelmäß.  gespalt.  hart. 
Tumor,  olme  entzündl. 
Zeich,  druckempfindl. 
Ab  u.  zu  Spontanschm. 

Omi  1.  FaU 

42-jähr. 
Mann 

Kioto 

Im  Unterhautzeilgew.  d. 
Oberschenkenkds 

Unt^haib  d.  Scarpas. 
Dreieck  kinderfaustgr. 
pseudofluktuier.  Tum. 
ohne  entzündl.  Zeich. 
Ldchter  Spontanschm. 

Om  2.  FaU 

26-jähr. 
Mann 

In  der 

Nähe  Ton 

Kioto 

» 

Kindsftiustgr.,  pseudo- 
fluktuierender  Tumor. 
Leicht  druckempfind- 
lich 

der  Blase,  bald  Lendenschmerzen,  bald  Hämaturie.  Alle  diese  Be- 
schwerden sind  nicht  charakteristisch  für  die  Wurmkrankheit,  sondern 
stellen  nur  die  Folgeerscheinungen  eines  mechanischen  Reizes  dar,  wie 
er  durch  jede  Art  von  Fremdkörpern  hervorgerufen  werden  kann.  Außer 
den  anfallsweise  auftretenden  Schmerzen  ist  oft  eine  Anschwellung  der 
befallenen  Region  bei  oberflächlichem  Sitz  der  Affektion  zu  konstatieren. 
Beide  Symptome  scheinen  mit  Bewegungen  des  Wurmes  zusammen- 
zuhängen. Bei  oberflächlichem  Sitze  fühlt  man  einen  weichen,  diffusen 
Tumor,  der  oft  Pseudofluktuation  zeigt.  Zuweilen  spürt  man  ein  eigen- 
tümliches Knirschen  im  Innern  wie  beim  Zusammenballen  von  Schnee 
(Omi).  In  anderen  Fällen  ist  der  Tumor  von  elastisch  harter  Kon- 
sistenz (Inoüe,  Shawabe),  was  bei  längerem  Bestehen  desselben  auf 
Bindegewebshypertrophie  beruht.  Im  weiteren  Verlaufe  tritt  nicht  selten 
ein  Absceß  in  der  Umgebung  des  Wurmes  hinzu.  So  fand  Nagao  den 
Parasiten  in  einem  subkutanen  Absceß  in  der  Lendengegend,  und 
Shakürane  in  der  Nähe  eines  Abscesses  des  M.  quadriceps  femoris. 
5.  Diagnose:  Mit  Ausnahme  der  2  Fälle  von  Omi,  wurden  sämt- 
liche nur  zufallig  oder  durch  das  Erscheinen  des  Wurmes  erkannt.  Als 
wichtiges  diagnostisches  Merkmal  wird  bei  oberflächlichem  Sitze  der 
Affektion   von   Omi   „ein   entzündungsloser  Tumor   mit   der 


Beiträge  zur  Kenntnis  des  Bothriocephalns  liguloides. 


153 


Diagnose 


Ausgang 


Existenz  einer 
Wurmcyste 


Lange  und  Breite 
des  Wurmes 


Bemerkungen 


Unter  der 

Diagnose 

MyontiB  inci- 

diert 


Heilung 


Nur  einfache  Snalte 
im  Muskel  vorhan 
den 


Unbekannter 
Tumor 


Bichti^  dia- 
gnostiziert u. 
operiert 


Heilung 


Derbe  bindegewe- 
bige Cjstenwd.  m. 
glatter  Innenfläche 


Es  bleibt  an  Stelled. 
Wurm,  nur  eine  hin 
reichd.  große  Spalte 
übrig,  um  dens.  auf- 
zun.,  umgeb.  y.  Icht. 
verdickt  Membran 

Kein  ei^n.  Oysten- 
wand  sichtbar 


L.  =-  34  cm 
B.  —  0^  cm 

(frisch) 


L.  =  1  feet  (frisch) 


L.  ^  18|5  cm 

B.  =  0,3—0,4  cm 

(frisch) 


L.  =  45  cm 

B.  —  Oß  cm 

(frisch) 


L.  »20  cm  (frisch) 


Der  in  phvsiol.  Koch- 
salzlsg.  bei  Körper- 
temp.  gehalt.  Wurm 
wurde  am  nächsten 
Tg.  zu  ein  flockig. 
Bodensatz  aufgelöst 


Angeblich  besteht  d. 
Tum.  seit  d.  12.  Le- 
bensjahre. Tumor 
zeigt  ab  u.  zu  Vo- 
lumdifferenz 


Der  in  Hydrocelen- 
flüssigk.  b.  Körper- 
temp.  gehalt.  Wurm 
verschwd.  am  Anf. 
des  3.  Tages  voll- 
standig  aufgelöst 


Neigung  zum  Wandern"  angegeben.  Das  ist  aber  nicht  stets  der 
Fall,  wie  Inoues  Beobachtung  beweist.  Besser  wäre  es,  diesem  Zeichen 
noch  die  anfallsweise  auftretenden  Schmerzen  und  die 
zeitweise  Volumenveränderung  des  Tumors  hinzuzufügen. 
Jedenfalls  existiert  kein  charakteristisches  diagnostisches  Merkmal,  da 
die  Krankheit  häufig  fast  symptomlos  verläuft. 

6.  Verlauf  und  Ausgang:  Wenn  der  Parasit  einmal  entfernt 
ist,  so  heilt  die  Wunde  ebensogut  wie  andere  frische,  operativ  ange- 
legte Wunden.  Bei  längerem  Bestände  kommt  der  Wurm  entweder 
unter  Durchbruch  des  Gewebes  zum  Vorschein,  oder  es  tritt  nicht 
selten  dort,  wo  er  sitzt,  Eiterung  ein. 

6.  Der  Wurm  besitzt  gewöhnlich  keine  besondere  Cysten- 
wand,  sondern  lebt  ohne  scharfe  Begrenzung  in  den  Bindegewebs- 
oder  Muskelspalten.  Bei  je  einem  Falle  von  Shawabe  und  Inoue 
wurde  eine  deutliche  bindegewebige  Cystenwand  nachgewiesen.  Diese 
ist  aber  nicht  als  von  dem  Parasiten  ausgehend  aufzufassen,  sondern 
als  eine  reaktive  Bindegewebshypertrophie  des  Gewebes  bei  langdau- 
erndem, von  dem  Wurme  ausgeübtem  Reize.  Die  meisten  W^ürmer  des 
von  mir  sezierten  Affen  besaßen  ebenfalls  eine  eigene  dünnwandige 
Bindegewebskapsel  mit  glatter  Innenfläche.    In  den  Gewebsspalten  oder 


154    H.  Mijake,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  BothriocephaloB  liguloides. 

in  den  Cysten,  in  denen  der  Parasit  saß,  konnte  irgend  eine  Art  von 
Flüssigkeit  nicht  nachgewiesen  werden. 

8.  Länge  und  Breite  des  Wurmes  variieren  bedeutend,  wie 
die  obige  Tal)elle  zeigt  Diese  Zahlen  stammen  teils  von  frischen  teils 
von  Alkoholpräparaten,  daher  ist  es  schwer,  hier  Vergleiche  anzustellen. 
Die  geringste  Länge  hatte  der  von  Eojima  und  Itakura  beschriebene 
Wurm,  nämlich  14  cm  (frisch!),  und  die  bedeutendste  der  von  Shaito, 
nämlich  60  cm  (frisch !).  Die  Breite  schwankt  im  allgemeinen  zwischen 
2—5  mm  bei  frischen  Tieren,  als  Extreme  wurde  von  Toyoda  1,2  cm 
bei  frischen,  und  6,5  cm  bei  im  Alkohol  geschrumpften  Tieren  an- 
gegeben. 


Literatur. 


1)  Braun,  Max,  Die  tierischen  Parasiten  des  Menschen.     1895. 

2)  Ijima,  Die  Parasiten  des  Menschen  (japanisch). 

3)  LriMA  and  Mubata,  Some  new  cases  of  the  occurrence  of  Bothrio- 
cephalus  liguloides  8t.  Journal  of  the  College  of  Science,  Imperial 
Dniversity  Japan,  Vol.  2. 

4)  Imai,  Shikkichi,  Ein  Fall  von  Bothr.  liguloides  innerhalb  der  Augen- 
höhle.   Mitteil,  aus  Osaka  med.  Gesellsch.,  1893,  No.  13. 

5)  Ikoue,  Ein  Fall  von  Bothr.  liguloides.     Tokio  Jji-Shinshi,  1897,  No.  980. 

6)  KojiMA  u.  Itakura,  Ein  Fall  von  Bothr.  ligaloides.  Mitteil.  a.  d.  zentral- 
med.  Gesellsch.  zu  Nagoya. 

7)  Lbuckart,  Die  Parasiten  des  Menschen.     2.  Aufl.     1886. 

8)  NisHiMURA,  Ein  Fall  von  Bothr.  liguloides.  Mitteil.  a.  d.  med.  Gesell- 
schaft zu  Hiogoken,  1901,  No.  74. 

9)  Omi,  Ueber  Ligula  Mansoni.     Tokio  Jji-Shinshi,  1898,  No.  1065. 

10)  Shawabb,   Ueber   die  erfolgreiche  Therapie   von   Bothr.  liguloides   im 
M.  pectoralis  maior.     Vereinsber.  von  Wakayamaken  No.  29. 

11)  ScHBUBB,  Die  Krankheiten  der  wannen  Länder.     2.  Aufl.     1900. 


Nachdruck  verboteiu 


IX. 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten 

Myositis  infectiosa. 

Von 

Dr.  H.  Miyake  aus  Japan. 

(Hierzu  Tafel  DI.) 


I.  Klinischer  Teil. 

Als  Myositis  infectiosa  bezeichnen  wir  eine  Muskelentzündung, 
welche,  ausschließlich  in  den  quergestreiften  Muskeln  lokalisiert,  klinisch 
unter  dem  Bilde  einer  akuten  Infektionskrankheit  verläuft  und  meist 
Eiterung  hervorruft.  In  Europa  scheint  diese  Affektion  nicht  so  häufig 
vorzukommen  wie  in  Japan,  wo  sich  besonders  die  Chirurgen  eingehend 
mit  ihr  beschäftigen,  da  sie  oft  zu  chirurgischen  Eingriffen  Veranlassung 
gibt  Zur  Ergänzung  der  im  Jahre  1885  von  Herrn  Professor  Sgriba 
veröffentlichten  Arbeit  über  Myositis  infectiosa  scheint  es  mir  nicht 
ganz  ohne  Wert  zu  sein,  über  33  Fälle  zu  berichten,  welche  ich  in 
der  kurzen  Zeit  von  l*/^  Jahren  (Juli  1900  bis  März  1902)  in  meiner 
Privatpraxis  zu  Tokushima  und  in  dem  städtischen  Erankenhause  zu 
Osaka  beobachtete. 

ScRiBA  schrieb  in  dieser  Arbeit,  daß  die  Krankheit  in  Japan 
ebenso  selten  vorkomme  als  in  Europa;  später  behauptete  er  aber 
gerade  das  Gegenteil.  Als  Erreger  der  Erkrankung  fand  er  bald  nach 
der  Veröffentlichung  seiner  Arbeit  den  Staphylococcus  aureus, 
worüber  ich  auch  aus  seiner  Klinik  in  japanischen  Zeitschriften  früher 
berichtet  habe. 

Aus  der  Literatur  möchte  ich  zunächst  Virchows  im  Jahre  1852 
erschienene  Habilitationsschrift  erwähnen.  Virchow  beschrieb  unter 
dem  Namen  „spontane  akute  Myositis"  eine  Krankheit,  welche 
unter  hohem  Fieber,  mit  Schüttelfrost,  Gliederschmerzen,  Benommenheit, 
oft  sogar  mit  Delirien,  meist  in  kurzer  Zeit  zu  Tode  führt,  und  bei 
welcher  auf  dem  Sektionstische  multiple  kleine  Abscesse,   besonders  in 


156  H.  Miyake, 

der  Thorax-,  Extremitäten-  und  Herzmuskulatur  konstatiert  worden 
sind.  Durch  Hayem  wurde  die  Krankheit  unter  dem  Namen  ^infektiöse 
Myositis*'  in  der  französischen  Literatur  allgemein  bekannt.  Unab- 
hängig von  letzterem  bezeichnete  Scriba  die  Aflfektion  ebenso.  Walther 
nannte  sie  in  seiner  im  Jahre  1887  erschienenen  Arbeit  „idiopathische 
akute  eiterige  Muskelentzündung''.  Später  wurde  sie  allge- 
mein kurzweg  „primäre  eiterige  Myositis"  genannt.  Dies  sind 
nur  die  wichtigsten  Arbeiten  der  einschlägigen  Literatur,  welche  in 
näherer  Beziehung  zu  meiner  Arbeit  stehen;  im  übrigen  verweise  ich 
auf  die  vorzüglichen  Arbeiten  von  Kader,  Lorenz  und  auch  Honsell  ^). 

Was  die  Häufigkeit  der  Erkrankung  anbetrifft,  so  behauptete 
Lorenz  im  Jahre  1898,  daß  sich  bei  genauer  Prüfung  der  bisher  ver- 
öffentlichten Fälle  nur  17  als  echt  erwiesen  haben,  nämlich:  11  Fälle 
unter  23  von  Brunon  (2  von  Nicaise,  je  1  von  Foücoült,  Güyot, 
Chassaignac,  Broca,  DoLCHfi  und  4  von  Scriba),  je  1  Fall  von 
Walther,  Süard,  Clark,  Busch  und  noch  2  spätere  Fälle  von 
Brünon.  Zu  diesen  17  Fällen  fügt  Lorenz  noch  einen  eigener  Beob- 
achtung hinzu,  so  daß  die  Zahl  der  Fälle  im  ganzen  18  beträgt.  Auch 
von  den  9  Fällen  von  Honsell  sind  6  traumatischen  Ursprunges,  was 
jedoch  nicht  von  prinzipieller  Bedeutung  ist. 

Angeregt  durch  Scribas  Publikation ,  haben  sich  bei  uns  zahl- 
reiche Forscher  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  auf  diesem  Gebiete  be- 
tätigt. Es  sind  dies:  E.  Sakata,  Sekiba,  Tomoda,  A.  Hatashi, 
N.  Tanaka,  Uchiyama,  Nagatomi,  Kürosawa,  Maeda,  Jamagüchi, 
G.  Jamasaki,  K.  Sato,  K.  Shüzüki,  Araki,  Kawasaki,  Fükasawa, 
Ogawa,  Kojima,  Füjiy,  Yimori,  Ikekami,  A.  Jamasaki.  Kinovüchi, 
Chosokabe  und  Verfasser.  Von  diesen  Autoren  sind  im  ganzen  über 
250  Fälle  beschrieben  worden.  Doch  dürfen  meiner  Ansicht  nach  nicht 
alle  Fälle  als  echte  Myositis  infectiosa  angesehen  werden,  da  die 
Muskelabscesse,  welche  sehr  oft  im  Anschluß  an  eine  Pyämie  oder 
Osteomyelitis  entstanden  sind,  offenbar  hier  mitgezählt  worden  sind. 
Die  Myositis  infectiosa  ist  in  ihrer  Erscheinungsform  ganz  bestimmt 
charakterisiert.  Man  hat,  wie  Scriba  mit  Recht  hervorgehoben  hat, 
bei  der  Diagnose  dieser  Krankheit  vor  allem  auf  die  derbe  An- 
schwellung des  betreffenden  Muskels  und  die  schmerz- 
hafte Kontraktur  desselben  zu  achten;  selbstverständlich  gestattet 
die  breite  Incision  und  nachfolgende  Besichtigung  und  gründliche  Ab- 
tastung der  Höhle  ein  noch  sichereres  Urteil. 

Bei  den  33  Fällen,  welche  dieser  Arbeit  zu  Grunde  liegen,  wurde 
natürlich  auf  die  eben  erwähnten  diagnostischen  Merkmale  das  größte 
Gewicht  gelegt  und  die  meisten  noch  einer  gründlichen  Nachunter- 
suchung unterworfen.    Ferner  bemerke  ich  ausdrücklich,  daß  ich  unter 


1)  Siehe  das  Literaturverzeichnis  am  Schlüsse  der  Arbeit. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infeotiosa.        157 

die  33  Fälle  5  Patienten  eingerechnet  habe,  welche  im  Anschluß  an 
leichte  subkutane  Muskeltraumen  erkrankt  waren.  Meiner  Ansicht  nach 
kann  eine  Infektion  nur  auf  einem,  sei  es  durch  eine  unbedeutendere 
Faserzerreißung,  sei  es  durch  Uebermüdung,  abgeschwächtem  Terrain, 
erfolgen,  kurz  da,  wo  ein  Locus  minoris  resistentiae  vorhanden  ist 
Streng  genommen,  besteht  also  in  der  Aetiologie  der  trauma- 
tischen und  idiopathischen  Myositis  kein  scharfer  Unter- 
schied. Da  es  sich  bei  meinen  5  Fällen  nur  um  ganz  unbedeutende 
subkutane  Muskeltraumen  handelt,  auf  die  wir  erst  durch  genauere 
anamnestische  Nachforschung  kamen,  bin  ich  um  so  eher  berechtigt, 
jene  5  Fälle  als  idiopathische  Myositis  zu  beschreiben. 

Aetiologie. 
Neuerdings  wurde  von  Kader  die  Ansicht  ausgesprochen,  daß  die 
meisten  primären  Muskelentzündungen  die  gleiche  Ursache  haben.  Er 
behauptet,  ^daß  die  mannigfachen  Formen  der  sogenannten  primären 
Muskelentzündung,  welche  unter  verschiedenen  Namen,  als  Dermato- 
myositis,  Polymyositis  primaria,  Myositis  idiopathica  suppurativa,  Myo- 
sitis chronica,  Myositis  interstitialis,  beschrieben  worden  sind,  nicht 
voneinander  zu  trennende  Erkrankungen,  vielmehr  ihrem  ganzen  Wesen 
nach  nur  die  verschiedenartigen  Erscheinungsformen  eines  zusammen- 
gehörigen Ganzen,  einer  durch  bakterielle  Infektion  bedingten  Myositis 
septica  sind^.  Vielleicht  ergibt  sich  in  der  Zukunft  die  Richtigkeit 
dieser  Ansicht,  aber  zur  Zeit  ist  sie  noch  nicht  [ganz  einwandsfrei. 
Daß  unsere  Myositis  infectiosa  zu  seiner  Myositis  septica  gehört, 
braucht  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Die  Arbeiten  über 
Myositis  infectiosa  stammen  noch  zum  größten  Teile  aus  einer  Zeit, 
wo  die  Bakteriologie  noch  jüngeren  Datums  war,  und  daher  vermissen 
wir  eine  genauere  Beschreibung  der  bakteriologischen  Aetiologie. 
ScRiBA  und  Walther  gaben  die  hämatogene  Infektion  durch  Bakterien 
als  Ursache  an.  Brünon  fand  in  seinem  Falle  von  primärer  infektiöser 
Myositis  Streptokokken  und  erwähnte  dabei,  daß  die  infektiöse  Myositis 
nicht  durch  eine  spezifische  Bakterienart,  sondern  ähnlich  wie  Osteo- 
myelitis von  jeder  Art  der  eitererregenden  Mikroorganismen  hervor- 
gerufen werden  kann.  Waetzold,  Fraenkel,  H.  Neümann,  Lorenz 
fanden  bei  septikopyämischen  Muskelerkrankungen  Streptokokken ; 
P.  Boulloche  fand  im  Eiter  bei  einer  Myositis,  welche  im  Anschluß 
an  multiple  eiterige  Gelenkentzündung  auftrat,  Pneumokokken;  Zahra- 
DONiCKf  beobachtete  eine  Mischinfektion  von  Typhusbacillen,  Staphylo- 
coccus  aureus  und  Streptococcus  bei  einer  posttyphösen  Myositis ;  Boz- 
zoLO  und  Rovere  sahen  Staphylococcus  aureus  bei  einer  multiplen 
eiterigen  Myositis ;  Lorenz  bei  einer  Myositis  infectiosa  Staphylococcus 
aureus;  ebenso  züchtete  Honsell  in  9  Fällen  von  primärer  eiteriger 
Myositis   ohne  Ausnahme  Staphylococcus  aureus   in   Reinkultur.     Bei 


158  H.  Miyake, 

der  bakteriologischen  Untersuchung  der  echten  Myositis  infectiosa 
ÜEtnden  Bozzolo  und  Rovere,  Lorenz,  Honsbll  sämtlich  Staphylo- 
eoccus  aureus.  Kurz  nach  der  Veröffentlichung  seiner  4  Fälle  von 
Myositis  infectiosa  fand  Professor  Scriba,  der  sich  zu  Tokio  längere 
Zeit  mit  der  Kultur  des  Myositiseiters  beschäftigt  hatte,  stets  Staphylo- 
kokken. Leider  hat  Scriba  nichts  davon  in  der  europäischen 
Literatur  publiziert.  K.  Kojima  und  Araki  gelang  es,  in  2  Fällen 
Reinkulturen  von  Staphylococcus  aureus  anzulegen,  dagegen  fand 
K.  Sato  2mal  eine  Vermischung  von  Staphylokokken,  Streptokokken 
und  kapselhaltige,  den  Pneumokokken  ähnliche  Diplokokken  und  ein- 
mal das  gleichzeitige  Vorhandensein  von  Staphylokokken  und  Strepto- 
kokken. 

Bei  meinen  eigenen  33  Fällen  habe  ich,  mit  einer  einzigen 
Ausnahme,  bei  welcher  ohne  Eiterung  Resolution  eintrat  (Fall  5) 
und  der  Patient  weder  eine  Incision  noch  Punktion  an  sich  vornehmen 
ließ,  Kulturversuche  gemacht.  Nur  2 mal  unter  32  Fällen  war  das  Re- 
sultat negativ,  und  zwar  habe  ich  hierbei  Blut  benutzt,  welches  noch 
im  Indurationsstadium  durch  Incision  genommen  wurde ;  vielleicht  habe 
ich  hier  nicht  das  richtige  Material,  sondern  noch  gesundes  Blut  er- 
halten. Die  Resultate  aus  30  positiven  Fällen  waren  folgende: 
27mal  Staphylococcus  aureus  in  Reinkultur,  2mal  mit  einer 
kleinen  Menge  von  albus  vermischt  und  nur  Imal  Streptokokken 
in  Reinkultur.  Durch  Tierversuche  konnte  ich  eine  hohe  Virulenz 
aller  kultivierten  Bakterien  konstatieren. 

Die  Kultur  habe  ich  auf  Agar  vorgenommen.  Das  Material  ent- . 
nahm  ich  nach  gründlichster  Desinfektion  der  Haut  dem  aus  der  In- 
dsionswunde  quellenden  Eiter,  ohne  mit  dem  Finger  an  die  Wunde  zu 
kommen.  Auf  diese  Weise  habe  ich  etwaige  technische  Fehler  aufs 
Minimum  reduziert.  Selbstverständlich  sind  die  Fälle,  in  welchen  der 
Eiter  vor  der  Operation  mit  der  Luft  in  Berührung  kam,  nicht  ver- 
wertet worden. 

Sowohl  bei  der  in  Europa  vorkommenden  Myositis  als  auch  bei 
der  japanischen  sind  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  Sta- 
phylokokken gefunden  worden,  nur  sehr  selten  eine  Mischung  von 
Staphylokokken  und  Streptokokken.  Ich  selbst  sah  29mal 
unter  meinen  30  Fällen  Staphylococcus  aureus  in  reichlicher 
Menge  und  2mal  mit  einer  geringen  Menge  Staphylococcus  albus 
gemischt.  Aus  diesem  Befunde  kann  man  ohne  weiteres  ersehen,  daß 
die  in  Japan  relativ  häufig  vorkommende  infektiöse 
Myositis  fast  ausnahmslos  durch  eine  Infektion  von  Sta- 
phylococcus pyogenes  aureus  allein  oder  selten  durch 
eine  Mischinfektion  von  Staphylococcus  aureus  und 
albus  verursacht  wird.  Herr  Kollege  Haga  beschrieb  kürzlich 
9inen  Fall  von  Myositis  infectiosa,  verursacht  durch  Staphylococcus 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        159 

albus  allein;  jedoeh  kann  in  diesem  Falle  nicht  mit  absoluter 
Sicherheit  festgestellt  werden,  daß  Staphjlococcus  aureus  nicht 
beteiligt  gewesen  war.  Möglicherweise  war  in  der  kleinen  Menge  von 
Eiter,  die  in  der  Kultur  verwendet  wurde,  zufällig  kein  Staphylococcus 
aureus.  Uebrigens  besteht  zwischen  Staphylococcus  aureus  und  albus 
kein  prinzipieller  Unterschied,  weder  in  der  klinischen  Erscheinung 
noch  im  bakteriologischen  Verhalten,  wie  eine  neuerdings  erschienene 
hervorragende  Arbeit  von  M.  Neissbr  und  Wechsberg  beweist 
Femer  gewährt  der  Myositiseiter  schon  auf  den  ersten  Blick  das  cha- 
rakteristische Aussehen  einer  Staphylokokkeninfektion,  da  er  dickflüssig 
und  grünlichgelb  oder  graugelb  gefärbt  ist.  Ob  den  kultivierten  Aureus- 
Sorten  noch  ein  besonderes  bakterielles  Verhalten  gegen  die  querge- 
streifte Muskulatur  zukommt  oder  ob  wir  es  mit  dem  gewöhnlichen 
pathogenen  Aureus  zu  tun  haben,  lehren  die  nachfolgenden  Tierexperi- 
mente;  doch  sei  schon  hier  kurz  bemerkt,  da£  wir  keinen  Unterschied 
zwischen  beiden  finden  können. 

Im  Gegensatze  zu  den  Staphylokokken  kommen  die  Strepto- 
kokken bei  unserer  Myositis  äußerst  selten  vor.  Letztere  sind  ge- 
wöhnlich auf  der  gesunden  menschlichen  Haut  nicht  so  verbreitet  wie 
die  Staphylokokken,  sondern  fast  immer  auf  die  gesunde  Mnnd-,  Rachen- 
and  Darmschleimhaut  beschränkt. 

Es  ist  daher  eine  seltene  Erscheinung,  daß  tiefsitzende,  von  allen 
Seiten  umschlossene  und  also  direkt  nicht  erreichbare  Gewebe,  wie 
Muskel  oder  Knochen,  durch  Streptokokken  infiziert  werden.  Die  In- 
fektion dieser  Gewebe  erfolgt  erst  durch  Resorption  der  Keime  von 
den  genannten  Schleimhäuten  und  dann,  indirekt,  auf  dem  Blut- 
wege. Während  bekanntlich  die  Staphylokokken  das  infizierte  Gewebe 
rasch  zum  eiterigen  Zerfall  bringen,  verbreitet  sich  die  durch  Strepto- 
kokken verursachte  Entzündung  unter  Hinterlassung  einer  derben  In- 
duration mit  nur  geringer  Neigung  zur  eiterigen  Verschmelzung.  Außer- 
dem ist  der  Eiter  dünnflüssig  und  besitzt  ein  charakteristisches  hell- 
gelbes Aussehen.  Die  Streptokokken  etablieren  sich  gern  in  den 
serösen  Häuten,  dagegen  selten  in  den  Muskeln  und  Knochen.  Ferner 
zeichnen  sie  sich  dadurch  aus,  daß  sie  seltener  Metastasen  bilden  als 
die  Staphylokokken.  Erfolgt  einmal  die  Infektion  eines  Organes,  so 
erkrankt  der  Patient  infolge  der  Resorption  der  produzierten  Toxine 
schwer,  obwohl  der  Prozeß  auf  eine  umschriebene  Stelle  beschränkt 
bleibt.  So  groß  die  Aehnlichkeit  in  der  klinischen  Erscheinung  der 
Myositis  infectiosa  und  der  Osteomyelitis  ist,  so  übereinstimmend  ist 
auch  der  Bakterienbefund.  Die  beiden  Krankheiten  beruhen  größten- 
teils auf  einer  Staphylokokkeninfektion.  Kocher  und  Tayel  haben 
allerdings  einige  Fälle  von  Osteomyelitis  beschrieben,  welche  durch 
Streptokokken  hervorgerufen  worden  waren.  Einen  ähnlichen  Fall  habe 
ich  bei  der  Myositis  nur  Imal  beobachtet. 


160  H.  Miyake, 

Es  handelte  sich  da  um  eine  24-jähr.  Bauernfrau.  Sie  spürte  plötz- 
lich nach  vollster  Gesundheit  Schmerzen  in  der  Gegend  des  linken  M. 
infraspinatus,  die  von  hohem  Fieber  und  Prösteln  begleitet  waren.  Bald 
darauf  begann  der  betreffende  Muskel  derb  anzuschwellen.  Gleichzeitig 
bildete  sich  eine  schmerzhafte  Kontraktur  des  Armes  nach  dem  Bumpfe 
zu,  wobei  seine  Funktion  vollständig  aufgehoben  wurde.  Bei  der  Incision 
stellte  es  sich  heraus,  daß  der  Absceß  streng  innerhalb  des  M.  infra- 
spinatus  lokalisiert  war.  Der  ausfließende  Eiter  war  dünnflüssig  und 
grauweiß,  wie  es  auch  sonst  beim  Streptokokkeneiter  der  Fall  ist  Auf 
Agarplatten  gingen  aus  ihm  denn  auch  zahlreiche  Kolonien  von  Strepto- 
coccus pathog.  longus  in  Beinkultur  an.  Dagegen  wuchs  aus  dem  Eiter 
der  am  Unterschenkel  befindlichen  kleinfingerkuppengroßen  Wunde,  die 
als  Quelle    der  Infektion   angesehen   wurde,   allein  Staphylococcus  aureus. 

Jedenfalls  scheint  eine  Myositis  infectiosa  nur  sehr 
selten  durch  Infektion  von  Streptokokken  allein  ver- 
ursacht zu  werden,  wenn  auch,  wie  schon  erwähnt,  eine  Misch- 
infektion mit  Staphylokokken  von  K.  Sato  u.  a.  beobachtet  worden  ist. 
Ich  habe  außer  dieser  noch  einen  Fall  gesehen,  bei  dem  ich  Verdacht 
auf  Myositis  hatte  und  aus  dessen  Eiter  Streptokokken  in  Reinkultur 
wuchsen.  Aber  bei  der  späteren  Nachuntersuchung  des  Patienten 
stellte  sich  heraus,  daß  es  sich  nicht  um  eine  echte  Myositis,  sondern 
um  Osteomyelitis  gehandelt  hatte. 

Ueber  das  Vorkommen  des  kapseih  altigen  Diplococcus 
lanceolatus,  von  der  K.  Sato  berichtet,  habe  ich  keine  Erfahrung. 
Jedenfalls  haben  diese  Kokken  als  Erreger  der  Myositis  keine  nennens- 
werte Bedeutung,  aber  ihre  Möglichkeit  muß  auch  a  priori  zugegeben 
werden,  wenn  wir  an  der  nahen  Verwandtschaft  zwischen  Myositis  und 
Osteomyelitis  festhalten.  Wenigstens  beschrieben  üllmann  (1888)  und 
Karl  Müller  eine  Osteomyelitisform,  welche  durch  Pneumokokken 
verursacht  worden  war. 

Ferner  ist  es  kein  seltenes  Vorkommnis,  daß  ein  Muskelabsceß  im 
Verlaufe  von  Typhus  entstehen  kann.  So  beschrieben  kürzlich 
6.  Shibatama  und  Kuramoto  einen  Fall  von  Muskelabsceß  inner- 
halb des  M.  coracobrachialis,  welcher  in  der  4.  Woche  des  Typhus  ab- 
dominalis auftrat  und  aus  dessen  Eiter  sich  hochvirulente  Typhus- 
bacillen  in  Reinkultur  züchten  ließen.  In  der  europäischen  Literatur 
finden  sich  ebenfalls  vereinzelte  Beschreibungen  von  ähnlichen  Fällen 
(ZAHRADONiCKf  u.  a.).  Daß  ein  Muskelabsceß  während  oder  nach  Ab- 
lauf des  Typhus  vorkommen  kann,  ist  leicht  zu  verstehen,  weil  die 
Muskeln  dann  sehr  oft  von  den  resorbierten  Toxinen  ergriflfen  werden 
und  der  hyalinen,  körnigen  resp.  fettigen  Degeneration  anheimfallen, 
ein  für  die  Etablierung  der  zirkulierenden  Bacillen  sehr  günstiges  Mo- 
ment.   Einen  hierher  gehörigen  eigenen  Fall  möchte  ich  kurz  anführen : 

Pat.  war  ein  35-jähr.  Arbeiter.  Vorher  ganz  gesund  gewesen,  er- 
krankte er  im  Juli  1901  an  Typhus  abdominalis.  Im  Stadium  der  Re- 
konvaleszenz schwoll  die  rechte  Ileocökalgegend  derb  und  schmerzhaft  an. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        161 

Pat.  fieberte  dabei  beträchtlich.  Da  der  Prozeß  weiter  um  sich  griff, 
sachte  Pat.  meine  Klinik  auf.  In  der  rechten  Fossa  iliaoa  saß  eine  flache 
derbe  Anschwellung.  Ihre  obere  Grenze  reichte  bis  in  die  Nähe  des 
Nabels,  die  untere  bis  zum  PouPARTschen  Bande,  die  innere  bis  zur  Linea 
alba  und  die  äußere  bis  zur  Verlängerung  der  vorderen  rechten  Axillar- 
linie. Die  Haut  darüber  war  unverändert  Erst  bei  der  breiten  Incision 
und  gründlichen  Abtastung  der  schlaff  aussehenden  Eiterhöhle  konstatierte 
ich,  daß  der  Absceß  genau  innerhalb  des  M.  obliquus  extern us  und  in- 
ternus saß.  Der  Eiter  war  ziemlich  dickflüssig  und  gi-auweiß.  Auf  Agar 
wuchsen  auf  ihm  massenhafte  Kolonien  von  virulenten  Typhusbacillen 
in  Reinkultur.  Die  intraperitoneale  Injektion  (0,1  ccm)  einer  24-stündigen 
Bouillonkultur  von  denselben  tötete  eine  Maus  nach  24  Stunden,  eine 
zweite  erkrankte  auch,  erholte  sich  aber  allmählich. 

Auüer  dieser  typhösen  Myositis  habe  ich  noch  eine  eiterige  Myo- 
sitis des  M.  rectus  abdominis  beobachtet  Diese  war  hervorgerufen 
durch  .eine  Goliinfektion,  welche  sich  bei  einem  Neugeborenen 
nach  der  Operation  einer  Atresia  ani  zeigte. 

Wir  wollen  uns  nun  mit  dem  Infektionsmodus,  sowie  den 
sonstigen  ätiologischen  Momenten  unserer  Krankheit  beschäf- 
tigen. Gemäß  dem  in  manchen  Beziehungen  analogen  Verhalten  der 
Myositis  und  der  Osteomyelitis  scheint  die  Annahme  berechtigt  zu  sein, 
daß  diejenigen  ätiologischen  Momente,  welche  schon  bei  der  letztge- 
nannten Krankheit  anerkannt  sind,  auch  zum  größten  Teile  auf  erstere 
übertragen  werden  dürfen.  Zunächst  möchte  ich  über  die  Primärherde 
berichten,  von  denen  aus  die  Infektion  erfolgt  ist  und  deren  Bedeutung 
von  hervorragenden  Forschern,  wie  Th.  Kocher,  Kraske,  Lanne- 
L017GUE  bei  der  Osteomyelitis  in  übereinstimmender  Weise  festgestellt 
wurde.  Es  sind  dies  meist  kleine  Wunden  oder  auch  kleine  Eiter- 
herde, wie  Furunkel,  Aknepusteln,  Ekzeme  u.  s.  w.  Jordan  hatte  zuerst 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  in  den  auf  der  Haut  gelegenen,  ma- 
kroskopisch schon  längst  wie  abgeheilt  aussehenden  kleinen  Eiterherden 
(Furunkeln)  in  der  Tiefe  noch  virulente  Bakterien  nachzuweisen  sind, 
die  unter  Umständen  Metastasen  erzeugen  können.  Außer  den  unbe- 
deutenden Prozessen  der  Haut  wurden  auch  die  Schleimhäute  der  Ver- 
dauungs-  und  Atmungsorgane,  sowie  die  lymphatischen  Apparate  als 
die  Quelle  der  Infektion  angegeben.  So  halten  Th.  Kocher,  Buchner 
die  Tonsillen,  Kocher  die  Magen-  und  Darmschleimhaut  für  den  Aus- 
gangspunkt der  Bakterien  bei  Osteomyelitis.  Daß  der  Zungenbelag  ein 
guter  Nährboden  für  manche  pathogenen  Mikroorganismen  ist  und  von 
hier  aus  die  Keime  nach  dem  Respirations-  und  Verdauungsapparate 
fortgeschleppt  und  dadurch  weiter  die  Ursache  der  verschiedenen  In- 
fektionen werden  können,  wurde  von  Bernabei  hervorgehoben.  Es 
ist  ferner  eine  allgemein  bekannte  Tatsache,  daß  in  den  Haarfollikeln 
und  Schweißdrüsen  der  gesunden  Haut  sich  stets  Staphylokokken  nach- 
weisen lassen  (Gottstein).    Somit  können  auch  von  der  vollkommen 

Xtttoa.  I.  d.  Orenzgeblcten  d.  Ifadixln  o.  Chirnrfle.    XIU.  Bd.  H 


162  H.  Miyake, 

gesunden  Haut  schwere  Wundinfektionen  erfolgen.  Daß  unter  Um- 
ständen die  Mikroorganismen  auch  ohne  Kontinuitätstrennung  der  Haut 
in  diese  eindringen  können,  beweist  der  bekannte  Versuch,  den  Garr& 
am  eigenen  Korper  mit  Staphylococcus  aureus  unternahm.  Aehnliche 
Prozesse  können  sich  auch  in  der  Schleimhaut  abspielen.  Forscht  man 
bei  jeder  chirurgischen  Infektionskrankheit  genau  nach  dem  Infektions- 
modus, so  kann  man  in  manchen  Fällen  den  Primärherd  relativ  leicht 
konstatieren.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  müssen  wir  doch  als  Quelle 
die  Schleimhäute  oder  auch  andere  latent  gebliebene  Stellen  annehmen. 

Zuerst  behauptete  Sgriba,  daß  Furunkel  und  Mundabscesse  den 
Ausgangspunkt  auch  für  die  Myositis  infectiosa  darstellen,  ohne  aber 
dafür  einen  annehmbaren  Beweis  beizubringen.  In  einer  früheren,  mit 
Naoatomi  zusammen  verfaßten  Arbeit  habe  ich  Furunkel,  kleine  Haut- 
pusteln, Panaritien,  Ekzeme,  vereiternde  Moxenwunden  und  Hühner- 
augen als  häufigste  Quelle  der  Myositis  nachweisen  können.  Um  fest- 
zustellen, ob  solche  vorgefundenen  kleinen  Eiterherde  wirklich  als  die 
Quelle  der  Infektion  zu  betrachten  seien,  konnte  die  vergleichende 
bakteriologische  Untersuchung  zwischen  dem  Primärherd  und  der 
^eigentlichen  Krankheit  herangezogen  werden.  Besonders  bei  differenten 
Bakterienbefunden  ist  diese  Methode  von  ausschlaggebendem  Wert. 
Diese  Untersuchung  wurde  bei  meinen  Fällen  manchmal  nicht  ausge- 
führt, weil  der  angenommene  Primärherd  eben  längst  vernarbt  war 
und  es  nicht  lohnend  erschien,  durch  Incision  der  betreffenden  Partie 
das  Material  für  die  Kultur  zu  beschaffen.  Ein  so  angestellter  Versuch 
würde  überdies  leicht  zu  Täuschungen  führen,  da  allzuleicht  diejenigen 
Staphylokokken  zur  Entwickelung  kommen,  welche  die  Haut  bewohnen, 
und  nicht  die  gesuchten  Erreger  der  Krankheit. 

Zur  Bewertung  dieser  Methode  führe  ich  folgende  zwei  Beispiele 
an:  Während  im  Falle  14  aus  dem  Myositiseiter  sich  Strepto- 
kokken in  Reinkultur  entwickelten,  gingen  aus  dem  Sekrete  der 
2  vereiterten  Moxenwunden  auf  der  Rückenhaut,  welche  die  Ausgangs- 
herde sein  sollten,  nur  Staphylokokken  an.  Das  umgekehrte  Ver- 
halten zeigte  Fall  32,  wo  aus  dem  Myositiseiter  Staphylococcus 
aureus  in  Reinkultur  und  aus  dem  der  furunkelähnlichen  Eiterherde 
der  Gesichtshaut  in  der  Nähe  des  Antitragus  nur  reichliche  Kolonien 
von  Streptokokken  angingen.  Diese  Streptokokken  besaßen  volle 
Virulenz,  so  daß  die  intraperitoneale  Injektion  von  0,1  ccm  einer  48- 
stündigen  Bouillonkultur  ausreichte,  die  Mäuse  binnen  26  Stunden  zu 
töten.  Aus  diesen  zwei  interessanten  Befunden  geht 
hervor,  daß  man  bei  der  Bestimmung  des  primären 
Herdes  ohne  vergleichende  bakteriologische  Unter- 
suchung keine  Schlüsse  ziehen  darf.  Alle  anderen  einer 
solchen  Untersuchung  von  mir  unterworfenen  Fälle  lieferten  überein- 
stimmende Resultate. 


Beiträge  ztir  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        163 

Weiter  muß  die  Frage  gestellt  werden,  auf  welchem  Wege  die 
Bakterien  in  die  Muskeln  gelangen.  Nach  Sgribas  Ansicht  gelangen 
die  Keime  auf  hämatogenem  Wege  in  die  Muskeln.  Dies  wurde 
später  'von  anderen  Forschern,  wie  Walther,  Lewy,  Honsell  etc., 
bestätigt.  Sonach  sollen  die  Keime  nicht  direkt  durch  die  Lymph- 
bahnen in  die  nächstgelegenen  Muskeln  verschleppt  werden,  sondern 
dies  soll  stets  auf  embolischem  Wege  geschehen,  so  daß  beispielsweise 
aus  einem  in  der  Kopfhaut  befindlichen  Primärherde  stammende  Keime 
zu  den  Unterschenkelmuskeln  gelangen  können. 

Kann  man  nun  im  Verlaufe  der  Myositis  infectiosa  im  Blute  Bak- 
terien nachweisen,  wie  dies  bei  manchen  anderen  Staphylomykosen  der 
Fall  ist?  Bei  der  Myositis  infectiosa  lassen  sich  klinisch  zwei  Formen 
unterscheiden:  die  solitäre  und  die  multiple.  Zwischen  beiden 
besteht  aber  keine  scharfe  Grenze,  so  daß  die  erstere  nicht  selten  in 
die  letztere  übergehen  kann.  Aus  dieser  klinischen  Erfahrung  können 
wir  die  Existenz  von  Bakterien  im  Blute  ungefähr  vermuten.  Bei 
Fall  33  handelte  es  sich  um  eine  multiple  Myositis  der  M.  biceps  und 
gastrocnemius.  Nach  Incision  und  gründlicher  Eiterentleerung  fiel  das 
Fieber  eine  Zeitlang  ab,  stieg  aber  unter  Frösteln  wieder  bis  40**  auf, 
ohne  daß  sich  hierfür  ein  Grund  nachweisen  ließ.  Schließlich  stellte  es 
sich  heraus,  daß  unter  der  Brusthaut  eine  wenig  schmerzhafte,  fluktu- 
ierende Anschwellung  auftrat,  wo  vor  ca.  12  Tagen  bei  der  Operation 
Kampferöl  injiziert  worden  war.  Die  kleine  Wunde  war  inzwischen 
spurlos  verheilt.  Nach  Incision  dieses  Abscesses,  welcher  im  ünter- 
bautzellgewebe  saß,  fiel  die  Temperatur  rasch  zur  Norm  ab  und  die 
Heilung  ging  rasch  von  statten.  Sowohl  aus  dem  Myositiseiter  als 
auch  aus  dem  Hautabscesse  ging  Staphylococcus  aureus  in  Reinkultur 
an.  Eine  Kultur  aus  dem  Blute  konnte  leider  nicht  versucht  werden, 
da  die  Patientin  die  Entnahme  von  Blut  verweigerte.  Jedenfalls  ist  es 
in  diesem  Falle  interessant,  zu  beobachten,  daß  selbst  im  fieberfreien 
Stadium  der  Rekonvaleszenz  die  pathogenen  Bakterien  noch  im  Blute 
zirkulieren  und  Metastasen  bilden  konnten.  An  einer  anderen  Pa- 
tientin (Fall  27)  wurde  die  Blutuntersuchung  vorgenommen.  Die 
Patientin  litt  an  schwerer  Myositis  des  M.  serratus  anticus  dext.  und 
fieberte  um  39 — 40^.  Gleichzeitig  bei  der  Incision  wurde  nach  Canon 
5  ccm  Blut  aus  der  Armvene  mittels  steriler  Spritze  entnommen  und 
mit  Agar  vermischt  in  einige  Petrischalen  gegossen.  Nachdem  diese 
48  Stunden  im  Brutofen  bei  Bluttemperatur  gestanden  hatten,  gingen 
in  jeder  Schale  2 — 3  Kolonieen  von  Staphylococcus  aureus  an.  Nach 
der  Operation  fiel  die  Temperatur  einige  Tage  lang  zur  Norm.  Kaum 
hatte  sich  aber  die  Patientin  von  ihrer  Qual  erholt,  als  wiederum  eine 
partielle  eiterige  Myositis  des  linken  M.  trapezius  auftrat,  welche  durch 
Incision  bald  geheilt  wurde.  Dieser  Bakterienbefund  ist  von  prinzipieller 
Bedeutung.    Wir  werden  nach  diesem  Befunde  und  der  großen  Aehn- 

11* 


164  H.  Miyake, 

lichkeit  unserer  Krankheit  mit  der  akuten  Osteomyelitis  nicht  im  Zweifel 
sein,  daß  die  Myositis  infectiosa  zu  den  septikopyämischen 
Affektionen  zu  rechnen  ist 

Wir  müssen  uns  nun  der  Frage  zuwenden,  warum  speziell  die 
quergestreiften  Muskeln  bei  unserer  Form  der  septikopyämischen  In- 
fektion ergriffen  werden.  Volkmann  erwähnt  in  Pitha-Billroths 
Handbuch  sehr  treffend,  daß  die  Entzündung  der  quergestreiften  Muskeln 
stets  so  unbedeutend  und  demgemäß  unbeachtet  bleibt,  obwohl  die- 
selben sehr  häufig  Traumen  ausgesetzt  sind,  ferner  täglich  bei  der 
chirurgischen  Therapie  mitverletzt  oder  von  Entzündungen  aus  der 
Nachbarschaft  öfters  heimgesucht  werden.  Das  Muskelgewebe  besitzt 
nicht  nur  eine  hohe  Widerstandsfähigkeit  gegen  verschiedene  Eiter- 
kokken, sondern  nach  Müller,  Habermaas,  Reverdin  auch  gegen 
die  Tuberkelbacillen.  Lanz  will  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  Tu- 
berkelbadllen  durch  die  rege  Assimilation  und  Zirkulation  im  Muskel- 
gewebe selbst  erklären.  Tria  kam  nach  zahlreichen  Experimenten  mit 
verschiedenen  Bakterien  zu  dem  Schlüsse,  die  relative  Widerstands- 
fähigkeit eines  Muskels  beruhe  nicht  auf  der  sauren  Reaktion  des 
Muskelsaftes,  sondern  auf  vitaler  Energie  des  frischen  Muskelsaftes. 
Abgesehen  von  der  Richtigkeit  dieser  Erklärung  steht  doch  auch  die 
Tatsache  fest,  daß  das  Muskelgewebe  im  allgemeinen  nicht  nur  gegen 
Entzündungserreger,  sondern  auch  gegen  verschiedene  andere  pathogene 
Bakterienarten  resistent  ist  Wie  erklärt  man  sich  dann  also  das  Er- 
griffenwerden der  quergestreiften  Muskulatur  bei  Myositis  infectiosa? 
Hier  bleibt  keine  andere  Antwort  übrig  als  das  Vorhandensein  irgend- 
welcher Prädisposition  in  dem  betreffenden  Muskel  anzunehmen, 
d.  h.  das  Vorhandensein  eines  Locus  minoris  resistentiae 
in  einem  Muskel  und  außerdem  einen  hohen  Grad  der 
Virulenz  der  eingedrungenen  Bakterien. 

Als  prädisponierende  Ursache  für  die  primäre  eiterige  Myositis  sind 
allerhand  Momente  angegeben  worden.  Lyot  nennt  unzweckmäßige  Lebens- 
weise, mangelhafte  Ernährung  und  Alkoholvergiftung.  Walther  glaubt, 
daß  diejenigen  Personen  ergriffen  werden,  bei  denen  die  Wirksamkeit 
oder  die  Energie  des  Nervensystems  sehr  vermindert  und  infolgedessen 
die  Ernährung  des  Muskels  unzureichend  ist.  Diese  Erklärung  scheint 
nicht  richtig  zu  sein,  da,  wie  Honsell  mit  Recht  hervorhebt,  fast 
alle  Patienten  mitten  in  voller  Gesundheit  von  der  Krankheit  ergriffen 
werden.  Sowohl  33  eigene  als  auch  die  meisten  von  meinen  früheren 
und  alle  fremden  Fälle,  welche  in  Japan  veröffentlicht  wurden,  erkrankten 
plötzlich,  nachdem  sie  sich  vorher  durchaus  wohl  befunden.  Auch  der 
Ansicht  Lyots  kann  ich  nicht  beitreten,  da  sowohl  die  wohlgenährten 
Leute  ebenso  häufig  erkranken  wie  die  schlecht  genährten  und  auch  die 
Frauen  und  Kinder,  welche  wenig  oder  gar  keinen  Alkohol  genießen, 
ebenso  häufig  wie  die  Männer. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        165 

Die  üeberanstrengung  als  lokal  wirkende  Disposition  wurde 
von  Walther,  Fujiy,  Verfasser  u.  a.  hervorgehoben.  In  diesem  Falle 
kann  man  wohl  annehmen,  daß  die  zarten  Muskelfasern  ohne  merkbare 
oder  fühlbare  Erscheinung  hier  und  da  subkutan  gequetscht,  gedehnt 
oder  zerrissen  werden  und  daß  dann  innerhalb  eines  Muskels  punkt- 
förmige Hämorrhagien  entstehen,  welche  den  kreisenden  Bakterien 
günstige  Gelegenheit,  sich  zu  etablieren  und  weiter  zu  entwickeln, 
geben.  Nach  Dorst  stellen  subkutane  Hämorrhagien  einen  guten 
Nährboden  für  Bakterien  dar.  Er  brauchte  bei  Tieren  40mal  so  viel 
Infektionsstoff,  um  die  gesunde  Extremität  zu  infizieren,  als  die  von 
Hämorrhagien  durchsetzte.  Nach  Brunon  sind  diejenigen  Muskeln, 
die  am  meisten  angestrengt  werden,  auch  am  meisten  disponiert 
Unter  33  Fällen  fand  ich  5,  die  sicher  auf  üeberanstrengung  zurück- 
zuführen waren.  Der  erste  Patient  (Fall  15)  bekam  nach  anstrengendem 
Marsche  eine  Myositis  des  M.  quadriceps  femoris,  der  zweite  (Fall  17) 
aus  gleicher  Veranlassung  erst  die  Myositis  des  rechten  M.  gluteus 
maximus,  dann  im  weiteren  Verlaufe  des  rechten  M.  deltoideus,  der 
dritte  (Fall  18)  auch  auf  ähnliche  Weise  Myositis  des  rechten  M.  ileo- 
psoas,  der  vierte  (Fall  16)  nach  Anstrengung  des. Beines  beim  Weben 
zuerst  Myositis  des  rechten  M.  gluteus  maximus,  dann  des  rechten  M. 
longissimus  dorsi  und  des  M.  obliquus  abdom.  ext.,  und  endlich  der 
fünfte  (Fall  27)  nach  anstrengender  Arbeit  beim  Drehen  einer  Trikot- 
maschine mit  dem  Arme  zuerst  eine  Myositis  des  rechten  M.  serratus 
ant.  maj.,  dann  des  linken  M.  trapezius. 

Ob  reine  Üeberanstrengung  eines  Muskels,  also  ohne  Hämorrhagien 
oder  Faserläsionen,  die  lokale  Disposition  zur  Entstehung  der  Myositis 
steigern  kann,  lehren  die  später  ausgeführten  Tierexperimente. 

Daß  die  subkutane  Verletzung  des  Muskels  durch 
stumpfe  Gewalteinwirkung  nicht  selten  die  Veranlassung  der  eiterigen 
Myositis  werden  kann,  ist  längst  bekannt.  Unter  meinen  33  Fällen 
sind  in  dieser  Hinsicht  5  zu  verzeichnen  (Fall  29—33).  Hier  sei  aus- 
drücklich bemerkt,  daß  es  sich  bei  allen  5  Fällen  um  ganz  unbedeutende 
subkutane  Verletzungen  gehandelt  hat  und  die  Patienten  bis  zum  Aus- 
bruch der  Krankheit  kaum  etwas  von  den  Folgen  der  Traumen  gespürt 
haben. 

Wenn  üeberanstrengung  und  Trauma  wirklich  die  Disposition  zur 
Erkrankung  steigern,  so  muß  in  Bezug  auf  die  Häufigkeit  des  Auf- 
tretens eine  gewisse  Regelmäßigkeit  bestehen.  Walther  fand  die 
Krankheit  vorzugsweise  in  den  Extremitätenmuskeln,  Brunon  gibt 
folgende  Reihenfolge  an :  Brustmuskeln,  M.  deltoideus.  Mm.  triceps  und 
biceps  humeri,  Lendenmuskeln,  M.  biceps  femoris,  M.  gastrocnemius 
u.  s.  w.  Nach  meiner,  sowie  nach  Fujiys  und  K.  Satos  Statistik  sind 
die  Muskeln  der  unteren  Extremitäten  am  meisten  disponiert,  dann 
folgen  die  der  oberen  Extremitäten.    Unter  33  Fällen  zählte   ich  50 


166  H.  Miyake, 

affizierte  Muskeln,  darunter  14mal  M.  gluteus  maximus,  Tmal  M.  biceps 
femoris,  je  3mal  Mm.  gastrocnemius,  quadriceps  femoris  und  triceps 
brachii,  je  2mal  Mm.  pectoralis  major,  deltoideus,  Adductor  magnus  und 
rectus  abdominis,  je  Imal  Mm.  teres  major,  infraspinatus  trapezius, 
latissimus  dorsi,  flexor  digitorum  communis,  ileopsoas,  sartorius,  lon- 
gissimus  dorsi,  sacrospinalis.  Obige  Zahlen  stimmen  vollständig  mit 
der  Statistik  der  anderen  Autoren  überein.  Hieraus  läßt  sich  schließen, 
daß  diejenigen  Muskeln,  welche  im  gewöhnlichen  Leben 
am  häufigsten  gebraucht  werden,  auch  am  meisten  der 
Infektionsgefahr  ausgesetzt  sind.J 

Auch  der  Stand  der  Kranken  spielt  keine  unbedeutende  Rolle.  Bei 
Patienten  aus  den  höheren  und  mittleren  Ständen  beobachtet  man  die  Krank- 
heit relativ  selten,  bei  den  Arbeitern  und  Bauern  dagegen  ziemlich  häufig. 
Der  Grund  hierfür  liegt  in  den  oben  erwähnten  Traumen  und  üeber- 
anstrengungen,  denen  die  niederen  Stände  häufiger  ausgesetzt  sind. 
Nach  FüJiY  waren  unter  91  Fällen  71  körperlich  arbeitende  Leute. 
Unter  meinen  33  Fällen  handelte  es  sich  29mal  um  Angehörige  der 
arbeitenden  Klassen  (darunter  aber  6  Kinder  unter  10  Jahren)  und 
4mal  um  Kaufleute  (darunter  1  Kind  von  3  Jahren). 

Einige  Autoren  behaupteten,  daß  die  Jahreszeit  mit  dem  Aus- 
bruche der  Krankheit  in  Zusammenhang  stehe.  So  soll  nach  Scriba 
der  Frühlung  und  Herbst,  nach  Maeda  ein  Zeitraum  zwischen  Winter 
und  Frühjahr,  nach  Sakata  dagegen  der  Sommer  bevorzugt  sein. 
Das  Material,  welches  von  diesen  Autoren  zur  Statistik  benutzt  wurde, 
scheint  einerseits  nicht  immer  einer  echten  Myositis  infectiosa  ent- 
sprochen zu  haben,  andererseits  ist  es  nicht  groß  genug.  Das  schein- 
bare endemische  Vorkommen  hängt  nicht  mit  der  Jahreszeit  oder  Tem- 
peratur zusammen,  sondern  in  Wirklichkeit,  wie  Fujiy  richtig  sagt, 
mit  den  Zeiten,  wo  die  Bauern  im  Felde  hart  arbeiten  müssen  oder 
besonderen  Anstrengungen  und  Traumen  ausgesetzt  sind. 

Das  Geschlecht  übt  auf  das  Vorkommen  der  Myositis  keinen 
direkten  Einfluß  aus,  doch  ist  das  männliche  Geschlecht  öfter  befallen 
als  das  weibliche.  Nach  meiner  Zusammenstellung  von  33  Fällen  be- 
trafen 21  das  männliche,  12  das  weibliche  Geschlecht.  Der  Grund 
hierfür  ist  darin  zu  suchen,  daß  das  erstere  den  prädisponierenden 
Momenten  (Trauma,  Ueberanstrengung)  mehr  ausgesetzt  ist  als  das 
letztere. 

So  viel  Einfluß  das  Alter  auf  das  Vorkommen  der  Osteomyelitis 
hat,  so  wenig  hat  es  auf  das  der  Myositis.  Nach  Lyot  wurde  die 
Krankheit  häufiger  bei  Erwachsenen  beobachtet.  Nach  meiner  früheren 
Arbeit  überwiegt  das  kindliche  Alter.  Als  Grund  wurde  dafür  das  bei 
Kindern  häufige  Vorhandensein  von  skrofulösen  Exanthemen  und 
sonstigen  Hautausschlägen,  welche  die  häufige  Quelle  der  Myositiserreger 
sind,  angegeben.    Nach  K.  Sato  überwiegen  auch  die  Individuen  unter 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        167 

20  Jahren.  Honsbll  legt  keinen  Wert  auf  das  Alter,  weil  die  Zahl 
der  bisher  veröffentlichten  Fälle  noch  zu  klein  ist.  Wenn  ich  meine 
33  Fälle  in  zwei  Gruppen  teile,  nämlich  die  unter  und  die  über  dem 
25.  Lebensjahre,  welches  in  unserem  Klima  ungefähr  als  Grenze  der 
Wachstumsperioden  angesehen  werden  kann,  so  kommen  18  Fälle  auf 
die  Zeit  unter  25  Jahren,  14  auf  die  Zeit  über  dieser  Grenze. 

Der  allgemeinen  Annahme,  daß  die  Myositis  suppurativa  primaria 
in  Japan  so  enorm  häufig  vorkommt,  wurde  auf  dem  japanischen  Chi- 
rurgenkongresse 1902,  auf  welchem  ich  über  den  Gegenstand  zu  refe- 
rieren hatte,  sowohl  von  mir  als  auch  von  meinem  Korreferenten, 
Herrn  Professor  Dr.  H.  Ito,  auf  Grund  der  tatsächlichen  Erfahrungen 
widersprochen.  Trotzdem  kamen  wir  zu  der  Annahme,  daß  die  Affektion 
im  Vergleich  zu  Europa  immerhin  noch  oft  genug  vorkommt.  Meine 
33  unzweifelhaften  eigenen  Beobachtungen  in  1^/4  Jahren  mögen  dafür 
einen  Maßstab  geben.  Auf  die  Frage  nach  dem  Grunde  dieses  häufigen 
Vorkommens  können  wir  bis  jetzt  leider  keine  befriedigende  Antwort 
geben. 

Es  lassen  sich  folgende  drei  Erklärungsmöglichkeiten  anführen: 
1)  das  Klima  und  die* Bodenbeschaffenheit;  2)  der  Rassenunterschied; 
3)  die  Nahrung. 

Ad  1.  Es  ist  von  vielen  Krankheiten  bekannt,  daß  sie  in  einer 
bestimmten  Gegend  häufiger  vorkommen  als  in  anderen.  Wie  einfluß- 
reich das  Klima  und  die  Bodenbeschaffenheit  auf  das  Wachstum  der 
Pflanzen  sind,  braucht  nicht  erst  hervorgehoben  zu  werden.  Daß  die- 
selben Umstände  auch  bei  Entstehung  der  Myositis  mitspielen,  kann  man 
aUerdings  nicht  leicht  behaupten.  Möglich  ist  es  aber,  daß  es  unter 
den  bei  uns  vorkommenden  Staphylokokkenvarietäten  auch  solche  gibt, 
welche  gerade  die  entsprechende  Virulenz  [besitzen,  Myositis  zu  er- 
zeugen. Vorausgesetzt,  daß  diese  Annahme  richtig  sei,  so  muß  dabei 
noch  eine  andere  Ursache  in  den  Muskeln  vorhanden  sein,  welche  die 
Etablierung  und  Weiterentwickelung  der  Bakterien  begünstigt. 

Ad  2.  Wie  die  Reaktion  der  verschiedenen  pathogenen  Bakterien 
selbst  unter  den  gleichen  Tierspecies  je  nach  der  verschiedenen  Haar- 
farbe mehr  oder  weniger  variiert,  so  muß  dies  auch  bei  unserer  Rasse 
gegenüber  anderen  der  Fall  sein.  So  verläuft  bei  uns  der  Typhus  ab- 
dominalis meist  ohne  Diarrhöe,  die  Syphilis  im  Sekundärstadium  meist 
mit  kaum  merkbaren,  unbedeutenden  Hautausschlägen  oder  ganz  ohne 
solche.  Endlich  trifft  man  Lupus  bei  uns  so  selten  an,  daß  sein  Vor- 
kommen lange  Zeit  ganz  bezweifelt  wurde.  So  sind  wir  wohl  berech- 
tigt, die  Häufigkeit  der  Myositis  in  Japan  auf  den  Rassenunterschied 
zurückzuführen.  Ob  ein  feiner  molekularer  Unterschied  im  Baue  der 
Muskeln  zwischen  Europäern  und  Japanern  bestehe,  weiß  niemand. 
BlLZ  will  nach  langjähriger  Erfahrung  die  Beobachtung  gemacht  haben, 
daß  die  japanischen  Arbeiter  trotz  der  Kleinheit  des  Körpers  kräftig 


168  H.  Miyake, 

entwickelte  Muskeln  besitzen  und  im  stände  sind,  langdauernde  körper- 
liche Strapazen  zu  ertragen.  Als  Ursache  gibt  der  Autor  die  vor- 
wiegend vegetabilische  Nahrung  an.  Ich  lasse  hier  die  Richtigkeit  der 
BlLzschen  Erklärung  dahingestellt,  doch  kann  daraus  vielleicht  hervor- 
gehen, daß  irgend  ein  unbekannter  Unterschied  im  Muskel  zwischen 
den  beiden  Rassen  besteht,  welcher  in  Bezug  auf  die  Entstehung  unserer 
Krankheit  vielleicht  eine  Rolle  spielt.  Ob  bei  den  uns  verwandten 
Chinesen  und  Koreanern  die  Krankheit  ebenso  häufig  vorkommt,  ist 
noch  nicht  erforscht. 

Ad  3.  Daß  eine  gewisse  Art  der  Nahrung  für  das  Vorkommen 
einer  Krankheit  von  nicht  geringer  Bedeutung  ist,  darf  nicht  bezweifelt 
werden.  Ueber  die  Pathogenese  der  Kakke  oder  Beriberi  weiß  man 
zur  Zeit  wenig,  doch  ist  es  Tatsache,  daß  die  Krankheit  in  Japan  nur 
bei  reisessenden  Eingeborenen  vorkommt,  bei  den  fleischessenden 
Europäern  dagegen  gar  nicht  oder  äußerst  selten.  Ob  ein  ähnliches 
Verhalten  auch  bei  der  Myositis  vorliegt,  ist  noch  nicht  sicher  zu  be- 
antworten, scheint  aber  wahrscheinlich. 

Welcher  von  diesen  drei  Möglichkeiten  das  Hauptgewicht  beizu- 
messen ist,  läßt  sich  zur  Zeit  schwer  sagen.  Vielleicht  darf  man  an- 
nehmen, daß  Rasse  und  Nahrung  dabei  die  Hauptrolle  spielen. 

Symptome  und  Verlauf. 
Die  primäre  akute  Myositis  beginnt  meist  mit  plötzlichem  Frost 
und  hohem  Fieber.  Patient  klagt  über  Appetitlosigkeit,  allgemeine 
Mattigkeit,  Gliederschmerzen,  Kopfschmerz;  oft  findet  man  Benommen- 
heit, profuse  Schweißsekretion.  Patient  kommt  dabei  rasch  herunter. 
Der  befallene  Muskel  zeigt  zuerst  eine  schmerzhafte  Induration,  welche 
bald  zu  einer  spindelförmigen  oder  mehr  diffusen  Anschwellung  führt. 
Der  Muskel  ist  stark  kontrahiert,  funktionsunfähig  und  zeigt  eine  cha- 
rakteristische Anschwellung.  Die  Haut  darüber  ist  heiß,  aber  nicht 
gerötet.  Im  weiteren  Verlaufe  tritt  eine  Erweichung  in  der  Mitte  auf, 
welche  sich  allmählich  nach  dem  Rande  zu  ausbreitet.  Dann  zeigt 
sich  mehr  oder  minder  deutliche  Fluktuation  in  der  Tiefe.  Nicht  selten 
beschränkt  sich  der  Indurationsprozeß  auf  einen  Teil  des  Muskels. 
Wenn  wir  in  dem  Stadium  incidieren,  in  welchem  eben  die  Fluktuation 
sich  bemerkbar  gemacht  hat,  so  bleibt  der  Absceß  regelmäßig  innerhalb 
des  betreffenden  Muskels  begrenzt.  Die  Absceßwand  ist  mit  schmierigen, 
von  Eiter  durchtränkten  Muskelfasern  durchsetzt.  Es  entleert  sich  ein 
dicker,  grüngelber,  leicht  mit  Blut  gemischter  Eiter.  Säumen  wir  aus 
irgend  einem  Grunde  mit  der  Operation,  so  geht  die  harte  Induration 
in  toto  in  einen  weichen,  fluktuierenden  Absceß  über,  der  einem  Senkungs- 
absceß  nicht  unähnlich  sieht.  Schon  in  diesem  Stadium  zeigt  der  Patient 
mehr  oder  weniger  deutliche  Erscheinungen  von  Septikopyämie ;  rascher 
Kräfteverfall,  Appetitlosigkeit,  fahlgelbe  Hautfarbe,  starkes  intermittie- 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        169 

rendes  Fieber,  Nachtschweiß,  Schlaflosigkeit  sind  die  regelmäßigen  Er- 
scheinungen in  diesem  Stadium.  Selbst  in  diesem  späten  Stadium  hat 
der  Absceß  wenig  Neigung,  das  Nachbargewebe  in  Mitleidenschaft  zu 
ziehen.  Das  direkt  unter  dem  affizierten  Muskel  gelegene  Periost  und 
der  Knochen  bleiben  in  jedem  Falle  verschont  Eine  phlegmonöse  Aus- 
breitung des  Prozesses  ist,  wie  Scriba  seiner  Zeit  beschrieb,  nur  im 
Falle  äußerster  Vernachlässigung  zu  beobachten.  Unterlassen  wir  es, 
die  Myositis  zur  rechten  Zeit  chirurgisch  zu  behandeln,  so  geht  sie 
trotz  des  spontanen  Durchbruchs  des  Eiters  nicht  selten  in  eine  Art 
Pyämie  über  und  erzeugt  multiple  Abscesse  in  verschiedenen  Körper- 
gegenden, die  schließlich  zum  Tode  fähren. 

Außer  dem  geschilderten  Ausgange  in  Eiterung,  welcher  die  Begel 
bildet,  beobachtet  man  nicht  übermäßig  selten,  daß  die  derbe  Infiltration 
unter  geeigneter  Behandlung  in  Resolution  übergeht. 

Im  folgenden  gestatte  ich  mir,  noch  des  Genaueren  auf  den  lo- 
kalen Befund,  auf  die  multiple  Myositis,  sowie  auf  die  Rezidive  der 
Krankheit  einzugehen. 

Die  Krankheit  befällt  entweder  einen  Muskel  oder  eine  ganze 
Muskelgruppe,  selten  nur  einen  Teil  eines  Muskels.  Wenn  ein  Muskel 
in  toto  ergriffen  wird,  so  tritt  bei  den  langen  Muskeln  eine  spindel- 
förmige, bei  den  breiten  dagegen  eine  diffuse,  halbkugelige  Anschwel- 
lung auf.  Diese  Anschwellung  ist  im  Anfangsstadium  bretthart  und 
intensiv  druckempfindlich.  Eine  Infiltration  oder  Rötung  der  bedecken- 
den Haut  wird  im  Anfangsstadium  immer  vermißt.  Ist  sie  vorhanden, 
so  rührt  sie  in  der  Regel  entweder  vom  Druck  oder  Reiben  der  Klei- 
dung oder  therapeutischen  Maßnahmen  her.  Die  brettharte  Induration 
geht  gewöhnlich  in  4—5 — 10  Tagen  in  Eiterung  über.  Es  wurde  aber 
auch  ein  Fall  beobachtet,  in  dem  erst  nach  1-monatlichem  Verlaufe 
Eiterung  eintrat.  In  diesem  subakut  verlaufenden  Falle  war  der  affi- 
zierte  Muskel  auffällig  hart,  abscedierte  herdweise  und  ließ  bei  der  In- 
cision  ein  Knirschen  hören,  das  von  dem  inzwischen  stark  gewucherten 
Bindegewebe  stammte  (Fall  24). 

Glücklicherweise  regenerieren  sich  die  verloren  gegangenen  Muskel- 
Parties  äußerst  rasch,  so  daß  ein  Muskel,  der  scheinbar  fast  in  toto  zu 
Grunde  gegangen  ist,  z.  B.  der  M.  quadriceps  femoris,  in  3—4  Wochen 
wieder  sein  ursprüngliches  Volumen  erreichen  und  gebrauchsfähig  werden 
kann.  Die  nicht  selten  auftretende  Muskelkontraktur  verschwindet  unter 
geeigneter  Behandlung. 

Als  multiple  Myositis  können  wir  zwei  Abarten  der  Er- 
krankung bezeichnen:  die  typische  Form,  welche  vom  ersten  Beginn 
an  multipel  auftritt,  und  die  atypische,  welche  erst  als  isolierte 
Myositis  auftritt  und  später  erst  multipel  wird.  Zwischen  beiden  be- 
steht aber  keine  scharfe  Grenze,  indem  auch  im  Verlaufe  von  der  ty- 
pischen multiplen  Form  Nachschübe  sich  einstellen  können.    Bezüglich 


170  H.  Miyake, 

der  Zahl  der  gleichzeitig  befallenen  Muskeln  haben  wir  unter  unseren 
33  Fällen  folgende  Erfahrung  gemacht.    Es  waren  befallen 

1  Muskel  allein     18mal 

2  Muskeln  12mal 

3  „  2mal 
5         j,  Imal 

Auch  mehr  als  5  Muskeln  gleichzeitig  betreffende  Fälle  kommen  vor. 
So  hat  0.  Tomada  einen  günstig  verlaufenden  Fall  von  multipler  Myo- 
sitis veröffentlicht,  in  welchem  18  Muskeln  affiziert  und  davon  14  in 
Eiterung  übergegangen  waren. 

Kommt  die  Myositis  multipel  vor,  so  sind  die  Erscheinungen  na- 
türlich viel  schwerer  und  stürmischer  als  bei  der  einfachen,  sonst  finden 
wir  keinen  merklichen  Unterschied.  Bei  jeder  multiplen  Myositis  ist 
Septikopyämie  mehr  oder  minder  ausgeprägt.  Trotzdem  verläuft  die 
multiple  Myositis  ebenso  günstig  wie  die  einfache,  wenn  wir  dem  Eiter 
nur  schnell  hinreichenden  Abfluß  schaffen.  Nur  bei  vernachlässigten 
Fällen  tritt  der  Tod  infolge  der  Pyämie  oder  Pneumonie  ein. 

Eine  langdauernde  Immunität,  wie  sie  nach  dem  einmaligen  üeber- 
stehen  mancher  akuten  Infektionskrankheit  beobachtet  wird,  scheint  bei 
der  staphylomykotischen  Myositis  nicht  vorzukommen. 

Buchner  und  Roemer  haben  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
die  meisten  Anatomen  im  Anfange  ihrer  Tätigkeit  der  Infektion  mit 
Eitererregern  in  hohem  Grade  ausgesetzt  seien,  daß  aber  mit  der  Zeit 
ihre  Empfänglichkeit  dafür  geringer  werde.  Nach  Canon  und  Petersen 
bilden  sich  im  Blute  eines  an  typischer  Osteomyelitis  erkrankten 
Patienten  sicher  Antitoxine,  welche  bei  intravenöser  Injektion  von 
kleinen  Dosen  im  stände  sind,  die  tödliche  Infektion  durch  den  aus 
dem  Osteomyelitiseiter  gewonnenen  virulenten  Staphylococcus  aureus 
unschädlich  zu  machen,  wenn  sie  auch  nur  kurze  Zeit  wirksam  bleiben. 
Nach  Lingelsheim  u.  a.  ist  die  Immunität  gegenüber  der  Staphylo- 
kokkeninfektion  überhaupt  nur  von  geringer  Dauer.  Ich  habe  nun  bei 
meinem  Beobachtungsmaterial  nachgeforscht,  ob  kurz  nach  der  Heilung 
einer  Myositis  Rezidive  vorkommen  können,  über  deren  Existenz  bis 
jetzt  noch  nichts  berichtet  worden  ist,  obgleich  ein  solcher  Fall  im 
Hinblick  auf  die  verwandte  Osteomyelitis  sehr  wahrscheinlich  ist.  Tat- 
sächlich habe  ich  bis  jetzt  2  solche  Fälle  beobachtet,  wovon  der  eine 
(Fall  26)  nach  4-monatlicher  Heilung  der  mittelschweren,  multiplen 
Myositis  wiederum  an  akuter,  primärer  Myositis  der  linken  Mm.  obliquus 
abdominis  ext.  und  gluteus  maximus  erkrankte;  bei  dem  anderen  trat 
nach  3-monatlicher  vollkommener  Heilung  der  Myositis  des  linken  M. 
infraspinatus  wieder  die  typische  Myositis  des  M.  quadriceps  femoris 
(Fall  28)  ein.  Aus  diesen  Beobachtungen  geht  hervor,  daß  die  Im- 
munitätsdauer nach  unserer  Myositis  ebenfalls  nur  auf  kurze  Zeit, 
höchstens  3—4  Monate,  zu  bemessen  ist. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        171 


Pathologische  Anatomie. 

Nach  eingehenden  Studien  von  zahlreichen  Autoren  können  wir 
3  Arten  von  eiteriger  Myositis  unterscheiden:  die  mit  solitären 
großen,  die  mit  disseminierten  Abscessen  und  die  mit  eiteriger 
diffuser  Infiltration  des  Muskels  einhergehende,  unter  diesen  Formen 
überwiegt  die  von  großen  solitären  Abscessen  begleitete  Form.  So  ge- 
hören sämtliche  Fälle  von  Scriba,  Honsell  und  die  meinigen  hierher. 
Nach  ScRiBA  lokalisiert  sich  der  Absceß  bei  frischen  Fällen  in  einem 
Muskel  selbst  oder  in  der  Muskielscheide.  Nur  Imal  beobachtete  er 
bei  einem  zweifelhaften  und  veralteten  Falle  eine  Entzündung,  welche 
die  Muskelscheide  durchbrochen  und  sich  in  die  Umgebung  phlegmonös 
verbreitet  hatte.  Ein  bei  der  Operation  aus  der  Umgebung  der  Abs- 
ceßwand  exstirpiertes  Muskelstück  sah  etwas  blaß,  sonst  aber  gesund 
aus.  ScRiBA  behauptete,  daß  eine  rote  oder  graugrünliche  Verfärbung, 
wie  sie  von  anderen  beschrieben  worden  war,  als  Leichenphänomen  zu 
betrachten  sei. 

Die  makroskopische  Beschreibung  des  dem  Lebenden.entnommenen 
entzündeten  Muskelgewebes  lautet  von  selten  der  japanischen  Autoren 
sehr  verschieden. 

Nach  FujiY  ist  der  entzündete  Muskel  dunkelrot  bis  graurot  verfärbt, 
derb  infiltriert,  äußerst  morsch.  Nach  meiner  Erfahrung  kommt  sowohl 
die  blaßrote  wie  die  dunkelrote  Farbe  je  nach  dem  Grade  und  der  Dauer 
der  Entzündung  vor.  Die  rote  oder  graugrünliche  Verflärbung  darf  jeden- 
falls nicht  ausschließlich  als  Leichenphänomen  gedeutet  werden.  In  der 
Mehrzahl  der  Fälle  bildet  der  Absceß  eine  unregelmäßige  buchtige  Höhle 
in  einem  Muskel,  die  mit  grauen  oder  gelblichgrauen  nekrotischen  Muskel- 
fasern ausgekleidet  ist  Das  der  Absceßhöhle  benachbarte  Muskelgewebe 
sah  fast  stets  rot  oder  dunkelrot  aus.  Je  mehr  von  ihm  entfernt  wurde, 
desto  blasser  wurde  der  Farbenton.  Bei  einem  veralteten  Falle,  wo  nur 
minimale  Reste  des  Muskels  an  dessen  Fascie  hängen  geblieben  waren, 
war  er  dunkelrot  bis  graurot.  Im  ganz  frischen,  sogenannten  serös-eiterigen 
Stadium  und  in  infiltrierten  Maskeistücken,  die  eine  Strecke  von  der  Abs- 
ceßwand  entfernt  sind,  sahen  diese,  wie  Scriba  es  beschrieben,  blaßrot 
aus.  Zuweilen  zeigen  sich  an  ihnen  gelbe,  eiterig  infiltrierte  Linien  und 
Streifen.  Charakteristisch  ist  die  Tatsache,  daß  der  Absceß  genau  inner- 
halb der  Muskelmasse  oder  wenigstens  in  der  Muskelscheide  lokalisiert 
ist,  so  daß  bei  jeder  Incision  die  Scheide  oder  die  Muskelsubstanz  er- 
öffnet werden  muß.  Die  veralteten  Fälle,  bei  denen  der  Eiter  bereits  aus 
der  Scheide  herausgetreten  war,  wurden,  als  nicht  mehr  in  den  Rahmen 
der  Myositis  gehörig,  ausgeschlossen. 

Mikroskopischer  Befund.  Außer  der  wertvollen  Beschreibung 
von  Scriba  möchte  ich  noch  aus  der  europäischen  Literatur  die  hervor- 
ragenden Arbeiten  von  Kader,  Lorbnz  und  Honsbll  anführen.  Nach 
Scriba  war  an  frischen  Präparaten  von  Muskeln,  die  bei  der  Operation 
ezstirpiert  wurden,  die  Querstreifung  fast  völlig  verschwunden  oder  nur 
hier  und  da  Spuren  von  ihr  vorhanden.  Das  Sarkolemma,  2 — 3-fach  ver- 
dickt und  prall  gefällt,   ist  stellenweise   mit  verschieden  gestalteten  glän- 


172  H.  Miyake, 

zenden  Zellen  besetzt.  Das  Perimysiam  zeigt  sur  spärlich  gestreute 
Rundzellen.  Die  Muskelfasern,  eigentümlich  aufgequollen,  ähneln  denen 
bei  der  traumatischen  Muskelentzündung,  die  von  Wbbbr  und  Waldbybr 
genau  studiert  worden  ist,  unterscheiden  sich  aber  von  demselben  durch 
die  ganz  geringe  Beteiligung  des  interstitiellen  Bindegewebes.  Scriba 
faßt  den  Prozeß  als  seröse  bezw.  serös-eiterige  Entzündung  auf.  Nach  der 
Absceßhöhle  zu  konnte  er  reichliche  Rundzelleninfiltration  konstatieren. 
Nach  seinen  Befunden  handelt  es  sich  um  die  vorwiegend  primäre 
Beteiligung  des  eigentlichen  Muskelgewebes  an  der  Ent- 
zündung, nicht  dagegen  der  In terstitien,  weil  die  patho- 
logische Veränderung  der  letzteren  so  sehr  in  den  Hintergrund  tritt.  Von 
PüjiY,  JüMORi,  KojiMA  wird  indessen  die  starke  Beteiligung  des  inter- 
fibrillären  Bindegewebes  ausdrücklich  hervorgehoben.  Neuerdings  sprach 
K.  Sato  sogar  die  Ansicht  aus,  daß  unsere  Myositis  nach  dem  patho- 
logisch-anatomischen Befunde  eigentlich  „interstitielle  Myositis^'  zu  nennen 
sei,  da  die  eigentliche  Muskelfaser  an  der  Entzündung  nur  wenig  be- 
teiligt sei.  Wenn  wir  aber  die  Krankengeschichte  in  Satos  Arbeit  genau 
durchsehen,  so  scheint  hier  gar  nicht  die  echte  primäre  Myositis  vorge- 
legen zu  haben,  sondern  metastatische  Muskelabscesse,  die  im  Anschluß 
an  allgemeine  Pyämie  auftreten  und  stets  mit  so  geringer  Beteiligung  des 
Muskelparenchyms  einhergehen.  Zwischen  den  beiden  Extremen,  die  von 
Scriba  und  Sato  vertreten  werden,  steht  meine  Ansicht,  die  ich  hier  dar- 
legen möchte. 

Unter  meinen  33  Fällen  habe  ich  14mal  Gelegenheit  gehabt,  an  den 
bei  der  Operation  exstirpierten  Muskelstücken  eingehend  zu  mikroskopieren. 
Bei  den  übrigen  konnte  die  Untersuchung  teils  infolge  des  Ausganges  in 
Resolution,  teils  infolge  anderer  hindernder  Umstände  leider  nicht  ausge- 
führt werden.  Unter  den  14  Fällen  waren  verschiedene  Stadien  vertreten 
von  dem  serös-eiterigen  bis  zum  fast  völligen  Zerfalle  des  Muskelgewebes. 
Es  wurde  sowohl  an  frischen  als  auch  an  gefärbten  Präparaten  untersucht. 

Die  Färbung  wurde  gemacht  nach  van  Gieson,  Hämatoxylin- 
Eosin,  Hämatoxylin-Lithionkarmin  und  nach  Gram. 

An  den  frischen  Zupfpräparaten  konstatierte  ich  stets  eine  ähnliche 
Veränderung,  wie  sie  Scriba  angegeben,  nur  unterschied  sie  sich  im  wesent- 
lichen dadurch,  daß  an  ihr  das  interstitielle  Bindegewebe  in  demselben 
Maße  beteiligt  war  wie  die  Muskelfasern  selbst.  Die  Sarkolemmschläuche 
waren  verdickt,  doch  nicht  so  bedeutend,  wie  Scriba  es  beschreibt.  An 
gefärbten  Präparaten  tritt  diese  Veränderung  der  Interstitien  sowohl  als 
auch  der  Muskelfasern  noch  deutlicher  zu  Tage  als  an  den  frischen.  Be- 
sonders deutlich  läßt  die  Färbung  nach  van  Gibson  die  bindegewebige 
Umwandlung  der  Muskelfasern  erkennen. 

In  einem  frischen  Falle  (No.  15)  ergab  die  Untersuchung  folgendes. 
Es  handelte  sich  um  die  Myositis  des  M.  quadriceps  femoris  im  Stadium 
der  serös-eiterigen  Durchtränkung.  Die  Muskelfasern  zeigen  sich 
größtenteils  erhalten.  Nur  ein  kleiner  Teil  derselben  hat  stellenweise  oder 
in  ihrem  ganzen  Verlaufe  die  regelmäßige  Querstreifung  verloren.  Infolge 
eines  Schrumpfungsprozesses  bilden  sich  an  den  Muskelfasern  hier  und  da 
unregelmäßige  Querstreifungen,  die  ähnlich  wie  etwa  die  Streifung  eines 
Tigerfelles  aussehen.  Diejenigen  Fasern,  die  ihre  Querstreifung  vollständig 
verloren  haben,  behalten  aber  ihre  Längstreüung.  Ja,  sie  tritt  sogar  noch 
deutlicher  hervor.  Die  befallenen  Fasern  zeigen  außerordentliche  Un» 
gleichheit  in  der  Dicke,  sind  bald  gequollen,  bald  geschrumpft,  bald 
schollen-,  bald  wellenförmig.     Dazwischen   sieht   man   undeutliche,    hyalin 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        173 

entartete  Partien.  Die  Sarkolemmakeme  sind  mehr  oder  minder  ver- 
mehrt, das  interfibrilläre  Bindegewebe  mit  spärlichen  Randzellen  infiltriert. 

In  diesem  Falle  handelte  es  sich  unzweifelhrft  um  eine  serös-eiterige 
Entzündung,  welche  in  ziemlicher  üebereinstimmung  mit  Scbibas  Falle 
steht.  Vielleicht  war  allerdings  die  Beteiligung  der  Interstitien  an  der 
Entzündung  hier  stärker  als  an  dem  seinigen. 

Bei  Fall  23  lag  ein  Muskelstück  vor,  das  aus  der  Absceßwand  des 
M.  glutaens  maximus  frisch  exstirpiert  war.  An  diesem  Präparate  können 
wir  das  Fortschreiten  der  serös-eiterigen  zu  der  eiterigen  Entzündung 
verfolgen.  Die  direkt  in  der  Nähe  der  Absceßwand  gelegene  Zone  ist 
stark  mit  Rundzellen  infiltriert.  Die  Muskelelemente  sind  fast  völlig 
eiterig  eingeschmolzen,  nur  stellenweise  sind  in  kleine  Schollen  zerfallene, 
teilweise  bindegewebig  entartete  Fasern  zurückgeblieben.  Weiter  nach 
der  Peripherie  zu  mehren  sie  sich,  sind  aber  größtenteils  ohne  Quer- 
streifung  und  geschrumpft,  so  daß  sie  bald  schollig,  bald  geschlängelt  aus- 
sehen. Die  Muskelkerne  sind  im  allgemeinen  etwas  vermehrt.  Das  inter- 
stitielle Bindegewebe  ist  stark  vermehrt  und  mit  ein-  oder  mehrkemigen 
Rundsellen  infiltriert.  Noch  ein  Stück  weiter  nach  der  Peripherie  zu 
bietet  das  Präparat  ein  dem  vorigen  Falle  ähnliches  Bild,  und  endlich  geht 
dasselbe  in  das  normale  Muskelgewebe  über.  Nach  GaAMScher  Färbung 
konstatieren  wir  Kokkenhaufen  hauptsächlich  in  der  Nähe  der  Absceß- 
wandung.  In  dem  Gebiete  aber,  wo  der  entzündliche  Prozeß  noch  nicht 
deutlich  ausgeprägt  war,  konnten  wir  sie  nicht  finden.  Die  nach  van  Gieson 
gefllrbten  Querschnittspräparate  gewähren  uns  ein  besonders  instruktives 
Bild  des  Ueberganges  von  den  gesunden  Muskelfasern  zur  bindegewebigen 
Entartung,  sowie  von  dem  Verhältnis  der  Entzündung  der  Interstitien  zu 
der  der  Fasern.  Man  sieht  Fasern,  die  je  nach  der  Intensität  der  binde- 
gewebigen Entartung  bald  mehr  oder  minder  gelb-  bis  dunkelrot,  bald 
nur  am  Rande  ringförmig  rot  gefärbt 'sind. 

Das  Bild  dieses  Falles  ist  das  Prototyp  unserer  Myositis;  alle 
übrigen  Fälle,  die  ich  genau  mikroskopiert  habe,  stimmen  im  großen 
und  ganzen  mit  diesem  überein  (Fall  3,  11,  17,  19,  21,  22,  25,  29,  31, 
32,  33).  Es  existieren  aber  auch  Fälle  genug,  in  welchen  die  Ver- 
änderung der  Muskelfasern  in  den  Hintergrund  tritt,  so  daß  die  Quer- 
und  Längsstreifung  bis  zum  Momente  des  Faserschwundes  relativ  wohl- 
erhalten bleibt.  Für  die  Intensität  der  Erkrankung  beider 
Elemente  kann  ich  ein  allgemeingültiges  Gesetz  nicht 
finden.  Bald  überwiegt  die  Veränderung  der  Muskel- 
fasern, bald  die  des  interstitiellen  Bindegewebes.  Die 
hyaline  körnige  resp.  fettige  Degeneration,  die  bei  anderen  Formen  der 
Myositis  oft  vorkommt,  kann  hier  nicht  konstatiert  werden,  nur  in 
einigen  traumatischen  Fällen  wurde  eine  wenig  ausgebildete  hyaline 
Degeneration  beobachtet. 

Bei  veralteten  Fällen  sieht  man  sehr  oft  einen  Neubildungsprozefi 
der  Muskelfasern  aus  gewucberten  Muskelkemen,  sowie  die  Bildung 
von  Granulationsgewebe. 

Hier  sei  noch  an  einen  Fall  (24)  erinnert,  der  mit  brettharter 
Induration    des  M.  adductor   einherging   und    in   dem   bei    subakutem 


174  H,  Miyake, 

Verlaufe  schließlich  ein  Teil  desselben  zur  Abscedierung  kam.  Als  cha- 
rakteristisches Merkmal  lieü  sich  in  diesem  Falle  ein  intensiv  ge- 
wachertes  interstitielles  Bindegewebe  nachweisen,  das  zum 
Teil  fast  völlig  in  Narbe  umgewandelt,  zum  Teil  noch  mit  zahlreichen 
Eundzellen  und  neugebildeten  Qefäßen  durchsetzt  war.  Die  Muskelfasern 
waren  von  dem  gewucherten  Perimysium  stark  verdrängt,  geschrumpft, 
die  in  der  Nähe  des  Abscesses  gelegenen  größtenteils  in  eiterigem  Zerfall 
begriffen,  meist  jedoch  ohne  ihre  Querstreifung  verlassen  zu  haben.  Man 
konnte  in  einem  Gesichtsfelde  den  Uebergang  der  Muskelfasern  in  die 
eiterige  Einschmelzung  sehr  gut  verfolgen.  Ueberall  war  die  Vermehrung 
der  Muskelkeme  ausgeprägt,  ja  wir  konnten  sogar  das  Sprossen  der 
Muskelfasern  aus  den  Kernen  beobachten. 

Diagnose. 
Die  Diagnose  der  an  den  Extremitäten  auftretenden  Myositis   ist 
nicht  schwer,   wenn  man  ihren  Verlauf  von  Anfang  an  verfolgt  und 
dabei  folgende  wichtige  Merkmale  berücksichtigt: 

1)  Die  derbe  Infiltration  und  Anschwellung,  welche  der  Gestalt  des 
Muskels  entspricht; 

2)  die  schmerzhafte  Kontraktur  des  erkrankten  Muskels  und  die 
davon  herrührende  gezwungene  Haltung  der  Extremität  oder  des  ganzen 
Körpers.  So  nimmt  z.  B.  der  Vorderarm  bei  Erkrankung  des  M.  biceps 
brachii  die  Beugestellung,  der  Rumpf  bei  der  des  M.  rectus  abdominis 
eine  nach  vorn  geneigte  Haltung  ein,  um  die  Ansatzstellen  des  Muskels 
zu  nähern  und  so  die  durch  Zerrung  ausgelösten  Schmerzen  zu  lindern. 
Wo  die  ganze  Muskulatur  in  Eiter,  übergegangen  ist  und  dessen  Durch- 
bruch nach  außen  droht,  wird  die  Diflferentialdiagnose  mit  Osteo- 
myelitis beim  Fehlen  einer  genauen  Anamnese  manchmal  schwer. 
Bei  Myositis  ist  die  phlegmonöse  Ausbreitung  des  Eiters  in  den  um- 
gebenden Geweben  äußerst  selten.  In  der  Regel  bleibt  derselbe  inner- 
halb der  Muskelscheide  oder  erscheint  direkt  unter  der  Haut.  Daß  er 
das  Nachbargewebe  in  Mitleidenschaft  zieht,  gehört  zu  den  größten 
Seltenheiten.  In  einem  zweifelhaften  Falle  entscheidet  die  gehörig 
weite  Incision  und  darauffolgende  Inspektion  und  Palpation  mit  dem 
Finger. 

In  der  Differentialdiagnose  müssen  diemetastatischenMuskel- 
abscesse  bei  Pyämie,  die  oft  mit  veralteter  multipler  Myositis  ver- 
wechselt werden  können,  von  unserer  Krankheit  streng  geschieden 
werden.  Die  pyämisch-metastatischen  Muskelabscesse  zeigen  gewöhnlich 
keine  derbe  Infiltration  des  betroffenen  Muskels  oder  wenigstens  so 
wenig  ausgeprägt,  daß  man  sie  kaum  merkt,  sondern  sie  verwandeln 
denselben  bald  in  einen  deutlich  fluktuierenden  Tumor.  Dabei  machen 
sie  so  unbedeutende  lokale  Erscheinungen,  daß  sie  von  dem  Patienten 
selbst  oft  gar  nicht  bemerkt  werden. 

Mit  einem  kalten  Absceß  ist  die  Myositis  kaum  zu  verwechseln. 
Nur  bei  der  primären  Myositis   des  M.  ileopsoas  muß  man  besondere 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        175 

Vorsicht  üben.  Diese  macht  oft  ähnliche  Erscheinungen  wie  der  soge- 
nannte Psoasabsceß  (Senkungsabsceß),  unterscheidet  sich  aber  durch 
ihren  akut  entzündlichen  Verlauf. 

Bei  Myositis  des  M.  rectus  abdominis  kommt  man  oft 
in  die  schwierige  Lage,  zu  entscheiden,  ob  der  Prozeß  intra-  oder  extra- 
peritoneal verläuft.  Bei  der  Myositis  erstreckt  sich  der  Absceß  nicht 
auf  den  ganzen  Muskel,  sondern  wird  stets  durch  die  Inscriptiones  ten- 
dineae  begrenzt.  Ferner  ist  die  scharfe  Abgrenzung  des  Tumors  gegen 
die  Linea  alba  wichtig. 

Walther  schätzt  zwar  die  zwei  von  Sgriba  angegebenen  wich- 
tigen diagnostischen  Zeichen :  eine  der  Gestalt  des  Muskels  entsprechende 
derbe  Anschwellung  und  schmerzhafte  Kontraktur  des  erkrankten 
Muskels  als  wertvolle  Merkmale,  doch  hält  er  sie  nicht  für  absolut 
sichere  Zeichen,  da  sie  ebensogut  auch  bei  intra-  oder  submuskulären 
Phlegmonen  auftreten  können.  In  voller  Uebereinstimmung  mit  Hon- 
SELL  bin  auch  ich  der  Meinung,  daß  die  exakte  Diagnose  der  primären 
Myositis  erst  durch  breite  Incision  und  darauffolgende  genauere  In- 
spektion und  Palpation  gestellt  werden  kann. 

Prognose. 

Die  von  Lyot,  Foucaült,  Walther,  Brünon  selbst  beobachteten 
und  gesammelten  Fälle  haben  prognostisch  nicht  so  günstige  Zahlen  er- 
geben, im  Gegensatze  zu  den  von  uns  beobachteten  Fällen  von  Myositis.  Es 
starben  nach  Walther  unter  19  Fällen  8,  und  zwar  3  an  der  Myositis 
selbst,  5  an  Komplikationen.  Nach  Lorenz'  Ansicht  dagegen  ist  sowohl 
die  akut  wie  die  subakut  verlaufende  Myositis  leicht  heilbar,  wenn  nur 
f&r  Abfluß  des  Eiters  rechtzeitig  gesorgt  wird  und  keine  Komplikationen 
eintreten.  9  Fälle  von  Honsell  verliefen  alle  günstig.  Ebenso  lauten 
die  Angaben  der  übrigen  Autoren.  Meiner  Ansicht  nach,  die  ich  schon 
früher  vertreten  habe,  nehmen  alle  unkomplizierten  Formen  einen 
günstigen  Ausgang,  wenn  wir  den  Fall  frühzeitig  genug  zur  Behand- 
lung bekommen  und  vor  allem  für  guten  Eiterabfluß  sorgen.  Un- 
günstige Resultate  beruhen  fast  stets  auf  Komplikationen.  Wie  in 
meiner  früheren  Arbeit  erwähnt,  überstand  ein  4-jähriges  Kind  eine  an 
5  Stellen  auftretende  schwere  Myositis.  Nach  Tomoda  wurde  sogar 
eine  in  18  Muskeln  und  nach  Yamasaei  eine  in  14  Muskeln  auftretende 
Myositis  glücklich  überstanden.  Unter  meinen  33  Fällen  starb  nur 
1  Patient,  und  zwar  an  der  zu  einer  multiplen  Myositis  hinzutretenden 
Pneumonie.  Die  gefürchtetsten  Komplikationen  sind  Pyämie  und 
Pneumonie.  So  berichten  K.  Sato,  Kürosawa  und  Suzuki  je 
1  Fall  von  durch  die  Sektion  sichergestelltem  metastatischen  Lungen- 
absceß  als  Todesursache. 

Nicht  nur  quoad  vitam  ist  die  Prognose  günstig,  sondern  auch 
quoad  functionem.    Der  große  Verlust  an  Muskelsubstanz  wird  unglaub« 


176  H.  Miyake, 

lieh  schnell  ausgeglichen.  Selten  tritt  eine  starke  myogene  Narben- 
kontraktur  auf.  Sie  kann  durch  geeignete  Behandlung  behoben  werden. 
So  viel  Fälle  ich  schon  gesehen  habe,  so  habe  ich  doch  noch  keinen 
beobachtet,  in  dem  irgend  eine  Funktionsstörung  der  erkrankt  gewesenen 
Teile  hinterblieb. 

Therapie. 

Bezüglich  der  Therapie  ist  fast  nichts  Neues  zu  sagen.  Ich  möchte 
nur  auf  die  Frage  eingehen,  ob  man  im  Stadium  der  Induration  sofort 
incidieren  soll  oder  nicht.  Nach  zahlreichen  eigenen  und  fremden  Er- 
fahrungen gehen  selbst  stürmisch  einsetzende  Formen  unter  geeigneter 
frühzeitiger  antiphlogistischer  Behandlung  öfters  in  Resorption  über. 
Daher  scheint  es  berechtigt,  erst  einmal  den  Effekt  einer  solchen 
Therapie  abzuwarten,  ehe  man  zum  Messer  greift  Denn  erstens  bringt 
die  Resorption  schneller  Heilung  als  die  Incision,  und  zweitens  bleibt 
dem  Patienten  der  im  allgemeinen  gefürchtete  schmerzhafte  Eingriff 
erspart.  Füjiy,  Honsell  widerraten  ebenfalls  die  Operation  vor  dem 
Eintritt  der  Eiterung.  Tritt  aber  trotz  geeigneter  Behandlung  hohes 
Fieber  mitanderen  schweren  Symptomen  auf,  da  ist  eine  Eiteransamm- 
lung in  der  Tiefe  sicher  zu  erwarten  und  schleunigst  eine  breite  Incision 
zu  machen,  um  einer  drohenden  Pyämie  vorzubeugen.  Oft  versagt  in 
solchem  Falle  die  Probepunktion,  weil  der  Eiter  für  die  feine  Nadel 
zu  dickflüssig  ist. 

Was  die  antiphlogistische  Behandlung  betrifft,  so  empfehle  ich  vor 
allem  einen  feucht-antiseptischen  Verband  mit  1-proz.  essigsaurer  Ton- 
erde. Derselbe  wirkt  kühlend,  schmerzlindernd  und  absolut  reizlos. 
Außerdem  müssen  wir,  zumal  bei  frischen  Fällen,  noch  für  Inunobili- 
sierung  und  Hochlagerung  des  erkrankten  Teiles  sorgen. 

Den  Paquelin  statt  des  Messers  zur  Eröffnung  des  Abscesses  zu 
benutzen,  um  dadurch  einen  zufälligen  Uebertritt  von  Krankheitskeimen 
ins  Blut  zu  verhüten,  ist  nach  v.  Bergmann  bei  diesen  infektiösen 
Staphylo-  und  Streptomykosen  vollständig  überflüssig,  ja  sogar  schäd- 
lich, insofern  als  die  freie  Absonderung  der  infektiösen  Sekrete  aus 
den  Geweben  durch  die  sie  abschließenden  Schorfe  behindert  wird. 

Die  leichten  postmyositischen  Kontrakturen  der  betroffenen  Muskeln 
verschwinden  meist  ohne  Behandlung  von  selbst  Im  Notfalle  sind 
Massage  und  andere  orthopädische  Maßnahmen  anzuwenden. 

n.  Experimenteller  Teil. 

In  den  nun  zu  beschreibenden  Versuchen  wurden  folgende  zwei 
Fragen  berücksichtigt: 

1)  Können  subkutane  Traumen,  Ueberanstrengungen 
und  Stauungen  als  disponierende  Momente  für  die  Myositis 
infectiosa  gelten? 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        177 

2)  Hat  der  aus  Myositiseiter  gewonnene  Staphylococcus  aureus  ein 
spezifisches  Verhalten  gegenüber  der  Muskulatur  oder  ist  er  mit 
den  gewöhnlichen  pathogenen  Aureus-Stämmen  identisch? 

Soviel  ich  weiß,  wurden  bisher  noch  keine  ausgedehnten  Experimente 
zur  Erzeugung  der  primären  eiterigen  Myositis  angestellt.  Bekannt 
sind  Kaders  Experimente  über  myogenen  Schiefhals  und  Martinottis 
Tierversuche  mit  dem  sogenannten  „Staphylococcus  polymyositicus", 
femer  die  berühmten  0.  Weber  und  WALDEYERschen  Experimente, 
die  sich  auf  die  Regeneration  der  quergestreiften  Muskeln  beziehen.  In 
einer  Zeit,  wo  die  Frage  nach  der  Aetiologie  der  Osteomyelitis  im 
Vordergrunde  stand,  beschäftigten  sich  Krause,  Ullmann,  Rodet, 
Lexer  u.  a.  eifrig  mit  Versuchen,  bei  denen  als  Teilerscheinung  auf- 
tretende Muskelabscesse  auch  mitbeobachtet  wurden.  Krause  und 
Ullmann  injizierten  in  die  Venen  von  Versuchstieren,  denen  subkutane 
Frakturen  beigebracht  oder  die  Glieder  eine  Zeitlang  mit  elastischen 
Binden  umschnürt  worden  waren ,  den  aus  Osteomyelitiseiter  ge- 
wonnenen Staphylococcus  aureus.  Dabei  fanden  sie  dann  öfters  außer 
der  Osteomyelitis  sowohl  am  Verletzungsorte  als  auch  in  entfernt 
liegenden  Muskeln  Abscesse.  Rodet,  Lexer  u.  a.  erzeugten  ohne  ein 
vorangehendes  Trauma  durch  intravenöse  Einspritzung  von  Staphylo- 
coccus aureus  bei  jungen  Tieren  außer  Osteomyelitis  noch  kleine,  in 
Muskeln  multipel  auftretende  Abscesse.  Nach  Krause  haben  Knochen- 
mark, Gelenke  und  Muskeln  besondere  Neigung,  die  Kokken  aufzu- 
nehmen und  ihr  Wachstum  zu  unterstützen,  während  Ribbert  diesen 
Prozeß  als  einen  echt  embolischen  Vorgang  auffaßt.  Musgatello  und 
Ottaviano  konnten  ebenfalls  in  ihren  Versuchen  über  die  Staphylo- 
kokkenpyämie  finden,  daß  meistens  kleine  Muskelabscesse  auftraten, 
und  zwar  in  bestimmten  Muskelgruppen.  Diese  bestimmte  Lokalisation 
steht  im  engsten  ursächlichen  Zusammenhange  mit  Hämorrhagien, 
welche  durch  das  Mikroskop  an  der  Stelle  der  Abscesse  nachzuweisen 
waren.  Die  gewaltigen  Anstrengungen  der  Versuchstiere,  sich  aus  der 
gefesselten  Stellung  zu  befreien,  sind  es,  welche  diese  kleinen  Hämor- 
rhagien in  bestimmten  Muskelgruppen  erzeugen  und  dadurch  den  Ab- 
scessen  eine  so  regelmäßige  Lokalisation  geben. 

Der  Bakterienbefund  wurde  schon  im  klinischen  Teile  genügend 
erörtert  Es  fragt  sich  nun  weiter,  ob  irgend  eine  Spielart  des  Sta- 
phylococcus aureus  existiert,  welche  im  stände  ist,  speziell  Myositis  zu 
erzeugen.  Martinotti  kultivierte  1895  aus  dem  Nierenabsceß  einer 
an  Paranoia  gestorbenen  Person  Staphylococcus  aureus  und  konnte 
durch  intravenöse  Injektion  desselben  bei  20  Kaninchen  kleine  multiple 
Muskelabscesse  in  verschiedenen  Körperteilen  erzeugen,  insbesondere 
im  M.  psoas.  Natürlich  waren  ähnliche  Befunde  auch  in  den  Nieren, 
der  Leber  und  dem  Herzen  vorhanden.  Von  der  Annahme  ausgehend, 
daß  diesen  Kokken  eine  besondere  Bedeutung  hinsichtlich  der  Muskel- 

lUtteCL  a.  d.  OransfeUaCan  d.  MadltSn  o.  Chlmr^le.    ZIII.  Bd.  12 


178  H.  Miyake, 

entzündung  zukäme,  hat  er  sie  mit  „Staphylococcus  polymyo- 
siticus^  bezeichnet.  Beiläufig  sei  erwähnt,  daß  neulich  Perex  an 
aseptisch  angelegten  und  vernähten  Wunden  durch  Injektion  von  In- 
fluenzabacillen  in  entfernten  Körperteilen  ebenfalls  Muskeleiterung  her- 
vorrufen konnte. 

Martinottis  Auffassung  scheint  mir  aber  auf  einem  Irrtume  zu 
beruhen.  Nach  seiner  Beschreibung  handelte  es  sich  gar  nicht  um 
echte  Myositis,  sondern  um  eine  Begleiterscheinung  der  gewöhnlichen 
Pyämie,  wie  ja  das  Auftreten  der  kleinen  multiplen  Abscesse  auch  in 
anderen  inneren  Organen  beweist.  Ich  habe  im  Jahre  1898  im  Czerny- 
schen  Laboratorium  zu  Heidelberg  auf  die  freundliche  Anregung  von 
Herrn  Prof.  Petersen  Gelegenheit  gehabt,  mit  dem  originalen  Stamme 
von  Staphylococcus  polymyositicus  zu  experimentieren,  welcher  von 
Herrn  Prof.  Martinotti  mir  gütigst  zur  Verfügung  gestellt  war.  Ich 
habe  damals  allerdings  nur  wenige  Versuche  mit  Kaninchen  und  Mäusen 
gemacht,  doch  reichen  diese  wohl  aus.  Die  Ergebnisse  wurden  damals 
nicht  veröflfentlicht,  ich  möchte  sie  daher  hier  im  Anschluß  an  meine 
später  selbständig  vorgenommenen  Versuche  auch  mitteilen. 

Um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  skizziere  ich  hier  kurz  die 
Technik  meiner  Versuche.  Als  Versuchstiere  wurden  ausschließlich  Ka- 
ninchen benutzt,  weil  hier  die  intravenöse  Injektion  leicht  ausführbar 
ist  und  andererseits  die  Staphylokokken  auf  diese  Weise  am  sichersten 
zur  Wirkung  kommen.  Injiziert  wurde  Staphylococcus  aureus,  der  aus 
dem  Eiter  von  primärer  Myositis,  Furunkeln,  Panaritien  und  Lymph- 
adenitis genommen  war.  Einige  Versuche  habe  ich  auch  mit  dem  aus 
Myositiseiter  gewonnenen  Staphylococcus  albus  gemacht,  doch  ist  die 
Zahl  derselben  zu  klein,  um  ein  bestimmtes  Urteil  darüber  abgeben  zu 
können.  Die  Injektionsflüssigkeit  habe  ich  jedesmal  filtriert,  um  eine 
durch  den  Bodensatz  der  Bouillonkultur  hervorgerufene  Embolie  zu 
vermeiden.  Von  den  zahlreichen  Versuchen  will  ich  hier  nur  36  brauch- 
bare vorführen.    Sie  zerfallen  in  folgende  5  Versuchsreihen: 

A.  Die  subkutane,  intraperitoneale  und  intravenöse  Injektion  von 
Staphylococcus  polymyositicus  nach  Martinotti,  n 

B.  Die  subkutane  Läsion  eines  Muskels  mit  Finger  oder  Zange  und 
nachfolgende  intravenöse  Injektion  von  Staphylococcus  aureus  aus 
unserer  Myositis. 

C.  Analoge  Versuche  mit  Staphylococcus  aureus  aus  akuter  Lymph- 
adenitis und  Panaritium. 

D.  Die  vorherige  Anlegung  der  elastischen  Ligatur  an  Extremitäten 
mittels  Gummischlauch  und  darauffolgende  intravenöse  Injektion  von 
Staphylococcus  aureus  aus  Myositis  und  Panaritium. 

E.  Die  direkt  nach  der  Vollendung  der  langdauernden  Muskel- 
reizung mittels  Induktionsstrom  (Ermüdung)  erfolgende  intravenöse 
Injektion  von  Staphylococcus  aureus  aus  Myositiseiter. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        179 


A.  Versuchsrei 

iie  mit  so 

genannt 

em  „Staphylococcus 

polymyositicus". 

B 

Datum 

Art  der 
Tiere  und 
Körper- 
gewicht 

Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 

Art  der 
Versuche 

Dauer 
der 
Ver- 
suche 

< 

Befund  der 
Muskeln 

Bakterien- 
befund 
der 
kranken  Teile 

Be- 
merkungen 

1 

4.  Juli 

18d8 

Kanin  eh. 
1850  g 

24-8tünd. 

Staphyl. 

polymyos. 

Oß  ccm  intra- 
venöse Injek- 
tion 

20 
Stdn. 

t 

Negativ 

Aureus  in  Bk. 
a.  Niere,  Milz, 
Herz  u.  Peri- 
toneum 

SämtL  innere 

Organe  hv- 

peram.,   aber 

kein  Absceß 

2 

« 

Mäuse 

n 

0,1  (xun  sub- 
kutane Inj.  an 
d.  Bauchhaut 

18 
Stdn. 

t 

Negativ 

Aureus  in  Bk. 

aus  Herz  und 

Niere 

i> 

3 

7.  JuH 
1898 

Kaninch. 
1720  g 

9 

03  ccm  sub- 
kutane Injek- 
tion 

15 
Tage 

rt 

Absceßbildg.  Aureus  in  Rk. 
a.d.inj.SteUe'aus    Muskel- 
u.fortgeleitete'absce8sen  und 
Psoasmyosit        Niere 

4—5  kleine 
Abscesse  in 
den  Nieren 

4 

15.  JuU 

1867 

Kaninch. 
1870  g 

48-stÜDd. 

Staphyl. 

polymyos. 

Oß  ccm  intra- 
venöse Injek- 
tion 

5  Tage 

t 

Negativ 

Aureus  in  Bk. 
aus  der  Niere 

MulÜple  klei- 
ne Abscesse  in 
den  Nieren 

5 

1» 

Kaninch. 

1700  g 

24-8tünd. 

Staphyl. 

polymyos. 

n 

3  Tage 

t 

Negativ 

ti 

Multiple  klei- 
ne Abscesse 
in  den  Nieren, 
Milz  u.  Leber 

Von  den  5  Tieren,  die  zu  diesen  Versuchen  benutzt  waren,  wurde 
zweien  0,2 — 0,3  ccm  einer  24-stündigen  Bouillonkultur  in  die  Venen  einge- 
spritzt. 1  Tier  verendete  3,  das  andere  5  Tage  nach  der  Injektion.  Bei 
der  Sektion  fanden  sich  keine  Muskelabscesse,  sondern  nur  solche  in  Niere, 
Herz  und  Leber.  Am  3.  Kaninchen  wurde  die  Injektion  einer  24-stündigen 
Bouillonkultur  subkutan  in  der  rechten  Heocökalgegend  gemacht.  Ln  Ver- 
laufe von  2  Wochen  bildete  sich  an  Ort  und  Stelle  ein  ziemlich  großer 
Absceß.  Bei  der  Sektion  des  15  Tage  nach  der  Einspritzung  getöteten 
Tieres  konstatierte  ich  eine  phlegmonöse  Eiterung  der  Bauchwandmuskeln 
an  der  Injektionsstelle,  sowie  eine  fortschreitende  Eiterung  am  M.  iliopsoas. 
Mäuse,  bei  denen  die  analoge  Injektion  gemacht  wurde,  gingen  nach 
18  Stunden  zu  Grunde.  Das  5.  Kaninchen,  das  eine  intraperitoneale  Ein- 
spritzung von  0,3  ccm  erhielt,  starb  schon  nach  20  Stunden.  An  den 
letztgenannten  Versuchstieren  waren  nur  leichte  Hyperämie  und  geringe 
Ezsudation  in  der  Peritonealhöhle,  aber  keinerlei  Abscesse  in  den  inneren 
Organen  oder  den  Muskeln  zu  finden. 

Wie  erwähnt,  konnte  Martinotti  bei  seinen  20  intravenösen  In- 
jektionen jedesmal  kleine  multiple  Muskelabscesse  erzeugen.  Ich  bekam 
bei  meinen  2  ebenso  ausgeführten  Versuchen  keine  Muskelabscesse, 
obwohl  die  Tiere  noch  lange  genug  lebten  (3  und  5  Tage),  um  Abscesse 
sich  bilden  zu  lassen.  Es  ist  von  Rodet,  Lexer,  Muscatello  und 
Ottaviano  in  übereinstimmender  Weise  nachgewiesen,  daß  bei  intra- 
venöser Einspritzung  von  virulenten  Staphylokokken,  die  von  Osteo- 
myelitis durch  Kultur  gewonnen  waren,  ebenfalls  multiple  Abscesse  in 
inneren  Organen,  Knochen  und  Gelenken  und  auch  in  Muskeln  erzeugt 
werden.    Nach  Rodet  entstehen  bei  mittlerer  Virulenz   der  Bakterien 

12* 


180  H.  Miyake, 

die  Abscesse  nur  in  den  Knochen,  bei  hoher  dagegen  auch  in  Herz, 
Niere  und  schließlich  auch  in  Muskeln.  Dadurch  läßt  es  sich  vielleicht 
auch  erklären,  warum  Martinotti  bei  seinen  20  Fällen  stets  Muskel- 
abscesse  fand:  wahrscheinlich  hat  er  damals  Bakterien  von  so  hoher 
Virulenz  benutzt,  daß  sich  ihre  Wirkung  nicht  bloß  auf  innere  Organe, 
sondern  auch  auf  die  Muskeln  erstreckte. 


B.  Subkutane  Läsion  eines  oder  mehrerer  Muskeln  mit 

Finger  oderZange  und  nachfolgende  intravenöse  Injektion 

von  Staphylococcus  aureus  aus  dem  Myositiseiter. 

Zu  diesen  Versuchen  wurden  11  Tiere  benutzt,  darunter  5  mit  posi- 
tivem Erfolge,  6  mit  negativem.  Von  den  letzteren  gingen  die  meisten 
sehr  rasch  unter  septikämischen  Erscheinungen  zu  Grunde,  so  daß  sich 
außer  ödematöser  Anschwellung  der  gereizten  Muskeln  und  Hyperämie  der 
inneren  Organe  im  ganzen  Körper  nichts  Nennenswertes  nachweisen  ließ. 
Aus  dem  Safte  der  ödematös  infiltrierten  Muskeln  konnte  in  einem  Falle 
(No.  13)  Staph.  aureus  in  Reinkultur  gezüchtet  werden.  Daraus  geht  her- 
vor, daß  dieser  pathologische  Prozeß  als  Vorstadium  der  Muskel- 
abscesse  aufzufassen  ist.  Die  übrigen  Tiere  starben  entweder  nach 
einigen  Tagen  oder  überstanden  die  Injektion,  ohne  daß  brauchbare  Re- 
sultate hinsichtlich  der  Muskeln  nachzuweisen  waren. 

Die  5  Tiere  mit  positiven  Resultaten  lebten  3 — 6  Tage.  An  den 
gereizten  Stellen  bildeten  sich  größere  oder  kleinere,  teils  solitäre,  teils 
multiple  Abscesse.  Die  größeren  waren  hasel-  bis  walnußgroß  (No.  6,  7 
u.  8),  saßen  alle  regelmäßig  innerhalb  des  betreffenden  Muskels  und  dehnten 
sich  nie  in  die  umgebenden  Gewebe  aus.  Ja  bei  No.  7  haben  wir  größere 
Abscesse  erst  gefunden,  als  wir  tief  in  das  Gewebe  des  ganz  intakt  aus- 
sehenden Muskels  einschnitten.  Bei  den  2  übrigen  Fällen  (No.  9  u.  10) 
handelte  es  sich  um  hirsekorn-  bis  reiskomgroße  multiple  Abscesse,  welche 
an  den  gereizten  Stellen  saßen  und  die  Tendenz  zu  konfluieren  zeigten.  Es 
muß  hervorgehoben  werden,  daß  bei  allen  diesen  Fällen  sonst  nirgends  im 
Körper  ein  einziger  Muskelabsceß  zu  finden  war.  Außer  an  Ort  und  Stelle 
konnte  ich  bei  3  Fällen  auch  an  inneren  Organen,  Leber,  Milz,  Herz,  be- 
sonders aber  Nieren  kleine  multiple  Abscesse  beobachten.  Bei  den  2 
übrigen  Fällen  trat  nur  leichte  Hyperämie  innerer  Organe,  aber  nirgends 
im  ganzen  Körper  Absceßbildung  ein.  Diese  sind  also  als  reine  eite- 
rige Myositis  anzusprechen  (No.  7  u.  9). 

Die  Abscesse  waren  stets  zirkumskript,  enthielten  graugelben,  dicken 
—  manchmal  sogar  eingedickten  —  Eiter,  oder  in  ganz  frischen  Fällen 
blutig  tingierten,  leicht  fadenziehenden  Eiter.  Aus  allen  Herden  konnten 
wir  die  zur  Injektion  benutzten  Bakterien  in  Reinkultur  züchten.  Es  bil- 
deten sich  übrigens  nicht  an  allen  den  Stellen  Abscesse  aus,  wo  die 
Muskeln  mechanisch  gereizt  worden  waren,  z.  B.  bei  Fall  8  nur  am  linken 
Oberarme,  obwohl  auch  die  rechte  Oberarm-  und  linke  Oberschenkelmus- 
kulatur  verletzt  worden  waren.  An  den  gereizten  Muskeln  sieht  man 
außer  größeren  und  kleinen  Extravasaten  noch  gelbe  oder  grauweiße  Streifen, 
welche  längs  den  Faserbündeln  verlaufen.  Die  Konsistenz  dieser  Partie 
ist  morsch  und  derb,  das  Aussehen  matt  und  trübe  (hyaline  Degene- 
ration). 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.         181 


Datum 


Art  der 
Tiere  und 
Körper- 
gewicht 


Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 


Art  der 
Versuche 


Dauer 
der 
Ver- 
suche 


Befund  der 
Muskeln 


Bakterien- 
befund 
der 
kranken  Teile 


Be. 
merkungen 


22.  April 
1901 


21.  April 
1901 


12.  Okt 
1901 


10 


11 


12 


13 


14 


15 


16 


25.  April 
1901 


2.  Mai 
1901 


21.  Juli 
1901 


1.  Okt. 
1901 


oinch. 
650g 


48-8tünd< 
Aureus 

aus  Myo- 
sitisdter 

24-8tünd. 

Aureus 
aus  Myo- 

sitiseiter 


0,2  ocm; 
r.  Oberschen- 
kelmuskel lä- 
diert 

0»2  ccm; 
1.  Oberschen- 
kelmusk.  lad. 


0,2  ccm; 
1.  Oberschen 
kel-u.!.  Ober- 
armmuskel 
lädiert 


1&  Dez. 
1901 


g 


Kaninch. 
1900  g 


junges 
780  g 


Kaninch. 
820  g 


Kaninch. 
2200  g 


Kaninch. 
1800  g 


1875  g 


Kaninch. 
2820g 


48-stünd. 

Aureus 

aus  Myo- 

sitiseiter 


24-8tünd. 

Aureus 

aus  Myo- 

sitiseiter 

48-stünd. 

Aureus 
aus  Myo- 

sitiseiter 


0J2  ccm; 
r.  Oberarm- u. 
r.  Oberschen- 
kelmusk.  lad. 

0,3  ccm; 
r.  u.  1.  Obier- 
Bchenkelmus- 

kel  lädiert 


0,1  ccm; 
r.  u.  L  Ober- 
arm- und    1. 
Oberschen- 
kelmusk.  lad. 

0,2  ccm; 
r.  u.  1.  Ober- 
schenkel- u.  1. 
L  Oberarm- 
muskel lad. 

0^  ccm; 
1.  Oberarm- u. 
r.  Oberschen- 
kelmusk.  lad. 

0,2  ccm; 
r.  Oberarm- u. 
r.  Oberschen- 
kelmusk.  lad. 

0,3  ccm; 
1.  Oberarm-  u. 
1.  Oberschen- 
kelmusk.  lad. 


3  Tage 


5  Tage 


4  Tage 


6  Tage 


2  Tage 


24 
ßtdn. 


14 
Tage 


24 
8tdn. 


4  Tage 


18 
Btdn. 


15 
Tage 


tot. 


Walnußgroß. 

Absceß  im 

verletzten 

Muskel 

Innerhalb  des 
verletzt  Mus- 
kels ein  eoli- 
tärer  walnuß- 
groß. Absceß 

1. 1.  Oberarm« 
muskel  wal- 
nußgr.  sollt. 
Absc,  aber  a. 
1.  Oberschen- 
kelm.  keiner 

Im  1.  Ober- 
schenkelmus- 
kel 3  hirse- 
komgr.  Absc. 

Nur  im  r. 
Oberarmm. 

multiple  klei- 
ne Abscesse 

Verletzte 

Muskeln  öde- 

matös    ange- 

schw.  m.  Hä- 

morrhagien 

Negativ 


Oedematös 

ange- 
schwollen 


Negativ 


Aureus  in  Ek. 


Aureus  in  Rk. 


Ausd.LOber- 

armabscefi 

Aureus  in  Bk. 


Aureus  in  Bk. 


Negativ 


Aureus  in  Bk 


Aus  d.  Muskel 
nichts  ge- 
wachsen 


Bämtl.  innere 
Organe  hv- 
perämisch 

Kieme  Abs- 
cesse in  den 
Nieren  u.  der 
Milz 


Multiple  klei- 
ne Abscesse  in 
den  Nieren, 
Mik  u.  Leber 


Innere  Or- 
gane leicht 
hyperämisch 

Kleine  Abs- 
cesse in  Herz 
und  Nieren 


Innere  Or- 
gane leicht 
hyperämisch 


Alle  inneren 
Oigane  nor- 
mal 


Innere  Or- 
gane leicht 
hyperämisch 


Nur   in    den 

Nieren  kleine 

Abscesse 


Innere  Or- 
gane leicht 
hyperämisch 

Sämtl.  innere 
Organe  nor- 
mal 


182 


H.  Miyake, 


An  den  Präparaten,  welche  aus  der  die  Absceßwand  umgebenden 
Muskelpartie  stammen,  sehen  wir  unter  dem  Mikroskop  zahlreiche  zer- 
rissene Fasern,  die  entweder  nur  die  Querstreifung  oder  auch  die  Längs- 
streifung  eingebüßt  haben.  Ein  Teil  von  ihnen  ist  hyalin  degeneriert.  Das 
interfibrilläre  Bindegewebe  ist  mit  zahlreichen  Rundzellen  infiltriert,  und 
zwar  je  näher  dem  Abscesse,  um  so  stärker.  An  der  Abscefiwand  selbst 
findet  sich  eine  Zone,  die  nur  aus  Rundzellen,  mit  spärlichen,  schollig  zer- 
fallenen Muskelfasern  gemischt,  besteht.  Stellenweise  erkennt  man  auch 
noch  die  alte  Hämorrhagie  und  die  Vermehrung  der  Muskelzellen.  Kurz, 
der  mikroskopische  Befund  stimmt  im  großen  und  ganzen  mit  dem  der 
menschlichen  Myositis  überein. 

Interessant  ist,  daß  wir  an  2  von  5  positiven  Fällen  an  den  gereizten 
Stellen  reine  Muskelabscesse  verursachen  konnten,  ohne  daß  sich  im  übrigen 
Körper  irgendwelche  Eiterherde  nachweisen  ließen.  Ich  habe  in  den  nach- 
folgenden Experimenten  einen  solchen  Befund  methodisch  zu  erzeugen  ge- 
sucht, aber  vergeblich.  Es  fanden  sich  immer  neben  dem  Muskelabscesse 
noch  kleinere  Abscesse  in  inneren  Organen. 

Aus  den  geschilderten  Befunden  ergaben  sich  zwei  wichtige  Resul- 
tate: 1)  Die  Existenz  einer  traumatischen  Läsion  im  Mus- 
kelgewebe steigert  in  hohem  Maße  die  Möglichkeit  einer 
Infektion  durch  zirkulierende  Bakterien.  2)  Dem  aus 
dem  Myositiseiter  gezüchteten  Staph.  aureus  kommt 
keine  spezifische  Wirkung  auf  unversehrte  Muskeln  zu. 


C.  Subkutane  Muskelläsion  und  nachfolgende  intra- 
venöse   Injektion    von    Staph.    aureus    aus    akuter    Lymph- 
adenitis und  Panaritium. 

Alle  3  zu  diesem  Zwecke  benutzten  Tiere  brachten  positive  Resultate. 
Eins  (No.  18)   von  2  mit  Staph.  aureus   aus   einer   akuten  Lymphadenitis 


Datum 


Art  der 
Tiere  und 
Körper- 
gewicht 


Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 


Art  der 
Versuche 


Dauer 
der 
Ver- 
suche 


bo 


Befund  der 
Muskeln 


Bakterie* 

befand 

der 

kranken  Teile 


Be- 
merkungen 


17 


20.  Dez. 
1901 


18 


23.  Dez. 

1901 


Kaninch. 
2680  g 


Kaninch. 
3160  g 


48-8tünd. 
Aureus 

aus  akuter 
Lymph- 
adenitis 


0,3  ocm  injiz. ; 
1.  Oberarm- u. 
L  Oberschen- 
kelmuskel las. 


7  Tage 


54  Tg. 


töt 


19 


12.  Dez. 

1901 


Kaninch. 
2460  g 


48-8tünd. 
Aureus 
aus  Pana- 
ritium 


03  ccm  injiz.; 
L  Oberarm- u. 
1.  Oberschen 
kelmuskellas. 


19  Tg. 


1  walnußgr. 
Absceß  im  1. 
Oberschenkel 
u.  1  bohnengr 
Absceß  im  r. 
Oberarmm. 

Je  1  Walnuß- 

P.  Absceß  im 
Oberarm  u 
Oberschen- 
kelmuskel; 1 
bohnen^oß. 
Absceß  im  r. 
Oberschen- 
kelmuskel 

1  bohnengr. 
Absceß  im  1. 
Oberann- 
muskel 


Aureus  in  Bk. 


Inn.  Organe 
hyperämisch 


Inn.  Organe 
intakt 


Streifige 

Eitermaseein 

den  Nieren 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa. 


183 


behandelten  Tieren  bekam  genaa  an  den  Reizstellen  der  Muskeln  der 
oberen  und  unteren  Extremität  je  einen  walnußgroßen  Muskelabsceß  und 
außerdem  noch  einen  erbsengroßen  in  einem  nicht  gereizten  Muskel.  Letz- 
teres ist  wohl  auf  die  von  Muskatbllo  und  Ottaviano  angenommenen 
zu&lligen  Hämorrhagien  in  der  Muskulatur  zurückzuführen.  Bei  dem 
anderen  Kaninchen  entstand  je  ein  erbsen-  bis  walnußgroßer  Absceß  an 
der  gereizten  Extremität  (No.  17).  Bei  No.  19  habe  ich  Kokken  aus 
Panaritiumeiter  verwendet  und  die  Muskulatur  an  zwei  Stellen  verletzt 
Es  kam  aber  nur  an  einer  Stelle  zur  Absceß bildung.  Die  pathologischen 
Veränderungen  stimmen  makroskopisch  wie  mikroskopisch  mit  den  vorhin 
geschilderten  überein.  Ich  darf  daher  wohl  auf  eine  Beschreibung  der- 
selben verzichten. 

Aus  diesen  Versuchen  geht  hervor,  daß  durch  den  Staph. 
aureus,  der  von  akuter  Lymphadenitis  oder  von  Pana- 
ritium  stammt,  an  traumatisch  gereizten  Muskeln  eben- 
sogut Abscesse  hervorgerufen  werden  können,  wie  durch 
den  aus  Myositis. 


D.  Anlegung  der  elastischen  Ligatur  an  Extremitäten 
mittelst    Gummischlauchs   mit   folgender  intravenöser  In- 
jektion von  Staph.  aureus  aus  Myositis  und  Panaritium. 


I     Datum 


Art  der 

Tiere  und 

Körp«r- 

gewicht 


Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 


Art  der 
Versuche 


Dauer 
der 
Ver- 
suche 


Befund  der 
MuskelD 


Bakterien- 
befund 
der 
kranken  Teile 


Be- 
merkungen 


20 


31.  Jan. 
1902 


21, 


22 


Kaninch. 
3110  g 


Kaninch. 
2680  g 


K^Ti'nch. 
3050g 


48-stünd. 
Aureus 

aus  Pana- 
ritium 


48-Btünd. 
Aureus 
aus  Myo- 
sitis 


23Std.laagL 
Oberarm  u.  1. 
Oberäckenkel 
iig.;  0,2  ccm 
injiziert 


23Std.langL 
und  r.  Ober- 
schenkel hg.; 
0,2  ccm  injiz. 


3  Tage 


27  Tg. 


23Std.laDffr. 
Oberschenkel 
u.  1.  Oberarm 

ligiert; 
0,2  ccm  injiz. 


6  Tage 


Mltpl.  kleine 
Abscesse  in  d. 
1.  Oberarm-  u. 
L  Oberschen- 
kdmuskulat. 
entfernt  v.  d. 
Ligaturstelle 

Im  1.  und  r. 

Oberschen- 
kelmuskel 3 
Abscesse  von 
Kleinfinffer 

kuppe  bis 
Walnußgröße 

Negativ 


Aureus  in  Bk 


Streif.  Eiter- 
infiltration in 
den  Nieren 


Inn.  Organe 
normal 


Mltpl.  kleme 
Abecesse  in 
den  Nieren 


Bei  allen  3  Tieren  wurden  die  obere  und  untere  Extremität  einer 
Seite  mit  einem  dünnen  Gummischlauche  23  Stunden  lang  leicht  ligiert, 
um  eine  venöse  Stauung  und  dadurch  für  die  peripher  gelegenen  Muskel 
veränderte  Ernährungsverhältnisse  zu  schaffen.  Blutung  und 
Quetschung  an  der  Stelle  der  Abbindung  wurde  nach  Möglichkeit  ver- 
mieden. Kurz  vor  der  Lijektion  wurde  die  Binde  entfernt.  Die  in  solcher 
Weise  angestellten  Versuche  ergaben  ein  negatives  und  2  positive 
Resultate.     In   die  Venen   zweier  Tiere   wurde   0,2  ccm  einer  48-stün- 


184 


H.  Miyake, 


digen  Aureusaufschwemmnng  aus  Panaritiumeiter  eingespritzt.  3  Tage 
darauf  starb  das  erste,  und  ich  fand  an  den  gestaut  gewesenen  Ober- 
nnd  Unterextremttäten  multiple  kleine  Muskelabscesse,  die  nicht  in  der 
Nähe  der  Ligaturstelle  lokalisiert  waren,  femer  strei^ge  Eiterinfiltration 
in  den  HBNLBSchen  Schleifen  der  beiden  Nieren.  Bei  dem  zweiten  Tiere, 
das  erst  nach  27  Tagen  starb,  wurden  in  der  Nähe  der  Umschnürungs- 
stelle  2  hasel-  bis  walnußgroße,  zirkumskripte  Muskelabscesse  vorgefunden. 
An  den  inneren  Organen  war  nichts  zu  bemerken.  Das  mit  Myositiseiter 
behandelte  Kaninchen  verendete  6  Tage  nach  der  Injektion.  Die  Sektion 
ergab  nur  kleine  multiple  Abscesse  in  den  Nieren,  aber  keine  lokalen  Er- 
scheinungen. Makroskopisch  war  bei  allen  3  Fällen  an  der  Ligaturstelle 
keine  Läsion  bemerkbar.  Bei  dem  ersten  Falle  ist  somit  das  Ziel  er- 
reicht worden,  bei  dem  zweiten  hingegen  nicht,  weil  sich  hier  der  Absceß 
in  die  Hämorrhagien  lokalisierte. 

Aus  dem  ersten  Versuche  geht  also  hervor,  daß  durch  vor- 
herige Stauung  der  Glieder  und  nachfolgende  intrave- 
nöse Injektion  von  Staph.  aureus  in  den  von  der  Abbin- 
dungsstelle  peripher  gelegenen  unverletzten  Muskeln 
Abscesse  verursacht  werden  können. 


£.  Nach  langdauernder  Muskelreizungmittelstlnduktions- 
stromes  erfolgende  intravenöse  Injektion  von  Staph.  aureus 

aus  Myositiseiter. 


B 
1 

Datum 

Art  der 
Tiere  und 
Körper- 
gewicht 

Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 

Art  der 
Versuche 

Dauer 
der 
Ver- 
suche 

1 

< 

Befund  der 
Muskela 

Bakterien- 
befund 
der 
kranken  Teile 

Be- 
merkungen 

23 

13.  Jan. 
1902 

Kaninch. 
2900g 

48-8tünd. 
Aureus 

L.  Ober- 
schenkel mit 

3—8  MA 
30  Min.  lang; 
0,3  ccm  Aur. 

5  Tage 

^t 

Negativ 

Ausd.Nieren- 

abscessen 
Aureus  in  Bk. 

Kl.  Abscesse 
in  den  Nieren 

24 

» 

Kaninch. 
2650  g 

)f 

II 

II 

^. 

11 

II 

Inn.  Organe 

leicht  hyper- 

amiscn 

25 

17.  Jan. 
1902 

Kaninch. 
3000  g 

24-Btünd. 
Aureus 
randerer 
Stamm) 

R.  Ober- 
schenkel mit 

2—3  MA 
17  Min.  lang; 
0,3  ccm  Aur. 

10  Tg. 

t 

Im  r.  Ober- 
schenkelm. 
3  bohnengr. 
u.  1  haselnuB- 
groß.  Absceß 

Aus  Muskel- 
absc  Aureus 
u.  Coli;   aus 
Leberabeceß 
CoU  aUein 

In  den  Nieren 
u.  der  Leber 
kl.  Abscesse 

26 

f» 

Kaninch. 
2690  g 

» 

L.  Ober- 
schenkel mit 

2-8  MA 
17  Min.  lang; 
03  ccm  Aur. 

29  Tg. 

tot 

Negativ 

Negativ 

Inn.  Organe 
normal 

27 

30.  Jan. 
1902 

Kaninch. 
2830  g 

24.ßtünd. 
Aureus 
(anderer 
Stamm) 

R  Oberarm  9  Tage 

u.  r.  Ober- 
schenkel mit 

2-12  MA 
15  Min.  lang; 
0,2  ccm  Aur.l 

t 

91 

II 

Inn.  Oii^e 
hyperämiRch 

28 

» 

Kaninch. 
2420  g 

II 

II 

13  Tg. 

t 

»1 

II 

KL   Abscesse 
in  den  Nieren 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.         185 


H 

S 

Datum 

Art  der 
Tiere  und 
Körper- 
gewicht 

Art  und 
Abstam- 
mung der 
Bakterien 

Art  der 
Versuche 

Dauer 
der 
Ver- 
suche 

< 

Befund  der 
Muskeln 

Bakterien- 
befund 
der 
kranken  Teile 

Be- 
merkungen 

29 

9.  Febr. 
1902 

Kanin  eh. 
2310  g 

>i 

L.  Ober- 
schenkel mit 
lMA30Min. 
lang;  0^  ccm 
Aureus 

18  Tg. 

t 

Im  1.  Ober- 
armmuskel 
1  erbsengroß. 
Absceß 

Aureus  in  Bk. 

Kl.  Abscesse 
in  den  Nieren 
u.  der  Leber 

30 

17.  März 
1902 

Kaninch. 
2420  g 

}) 

L.  Ober- 
schenke!  mit 

1-12  MA 
12  Min.  lang; 
03  ccm  Aur. 

28  Tg. 

t 

Im  1.  Ober- 
schenkel 2 
reiskomgroße 
Abscesse 

» 

Kl.  Abscesse 
in  den  Nieren 

31 

i> 

Kaninch. 
1900  g 

n 

L.  Ober- 
schenkel mit 

1-2  MA 
12  Min.  lang; 
0,2  ccm  Aur. 

24  Tg. 

t 

Im  1.  Ober- 

schenkelm.  1 

reiskomgroß. 

Absceß 

»» 

»» 

32 

» 

Kaninch. 
2120  g 

n 

L.  Ober- 
schenkel mit 

1-2  MA 
12  Min.  lang; 
0^  ccm  Aur, 

4  Tage 

t 

Im  1.  Ober- 
schenkel 1; 
im  r.  Oberarm 

1  u.  im  r. 
Oberschenkel 
2  kl.  Abscesse 

it 

Kl.  Abscesse 

im   Herz,  in 

den  Nieren  u. 

der  Leber 

33 

>» 

Kaninch. 
1980  g 

>» 

Analoge  Rei- 
zung; 0,2  ccm 
Aureus 

4  Tage 

t 

Im  1.  Ober- 
schenkel 4 
kl.  Abscesse 

« 

Kl.  Abscesse 

im  Herzen  u. 

den  Nieren 

34 

>» 

Kaninch. 
2200g 

if 

Analoge  Bei- 
zung; 0,3  ccm 
Aureus 

3  Tage 

t 

Negativ 

Muskel  negat 

Nierenabsc. 

Aureus 

Kl.  Abscesse 
in  den  Nieren 

35 

n 

Kaninch. 
2400  g 

)) 

f> 

5  Tage 

t 

Im  L  Ober- 
schenkel 2  kl. 
Abscesse 

Aureus  in  Bk. 

KL  Abscesse 

in  den  Nieren 

u.  Leber 

36 

n 

Kaninch. 
2060g 

i> 

»1 

8  Tage 

t 

Im  1.  Ober- 
schenk., im  r. 
Ob.-u.ünter- 
schenkelm.  u. 
imLPect.maj. 
kl.  Abscesse 

i> 

Kl.  Abscesse 

im  Herzen  u. 

den  Nieren 

Alle  Kaninchen  wurden  in  der  Bauchlage  von  den  Händen  des  Assi- 
stenten fixiert  und  ihre  Muskeln  15 — 20  Minuten  lang  einem  1  —  12  MA 
starken  Induktionsstrome  ausgesetzt.  Dann  wurde  ihnen  0,2 — 0,3  ccm 
einer  24 — 48-stündigen  Kokkenaufschwemmung  von  Myositiseiter  verschie- 
dener Abstammung  intravenös  injiziert.  Zu  diesen  Versuchsreihen  wurden 
14  Kaninchen  benutzt.  Der  Erfolg  war  bei  5  positiv,  2  halb  positiv,  7 
negativ.  Unter  den  7  negativen  wurde  bei  einem  Falle  ein  solitärer, 
erbsengroßer  Muskelabsceß  in  einem  Muskel  aufgefunden,  der  gar  nicht 
gereizt  worden  war.  Wir  sind  wohl  berechtigt,  diesen  Befund  ebenfalls 
auf  eine  Hämorrhagie  zurückzuführen.  „Halbpositiv **  nenne  ich  diejenigen 
Fälle,  in  welchen  sich  nicht  nur  an  den  gereizten,  sondern  auch  in  anderen 
Muskeln  Abscesse  bildeten.  Ob  es  sich  hier  um  reine  Pyämie  handelt 
oder  doch  eine  bestimmte  Beziehung  zu  der  vorangegangen  Reizung  be- 
steht, läßt  sich  schwer  entscheiden,  aber  wahrscheinlich  ist  das  erstere 
der  Fall. 

Unter  den  5  positiven  Fällen  habe  ich  bei  einem  3  walnußgroße  Muskel- 


186  H.  Miyake, 

abscesse  an  den  elektrisierten  Gliedern  beobachtet,  bei  4  traten  an  gereizten 
Muskeln  2  oder  mehrere  reiskorn-  bis  bohnengroße  ovale  Muskelabscesse 
auf.  In  all  diesen  Fällen  wurden  auch  in  den  inneren  Organen  kleine 
multiple  Abscesse  konstatiert,  aber  kein  einziger  in  den  nicht  elektrisierten 
Muskeln.  Weder  makroskopisch  noch  mikroskopisch  waren  punktförmige 
Blutextravasate  oder  Muskelfaserzerreißungen  zu  finden.  Aus  dem  Eiter 
aller  Muskelabscesse  wuchs  ebenso  wie  bei  allen  übrigen  Versuchsreihen 
in  der  Kultur  dieselbe  Kokkenart  wie  die  injizierte. 

Diese  Versuchsreihen  hatten  den  Zweck,  als  sicher  nachzuweisen,  daß 
reine  üeberanstrengung  eines  Muskels  —  also  ohne  Traumen, 
punktförmige  Extravasate  oder  Zerreißung  einzelner  Fasern  —  das  dispo- 
nierende Moment  für  die  M3''ositi8  abgeben  kann.  Es  wurde  nicht  nur 
auf  das  Fehlen  von  Traumen  jeglicher  Art  an  den  elektrisierten  Muskeln 
gelegentlich  der  Sektion  und  Absceßuntersuchung  geachtet,  sondern  der 
Sicherheit  wegen  noch  durch  einen  Versuch  mit  einem  Kaninchen  fest- 
gestellt, ob  nach  starker,  langdauernder  elektrischer  Reizung  mittelst  In- 
duktionsstromes punktförmige  Blutungen  oder  sonstige  Veränderungen  an 
dem  Orte  des  Reizes  auftreten  können.  Nachdem  ein  Kaninchen  an  Ober- 
und  Unterextremitäten  mit  12  MA  starkem  Strome  je  40  Minuten  lang 
elektrisiert  worden  war,  wurde  es  sofort  durch  Kopfschläge  getötet  und 
genau  untersucht.  Weder  subkutan  noch  im  Muskelgewebe  wurde  makro- 
skopisch oder  mikroskopisch  eine  einzige  verdächtige  Veränderung  gefunden. 

Wir  sind  somit  zu  der  Annahme  berechtigt,  daß  man  ohne 
Existenz  irgendwelcher  Traumen  auf  dem  Wege  elek- 
trischer Reizung  im  Sinne  reiner  üeberanstrengung 
eines  Muskels  durch  intravenöse  Injektion  von  Bakte- 
rien an  den  elektrisierten  Teilen  Muskelabscesse  er- 
zeugen kann. 

Die  Frage,  ob  wir  die  Ergebnisse  der  geschilderten  5  Versuchs- 
reihen ohne  weiteres  auf  die  menschliche  Myositis  übertragen  dürfen, 
kann  man,  wie  ich  glaube,  bejahen.  Es  bestehen  zwar  im  Aussehen 
und  Bau  Unterschiede  zwischen  menschlicher  und  Kaninchenmuskulatur, 
und  auch  die  Abscesse  haben  ein  verschiedenes  Aussehen,  wenigstens 
makroskopisch.  Die  der  Kaninchen  sind  mehr  zirkumskript  und  be- 
kommen je  nach  der  Dauer  der  Krankheit  mehr  oder  minder  ent- 
wickelte Membranen ;  nur  bei  den  ganz  frischen  fehlen  sie.  Der  Eiter 
ist  dick  und  schleimig,  zuweilen  sogar  käsig-trocken.  Die  Größe  variiert 
bedeutend,  jedoch  kennen  wir  bei  Kaninchen  eine  im  ganzen  Muskel 
verbreitete  derbe  Induration  oder  Abscedierung  nicht.  Trotz  dieser 
Unterschiede  im  makroskopischen  Befunde  ist  doch  der  mikroskopische 
im  wesentlichen  derselbe,  nämlich  Verlust  der  Quer-  und  Längsstreifung 
der  Fibrillen  vor  der  eiterigen  Einschmelzung,  Rundzelleninfiltration  des 
interfibrillären  Bindegewebes,  und  Vermehrung  der  Sarkolemmkerne. 

Noch  möchte  ich  bemerken,  daß  ich  zu  meinen  Versuchen  absichtlich 
sowohl  junge  als  auch  alte  Kaninchen  benutzt  habe,  um  den  Einfluß 
des  Alters  auf  die  Muskelentzündung  zu  beobachten,  der  doch  bei 
der  Osteomyelitis  so  groß  ist.    Wie  schon  im  klinischen  Teile  gesagt 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.         187 

wurde,  konnte   ich  einen   Unterschied  in  dieser  Hinsicht  bei  meinen 
Myositisexperimenten  nicht  finden. 

Alles  in  allem,  glaube  ich  durch  meine  Experimente 
nur  die  klinische  Erfahrung  bestätigt  zu  haben,  daß 
Traumen,  Ueberanstrengungen  und  Stauungen  als  dis- 
ponierende Momente  für  die  primäre  eiterige  Myositis 
anzusehen  seien,  ein  spezifischer  Erreger  aber  bei  un- 
serer Myositisform  fehle. 


KraDkengesohiohten. 

Fall  1.  Yamamoto,  2-jähr.  Bauernjunge.  Myositis  des  1.  Glu- 
taens  maximus.  Aureus  in  Beinkultur.  Ausgangsherd:  kleines  Ek- 
zem am  r.  Unterschenkel.  Anamnese:  Der  bisher  gesunde  Junge  be- 
ginnt vor  ca.  15  Tagen  plötzlich  zu  fröstelu  und  zu  fiebern.  Schmerz- 
hafdgkeit  des  1.  Beines.  Am  nächsten  Morgen  leichte  Anschwellung  in 
der  1,  Olut&algegend,  intensiv  schmerzhaft.  Pat.  ist  vollkommen  bett- 
lägerig. Status  praesens  am  30.  Aug.  1900.  Stark  abgemagertes, 
anämisches  Band.  Puls  klein,  104—130.  Temp.  37,9—39  o.  Der  1.  Ober- 
schenke!  ist  im  Hüftgelenk  gebeugt.  Dem  1.  M.  glutaeus  maximus  ent- 
sprechend, sieht  man  eine  flache,  derbe  Anschwellung,  in  der  Tiefe  fluk- 
tuierend. Haut  darüber  unverändert.  Sofort  Incision  und  Drainage.  Der 
Absceß  saß  innerhalb  des  M.  glutaeus  maximus.  Nach  2  Wochen  geh- 
fHhig  entlassen. 

Fall  2.  Ogawa,  lYg-jähr.  Bauernjunge.  Myositis  des  1.  M.  glu- 
taeus maximus  und  1.  M.  trapezius.  Ausgangsherd:  skrofulöses 
Kopfekzem.  Aureus  mit  geringer  Anzahl  A 1  b  u  s  -  Kolonien  ge- 
mischt. Anamnese:  Vor  14  Tagen  schwoll  unter  Auftreten  von  Fieber 
die  1.  Olutäal-  und  Schultergegend  an.  Schmerzen,  Anschwellung  und 
Fieber  nehmen  zu,  so  daü  Pat.  rasch  herunterkommt.  Statuspraesens 
am  5.  Sept  1900.  Hochgradig  abgemagerter  Junge.  Soor  im  Munde. 
Puls  116.  Temp.  39,2  ^,  Am  Kopfe  zahlreiche  verkrustete  Ekzeme.  In 
der  1.  Glutäalgegend  flache,  deutlich  fluktuierende  Anschwellung.  Sofort 
Incision  und  Drainage.     Nach  3  Wochen  geheilt  entlassen. 

Fall  3.  Shei*,  32-jähr.  Kaufmannsfrau.  Serös-eiterige  Myo- 
sitis des  r.  M.  triceps  brachii  (resorbiert).  Ausgangsherd  unbe- 
kannt. Kultur  negativ.  Anamnese:  Seit  6  Tagen  hat  die  Pat.  von 
Zeit  zu  Zeit  Frösteln  und  Fieber,  sowie  eine  schmerzhafte  Anschwellung 
an  der  dorsalen  Seite  des  r.  Oberarms.  Status  praesens  am  8.  Sept. 
1900.  Stark  gebaute,  gut  genährte  Frau,  sieht  anämisch  aus.  Morgen- 
temp.  38  <^.  Puls  90.  Entsprechend  dem  Bauche  des  M.  triceps  brachii 
brettharte  Anschwellung,  intensiv  schmerzhaft.  Haut  darauf  intakt.  Die 
blutige  Flüssigkeit,  die  durch  Punktion  erhalten  wurde,  stellt  sich  als 
steril  heraus.  Eisiunschläge,  Hochlagerung,  später  Umschläge  mit  1-proz. 
essigsaurer  Tonerde.  Zeitweise  traten  am  kranken  Arme  Oedeme  auf. 
Kurzdauernde  Exacerbation  und  Remission  wechseln  ab.  Nach  26-tägiger 
Behandlung  geht  die  AfPektion  in  Resolution  über. 

Fall  4.  Abe,  30-jähr.  Bauer.  Myositis  des  1.  M.  sartorius 
und  des  r.  M.  glutaeus  maximus.  Ursache  unbekannt.  Aureus  in 
Reinkultur.     Anamnese:  Vor  40  Tagen    bekam   Pat.   eine   schmerzhafte 


188  H.  Miyake, 

Anschwellung  in  der  Vorderseite  des  1.  Oberschenkels  und  in  der  r.  Glutäal- 
gegend.  Gleichzeitig  Frösteln  und  hohes  Fieber.  Pat.  kam  rasch  herunter. 
Vor  25  Tagen  entleerte  ein  Arzt  durch  eine  kleine  Incision  am  1.  Ober- 
schenkel etwas  Eiter.  Doch  verschlimmerte  sich  das  Leiden  immer  mehr. 
Status  praesens  am  16.  Okt.  1900.  Stark  abgemagerter,  herunter- 
gekommener Mann.  Temp.  39,7  ^.  Puls  124.  Zunge  stark  belegt  und 
trocken.  Am  1.  Oberschenkel  befindet  sich  eine  eiternde  Fistel  und  in 
der  r.  Glutäalgegend  eine  harte  Anschwellung.  Nachdem  die  Fistel  ge- 
nügend erweitert,  wurde  große  Menge  Eiter  entleert.  Der  Absceß  ent- 
sprach in  seinem  Sitz  genau  dem  M.  sartorius.  Der  Absceß  im  r.  M.  glutaeus 
wurde  ebenso  behandelt.  Nach  ca.  2-wöchentlicher  Behandlung  wurde 
Pat.  gehf^hig  entlassen. 

Fall  5.  Shogabe,  39-jähr.  Kaufmann.  Myositis  des  r.  M.  rectus 
abdominis  (ohne  Incision  resorbiert).  Kultur  nicht  angelegt.  Ausgangs- 
herd :  Furunkel.  Anamnese:  Im  Anschluß  an  einen  kleinen  Furunkel 
des  Unterschenkels  trat  starkes  Frösteln  und  hohes  Fieber  (40®)  auf. 
Daneben  eine  schmerzhafte  Anschwellung  auf  der  r.  Seite  des  Bauches. 
Status  praesens  am  5.  Nov.  1900.  Morgentemp.  38,6®.  Puls  98. 
Zunge  stark  belegt.  Auf  der  r.  Bauchseite,  entsprechend  dem  Bereiche 
des  M.  rectus  abdominis,  also  nach  innen  scharf  abgegrenzt  durch  die 
Linea  alba,  nach  außen  gegen  die  Verlängerung  der  r.  Mammillarlinie, 
nach  oben  bis  3  Querfinger  breit  oberhalb  des  Nabels,  nach  unten  bis 
4  Querfinger  breit  unterhalb  des  Nabels,  bretthart  induriert,  selbst  bei 
der  leisesten  Berührung  intensiv  schmerzhaft.  Haut  darauf  unverändert. 
Oberkörper  nach  vom  vorgebeugt.  Euhe,  Eisumschl&ge  und  Umschläge 
mit  1-proz.  essigsaurer  Tonerde.  Nach  fast  3-wöchentlicher  Behandlung 
geheilt  entlassen. 

Fall  6.  Okura,  22-jähr.  Bauer.  Myositis  des  r.  M.  rectus  ab- 
dominis und  M.  glutaeus  maximus  sinist.  Ausgangsherd:  Fu- 
runkel. Aureus  gemischt  mit  Albus.  Anamnese:  Im  Stadium  der 
Heilung  eines  kleinen  Furunkels  trat  vor  7  Tagen  unter  Frösteln  und 
hohem  Eieber  zuerst  eine  schmerzhafte  Anschwellung  im  r.  Hypochondrium, 
dann  eine  ähnliche  auch  in  der  1.  Glutäalgegend  auf.  Fieber,  Anschwel- 
lungen und  Schmerz  nehmen  zu.  Pat.  kam  rasch  herunter.  Puls  104. 
Temp.  39,3^.  Unterhalb  des  r.  Rippenbogens,  dem  M.  rectus  abdominis 
entsprechend,  eine  faustgroße,  flache,  derbe  Anschwellung.  Haut  unver- 
ändert. L.  Glutäalgegend  ähnlich  angeschwollen,  entsprechend  der  Ge- 
stalt des  M.  glutaeus  maximus.  Mit  Eis  und  feucht-antiseptischen  Um- 
schlägen erfolglos  behandelt.  Am  1.  Nov.  Incision  an  beiden  Stellen, 
Entleerung  von  enorm  großen  Mengen  Eiter.  Am  27.  Nov.  geheilt  ent- 
lassen, 

Fall  7.  Noguchi,  19-jähr.  Bauer.  Myositis  des  M.  quadriceps 
femoris.  Ursache  unbekannt.  Aureus  in  Reinkultur.  Anamnese: 
Vor  25  Tagen  bekam  Pat.  an  der  Vorderfiäche  des  r.  Oberschenkels  eine 
schmerzhafte  Anschwellung  unter  plötzlichem  Frösteln  und  Fieber.  Er 
war  unfähig,  zu  gehen.  Status  praesens  am  2.  Nov.  Anämischer, 
abgemagerter  junger  Mann.  Puls  120.  Mittagstemp.  38,7^.  Die  ange- 
schwollene Partie  des  r.  Oberschenkels  fluktuiert  deutlich.  Das  kranke 
Bein  ist  in  Knie  und  Hüfte  gebeugt  und  etwas  abduziert.  Durch  In- 
cision konstatieren  wir  den  genauen  Sitz  des  Abscesses  innerhalb  des 
M.  quadriceps  femoris.  Große  Menge  Eiter  entleert,  drainiert.  Nach 
3  Wochen  geheilt  entlassen. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        189 

Fall  8.  Arikawa,  54-jälir.  Bäuerin.  Myositis  des  r.  M.  biceps 
ferner is.  Ausgangspunkt  unbekannt.  Aureus  in  Beinkultur.  Vor 
20  Tagen  spürte  Fat.  eine  schmerzhafte  Anschwellung  an  der  Hinterseite 
des  Oberschenkels.  Fieber.  Sie  war  gehunftihig.  Status  praesens 
am  19.  Nov.  1900.  Anämische,  stark  heruntergekommene  Person.  Puls 
klein,  120.  Mittagstemp.  38,2  o.  Zunge  trocken.  M.  biceps  femoris  ist 
in  seinem  ganzen  Bereiche  derb  angeschwollen,  strangartig  kontrahiert, 
Haut  dartlber  leicht  ödematös  angeschwollen.  Krankes  Bein  in  Hüfte 
und  Knie  leicht  gebeugt,  Streckung  vollkommen  unmöglich.  Incision, 
Eiterentleerung  und  Drainage.  Die  ganze  Muskulatur  war  fast  ganz 
eiterig  infiltriert.  Die  gebeugten  Beine  werden  durch  Sandsäcke  allmählich 
gestreckt.  Am  19.  Dez.  1900  geheilt  —  bis  auf  eine  leichte  Muskel- 
atrophie im  kranken  Beine  —  entlassen. 

Fall  9.  Shatake,  28-jähr.  Bäuerin.  Myositis  des  r.  M.  biceps 
femoris.  Ursache  unbekannt  Aureus  in  Beinkultur.  Anamnese: 
Vor  3  Tagen  traten  plötzlich  Schmerzen  an  der  Hinterfläche  des  r.  Ober- 
schenkels auf.  Starkes  Fieber,  Unfähigkeit  zu  gehen.  Status  prae- 
sens am  31.  Dez.  1900.  Krankes  Bein  im  Knie  gebeugt,  leicht  abdu- 
ziert.  Hinterfläche  des  Oberschenkels  diffus  angeschwollen.  Bei  der 
Palpation  fdhlt  man  den  strangartig  gespannten,  derben  M.  biceps  femoris, 
der  intensiv  schmerzhaft  ist.  Haut  leicht  ödematös  angeschwollen,  aber 
keine  Bötung.  Feuchtwarme  Umschläge  von  essigsaurer  Tonerde.  Da 
die  lokalen  und  die  allgemeinen  Symptome  dadurch  nicht  schwinden,  wurde 
am  8.  Jan.  1901  incidiert  und  eine  gro^e  Menge  Eiter  entleert  Absceü 
saß  im  M.  biceps  femoris.     Heilung  nach  ca.  2^^  Wochen. 

Fall  10.  Shaito,  18-jähr.  Bauernmädchen.  Myositis  des  M. 
quadriceps  femoris.  Ursache  unbekannt.  Aureus  in  Beinkultur. 
Nachdem  Fat.  bisher  völlig  gesund  gewesen,  erkrankte  sie  plötzlich  unter 
Frösteln  und  Fieber  an  einer  schnlerzhaften  Anschwellung  der  Vorder- 
fläche des  r.  Oberschenkels;  bettlägerig.  Status  praesens  am  11.  Jan. 
1901.  Pat  ist  stark  heruntergekommen,  da  sie  fast  40  Tage  ohne  ge- 
eignete Behandlung  war.  Puls  108.  Mittagstemp.  38,9**.  R.  Ober- 
schenkel im  allgemeinen  angeschwollen,  aber  nicht  gerötet.  An  der 
Vorderfläche  palpiert  man  mitten  in  der  derb  infiltrierten  Partie  eine 
Strecke  weit  deutliche  Fluktuation.  Bein  im  Knie  gebeugt  und  abduziert. 
Harn  ohne  Eiweiß  oder  Zucker.  Sofort  Incision  und  Drainage.  Inner- 
halb des  M.  quadriceps  femoris  findet  sich  eine  große  Absceßhöhle.  Bei 
jedem  Verbandwechsel  entleert  sich  eine  große  Menge  eiterig  einge- 
schmolzener Muskelfetzen.  Das  ankylosierte  Knie  wird  durch  Sandsäcke 
allmählich  gestreckt.  Am  8.  Febr.  1901  wird  Pat.  auf  ihren  Wunsch  halb 
gebeilt  entlassen.  Nach  brieflicher  Mitteilung  soll  die  Wunde  bald  ge- 
heilt und  Pat.  wieder  arbeitsfähig  geworden  sein. 

Fall  11.  Ogawa,  4-jähr.  Fischersjunge.  Myositis  des  r.  M.  teres 
major.  Ursache  unbekannt.  Aureus  in  Reinkultur.  Seit  20  Tagen 
schwoll  die  r.  Schultergegend  unter  täglichem  Fieber  an.  Die  Bewegung 
des  betreffenden  Oberarmes  war  völlig  aufgehoben.  Pat.  kam  allmählich 
herunter.  Status  praesens  am  22.  März  1901.  R.  Schulter  difiPus 
anj^eschwoUen.  Bei  der  Palpation  fühlt  man  im  Bereiche  des  M.  teres 
major  eine  derbe,  strangartige  Infiltration.  Feuchtwarme  Umschläge  von 
essigsaurer  Tonerde.  Da  die  Symptome  zunehmen,  wird  am  4.  April  1901 
incidiert  und  drainiert.     Prompte  Heilung. 

Pall   12.     Shebe,  33-jähr.  Bauer.     Myositis  des  1.  M  ileopsoas. 


190  H.  Miyake, 

Ursache  unbekannt.  Aureus  in  Reinkultur.  Seit  40  Tagen  ziehende 
Schmerzen  in  der  1.  Unter  bauchgegend.  Gleichzeitig  Fieber.  Bein  in  der 
Hüfte  gebeugt  und  gebrauchsunfähig.  Status  praesens  am  12.  März 
1901.  Stark  heruntergekommener,  bis  zum  Skelett  abgemagerter  Mann. 
Puls  120.  Abendtemp.  39,1  ^.  Die  Gegend  der  r.  Fossa  iliaca  leicht  an- 
geschwollen. In  der  Tiefe  ist  eine  derbe  Anschwellung  zu  palpieren. 
Haut  unverändert.  Krankes  Bein  in  der  Hüfte  gebeugt  und  leicht  abdu- 
ziert.  Streckung  unmöglich.  Feucht- antiseptischer  Verband  in  loco.  Am 
23.  März  1901  wird  durch  Incision  eine  große  Menge  Eiter  entleert  und 
der  Sitz  des  Abscesses  im  M.  ileopsoas  festgestellt.  Die  gebeugten  Beine 
werden  täglich  massiert.     Am  3.  April  1901  geheilt  entlassen. 

Fall  13.  Eida,  24-jähr.  Matrose.  Myositis  des  r.  M.  biceps 
femoris.  Ursache:  Furunkel  aml.  Nates.  Aureus  in  Reinkultur. 
Vor  3  Tagen  Frösteln  und  Fieber.  Am  nächsten  Tage  intensiv  schmerz- 
hafte Anschwellung  an  der  Hinterfläche  des  r.  Oberschenkels.  GehunfUhig. 
Status  praesens  am  23.  März  1901.  Mittagstemp.  38^.  Puls  82. 
Die  Hinterfläche  des  r.  Oberschenkels  diflus  angeschwollen,  die  Hautfarbe 
jedoch  unveräodert.  In  der  Tiefe,  entsprechend  dem  M.  biceps  femoris, 
ist  eine  derbe,  strangartig  gespannte  Anschwellung  zu  palpieren.  Bein 
im  Knie  gebeugt.  Streckung  unmöglich.  Am  4.  April  Incision  und  Eiter- 
entleerung. Prompte  Heilung  am  12.  April.  Entlassen  mit  einer  granu- 
lierenden Incisionswunde. 

Fall  14.  Azuma,  24'-jähr.  Bauersfrau.  Myositis  des  M.  infra- 
spinatus.  Ursache  unbekannt.  Aus  Myositiseiter  Strepto- 
kokken in  Reinkultur,  aus  verdächtigen  eiternden  Moxenwunden 
Aureus  in  Reinkultur.  Vor  10  Tagen  trat  plötzlich  starkes  Frösteln 
und  Fieber  auf.  Am  nächsten  Tage  schwoll  die  1.  Schultergegend  schmerz- 
haft an.  Eine  Hebung  des  kranken  Armes  völlig  unmöglich.  Status 
praesens  am  29.  April  1901.  Puls  92.  Abendtemp.  38,5 <^.  An  der 
1.  Fossa  infraspinata  fühlt  man  fluktuierende  Anschwellung,  umgeben  von 
derber  Infiltration.  Haut  darauf  unverändert.  Arm  am  Rumpfe  fixiert. 
Sofort  Incision  und  Eiterentleerung.  Absceü  saü  genau  im  M.  infra- 
spinatus  selbst.  Schon  nach  3  Tagen  konnte  Pat.  den  Arm  ziemlich  hoch 
heben.     Bald  nachher  geheilt  entlassen. 

Fall  15.  Takahashi,  51-jähr.  Bauer.  Myositis  des  1.  M.  quadri- 
ceps  femoris  (serös-eiterig).  Ursache:  Ueberanstrengung.  Kultur 
negativ.  Vor  10  Tagen  bekam  Pat.  nach  anstrengendem  Marsche 
Schmerzen  an  der  Vorderseite  des  1.  Oberschenkels  unter  öfters  wieder- 
kehrendem Frösteln  und  Fieber.  Status  praesens  am  3.  Mai  1901. 
Morgentemp.  37,5  ®.  Die  Vorderfläche  des  1.  Oberschenkels  diffns  ange- 
schwollen. Haut  darauf  unverändert.  Im  ganzen  Bereiche  des  M.  quadri- 
ceps  femoris  besteht  eine  derbe  Infiltration.  Fluktuation  fehlt.  Bein 
leicht  gebeugt.  Durch  Incision  wurde  der  Sitz  des  Prozesses  im  M. 
quadriceps  femoris  festgestellt.  Der  Muskel  sieht  blaß  aus,  ist  derb, 
morsch  und  schon  bei  leisem  Zuge  zerreißbar.  Eiter  nicht  nachweisbar. 
Die  aus  dem  Blute  angelegte  Kultur  blieb  steril.  Nach  der  Inci- 
sion große  Erleichterung.  Kein  Fieber,  keine  Schmerzen.  Vollständige 
Heilung. 

Fall  16.  Miki,  17-jähr.  Bauernmädchen.  Myositis  des  M.  lon- 
gissimus  dorsi  dext,  M.  glutaeus  maximus  dext.  und  M. 
obliquus  abdominis  sin.  Ursache :Ueberanstrengung.  Aureus 
in  Reinkultur.    Vor  1  Woche    mitten  in    der  Arbeit   spürte   Pat   dumpfe 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        191 

Schmerzen  in  der  r.  Lendengegend.  Gleichzeitig  Frösteln  und  Fieber. 
Seitdem  verschlimmerte  sich  das  Leiden.  Es  war  ihr  unmöglich,  zu  gehen. 
Status  praesens  am  14.  Mai  1901.  Fat.  sieht  stark  angegriffen  aus. 
Puls  116.  Morgentemp.  38,7^.  Zunge  stark  belegt  und  trocken.  Die 
r.  Seite  des  Rückens  von  der  Gegend  des  Os  sacrum  bis  zur  letzten  Rippe 
strangartig  angeschwollen.  Leichte  reich tsseitige  Skoliose.  Bei  der  Probe- 
punktion wird  nur  Blut  aufgesogen.  Die  lucision  entleert  eine  gro^e 
Menge  Eiter.  Als  Sitz  der  Krankheit  wird  dabei  der  lange  Rückenmuskel 
erkannt.  Trotz  der  Entleerung  stieg  das  Fieber.  Es  wurde  nun  noch 
eine  derbe  Anschwellung  im  M.  glutaeus  maximus  dext.  entdeckt.  Sofort 
Licision.  Eiterentleerimg.  Nach  kurzer  Pause  steigt  das  Fieber  aber- 
mals. Es  findet  sich  ein  derber,  schmerzhafter  Tumor  im  Bereiche  des 
M.  obliquus  abdominis  ext.  Dieser  ging  durch  feuchtwarme  Umschläge 
in  Resolution  über.     Heilung  am  2.  Aug.  1901. 

Fall  17.  Nouoshe,  d8-jähr.  Kaufmann.  Myositis  des  M.  del- 
toideus  und  M.  glutaeus  maximus  dext.  Ursache:  Ueber- 
anstrengung.  Aureus  in  Reinkultur.  Am  10.  April  1901  stellten 
sich  nach  einem  anstrengenden  Marsche  Schmerzen  in  der  r.  Glutäalgegend 
ein,  dann  auch  in  der  r.  Schulterwölbung.  Frösteln  und  Fieber.  Seitdem 
wird  Pat  täglich  von  Schmerzen  und  Fieber  geplagt.  Status  prae- 
sens am  18.  Mai  1901.  Stark  abgemagerter  Mann  mit  leidendem  Ge- 
sichtsausdruck. Puls  112.  Mittagstemp.  38,1^.  Beide  Anschwellungen 
fluktuieren  deutlich.  Sofort  eine  gehörig  weite  Incision.  Enorme  Menge 
Eiter.  Die  Abscesse  safien  genau  in  den  genannten  Muskeln.  Schon 
1  Woche  nach  der  Licision  konnte  der  Pat.,  der  vorher  ans  Bett  gefesselt 
gewesen  war,  ziemlich  weite  Strecken  laufen.  Am  10.  Juni  geheilt  ent- 
lassen. 

Fall  18.  Miyoshi,  23-jähr.  Bäuerin.  Myositis  des  M.  ileopsoas 
dext.  Ursache :  Ueberanstrengung.  Aureus  in  Reinkultur.  Vor 
60  Tagen  bekam  Pat.  nach  anstrengendem  Marsche  dumpfe,  von  der  r. 
Fossa  iliaca  nach  der  Lendengegend  ausstrahlende  Schmerzen,  von  mäßigem 
Fieber  begleitet.  Seitdem  verschlimmerte  sich  das  Leiden,  so  daß  sie 
vollkommen  bettlägerig  wurde.  Seit  7  Tagen  zuweilen  Urticaria  am 
ganzen  Körper,  zuweilen  Diarrhöe.  Status  praesens  am  20.  Mai  1901. 
Stark  anämische,  abgemagerte  Person.  Puls  104.  Temp.  39,1  o.  Urticaria 
am  ganzen  Körper.  Die  Gegend  der  Fossa  iliaca  und  die  Deosakral- 
gegend  diffus  angeschwollen,  jedoch  keine  Rötung.  Intensive  Druck- 
empfindlichkeit. Fluktuation  in  der  Tiefe.  Das  kranke  Bein  nimmt  die 
charakteristische  Psoasstellung  ein.  Sonst  im  ganzen  Körper  kein  krank- 
hafter Prozeß  nachweisbar.  21.  Mai  breite  Incision,  Eiterentleerung  und 
Drainage.  Durch  genaue  Inspektion  und  Austastung  mit  dem  Finger 
wurde  der  Sitz  der  Affektion  im  M.  ileopsoas  konstatiert.  Periost- 
ablösung  nicht  vorhanden.  Das  gebeugte  Bein  streckt  sich  von  selbst 
bis  zur  normalen  Stellung.  Schon  nach  1  Woche  kann  sich  Pat.  selbst, 
wenn  auch  hinkend,  fortbewegen.     Am  6.  April  geheilt  nach  Haus. 

Fall  19.  Shimisu,  2-jähr.  Bauemmädchen.  Myositis  des  M. 
glutaeus  maximus  dext.  Ursache:  kleine  Abscesse.  Aureus 
in  Reinkultur.  Seit  einigen  Tagen  leidet  die  kleine  Pat.  an  kleinen  Abs- 
cessen  hinter  dem  Ohre.  Bald  darauf,  vor  4  Tagen,  fieberte  die  Kleine 
-ziemlich  stark  und  konnte  nicht  mehr  laufen.  Schmerzen  in  der  r.  Glutäal- 
gegend. Status  praesens  am  9.  Aug.  1901.  Puls  130.  Morgentemp. 
38,2  <>.     R.  Glutäalgegend  diffus  angeschwollen.     Der  Gestalt   des   M.  glu- 


192  H.  Miyake, 

taeus  maximas  entsprechend,  ist  eine  harte  Anschwellung  zu  fühlen.  Das 
betroffene  Bein  ist  im  Hüftgelenk  leicht  gebeugt.  Streckung  unmöglich. 
Feucht-antiseptisoher  Verband.  Sowohl  lokale  wie  allgemeine  Symptome 
verschlimmern  sich.  Daher  am  22.  Aug.  Incision.  Nach  der  Entleerung 
des  Eiters  besserte  sich  das  Befinden  rasch.  Am  30.  Okt.  vollständige 
Heilung. 

Fall  20.  Tomida,  S-jähr.  Kaufmannstochter.  Myositis  des  M. 
biceps  femoris  dext.,  M.  glutaeus  maximus  dext.  und  M. 
pectoralis  major  sin.  Ursache:  kleiner  Absceß  in  der  Kopf- 
haut. Aureus  in  Reinkultur.  Seit  2  Monaten  leidet  die  kleine  Fat.  an 
Kopfekzem.  Vor  20  Tagen  trat  unter  Fieber  eine  Anschwellung  in  der 
rechten  Glutäalgegend  auf,  seit  10  Tagen  eine  ähnliche  Anschwellung 
an  der  Hinterfläche  des  r.  Oberschenkels.  Appetitlosigkeit.  Fat  ist  bett- 
lägerig. Status  praesens  am  19.  Aug.  1901.  Stark  herunter- 
gekommenes Kind.  Fuls  klein,  120.  Morgen temp.  38,1  ^.  An  beiden 
Lungen  ist  ein  Giemen  zu  hören  (Bronchitis).  Da  die  Anschwellung  an 
der  Hinterfläche  des  r.  Oberschenkels  fluktuiert,  wurde  incidiert  und 
drainiert.  Der  indurierte  M.  glutaeus  maximus  wird  mit  feuchtwarmen 
Umschlägen  behandelt.  3  Tage  darauf  wurde  noch  die  derbe  Anschwellung 
im  M.  pectoralis  major  sin.  entdeckt.  2  Tage  später  wurde  diese  Stelle 
und  weitere  3  Tage  darauf  auch  die  am  M.  glutaeus  maximus  incidiert. 
Eiterentleerung.  Seit  dem  24.  Aug.  kamen  als  Komplikation  die  damals 
endemisch  auftretenden  Masern  hinzu.     Am  5.  Sept.  geheilt  entlassen. 

Fall  21.  Nonoshe,  14-jähr.  Bauernjunge.  Myositis  des  M.  glu- 
taeus maximus  uterque,  M.  latissimusdorsidext. ,  M.  flexor 
digitorum  sublimis  dext.  und  M.  biceps  femoris  sin.  Ursache 
unbekannt.  Aureus  in  Reinkultur.  Vor  3  Tagen  trat  plötzlich  Frösteln 
und  Fieber  auf.  Am  nächsten  Tage  schwoll  die  Glutäalgegend  beider- 
seits an.  Schmerzhaftigkeit,  durch  die  das  Gehen  erschwert  wird.  Appetit- 
losigkeit. Status  praesens  am  30.  Aug.  1901.  Fuls  90.  Morgen- 
temp.  38,3®.  Zunge  trocken  und  belegt.  Beide  Glutäen  derb  infiltriert 
und  empfindlich.  Feucht-antiseptische  Umschläge.  Am  4.  Sept.  beider- 
seitige Incision  und  Eiterentleerung.  Am  6.  Sept.  trat  eine  derbe  An- 
schwellung im  M.  latissimus  dorsi  ein,  die  sofort  incidiert  und  vom  Eiter 
befreit  wurde.  Am  10.  Sept.  bildete  sich  ein  derber  Knoten  im  M.  biceps 
femoris  und  eine  analoge  Anschwellung  an  der  Beugeseite  des  r.  Vorder- 
armes. Die  Fingerbewegung  war  vollkommen  aufgehoben.  Diese  beiden 
Indurationen  gingen  durch  feuchtwarme  Umschläge  mit  essigsaurer  Ton- 
erde in  Resolution  über.     Am  19.  Sept.  geheilt  entlassen. 

Fall  22.  Ashao,  1 6-jähr.  Bauemjunge.  Myositis  des  M.  glutaeus 
maximus  dext.  und  M.  deltoideus  sin.  Ursache:  Furunkel. 
Aureus  in  Reinkultur.  Vor  20  Tagen  bemerkte  der  Knabe  einen  kleinen 
Furunkel  an  der  Baucbhaut.  Im  Stadium  der  Heilung  desselben,  vor 
7  Tagen  bildeten  sich  in  der  r.  Glutäalgegend  und  an  der  1.  Schulter- 
wölbung derbe,  schmerzhafte  Anschwellungen  unter  plötzlichem  Fieber. 
Status  praesens  am  18.  Dez.  1901.  Fuls  80.  Temp.  38,8 «.  Die  dem 
M.  glutaeus  maximus  entsprechende  Anschwellung  fluktuiert  deutlich,  die 
des  M.  deltoideus  dagegen  befindet  sich  noch  im  Stadium  der  Induration. 
Erstere  wurde  incidiert.  Es  fand  sich  ein  gänseeigroBer  Absceü  innerhalb 
des  Muskels,  letztere  durch  feucht-antiseptische  Umschläge  behandelt. 
Am  22.  Dez.  wurde  die  Induration  am  Schultergewölbe  fast  ganz  resor- 
biert.    Am  23.  Dez.  geheilt  nach  Haus. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        193 

Fall  23.  Eamada,  31-jähr.  Bauer.  Myositis  des  M.  glutaeus 
maximus  sin.  Ursache:  vereiterte  Blase  infolge  Druckes  des 
Stiefels.  Aureus  in  Reinkultur.  Während  eine  Blase,  die  sich  am 
Fußrücken  infolge  von  Stiefeldruck  gebildet  hatte,  in  £iterung  überging, 
trat  vor  4  Tagen  eine  schmerzhafte  Anschwellung  in  der  1.  Glutäalgegend 
auf.  Zugleich  Fieber.  Status  praesens  am  17.  Dez.  1901.  In  der 
1.  Glutäalgegend  fühlt  man  eine  harte,  druckempfindliche  Induration. 
Morgentemp.  37,8  ^  Die  schmerzende  Stelle  wird  zum  Mittelpunkt  einer 
großen  Incision  gemacht,  welche  den  Muskel  in  der  FaserrichtuDg  spaltete. 
Man  fand  einen  hühnereigroßen  Absceß  mitten  in  dunkelrotem,  morschem 
Muskelgewebe.  Schon  2  Tage  nach  der  Incision  trat  große  Besserung  ein, 
so  daß  Fat    schon   etwas   laufen   konnte.     Am  25.  Dez.  geheilt  entlassen. 

Fall  24.  Ka wamura,  30-jähr.  Bauer.  Myositis  des  M.  adductor 
magnus  (subakut).  Ursache  unbekannt  Aureus  in  Reinkultur.  Vor 
ca.  1  Monate  bekam  Fat.  plötzlich  Fieber.  Erst  am  folgenden  Tage  be- 
merkte er  eine  beginnende  schmerzhafte  Anschwellung  an  der  Innenseite 
des  Oberschenkels.  Seit  20  Tagen  soll  der  Tumor  angeblich  besonders 
hart  geworden  sein.  Täglich  Frösteln  und  Fieber.  Das  Gehen  ist  stark 
erschwert.  Status  praesens  am  24.  Sept  1901.  Der  ganze  Bereich 
des  r.  M.  adductor  derb  wie  ein  hartes  Fibrom  angeschwollen.  Die 
Schwellung  ist  mit  der  Haut  nicht  verwachsen  und  auch  gegen  die  Unter- 
lage leicht  verschieblich.  UngefUir  in  ihrer  Mitte  befindet  sich  eine  in- 
tensiv empfindliche  Partie.  Temp.  38,6  ^  Puls  90.  Am  25.  Sept.  wird 
die  empfindliche  Stelle  incidiert.  Bei  der  Incision  zeigt  es  sich,  daß 
Haut  und  Muskelscheide  normal  waren.  Erst  nach  Spaltung  der  harten, 
blaßroten  Muskelsubstanz  gelangte  man  in  das  Innere  des  hühnereigroßen 
Abscesses.  Die  Muskelsubstanz  war  so  hart,  daß  das  Messer  beim  Ein- 
schneiden knirschte  (Wucherung  des  interstitiellen  Bindergewebes).  Am 
30.  Sept.  war  die  Anschwellung  bis  auf  ^3  der  früheren  Größe  zurück- 
gegangen. Am  2.  Okt.  Incisionswunde  geheilt.  20  Tage  darauf  Indu- 
ration vollständig  verschwunden. 

Fall  25.  Fukuda,  56-j&hr.  Bauer.  Myositis  des  M.  adductor 
magnus  sin.  und  M.  biceps  femoris  dext.  (subakut).  Ursache 
unbekannt.  Aureus  in  Reinkultur.  Angeblich  spürt  Pat.  schon  seit 
August  1901  dumpfe  Schmerzen  an  der  Hinter-  und  Innenseite  des  1.  Ober- 
schenkels. Seit  September  1901  soll  eine  besonders  harte  Anschwellung 
an  dieser  Stelle  entstanden  sein.  Status  praesens  am  29.  Dez.  1901. 
Schlecht  ernährter,  stark  heruntergekommener  Mann.  Puls  98.  Temp.  38,6  •. 
Im  Bereiche  des  1.  M.  adductor  magnus  findet  sich  eine  fast  knorpelharte, 
spindelförmige  Schwellung,  die  wenig  druckempfindlich  ist.  Haut  intakt. 
Ein  entsprechender  Tumor  sitzt  auch  im  r.  M.  biceps  femoris.  Einreibung 
mit  grauer  Salbe.  Nach  2  Wochen  zeigte  sich  in  der  Verhärtung  des  M. 
adductor  magnus  sin.  eine  empfindliche  Zone.  Temperatur  schwankte 
zwischen  38—38,5  ^.  Bei  der  Incision  an  der  empfindlichen  Stelle  knirscht 
das  Messer  in  der  Muskelsubstanz.  Von  bindegewebereicher  Muskelsub- 
stanz vollständig  umschlossen  lag  ein  pfiaumengroßer  Absceß.  5  Tage 
darauf  wurde  der  ähnliche  Prozeß  am  M.  biceps  femoris  incidiert  und  ein 
kleiner  Absceß  mitten  im  indurierten  Muskel  gefunden.  26  Tage  nach 
der  letzten  Incision  fing  der  Pat.  an  von  selbst  zu  laufen.  Einige  Tage 
darauf  wurde  er  geheilt  entlassen. 

Fall  26.  Shibanchio,  41 -jähr.  Bauer.  Erst  Myositis  der  Mm. 
triceps   brachii   sin.    et    glutaeus   maximus   sin.,    dann    Myo- 

»Dtteü.  a.  d.  OmugOMtm  4.  Medtxin  a.  Chirurgie.    XIIL  B4.  13 


194  H.  Miyake, 

sitis  des  M.  obliquus  ext.  sin.  und  M.  glutaeus  maximus  dext. 
Ausgangsherd:  Furunkel.  Aureus  in  Reinkultur.  Im  Anschluß  an 
kleine  Furunkel  in  Gesichts-  und  Rtickenhaut  stellten  sich  vor  8  Tagen 
erst  ziehende  Schmerzen  in  der  Hinterseite  des  1.  Oberarmes,  dann  vor 
4  Tagen  eine  analoge  Erscheinung  in  der  1.  Glutäalgegend  ein.  Status 
praesens  Anfang  August  1901.  An  der  dem  1.  M.  triceps  brachii  ent- 
sprechenden Stelle  fühlt  man  eine  derbe  Anschwellung  und  in  deren 
Mitte  eine  kleine  fluktuierende  Partie.  Desgleichen  ist  der  ganze  M. 
glutaeus  maximus  sin.  derb  und  geschwollen.  Haut  darauf  leicht  gerötet, 
druckempfindlich.  Temp.  39,2^.  Incision  und  Drainage  beider  Abscesse. 
12  Tage  darauf  mit  kleiner  granulierender  Incisionswunde  entlassen. 
4  Monate  nach  der  Heilung  traten  wieder  ähnliche  Erscheinungen  am  1. 
M.  obliquus  abdominis  ext.  und  am  r.  M.  glutaeus  maximus  auf.  Puls  90. 
Temp.  38,2^.     10  Tage  nach  der  Incision  Heilung. 

Fall  27.  Hashimoto,  18-jahr.  Fabrikm&dchen.  Myositis  des  M, 
serratus  antic.  major  dext.  und  M.  trapezius  sin.  Ursache: 
Ueberanstrengung  des  Armes.  Aureus  in  Reinkultur.  Vor  ca. 
8  Tagen  bekam  Pat.  nach  angestrengtem  Drehen  der  Trikotmaschine  mit 
den  Händen  Schmerzen  an  der  r.  Rtickenseite  in  der  Nähe  der  Axillar- 
linie, dazu  mehrmals  Frösteln  und  Fieber.  Status  praesens  am 
13.  März  1902.  Puls  116.  Temp.  39,3  <>,  Die  r.  Rückengegend  im  Be- 
reiche des  M.  serratus  antic.  major  ist  flach  angeschwollen,  fühlt  sich 
derb  an.  Am  14.  März  wird  durch  breite  Incision  der  Sitz  des  Ab- 
scesses  innerhalb  des  M.  serratus  antic.  major  konstatiert.  Bakterien- 
untersuchung im  Blute  wurde  vorgenommen.  Am  20.  März  trat  eine 
kinderfaustgroße,  derbe  Anschwellung  auch  am  Ansatz  des  M.  trapezius 
auf.  Diese  kam  durch  feuchtwarme  Umschläge  zur  Resorption.  Am 
26.  März  geheilt  entlassen. 

Fall  28.  Jamamoto,  26-jähr.  Bäuerin.  Erst  Myositis  des  M. 
infraspinatus,  dann  des  M.  quadriceps  femoris.  Ursache  unbe- 
kannt. Aureus  in  Reinkultur.  Vor  3  Monaten  (also  Dezember  1901) 
litt  Pat.  angeblich  ohne  Ursache  an  einer  schmerzhaften  Schwellung  der 
1.  Skapulargegend.  Sie  fieberte  auch.  Durch  Incision  wurde  damals  als 
Sitz  der  Erkrankung  der  M.  infraspinatus  erkannt.  Seit  15.  März  1902 
hat  sie  Schmerzen  an  der  Vorderseite  des  r.  Oberschenkels.  Appetit  ver- 
ringert Oehen  vollkommen  unmöglich.  Status  praesens  am  20.  März 
1902.  Puls  94.  Temp.  39,2».  Man  fühlt  in  der  Tiefe,  der  Gestalt  des 
M.  quadriceps  femoris  entsprechend,  eine  derb  gespannte  Anschwellung, 
die  intensiv  druckempfindlich  ist.  Sofortige  Incision.  Es  entleert  sich 
blutig  eiteriges  Sekret  aus  der  Mitte  des  indurierten  Muskels.  Ca.  8  Tage 
nach  der  Incision  mit  granulierender  Incisionswunde  entlassen. 

Fall  29.  Jonemoto,  53-jähr.  Bauer.  Myositis  des  M.  pectoralis 
major  sin.  und  M.  deltoideus  sin.  Ursache:  Kontusion.  Au- 
reus in  Reinkultur.  Vor  8  Tagen  fiel  Pat.  auf  die  Badewanne  und  schlug 
sich  die  1.  Schulter  und  1.  Brustgegend,  ohne  sich  aber  merklich  zu  ver- 
letzen. An  demselben  Abend  spürte  er  lebhafte  Schmerzen  an  denselben 
Stellen,  auch  fieberte  er.  Einige  Tage  darauf  bekam  er  Husten  und  kam 
rasch  herunter.  Status  praesens  am  11.  Febr.  1901.  Puls  112. 
Mittagstemp.  38,3  o.  Zunge  gelblichweiß  belegt  und  trocken.  An  beiden 
Lungen  Schnurren  und  feinblasiges  Rasseln.  Den  Mm.  pectoralis  major  et 
deltoideus  sin.  entsprechend,  ist  eine  spindelförmige,  derbe  Anschwellung 
fühlbar,    welche    intensiv    schmerzempfindlich    ist      Nirgends    Fluktuation 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        195 

fiihlbar.  Am  22.  Febr.  Incision  an  beiden  Stellen.  Die  Abscesse  sa£en 
80,  wie  erwartet  worden  war.  Nach  der  Incision  trat  Besserung  ein. 
Schmerzen  und  Fieber  ließen  nach.  Doch  bald  verschlimmerten  sich  die 
Lungensymptome.  Am  25.  Febr.  erschien  ein  kachektisches  Oedem  am 
Faßrücken.  Starke  Dyspnoe  (Pneumonie).  Am  3.  März  endet  Fat  unter 
starker  Dyspnoe.     Sektion  verboten. 

Fall  30.  Wakayama,  6-jfthr.  Fischerssohn.  Myositis  des  r.  M. 
gastrocnemius.  Ursache:  Kontusion.  Aureus  in  Reinkultur. 
Während  eines  furunknlösen  Prozesses  auf  der  Kopfhaut  schlug  sich  der 
Knabe  bei  einem  Falle  auf  die  r.  Wadengegend.  Am  nächsten  Tage 
traten  an  der  geschlagenen  Stelle  Schmerzen,  von  Fieber  begleitet,  auf, 
so  daß  er  zu  gehen  aufhören  mußte.  Appetit  schwach.  Er  ist  ziemlich 
henintergekommen.  Morgentemp.  37,5^.  R.  Wade  allgemein  geschwollen, 
im  ganzen  Bereiche  des  M.  gastrocnemius  derbe  Anschwellung  zu  palpieren. 
In  ihrer  Mitte  fühlt  man  Fluktuation.  Haut  darauf  unverändert.  Incision. 
Drainage.     Am  14.  Mai  vollkonmiene  Heilung. 

Fall  31.  Yoshida,  49-jähr.  Bauer.  Myositis  des  M.  sacro- 
spinalis  sin.  Ursache:  Kontusion.  Aureus  in  Reinkultur.  Vor 
ca.  1  Monate  fiel  Pat.  auf  die  Lendengegend.  Bald  darauf  spürte  er  beim 
Gehen  leichte  Schmerzen  in  dieser  Gegend.  Vor  einigen  Tagen  stellten 
sich  Schmerzen,  Frösteln  nnd  Fieber  in  der  getroffenen  Lende  ein,  so  daß 
Pat.  nicht  zu  gehen  vermochte.  Status  praesens  am  17.  Juli  1901. 
Puls  82.  Temp.  38,7  •.  L.  Lendengegend  derb  angeschwollen.  Haut 
darauf  weder  verftirbt  noch  ödematös.  Intensiv  druckempfindlich.  In  der 
Tiefe  Fluktuation.  Durch  breite  Incision  und  Austastung  wurde  der  Sitz 
des  Abscesses  im  M.  sacrospinalis  festgestellt.  Am  26.  Juli  ist  schon 
große  Besserung  eingetreten,  so  daß  Pat.  allein  aufstehen  kann.  Am 
30.  Juli  geheilt  entlassen. 

Fall  32.  Hagiwara,  9-jähr.  Bauern  junge.  Myositis  des  M.  glu- 
tseus  maximus  dext.  Ursache:  Kontusion.  Aureus  in  Rein- 
kultur. Vor  10  Tagen  schlug  sich  der  Knabe  an  die  r.  Glutäalgegend, 
jedoch  sptirte  er  keine  Schmerzen.  Seit  2 — 3  Tagen  aber  erschienen 
Schmerzen  und  Fieber.  Status  praesens  am  2.  Febr.  1903.  Die  r. 
Glutäalgegend  ist  difPus  geschwollen.  Haut  darauf  leicht  gerötet,  stark 
empfindlich.  In  der  Tiefe  der  Anschwellung  ffthlt  man  eine  derbe  In- 
filtration. Die  Incision  fördert  einen  gänseeigroßen  Absceß  im  M.  glutaeus 
maximus  zu  Tage.  Aus  verdächtigen  kleinen  ekzematösen  Eiterherden, 
welche  vor  dem  Antitragus  in  der  Gesichtshaut  saßen,  gingen  Strepto- 
kokken in  Reinkultur  an.  Am  8.  Febr.  konnte  Pat.  wieder  gehen.  Am 
17.  Febr.  geheilt  entlassen. 

Fall  33.  Kanaoka,  24-jähr.  Kaufmannsfrau.  Myositis  der  Mm. 
biceps  femoris  et  gastrocnemius  dext.  Ursache;  Kontusion. 
Aureus  in  Reinkultur.  Vor  17  Tagen  fiel  Pat  auf  den  r.  Oberschenkel. 
Seit  10  Tagen  hat  sie  eine  Anschwellung  an  dieser  Stelle,  von  Fieber 
begleitet.  Status  praesens  am  30.  Dez.  1901 .  An  der  r.  Wade  ftlhlt 
man,  dem  M.  gastrocnemius  entsprechend,  eine  schmerzhafte,  derbe  An- 
schwellung, desgleichen  an  dem  hinteren  unteren  Teile  des  Oberschenkels. 
Am  30.  Dez.  durch  Incision  die  Diagnose  gesichert.  Wegen  ungenügenden 
Eiterabflusses  wird  am  31.  Dez.  eine  zweite  Incision  gemacht.  Am  12.  Jan. 
1902  stieg  das  Fieber  ohne  nachweisbare  Ursache  bis  40*^.  Am  14.  Jan. 
fand  ich  endlich  bei  sorgfältiger  Nachforschung  die  Ursache  in  Gestalt 
eines  flachen,    deutlich  fluktuierenden  Abscesses    in   der    linken  Brusthaut 

13* 


196  H.  Miyake, 

an  der  Stelle,  wo  vor  13  Tagen  bei  der  Operation  Kampferöl  eingespritzt 
worden  war.  Die  kleine  Wunde  war  spurlos  verheilt.  Sofortige  Incision 
ergibt,  daß  der  Absceß  im  Unterhautzellgewebe  saß.  Nun  ließ  das  Fieber 
prompt  nach.  Ebenso  war  die  eigentliche  Krankheit  am  2.  März  geheilt 
Es  blieb  aber  eine  Muskelkontraktur  am  Fuße  zurück  (Spitzfuß),  die  erst 
nach  3  Wochen  durch  Massage  zur  spurlosen  Heilung  gelangte. 


Erklftning  der  Abbildung  auf  Tafel  m. 

Myositis   acuta   suppurativa   primaria   des   M.  glutaeus  maximus   von 
Fall  23. 

Färbung :  Hämatoxylin-Eosin. 

Vergrößerung:  Zbiss'  Okular  II,  Objektiv  DD. 

a,  Rundzelleninfiltration  in  der  Nähe  der  Absceßwand. 

6.  Bindegewebig  entartete  Muskelfasern. 

c.  Wellig  geschlängelte  Muskelfasern  nur  mit  Längsstreifnng. 

d.  Muskelkerne. 

e.  Vermehrtes  interstitielles  Bindegewebe  mit  Rundzelleninfiltration. 

f.  Querfaltenbildung  infolge  von  Schrumpfxing. 

g.  Zum  Teil  noch  erhaltene,  unregelmäßige  Querstreifung. 


Literatur. 


1)  Araki,  Ueber  multiple,  akute  primäre  eiterige  Myositis.  Shbygaekais 
Monatsh.,  No.  235,  November  1900. 

2)  AsKANAZT,  ViRCHOws  Arch.,  Bd.  126,  p.  520. 

3)  Bälz,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1901,  No.  14,  p.  110. 

4)  V.  Bbrgmann,  Die  Behandlung  der  akut-progredienten  Phlegmone. 
Berlin  1901. 

5)  Bhrnabbi,  CentralbL  f.  inn.  Med.,  1894,  p.  864. 

6)  BuscHKB,  Die  Tonsillen  als  Eingangspforte  für  eitererregende  Mikro- 
organismen.    Dtsch.  Zeitschr.  f.  Ghir.,  Bd.  38,  p.  441. 

7)  Bbunon,  Oontribution  k  l'^tude  de  la  myosite  infectieuse  primitive. 
Thöse.     Paris  1887. 

8)  BozzoLB,  Ueber  infektiöse  multiple  Myositis.  4.  ital.  Kongr.  Ref.  in 
Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1892,  p.  127. 

9)  Gakon,  Zur  Aetiologie  und  Terminologie  der  septischen  Krankheiten 
mit  Berücksichtigung  des  Wertes  bakteriologischer  Blutbefunde  für 
die  chirurgische  Praxis.     Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  61,  1901. 

10)  —  Aetiologie  der  Sepsis.     Ebenda,  Bd.  37,  p.  571. 

11)  —  Beiträge  zur  Osteomyelitis  mit  Immunisierungsversuchen.  Ebenda, 
Bd.  42,  1896,  p.  135. 

12)  DoRSTj  Hildbbrands  Jahresber.,  1897,  p.  107. 

13)  V.  EiSBLSBBRO,  Bcrl.  klin.  Wochenschr.,  1891,  No.  23. 

14)  FuKASAWA,  Ueber  den  Einfluß  der  Jahreszeit  auf  die  Entwickelung  der 
Myositis  sowie  über  Lokalität  derselben.  Mitteil.  a.  d.  Jamanashi 
med.  Gesellschaft,  1901,  No.  4. 


MtLlad.Gremgebielaid.Mediiuiu.ChirurgicBd.XHI. Tat.  III 


,    -      %  %  •«»  %« 


-•%      ...      tf      --      * 


^    \,  ,     /^  "*'  •**^;  -»Air- 

e 
ff  **- 


ri.GiislavRschrr    i  .  .riArst.J  -^  c\,r  . 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogenannten  Myositis  infectiosa.        197 

16)  Gabrä,  Fortschr.  d.  Med.,  1886,  III,  No.  6. 

16)  GoB]^,  C^  Ausgebreitete  suppurative  Muskelentzündung  mit  gleich- 
zeitiger erysipelatöser  Hautentzündung.  Ref.  in  Schmidts  Jahrb.,  Bd.  92, 
p.  303. 

17)  Gärtner,  Versuch  der  praktischen  Verwertung  des  Nachweises  von 
Eiterkokken  im  Schweiße  Septischer.  Gentralblatt  f.  Gynäkol.,  1891, 
No.  40. 

18)  GussBNBAUBR,  Ucber  die  Veränderung  des  quergestreiften  Muskel- 
gewebes bei  der  traumatischen  Entzündung.  Lanobnbecks  Archiv, 
Bd.  12,  1879,  p.  1010. 

19)  GoTTSTBiN,  Bruns'  Boitr.,  Bd.  24 — 25. 

20)  Habbrmaas,  Multiple  Tuberkulose  der  Muskeln.  Bruns'  Beitr.,  Bd.  2, 
p.  70. 

21)  HoNSBLL,  Zur  Kenntnis  der  sogenannten  primären  Myositis  purulenta. 
Brüns*  Beitr.,  Bd.  31,  1901,  p.  117. 

22)  Hatashi,  2  Fälle  von  Ileopsoas-Myositis.  In-  u.  ausländ,  med.  Nachr., 
1894,  No.  334. 

23)  HüTBR,  AUgem.  Chir.,  Leipzig  1873. 

24)  —  Zur  Aetiologie  und  Therapie  der  metastatischen  Pyämie.  Dtsch. 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  1,  1872. 

25)  IYmori,  M.,  Ueber  multiple  primäre  Myositis.  Mitteil  a.  d.  Kanasawa 
med.  Gesellsch.,  Bd.  3,  No.  21,  1894. 

26)  Ikekamb,  J.,  2  Fälle  von  Myositis.  Mitteil.  a.  d.  Kanasawa  med. 
Gesellsch.,  Bd.  3,  No.  18,  1894. 

27)  Jamasaki,  A.,  Eine  multiple  Myositis  mit  14  Lokalisierungen.  Monatsh. 
d.  Hokkaido  med.  Gesellsch.,  1893. 

28)  Jamaguchi  u.  Jamasaki,  Ueber  akute,  multiple  eiterige  Myositis.  Mitteil, 
d.  Jundendo  med.  Gesellsch,  No.  340. 

29)  Janssbn,  Observation  de  myosite  suppur^e.  Ref.  im  Centralbl.  f.  Chir., 
Bd.  2,  p.  111. 

30)  Kadbb,  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  2,  1897. 

31)  —  Bruns'  Beitr.,  Bd.  18,  1897. 

32)  Kawasaki,  Ueber  Myositis.  Mitteil.  a.  d.  Jamanashi  med.  Gesellsch., 
No.  4. 

33)  KocHBR,  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  11,  p.  87. 

34)  KocHBB  u.  Tavbl,  Vorlesungen  über  chirurgische  Infektionskrankheiten. 
Basel  und  Leipzig,  1895. 

35)  Kbausb,  Kaninchen anatomie. 

36)  KuROSAWA,  Ueber  einen  Fall  von  eiteriger  Myositis  mit  den  Kompli- 
kationen von  Lungenabsceß.     Tokio-Iji-shinshi,  No.  110. 

37)  Lbxbr,  Langbnbbcks  Arch.,  Bd.  48,  1894. 

38)  LiNOBLSHBiM,  Aetiologic  und  Therapie  der  Staphylokokken  in fektion. 
Berlin  1900. 

39)  LoRBNZ,  Die  Muskelerkrankungen.  Nothnagels  spez.  Pathol.  u.  Therap. 
Wien  1898. 

40)  Martinotti,  Ueber  Polymyositis  acuta,  verursacht  durch  einen  Staphylo- 
coccus.     Centralbl.  f.  Bakt.,  Bd.  23,  1898. 

41)  Marmorbk,  Die  Streptokokken  und  das  Antistreptokokkenserum.  Wien, 
med.  Wochenschr.,  1895. 

42)  MaAda,  Ueber  16  Fälle  von  akuter,  eiteriger  Myositis.  Mitteil.  a.  d. 
Stintendo  med.  Gesellsch.,  No.  339. 

43)  Mttakb,  Ueber  akute,  primäre  Ileopsoas-Myositis.  Tokio  Iji-shinshi, 
No.  806. 


198     H.  Miyake,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  sogen.  Myositis  infectiosa. 

44)  MiYAKE   u.  Naoatomi,   Klinische  Beiträge  zur  eiterigen  Myositis.     In- 
u.  ausländ.  Nachr.  (Tokio),  No.  427. 

45)  Müller,  Brüns'  Beitr.,  Bd.  2,  p.  489. 

46)  Muscatbllo  u.  Ottaviano,  Virchows  Arch.,  Bd.  166,  1901. 

47)  Neissbr  u.   Wschselbebg,   Zeitschr.  f.  Hyg.  u.  Infektionskrankheiten, 
Bd.  36. 

48)  Neumann,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1895,  p.  386. 

49)  RiBBERT,  Die  pathologische  Anatomie  und  die  Heilung  der  durch  den 
Staphyl.  pyog.  aureus  hervorgerufenen  Erkrankungen.     Bonn  1881. 

50)  fiiOSSNBACH,  Experimente  über  Osteomyelitis.     Halle  1870. 

51)  —    Mikroorganismen    bei    Wundinfektionskrankheiten    des    Menschen. 
Wiesbaden  1884. 

62)  RovBRB,  Polimiosite  suppurative  in  individuo  diabetico.    Ref.  in  Central- 
blatt  f.  inn.  Med.,  1896,  No.  3. 

63)  Sakata,  Mitteil.  a.  d.  Okayama  med.  Gesellsch.,  No.  33. 

64)  Sato,  K.,  üeber  eiterige  Myositis.     Mitteil.  a.  d.  zentral,  med.  Gesellsch., 
No.  43,  Nagoya,  1901. 

65)  —  Beiträge  zur  eiterigen  Myositis.     Tokio  Iji-shinshi,  No.  1249. 

66)  Sänöbb,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1899,  No.  8. 

57)  ScRiBA,   Beiträge  zur  Aetiologie  der  Myositis  acuta.     Dtsch.   Zeitschr. 
f.  Chir.,  Bd.  22,  1886. 

68)  Schultz,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1900,  No.  29  u.  30. 

69)  Skriba,  Ueber  eiterige  Myositis.     In-  u.  ausländ.  Nachr.,  No.  258,  Tokio. 

60)  —   Ueber   eiterige   Myositis.     Monatsh.    d.  Hokkaido  med.  Gesellsch., 
No.  39. 

61)  Shibayama    u.    Kurahoto,    Ueber   einen   Fall    von   Myositis   typhosa. 
Bakt.  Zeitschr.,  No.  68.     Tokio. 

62)  Stöhr,  Histologie.     3.  Aufl.,  p.  44. 

63)  Strümpell,  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Nervenheilkd.,  I,  1891. 

64)  Shuzuki,  K.,  Ueber  2  Fälle  von  idiopathischer,  akuter  eiteriger  Myositis. 
Monatsk  f.  Sheyigakkai,  No.  318. 

65)  Tanaka,  N.,  Ueber  akut  eiterige  Myositis  des  M.  infrascapularis.     In- 
u.  ausl.  med.  Nachr.,  No.  401. 

66)  ToMODA,   Ein  Fall  von  multipler  Myositis  mit  18  Lokalisationen.     In- 
u.  ausl.  med.  Nachr.,  No.  311. 

67)  Trla  Giacomo,  Centralbl.  f.  klin.  Med.,  1892,  No.  19,  p.  390. 

68)  Ullmann,  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Osteomyelitis  acuta.     Wien  1891. 

69)  UcHiYAMA  u.  Nagatomi,  Uebcr  2  Fälle  von  Ueopsoasmyositis.     Mitteil, 
a.  d.  Tokushima  med.  Gesellsch.,  No.  30. 

70)  ViRCHOW,  Dessen  Arch.,  Bd.  4,  p.  262. 

71)  Volk  MANN,   Krankheiten   der  Muskeln  und  Sehnen.     Pitha-Billroths 
Handbuch,  Bd.  2,  I.  Teü,  p.  845. 

72)  Waldbybr,  Virchows  Arch.,  Bd.  34,  p.  473. 

73)  Walthbr,  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  25,  p.  260. 

74)  Weber,  Virchows  Arch.,  Bd.  39,  p.  216. 

75)  Zahradnicky,  Wien.  klin.  Rundsch.,  1895,  No.  43. 

76)  ZiEQLER,   Lehrbuch    der  speziellen    pathologischen  Anatomie.     9.  Aufl. 
1898. 


Nachdruck  yerbotem 

X. 

lieber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen 

Bacillus. 

Beitrag  znr  Aetiologle  der  akuten  Osteomyelitis. 

Von 

Otto  TBTyss, 

praktischer  Arzt  in  Oerlafingen, 
gewes.  Assistenzarzt  an  der  chirurg.  Poliklinik  des  Bürgerspitals  BaseL 

(Hierzu  Tafel  IV  und  1  Kurve.) 


Die  infektiöse  Natur  der  akuten  Osteomyelitis  wurde  zuerst  von 
LÜCKE  (1)  und  von  Rosenbagh  (2)  erkannt.  Der  erste  fußte  seine  Theorie 
auf  die  klinische  Beobachtung,  der  letztere  auf  die  Experimente.  We- 
nige Jahre  später  war  durch  die  weiteren  Arbeiten  von  Rosenbagh  (3), 
ferner  von  Oosten,  Krause  (4)  und  Garrä  (5)  der  gewöhnliche  Er- 
reger der  Osteomyelitis,  Staphylococcus  pyogenes  erkannt,  studiert  und 
klassifiziert.  Wer  diese  Arbeiten  jetzt  Uest,  begreift  nur  schwer,  wie 
nach  denselben  der  Osteomyelitis  auch  nur  ein  Schein  von  Spezifität 
bleiben  konnte.  Und  doch  liest  man  überall,  daß  es  erst  Kraske  (6) 
(1886)  war,  der  zuerst  die  Vermutung  aussprach,  daß  Jeder  Mikro- 
organismus, der  pyogene  Eigenschaften  besitzt,  sich  als  fShig  erweist, 
für  sich  allein  typische  Osteomyelitis  beim  Menschen  hervorzurufen^. 

Genau  betrachtet  aber  ist  es  Kocher  (7),  der  —  schon  7  Jahre 
früher  -—  diesen  Gedanken  zuerst  ausgesprochen  hatte,  nur  (die  Mikro- 
organismen waren  damals  noch  nicht  isoliert)  in  etwas  anderer  Form. 
Er  bestritt  Rosenbach  (I.  Arbeit)  gegenüber,  daß  die  Osteomyelitis 
eine  spezifische  Erkrankung  sei  und  schreibt: 

„Wenn  wir  nichts  Spezifisches  an  dem  Infektionsstoflf  der  Osteo- 
myelitis finden  können,  vielmehr  verlangen  müssen,  daß  derselbe  an 
verschiedenen  Orten  und  zu  den  verschiedensten  Zeiten  vorhanden  sein 
müsse,  auch  wenn  gar  keine  epidemischen  Krankheiten  herrschen,  daß 
er  ferner  in  den  gesunden  Organismus  aufgenommen  werden  könne, 
ohne  Schaden  anzurichten,  so  brauchen  wir  nur  noch  den  früheren 
Nachweis  hinzuzunehmen,  daß  es  sich  nur  um  einen  Infektionsstoff 
körperlicher  Natur  handeln  kann  und  daß  derselbe  sich  in  einem  ein- 
fachen AbsceB  vorfinden  resp.  von  einer  oberflächlichen  Wunde  ausgehen 


200  Otto  Wyss, 

kann,  daß  er  endlich,  wie  die  Strumitis,  nach  einfachen  Magendarra- 
katarrhen  sowohl  als  Typhus  und  wahrscheinlich  auch  im  Anschluß  an 
'gewisse  Lungenaffektionen  auftreten  kann,  um  zu  dem  Schlüsse  zu  ge- 
langen: der  Infektionsstoff  der  akuten  Osteomyelitis  ist 
kein  anderer  als  derjenige,  welcher  die  akuten  Ent- 
zündungen auf  Wunden  veranlaßt." 

An  dem  Sinne  dieses  etwas  langen  und  schweren,  dafür  aber  auch 
inhaltsreichen  Satzes,  den  die  experimentelle  Forschung  später  Teil  für 
Teil  erhärtet  hat,  haben  auch  die  24  Jahre  seither  kaum  etwas  Wesent- 
liches geändert.  Und  doch  hat  der  Gegenstand  zahlreiche  Autoren  ge- 
funden, unter  denen  besonders  Jordan  (8)  zu  nennen  ist.  Man  konnte 
sich  streiten  über  die  Frage,  ob  die  von  anderen  Keimen  als  Staphylo- 
kokken hervorgerufenen  Osteomyelitiden  Knochen-  und  Periostentzün- 
dungen  seien  [Kurt  Mt^LLER  (9),  Klemm  (10)]  oder  eigentliche 
Knochenmarkentzündungen  —  also  über  pathologisch  -  anatomische  De- 
tails, die  zudem  mehr  formaler  Natur  waren.  Am  Grundsatz  der  ätio- 
logischen Mannigfaltigkeit  der  Osteomyelitis  wurde  nicht  gerüttelt;  er 
ist  aus  der  Theorie  der  Ueberzeugten  zur  oft  konstatierten  feststehenden 
Tatsache  geworden.  Nur  wurde  die  Ausdrucksform  scheinbar  einfacher 
und  klarer:  alle  pyogenen  Mikroben  können  Osteomyelitis  hervorrufen. 
Ich  sage  scheinbar;  das  Konzise  besticht.  Doch  sagt  uns  die  neue 
Form  nicht  wesentlich  mehr  als  die  verklungenen  Worte  Kochers. 
Sie  bringt  nicht  das  Bedürfiiis  für  die  Unbekannte  in  der  Gleichung; 
nur  die  Benennung  wurde  geändert  und  dadurch  wohl  kaum  klarer: 
gibt  es  denn  eine  bestimmte  Gruppe  von  „pyogenen"  Mikroorganismen  V 
Läßt  sich  von  vornherein  feststellen,  welche  Keime  pyogen  sind  und 
welche  nicht?  Leider  nein.  Sogar  Vertreter  der  bekanntesten  „Pyo- 
genen", z.  B.  Streptokokken  können  zum  Tode  führen,  ohne  Eiterung 
zu  erzeugen.  Und  bei  anderen,  die  schon  längst  bekannt  waren,  wurde 
die  „pyogene  Natur"  erst  proklamiert,  nachdem  man  sie  zufällig  einmal 
in  einem  Absceß  oder  im  vereiterten  Knochenmark  aufgefunden  hat. 

Die  Fähigkeit,  eine  lokale  Gewebsreaktion  oder  Einschmelzung  des 
Gewebes  hervorzurufen,  welche  sich  als  Eiterung  manifestiert,  kann 
nicht  nur  eine  spezifische  Eigenschaft  gewisser  Bakteriengifte  sein.  Sie 
ist  abhängig  von  einer  Anzahl  von  Faktoren,  die  zum  Teil  allerdings 
im  Mikroorganismus  und  dessen  Lebenstätigkeit,  zum  Teil  aber  auch 
im  Organismus  des  Wirtes  liegen  [Klemm  (11),  Jordan  (12)J. 

Speziell  im  Knochenmark  der  Epiphysengegend  im  Wachstumsalter  0 
findet  die  Ansiedelung  der  Keime  besonders  günstige  Bedingungen. 
Welche  diese  sind,  ist  hier  gleichgültig.  Wichtig  ist  hier  nur  zu  kon- 
statieren,   daß    die   „pyogenen"   Eigenschaften    der   Keime   in   diesem 


1)  Beim  Erwachsenen  kann  in  dieser  Beziehung  die  entartete  Schild- 
drüse ein  Aeqaivalent  bilden,  worauf  schon  Eochbr  hinweist 


MätadärenzffebietmdMediiin  u.Oüruiyk Bei  XUI. 


Wyss. 


Üeber  einen  neuen  anaäroben  pathogenen  Bacillus.  201 

Knochenmark  (oder  Periost)  besonders  gut  zum  Ausdruck  kommen. 
So  erklärt  es  sich  wenigstens  aus  der  Beobachtung,  daß  Keime  als  Er- 
reger der  akuten  Osteomyelitis  isoliert  wurden,  die  vorher  nicht  nur  in 
der  Klasse  der  Pyogenen  fehlten,  sondern  überhaupt  unbekannt  waren. 
In  dieser  Weise  erweist  sich  das  Knochenmark  im  Wachstumsalter  als 
eigentliches  Fangnetz  für  pathogene  Mikroorganismen. 

Die  Aufzählung  aller  der  Keimarten,  die  außer  den  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle  nachgewiesenen  Staphylokokken  bisher 
als  Erreger  der  akuten  Osteomyelitis  isoliert  wurden,  hat  daher  nur 
nebensächlichen  Wert  Mit  ganz  wenigen  Ausnahmen  (Tetanus,  ma- 
lignes Oedem,  Rauschbrand)  kann  man  sich  unschwer  vorstellen,  daß 
diejenigen  von  den  als  pathogen  bekannten  Mikroorganismen,  die  bisher 
noch  nicht  als  Erreger  der  Osteomyelitis  isoliert  wurden,  gelegentUch 
im  entzündeten  Knochenmark  noch  gefunden  werden  können. 

Es  mag  aber  nicht  ohne  Interesse  sein,  wenn  an  der  Hand  eines 
Falles  von  akut  eiteriger  Osteomyelitis  mit  eiterigen  Metastasen  über 
deren  Erreger,  einen  bisher  überhaupt  unbekannten  Mikroorganismus, 
der  bei  dieser  Gelegenheit  in  seinen  morphologischen  und  biologischen 
Eigenschaften  genau  studiert  werden  konnte,  etwas  einläßlicher  be- 
richtet wird.  Ich  hatte  Gelegenheit,  als  Assistenzarzt  der  chirurgischen 
Abteilung  des  Bürgerspitals  Basel  diesen  Fall,  bei  dem  auch  das  kli- 
nische und  pathologisch -anatomische  Bild  wesentlich  von  dem  der  ge- 
wöhnlichen Staphylokokkenosteomyelitis  abwich,  zu  beobachten.  Es  sei 
mir  an  dieser  Stelle  gestattet,  Herrn  Prof.  Hildebrand  für  die  üeber- 
lassung  des  Falles  und  Herrn  Prof.  G.  Haegler  für  die  Anregung  zu 
dieser  Arbeit  und  die  freundliche  Unterstützung  bei  den  Untersuchungen 
meinen  verbindlichsten  Dank  auszusprechen. 


Krankengeschichte. 

l  K.   Georg,   37   Jahre  alt,    Schreiner,   geriet   am   26.  Aug.  1901    beim 

X-  Baden   in    einer  Badeanstalt   am   Bhein   mit   dem   rechten    Unterschenkel 

^  zwischen   zwei   unter   Wasser   gelegene   Eisenba]ken.     Er  zog   sich   dabei 

4  eine  Schürfwunde  in  der  Mitte  des  Unterschenkels,  etwas  medial  von  der 

1  Tibiakante  zu.     Noch  am  gleichen  Tage  sei  der  Unterschenkel  stark  ange- 

^  schwollen,   die   Haut   derselben   blaurot   verfärbt   worden.     Seit   2    Tagen 

-^  seien  stärkere  Schmerzen  aufgetreten;  die  Geschwulst  habe  sich  entzündet; 

0  rote  Streifen  an   der  Innenfläche  des  Oberschenkels  seien  erschienen ;  dar- 

auf  Schmerzen  in  der  Inguinalgegend ;  gestern  Frösteln. 

Spitaleintritt:  30.  Aug.  1901. 
^^^  Status   praesens.     Sehr   kräftiger  Mann.     Temperatur  39,0,   Puls 

ca.  90,  kräftig;  innere  Organe  ohne  Besonderheiten. 

Die  Innenfläche   des   rechten  Unterschenkels  vom  Knie   an   bis  hand- 
breit über  dem  Faßgelenk  ist  mäßig   geschwollen.     Die  Haut  in  der  Aus- 
dehnung  der   Schwellung,   gegen    die  Umgebung  gut   abgegrenzt,    gleich- 
-"^^  mäßig  gerötet  und  mit   zahlreichen   dunkelroten  punkt-  und  sternförmigen 

Hämorrhagien  in  die  Epidermis  übersät.     In  der  Mitte  der  Schwellung,  ca. 


202  Otto  WysB, 

3  iingerbreit  medial  von  der  Tibiakante,  ist  die  Haut  in  der  Aasdehnung 
eines  2-Frankenstücke8  nekrotisch,  graugelb,  in  der  Mitte  mit  einem  kleinen 
Defekt,  aus  dem  sich  eine  gelbbraune,  dünnflüßige,  trübe,  jauchige  Masse 
herauspressen  läßt.  Die  Untersuchung  mit  der  Sonde  ergibt,  daß  die  Haut  im 
ganzen  Hereich  unterminiert  und  durch  zahlreiche  Stränge  mit  der  Unter- 
lage verbunden  ist. 

Breite  l3rmphangitische  Streifen  ziehen  hinter  dem  medialen  Condylus 
durch  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels.  Die  rechtsseitigen  Inguinaldrüsen 
sind  von  Mandelgröße,  stark  druckempfindlich. 

Weitere  Beobachtung.  Sofort  nach  dem  Eintritt  wird  in  Brom- 
äthylnarkose die  ganze  Höhle  gespalten.  Zahlreiche  nekrotische  Gewebs- 
fetzen  und  verjauchte  Koagula  werden  entfernt.  Der  Grund  der  Höhle 
wird  von  der  zerfetzten  Fasele  gebildet,  die  an  verschiedenen  Stellen  durch 
Gewebsbrücken  mit  der  Haut  in  Verbindung  steht.  Einige  derselben  werden 
durchtrennt.  Höhle  mit  verdünnter  Jodtinktur  ausgespült;  tamponiert. 
AI  um.  acet.  priesnitz.     Hochlagerung. 

Die  Sekretion  war  in  den  nächsten  Tagen  sehr  stark,  das  Sekret  noch 
jauchig  riechend.  Der  Verband  wurde  täglich  2mal  gewechselt  und  jedes- 
mal die  Höhle  mit  Kai.  Hypermanganlösung  ausgespült.  Vom  3.  Sept.  an 
war  Patient  afebril.  Die  Höhle  zeigte  schöne  Granulationsbildung.  An 
diesem  Tage  wurde  zum  erstenmal  bemerkt,  daß  auf  der  medialen  Tibia- 
fläche,  ungefähr  entsprechend  der  nekrotischen  Hautstelle,  der  Knochen  in 
der  Ausdehnung  eines  20-Gentstückes  vom  Periost  entblößt  war.  Der 
Knochen  selbst  sah  normal  aus.  Am  7.  Sept.  mußte  unterhalb  der  Höhle 
ein  kleiner  Absceß  incidiert  werden,  der  sich  in  einer  Tasche  derselben 
gebildet  hatte.  Temperatursteigerung  hatte  diese  Betention  nicht  zur 
Folge. 

Die  Wundüäche  granulierte  des  weiteren  sehr  schön.  Die  Ränder 
hatten  sich  dem  Grunde  gut  angelegt.  Patient  war  immer  afebril,  bis  sich 
am  14.  Sept.  fast  mit  einem  Schlage  das  Bild  änderte.  Den  Tag  über 
fröstelte  der  Patient,  am  Abend  betrug  die  Temperatur  39,2.  Eine  Ursache 
dafür  ließ  sich  nicht  linden,  weder  lokal  am  Unterschenkel,  noch  im  übrigen 
Körper.  Subjektiv  keine  Klage.  Der  Zustand  blieb  in  den  nächsten  Tagen 
derselbe.  Das  Fieber  zeigte  einen  remittierenden  Charakter,  mit  kurzen 
Intervallen,  wo  die  Temperatur  subfrebil  war.  Allmählich  bildete  sich  in 
der  Mitte  der  granulierenden  Fläche,  unterhalb  der  vom  Periost  entblößten 
Stelle,  eine  Vorwölbung,  die  schmerzhaft  war  und  in  deren  Bereich  die 
Granulationen  blasser  wurden.  Später  trat  noch  direkte  und  indirekte  Druck- 
empfindlichkeit des  Knochens  hinzu,  so  daß  die  Diagnose  auf  Osteomye- 
litis der  Tibiadiaphyse  gestellt  wurde. 

Fast  von  Beginn  dieser  Temperatursteigerung  an  war  das  „septische 
Aussehen **  und  die  Euphorie  des  Patienten  aufgefallen.  Er  klagte  nie 
über  Schmerzen,  sagte  immer,  es  gehe  ihm  wohl. 

Am  23.  Sept.  Eröffnung  der  Markhöhle  mit  dem  Meißel  in  Chloro- 
formnarkose. Das  Periost  war  im  Bereich  der  Schwellung  verdickt,  löste 
sich  sehr  leicht  vom  Knochen  ab,  war  nirgends  eiterig  infiltriert.  Das 
Knochenmark  dunkelgraurot,  von  mehreren,  höchstens  linsengroßen  Abscessen 
durchsetzt  Der  Eiter  dick,  graugelb.  In  den  Weichteilen  fand  sich  kein 
Herd.  —  Die  Markhöhle  wurde  mit  Jodtinktur  ausgepinselt.  Alum.  acet 
priesnitz. 

Die  Temperatur  fiel  von  39,0  am  Morgen  auf  37,6  am  Abend.  In  den 
nächsten  Tagen  sehr  starke  Sekretion.  Trotzdem  der  Verband  2mal 
täglich  gewechselt,  von  der  Jodtinktur  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht  wurde, 


üeber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  203 

stieg  die  Temperatur  allmählich  wieder.  Am  28.  Sept.  morgens  hatte  sie 
40,1^  erreicht  Ueber  dem  unteren  Drittel  der  Tibiakante  hatte  sich  eine 
geringe  Infiltration  der  Haut  eingestellt.  Am  28.  Sept.  wurde  in  Chloro- 
tormnarkose  die  Markhöhle  ca.  1  cm  unterhalb  der  ersten  Oeffnung  auf- 
gemeißelt, so  daß  eine  Kortikalisbrücke  noch  bestehen  blieb.  Auch  hier 
fanden  sich  wieder  ganz  kleine,  unter  sich  abgeschlossene  Herde  von  dickem 
graugelben  Eiter.  Eine  makroskopisch  bemerkbare  Kommunikation  der 
oberen  Höhle  mit  diesen  Eiterherdchen  oder  eine  sichtbar  kontinuierliche 
Fortsetzung  der  eiterigen  Infiltiation  bestand  nicht  Ausspülung  der  Höhlen 
mit  Acid.  carbol.  liquef.  (}j^  Minute  lang) ;  Entfernung  derselben  mit  Alkohol. 
Alum.  acet  priesnitz.  Die  Temperatur  sank  am  Abend  auf  37,1,  am  anderen 
Morgen  auf  36,2. 

Der  Geruch  des  massenhaft  aus  der  Wunde  entleerten  Sekretes  war 
nicht  mehr  so  jauchig  wie  am  Anfang.  Er  hatte  allerdings  noch  immer 
einen  fötiden,  aber  mehr  säuerlichen  Charakter.  Die  Höhlen  wurden  jeden 
Tag  mit  konz.  Karbolsäure  ausgetupft  Eine  stärkere  Infiltration  der 
Weich  teile  bestand  nicht  -Der  Ailgemeinzustand  verschlechterte  sich  aber 
rasch. 

Vom  1.  Okt.  an  begann  die  Temperatur  wieder  zu  steigen.  Auch  der 
Puls  wurde  jetzt  schlecht.     Subjektive  Beschwerden  bestanden  nicht. 

Am  2.  Okt.  erreichte  das  Fieber  40,6.  Deshalb  Aufmeißelung  der 
ganzen  Markhöhle  der  Tibia  am  3.  Okt.  Das  Periost  ließ  sich  im  Bereich 
der  ganzen  Diaphyse  in  der  vorderen  EUilfte  der  Zirkumferenz  sehr  leicht 
vom  Knochen  lösen.  Im  unteren  Teil  des  Maikes  fanden  sich  auch  wieder 
die  gleichen  zirkumskripten  Absceßchen,  wie  sie  bei  den  früheren  Eingriffen 
beobachtet  wurden,  ohne  sichtbaren  Zusammenhang  mit  der  schon  erööneten 
Markhöhle.  Der  Eiter  war  ziemlich  dick,  graugelb,  säuerlich  fötid  riechend. 
Oben  und  unten  wurde  noch  gesunde  Spongiosa  freigelegt  und  die  ganze 
Höhle  ausgiebig  mit  Jodtinktur  gespiLlt     Alum.    acet  priesnitz, 

Temperatur  am  Abend  40,2,  am  anderen  Morgen  36,7.  Um  ^,9  Uhr 
starker  Schtlttelfrost  von  15  Min.  Dauer.  Keine  Schmerzen.  Temperatur 
nachher  40,3,  Puls  144;  darauf  Schweißausbruch  und  Sinken  der  Tempe- 
ratur (abends  36,6). 

In  der  Nacht  vom  4.  und  5.  Okt.  wieder  Schüttelfrost  mit  Ansteigen 
der  Temperatur  auf  39,7.  Am  übrigen  Körper  fanden  sich  keine  An- 
zeichen für  Metastasen.  Pathologische  Veränderungen  fanden  sich  nur 
auf  der  linken  Lunge,  wo  hinten  unten  in  einer  schmalen  Zone  feuchte, 
klein  blasige,  klanglose  Rasselgeräusche  hörbar  waren  bei  schwachem  Vesi- 
kuläratmen;  keine  Dämpfung;  keine  Abschwächung  des  Pektoralfi-emitus ; 
Lungengrenzen  gut  verschieblich.  Ueber  der  Aorta  war  hie  und  da  ein 
systolisches  Blasen  hörbar.  Im  Urin  kein  Eiweiß,  kein  Blut,  keine  korpus- 
kularen Elemente.     Leichte  Diarrhoe. 

Der  Zustand  verschlimmerte  sich  in  den  nächsten  Tagen  immer 
mehr.     Die  Temperatur    blieb  dauernd  über  38^,   meist   zwischen  39    und 

40.5,  entsprechend  war  auch  die  Pulsfrequenz  gestiegen.  Pat  klagte 
nie  über  Schmerzen,  delirierte  aber  öfters.  Lokal  hatte  die  anfangs  noch 
reichliche  Sekretion  abgenommen,  war  aber  immer  fötid  geblieben.  Der 
Knochen  war  ganz  trocken,  sah  nekrotisch  aus.  Die  Weichteile  waren 
nicht  infiltriert. 

Am  8.  Oktober   zwei  Schüttelfröste   mit   Temperaturen   von  40,1  und 

40.6.  Nach  dem  letzten  Schüttelfrost  Entnahme  von  10  ccm  Blut  aus 
der  Vena  mediana  cubiti  zur  bakteriologischen  Untersuchung  (Resultat 
fliehe  unten). 


204  Otto  Wyss, 

Nachdem  durch  stündliche  Kampfer-  und  KoffeMinjektionen  (abwech- 
selnd) der  Puls  wieder  besser  geworden  war,  wurde  am  9.  Okt  zur  Am- 
putation des  rechten  Oberschenkels  im  unteren  Drittel  geschritten.  Sofort 
nachher  intravenöse  Infusion  von  1  1  Kochsalzlösung.  Y^  Stunde  darauf 
wieder  starker  Schüttelfrost  mit  40,8;  am  Abend  Sinken  der  Temperatur 
auf  38  und  am  anderen  Morgen  auf  37,8.  Fat.  sah  etwas  besser  aus, 
fühlte  sich  wohl,  war  bei  klarem  Bewußtsein;  doch  klagte  er  über 
Schmerzen  im  rechten  Schultergelenk,  das  bei  der  leisesten  Bewegung 
weh  tat.  Eine  Schwellung  oder  Bötung  der  Weichteile  war  nicht  zu 
konstatieren. 

Gegen  den  Abend  des  10.  Okt.  verschlimmerte  sich  der  Zustand 
wieder;    es   traten   Delirien   auf;    der  Puls  wurde  kleiner  und  frequenter. 

Am  10.  Okt.  abends  Entnahme  von  15  ccm  Blut  aus  der  Vena 
mediana  cubiti  zur  bakteriologischen  Untersuchung.  Sofort  darauf  intra- 
venöse Kochsalzinfusion  von  800  ccm. 

Am  11.  Okt.  war  der  Fat  meist  somnolent,  klagte  noch  über  Schmerzen 
in  der  Lebergegend.  Lähmungen  waren  nicht  zu  bemerken.  Der  Puls 
wurde  immer  kleiner.     6  Uhr  30  Min  p.  m.  Exitus. 

Yg  Stunde  post  mortem  wurde  das  rechte  Schultergelenk  unter  asep- 
tischen Kautelen  eröffnet.  Die  Weich  teile  waren  unverändert,  ohne  jede 
Infiltration.  Nach  Incision  der  Gelenkkapsel  strömte  reichlich  dünner, 
graugelber  Eiter  heraus,  der  denselben  fbtid-säuerlichen  Geruch  zeigte 
wie  der  Eiter  aus  dem  Knochenmark.  Er  wurde  steril  aufgefangen  zur 
mikroskopischen  und  bakteriologischen  Untersuchung. 

Auszug  aus  dem  Sektionsprotokoll  (pathoL-anat.  Anstalt  Basel, 

Dr.  Müthmann). 

Thorax.  Lungen  mäßig  retrahiert.  Im  rechten  Pleuraraum  10  ccm 
blutige,  mit  flockigen,  gelblichen  Massen  untermischte  Flüssigkeit. 

Im  Herzbeutel  ca.  50  ccm  klare  Flüssigkeit,  mit  Flocken  untermischt. 
Auf  dem  Herzen  in  großer  Anzahl  etwa  linsengroße,  subepikardiale  Blutungen 
von  dunkel  bräunlicher  Farbe. 

Herz  von  Faustgröße.  Aus  dem  rechten  Herzen  entleert  sich  etwas 
schaumiges  Blut.  Klappen  alle  intakt.  Auf  einer  Mitralklappe  punkt- 
förmiger Blutaustritt  unter  die  Intima. 

Im  linken  Herzen  zahlreiche  subendokardiale  Blutaustritte.  Muskulatur 
etwas  trüb,  von  gelblich-brauner  Farbe.  Muskulatur  links  1,3  cm  dick, 
rechts  0,3  cm. 

Linke  Lunge:  Oberfläche  mit  abziehbaren,  gelblichen  Membranen  be- 
deckt. Auf  dem  Unterlappen  in  großer  Anzahl  etwa  erbsen-  bis  haselnuß- 
große, prominente  Partien  mit  gelblichen  Konturen,  auf  dem  Schnitt 
rahmigen,  gelblichen  Eiter  enthaltend.  Lunge  auf  dem  Durchschnitt  röt- 
liche, schaumige  Flüssigkeit  entleerend. 

Rechte  Lunge  ähnlich  wie  links.    Bronchialschleimhaut  etwas  gerötet. 

Pharyngealschleimhaut  gerötet. 

Tonsillen  mandelgroß;  aus  der  linken  Tonsille  entleert  sich  auf  dem 
Schnitt  eine  breiige,  eiterig-rahmige  Masse. 

Larynx-  und  Trachealschleimhaut  ohne  Befund. 

Abdomen.  Serosa  der  Därme  blank.  Darm  gebläht  Im  Bauch- 
raum keine  freie  Flüssigkeit. 

Milz:  14,5:7,5:4  cm  glatte  Oberfläche;  Pulpa  sehr  weich,  breiig; 
Trabekel  und  Follikel  nicht  zu  erkennen. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  205 

Nebennieren  beiderseits  ohne  Befund. 

Nieren:  links  13,5:5  cm.  Kapsel  leicht  löslich.  Oberfläche  rötlich- 
gelb.  Zahlreiche  punktförmige  Blutungen.  Auf  der  Oberfläche  ein  gelb- 
licher Herd  von  Erbsengröße,  auf  dem  Schnitt  gelblichen  Eiter  entleerend. 
Durchschnitt:  Binde  herd weise  trüb.  Pyramiden  graurötlich.  Im  Nieren- 
becken zahlreiche  submuköse  Blutungen. 

Rechts  wie  links  (ohne  den  Eiterherd).  Zahlreiche  punktförmige 
Blutungen  der  Oberfläche.     Keine  Blutungen  im  Nierenbecken. 

Leber :  Oberfläche  glatt.  Im  rechten  Lappen  ein  hühnereigroßer,  gelb- 
lichen Eiter  entleerender  Herd.  Farbe  des  Durchschnittes  rötlich-gelb. 
Zeichnung  der  Acini  undeutlich  (Fettleber). 

In  der  Oallenblase  etwas  trübe,  fast  orangefarbene  Oalle. 

Magen-  und  Duodenalschleimhaut  ohne  Befund. 

Pankreas  grobkörnig,  graurötlich;  zahlreiche  punktförmige,  gelbliche 
Herdchen  (Fettnekrose  des  Pankreas). 

Darmschleimhaut  im  allgemeinen  blase,  sonst  ohne  Befund. 

Blase  und  Genitalien  ohne  besonderen  Befund. 

Schädel  Sinus  longitudinalis  enthält  ziemlich  viel  Cruor  und 
Speckhaut  Auf  der  Durainnenfläche  kleine,  rote,  abziehbare,  membranöse 
Auflagerungen  (Pachymeningitis  haemorrhagica  interna). 

Gehirn  ziemlich  blutarm,  von  fester  Konsistenz;  in  der  weißen  Sub- 
stanz beider  Hemisphären  eine  Anzahl  erbsengroßer  Herde  mit  grünlich- 
gelbem Eiter. 

Beim  Einschneiden  ins  rechte  Schultergelenk  entleert  sich  massen- 
haft dünnflüssiger,  gelblich-weißer  Eiter.  Gelenkknorpel  nicht  usuriert 
Umgebende  Weichteile  ohne  Reaktion. 

Rechter  Oberschenkel:  Beim  Einschneiden  in  die  Muskulatur  unter- 
halb dem  Trochanter  wird  ein  kastaniengroßer,  mit  grünlichem  Eiter  ge- 
füllter Herd  eröffnet  Aus  dem  Hüftgelenk  entleert  sich  nach  Eröffnung 
desselben  ebensolcher  Eiter.  Eine  Kommunikation  der  beiden  Herde  mit- 
einander ist  nicht  zu  konstatieren,  ebenso  nicht  mit  einem  Decubitus,  der 
etwas  nach  hinten  und  unten  vom  Trochanter  gelegen  ist. 

Der  amputierte  rechte  Unterschenkel^)  zeigte  folgenden  Befund:  Die 
ganze  Markhöhle  d^r  Diaphyse  war  freigelegt ;  am  oberen  Ende  derselben 
die  Spongiosa  nut  einer  dünnen  Schicht  dicken,  graugelben,  schwach  fötid 
riechenden  Eiters  bedeckt,  sonstige  Markhöhle  frei.  Am  Condylus  internus 
tibiae  führte  zwischen  Fascie  und  Periost  ein  feiner  Gang  in  einen 
Schleimbeutel  unter  der  Sehne  des  Musculus  semimembranosus ;  die  Bursa 
war  ausgefüllt  von  dünnem,  graugelbem  Eiter,  der  den  gleichen  Geruch 
zeigte  wie  der  osteomyelitische  Eiter.  Sonst  befanden  sich  in  den  Weich- 
teilen keine  Abscesse.  Die  Wunden  derselben  waren  überall  mit  Granu- 
lationen bedeckt.  Die  Tibia  wurde  in  der  Längsachse  aufgesägt.  Knie- 
und  Fußgelenk  frei;  ebenso  obere  Epiphyse.  In  der  unteren  Epiphyse, 
ca.  2  und  3  cm  von  der  offenen  Markhöhle  entfernt,  lagen  hintereinander 
in  der  Längsachse  zwei  ungefähr  linsengroße  Abscesse  in  der  Spongiosa, 
die  noch  nicht  sequestriert  war.  Der  Eiter  war  ziemlich  dick,  sonst  von 
gleicher  Beschaffenheit  wie  oben.  Diese  Herde  waren  durch  einen  feinen 
Strang  rahmigen  Markes  mit  der  offenen  Markhöhle  verbunden. 


1)  Er  wurde  nach  der  Amputation  in  sterile  Tücher  eingewickelt 
und  nachher  sofort  auf  Eis  gelegt.  Die  Untersuchung  desselben  wurde 
ca.  3  Stunden  nach  der  Operation  vorgenommen. 


206  Otto  WysB, 

A.  Mikroskopische  Untersuchungen. 

Der  mikroskopischen  Untersuchung  wurden  unterzogen: 

1)  der  Eiter  von  der  unteren  Tibiaepiphyse ; 

2)  der  Eiter  vom  oberen  Teil  der  Markhöhle; 

3)  der  Eiter  von  der  Bursa  subsemimembr. ; 

4)  der  Belag  der  Granulationen  an  der  Innenseite  des  Unterschenkels ; 

5)  der  Eiter  im  rechten  SSchultergelenk ; 

6)  ein  Lungenabsceß.  Stücke  der  Lungen  mit  Absceßchen  wurden  in 
Formol  gelegt,  gehärtet,  in  Paraffin  geschnitten  und  gefärbt; 

7)  der  Herd  in  der  Leber. 

Die  Deckglaspräparate  eines  jeden  Eiters  wurden  mit  Earbolfuchsin- 
Glycerin  (Czaplbwski)  und  nach  der  ÖRAMSchen  Methode  gefärbt. 

1)  Eiter  aus  der  unteren  Tibiaepiphyse.  Zahlreiche,  gut 
erhaltene,  polynukleäre  Eiterzellen;  wenige  in  Degeneration  begriiFene; 
ziemlich  viele  Kömchenzellen.  An  Mikroorganismen  sehr  viele  kurze,  dünne 
Stäbchen,  oft  mit  etwas  zugespitzten  Enden.  Lire  Länge  beträgt  etwa 
den  6. — 7.  Teil  des  Durchmessers  eines  roten  Blutkörperchens;  ihre  Breite 
die  Hälfte  oder  den  dritten  Teil  der  Länge;  ganz  selten  finden  sich  auch 
etwas  längere,  aber  gleich  dicke  Formen.  Bei  schwächerer  Einwirkung 
des  Färbemittels  sind  oft  nur  die  Pole  gefärbt  in  Form  von  2  Pünktchen, 
so  daß  sie  wie  Diplokokken  erscheinen.  Bei  längerer  Einwirkung  der 
CzAPLBWSKischen  Lösung  (3 — 4  Minuten  unter  Erwärmen)  wird  aber  das 
ganze  Stäbchen  gleichmäßig  gefUrbt.  Meist  liegen  die  Bakterien  vereinzelt, 
sehr  oft  aber  auch  zu  zwei,  als  Diplobazillen.  Nach  Gbam  werden  sie 
sehr  leicht  entfärbt.  Auch  in  Eiterzellen  sind  hie  und  da  solche  Stäbchen 
zu  treffen. 

Daneben  finden  sich  sehr  wenige  große  Kokken,  meist  als  Diplo- 
kokken, die  nach  Gram  gefärbt  bleiben.  Eine  Kapsel  konnte  ich  nicht 
darstellen. 

2)  Eiter  aus  dem  oberen  Teil  der  Markhöhle.  Dasselbe 
Bild. 

3)  Eiter  aus  der  Bursa  subsemimembran.  Im  Verhältnis 
zur  Zahl  der  Eiterzellen  sind  viel  weniger  Bakterien  vorhanden  und  zwar 
exklusive  Stäbchen  von  der  gleichen  Beschaffenheit  wie  die  oben  be- 
schriebenen. 

4)  Granulationen.  Im  Sekret  derselben  finden  sich  die  nämlichen 
Stäbchen  wieder,  aber  in  sehr  geringer  Anzahl.  Ueberwiegend  sind  kleine 
nach  Gram  gefHrbt  bleibende  Kokken,  meist  vereinzelt  oder  zu  zwei,  vor- 
handen. 

5)  Schultergelenk.  Das  mikroskopische  Bild  wird  beherrscht 
von  Mikroorganismen  und  zwar  finden  sich  ausschließlich  die  oben  be- 
schriebenen Stäbchen.  Hie  und  da  werden  so  kurze  Formen  angetroffen, 
daß  sie  fast  wie  Kokken  erscheinen.  Ganz  selten  sieht  man  auch  leicht 
gebogene  Ketten  von  3 — 4  kurzen  Stäbchen.  Auch  die  Dicke  wechselt 
etwas.  Die  Eiterzellen  treten  an  Zahl  den  Bakterien  gegenüber  ganz 
zurück. 

6)  Lunge,  a)  Eiter  aus  einem  der  größeren  Abscesse.  Sehr  wenige 
polynukleäre  Eiterzellen,  dagegen  äußerst  zahlreiche  Stäbchen  von  der 
gleichen  Beschaffenheit  wie  die  obigen.  Sehr  selten  sind  auch  lange  und 
breite  Stäbchen  bemerkbar,  die  sich  ebenfalls  nach  Gram  entfärben. 

b)  In  den  Schnittpräparaten  der  Lunge  färben  sich  die  Bakterien  am 
besten   durch   Löfflbrs   Methylenblau  (12  Stunden   bei  37^).     Hier   sieht 


lieber  einen  neuen  anaöroben  pathogenen  Bacillus.  207 

man  zahlreiche  Bakterien  im  Absceß  und  in  an^enzenden  Teilen  der 
Wand  desselben;  ihrem  Aussehen  nach  sind  es  die  gleichen  Stäbchen  wie 
in  den  Deckglaspräparaten,  nur  erscheinen  sie  in  der  Mitte  etwas  dicker, 
sind  also  an  beiden  Enden  etwas  zugespitzt.  Oft  sieht  man  auch  ge- 
schlängelte Ketten  von  4 — 10  Gliedern.  In  den  Blut-  und  Lymphgefäßen 
konnte  ich  sie  nicht  finden;  ebenso  nicht  in  den  beoachbarten  Alveolen. 
Im  übrigen  Lungengewebe  zeigen  sich  unregelmäßig  zerstreut  ziemlich 
viele  lange  dicke  Stäbchen  (wahrscheinlich  Fäulnisbakterien). 

7)  Leber.  Auch  hier  finden  sich  dieselben  kleinen  Stäbchen,  wenn 
auch  nicht  so  zahlreich  wie  an  den  anderen  Orten.  Andere  Formen  werden 
nicht  beobachtet. 

B.  Kulturelle  und  experimentelle  Untersuchungen. 

1)  Untersuchungen  des  Blutes. 

Am  8.  Okt.  wurden  nach  einem  Schüttelfrost  dem  Pat.  10  ccm  Blut 
aus  der  Vena  mediana  cubit.  entnommen  und  zu  Kulturen  verarbeitet 
(aerobe  Bouillonkulturen,  Gelatine-  und  Agarplatten,  Agarstichkultur  ohne 
XJeberschichtung).  Dieselben  waren  steril  geblieben.  Auch  mikroskopisch 
ließen  sich,  im  Blute  keine  Mikroorganismen  nachweisen. 

Am  10.  Okt.  (am  Tage  nach  der  Amputation)  wurden  noch  einmal 
15  ccm  Blut  entnommen  und  wieder  gleiche  Kulturen  angelegt.  Da  uns 
damals  die  Lebensbedingungen  des  Stäbchens,  auf  das  es  nach  den  mikro- 
skopischen Untersuchungen  des  Eiters  hauptsächlich  ankam,  noch  nicht 
bekannt  waren,  wurden  außer  den  beiden  Agarstichkujturen,  wovon  eine 
mit  Ueberschichtung ,  keine  anderen  anaSroben  Kulturen  gemacht.  Zu 
diesen  Stichkulturen  wurden  nur  wenige  Tropfen  verwendet,  so  daß  also 
in  geringer  Anzahl  im  Blute  enthaltene  Stäbchen  der  Untersuchung  ent- 
gangen sein  können.  Die  Kulturen  blieben  steril.  Mikroskopische  Unter- 
suchung des  Blutes  negativ. 

Ferner  wurden  einem  Kaninchen  von  770  g  subkutan  in  den  rechten 
Oberschenkel  6  ccm  injiziert,  einem  Meerschweinchen  von  420  g  3,5  ccm 
ebenfalls  subkutan  und  einer  weiß-schwarz  gefleckten  Batte  von  110  g 
2  ccm.  Alle  3  Tiere  hatten  am  anderen  Tage  ein  krankhaftes  Aussehen, 
fraßen  nichts  mehr,  waren  ganz  apathisch.  Das  Kaninchen  und  die  Ratte 
erholten  sich  am  2.  Tage  wieder.  Das  Meerschweinchen  aber  blieb  apa- 
thisch, fraß  auch  weiter  nichts  mehr  und  ging  am  3.  Tage,  ca.  64  Stunden 
nach  der  Injektion  zu  Grunde,  ohne  spezielle  Krankheitserscheinungen 
gezeigt  zu  haben  (keine  Diarrhöe,  keine  Krämpfe,  keine  Atemnot).  Die 
Sektion  bot  keine  makroskopisch-pathologischen  Veränderungen.  Mikro- 
skopisch fanden  sich  weder  an  der  Injektionsstelle,  noch  im  Blut,  noch 
in  der  Milz  Mikroorganismen.  Die  Kulturen  blieben  steril  (allerdings 
waren  nur  aSrobe  Kulturen  angelegt  worden). 

2)  Untersuchungen  des  Eiters. 
Untersucht  wurde 

a)  der  Eiter  aus  der  unteren  Tibiaepiphyse ; 

b)  der  Eiter  aus  dem  unteren  Teile  der  Markhöhle; 

c)  der  Eiter  aus  der  Bursa  subsemimembr. ; 

d)  der  Eiter  aus  dem  rechten  Schultergelenk. 

Von  den  3  ersten  Stellen  wurde  die  Abimpfung  ca.  3  Stunden  nach 
der  Amputation  gemacht,  nachdem  die  Extremität  während  dieser  Zeit 
auf  Eis   gelegen   hatte.      Das    Schultergelenk    war    ^/g  Stunde    nach    dem 


208  Otto  Wyss, 

Tode  aseptisch  eröffnet  worden;  in  diesem  fand  sich  das  Stäbchen  in 
Beinkultur.  Die  Eiterproben  anderer  Provenienz  waren  zum  Teil  verun- 
reinigt mit  Staphylokokken  (in  der  unteren  Tibiaepiphyse  nur  wenige 
Kolonien ;  vom  Eiter  der  Markhöhle  mehr)  oder  Tetragenus  (in  der  Buraa). 

Es  stellte  sich  bald  heraus,  daiS  das  Stäbchen  nur  anaerob  wuchs. 
Aus  dem  Eiter  des  Schultergelenks  wurde  es  direkt  in  Bouillon  unter 
Wasserstoffatmosphäre  gezüchtet  und  zwar  habe  ich  fast  von  Anfang  an 
Ascitesbouillon  genommen  (ca.  2  Teile  gewöhnliche  Nährbouillon  und 
1  Teil  sterile  AscitesHüssigkeit),  worin  dasselbe  am  besten  gedieh. 

Aus  den  verunreinigten  Eiterilüssigkeiten  habe  ich  das  Stäbchen  auf 
doppelte  Weise  isoliert: 

1)  Wurde  von  demjenigen  Teil  einer  agroben  Agars tichkultur,  wo 
keine  Staphylokokken-  oder  Tetragenuskolonien  gewachsen  und  wo  mikro- 
skopisch gut  fkrbbare  Stäbchen  vorhanden  waren,  auf  Bouillon  übergeimpft 
und  an  aerob  gehalten. 

2)  Bei  den  nach  Liborius  (Schüttelkulturen  in  hohen  Säulen)  ge- 
züchteten Kulturen  (Zuckeragar  und  Ascitesagar)  wurden  mit  Glaspipette 
die  Kolonien  des  Stäbchens  hervorgefischt  und  anaerob  weiter  gezüchtet 
(vide  Rist). 

Einen  anderen  Stamm  desselben  Stäbchens  habe  ich  erhalten  aus 
dem  Absceß  eines  Kaninchens,  welchem  0,3  ccm  des  Eiters  vom  rechten 
Schultergelenk  des  Patienten  subkutan  injiziert  worden  waren.  Im  Absceß, 
der  sich  an  der  Injektionsstelle  entwickelte,  war  das  Stäbchen  in  Bein- 
kultur enthalten. 

Auf  diese  Weise  habe  ich  4  Stämme  eines  Mikroorganismus  erhalten 
(Bac.  or,  Bac.  ß,  Bac.  y  ^^^  ^&<^-  ^  ^^s  Protokolls),  die  sich  durch  ihre 
morphologischen  und  biologischen  Eigenschaften  als  ein  und  dasselbe 
Bakterium  erwiesen.  Wegen  einiger  charakteristischen  Merkmale  taufte 
ich  den  —  wie  später  gezeigt  wird,  bisher  nicht  beschriebenen  —  Mikro- 
organismus:   Bacterium    halosepticum  (rj  Skfog   der  Hof  um  die  Gestirne). 


Charakteristik  des  neuen  pathogenen  Mikroorganismus 

(Bact.  halosepticum). 
a)  Morphologische  Eigenschaften. 

Dieser  Keim  bildet  in  den  Kulturen  ein  kurzes,  schmales,  gerades 
Stäbchen,  die  Enden  sind  meist  etwas  zugespitzt.  Die  Länge  ist  ver- 
schieden, je  nach  der  Temperatur,  bei  der  das  Wachstum  stattgefunden 
hat.  Bei  37  ®  (in  anaerober  Ascitesbouillon)  bildet  er  gewöhnlich  kurze, 
leicht  geschlängelte  Ketten  von  4—8—10  Gliedern.  Die  einzelnen 
Glieder  haben  eine  Länge  von  0,7 — 1,0  /«.  Einzelstehende  Stäbchen 
können  noch  kürzer  sein.  Die  Dicke  beträgt  in  der  Mitte  0,5  /i.  Die 
Längsachse  des  Einzelindividuums  fallt  mit  der  Längsachse  der  Kette 
zusammen. 

Bei  40®  gewachsen  sind  die  einzelnen  Glieder  noch  kürzer,  so  daß 
die  Züge  wie  kurze  Streptokokkenketten  erscheinen.  Die  Dicke  bleibt 
sich  gleich. 

Bei  22®  sieht  man  längere  Elemente;  das  Mittel  beträgt  dann 
3,5  fi ;  die  Einzelstäbchen  wachsen  nicht  über  eine  Länge  von  5  fi  hinaus. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  patbogenen  Bacillus.  209 

Sie  bilden  bei  dieser  Temperatur  auch  längere  Fäden  (bis  20  //  lang), 
die  aber  bei  genauem  Zusehen  aus  langen  und  kurzen  Gliedern  be- 
stehen. Häufig  sieht  man  am  Ende  eines  Fadens  ein  oder  mehrere 
distinkte  Stäbchen,  die  noch  klein  geblieben  sind.  Der  Faden  selbst 
kann  auch  durch  solche  unterbrochen  werden.  Die  Dicke  beträgt  0,5 
bis  0,6  /i.  Verzweigungen  habe  ich  keine  beobachtet,  auch  keine  An- 
schwellungen. 

Diese  Verschiedenheit  der  Länge  hängt  wahrscheinlich  mit  der 
Geschwindigkeit  zusammen,  mit  der  das  Wachstum  vor  sich  geht.  Bei 
22^  welche  Temperatur  ungefähr  die  unterste  Grenze  des  Wachstums 
bildet,  erfolgt  dasselbe  äußerst  langsam;  die  Einzelstäbchen  haben  Zeit, 
sich  zu  entwickeln.  Bei  40®  (oberste  Grenze)  erfolgt  die  Teilung  so 
rasch,  daß  das  Stäbchen  nicht  Zeit  hat,  weit  in  die  Länge  zu  wachsen. 

Unser  Mikroorganismus  läßt  sich  mit  den  gewöhnlichen  Anilinfarb- 
stoflFen  färben,  am  besten  mit  verdünntem  Karbolfuchsin  (nach  Cza- 
PLEWSKi),  durch  das  er  in  2 — 3  Minuten,  besonders  unter  Erwärmen, 
genügend  geförbt  wird.  Auch  in  2  Proz.  Gentianaviolettlösung  färbt 
er  sich  in  5  Minuten.  Er  nimmt  den  Farbstoff  gleichmäßig  an.  Die 
anderen  Färbmittel  brauchen  längere  Zeit  zur  Einwirkung  (Methylenblau 
und  Vesuvin  mehrere  Stunden).  Nach  Gram  wird  er  vollkommen  und 
rasch  entfärbt. 

Eine  Kultur,  die  aus  dem  ersten  Agarstrich  in  Zuckeragar 
übergeimpft  worden  war  und  seither  immer  in  zuckerhaltigen  Medien 
gezüchtet  wurde  i),  bot  ein  anderes  morphologisches  Verhalten.  In 
Zuckerbouillon  s^  man  neben  ganz  wenigen  kurzen  Stäbchen  mittel- 
lange Formen,  die  an  einem  Ende  keulenförmig  angeschwollen  waren, 
am  anderen  Ende  spitz  zuliefen.  Dann  kamen  längere,  gewellte  und 
geschlungene  Fäden  vor  von  unregelmäßiger  Form,  meist  an  einem 
Ende  kolbig  angeschwollen,  oft  auch  an  beiden  Enden.  Oder  die  An- 
schwellungen waren  willkürlich  auf  den  ganzen  Faden  verteilt.  Echte 
Verzweigungen  hatte  ich  nicht  beobachten  können.  Die  Farbstoffe 
wurden  vom  Faden  ganz  unregelmäßig  angenommen.  Aus  der  gleichen 
Ausgangskultur  (Agarstrich)  wurde  in  Ascitesbouillon  das  gewöhnliche 
Stäbchen  gezüchtet,  das  in  allen  seinen  Kulturen,  auch  nach  mehrfacher 
üeberimpfung  in  Zuckerbouillon,  nie  diese  polymorphe  Gestalt  ange- 
nommen hat,  sondern  immer  sich  gleich  geblieben  ist.  Die  Kultur  jenes 
polymorphen  Stäbchens,  auf  Ascitesbouillon  übergeimpft,  entwickelte  sich 
als  gewöhnliches,  kurzes  Stäbchen  und  zeigte  auch  nach  der  Rückimpfung 
in  Zuckerbouillon  nicht  mehr  jene  ungewöhnlichen  Formen.  Es  muß 
dahingestellt  bleiben,  ob  es  sich  um  eine  vorübergehende  Wachstums- 
varietät unseres  Keimes  oder  um  eine   accidentelle  Verunreinigung  ge- 

1)  Nach  5  Uebertragungen  in  Zuckerbouillon  ging  die  Kultur  nicht 
mehr  an. 

tfittcil.  a.  d.  GrejiicebieUn  d.  Mcdixin  u.  Chirurgie.    XiU.  Ud.  14 


210  Otto  Wyss, 

handelt  hat,  bei  welcher  der  veruDreinigende  Keim  bald  im  Wachstum 
zurückblieb.  Die  letztere  Möglichkeit  scheint  uns  allerdings  wahrschein- 
licher, da  ähnliche  polymorphe  Bildungen  sonst  bei  keiner  der  zahl- 
reichen Kulturen  beobachtet  werden  konnten. 

Sporen  werden  nicht  gebildet.  Die  Sporenfarbung  (mit  Karbol- 
fuchsin und  Methylenblau)  ist  negativ ;  auch  im  ungefärbten  Präparate 
lassen  sich  keine  Körperchen  nachweisen,  die  als  solche  anzusprechen 
wären.  Die  Bildung  von  Dauerformen  ist  auch  nach  dem  biologischen 
Verhalten  unwahrscheinlich. 

Beobachtung  im  lebenden  Zustand. 

Die  Beobachtung  geschieht  im  hängenden  Tropfen  (wobei  der  Luft 
mit  Pyrogallol  und  Kalilauge  der  Sauerstoff  entzogen  wird)  oder  besser 
noch  in  einer  Glaskapillare  ^).  Die  Bakterien  erscheinen  hier  gleich  wie 
im  gefärbten  Präparat,  man  sieht  einzelne  kleine  Stäbchen,  die  eine  aus- 
geprägte Molekularbewegung  aufweisen.  Zahlreicher  noch  sind  die 
kurzen,  leicht  geschwungenen  Ketten  von  4—5—7  Gliedern,  die  sich 
auch  lebhaft  rotieren.  Eine  Eigenbewegung,  ein  Vorwärtsschreiten  habe 
ich  nie  beobachten  können,  trotzdem  ich  die  verschiedensten  Alters- 
stadien und  die  Bntwickelung  in  den  meisten  flüssigen  Nährböden  so  unter- 
sucht habe. 

Infolgedessen  blieb  auch  immer  die  Geißelfärbung  (nach  Löffler 
und  nach  Peppler)  negativ. 

b)  Biologische  Eigenschaften. 
Unser  Mikroorganismus  ist  ein  strenger  Anaörobier.  Der  Sauer- 
stoff muß  aus  den  Nährmedien  vollkommen  entfernt  werden,  wenn  ein 
Wachstum  stattfinden  soll.  In  Berührung  mit  der  atmosphärischen  Luft 
stirbt  er,  auch  wenn  vor  Austrocknung  geschützt,  viel  schneller  ab  als 
bei  Luftabschluß.  Am  besten  gedeiht  er  ferner  auf  eiweißreichen  Nähr- 
böden und  bei  alkalischer  Reaktion.  Diese  wurden  gewöhnlich  durch 
Zusatz  von  steriler  Ascitesflüssigkeit  zu  den  gewöhnlichen  Nährböden 
(Bouillon,  Agar,  Gelatine)  hergestellt  und  zwar  im  Verhältnis  von  2 
Teilen  der  letzteren  zu  1  Teil  Ascites.  (Die  Inaktivierung  der  Ascites- 
flüssigkeit bei  56^  hat  auf  das  Wachstum  keinen  Einfluß.)    Hier  bildet 


1)  Aehnlich  wie  Fuchs.  Eine  in  Entwickelung  begriffene  Ascites- 
bouillonkultur  wird  in  eine  lange,  frisch  ausgezogene  Glaskapillare 
aspiriert,  oder  in  eine  mit  steriler  Ascitesbouillon  gefüllte  Kapillare  werden 
einige  Tropfen  einer  vollentwickelten  Kultur  eingesogen  und  hierauf  die 
Kapillare  an  beiden  Enden  resp.  noch  im  Bereich  der  Flüsaigkeitssäule 
zugeschmolzen.  Das  Innere  derselben  ist  auf  diese  Weise  sicher  luftleer 
gemacht.  Die  Entwickelung  der  Kultur  geht  sehr  gut  von  statten.  Zur 
besseren  Untersuchung  unter  dem  Mikroskop  kann  die  SLapillare  auf  einen 
Glasstreifen  aufgekittet  werden  mit  Canadabalsam. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  211 

er  auch  Gasblasen.  Weniger  üppig  ist  die  Entwickelung  auf  trauben- 
zuckerhaltigen Nährmedien,  in  denen  auch  nur  selten  Gasblasen  sich 
zeigen.  Am  schwächsten  geht  das  Wachstum  auf  den  gewöhnlichen 
Substraten  von  statten.  Auf  Milch,  Kartofifeln  etc.  findet  überhaupt 
kein  Wachstum  statt. 

Wie  er  den  Nährstoffen  gegenüber  ziemlich  subtil  ist,  ist  er  auch 
gegen  Kälte  und  Wärme  stark  empfindlich.  Die  Temperaturen,  bei 
denen  noch  Vermehrung  sich  zeigt,  liegen  zwischen  22  ^  und  etwas  über 
40®,  das  Optimum  liegt  bei  ca.  38®.  Bei  22®  ist  das  Wachstum  sehr 
spärlich;  erst  in  etwa  10  Tagen  ist  auch  in  geeigneten  Medien  makro- 
skopisch eine  Entwickelung  sichtbar.  Bei  42—43®  vermehrt  er  sich 
nicht  mehr.  Von  der  Entwickelungsintensität  ist  auch  die  Lebensdauer 
abhängig.  Je  langsamer  die  Entwickelung  vor  sich  geht,  desto  länger 
bleibt  die  Kultur  lebensfähig,  je  rascher  sie  sich  entwickelt,  desto  eher 
stirbt  sie  unter  sonst  gleichen  Umständen  ab.  Im  allgemeinen  ist  die 
Lebensdauer  gering.  In  Ascitesbouillon  z.  B.  bei  37  ®  gehalten,  ist  eine 
Kultur  in  8  Tagen  abgestorben;  nach  6  Tagen  abgeimpft,  entwickelt 
sie  sich  im  neuen  Medium  noch  langsam.  Diese  geringe  Lebensenergie 
gibt  sich  auch  im  mikroskopischen  Bild  zu  erkennen:  der  größte  Teil 
der  Stäbchen  färbt  sich  nicht  mehr.  Im  Eisschrank  aufbewahrt,  bleibt 
die  Kultur  etwas  länger  am  Leben.  Von  einer  Ascitesagarkultur,  welche 
sich  während  2  Tagen  bei  37  ®  entwickelt  hat  und  die  dann  in  den  Eis- 
schrank gestellt  wird,  kann  man  auch  nach  13—14  Tagen  mit  Erfolg 
abimpfen.  Noch  etwas  größer  ist  die  Lebensdauer,  wenn  die  Entwicke- 
lung von  Anfang  an  bei  22 — 24®  stattgefunden  hat,  da  beträgt  sie  ca. 
3  Wochen  (ohne  daß  die  Kultur  auf  Eis  gehalten  wird). 

Unser  Stäbchen  ist  gegen  höhere  Temperaturen  sehr  empfindlich. 
Eine  in  voller  Entwickelung  begriffene  Kultur  ist  bei  56®  in  15  Minuten 
abgetötet!). 

An  Deckblättchen  angetrocknet,  stirbt  das  Stäbchen  bei  gewöhn- 
licher Zimmertemperatur  und  an  der  Luft  in  einigen  Stunden  ab;  nach 
einem  Tage  war  es  bei  keinem  Versuche  mehr  lebensfähig. 

Art  des  Wachstums  in  den  verschiedenen  Nährböden. 
In   den   flüssigen   Nährmedien   wurde   die  Anaärobiose   nach   den 
Methoden  von  Roux  und  Heim  ermöglicht  (Verdrängung  der  Luft  durch 
Wasserstoff)- 

1)  Diese  Prüfung  habe  ich  derart  gemacht,  daß  ich  von  einer  2-tägigen 
Ascitesbouillonkultur  gleiche  Mengen  von  ca.  ^2  ^^^  ^  sterile  Eeagens- 
röhrchen,  die  auf  56  ^  vorgewärmt  waren,  abfüllte  und  diese  in  den  Brut- 
ofen bei  56  ^  stellte ;  nach  5,  10,  15,  20  etc.  Minuten  nahm  ich  ein  Eöhrchen 
heraus,  impfte  von  demselben  auf  Ascitesbouillon  ab  und  verarbeitete 
diese  sofort  anaörob.  Diejenigen  Böhrchen,  welche  nur  5  und  10  Minuten 
der  Temperatur  von  56^  ausgesetzt  waren,  waren  noch  mit  Erfolg  ab- 
impfbar. 


212  Otto  Wyss, 

Ascitesbouillon.  Bei  37 ^  sieht  man  nach  ca.  80  Stunden  wenige, 
ganz  kleine  Gasblasen  aufsteigen;  einige  Stunden  darauf  erscheinen  makro- 
skopisch an  den  abhängigen  Partien  der  Glaswand  und  an  der  in  die  Bouillon 
herabreichenden  Kapillare,  die  zur  Einleitung  des  H  gedient  hat,  kleine 
graugelbe,  etwas  transparente  Wölkchen,  die  allmählich  größer  werden  und 
an  Zahl  zunehmen.  Die  Gasentwickelung  bleibt  sich  gleich,  ist  nie  be- 
deutend ;  am  Bande  des  Flüssigkeitsmeniskus  sammeln  sich  die  aufsteigenden 
Gasblasen  als  feiner  Schaum.  Die  Bouillon  bleibt  klar.  Am  Ende  des 
2.  und  am  Anfang  des  3.  Tages  senken  sich  die  Flöckchen  zu  Boden 
und  bilden  hier  einen  losen,  wolkigen,  graugelben  Bodensatz,  der  sich  beim 
Schütteln  leicht  in  der  ganzen  Bouillon  verteilen  läßt.  Die  Gasentwickelung 
hört  von  diesem  Zeitpunkt  an  auf.  Der  Bodensatz  bildet  im  Maximum 
etwa  den  4.  Teil  der  Flüssigkeitssäule,  ist  derselbe  erst  einmal  aufgewirbelt, 
so  klärt  sich  die  Bouillon  erst  ungefähr  nach  einer  Woche  wieder  ab. 

Der  Geruch  dieser  Kulturen  ist  eigentümlich  fÖtid- säuerlich,  manch- 
mal an  faulenden  Kohl  erinnernd. 

In  Zuckerbouillon  ist  das  Wachstum  weniger  intensiv ;  noch  schwächer 
in  gewöhnlicher  Nährbouillon,  wo  der  Bodensatz  nicht  viel  mehr  als  die 
Kuppe  des  Röhrchens  füllt.  Gasblasen  entwickeln*  sich  hier  gewöhnlich 
keine.     Der  Geruch  ist  weniger  intensiv. 

Ascitesagarplatte.  Es  ist  mir  nicht  gelungen,  das  Bakterium 
in  PsTRischen  Schalen  zu  züchten,  weder  bei  Luftabschluß  unter  Paraffin 
noch  auch  mit  den  sauerstofEverdrängenden,  gasförmigen  Mitteln^).  Die 
Züchtung  gelingt  aber  leicht  zwischen  2  großen,  parallel  aufeinander  ge- 
legten Uhrschalen  (nach  Trbnkmann  [13]'). 

Bereits  nach  24  Stunden  sind  die  Kolonien  sichtbar  (makroskopisch) 
als  feine,  graugelbe  Pünktchen ;  bei  60-facher  Vergrößerung  sind  sie  meist 
fast  ganz  rund,  gleichmäßig  granuliert,  hie  und  da  auch  schwach  gelappt. 

Am  2.  Tage  ist  die  Kolonie  etwas  größer,  undurchsichtig,  meist  drei- 

1)  Evakuation  einer  mit  alkalischer  Pjrogallollösung  versehenen  Glas- 
glocke durch  die  Wasserstrahlluftpumpe  und  Einleiten  von  Wasserstofigas. 
Dies  in  4 — 5-maligem  Wechsel.  —  Tetanuskulturen  gingen  unter  derselben 
Glasglocke  in  PsTRischalen  gut  an;  ebenso  wurde  Methylen blaugelatine  voll- 
kommen entfärbt. 

2)  Diese  werden  im  Trockenschrank  frisch  sterilisiert,  damit  die  dem 
Glase  anhaftende  Luft  verdrängt  wird.  Der  gut  ausgekochte  Agar  wird 
nach  dem  Abkühlen  auf  oa.  50  ^  mit  der  Ascitesflüssigkeit  gemischt,  wobei 
die  Temperatur  auf  ca.  40^  sinkt,  und  geimpft.  Darauf  Herstellung  der 
verschiedenen  Verdünnungen,  die  im  Wasserbade  von  ca.  40^  gehalten 
werden.  Der  Agar  wird  nun  in  die  untere  Uhrschale  gegossen  und  sofort 
mit  der  oberen  zugedeckt,  wobei  eventuelle  Luftblasen  der  unteren  Fläche 
der  oberen  Schale  entlang  an  den  Band  steigen.  Nachher  werden  die 
Schalen  zur  schnellen  Erstarrung  auf  Eis  gelegt  und  kommen  dann  in 
einer  Doppelschale  in  die  Brütkammer.  Nach  einigen  Tagen  stellen  sich 
allerdings  am  Rande  der  Uhrschalen  Kolonien  von  Keimen  ein,  die  durch 
den  Luftstaub  oder  beim  Anfassen  der  Schalen  dort  deponiert  werden. 
Sie  wachsen  aber  höchstens  einige  Millimeter  in  den  Agar  hinein,  erreichen 
die  Zone  der  anaeroben  Kulturen  nie.  Die  Stäbchen  entwickeln  ihre 
Kolonien  nur  im  Innern  der  Schale,  etwa  IY2 — 2  cm  vom  Bande  des 
Agars  entfernt  und  können  so  sehr  gut  wie  in  einer  PsTRi-Schale  unter 
dem  Mikroskop  betrachtet  werden. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  21 3 

eckig  oder  sternförmig.  Diejenigen  Kolonien,  die  das  Olas  berühren,  werden 
an  der  Peripherie  durchsichtig  und  rund.  Auch  nach  10  Tagen  wachsen 
sie  nicht  über  Mohnkorngröße. 

Bei  60-facher  Vergrößerung  erscheinen  die  tiefliegenden  Kolonien  bern- 
steingelb ;  der  Rand  ist  scharf  abgesetzt,  glatt,  leicht  gekerbt,  stellenweise 
auch  schwach  gezähnt.  Die  Mitte  der  Kolonie  ist  dunkelbraun,  zeigt  ver- 
wischt grobkörnige  Zeichnung,  gegen  die  Peripherie  zu  wird  diese  deutlich 
grobkörnig,  oft  morulaartig. 

In  den  Kolonien,  die  zwischen  Agar  und  Glaswand  sich  ausbreiten, 
zeigt  der  Kern  die  gleiche  BeschafiPenheit  wie  in  den  tiefliegenden;  meist 
ist  er  dreieckig;  darauf  folgt  eine  Zone,  die  sich  durch  ihre  hellgelbe 
durchsichtige  Färbung  scharf  vom  Kern  abhebt.  Sie  ist  grob  granuliert. 
Die  Größe  der  Körner  nimmt  gegen  den  Band  zu  allmählich  ab,  so  daß 
die  äußerste  Zone  nur  mehr  punktiert  erscheint.  Die  Bandzone  ist  manch- 
mal auch  sektorenfbrmig  dunkler  gefärbt  (Tafel). 

Am  2. — 3.  Tage  erscheint  um  jede  Kolonie  ein  1 — 2  mm  breiter, 
durchscheinender,  schwach  glänzender  Kof,  der  nach  außen  sich  allmählich 
in  die  Umgebung  verliert.  Bei  60-facher  Vergrößerung  sieht  man  im 
durchfallenden  Licht  und  bei  enger  Blende,  daß  derselbe  aus  dunklen 
Punkten  und  Körnchen  besteht.  Später  konfluieren  die  Höfe  der  einzelnen 
Kolonien,    wenn    diese  nahe  genug   beieinander  liegen  (s.  auch  Agarstich). 

Weder  in  gewöhnlichen  Agar-  noch  in  Zuckeragarplatten,  die  auf 
obige  Weise  (mit  Uhrschalen)  hergestellt  werden,  konnten  Kolonien  zur  Ent- 
wickelung  gebracht  werden. 

Ascitesagarstic h.  Das  Wachstum  geht  gut  von  statten,  auch 
ohne  Ueberschichtung,  wenn  der  Agar  vorher  ausgekocht  wird.  Dasselbe 
macht  sich  schon  nach  20  Stunden  als  feiner  Streifen  längs  des  Stich- 
kanals bemerkbar:  er  entwickelt  sich  1 — ly,  cm  unterhalb  der  Oberfläche. 
Am  2.  Tage  wird  der  Streifen  bandförmig  mit  zentralem,  dunklem  Faden, 
der  stellenweise  knotig  verdickt  ist.  Die  Seitenteile  des  Bandes  sind  un- 
regelmäßig gewellt  und  fein  ausgebuchtet,  oft  mit  Knötchen  und  Höckerchen 
besetzt  Die  Breite  des  Bandes  schwankt  zwischen  1 — 2,5  mm.  Manch- 
mal entwickelt  sich  eine  Gasblase  neben  dem  Stichkanal.  Der  Geruch  ist 
derselbe  wie  in  der  Ascitesbouillon. 

Auch  bei  dieser  Kulturform  zeigt  sich,  wie  der  Hof  um  die  Kolonien 
in  den  Schalen,  am  2.  oder  3.  Tage  rings  um  die  ganze  Länge  des  Bandes 
ein  zarter,  grauer  Schleier,  der  für  unser  Bakterium  charakteristisch  ist. 
Er  kann  einen  Durchmesser  von  fast  1  cm  erreichen.  Gegen  die  Kolonie 
zu  wird  er  immer  dichter,  nach  außen  ist  er  ziemlich  scharf  abgesetzt. 
Er  ist  bei  durchfallendem,  am  schönsten  aber  bei  schräg  auffallendem 
Lichte  sichtbar.  Bei  schwacher  Vergrößerung  besteht  er  aus  kleinen,  stark 
lichtbrechenden  Körnchen.  Die  Abimpfung  aus  demselben  bleibt  steril. 
(Tafel). 

Zur  genaueren  mikroskopischen  Untersuchung  habe  ich  Schnitte  durch 
die  Agarsäule  angefertigt  i). 


1)  Der  Agarcylinder  wird  aus  dem  Beagenzglas  durch  Zerschlagen 
des  letzteren  herausgenommen  und  in  Cylinder  von  2 — 3  mm  Höhe  zer- 
schnitten. Diese  werden  dann  12  Stunden  lang  starken  Formoldämpfen 
ausgesetzt  (in  einer  Elxsiccatorschale),  darauf  kommen  sie  für  24  Stunden 
in  AlcoL  absol.  und  nachher  für  wenige  Stunden  in  Xylol  bis  zur  Auf- 
hellung (alle  diese  Prozeduren  wurden   bei   37 •  vorgenommen);   dann   für 


214  Otto  Wysfl, 

Der  Impfkanal  in  der  Mitte  stellt  sich  makroskopisch  als  unregel- 
mäßiger dunkelblauer  Fleck  von  etwa  Stecknadelkopfgröße  dar,  der  Hof 
hebt  sich  durch  eine  hellere  Nuancierung  vom  übrigen  Agar  ab.  Mikro- 
skopisch sieht  man,  daß  das  Wachstum  der  Bakterien  nur  auf  die  nächste 
Umgebung  des  Stichkanals,  soweit  man  also  mit  bloßem  Augen  das  Band 
sieht,  sich  beschränkt.  Der  Hof  ist  vollkommen  frei  von  Mikroorganismen. 
Die  Kolonie  wächst  in  Form  von  breiten  Ausläufern  vom  Zentrum  aus, 
ähnlich  wie  die  Pseudopodien  einer  Amöbe.  Manchmal  treiben  diese  noch 
kleine  seitliche  Sprossen.  Vorstöße  von  Ketten  oder  schmalen  Zügen  von 
Bakterien  sieht  man  nicht.  Demgemäß  sind  auch  die  periphersten  Rand- 
zonen tief  dunkelblau  geiUrbt,  zeigen  also  das  stärkste  Wachstum  der 
Bakterien.  Diese  sitzen  in  Foi-m  von  Kuppen  den  Pseudopodien  und  Aus- 
läufern auf,  währenddem  die  Buchten  und  Einkerbungen  dazwischen  sich 
durch  ihre  Färbung  kaum  oder  nur  durch  einen  ganz  schmalen  Saum 
vom  Zentrum  abheben ;  sie  sind  wie  dieses  schwachblau  gefärbt  (Tafel). 

Der  Hof  bietet  mikroskopisch  nichts  Charakteristisches.  Er  wird  allem 
Anscheine  nach  hervorgerufen  durch  StofFwechselprodukte  der  Bakterien, 
welche  in  den  umgebenden  Agar  diffundieren  und  denselben  unter  anderem 
so  verändern,  daß  er  ein  anderes  Lichtbrechungsvermögen  erhält  oder 
durch  Niederschläge  trüb  erscheint. 

In  Zuckeragar  ist  das  Wachstum  bedeutend  geringer,  erst  nach  6 
Tagen  bemerkbar  und  es  erfolgt  auch  nicht  gleichmäßig  längs  des  Impf- 
stichs, meist  in  Form  von  vereinzelten  Punkten,  die  aber  nicht  über  Mohn- 
korngröße hinausgehen.  Gasbildung  findet  hier  nicht  statt.  In  gewöhn- 
lichem Agar  zeigt  sich  kein  Wachstum. 

Agarstrich.  Ebensowenig  wie  in  einer  PETRischen  Schale,  ent- 
wickelten sich  die  Bakterien  auf  der  Oberfläche  des  Striches,  während 
z.  B.  Tetanusbacillen,  auf  die  gleiche  Weise  behandelt,  im  Strich  kräftig 
wuchsen  (nach  der  Methode  von  Heim). 

Gelatinekulturen.  In  Gelatine  findet  bei  22 ®,  also  solange  die- 
selbe fest  ist,  kein  Wachstum  statt,  auch  nicht  in  Ascitesgelatine.  Da- 
gegen gedeiht  das  Bakterium  gut  in  Ascitesgelatine  bei  37^,  wenn  dieser 
der  Sauerstoff  entzogen  wird  (Durchleiten  von  Wasserstoff).  Nach  24 
Stunden  zeigt  sich  zuerst  eine  wolkige  Trübung,  die  zuerst  längs  der  ein- 
geschmolzenen Kapillare  beginnt;  die  Wolken,  an  denen  Gasblasen  haften, 
steigen  langsam  in  die  Höhe,  senken  sich  aber  nach  3 — 4  Tagen  wieder 
und  bilden  am  Boden  einen  Niederschlag  wie  in  der  Ascitesbouillon,  wenn 
auch  nicht  so  intensiv.  Die  Gelatine  bleibt  klar.  Der  Geruch  ist  gleich 
beschaffen  wie  dort.  In  gewöhnlicher  Gelatine  und  Zuckergelatine  zeigt 
sich  keine  Entwickelung. 

In  der  Milch  findet  keine  Vermehrung  statt ;  sie  wird  auch  nicht 
verändert. 

Die  Lackmusmolke  (nach  Pbtbuschky)  bleibt  ebenfalls  steril,  sei 
sie  neutral  oder  schwach  sauer  oder  schwach  alkalisch. 

Kulturversuche  mit  Kartoffeln  wurden  so  angestellt,  daß  ein  schräg 

ein  paar  Stunden  in  Paraffinxylol  resp.  Paraffin  (bei  54^).  So  können 
sie  gut  in  Klötze  eingegossen  und  geschnitten  werden,  ohne  daß  sich  etwa 
der  Agar  vom  Paraffin  loslöst.  Die  Färbung  findet  mit  LöFFLERschem 
Methylenblau  statt  (einige  Stunden  bei  37^).  Mit  schwach  essigsaurem 
Wasser  kann  dem  Agar  die  Farbe  fast  vollständig  entzogen  werden,  ohne 
daß  dabei  die  Bakterien  sich  entfärben. 


üeber  einen  neuen  anaSroben  pathogenen  Bacillus.  216 

halbierter  KartofTelcylJnder  in  einem  Hegenzglas  sterilisiert  wurde  und 
nach  der  Impfung  die  gleiche  Behandlung  erfuhr,  wie  die  Agarstrichkul- 
turen.  Auch  hier  zeigte  sich  kein  Wachstum,  ebensowenig  in  Kartoifel- 
Wasser. 

Reine  Ascites flüssigkeit  ist  weder  im  flüssigen  (inaktivierten) 
noch  im  erstarrten  Zustande  ein  Nährboden  für  dieses  Bakterium. 

Ebensowenig  kann  ein  Wachstum  in  eiweiß freiem  Nährboden 
(nach  C.  Fränkel  und  Vogbs)  und  in  1-proz.  Peptonwasser  (leicht 
alkalisch  und  mit  Y^  ^^oz,  Kochsalz)  beobachtet  werden. 

Chemische  Aeußerungen. 

In  eiweißreichen  Nährböden  zeigt  sich  Gasentwickelung;  dieselbe 
ist  aber  nie  bedeutend.  In  der  Ascitesbouillon  bildet  sich  ein  feiner 
Schaum  am  Rande  des  Flüssigkeitsmeniskus.  In  einer  Ascitesagarplatte 
mit  ca.  100  Kolonien  entwickeln  sich  etwa  16  kleine  Gasblasen,  in  einer 
Ascitesagarstichknltur  1 — 2  spaltibrmige  Luftblasen  neben  dem  Stich;  in 
einer  Ascitesagarschüttelkultur  treten  auch  nur  vereinzelte  Blasen  auf.  In 
mit  Traubenzucker  versetzten  Nährböden  (ca.  1  Proz.)  ist  die  Gasent- 
wickelung, wenn  sie  überhaupt  stattfindet,  sehr  gering. 

Der  Geruch  ist  eigentümlich  födit-säuerlich,  fast  ähnlich  demjenigen 
von  faulendem  Kohl. 

Das  Gas  enthält  Schwefelwasserstoff.  Zu  dessen  Nachweis 
werden  Filtrierpapierstreifen,  die  mit  einer  Plumb.  acet-Lösung  getränkt 
und  sterilisiert  sind,  in  den  oberen  freien  Raum  eines  geimpften  Ascites- 
bouillonröhrchens  gebracht,  so  daß  der  Streifen  durch  Kapillarattraktion 
an  der  Glaswand  festhaftet.  Darauf  wird  das  Röhrchen  oberhalb  des 
Streifens  ausgezogen,  Wasserstoff  durchgeleitet  und  abgeschmolzen.  Nach 
24  Stunden  beginnt  sich  der  untere  Rand  des  Papierstreifens  zu  bräunen. 
Die  H|S-Entwickelung  war  nie  stark ;  es  färbte  sich  immer  nur  der  unterste 
Teil  des  Streifens. 

Indolbildung.  Schon  am  2.  Tage  läßt  sich  in  einer  Ascitesbouillon- 
kultur  Indol  nachweisen  (mit  Schwefelsäure  und  Natriumnitrit).  Eine 
S-tägige  Kultur  zeigt  die  Reaktion  sehr  schön;  vom  3.  Tage  an  wird  sie 
aber  nicht  mehr  stärker.  Manchmal  tritt  schon  auf  Zusatz  der  Schwefel- 
säure und  Erwärmen  schwache  Rotfkrbung  auf  (Nitrosoindolreaktion). 

Auch  geringe  Säurebildung  findet  statt.  Die  Alkaleszenz  einer 
Ascitesbouillonkultur  nimmt  bis  zum  3. — 4.  Tage  ab,  verschwindet  aber 
nie  ganz.  Die  Milchsäurereaktion  ist  schwach  positiv  (UrFELMANi^sches 
Reagens  oder  Eisenchloridlösung).  Beim  Kochen  tritt  schwacher  Geruch 
nach  Buttersäure  auf,  ein  über  die  Oeffnung  des  Reagenzrohres  gehaltener, 
angefeuchteter  Lackmuspapierstreifen  rötet  sich  aber  nicht. 

c)  Tierversuche. 

Zunächst  wurden  am  12.  Okt  1901  vom  Eiter  aus  dem  rechten 
Schnltergelenk  des  Pat.  0,3  ccm  einem  Kaninchen  (No.  4,  ca.  1200  g)  sub- 
kutan in  den  rechten  Oberschenkel  injiziert;  der  Eiter  war  vom  11.  Okt. 
1901  bis  12.  Oktober  1901  im  Eisschrank  aufbewahrt  worden.  In  den 
folgenden  Tagen  zeigte  das  Tier  etwas  verminderte  Freßlust  und  es  bildete 
sich  eine  Infiltration  an  der  Injektionsstelle;  im  Verlauf  der  2.  Woche 
entwickelte  sich  hier  ein  geschlossener  subkutaner  Absceß,  der  mäßig  druck- 
empfindlich war.  Am  Ende  der  2.  Woche  wurde  die  Haut  am  Rande  des 
Abscesses  nekrotisch,  so  daß  der  Eiter  hier  durchbrach.     Er  war  ziemlich 


216  Otto  Wysfl, 

dick,  hellgelb,  hatte  denselben  Geruch  wie  der  injizierte  Eiter.  Die  mikro- 
skopische Untersuchung  desselben  ergab  nebst  zahlreichen,  meist  gut  er- 
haltenen polynukleären  Eiterzellen  mäßig  viele  Stäbchen  von  der  morpho- 
logischen und  tinktoriellen  Beschaffenheit  wie  im  Schultergelenkseiter; 
kulturell  erwies  es  sich  als  eine  Reinkultur  des  nämlichen  Stäbchens,  das 
aus  dem  Schultergelenk  und  der  Tibiamarkhöhle  des  Fat.  gezüchtet  wurde. 

Die  Absceßhöhle  entleerte  immer  viel  Eiter  von  der  gleichen  Be- 
schaffenheit; auch  4  Wochen  nach  dem  Durchbruch  war  das  Stäbchen 
noch  in  Beinkultur  vorhanden.  Die  Absceßhöhle  wurde  allmählich  kleiner 
und  am  20.  Nov.  1901  war  dieselbe  ganz  geschlossen. 

Später  stellten  sich  bei  dem  Tiere  mangelnde  Ereßlust  und  Apathie 
ein.  Es  magerte  rasch  ab.  Die  hinteren  Extremitäten  werden  nachge- 
schleppt und  allmählich  ganz  gelähmt,  schließlich  kam  noch  eine  Blasen- 
und  Mastdarmlähmung  hinzu  und  am  26. — 27.  Dez.  1901  ging  das  Tier 
zu  Orunde.  Bei  der  Sektion  fand  sich  die  Gegend  unterhalb  der  Leber,/ 
die  selbst  sehr  klein  war,  von  einem  kleinfaustgroßen,  kugeligen,  glatten 
Tumor  von  graugelber  Farbe  eingenommen,  zu  dessen  üeberzug  fast  das 
ganze  große  Netz  verwendet  wurde.  Derselbe  ging  vom  hinteren  rechten 
Leberlappen  aus;  ein  Streifen  Leberläppchen  ließ  sich  bis  über  die  halbe 
Zirkumferenz  der  Hinterfiäche  des  Tumors  verfolgen.  Die  Konsistenz  war 
derb  elastisch.  Die  Geschwulst  war  gefüllt  von  einer  dickbreiigen,  schlei- 
migen, graugelben,  nach  altem  Kohl  riechenden  Masse;  die  Wand  der 
Cyste  war  derb-fibrös ;  2 — 3  mm  dick.  Der  linke  Leberlappen  war  normal ; 
die  übrige  Leber  sehr  klein,  derb,  dunkelbraunrot.  Die  übrigen  Organe 
ohne  besonderen  Befund.  Der  Wirbelkanal  und  das  Bückenmark  zeigten 
makroskopisch  keine  Veränderungen. 

Mikroskopisch  fanden  sich  im  Cysteninhalt  neben  eigentlichem  Detritus 
in  Zerfall  begriffene  Leukocyten  und  sehr  wenige  Stäbchen  von  gleichem 
Aussehen  wie  die  Bakterien  aus  dem  subkutanen  Absceß.  Die  Kulturen 
blieben  steril.  Trotzdem  sprechen  der  mikroskopische  Befund  und  der 
spezifische  Geruch  für  die  Identität  dieses  Mikroorganismus  mit  dem  ein- 
geimpften. 

Vom  gleichen  Eiter  erhielt  am  12.  Okt.  1901  ein  Meerschweinchen 
(No.  5)  3  Platinösen  subkutan  ebenfalls  in  die  rechte  hintere  Extremität. 
Eine  Störung  des  Allgemeinbefindens  trat  nicht  ein;  dagegen  bildete  sich 
an  der  Injektionsstelle  auch  ein  Absceß,  der  nach  Nekrotisierung  der  Haut 
nach  12  Tagen  durchbrach  und  der  morphologisch  und  kulturell  die 
gleichen  Stäbchen  enthielt  wie  der  injizierte  Eiter.  Die  Absceßhöhle 
granulierte  langsam  zu  und  war  am  4.  Nov.  1901  geheilt 

Am  gleichen  Tage  injizierte  ich  noch  einer  schwarzweiß  gefleckten 
Batte  1  Oese  voll  von  demselben  Eiter;  nach  wenigen  Tagen  war  die 
Infiltration  an  der  Injektionsstelle  verschwunden.  Das  Allgemeinbefinden 
war  nie  gestört  gewesen. 

Uebrigens  blieben  auch  gegen  Kulturen  unseres  Stäbchens,  die  direkt 
aus  dem  Schultergelenkeiter  des  Patienten  hergestellt  waren,  die  Ratten 
unempfindlich,  gleichviel  ob  die  Bakterien  subkutan  oder  intraperitoneal 
einverleibt  wurden. 

Ebenso  resistent  zeigten  sich  Mäuse. 

Bei  einem  weiteren  Versuche  wurden  Reinkulturen  unseres  Mikro- 
organismus direkt  in  die  Knochenmarkshöhle  gebracht.  12.  Nov. 
1901.  Kaninchen  No.  10  (1200  g).  Zur  Verwendung  gelangte  die 
erste  Ascitesbouillonkultur  aus  dem  Absceßeiter  von  Kaninchen  No.  4. 
In  Chloroformnarkose  wurde  die  Innenfläche  der  rechten  Tibia  geschoren 


Üeber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  217 

and  desinfiziert;  die  Instrumente  sterilisiert.  Incision  über  der  Tibia. 
Ablösen  des  Periosts  in  geringem  Umfange.  Eröffnung  der  Knochenhöhle 
mittels  Hohlmeißel.  Durch  das  ganz  kleine  Loch  wurde  1  ccm  der  Kultur 
mit  einer  PRAVAZ-Spritze  injiziert,  wobei  aber  ein  Teil  der  Bouillon  durch 
das  Blut  wieder  herausgeschwemmt  wurde.  Verschluß  des  Loches  mit 
sterilisiertem  Wachs.  Periostnaht.  Hautnaht  (beides  mit  Catgut).  Ichthyol- 
kollodiumverband. 

Da  der  weitere  Verlauf  der  Erkrankung  des  Tieres  sich  ähnlich  ge- 
staltete wie  bei  unserem  Patienten,  möge  hier  das  Protokoll  in  extenso 
mitgeteilt  werden. 

13.  Nov.  1901.  Das  Tier  springt  ordentlich  herum,  ohne  das  rechte 
Bein  zu  schonen,  frißt  gut. 

15.  Nov.  1901.  Mäßige  Schwellung  von  teigiger  Konsistenz  an  der 
Innenfläche  der  Tibia.  Sie  scheint  druckempfindlich  zu  sein ;  lokale  Tem- 
peratur erhöht. 

16.  Nov.  1901.  Die  Schwellung  ist  umfangreicher  geworden.  Das 
Tier  bleibt  am  gleichen  Orte  liegen,  wo  man  es  hinsetzt,  frißt  ordentlich. 

17.  Nov.  1901.  Das  rechte  Vorderbein  wird  nicht  mehr  auf  den 
Boden  aufgesetzt,  im  Karpalgelenk  flektiert  gehalten;  geringe  Schwellung 
der  Karpalgelenksgegend  gegenüber  links. 

18.  Nov.  1901.  Frißt  nichts  mehr,  ist  ganz  apathisch,  richtet  sich 
nur  langsam  wieder  auf,  wenn  man  es  in  eine  unbequeme  Stellung  bringt. 
Die  Schwellung  an  der  rechten  Tibia  erstreckt  sich  über  die  ganze  Innen- 
fläche; diejenige  des  rechten  Garpalgelenkes  ist  auch  stärker  geworden. 
Ebenso  ist  das  linke  Schultergelenk  verdickt  und  anscheinend  druck- 
empfindlich.    Mäßige  Diarrhöe. 

Da  das  Tier  wahrscheinlich  die  Nacht  nicht  überstehen  wird  und, 
um  postmortale  oder  agonale  Verunreinigungen  auszuschließen,  wird  es 
abends  7  Uhr  durch  Nackenschlag  getötet  und  sofort  die  Sektion  ge- 
macht (unter  den  gewohnten  aseptischen  Kautelen): 

Aus  der  Schnittwunde  an  der  Innenfläche  der  Tibia  fließt  auf  Druck 
etwas  dünnflüssiger,  hellgelber  Eiter  heraus.  Nach  Eröffnung  der  Wunde 
zeigt  sich,  daß  die  medial  gelegene  Muskulatur  ganz  durchsetzt  ist  von 
dickem  rahmigen  Eiter.  Die  Phlegmone  ist  gegen  die  umgebende,  an- 
scheinend normale  Muskulatur  scharf  abgesetzt.  Gasblasen  sind  nirgends 
bemerkbar.  Der  Eiter  hat  auch  wieder  den  charakteristischen  fötid- 
säuerlichen  Geruch.  Der  Knochen  ist,  soweit  das  Periost  bei  der  Operation 
gelöst  wurde,  nekrotisch;  das  Loch  in  demselben  ist  mit  Eiter  bedeckt. 
Nach  der  Abimpfung  wird  das  Glied  im  Kniegelenk  exartikuliert  und  die 
Tibia  der  Länge  nach  aufgesägt.  Fast  die  ganze  Markhöble  ist  eiterig 
imbibiert.  Gegen  die  Epiphysen  zu  sieht  man  mehrere  kleine  Abscesse, 
die  makroskopisch  mit  der  großen  Eiterhöhle  nicht  in  Verbindung  stehen. 
Die  Epiphysen  selbst  sind  frei. 

Eechtes  Karpalgelenk :  Auf  der  Dorsalfläche  erstreckt  sich  der  Ab- 
sceß,  der  hier  die  Gelenkkapsel  durchbrochen  hat,  noch  etwas  zentral wärts 
unter  der  Fascie  weiter.  Im  Gelenk  selbst  ist  wenig  dünnflüssiger  Eiter, 
am  meisten  noch  zwischen  Vorderarm  und  Carpus. 

Im  linken  Schultergelenk  findet  sich  eine  graue,  gallertige,  leicht  ge- 
trübte Flüssigkeit  in  größerer  Quantität  als  die  normale  Synovia.  Auch 
im  linken  Karpalgelenk  erscheint  die  Synovia  etwas  getrübt.  Die  übrigen 
Gelenke  sind  frei. 

Abdomen:  Milz  mäßig  vergrößert,  sonst  ohne  pathologischen  Befund. 
Ebenso   an   den   übrigen  Organen   nichts  Besonderes.     Aus   der   Cava    in- 


218  Otto  Wyss, 

ferior  wird  mit  steriler  Pipette  Blut  entnommen.  Herz  und  Lunge  ohne 
Befund. 

Mikroskopisch  finden  sich  die  bekannten  kleinen  Stäbchen  im  Absceß 
des  rechten  Unterschenkels,  in  der  Markhöhle  der  rechten  Tibia,  in  allen 
Gelenken,  die  ein  pathologisches  Exsudat  enthalten,  und  zwar  hier  um 
so  weniger,  je  geringer  die  pathologische  Veränderung  ist.  Ferner  in 
der  Milz  und  im  Blute.  Im  Weichteilabsceß  treten  noch  vereinzelte  längere 
und  dicke  Stäbchen  auf,  die  sich  ebenfalls  nach  Oram  entfärben. 

Kulturell  erwies  sich  das  Stäbchen  als  unser  Mikroorganismus,  und 
zwar  in  Beinkultur  an  allen  untersuchten  Stellen,  mit  Ausnahme  im  Abs- 
ceß des  Unterschenkels,  wo  der  verunreinigende  Keim  wahrscheinlich 
Bact.  coli  war;  auch  in  der  Markhöhle  fand  sich  nur  der  erstere  vor. 

Direkt  in  die  Blutbahn  gebracht,  wird  der  Keim  bald  unschädlich 
gemacht,  jedenfalls  sieht  man  keine  bedeutenderen  lokalen  oder  allge- 
meinen Wirkungen  auftreten. 

Ich  habe  einem  Kaninchen  von  1420  g  Vs  ^™  einer  Ascitesbouillon- 
kultur  (Aasgangsmaterial  lieferte  Kaninchen  No.  10)  in  die  linke  Ohrvene 
injiziert.  Dabei  war  allerdings  ein  Teil  der  Flüssigkeit  in  die  Subcutis 
gedrungen  und  von  dieser  aus  entwickelte  sich  eine  starke  entzündliche 
Schwellung  des  Ohres,  die  nach  3  Tagen  abscedierte.  Der  Absceßeiter 
enthielt  das  Bakterium  in  Reinkultur.  Das  Allgemeinbefinden  war  nicht 
gestört  (kein  Fieber,  gute  Freßlust).  Gelenkschwellungen  traten  auch  nicht 
auf.  Dagegen  bildeten  sich  am  Ohr  peripher  vom  ersten  Absceß  in  rosen- 
kranzfbrmiger  Anordnung  immer  neue  Abscesse,  die  alle  nach  Gangrän 
der  Haut  durchbrachen.     Nach  ca.  6  Wochen  waren  sie  geheilt. 

Einem  anderen  Kaninchen  von  1200  g  wurde  in  Ghloroformnarkose 
eine  starke  Kontusion  des  rechten  Kniegelenkes  mit  einem  Holzhammer 
und  eine  subkutane  Fraktur  der  linken  Tibia  beigebracht.  Ga.  1  Stunde 
nachher  Injektion  von  Vg  ccm  einer  6-tägigen  Ascitesbouillonkultur  unseres 
Stäbchens  in  die  linke  Ohrvene  (gleiches  Ausgangsmaterial  wie  beim 
vorigen).  An  den  lädierten  Stellen  traten  keine  besonderen  Veränderungen 
auf;  es  bildete  sich  an  der  Frakturstelle  ein  guter  Gallus,  der  den  Bruch 
in  4  Wochen  zur  Heilung  brachte,  ohne  daß  sich  hier  jemals  entzündliche 
Symptome  eingestellt  hätten.  Auch  das  Allgemeinbefinden  war  nicht 
gestört. 

Mit  den  Stofifwechselprodukten  unseres  Stäbchens  allein  konnte  ich 
keine  größeren  Versuche  machen.  Da  die  Ascitesbouillon  nur  sehr 
schwer  die  CHAMBERLAND-Filter  passiert,  erhielt  ich  nur  geringe  Mengen 
von  Toxinen,  die  keinen  nennenswerten  Einfluß  ausübten.  Wahrschein- 
lich ist  der  Tod  des  Meerschweinchens,  dem  3,5  ccm  Blut  des  Patienten 
injiziert  worden  waren,  infolge  Toxinvergiftung  zustande  gekommen. 

Stellung  des  Bact  halosept  im  System  der  Bakterien. 
Ich  habe  dasselbe  mit  keiner  der  bis  jetzt  beschriebenen,  nicht 
sporulierenden  ana^roben  Arten  identifizieren  können.  Am  meisten 
Aehnlichkeit  hat  unser  Keim  mit  einigen  hauptsächlich  von  französischen 
Autoren  in  den  letzten  Jahren  beschriebenen  Arten.  Eine  genaue  Ver- 
gleichung  derselben  mit  der  unserigen  würde  hier  zu  weit  führen.    Ich 


tTeber  einen  neuen  an  aeroben  pathogenen  Bacillus.  219 

beschränke   mich   auf  die  Erwähnung  derselben   und  einiger   anderer 
Arten,  die  dififerentialdiagnostisch  in  Betracht  kommen^): 

1)  Bac.  ramosus  (Veillon  et  Zuber). 

2)  Bac.  serpens  (Veillon  et  Zuber). 

3)  Bac.  perfiingens  (Veillon  et  Zuber). 

4)  Bac.  fragilis  (Veillon  et  Zuber). 

5)  Bac.  fusiformis  (Veillou  et  Zuber). 

6)  Bac.  furcosus  (Veillon  et  Zuber). 

7)  Bac.  funduliformis  (Hall£). 

8)  Bac.  nebulosus  (Hall£). 

9)  Bac.  caducus  (HallS). 

10)  Bac.  anagrobius  minutus  (Tissier). 

11)  Bac.  bifidus  communis  (Tissier). 

12)  Coccobacülus  anaSrobius  perfoetens  (Tissier). 

13)  Bac.  radiiformis  (Rist  et  Guillemot). 

14)  Bac.  thetoides  (Rist  et  Guillemot). 

15)  Art  A. 

16)  Art  G  (nach  Rist  vielleicht  identisch  mit  Bac.  fundulif.  Hall£). 

17)  Bac.  anaßrobius  gracilis  (Lewkowicz). 

18)  Bac.  helminthoides  (Lewkowicz). 

Nach  den  Untersuchungen,  über  die  oben  referiert  wurde,  kann  es 
kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  akut  eiterige  Osteomyelitis 
mit  ihren  weiteren  zum  Tode  führenden  pyämischen  und  septikämischen 
Symptomen  unseres  Falles  durch  den  neu  klassierten  Mikroorganismus, 
das  Bacterium  halosepticum,  hervorgerufen  war.  Wahrscheinlicherweise 
hat  dieser  Keim  schon  bei  der  Verjauchung  des  subkutanen  Hämatoms ') 
eine  Rolle  gespielt  (eine  bakteriologische  Untersuchung  wurde  damals 
unterlassen)  und  der  ganze  Verlauf  spricht  dafür,  daß  die  Infektion 
des  Knochenmarkes  von  der  entblößten  Knochenstelle  aus  durch  die 
transkortikalen  Blutbahnen  erfolgt  ist.  Die  Annahme  einer  Infektion  auf 
hämatogenem  Wege  scheint  unnötig  und  es  fehlt  in  den  Symptomen 
jegliche  Basis  dafür.  Auch  die  Lokalisation  (Diaphyse)  und  das  Alter 
des  Mannes,  der  über  die  Wachstumsjahre  weit  hinaus  war,  sprechen 
dagegen. 

1)  Eine  ausführlichere  Beschreibung  derselben  findet  sich  in  meiner 
Dissertation  (Basel  1904). 

Die  Arbeiten  sind  im  Literaturverzeichnis  angegeben. 

2)  Ob  die  Infektion  dieses  Hämatoms  primär  (es  bestand  eine  äußere 
Wunde)  oder  sekundär  durch  die  Kleider  etc.  stattgefunden  hat,  kann  mit 
Sicherheit  nicht  entschieden  werden.  Immerhin  bat  die  erste  Annahme 
viel  Wahrscheinlichkeit  ftLr  sich,  denn  Fäulniskeime  finden  sich  wohl 
regelmäßig  an  den  im  Wasser  hervorragenden  Teilen  von  eingedachten, 
vielbenutzten  Badeanstalten,  besonders  wenn  diese  unterhalb  der  Einmün- 
dung von  ELloaken  angelegt  sind. 


220  Otto  Wyss, 

Besondere  Aufmerksamkeit  verdient  noch  das  klinische  Bild  und  der 
pathologisch-anatomische  Lokalbefund  bei  unserem  Falle.  Ersteres  unter- 
scheidet sich  scharf  von  demjenigen  bei  Osteomyelitis  staphylomycotica, 
aber  auch  in  bemerklicher  Weise  von  dem  durch  die  anderen  bisher 
als  Osteomyelitiserreger  bekannten  Mikroorganismen  hervorgerufenen 
Krankheitsbild. 

Beherrscht  wird  dasselbe  durch  toxinämische  Erscheinungen :  fahles 
Aussehen,  hohe  Temperaturen  mit  Remissionen,  hohe  Pulsfrequenz, 
Veränderung  des  Blutfarbstoffes  (das  Blut  sah  bei  der  Amputation  miß- 
farben aus,  mit  einem  Stich  ins  Bräunliche).  Dazu  eine  beständige 
Euphorie  bei  gewöhnlich  intaktem  Bewußtsein  und  —  was  außerordent- 
lich auffällig  ist  —  das  absolute  Fehlen  von  subjektiven  Krankheits- 
erscheinungen: Kein  Schmerz  am  befallenen  Knochen,  kaum  eine  be- 
merkenswerte Druckempfindlichkeit,  eine  Empfindlichkeit  bei  Erschütte- 
rungen. 

Diesem  Mangel  an  lokalen  subjektiven  Krankheitssymptomen  ent- 
spricht auch  das  Fehlen  der  objektiven.  Die  Reaktion  in  der  Umgebung 
der  eiterigen  Knochenmarksherde  fehlt  fast  vollkommen.  Weder  Rötung 
der  Haut  noch  Schwellung  und  Infiltration  der  Weichteile.  Eine  geringe 
Verdickung  des  Periosts  und  der  Umstand,  daß  es  leichter  als  normal 
vom  Knochen  abzulösen  war,  das  waren  die  einzigen  Veränderungen  in 
der  Umgebung. 

Auch  bei  der  Metastase  im  Schultergelenk  blieb  die  auf  solche 
eiterige  Gelenksaffektionen  regelmäßig  auftretende  Reaktion  der  um- 
gebenden Weichteile  aus.  Keine  Hautrötung,  keine  Infiltration  der 
Weichteile  und  eine  kaum  bemerkbare  Schwellung,  die  schon  physi- 
kalisch durch  die  Füllung  der  Gelenkhöhle  mit  Eiter  erklärt  wird. 

Auch  der  pathologisch-anatomische  Lokalbefund  ist  ein  nicht  ge- 
wöhnlicher: Keine  progrediente,  schon  makroskopisch  zu  verfolgende 
Markphlegmone.  Nur  kleine,  bis  höchstens  linsengroße,  scharf  von- 
einander gesonderte  Eiterherdchen.  Beim  Tierversuch  (Kaninchen  No.  10) 
war  allerdings  der  größere  Teil  des  Knochenmarkes  von  einer  zu- 
sammenfließenden eiterigen  Masse  eingenommen;  aber  durch  die  Auf- 
meißelung  der  Tibia  und  durch  die  Injektion  von  solch  großen  Kultur- 
mengen direkt  in  die  Markhöhle  war  eine  starke  Schädigung  des  Markes 
und  eine  Ueberschwemmung  desselben  mit  Keimen  verursacht  worden, 
so  daß  diese  Ausdehnung  des  Abscesses  nichts  Verwunderliches  hat. 
Wichtig  ist,  daß  über  der  Grenze  dieser  ausgedehnten  Markphlegmone 
hinaus  auch  hier  isolierte  Absceßchen  erschienen  waren. 

Das  Krankheitsbild  entsprach  also  der  Septikämie,  dem  fast  aus- 
schließlichen Vorwiegen  der  putriden  Intoxikation,  dem  auch  die  eiterigen 
Metastasen,  die  ganz  in  den  Hintergrund  traten,  nichts  vom  Typischen 
nahmen.  Die  Autopsie  hat  nach  dem  Befund  der  vielen  kleinen  Blut- 
austritte unter  das  Endo-  und  Epikard,    unter  die  Schleimhaut    des 


MUtaä. Grenzgebieten  d. Medizin  u.Chirurgie  Bd.M. 


Taf.  IV. 


*f  -(■'''■; 


Hm 

C 

Ycriv. Gustav  Fischer,  Jena 


O^S 


""*^3^ 


Weps  gez. 


Lilh.AnstY.J.AnidlJena. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  221 

Nierenbeckens,  unter  die  Nierenkapsel  etc.  der  klinischen  Auffassung 
nachträglich  noch  eine  Stütze  gebracht. 

Den  Beweis,  daß  diese  von  einer  Osteomyelitis  ausgehende  Septi- 
kämie  durch  den  von  uns  zum  erstenmal  isolierten  Mikroorganismen 
das  Bact.  halosepticum,  hervorgerufen  war,  glauben  wir  oben  erbracht 
zu  haben. 


Literatur. 

1)  Lücke,  Die  primäre  infektiöse  Osteomyelitis.     Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir., 

Bd.  4,  1874,  p.  218. 

Rosenbach.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Osteomyelitis.     Dtsch.  Zeitschr. 

f.  Chir.,  Bd.  10,  1878,  p.  869. 
3)  —  Mikroorganismen  bei  den  Wundinfektionskrankheiten  des  Menschen. 

Wiesbaden  1884. 

Kbausb,    Ueber    einen    bei   der   akuten   infektiösen    Osteomyelitis   des 

Menschen  vorkommenden  Mikroorganismus.     Fortschr.   d.  Med.,    1884. 

Oarrä,    Zur    Aetiologie    akut    eiteriger    Entzündungen.      Fortschr.    d. 

Med.,  1885. 

Kbasks,   Zur  Aetiologie   und  Pathogenese   der   akut   eiterigen  Osteo- 
myelitis.    Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  34,  1886. 

KoGHBR,  Die    akute  Osteomyelitis   mit   besonderer  Rücksicht  auf  ihre 

Ursache.     Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  11,  1879. 

8)  Jordan,  Die  akute  Osteomyelitis.     Bruns'  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  Bd.  10,  3. 

9)  Müller,  Curt,  Ueber  akute  Osteomyelitis.     Münch.  med.  Wochenschr., 
1893. 

10)  Klbhh,  Ueber  Streptomykose  der  Knochen.  Volkmanns  Samml.  klin. 
Vortr.,  N.  F.,  No.  234. 

11)  —  Einige  Bemerkungen  über  die  Spezifität  der  Bakterien.  Münch. 
med.  Wochenschr,,  1901,  No.  44. 

12)  Jordan,  Ueber  die  Aetiologie  des  Erysipels  und  sein  Verhältnis  zu 
den  pyogenen  Infektionen.     Münch.  med.  Wochenschr.,    1901,   No.  35. 

13)  Trbnkmann,  Das  Wachstum  der  anaSroben  Bakterien.  Centralbl.  f. 
Bakt,  Bd.  23,  p.  1038. 

14)  Vhillon  et  Zuber  in  den  Compt.  rend.  de  la  soc.  de  biol.,  mars  1897, 
p.  263. 

15)  —  Recherches  sur  quelques  microbes  strictement  ana^robies  et  leur  röle 
en  Pathologie.     Arch.  de  m6d.  exp.,  T.  10,  1898,  p.  517. 

16)  Hallä,  J.,  Recherches  sur  la  bact^r.  du  canal  gen.  de  la  femme. 
Thöse.     Paris,  1898,  et  Ann.  de  gyn^c.  et  d'obst.,  T.  51,  1899. 

17)  TissiER,  H.,  Rech,  sur  la  flore  intest,  des  nourrissons.  These.   Paris,  1900. 

18)  GüiLLEMOT,  Rech,  sur  la  gangr.  pulmon.    Th^se.    Paris,  1899. 

19)  CoTTBT,  Rech,  bactör.  sur  les  suppurat.  p^riur6thr.    These.   Paris,  1899. 

20)  Rist,  E.,  Etudes  bact.  sur  les  infect.  d*orig.  otique.   Th^se.   Paris,  1898. 

21)  —  Neue  Methoden  und  neue  Ergebnisse  im  Gebiete  der  bakterio- 
logischen Untersuchung  gangränöser  und  foetider  Eiterungen.  Gentral- 
blatt  f.  Bakt.,  Bd.  30,  No.  7. 

22)  Lewkowicz,  Rech,  sur  la  flore  microbienne  de  la  bouche  des  nourrissons. 
Arch.  de  mW.,  exp.  13,  1901,  No.  5. 


222  Otto  Wyss, 

23)  Stancülbanu  et  Baup,  Bact.  des  empy&mes  des  sinus  de  la  face. 
Arch.  intemat.  de  laryngol.,  1900. 

24)  Fräkkbl,  £.,  Ueber  Gasphlegmone.  Centralbl.  f.  Bakt,  Bd.  13,  1,  u. 
Bd.  14,  p.  622. 

25)  —  üeber  G-asphlegmone.     Hamburg  u.  Leipzig,  (Leop.  Voß)  1893. 

26)  —  üeber  den  Erreger  der  Gasphlegmone.  Münch.  med.  Wochenschr., 
1899,  No.  4 

27)  —  Ueber  Gasphlegmone,  Schaumorgane  und  deren  Erreger.  Zeitschr.  f. 
Hyg.,  Bd.  40,  1902,  Heft  1. 

28)  Welch  and  Nuttal  in  the  Johns  Hopk.  Bull.,  1892,  ref.  Centralbl.  f. 
Bakt,  Bd.  24,  p.  794  (Dünham,  E.),  Hyg.  Rdsoh.,  Bd.  2,  p.  927,  und 
Bd.  7,  p.  947. 

29)  Wood,  F.  C,  Puerp.  infect  with  the  bac.  aerog.  caps.  New  York  med. 
Rec,  Vol.  40,  1899,  ref.  Centralbl.  f.  Bakt.,  Bd.  28,  p.  612. 

30)  Howard,  W.  T.,  Akute  fibrino-purulente  cerebrospinale  Meningitis  etc. 
Johns  Hopk.  Hosp.  Bull.,  1899,  ref.  Centralbl.  f.  Bakt.,  Bd.  28,  p.  612. 

31)  Ernst,  F.,  Ueber  einen  gasbildenden  Anaeroben  im  menschlichen 
Körper  und  seine  Beziehung  zur  Schaumleber.  Virchows  Arch.,  Bd.  133, 
Heft  2. 

32)  Hitschmann  u.  Lindbntal,  Ueber  die  Gangr.  foudroyante,  Arch.  f. 
klin.  Chir.,  Bd.  59,  1899,  Heft  1. 

33)  G^bbbl,  Ueber  den  Bacillus  der  Schaumorgane.  Centralbl.  f.  allgem. 
Path.  u.  pathoL  Anat.,  Bd.  6,  1895,  Heft  12/13. 

34)  Lbvy,  Ueber  einen  Fall  von  Gasabsceß.  DtscL  Zeitschr.  f.  Chir., 
Bd.  32. 

35)  BüDAY,  Zur  Kenntnis  der  abnormen  postmortalen  Gasbildung.  Central- 
blatt  f.  Bakt,  Bd.  24,  p.  369. 

36)  Stolz,  Die  Gasphlegmone  des  Menschen.  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  Bd.  33, 
Heft  1.     (Ausführl.  Literat) 

37)  NovY,  Ein  neuer  anaerober  Bacillus  des  malignen  Oedems.  Zeitschr. 
f.  Hyg.,  Bd.  17,  2. 

38)  Fuchs,  Ein  anaerober  Eiterungserreger.     Diss.  Greifswald,  1890. 

39)  Sanfelicb,  Untersuchungen  über  anaerobe  Mikroorganismen.  Zeitschr. 
f.  Hyg.,  Bd.  14,  p.  368. 

40)  Lüdbritz,  Zur  Kenntnis  der  anaeroben  Bakterien.  Zeitschr.  f.  Hyg., 
Bd.  6,  p.  148. 

41)  FlOqoe,  C,  Die  Aufgaben  und  Leistungen  der  Milchsteril isierung 
gegenüber  den  Darmkrankheiteu  der  Säuglinge.  Zeitschr.  f.  Hyg., 
Bd.  17,  p.  290. 

42)  Grips,  Zur  Aetiologie  der  Leberabscesse  des  Rindes.  Mitteil.  f.  Tier- 
ärzte, Bd.  3,  ref.  Baumg.  Jahresber.,  Bd.  12,  1896,  p.  525. 

43)  AcHALMB,  Rech,  bact  sur  le  rhumat.  artic.  aigu.  Ann.  de  l'Inst  Fast, 
1897,  p.  845. 

44)  Sawtschbnko,  Der  akute  Gelenkrheumatismus  und  die  Bakterie 
AcHALMBs.  Russ.  Arch.  f.  Fath.  etc.,  Bd.  5,  1898,  ref.  Centralbl.  f. 
Bakt.,  Bd.  24,  p.  798. 

45)  Fic  et  Lbsibur,  Contrib.  k  la  bact^r.  du  rhumat.  artic,  aigu.  Joum. 
de  Fhys.  et  Fath.  gönör.,  T.  1,  6. 

46)  Thiroloix,  Bac.  du  rhumat.  art  aigu.     La  sem.  möd.,  1897,  p.  93. 

47)  Bbttbncourt,  Nota  sobre  a  pre8en9a  do  Bac.  de  Ach.  et  Thirol.  etc. 
Arch.  de  med.,  T.  2,  ref  Centralbl.  f.  Bakt,  Bd.  25,  p.  86. 

48)  SiNQER,  Aetiologie  und  Klinik  des  akuten  Gelenkrheumatismus.  Wien 
und  Leipzig  (Braumüller)  1898,  p.  220. 


Ueber  einen  neuen  anaeroben  pathogenen  Bacillus.  223 

Literatur  zur  Einleitung. 
Lbxer,  Die  Aetiologie  und  die  Mikroorganismen  der  akuten  Osteomyelitis. 

VoLKMANMS  Samml.  klin.  Vortr.,  N.  F.,  No.  173. 
—  Experimente  über  Osteomyelitis.     Arcb.  f.  klin.  Gbir.,  Bd.  53. 
KocHEB   u.   Tatbl,    Vorlesungen   über   chirurgiscbe  Infektionskrankheiten. 

Lehrbücher  der  Bakteriologie,  die  zu  Rate  gezogen  wurden. 

1)  FlOooio,  C,  Die  Mikroorganismen.     3.  Aufl.     1896. 

2)  Hblm,  L.,  Lehrbuch  der  Bakteriologie.     2.  Aufl.     1898. 

3)  Lbhmann  u.  Nbumann,  Atlas  und  Grundriß  der  Bakteriologie  und  bak- 
teriologischen Diagnostik.     2.  Aufl.     1899. 

4)  HüBPPE,  F.,  Die  Methoden  der  Bakterienforschung.     6.  Aufl.     1891. 

5)  Fränkbl,  C,  u.  Pfbifvbr,  Mikrophotographischer  Atlas  der  Bakterien- 
künde.     2.  Aufl.     1896. 


Aus  der  Heilstätte  Holsterhausen  bei  Werden  a.  d.  Ruhr. 
(Chefarzt:  Dr.  F.  Köhler.) 


Nachdruck  yerboten. 


XL 
Em  Fall  von  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes. 


Von 

Dr.  Max  Behr, 

Assistenzarzt. 


Fälle  von  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes  sind  zur  Ergänzung 
der  so  häufigen  Fälle  von  nicht  tuberkulöser  Appendicitis  von  beson- 
derem Interesse.  Der  folgende  Fall  ist  noch  dadurch  bemerkenswert, 
daß  die  Erkrankung  bei  Lebzeiten  symptomlos  verlief  und  darum  gar 
nicht  diagnostiziert  wurde. 

Lukas  K.,  29  J.  alt,  Zigarrenmacher,  wurde  aaf  Veranlassung  der 
Landesversicherungsanstalt  in  Düsseldorf  am  12.  Okt.  in  unsere  Heilstätte 
aufgenommen.  Sein  Vater  ist  an  „Gelbsucht",  seine  Mutter  an  „Schlag- 
anfall" gestorben.  Seine  erste  Frau  erlag  der  Lungenschwindsucht;  2  Kinder 
starben  klein.  Die  zweite  Frau  des  Fat.  soll  gesund  sein.  Er  selbst,  das 
3.  Kind  seiner  Eltern,  will  in  der  Jugend  nie  krank  gewesen  sein.  Sein 
Beruf  bedingt  Aufenthalt  in  staubiger  Luft,  ein  Umstand,  den  der  Kranke 
als  ursächlich  für  sein  jetziges  Leiden  anführt.  Vor  4  Jahren  wurde  er  vom 
„Nervenfieber"  befallen,  von  welchem  er  sich  aber  wieder  gut  erholte. 

Im  Herbste  1902  bekam  Pat.  „nach  einer  Erkältung"  Husten  und 
blutigen  Auswurf,  sowie  Schmerzen  in  der  rechten  Seite.  Er  litt  bisweilen 
an  geringen  Nachtschweißen  und  will  ungefähr  25  Pfund  an  Gewicht  ab- 
genommen haben. 

K.  ist  ein  schwächlicher,  schlecht  genährter  Mensch.  Bei  der  Auf- 
nahme gibt  er  keine  Schmerzen  an;  es  besteht  mäßige  Atemnot,  wenig 
Husten  und  Auswurf.  Appetit  nnd  Schlaf  sind  gut;  Stuhl  regelmäßig, 
Urin  ohne  Eiweiß  und  Zucker.  Es  besteht  kein  Fieber.  Die  am  12.  Okt. 
1903  vorgenommene  Untersuchung  zeigt  eine  Lordose  der  Wirbelsäule. 
Der  untere  Teil  des  Sternum  ist  stark  eingedrückt.  Der  Perkussionsschall 
ist  über  der  r.  Spitze  vorne  gedämpft,  desgleichen  unterhalb  der  r.  Clavicula 
bis  zur  III.  Rippe ;  er  hat  tympani tischen  Beiklang ;  ebenso  r.  Spitze  hinten. 
Auch  die  1.  Spitze  ist  nicht  vollschallend.  Ueber  der  r.  Spitze  vorne 
ist  das  Atemgeräusch  vesikulär,  Ezspirium  verlängert.  Es  sind  geringe 
kleinblasige  Rasselgeräusche  am  Ende  des  Exspiriums  zu  hören;  unterhalb 


Max  Behr,  Ein  Fall  von  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes.       225 

der  Clavicula  Knisterrasseln  bis  zur  unteren  Lungengrenze,  ebenso 
in  der  Azülarlinie.  R.  Spitze  hinten  rauhes  vesikuläres  Atmen^  ohne 
Nebengeräusche,  desgleichen  in  den  unterhalb  gelegenen  Partien.  Die  1. 
Spitze  vorne  zeigt  Vesikuläratmen  mit  kleinblasigen  Rasselgeräuschen 
aiif  der  Höhe  des  Inspiriums.  Unterhalb  bis  zur  Herzdämpfung  sind  die» 
selben  zahlreicher  zu  hören.  Der  gleiche  Befund  in  der  Azillarlinie. 
L.  Spitze  hinten  unreines  vesikuläres  Atmen  mit  spärlichen  trockenen 
Rasselgeräuschen,  in  den  unteren  Partien  das  Gleiche. 

Das  Herz  liegt  innerhalb  normaler  Orenzen,  die  Töne  sind  rein; 
Aktion  beschleunigt. 

Die  Untersuchung  der  Bauchorgane  ergibt  nichts  Be- 
sonderes, kein  Druckschmerz;  keine  Drüsenschwellungen,  keine 
Oedeme.  Die  Untersuchung  des  Sputums  auf  Tuberkelbacillen  hat  ein 
negatives  Ergebnis. 

Bei  der  am  13.  Nov.  1908  vorgenommenen  Untersuchung  ist  der 
Zustand  des  Pat.  unverändert. 

Die  nunmehr  einen  Monat  fortgesetzte  physikalisch-diätetische  Kur 
bekommt  dem  Kranken  gut,  er  gibt  an,  sich  etwas  besser  zu  fohlen. 

Am  28.  Nov.  meldet  die  Stationsschwester,  daß  K.  sich  unwohl  ftlhle 
und  sich  zu  Bett  gelegt  habe.  Er  sagte  nur,  er  habe  etwas  stärkere 
Atemnot  und  wolle  lieber  heute  liegen  bleiben.  Pieber  besteht  nicht, 
ebenso  wenig  Schmerzen.  Am  29.  Nov.  Besserung;  K.  steht  auf,  sucht 
aber  nachmittags  wieder  das  Bett  auf.  Am  30.  Nov.  hat  sich  sein  Zu- 
stand wesentlich  verschlechtert;  die  Dyspnoö  ist  heftiger;  Temperatur 
mittags  380,  abends  6  Uhr  37,8  <>;  8  Uhr  37,6  <>.  Es  bestehen  keine 
Schmerzen;  Haiii  und  Stuhl  zeigten  auch  an  diesem  Tage  keine  Besonder- 
heiten. Der  Pols  ist  beschleunigt  und  klein  und  steigt  bis  10  Uhr  auf 
170  Schläge.  Die  Dyspnoö  wird  immer  heftiger,  das  Herz  stündlich 
schlechter.     Um  12,50  Uhr  Exitus. 

Die  am  folgenden  Tage  vorgenommene  Sektion  forderte  Ueber- 
rasohendes  zu  Tage. 

Magere  Leiche,  sehr  geringes  Fettpolster,  ohne  Oedeme,  ohne  Drüsen- 
schwellungen. Die  Lungen  sind  beiderseits  in  ganzer  Ausdehnung  mit 
der  inneren  Thoraxwand  verwachsen  und  nur  mit  äußerster  MtLhe  zu  lösen. 
Auf  der  Schnittfläche  sieht  man  das  deutlich  verdickte  Rippenfell«  Der 
ganze  r.  Oberlappen  besitzt  eine  derbe,  leberartige  Konsistenz  und  ist 
luftleer.  Auf  der  Schnittfläche  zeigt  er  eine  gleichmäßig  weißgelbe  Farbe, 
ist  „morsch  und  bröckelig*^;  an  mehreren  Stellen  die  beginnende  Bildung 
von  Kavernen;  in  der  r.  Spitze  eine  ausgebildete  von  Walnußgröße  mit 
dicklichem,  schmutzig-gelbem  Inhalte.  Im  mittleren  und  unteren  Lappen 
der  rechten  Lunge  ist  der  Lufbgehalt  sehr  vermindert.  Auf  Druck  ent- 
leeren die  Bronchien  eine  dicke  gelbe  Masse.  Das  Oewebe  ist  reichlich 
besetzt  von  grauweißen,  käsigen  Herden,  zum  Teil  klein  und  scharf  ab- 
gegrenzt, zum  Teil  über  größere  Partien  sich  erstreckend  und  durch  Kon- 
fluenz  kleiner  Herde  entstanden.  Die  Bronchialdrüsen  sind  geschwollen. 
Die  linke  Lunge  bietet  fast  das  gleiche  Bild,  wie  der  untere  und  mittlere 
der  rechten. 

Das  Herz  besitzt  eine  schlaffe  Muskulatur.  Der  linke  Ventrikel  ist 
dilatiert,  seine  Muskulatur  hypertrophisch,  im  übrigen  ohne  Besonderheiten. 
Leber  und  Nieren  sind  von  gewöhnlichem  Aussehen;  Milz  ist  ver- 
größert, zeigt  aber  sonst  nichts  Krank haftes.  Die  Magenschleimhaut  ist 
stellenweise  etwas  gerötet,  das  Duodenum  ohne  Besonderheiten.  Jejunum 
und  Ileum  sind  besetzt  von  zahlreichen  unregelmäßigen  Geschwüren  mit 

Mitteil.  a.  d.  GrenzfeUeten  d.  Medizin  o.  Chinirgle.    XIII.  Bd.  15 


226  Max  Behr, 

aafgeworfenen,  geröteten  Rändern  und  schmutzig-grau  gefärbtem  Grunde^ 
der  bei  einer  Reihe  hellere,  gelbe,  käsige  Massen  erkennen  läßt. 

Der  WurmfortsatB  ist  um  seine  gewöhnliche  Länge  ver- 
größert, ungefähr  16  cm  lang;  er  besitzt  ein  ausgeprägtes,  aber 
ftlr  seine  Länge  zu  kurzes  Mesenteriolum,  wodurch  seine  fast  spiralig  auf- 
gerollte Lage  bedingt  wird.  Er  ist  gefüllt  mit  einer  dickflüssigen,  gelben 
Masse.  Sein  Inneres  zeigt  eine  Reihe  der  oben  beschriebenen  Geschwürs- 
bildungen, von  denen  einzelne  diejenigen  des  übrigen  Darmes  an  Größe 
übertreffen. 

DasCoeoom  ist  an  der  Affektion  nicht  beteiligt  und  frei. 

An  den  sonstigen  Organen  ist  nichts  Krankhaftes  zu  entdecken. 

Zur  Feststellung  der  anatomischen  Diagnose  übersandten  wir 
den  Processus  vermiformis  und  mehrere  Darmstücke  Herrn  Dr.  Marokwald,. 
Prosektor  am  städtischen  Krankenhause  in  Barmen.  Seine  Untersuchung, 
für  welche  ich  ihm  auch  an  dieser  Stelle  herzlichst  danke,  ergab,  daß  die 
Darmgeschwüre  tuberkulöser  Natur  waren. 

Es  liegt  also  ein  Fall  von  ausgebreiteter  Tuberkulose  der 
Lungen  und  des  Darmes  vor,  der  jedoch,  was  die  Erkrankung 
des  Darmes  angeht,  interessant  sein  und  daher  seine  Mitteilung  recht- 
fertigen dürfte.  Sowohl  in  pathologisch-anatomischer  als  auch 
in  klinischer  Hinsicht  bietet  er  Interesse. 

Was  zunächst  die  letztere  angeht,  so  bot  das  klinische  Bild  bei 
Lebzeiten  der  Patienten  absolut  keine  Zeichen,  die  auf  irgendwelche 
Erkrankung  des  Appendix  und  des  Darmes  überhaupt  hinzielten.  Es 
bestand  nie  Durchfall,  nie  Schmerz;  nie  machte  Patient  irgend- 
welche Angaben,  welche  auf  eine  Darmerkrankung  Bezug  hatten.  Er 
hatte  nur  in  den  letzten  Tagen  etwas  Fieber,  welches  sehr  leicht  durch 
die  schwer  erkrankten  Lungen  bedingt  sein  konnte  und  auch  in  Er- 
mangelung irgendwelcher  anderer  Symptome  so  gedeutet  werden  mußte, 
üebereinstimmend  mit  unserer  Beobachtung  möchte  es  auch  Nebel- 
THAU,  wie  er  die  Güte  hatte,  mir  mitzuteilen,  als  charakteristisch  dar- 
stellen, daß  „in  Fällen  schwerster  tuberkulöser  Veränderung  des  Darmea 
weder  Schmerzen  noch  Durchfälle  zu  besteben  brauchen,  daß  ferner 
das  unter  solchen  Umständen  gelegentlich  beobachtete  Empyem  des 
Processus  vermiformis  keinerlei  Beschwerden  machen  muß*'.  In  ähn- 
licher Weise  sagt  Nothnagel:  „Klinisch  nehmen  die  Fälle  von  Ap- 
pendicitis  tuberculosa  insofern  eine  eigenartige  Stellung  ein,  als  sie 
wohl  zuweilen  eine  Perforation  und  diffuse  Peritonitis  erzeugen,  aber 
nur  ganz  ausnahmsweise  das  Bild  einer  auf  die  Fossa  iliaca  dextra  be- 
schränkten  Entzündung.  Gewöhnlich  gehen  die  Züge  der  Perityphlitis 
in  dem  Symptomkomplex  einer  meist  chronisch  verlaufenden  diffusen 
Peritonitis  unter.** 

Es  dürfte  also  immerhin  interessant  sein,  daß  solche  schwere  Ver- 
änderungen des  Dünndarmes,  diese  riesige  Vergrößerung  und  Eiterung 
des  Wurmfortsatzes  absolut  symptomlos  verlaufen  und  nicht  einmal  den 
Verdacht  einer  Erkrankung  aufkommen  lassen. 


Ein  Fall  von  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes.  227 

Was  nun  die  anatomische  Seite  des  Falles  angeht,  so  scheint 
es  recht  selten  zn  sein,  daß  bei  tuberkulöser  Verände- 
rung des  Appendix  das  Goecum  nicht  mitergriffen  wird. 
Riedel  schreibt  mir:  „Ich  sah  noch  nie  isolierte  Appendicitis  tuber- 
cnlosa;  stets  war  das  Goecum  miterkrankt,  wodurch  die  Prognose  sehr 
verschlechtert  wird,  zumal  die  Resektion  des  Goecums  oft  mit  Fistel- 
bildung resp.  Rezidiv  endet/  Ist  auch  im  vorliegenden  Falle  der 
Dünndarm  noch  ergriffen,  so  dürfte  es  doch  merkwürdig  sein,  daß  bei 
solch  ausgebreiteter  Tuberkulose  des  Jejunums  und  Ileums,  ferner  des 
Appendix  das  Goecum  gänzlich  verschont  blieb. 

Im  großen  und  ganzen  ist  die  tuberkulöse  Erkrankung  des  Ap- 
pendix nicht  sehr  häufig.  Fbnwick  und  Dodwell  untersuchten 
2000  Leichen  von  Phthisikern  und  fanden  nur  27mal  tuberkulöse 
Ulcerationen  im  Processus  vermiformis.  Beschäftigt  man  sich  etwas 
eingehender  mit  den  anatomischen  und  physiologischen  Verhältnissen 
des  Appendix,  so  sollte  man  glauben,  daß  gerade  der  Wurmfort- 
satz in  erster  Linie  schädlichen  Einwirkungen  und  auch  der  Tuber- 
kulose erliegen  müsse,  weit  eher  als  der  übrige  Darm.  Es  ist  kaum 
einzusehen,  warum  er  den  Tuberkelbacillen  nicht  öfter  zum  Opfer  fällt 
Nothnagel  sagt  unter  anderem:  „Mit  einem  Worte:  nicht  besondere 
spezifische  Krankheitsursachen  bedingen  die  Scolicoiditis  und  ihre 
Folgen,  sondern  die  dem  Appendix  speziell  angehörigen  anatomisch- 
physiologißchen  Verhältnisse  ermöglichen  es,  daß  Faktoren,  die  in 
anderen  Darmabschnitten  unschädlich  sind,  hier  zu  schweren  Folge- 
zuständen führen.**  N.  hebt  auf  Grund  der  Forschungen  englischer  und 
amerikanischer  Autoren  als  besonders  disponierend  den  großen  Reich- 
tum des  Organs  an  adenoidem  Gewebe  hervor  und  vergleicht  den 
Wurmfortsatz  geradezu  mit  den  Tonsillen.  In  ähnlicher  Weise 
spricht  Sahli  von  einer  „Angina  des  Wurmfortsatzes".  Eine 
wesentliche  Unterstützung  erfährt  diese  Ansicht  durch  die  Beobachtung 
RiB BERTS,  daß  vom  30.  Jahre  ab  die  Follikel  im  Appendix  schwinden : 
in  der  Tat  liegen  die  meisten  Erkrankungen  des  Wurmfortsatzes  in 
der  ersten  Lebenshälfte. 

Nun  wissen  wir,  wie  leicht  sich  in  den  Krypten  der  Tonsillen 
Bakterien  ^häuslich  niederlassen"  können.  Es  ist  daher  höchst  merk- 
würdig, daß  die  Tuberkelbacillen,  die  nach  diesen  Ausführungen  für  den 
Proc.  vermiform.  gewiß  noch  gefährlicher  sein  müßten  als  für  den  übrigen 
Darm,  von  jenem  aus  ihre  verheerende  Wirkung  nicht  öfter  entfalten. 
Die  durch  das  in  unserem  Falle  beschriebene  kurze  Mesenteriolum  be- 
bedingte Einschränkung  der  ohnehin  schon  geringen  Peristaltik  des 
Wurmfortsatzes  könnte  die  ruhige,  ungestörte  Entwickelung  der  Tuber- 
kulose noch  begreiflicher  machen. 

Sehen  wir  für  einen  Augenblick  von  den  Kotsteinen  ab,  so  hat  die 
Ansicht,  daß  Fremdkörper  die  Appendicitis  veranlassen,  ja  im  großen 

15* 


228  Max  Bohr, 

und  ganzen  wenig  Vertreter  mehr.  Ich  glaube  aber,  daß  auch  der 
Anwesenheit  von  Eotsteinen  im  Appendix  als  Ursache  der  Scolicoi- 
ditis  noch  eine  zu  große  Bedeutung  beigelegt  wird.  Ich  möchte  sie 
jedenfalls  dem  ^anderen  Faktor''  (Nothnagel)  unterordnen!  Die  An- 
wesenheit Yon  Bakterien  und  deren  Wirkung  dürfte  wohl  ausschlag- 
gebend sein.  Hat  doch  Siegel  unzweifelhaft  nachgewiesen,  daß  es 
eine  reine  Eokkenperityphlitis  gibt!  Und  daß  diese  Mikro- 
organismen auf  den  Appendix  verhängnisvoller  wirken  als  auf  den  flbrigen 
Darmtraktus,  bewirkt,  abgesehen  von  dem  Angefahrten,  sicherlich  auch 
der  Umstand,  daß  die  Widerstandskraft  des  Appendix  als  eines  in 
Rückbildung  begriffenen  Organes  ohne  Zweifel  verringert  ist. 

Einen  weiteren  Grund  bildet  die  Untersuchung  Fowlers  über  die 
Blutversorgung  des  Wurmfortsatzes  (zitiertnach  Nothnagel) :  ^Nir - 
gends  sonst  im  Darm  kOnnen  so  leicht  vaskuläre  und  damit  Ernährungs- 
störungen zu  Stande  kommen,  wie  im  Wurmfortsatze.  Denn  es  besteht 
hier  eigentlich  eine  terminale  Blutversorgung,  indem  die  ganze  Ernährung 
durch  einen  Zweig  der  A.  mesenterica  vermittelt  wird.^  Zwar  soll  nach 
Untersuchungen  von  Breuer,  angestellt  auf  Veranlassung  Nothnagels, 
die  Blutversorgung  des  Appendix  nicht  gerade  eine  terminale  sein,  aber 
auch  Breuer  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  Proc.  vermiform.  in 
Bezug  auf  Blutversorgung  den  übrigen  Darmteilen  gegenüber  „zweifel- 
los im  Nachteil'^  ist.  Daß  die  infolge  schlechter  Ernährung  herab- 
gesetzte Widerstandskraft  einer  Erkrankung  Vorschub  leistet,  ist  ein- 
leuchtend. 

Um  so  sonderbarer  muß  es  nach  diesen  Ausführungen  wieder  er- 
scheinen, daß  die  Darmtnberkulose  gewöhnlich  nicht  vom  Appendix  ihren 
Ausgang  nimmt  Die  bei  den  Sektionen  gemachte  Erfahrung,  der  sich 
auch  Riedel  anschließt,  daß  die  Appendicitis  tuberculosa  nur  selten  vor- 
kommt, und  wie  Nothnagel  sagt,  isoliert  fast  nie  gefunden  worden 
ist,  scheint  mit  den  Ergebnissen  der  anatomisch-physiologischen  Unter- 
suchungen fast  in  Widerspruch  zu  stehen.  Jedenfalls  dürfte  es  nicht 
leicht  sein,  dieses  Rätsel  zu  lösen! 

Dem  Praktiker  zeigt  mein  Fall  wieder,  welche  Vorsicht  bei  der 
Beurteilnng  von  Lungenkranken  geboten  ist  Man  sieht,  wie  selbst  so 
weit  ausgebreitete,  zerstörende  Prozesse  im  Darme  symptomlos  ver- 
laufen können,  wie  wir  denn  auch  immer  wieder  erfahren  müssen,  daß 
es  ganz  and  gar  nicht  in  unserer  Macht  steht,  eine  sichere  Prognose 
bei  Phthisis  pulmonum  zu  stellen. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  nicht  verfehlen,  meinen  sehr  verehrten 
Chef  Herrn  Dr.  Köhler  für  die  Ueberlassnng  des  Falles  meinen  Dank 
auszusprechen. 


Ein  Fall  von  Taberkulose  des  Wurmfortsatzea 


229 


Literatur. 

1)  Nothnagels  Handbnch:  Die  Erkrankungen  des  Darmes  und  des  Peri- 
toneums. 

2)  BiBDSL,    Die  Eesnltate   der   Appendicitisoperationen   in   Jena   während 
des  letzten  Semesters.     Münch.  med.  Wochenschr.,  1903,  No.  47. 

3)  Sahli,  Ueber  das  Wesen  und  die  Behandlung  der  Perityphlitis.   Korre- 
spondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte,  1892. 

4)  Bjbbbrt,    Beiträge    zur    normalen    und    pathologischen    Anatomie    des 
Wurmfortsatzes.     Virchows  Archiv,  Bd.  82. 

5)  SiBOBL,  Die  Appendicitis  und  ihre  Komplikationen.  Mitteil.  a.  d.  Grenz- 
■      "   ■         ^  ~'    1,  1896. 

Perforation 


geb.  d.  Med.  u.  Ghir.,   Bd. 


6)  Fbnwick   und   Dodwbll, 
Lancet,  1892,  July. 


of   the    intestines    in    phthisis. 


Aus  der  chirurg.  Abteilung  des  städt.  Krankenhauses  Moabit  zu  Berlin 
(Direktor:  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Sonnenbürg). 


Nachdruck  yerboten. 

XIL 

Ueber  Perityphlitis, 

mit  besonderer  Berücksichtigung 

der  Leukocytose. 

Zweite  Mitteilung: 

Begrenzte  eiterige  Peritonitis. 

Von 

Dr.  A.  Federmann, 

Assistenzarzt. 
(Hierzu  19  Kurven  im  Texte.) 


Ich  habe  in  meiner  ersten  Mitteilung  über  den  gleichen  Gegen- 
stand die  Leukocytose  bei  freier  fortschreitender  Wurmfortsatzperitonitis 
auf  Grund  von  21  Fällen  genauer  abgehandelt.  In  der  vorliegenden 
Arbeit  werde  ich  alle  die  Formen  eiteriger  Perityphlitis  besprechen, 
bei  denen  die  begleitende  Peritonitis  entweder  von  vorneherein  den 
Charakter  der  Begrenzung  an  sich  trägt  oder  diesen  im  weiteren 
Verlauf  annimmt.  Jene  leichten  Formen  von  Perityphlitis,  die  ohne 
Beteiligung  des  Peritoneums  oder  lediglich  mit  einer  serös-fibrinösen 
Exsudation  einhergehen  (Appendicitis  simplex  nach  Sonnenburg), 
werde  ich  nur  insoweit  erwähnen,  als  sie  im  Anfall  operiert  worden 
sind.  Auf  eine  ausführliche  Besprechung  aller  einfachen  Entzün- 
dungen, die  erst  exspektativ  behandelt  und  nach  Wochen  im  Intervall 
operiert  wurden,  kann  ich  in  dieser  Arbeit  aus  Mangel  an  Raum  nicht 
eingehen. 

Je  nach  der  verschiedenen  Art  der  Begrenzung  der  peritonealen 
Entzündung  unterscheide  ich 

a)  eine  Peritonitis  mit  völliger  Abkapselung  (einfacher 
perityphlitischer  Absceß  bei  Append.  perforativa  nach  Sonnenburo); 


1)  Die  vorliegende  Arbeit  bildet  die  Fortsetzung  und  Ergänzung  meiner 

früheren    Arbeit    über   Leukocytose    bei    diffuser    Wurmfortsatzperitonitis 

(Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,   Bd.  12,   Heft  2).     Das   Meiste, 

was  ich  dort  auseinandergesetzt  habe,   muß   ich   hier   als  bekannt  voraus- 

etzen,  um  längere  Wiederholungen  zu  vermeiden. 


A.  Federmann,  Ueber  Perityphlitis.  231 

b)  eine  Peritonitis  mit  teilweiser  mehrfacher  Abkap* 
seiung  (progredient  fibrinös-eiterige  Peritonitis). 

Eigentlich  stationär  ist  nur  die  erste  yon  beiden,  während  die 
2weite  zu  den  progredienten  Formen  zählt.  Wenn  wir  diese  trotzdem 
in  dieser  Arbeit  abhandeln,  so  geschieht  es  deshalb,  weil  wir  häufig 
ihre  Entwickelung  aus  einer  gut  begrenzten  beobachten,  und  weil  sie 
auch  klinisch  in  ihrem  mehr  chronischen  Verlaufe  der  zirkumskripten 
Peritonitis  näher  liegt  als  der  diffusen.  Man  kann  sie  als  Zwischenstufe 
zwischen  dem  eigentlichen  perityphlitischen  Absceß  und  den  yon  vorne- 
herein frei  fortschreitenden  Peritonitiden  auffassen. 

Wenn  wir  hiermit  einer  Einteilung  aus  praktischen  Gründen  das 
Wort  reden,  so  dürfen  wir  doch  nie  vergessen,  daß  ein  prinzipieller  Unter- 
schied der  verschiedenen  Formen  von  Perityphlitis  nicht  besteht,  viel- 
mehr daß  es  Unterschiede  lediglich  gradueller  Natur  sind,  die  durch  unsere 
Einteilungen  hervorgehoben  werden.  Wir  müssen  stets  bemüht  sein, 
die  mannigfachen  anatomischen  und  klinischen  Bilder,  welche  die  Krank- 
heit in  ihrer  wechselnden  Intensität  und  ihren  verschiedenen  Stadien 
darbietet,  von  einem  einheitlichen  Gesichtspunkte  aus  zu  beurteilen. 
Dieser  Gesichtspunkt  findet  seine  Grundlage  in  der  Schwere  der  In- 
fektion einerseits  und  der  Reaktionskraft  des  Organismus  andererseits. 
Das  Resultat  dieser  Wechselwirkung  wird  bei  den  peritonealen  Entzün- 
liungen  durch  die  Begrenzung,  die  das  Exsudat  erfährt,  dargestellt 
Deshalb  ergab  es  sich  als  das  Natürlichste,  die  verschieden  starke  Be- 
grenzung des  Exsudates  gegen  die  freie  Bauchhöhle  zum  Einteilungs- 
prinzip zu  erheben.  Der  Organismus  hat  in  jedem  Falle  die  Neigung, 
«ine  Begrenzung  der  Entzündung  herbeizuführen;  je  gutartiger  die  In- 
fektion ist,  desto  leichter  gelingt  ihm  dies.  Ist  der  Organismus  nicht 
im  Stande,  der  Entzündung  Herr  zu  werden,  so  kommt  es  zu  einer  nur 
teilweisen  oder  gar  keiner  Abkapselung.  Es  hängt  also  der  Grad  der 
Begrenzung  und  damit  der  günstige  Ausgang  der  peritonealen  Entzün- 
dung lediglich  davon  ab,  daß  die  Infektionsintensität  eine  gewisse  Höhe, 
die  für  den  Organismus  eine  überwindliche  ist,  nicht  überschreitet. 
Dieser  Wert  ist  in  jedem  einzelnen  Falle  ein  verschiedener  und  setzt 
sich  zusammen  aus  einer  Summe  zahlreicher  Einzelfaktoren.  Diese  Fak- 
toren sind  einerseits  die  verschiedene  Affektion  des  Wurmfortsatzes, 
seine  Lagebeziehung  zu  den  übrigen  Organen,  das  Vorhandensein  oder 
Fehlen  von  Adhäsionen  etc.,  andererseits  vor  allem  die  Qualität  und 
Quantität  des  Infektionsmateriales.  Eine  entscheidende  Bedeutung  kommt 
einem  einzelnen  von  ihnen  nicht  zu,  wenn  auch  selbstverständlich  jedes 
Moment  von  großer  Wichtigkeit  ist. 

Bevor  ich  auf  das  Verhalten  der  Leukocytose  bei  den  verschiedenen 
Verlaufsarten  einer  völlig  begrenzten  und  teilweise  begrenzten  Peri- 
tonitis näher  eingehe,  werde  ich  in  einem  getrennten  Abschnitte  alle 
die  Fälle  besprechen,  die  in  den  ersten  2V2  Tagen  der  Erkrankung 


232 


A.  Federmann, 


operiert  worden  sind.  Da  diese  Gruppe,  die  ich  mit  „Frühstadien*'  be- 
zeichne, Fälle  der  verschiedensten  Dignität  enthält,  möchte  ich  an  ihrer 
Hand  auf  die  Fnige  eingehen,  ob  und  inwieweit  das  Verhalten  der 
Leukocyten  im  Beginne  der  Erkrankung  eine  Bedeutung  beanspruchen 
darf.  Es  erscheint  mir  eine  gesonderte  Erörterung  gerade  dieses  Punktes 
im  gegebenen  Augenblicke  zweckmäßig,  wo  das  Thema  Frühoperation 
oder  konservative  Behandlung  an  der  Tagesordnung  steht. 

Am  Schlüsse  der  Arbeit  sei  es  mir  gestattet,  in  Kürze  unsere 
Ansicht  über  den  Wert  der  Leukocytenzählung,  wie  wir  sie  jetzt  nach 
einem  Beobachtungsmaterialevon  ca.  300  Fällen  gewonnen  haben,  zu- 
sammenzufassen. 


FrUistadlen. 

(Fälle  verschiedener  Dignität.) 

Von  den  ca.  350  Fällen  von  Perityphlitis,  die  in  den  Jahren  1902—1903 
im  Krankenhaus  Moabit  zur  Beobachtung  kamen,  wurden  gegen  40  Fälle 
in  den  ersten  3  Tagen  der  Erkrankung  operiert.  —  Von  diesen  sind 
für  die  vorliegende  Betrachtung  17  Fälle  brauchbar.  15  Fälle  müssen  der 
freien,  fortschreitenden  Peritonitis  zugerechnet  werden  und  sind  dann 
bereits  in  meiner  ersten  Publikation  besprochen.  Bei  dem  Reste  ist 
entweder  die  Leukocytenzahl  nicht  festgestellt,  oder  die  Erkrankungs- ' 
dauer  ist  eine  unsichere. 

Von  unseren  17  Frühoperationen  ist  1  Fall,  der  8  Stunden  nach 
Beginn  der  ersten  Symptome  operiert  wurde,  gestorben.  Dieser  Fall 
war  kompliziert  durch  eine  Gravidität  im  5.  Monat;  ich  komme  weiter 
unten  nochmals  darauf  zurück.    Alle  übrigen  Fälle  sind  geheilt. 

Von  den  17  Fällen  wurden  operiert  am 

Krankheitstag:         Zahl  der  Fälle: 

1.  5 

2.  8 

3.  4 

Ich  lasse  in  der  folgenden  Tabelle  die  Fälle,  nach  der  Zeitdauer 
zwischen  Erkrankung  und  Operation  geordnet,  folgen: 

a)  Innerhalb  der  ersten  24  Stunden  operierte  Fälle. 


673 


Name 

UDd 

Alter 


Dauer 
zwischen 
ErkraDkg. 
u.  Operat 


i'2 


■^§ 


Klinischer 
Befand 


Operationsbefand 


Saiomon 
32-jähr. 
1.  AnfaU 


8  Stund. 


15000 


39,4 
112 


Gravid,  im  5.  M. 
Enorm.  Druck- 
empfindlichkeit 
r.  u.  —  Starker 
Meteorism.  Qr. 
Unruhe,  üebr. 
Leib  unempfdL 


Flankenschnitt  r.  —  Starke 
Durchtrankung.  Dünn-eitr. 
freies  Exsud.  —  Ovarium  u» 
Darm  liegt  vor.  W.-F.  li^ 
verwachs,  nach  med.  u.  unt. 
Ist  umgeb.  v.  stink,  fr.  Eit.^ 
etwa  1  Eßl.  —  W.-F.  perfor. 
u.  gangr.  —  Abort  am  nächst. 
Tg. — Exi  t  am  5.  Tg.  an  Perit. 


Ueber  Perityphlitis. 


233 


Name 
and 
Alter 


Dauer 
zwischen 
Erkrankg. 
u.  Operat. 


^-a 


^' 


& 


Klinischer 
Befund 


Operationsbefand 


2. 


3. 


Lutomski 

23-j. 
2.  Anfall 


Brewke 

24-]. 
1.  AnfaU 


Krebe 

54-j. 
1.  An&U 


Steinke 

19.j. 
3.  Anfall 


24  Stund.  19000 


24  Stund. 


16  Stund. 


16  Stund. 


20000 


30000 


20000 


37,6 


37.6 
88 


38,2 
132 


39.0 
140 


Starke  Bauch- 
deckeuspanng. 
Hochgradiger 
Schmerzpunkt 
r.  u.    Ldnks  frei 

Unterleib  stark 
gespannt.    R.  u. 

hochgradige 
Empfindlichkeit 
Linke  Seite  frei. 
Reichliches  Er- 
brechen 
Verfallenes  Aus- 
sehen.   Zunge 
trock.   Schüttel- 
frost. Erbrechen. 
R.  u.   sehr  em- 
pfindlich 

Schwerkranker 
Eindruck.    Leib 
hart,  nicht  auf- 
getrieben.   R.  u. 
hochgradiger 
Schmerzpunkt 


Etwas  freies  seröses  Exsudat 
W.-F.  m.  Fibrin  bedeckt,  em- 
pyemart  erweit,  euth.  Eit; 
an  d.  Schleimhaut  beginnende 
Gangr.  Leichte  Verwadisg. 
am  W.-F.    Heilung 

Einige  Tropf,  serös.  Ezsud.  — 
Darmschi.  nire.  verkl.  W.-F. 
deichf.  frei,  U)  cm  lang,  mit 
Fibrin  bedeckt  Hochgradig. 
Emp.,  stark  gespannt,  Serosa 
schwarzgrün  verfärbt  Keine 
Perf.  Frei  flottierend.  Heiig. 

Einige  Tropfen  serös.  Exsud. 
Darmschi.  nirg.  verklebt  W.- 
F.  völL  frei. —Wand  total  gan- 
gränös. Prall  gespannt  Emp., 
m.  Fibrin  bedeckt  Keine  Per- 
foration. Mesenterioium  teil- 
weise nekrotisch.    Heilung 

1  TeeL  trüb-serös.  Flüssigkeit 
W.-F.  nach  unt  geschaffen, 
außerord.  verwachs.,  m.  Netz 
überd.,  10  cm  dick,  daumen^ 
dick  prallgesp..  Wand  gan- 
gränös.   Heilung 


b)  Am  2.  Krankheitstage  operierte  Fälle. 


6. 

Kalten- 
thaler 
26^j. 

2  Tag 

13  000 

37.1 
88 

7. 

Botmann 

56.J. 
1.  Anfall 

48  Stund. 

15000 

37,1 
90 

8. 

3.  AnMl 

48  Stund. 

28000 

38,6 
116 

9. 

Pelikan 

19-j. 
3.  AnfaU 

44  Stund. 

160001 

39,2 
120 

10. 

Würfel 

27-j. 
3.  AnüJl 

30  Stund. 

120001 

38,1 
96 

10  Tag 

13000 

37,0 
80 

Leib  weich.  R.  u. 
hochgradig  em- 
pfinolicL  Links 

weniger 

Leib  weich;  r.u. 

sehr  empfindlich. 

Links  frei 


Vor  12  Stunden 
starker  Schüttel 
frost  Jetzt  stark 
schmerzhaft  r.u., 
sonst  frei 

Heute  Abd.  hoch- 
grad.  plötzl.  Ver- 
schlimm. UndtL 
Resistr.u.  Hoch- 
gradig Bchmerzh. 
L.  etwas  empfndl. 
Allmahl.  Be^nn. 
Schwerkr.  Emdr. 
Leib  sehr  gesp. 
r.u.  sehr  empfdl., 
aber  auch  links. 
Beiderseits  Flan- 
kenschmerz 


W.-F.  stark  injiz.  u.  verdickt. 
Schleimh.  geschwolL  Leichte 
Verkleb,  d.  Darmschlg..  etwas 
seröses  Exsudat    Heilung 

1  EßL  trüb-serös.  Exsud.  W.- 
F.  m.  d.  Coec.  verwachs. ;  5  cm 
lg.,  entzüudl.  verdickt,  leichte 
Fibriubeschl.  SchleimJi.  stark 
hämorrhagisch.    Heilung. 

Därme  leicht  fibrinös  belegt, 
etwa  1  Teel.  trüb-eit  Flüssigk. 
Leichte  Verkleb.  W.-F.  7  cm 
lang.  Serosa  verfärbt  In  d. 
Mitte  feine  Perf orationsöff., 
aus  d.  Eit  kommt    Heilung 

W.-F.  median  fest  auf  den 
Gefäßen  fixiert  Aus  d.  Tiefe 
quillt  reichlich  freier  Eiter. 
W.-F.  8  cm  lang,  stark  ver- 
dickt; enthält  eine  Perforation. 
Sdileimh.  nekrotisch.   Heiig. 

Freier  Darm  liegt  vor.  Keine 
Verkleb.,  keine  FibrinbeschL 
Vom  kl.  Becken  quillt  reichL 
dick,  stink.  Eit  W.-F.  sehr 
stark  verwachs,  auf  der 
Beckenschauf.,  nicht  gangr., 
aber  perforiert.  6  cm  lajag, 
Schleimh.  nekr.  Freier  Kotst 
Vrwlb.imDougLjlDcis.  dnes  5  Eßl.  fassenden 
Douglasabscesses.    Heilung 


Urinbö»chwera.  1 


234 


A.  Federmann, 


Name 

und 

Alter 


Dauer 
zwischen 
Erkrankg. 
u.  Operat. 


SS  0 


Klinificher 
Befund 


OperationBbefund . 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 


16. 


17. 


Neu- 
meister 

33.J. 
1.  Anfall 


Chemnitz 

ll.j. 
1.  Anfall 


Franz 

13-j. 

2.  Anfall 


48  Stund. 


20000 


48  8tund. 


36  Stund. 


22  000 


20000 


38 
100 


36.6 


38 
120 


Ikter.  Meteorism. 
Schlechter  All- 

reineindruck. 
u.  sehr  em- 
pfindlich;   Besi- 
stenz  r.  u. 


Leib  nicht  auf- 
getrieben. R  u 
derbe  Stelle,  die 
sehr  empfdl.  ist. 
Uebr.  Leib  frei, 
Schwerkranker 

Eindruck. 
Außerordentlich 

schmerzhafte 
Steller. u.  Uebr. 

Leib  frei 


Freier  Darm.  Nach  oben  zu 
lock,  b^renzt  1  Eßl.  Eiter. 
W.-F.  liegt  an  der  Parietal- 
serosa  nach  ob.  zu  stark  ver- 
wachs. Nach  d.  kl.  Beck,  zu 
lieft  gldchf.  locker  begrenzt 
1  EßL  Eiter.  W.-F.  gangr&n. 
2mal  perforiert 

Etwas  trfibes  Elxsudat  4  cm 
lang,  gangränös.  W.-F.  li^ 
vor.  Mit  Netz  verwachsen. 
Enthalt  im  Innern  kotig-eit 
Flüssigkeit.    Heilang 

Coecum  liegt  vor.  W.-F.  mit 
d.  Hinterwd.  d.  Ck)ecum8  sehr 
dicht  verwachs.,  ist  5  cm  lang, 
an  der  Kuppe  gangranöe; 
diese  ist  perfor.  u.  ragt  in  d. 
Eiterherd.  Aus  d.  kl.  Beck, 
quillt  freier  übelriech.  Eiter, 
etwa  3  Eßl.    Heilung 


Kittich 

21.j. 

2.  Anfall 


Sprengel 

16-j. 
3.  AnfaU 

Hamann 
22-j. 


Richter 

lO-j. 
1.  Anfall 


c)  Am  3.  Krankheitstage  operierte  Fälle. 


2  Tag 

3  Tag 


40  Stund. 
3  Tag 


3  Tag 


27,  Tag 


17  000 
19  000 


26000 
25  000 


26000 


28000 


38,1 
38,4 


38,8 
38 
100 

37,5 
72 


38 
132 


Abdomen  etwas 

aufgetrieb.,  r.  u. 

sehr  empfindlich. 

Links  weniger 


Starke  Schmerz- 
haftigkeit  r.  u. 
Uebr.  Leib  frei 

Leib  überall 
empfindlich,  be- 
sonders r. 
Beiderseits  Flau 

kenschmerz 
Leib  stark  ge- 
spannt.  R.  ober 
sehr  empfindlich. 

Links  wenig. 
Ikterus.  Apatnie 


W.-F.  li^  vor,  etwas  ver- 
wachs., mit  Fibrin  bedeckt, 
völlig  gangränös.  Die  Darm- 
schlingen etwas  fibrinös  ver- 
klebt, wenig  trüb.  Elxsudat 
Heilung 

Append.  stark  adhar.  Wenig 
freies,  trübes  Sekret  W.-F. 
mit  Fibrinbeschlä^.  bedeckt, 
feine  Perforat    Heilung 

1  Eßl.  trüb-eitr.  Flüssigkeit, 
nach  unten  zu  locker  verkL 
W.-F.  mit  Fibrin  bedeckt, 
6  cm  lang,  teilw.  gangränös. 
Heilung 

Freier  fibrinbelegt.  Darm  liegt 
vor.  Ueberall  freies,  trüb- 
seröses  Exsudat  W.-F.  gan- 
gränös u.  perforiert  unt  der 
Leber.  Um  ihn  herum  1  EßL 
jauchiger  Eiter  u.  freier  Kot- 
stein.    Heilung 


Ehe  ich  auf  mein  eigentliches  Thema,  das  Verhalten  der  Leukocytose 
im  Beginn  der  Perityphlitis,  eingehe,  halte  ich  es  für  zweckmäßig,  einen 
pathologisch-anatomischen  Punkt  kurz  zu  besprechen,  dessen  Erörterung 
sowohl  für  diese  Frage  von  Wichtigkeit  ist  als  auch  für  die  Genese 
des  perityphlitischen  Abscesses  bedeutungsvoll  erscheint.  Es  ist  ein- 
leuchtend, daß  gerade  Frühstadien  den  wertvollsten  Aufschluß  in  dieser 
Richtung  zu  geben  im  stände  sein  werden. 

Es    geht  aus  einer  Durchsicht    der  Operationsbefunde    in  obiger 


Ueber  Perityphlitis.  235 

Tabelle  hervor,  daß  die  Dignität  der  einzelnen  Fälle  eine  verschiedene 
ist.  2mal  handelte  es  sich  um  eine  katarrhalische  Appendicitis,  4mal 
um  ein  gangränöses  Empyem,  das  dem  Bersten  nahe  war,  aber  noch 
keine  oder  unwesentliche  Reaktion  von  Seiten  des  Peritoneums  hervor- 
gerufen hatte.  In  den  übrigen  11  Fällen  war  Gangrän  oder  Perfo- 
ration des  Organs  oder  Beides  bereits  eingetreten.  Ebenso  wie  die  Art 
der  Affektion  des  Wurmfortsatzes  war  auch  die  Zusammensetzung  und 
Menge  des  Exsudats  in  den  verschiedenen  Fällen  eine  verschiedene. 
Während  in  den  4  Fällen  von  gangränösem  Empyem  selbst  nach  24  Stunden 
kaum  einige  Tropfen  klarer  Flüssigkeit  sich  in  der  Bauchhöhle  vorfanden, 
konnten  in  der  Mehrzahl  der  übrigen  Fälle  bereits  mehrere  Teelöffel 
Eiters  entleert  werden.  Dieser  Umstand  findet  seine  Erklärung  in  der 
verschiedenen  Intensität  und  Dauer  der  Erkrankung. 

Eine  völlige  Begrenzung  des  eiterigen  Exsudats  wurde  nur  in  sehr 
wenigen  Fällen  konstatiert.  Dasselbe  lag  vielmehr  meist  frei  zwischen 
den  gar  nicht  oder  nur  locker  verklebten  Darmschlingen.  Nahezu 
bei  allen  Fällen  des  2.  und  3.  Krankheitstages  wurde  in  einem  großen 
Umfang  um  den  eiterigen  Herd  herum  trübe  seröse  Flüssigkeit  frei 
zwischen  den  Darmschlingen  vorgefunden.  Man  hatte  den  Eindruck 
einer  freien  Peritonitis.  Trotzdem  ist  es  in  hohem  Grade  wahrschein- 
lich, daß  die  Mehrzahl  dieser  Fälle  auch  ohne  sofortigen  Eingriff  zur  all- 
mählichen völligen  oder  teilweisen  Begrenzung  gekommen  wäre.  Wenn 
wir  alle  diese  Befunde  als  freie,  fortschreitende  Peritonitiden  auffassen 
wollten,  dann  müßten  nahezu  alle  Frühstadien  in  diese  Klasse  ge- 
zählt werden,  denn  —  und  damit  kommen  wir  auf  den  Hauptpunkt 
unserer  Erörterungen  —  wir  müssen  es  als  Regel  auffassen  lernen, 
daß  in  vielen  Fällen  von  eiteriger  Perityphlitis  das  eiterige  oder  nicht 
eiterige  Exsudat  im  Beginn  ein  diffuses  ist  und  erst  im 
weiteren  Verlauf  zu  einem  begrenzten  wird.  Ich  bin  der 
Meinung,  daß  auch  in  solchen  Fällen,  wo  später  eine  Abkapselung  ein- 
tritt, sehr  häufig  im  Beginn  eine  diffuse  Entzündung  besteht  in  einem 
Umfange,  der  von  der  Intensität  der  Infektion  abhängt,  stets  aber  ein 
weit  größeres  Gebiet  betrifft,  als  der  später  zur  Ausbildung  kommende 
Absceß  umfaßt. 

Diese  Infektion  eines  großen  Teils  des  Peritoneums  in  den  ersten 
24—48  Stunden  ist  die  sogenannte  „peritoneale  Reizung**,  die  ich 
somit  als  echten  Entzündungszustand  des  Peritoneums  auffasse.  Die 
Zusammensetzung  des  dabei  ausgeschiedenen  Exsudats  nähert  sich  um 
so  mehr  der  des  Eiters,  je  virulenter  das  Giftmaterial  ist.  Da  selbst- 
verständlich am  lokalen  Herd  die  Giftintensität  am  höchsten  sein  wird, 
je  weiter  entfernt  davon  um  so  mehr  abnimmt,  so  ist  es  das  Natürliche, 
daß  das  Exsudat  je  näher  dem  Appendix  um  so  eiteriger,  je  weiter 
entfernt  um  so  klarer  ist.  Von  Anfang  an  ist  jedes  Exsudat  serös,  es 
trübt  sich   um   so   rascher   und  in  um   so  größerer  Ausdehnung,  je 


236  A.  Federmann, 

schwerer  die  Infektion  nnd  je  stärker  die  Reaktionskraft  des  Orga- 
nismus ist  Je  früher  man  operiert,  desto  dünnflüssiger  und  spärlicher 
wird  also  das  Exsudat  sein,  wir  können  aber  nicht  warten,  bis  es  ver- 
eitert ist  Hand  in  Hand  mit  der  serösen  Exsudation  geht  eine  Fibrin- 
ausscheidung seitens  des  Peritoneums,  wodurch  die  sekundäre  Ver- 
klebung zu  Stande  kommt.  Je  gutartiger  ein  Exsudat  ist,  desto  mehr 
Fibrin  wird  in  der  Regel  ausgeschieden.  Ist  durch  Fibrinverklebung 
ein  Abschluß  des  Herdes  gegen  die  übrige  Bauchhöhle  eingetreten,  so 
ist  der  Prozeß  vorläufig  beendet 

Mit  den  eben  dargestellten  Anschauungen  stehe  ich  also  nicht 
auf  Seite  derer,  die  den  perityphlitischen  Absceß  in  der  Weise  entstehen 
lassen,  daß  die  Perforation  regelmäßig  in  vorgebildete  Adhäsionen  oder 
durch  den  vorhergegangenen  Reiz  verklebtes  Gebiet  erfolgt,  eine  In- 
fektion der  freira  Bauchhöhle  aber  nicht  stattfindet  Ich  glaube  viel- 
mehr, wie  dies  auch  Moskowicz^)  besonders  hervorhebt,  daß  der  Ent- 
zündungsprozeß im  Beginn  häufig  nicht  begrenzt  ist,  vielmehr  diesen 
Charakter  erst  im  weiteren  Verlauf,  manchmal  früher  manchmal  später, 
annimmt 

Wäre  es  das  Gewöhnliche,  daß  der  perityphlitische  Absceß  sich  in 
den  vorgebildeten  Adhäsionen  entwickelt,  so  erscheint  es  als  verwunder- 
lich, daß  wir  einen  derartigen  Befund  in  unseren  früh  operierten  Fällen 
kaum  jemals  haben  erheben  können.  Ja,  daß  sogar  in  den  Fällen,  wo 
infolge  mehrfacher  vorangegangener  Anfälle  der  Wurmfortsatz  größten- 
teils in  Adhäsionen  eingebettet  lag,  trotzdem  ein  freies  trüb-seröses 
Exsudat  um  die  Adhäsionen  herum  vorhanden  war.  Als  besonders 
eklatante  Beweise  dafQr  möchte  ich  aus  der  Reihe  obiger  Fälle  nur  die 
unter  Nummer  9,  10  und  13  anführen,  bei  denen  eine  deutliche  Be- 
grenzung des  Eitcirs,  trotz  hochgradiger  Verwachsungen  um  den  Wurm- 
fortsatz, fehlte. 

Fall  9  (Pelikan).  44  Stunden  nach  Beginn  der  Erkrankung.  8 
AnfUUe.     Heilung. 

R.  Flankenschnitt  Freies  Coecmn  liegt  vor.  Wurmfortsatz  fest  auf 
den  Iliakalgefäßen  fixiert,  ist  8  cm  lang,  kolbig  verdickt,  an  der  Kuppe 
perforiert.  Aus  der  Tiefe  zwischen  teilweise  locker  verklebten  Darm- 
schlingen quillt  reichlich  stinkender  Eiter  und  freies,  ti*übes  Exsudat.  Netz 
zieht  nach  unten. 

Fall  10  (Würfel).     1.  Anfall.    80  Standen  nach  Beginn.    Heilung. 

R.  Flankenschnitt.  Coecum  liegt  vor.  Von  unten  her  kommen  frei 
zwischen  den  Darmschlingen  ca.  2  Eßlöffel  dicken  Eiters;  reichlich  trüb 
seröses  freies  Exsudat  Wurmfortsatz  sehr  stark  in  ganzer  Ausdehnung 
mit  der  Beckenschaufel  verwachsen;  sehr  schwierige  Lösung,  6  cm  lang, 
perforiert.     Freier  Kotstein. 


1)  MosKOwicz,  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.  Bd.  10. 


Ueber  Perityphlitis.  237 

Fall  18  (Franz).     2  Anfälle.     86  Standen   nach  Beginn.     Heilung. 

B.  Flankenschnitt.  Peritoneam  mit  Darm  verwachsen.  Goecum  liegt 
vor.  Aus  dem  kleinen  Becken  kommen  etwa  50  ccm  übelriechenden  Eiters 
frei  zwischen  den  Darmschlingen  hervor.  Der  Wurmfortsatz  ist  mit  der 
Hinterwand  des  Coecums  so  dicht  verwachsen,  daß  er  mit  der  Schere  ge- 
löst werden  muß.  Er  ist  5  cm  lang;  an  der  Kuppe  gangränös  und  perforiert 
Dieselbe  taucht  frei  in  den  Absceß.     In  der  Kuppe  ein  Kotstein. 

Deshalb  sind  wir  zu  der  Anschauung  gekommen,  daß  den  Adhäsionen 
um  den  Wurmfortsatz  nur  eine  geringe  Bedeutung  für  das  Zustande- 
kommen einer  begrenzten  oder  nicht  begrenzten  Eiterung  zuzuschreiben 
ist.  Schon  die  einfache  Ueberlegung  sagt  uns  auch,  daß  ein  sehr 
dichtes  Adhäsionsnetz  dazu  gehört,  um  jeden  Austritt  an  freier  Stelle 
zu  verhüten;  derartige  dichte  Verwachsungen  gehören  aber  zu  den 
größten  Seltenheiten. 

Auch  die  Möglichkeit,  daß,  noch  bevor  die  eigentliche  Perforation 
eintritt,  um  den  Wurmfortsatz  herum,  infolge  Durchwanderung  von  Bak- 
terien, entzündliche  Verklebungen  entstehen,  die  einen  Abschluß  gegen 
die  freie  Bauchhöhle  ergeben,  scheint  mir  nicht  die  Regel  zu  bilden 
oder  wenigstens  nur  bei  langsamer  verlaufenden  Prozessen  vorzukommen. 
Man  vergegenwärtige  sich  nur  die  beiden  Operationsbefunde  von  gan- 
gränösem Empyem  (Fall  3  und  4)  in  obiger  Tabelle.  In  diesen  beiden 
Fällen  fanden  sich  trotz  24-8tündigen  Bestehens  eines  schwer  gangränösen, 
dem  Durchbruch  nahen  Empyems,  bei  der  Operation  weder  Exsudat 
noch  Verklebungen  in  der  Bauchhöhle.  Der  Wurmfortsatz  flottierte 
vielmehr  völlig  frei;  die  nahe  bevorstehende  Perforation  wäre  unfehlbar 
in  die  freie  Bauchhöhle  erfolgt  Aus  diesen  beiden  Befunden  geht  hervor, 
daß  selbst  24  Stunden  bestehende  schwerste  Entzündung  im  Appendix, 
die  sogar  schon  auf  die  Serosa  übergegriffen  hat,  nicht  derartige  Ver- 
änderungen in  der  Umgebung  hervorzubringen  braucht,  daß  eine  ein- 
tretende Perforation  in  einen  begrenzten  Raum  erfolgt.  Daß  es  anderer- 
seits Fälle  gibt,  bei  denen  infolge  langsamer  Usur  der  Wand  vor  dem 
eigentlichen  Durchbruch  Verklebungen  in  der  Umgebung  sich  bilden, 
die  eine  Allgemeininfektion  verhindern,  wollen  wir  keineswegs  bestreiten. 

Es  wird  aus  den  Erörterungen  in  den  folgenden  Abschnitten  hervor- 
gehen, daß  unsere  eben  mitgeteilte  Auffassung  des  pathologisch-ana- 
tomischen Vorganges  die  beste  Erklärung  für  den  klinischen  Verlauf  und 
das  Verhalten  der  Leukocyten  bei  schweren  akuten  Perityphliden  darstellt. 

Gemäß  der  verschiedenen  anatomischen  Dignität  unserer  17  Fälle 
waren  auch  die  klinischen  Symptome  wechselnder  Natur.  Die 
Indikation,  die  uns  bestimmte,  diese  Fälle  sofort  zu  operieren,  wurde 
dorch  das  Gesamtbild  gegeben.  Wir  hatten  die  Ueberzeugung  einer 
schweren  Perityphlitis,  deren  Verlauf  unberechenbar  war.  Wie  der 
Befund  zeigte,  war  die  Diagnose  in  allen,  mit  Ausnahme  von  2  Fällen 


238  A.  Federmann, 

(Fall  6  u.  8),  die  richtige  gewesen ;  in  diesen  beiden  bestand  der  Verdacht 
einer  Gangrän,  es  fand  sich  aber  eine  Appendicitis  simplex. 

Die  Symptome,  die  für  uns  für  die  Diagnose  einer  schweren  Affek- 
tion des  Wurmfortsatzes  in  den  ersten  48  Stunden  vor  allem  von  Be- 
deutung erscheinen,  sind  neben  dem  schweren  Allgemeineindruck  vor* 
züglich  solche  lokaler  Art  Von  letzteren  erscheint  als  das  Bedeutungs- 
vollste, auf  das  Sonnenburo  längst  hingewiesen  hat,  die  hochgradige 
zirkumskripte  Empfindlichkeit  in  der  rechten  Unterbauchgegend,  deren 
Vorhandensein  wir  in  unseren  Fällen  niemals  vermißten.  Dem  Verhalten 
der  Temperatur  kommt  eine  geringere  Bedeutung  zu,  während  eine 
hohe  Pulsfrequenz  stets  zur  Vorsicht  mahnt.  Wer  über  ein  größeres 
Material  verfügt,  weiß,  daß  all  diesen  Einzelsymptomen  kein  ausschlag- 
gebender Wert  beizumessen  ist.  Es  ist  vor  allem  die  Beurteilung  des 
Gesamtbildes,  das  den  Ausschlag  gibt. 

Aus  diesem  Grunde  kann  wohl  billiger  Weise  kaum  verlangt 
werden,  daß  eine  Untersuchungsmethode,  die  ja  gleichfalls  nur  eine  Re- 
aktion des  Organismus  darstellt,  allein  das  leiste,  wozu  keine  der  übrigen 
Reaktionen  im  stände  ist.  Wenn  wir  auch  der  Meinung  sind,  daß  das 
Verhalten  des  Blutes  ein  sehr  feines  und  vorzügliches  Reagens  des  im 
Organismus  sich  abspielenden  Prozesses  darstellt,  so  ist  eben  damit  schon 
gesagt,  daß  es  durch  außerordentlich  zahlreiche  Momente  beeinflußt  wird, 
die  wir  zum  Teil  gar  nicht  kennen,  und  deren  Einfluß  sich  darum  auch 
bei  der  Beurteilung  unserer  Schätzung  entziehen  wird. 

Es  wäre  ja  von  außerordentlichem  Wert,  wenn  gerade  in  dem  Früh- 
stadium der  Erkrankung  uns  ein  Mittel  an  die  Hand  gegeben  wäre, 
das  im  stände  sein  würde,  alle  bisherigen  Zweifel  der  Indikationsstellung 
zu  heben.  Leider  stellt  auch  die  neue  Untersuchungsmethode  der  Leuko- 
cytenzählung  diese  ideale  Methode  nicht  dar.  Auch  in  Zukunft  wird, 
wie  die  Mehrzahl  meiner  Voruntersucher  angenommen  haben,  nur  die 
gewissenhafte  Abschätzung  und  Gegenüberhaltung  aller  vorhandenen 
Symptome  uns  die  Indikation  zur  Operation  stellen  lassen.  Die  Zählung 
der  Leukocyten  kann  eine  Stütze  der  Diagnose  werden,  eine  ausschlag- 
gebende Bedeutung  besitzt  sie  nicht. 

Nach  den  ausführlichen  Darlegungen  in  meiner  ersten  Arbeit*)  bin 
ich  der  Ansicht,  daß  die  Mehrzahl  aller  eiterigen  Perityphlitiden  mit  einer 
hohen  Leukocytose  einsetzt,  die  meist  schon  innerhalb  der  ersten  24  Stun- 
den entsteht  und  den  Ausdruck  der  diflFusen  Peritonealinfektion  darstellt. 
Je  schwerer  die  Infektion  ist,  desto  länger  bleibt  die  Leukocytose  hoch, 
oder  sie  steigt  sogar  in  den  nächsten  Tagen  noch  weiter  an,  je  leichter 
dieselbe,  desto  rascher  fällt  sie,  zugleich  mit  den  übrigen  Symptomen, 
zur  Norm  ab.  Eine  abfallende  Leukocytose  bei  schweren  Allgemein- 
symptomen bedeutet  eine  beginnende  Allgemeinvergiftung  des  Körpers, 


1)  Grenzgebiete  für  Medizin  u.  Chirurgie,  Bd.  12,  Heft  2. 


Ueber  Perityphlitis. 


239 


Gehe  ich  nach  diesen  allgemeinen  Erörterungen  zu  einer  kritischen 
Besprechung  unserer  Resultate  über,  so  erscheint  es  als  das  zweck- 
mäßigste, unsere  Fälle,  je  nach  der  Schwere  geordnet,  in  drei  Gruppen 
einzuteilen. 

In  die  erste  Gruppe,  die  der  leichten  Fälle,  gehören  die 
Fälle  6  und  7.  In  Fall  6  handelt  es  sich  lediglich  um  einen  akut  ent- 
zündeten Wurmfortsatz  mit  leichter  fibrinöser  Verklebung  und  einigen 
Tropfen  Exsudats  in  der  Umgebung.  Es  waren  13  000  Leukocyten 
gezählt.  In  Fall  7,  bei  dem  15000  Leukocyten  festgestellt  waren,  wurde 
gleichfalls  eine  akute  Entzündung  vorgefunden  mit  einem  Teelöffel  trüb- 
serösen Exsudats  und  einem  hämorrhagisch  infiltrierten  Wurmfortsatz. 
Beide  Fälle  befanden  sich  am  Ende  des  2.  Krankheitstages. 

Man  muß  sagen,  daß  in  diesen  beiden  Fällen  die  niedrige  Leuko- 
cytenzahl  ein  richtiges  Bild  der  leichten  Infektion  gegeben  hat.  Aller- 
dings waren  auch  die  übrigen  Symptome  nicht  gerade  bedrohlicher  Art. 
Niedrige  Temperatur,  niedriger  Puls.  Das  einzige  Symptom,  auf  das 
hin  wir  operierten,  und  das  in  beiden  Fällen  im  Stich  gelassen  hatte^ 
war  die  exzessive  Empfindlichkeit  in  der  Ileocökalgegend. 

Die  zweite  Gruppe  umfaßt  4  Fälle  von  gangränösem  Empyem 
des  Wurmfortsatzes  [Fall  2,  3,  4  ^),  5J,  die  in  der  folgenden  Tabelle  zu- 
sammengestellt sind. 


No. 

der 

FäUe 

Name 

Dauer 

des 

Bestehens 

Leuko- 
cytenzahl 

Temger., 

Operationsbefund 

2 
3 
4 
5 

Latomski 
Brewke 
Krebe 
SteiDke 

24Std. 
24  Std. 
16  Std. 
16  Std. 

19000 
20000 
30000 
20000 

37,6 
68 

37,6 
88 

38,2 
140 

39,6 
140 

Empyem  des  W.-F.,  mit  b^innen- 
der    Gangrän  der  ächleimhaut. 
Frei.    Etwas  seröses  Exsudat. 

Gangränöses  Empyem  des  W.-F. 
Frei  flottierend.    Kein  Exsudat. 
Keine  Verklebungen. 

Gangränöses  Empyem,  vor  der  Per- 
foration stehend.     Frei.     Keine 
peritonealen  Entzündungen. 

Gangränöses  Empyem,  vor  der  Per- 
foration stehend.  Stark  verwach- 
sen.   1  Teelöffel  trübes  Exsudat. 

Sämtliche  Fälle  befanden  sich  noch  innerhalb  des  ersten  Krankheits- 
tages.  Die  Diagnose  stützte  sich  in  erster  Linie  auf  die  außerordentlich 
zirkumskripte  Empfindlichkeit  in  der  rechten  Unterbauchgegend,  da  die 
übrigen  Symptome,  vor  allem  Puls  und  Temperatur,  zum  Teil  sehr 
schwankender  Natur  waren. 


1)  Fall  3  und  4  sind  ausführlich  bereits  in  meiner  ersten  Arbeit  mit- 
geteilt. 


A.  Federmann, 


Es  geht  aus  der  Betrachtung  dieser  4  Fälle  hervor,  daß  selbst  ein 
noch  auf  den  W.-F.  beschränkter  Prozeß  mit  unseren  bisherigen  Hil&- 
mitteln  bereits  sehr  frühzeitig  als  schwerer  diagnostiziert  werden  kann« 
Es  muß  aber  auch  darauf  hingewiesen  werden,  daß  hier  das  Blutbild 
einen  der  Intensität  des  Prozesses  völlig  entsprechenden  Ausdruck  zeigte 
und  daß,  obgleich  weder  Temperatur  noch  Peritoneum  irgend  eine  Re- 
aktion darboten,  doch  die  hohe  Leukocytose  einen  Fingerzeig  gab  fflr 
die  Schwere  des  sich  abspielenden  Prozesses  (siehe  Fall  3).  Gleichzeitig 
liefern  diese  Fälle  den  Beweis  dafür,  daß  Leukocytose  und  Bauchfell- 
exsudation nicht  Hand  in  Hand  gehen. 

In  der  dritten  Gruppe  befinden  sich  alle  diejenigen  Fälle,  bei 
denen  die  Affektion  des  W.-F.  in  einer  Perforation  oder  Gangrän  be- 
stand, und  im  Peritonealraum  bereits  eiteriges  Exsudat  vorhanden  war. 
In  ganz  wenigen  Fällen  war  das  Exsudat  noch  trüb-serös. 

Ich  stelle  der  Uebersicht  halber  diese  11  Fälle,  nach  der  Dauer  ihres 
Bestehens  geordnet,  nochmals  kurz  in  einer  Tabelle  zusammen. 


No. 

des 

FaUes 

Name 

Dauer 

des 

Bestehens 

Leuko- 
cytenzahl 

Temper., 
Puls 

Operationsbefund 

1 

Balomon 

8  Stdn. 

15  0001 

38,1« 
112 

W.  F.  gangränös  und  perforiert 
2  Eßlöffelfiiter  und  trüb-seröse 
Flüssigkeit 

10 

Würfel 

30      , 

120001 

38,1« 
96 

W.  F.  perforiert  und  gangränös. 
Freier  Eotstein.  2  Efil.  Eiter  u. 
trübes  Exsudat    Douglasabsoeß 

9 

Pelikan 

44      , 

160001 

39,2« 
120 

W.  F.  perforiert.  Reichlich  freier 
Eiter 

13 

Franz 

36      „ 

20000 

38« 
120 

W.  F.  perforiert  und  gangränös. 
3  Eßlöffel  übekiechender  Eiter 

12 

Chemnitz 

48       r, 

22  000 

36,6« 
88 

W.  F.  völlig  gangränös.  Trübes 
Exsudat 

11 

Neumeister 

48      , 

20000 

38« 
100 

W.  F.  perforiert  und  gangränös. 
2  teilweise  begrenzte,  reichliche 
Eiteransammlungen 

8 

Murcyn 

48      „ 

28000 

38,6« 
116 

W.  F.  perforiert  1  Eßlöffel  trüb- 
eiterige Flüssigkeit 

16 

Hamann 

3  Tage 

26000 

37,5 
72 

W.  F.  in  der  Kuppe  gangränös. 
1  Eßlöffel  trüb-eiteriges  Exsudat 

15 

Sprengel 

3      « 

25000 

38« 
100 

W.  F.  perforiert  Etwas  trübes 
Exsudat 

17 

Richter 

3      . 

28000 

38,4« 
132 

W.  F.  gangränös  und  perforiert 
Freier  Kotstein.  2  Eßl.  dicken 
Eiters  unter  der  Leber.  ReicMcb 
trübes  Exsudat 

14 

Rittich 

3      . 

19000 

38,4« 

W.  F.  total  nekrotisch.  2  Eßlöffel 
trübes  Exsudat 

Aus  einer  Durchsicht  dieser  Tabelle  geht  hervor,  daß  die  Tempe- 
ratur und  die  Pulsfrequenz  durchaus  schwankend  waren,  und  daß  selbst 


Ueber  Perityphlitis.  241 

bei  dem  schwersten  Befund  ganz  normale  Zahlen  konstatiert  wurden. 
Wir  müssen  demnach  im  Beginn  der  Erkrankung  dem  Befund  einer 
normalen  Temperatur  und  eines  niedrigen  Pulses  ausschlaggebende 
Bedeutung  in  Hinsicht  des  Fehlens  von  Eiter  absprechen.  Es  kann 
nicht  oft  und  nachdrücklich  genug  darauf  hingewiesen  werden,  daß  bei 
völlig  normalem  Puls  und  Temperatur  die  schwersten  Veränderungen 
angetroffen  werden  können.  Aus  dieser  Tabelle  geht  aber  des  weiteren 
hervor,  daß  nahezu  in  allen  Fällen,  entsprechend  ihrer  Schwere,  eine 
hohe  Leukocytose  von  20000  und  darüber  vorhanden  war.  Noch 
detailliertere  Zahlenangaben  zu  geben,  halten  wir  für  zwecklos.  Da  wir 
dieses  Verhältnis  als  das  unseren  Anschauungen  entsprechende  be- 
trachten, so  hätten  wir  dieser  Tatsache  nichts  weiter  hinzuzufügen, 
wenn  nicht  Ausnahmen  von  dieser  Regel  vorkämen.  Gerade  auf  diese 
Ausnahmen  will  ich,  weil  ihre  Kenntnis  eine  sehr  wichtige  ist,  be- 
sonders eingehen. 

Betrachten  wir  die  Zahl  20000  als  eine  hohe  und  dem  schweren 
Prozeß  gemäße,  so  finden  sich  in  obiger  Tabelle  3  Fälle,  bei  denen  eine 
verhältnismäßig  niedrige  Leukocytenzalil  festgestellt  wurde  (Fall  1, 10,  9). 

In  diesen  Fällen  kontrastierte  die  niedrige  Leukocytenzahl  auf- 
£Edlend  mit  den  schweren  übrigen  Allgemeinerscheinungen.  Es  fand 
sich  ein  so  deutlicher  in  die  Augen  springender  Kontrast,  daß  er  kaum 
übersehen  werden  konnte.  Und  durch  diese  Kombination  erhält  die 
niedrige  Leukocytenzahl  ihr  besonderes  und,  wie  wir  gleich  hinzufügen, 
prognostisch  ungünstiges  Gepräge. 

Es  ist  gar  nicht  möglich,  auch  ohne  Leukocytenzählung  nicht  auf 
den  ersten  Blick  die  Schwere  dieser  Fälle  zu  erkennen.  In  solchen 
Fällen  wird  sich  kein  Arzt  in  der  Diagnose  einer  schweren  Affektion 
durch  eine  niedrige  Leukocytenzahl  beirren  lassen ;  das  große  Interesse 
und  die  außerordentliche  Wichtigkeit  liegen  in  prognostischer  Hinsicht. 
Die  niedrige  Leukocytenzahl  gab  im  Vergleich  mit  den  sehr  schweren 
Allgemeinsymptomen  uns  eine  Handhabe,  den  Zustand  als  einen  sehr 
ernsten  richtig  zu  beurteilen.  Von  den  3  Fällen  ist  der  eine  Fall 
mit  15000  Leukocyten  trotz   sehr   frühzeitiger  Operation   gestorben  0. 

Ich  teile  den  Fall  hier  kurz  mit,  weil  er  wegen  der  gleichzeitig 
bestehenden  Gravidität  im  5.  Monat  von  besonderem  Interesse  ist. 

Fall  1.  F  r  a  u  S  a  1 0  m  0  n ,  32  J.  alt.  Erkrankt  am  23.  Nov.  Operiert  am 
selben  Tage,  8  Standen  nach  Beginn  des  Anfalls.   Gestorben  am  29.  Nov.  1903. 

Die  Pat.  befindet  sich  wegen  Rheumatismus  auf  der  inneren  Abteilung, 
ist  im  5.  Monat  gravide.     Sie  erkrankt  mitten  im  Wohlbefinden  nachmittags 

1)  Diesen  Fällen  möchte  ich  noch  einen  Fall  aus  der  Privatpraxis 
von  Oeheimrat  Sonnbnbüro  an  die  Seite  stelleo,  wo  er  kürzlich  mit  un- 
günstigem Erfolg  bei  einer  Leukocytose  von  16000  und  schweren  All- 
gemeinerscheinungen am  1.  Tage  die  Laparotomie  machte.  Es  fand  sich 
eine  ausgedehnte  eiterige  Peritonitis.     Exitus  am  nächsten  Tage. 

mtWl.  a.  d.  OTMogriiletm  d.  MadWa  a.  Ghirorfi«.    im.  Bd.  16 


242  A.  Pedermann, 

um  3  Uhr  mit  einem  heftigen  Schmerz  in  der  Ileocökalgegend.  Tempe- 
ratur normal.  Puls  100.  Im  Laufe  des  Nachmittags  nahmen  die  Schmerzen 
sehr  zu.  Abends  8  Uhr  besteht  39,4  Temperatur,  112  Pulse  und  15  000 
Leukocyten.  Die  Pat  macht  einen  schwerkranken  Eindruck.  Das  Ab- 
domen, der  Gravidität  entsprechend,  stark  ausgedehnt,  überall  empfindlich. 

In  der  Annahme  einer  schweren  Gangrän  des  W.-F.  wird  abends 
9  Uhr  operiert  (Hbrmbs). 

Operation.  Typischer  Flankenschnitt.  Bauchdecken  auüerordentlich 
schlaff  und  dünn.  Muskulatur  kaum  vorhanden.  Starke  seröse  Durch- 
tränkung der  Gewebe.  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums  entleert  sich  ca. 
ein  Eßlöffel  dünneiterigen,  geruchlosen  Exsudats.  Nach  Erweiterung  des 
Schnittes  stellt  sich  ein  hochbläul ichrot  gefärbtes  Organ  ein,  welches  im 
ersten  Augenblick  den  Eindruck  der  Kuppe  des  stark  geschwollenen  und 
veränderten  W.-E.  macht.  Bei  vorsichtiger  Lösung  desselben  mit  den 
Fingern  entleert  sich  von  neuem  etwas  dicker,  aber  geruchloser  Eiter. 
Nach  Lösung  ganz  zarter  Adhäsionen  mit  der  Umgebung  erweist  sich  das- 
selbe als  das  stark  geschwollene,  bläulichrot  verfärbte  Ovarium.  In  der 
Annahme,  daß  möglicherweise  von  einem  ovariellen  Absceß  die  Eiterung 
ausgegangen  sein  könnte,  wird  das  Ovarium  mit  der  Tube,  die  anscheinend 
nicht  verändert  ist,  abgetragen.  Die  Gewebe  sind  außerordentlich  hoch- 
gradig geschwollen,  starke  Gefäßentwickelung,  entsprechend  der  Schwanger- 
schaft. Beim  Austasten  der  freigelegten  Wunde  fühlt  man  jetzt  bis  zu 
der  Stelle,  an  der  das  Ovarium  gelegen  hatte,  herabreichend,  die  Kuppe 
eines  länglichen  Organes,  welches  in  der  Richtung  nach  oben  seine  Fort- 
setzung nimmt.  Schon  bei  den  ersten  Palpationsversuchen  kommt  sofort 
der  deutliche  Geruch  des  appendicitischen  Eiters  zur  Wahrnehmung.  Der 
Proc.  vermif.,  um  den  es  sich  handelt,  wird  aus  seinen  Verwachsungen, 
die  hauptsächlich  sich  nach  der  medialen  Seite  zu  erstrecken,  stumpf  ge- 
löst und  vorgezogen.  Er  zeigt  schon  äußerlich  eine  Perforationsstelle  und 
Gangrän.  Abbindung  des  außerordentlich  verdickten  Mesenteriolum.  Ab- 
bindung von  Goecum.  Mehrfache  Uebernähung  durch  die  stark  ödematöse 
Cökalwand.  Die  Nahtlinie  wird  noch  durch  darüber  gelegtes  Netz  ge- 
schützt. Nach  sorgfältiger  Freilegung  der  Wunde  wird  dieselbe  durch 
breite,  ergiebige  Schürzentamponade  versorgt. 

Verlauf.  Am  nächsten  Tage  Abort.  Die  Placenta  muß  manuell 
entfernt  werden.  Nach  anfänglichem  günstigen  Verlauf  ging  die  Frau 
6  Tage  nach  der  Operation  an  fortschreitender  Peritonitis  zu  Grunde. 
Die  Leukocytenzahl  stieg  bis  zum  Tode  dauernd  an. 

Wir  sind  der  Meinung,  daß  bei  dem  endgültigen  Ausgang  die 
durch  das  Zusammensinken  des  graviden  Uterus  veränderten  Druck- 
verhältnisse im  Abdomen  eine  wichtige  Rolle  spielten,  da  dadurch  einer 
Verbreitung  der  Peritonitis  Vorschub  geleistet  wurde.  Ich  lasse  die 
Kurve  des  Falles  auf  der  nächsten  Seite  folgen. 

In  den  beiden  anderen  Fällen  (Fall  9  und  10)  kam  es 
trotz  niedriger  Leukocytenzahl  zur  Heilung.  Im  Fall  Würfel 
ist  der  postoperative  Verlauf  von  großem  Interesse.  Die  Leukocytose  von 
12000,  die  vor  dem  Eingriff  bestand,  blieb  auch  in  den  nächsten  Tagen 
nach  der  Operation  dauernd  bestehen.  Ein  sich  bildender  Douglasabsceß 
dokumentierte  sich  weder  im  Verhalten  der  Temperatur  noch  in  dem  der 
Leukocytose.   Wir  nehmen  an,  daß  bereits  bei  dem  ersten  Eingriff  ein  viel 


Ueber  Perityphlitis.  243 

Anmerkung:   In  allen  folgenden  Kuiren  bedeutet  o^^-»o  Leukocytenzahli 
— •  Temperatur,  © «  Puls. 


LeukZcM 

Tem/t 

Puls 

1 

ffOOOO 

l| 

35000 

«' 

160 

30000 

♦/' 

no 

•^    1. 

\ 

J 

'S 

^ 

X5000 

w' 

120 

r 

\ 

/ 

WOOO 

39" 

100 

.,'' 

>4 

15000 

38" 

80 

X 

/^ 

^1 ».*-- 

(^ 

10000 

37" 

60 

^^^^ 

^ 

^s/ 

^ 

^ 

5000 

36" 

W 

8S£. 

Z 

3 

4f 

5 

6 

7 

Fall  Salomon.     Operiert  nach  8  Stunden.    Gravide  im  5.  Monate.     Freier 
Eiter.    W.-F.  gangrande.    Abort.    Exitus. 

leicht  eiteriges  Exsudat  im  Douglas  vorhanden  war,  das  sich  später 
lediglich  begrenzte,  nicht  fortschritt.  Hätte  man  mit  der  Incision  noch 
einige  Tage  gewartet,  so  wäre  wahrscheinlich  die  Leukocytose  höher 
gestiegen.    Ich  lasse  die  sehr  interessante  Kurve  folgen: 


leukZeJd 

TentfiL 

fUls 

1 

^tOOOO 

s 

1 

s. 

35000 

«' 

160 

-1 

1 

1 

-hl 

30000 

♦/" 

no 

;§ 

1 

s. 

Z5000 

*o" 

120 

1 

^ 

WOOO 

39" 

100 

^ 

1 

15000 

38" 

80 

M. 

■o...^ 

"•-->«. 

o-.-.. 

10000 

31" 

60 

A 

^ 

A 

:^ 

J\ 

A 

A 

^ 

gj^ 

^ 

5000 

36" 

W 

r" 

7^ 

tT" 

T^ 

^fi.n 

^ 

30St 

3 

¥ 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

//- 

Fall  Würfel.    Gangränöses  Empyem.    Douglasabsceß.    Hdlung. 

Wir  ersehen  aus  diesen  3  Fällen,  daß  eine  niedrige 
Leukocytose  in  den  ersten  2  Tagen  uns  nicht  abhalten 
darf,  mit  dem  Messer  einzugreifen,  da  ein  glücklicher 
Ausgang  trotz  des  Darniederliegens  der  Reaktion  mög- 
lich ist.  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  daß  schon  am  3.  und  4.  Tage 
oder  noch  später  eine  niedrige  Leukocytose  bei  schweren  Allgemein- 
symptomen durch  eine  Operation  nicht  in  günstigem  Sinne  beeinflußt 
wird.  Ich  komme  darauf  im  dritten  Abschnitte  dieser  Arbeit  aus- 
führlich zu  sprechen. 

Fassen  wir  das  Resultat  unserer  Beobachtungen  zusammen,  so 
können  wir  über  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Leukocytenzählung 

16* 


244  A.  Federmann, 

in  den  allerersten  Stadien  der  Perityphlitis  folgendes  aus- 
sagen : 

Jede  Perityphlitis,  bei  der,  sei  es  durch  Gangrän  oder  durch 
Perforation,  eine  intensive  resp.  eiterige  Infektion  des  Peritoneums 
stattfindet,  zeigt  eine  hohe  Leukocytose  von  20000  und  darüber  in  den 
ersten  Tagen  der  Erkrankung.  Diese  hohe  Leukocytose  als  Ausdruck 
der  diffusen  Peritonealinfektion  ist  meist  am  1.  Tage  schon  vorhanden 
und  bleibt  dann  in  den  ersten  2 — 3  Tagen  bestehen  oder  sie  steigt 
sogar  noch  höher.  Tritt  durch  Allgemeinvergiftung  ein  Nachlassen  der 
Kräfte  des  Organismus  ein,  so  sinkt,  im  Gegensatze  zu  der  Schwere 
aller  übrigen  Symptome,  die  Leukocytose  ab.  Je  schwerer  der  Prozeß 
ist,  desto  früher  beginnt  dieser  Abfall.  Setzt  der  Anfall  mehr  all- 
mählich ein,  so  kann  es  vorkommen,  daß  erst  am  2.  oder  3.  Tage  eine 
hohe  Leukocytenzahl  konstatiert  wird.  Im  allgemeinen  kann  man 
also  behaupten,  daß  eine  Leukocytose  über  20000  am  1., 
vor  allem  aber  am  2.  und  3.  Tage  eine  spätere  Abscedie- 
rung  voraussagen  läßt  und  insofern  eine  schwere  Infek- 
tion bedeutet  Eine  Appendicitis  simplex  mit  kaum  vorhandener  oder 
fehlender  Beteiligung  des  Peritoneums  pflegt  in  der  Regel  am  1.  Tage  eine 
Leukocytenzahl  unter  20000  aufzuweisen,  die  in  den  nächsten  beiden  Tagen 
parallel  den  übrigen  klinischen  Symptomen  deutlich  zurückgeht.  Aus- 
nahmsweise wird  auch  bei  einer  Appendicitis  simplex  in  den  ersten 
24  Stunden  eine  Leukocytose  von  20000  und  darüber  konstatiert,  dann 
handelt  es  sich  gewöhnlich  um  Empyem  des  Wurmfortsatzes. 

Einen  differentialdiagnostischen  Wert  im  Beginne  der 
Erkrankung  besitzt  die  Leukocytenuntersuchung  nur  in  geringem  Maße. 
Auch  andere  peritoneale,  besonders  gynäkologische  Aflfektionen,  um  deren 
Unterscheidung  es  sich  im  wesentlichen  handelt,  gehen  gleichfalls  in  den 
ersten  Tagen  sehr  häufig  mit  hohen  Leukocytenzahlen  einher^). 

Die  Indikation  zur  Frühoperation  wird  durch  das 
Verhalten  der  Leukocyten  allein  niemals  gegeben.  Eine 
unterstützende  Bedeutung  ist  ihr  jedoch  nicht  abzusprechen.  Die  aller- 
größte Vorsicht  bei  der  Beurteilung  der  Leukocytenzahl  ist  besonders 
in  den  ersten  24  Stunden  anzuwenden.  Finden  wir  in  den  ersten 
3  Tagen  der  Erkrankung  bei  schweren  klinischen  Symptomen  eine 
Leukocytenzahl  von  20000  und  darüber,  so  ist  eine  Operation  unter  allen 
Umständen  berechtigt;  denn  es  ist  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  anzu- 
nehmen, daß  eine  schwere  Infektion  vorliegt.  Ob  der  Prozeß  ohne 
operativen  Eingriff  zur  Begrenzung  kommt  oder  nicht,  kann  eine  ein- 


1)  Ich  verweise,  was  die  Differentialdiagnose  anbetrifft,  auf  die  Aus- 
führungen in  meiner  ersten  Arbeit.  Zahreiohe  Beispiele  beweisen,  daß 
gerade  gynäkologische  Erkrankungen  in  den  Frühstadien  sich  kaum  leuko- 
cytotisch  von  einer  Perityphlitis  unterscheiden. 


Ueber  Perityphlitie.  245 

einmalige  LeukocjteDzählung  nicht  entscheiden.  Dazu  bedürfte  es  einer 
mehrtägigen  Untersuchung.  Daß  in  der  Tat  eine  selbst  mehrere  Tage 
anhaltende  hohe  Leukocytose  eine  spätere  vollkommene  Begrenzung 
und  Resorption  nicht  ausschließt,  dafQr  m5gen  zum  Beweise  die  mannig- 
fachen Beobachtungen  im  nächsten  Kapitel  dienen.  In  einer  großen  Zahl 
dieser  Fälle  war  im  Beginne  eine  zum  Teil  sehr  hohe  Leukocytose  fest- 
gestellt worden,  und  trotzdem  kam  es  zur  Ausbildung  eines  gut  be- 
grenzten Abscesses,  der  sich  teilweise  sogar  völlig  resorbierte,  so  daß 
im  Intervall  operiert  werden  konnte.  Findet  sich  in  den  ersten 
2  Tagen  der  Erkrankung  eine  niedrige  Leukocytenzahl  bei 
schweren  klinischen  Symptomen,  so  ist  unter  allen  Um- 
ständen sofortige  Operation  indiciert,  weU,  wenngleich  die 
Prognose  eine  zweifelhafte  ist,  ein  günstiger  Ausgang  nur  durch  eine  Ope- 
ration zu  erwarten  ist.  Findet  man  in  den  ersten  Tagen  der  Erkrankung 
leichte  klinische  Symptome  und  eine  Leukocytose  unter  20000,  so  han- 
delt es  sich  um  eine  einfache  Appendicitis  und  ist  abwartende  Behand- 
lung angezeigt. 

In  prognostischer  Hinsicht  ist  eine  hohe  Leukocytenzahl 
in  den  ersten  Tagen  der  Erkrankung  ein  günstiges  Zeichen.  Schwere 
klinische  Symptome  und  niedrige  oder  fehlende  Leukocytose  geben  eine 
ungünstige  Prognose. 

Im  großen  ganzen  geht  aus  dieser  Zusammenstellung 
hervor,  daß  der  Wert  der  Leukocytenzählung  in  den 
Frühstadien  der  Perityphlitis  ein  geringer  ist. 

II. 
ClrkiimBkrlpte  eiterige  Peritonitis  mit  TOlllger  Abkapselung. 

Perityphlitischer  Absceß.     Appendicitis  perforativa  nach  Sonnenbürg. 

Die  eitrige  Peritonitis  mit  vollkommener  Abkapselung  umfaßt  alle 
die  Fälle,  bei  denen  entweder  von  vornherein  die  Infektion  in  einen 
begrenzten  Raum  hinein  erfolgt,  oder  die  erst  freie  Entzündung  im 
weiteren  Verlauf  zu  einer  begrenzten  wird. 

In  den  leichteren  Fällen  von  Perforation,  wo  derselben  bereits  einige 
Zeit  vorher  Beschwerden  vorangegangen  sind,  meinen  wir,  daß  durch 
Durch  Wanderung  durch  die  durchlässige  Wand  des  Appendix  eine  In- 
fektion in  der  nächsten  Umgebung  des  Wurmfortsatzes  eintreten  kann. 
Der  Effekt  dieser  Kontinuitätsinfektion  besteht  in  einer  leichten  sero- 
fibrinösen  reaktiven  Ausschwitzung  und  Durchtränkung  des  umgebenden 
Peritoneums,  wodurch  auch  eine  leichte  Verklebung  des  benachbarten 
Peritonealraumes  herbeigeführt  wird.  Hierdurch  kann,  wenn  nur  spär- 
liches und  wenig  virulentes  Material  allmählich  austritt,  eine  Infektion 
des  übrigen  Bauchraumes  vermieden  werden.  Das  klinische  Bild  ist  in 
solchen  Fällen  kein  besonders  stürmisches.  Erst  der  Eintritt  der  wirk- 
lichen Perforation  pflegt  heftigere  Erscheinungen  zu  machen.    Auch  die 


246  A.  Federmann, 

Leukocytose  ist  in  solchen  Fällen  in  den  ersten  24 — ^48  Stunden  eine  re- 
lativ niedrige  und  beginnt  erst  vom  3.  Tage  an  sich  zu  hohen  Werten  über 
20000  zu  erheben,  um  dann  einen  Verlauf  zu  nehmen,  wie  wir  ihn  weiter 
unten  ausführlich  schildern  werden.  Ich  habe  diese  Entstehungsweise, 
obgleich  ich  sie  für  nicht  besonders  häufig  halte,  hier  erwähnt,  weil  sie 
von  interner  Seite  als  häufig  angenommen  wird  (Cürsghmann). 

Ich  bin  der  Meinung,  daß  in  den  meisten  schwereren  Fällen  von  Peri- 
typhlitis erst  eine  diffuse  Entzündung  vorhanden  ist,  die  später  in- 
folge fibrinöser  Verklebung  zu  einer  begrenzten  wird.  Wie  groß  der 
Abschnitt  der  Bauchhöhle  ist,  der  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird,  hängt 
von  der  Schwere  der  Infektion,  von  der  Peristaltik  und  von  der  Loka- 
lisation des  Appendix  ab.  Da  die  Entzündung  in  der  Nähe  des  Wurm- 
fortsatzes am  intensivsten  ist,  so  kommt  es  nur  dort  zur  Bildung  eines 
eiterigen  Exsudats,  während  je  weiter  entfernt  davon,  das  Exsudat  um 
so  klarer  sein  wird.  Der  klinische  Verlauf  entspricht  in  derartigen 
Fällen  durchaus  unseren  anatomischen  Vorstellungen  und  liefert  dadurch 
eine  wesentliche  Stütze  für  unsere  pathologisch-anatomische  Anschauung. 
Diese  Fälle  beginnen  mit  shockartigen  Erscheinungen,  hoher  Temperatur, 
hoher  Pulszahl,  hoher  Leukocytose,  als  Ausdruck  der  diffusen  Infektion 
eines  großen  Peritonealabschnittes.  In  den  mittelschweren  Fällen  pflegt 
diese  Allgemeinentzündung  nach  3—5  Tagen  in  eine  begrenzte  über- 
zugehen. An  Stelle  des  Allgemeinmeteorismus  tritt  jetzt  eine  deutliche 
gedämpfte  Resistenz  in  der  Ileocökalgegend ;  gleichzeitig  sind  auch  oft 
Puls,  Temperatur,  vor  allem  die  Leukocytenzahl,  nahezu  oder  völlig  bis 
zur  Norm  herunter  gegangen. 

Ich  habe  diese  beiden  Entstehungsarten  ausführlicher  geschildert,  weil 
ich  die  Kenntnis  dieser  Vorgänge  für  sehr  wichtig  halte  und  weil  sie  uns 
auch  den  Schlüssel  zum  Verständnis  des  Verhaltens  der  Leukocyten  geben. 
Ich  komme  nun  in  folgenden  nicht  mehr  auf  diese  Frühstadien  zurück, 
sondern  werde  mich  im  Weiteren  nur  noch  mit  den  späteren  Stadien 
der  begrenzten  eiterigen  Peritonitis  beschäftigen.  Wir  werden  hierbei  er- 
kennen, daß  die  Bedeutung  und  der  Wert  der  Leukocyten- 
zählung  um  so  mehr  steigt,  je  weiter  entfernt  vom  Be- 
ginn der  Erkrankung  der  Prozeß  sich  befindet  Wir  sind 
dann  auch  nicht  mehr  genötigt,  auf  eine  einmalige  Zählung  hin  unsere 
Entscheidung  zu  treffen,  sondern  wir  können  mit  Ruhe  das  Steigen  und 
Fallen  der  Leukocytose,  also  die  Leukocytenkurve,  beobachten,  um  da- 
nach den  operativen  Eingriff  einzurichten.  Allerdings  muß  zugestanden 
werden,  daß  die  Notwendigkeit  einer  Leukocytenzählung  in  diesen  Spät- 
stadien erheblich  seltener  vorhanden  ist,  als  am  Beginn  der  Erkrankung, 
da  wir  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  bereits  durch  unsere  bisherigen 
Untersuchungsmethoden  im  stände  sind,  eine  richtige  Diagnose  zu  stellen. 
Immerhin  kommen  noch  genug  Fälle  zur  Beobachtung,  wo  bei  schwan- 
kendem  klinischen  Bild   ein    weiteres  Hilfsmittel   sehr   erwünscht  ist. 


lieber  Perityphlitis. 


247 


Ich  muß  es  mir  versagen,  auf  alle  die  vielen  praktisch  wichtigen 
Kombinationen,  die  wir  beobachtet  haben,  hier  einzugehen,  da  es  den 
Bahmen  dieser  Arbeit  bei  weitem  überschreiten  würde.  Ich  hoffe  jedoch, 
daß  aus  den  folgenden  Mitteilungen  der  verschiedenen  Verlaufsarten 
der  eiterigen  Perityphlitis  sich  die  praktisch  wichtigen  Gesichtspunkte 
von  selbst  ergeben  werden. 

Gehen  wir  auf  unser  eigentliches  Thema,  das  Verhalten  der  Leuko- 
cytose,  ein,  so  läßt  sich  ganz  allgemein  sagen,  daß  es  zwei  Verlaufs- 
typen einer  begrenzten  eiterigen  Perityphlitis  gibt,  die  zwar  im  Einzelnen 
verschiedene  Abweichungen  darbieten  können,  im  großen  ganzen  jedoch 
einen  typischen  Verlauf  beibehalten.  Diese  beiden  großen  Typen  möchte 
ich  als  absteigenden  und  aufsteigenden  Typus   bezeichnen. 

A.    Absteigender  Typus. 

Die  Fälle  mit  absteigendem  Typus,  bei  denen  es  mit  einer  ein- 
maligen Infektion  ohne  weitere  Nachschübe  abgetan  ist, 
verlaufen  in  der  Weise,  daß  die  anfänglich  mehr  oder  minder  hohe 
Leukocytose  entweder  schon  am  3.  oder  4.  Krankheitstage,  oder  einige 
Tage  später  zur  Norm  absinkt,  um  nun  dauernd  auf  diesem  tiefen 
Niveau  zu  verharren. 

Ich  verfüge  über  zwei  sehr  instruktive  Beobachtungen,  bei  denen 
es  sich  mit  Sicherheit  um  eine  Perforation  und  eiterigem  Exsudat  ge- 
handelt hat.  Erwähnenswert  ist  in  diesen  beiden  Fällen,  die  am  2. 
und  3.  Krankheitstag  in  Beobachtung  kamen,  der  sehr  bedrohliche  All- 
gemeinzustand und  im  Gegensatz  dazu  die  verhältnismäßig  niedrige 
Leukocytose  von  18000.  In  beiden  Fällen  war  eine  Temperatur  von 
39,2^  und  ein  Puls  von  120  (156)  vorhanden,  vereint  mit  einer 
hochgradigen  Empfindlichkeit  der  Ileocökalgegend.     In  beiden   Fällen 


Kurve 

Dobbeling 

Kurve  Zetssin. 

LeukZahl 

Jen^t 

IhiÜ 

1 

LeulLZahl 

Tempi 

PUls 

\ 

WOOO 

4W00 

35000 

m' 

160 

^ 

V 

35000 

i^Z' 

160 

w 

30000 

*;" 

no 

f 

30000 

♦;" 

no 

\ 

Z5000 

w" 

1ZO 

«^ 

%\ 

15000 

♦ö" 

120 

* 

WOOO 

39' 

100 

;x 

' 

WOOO 

39" 

WO 

h 

^..... 

15000 

38' 

80 

> 

s:> 

'\ 

15O00 

38" 

so 

(K^ 

!^ 

•^-... 

10000 

sr' 

60 

-f^ 

^ 

^ 

^1=^ 

^ 

WOOO 

sr" 

60 

VN 

y 

^ 

P9^ 

5000 

36' 

kO 

31^^ 

5000 

36" 

hO 

<. 

^^ 

z 

3 

4 

5 

6 

r 

KrcuMieUsta^ 

3 

^ 

5^ 

6 

r 

Dobbeling.  Kleinhandtellergroße  Resistenz;  sehr  empfindlich.  Operation  im 
IntervaU.    V,  Teelöffei  Eiter.    Wurmfortsatz  stark  verwachsen. 

Z es 8 in.  Deutliche  Resistenz,  sehr  empfindlich;  Im  IntervaU  operiert  Alte 
Perforationsnarbe. 


248  A.  Federmann, 

fiel  die  Leukocytose  am  nächsten  Tage  zur  Norm  ab,  während  Puls 
und  Temperatur  erst  mehrere  Tage  später  allmählich  heruntergingen. 
Beide  Fälle  konnten  nach  5  Wochen  im  Intervall  operiert  werden,  in 
dem  einen  Fall  (Dobbeling)  fand  sich  der  Wurmfortsatz  in  derbe 
Schwarten  eingehüllt  und  ein  halber  Teelöffel  geruchloser  Eiter.  Im 
zweiten  Fall  (Zessin)  enthielt  der  in  starke  Verwachsungen  eingehüllte 
Wurmfortsatz  eine  Perforationsstelle,  die  fest  mit  der  Cökalwand  verlötet 
war.    Die  Kurven  beider  Fälle  sind  vorstehend  wiedergegeben. 

Es  geht  aus  diesen  beiden  Beobachtungen  hervor,  daß  es  Fälle  eiteriger 
Perityphlitis  gibt,  deren  klinisches  Bild  im  Beginn  zwar  ein  sehr  be- 
drohliches sein  kann,  die  aber  anstandslos  in  Heilung  übergehen.  Die 
vorhandene  Leukocytose  geht  in  solchen  Fällen  am  3.  oder  4.  Tage  zur 
Norm  zurück,  um  dann  dauernd  auf  diesem  Niveau  zu  bleiben.  Wir 
erhalten  also  in  solchen  Fällen  durch  die  relativ  niedrige  Leukocytose 
und  den  schnellen  Bückgang  einen  Hinweis  auf  die  Gutartigkeit  des 
Prozesses. 

Diesen  eben  mitgeteilten  Fällen  steht  eine  andere  Gruppe  gegen- 
über, bei  denen  das  klinische  Bild  im  Beginn  ein  ähnliches  relativ 
schweres  ist,  und  in  denen  gleichfalls  rasch  eine  deutUche  Resistenz 
zur  Ausbildung  kommt.  Aber  diese  Fälle  setzen  gewöhnlich  mit  einer 
hohen  Leukocytose  über  20(XX)  ein,  und  in  dieser  Anfangszahl  ist 
schon  die  größere  Intensität  des  Prozesses  gekennzeichnet.  Noch  mehr 
tritt  diese  hervor,  wenn  man  den  weiteren  Verlauf  der  Kurve  ins  Auge 
faßt.  In  diesen  Fällen  bleibt  nämlich  noch  viele  Tage,  ja  Wochen,  eine 
Leukocytose  zwischen  15  und  20000  konstant  bestehen,  die  dann  erst 
allmählich  zur  Norm  absinkt.  Die  Temperatur  kann  dabei  iängst  normal 
sein.  Trotz  der  lange  bestehenden  Leukocytose  geht  der  Absceß  voll- 
kommen in  Resorption  über,  und  auch  in  diesen  Fällen  finden  wir  bei 
der  Operation  als  Reste  des  vorhanden  gewesenen  Abscesses  häufig 
nur  noch  eine  alte  Perforationsnarbe. 

Ich  verfüge  über  6  reine  Fälle  dieser  Art,  wo  mehrere  Wochen 
eine  Leukocytose  bis  zu  20000  bestehen  blieb.  In  allen  war  ein  deut- 
licher Tumor  vorhanden  gewesen,  in  dem  einen  Falle  gingen  Eitermengen 
per  rectum  ab,  in  einem  zweiten  wurde  der  Eiter  durch  Punktion  nach- 
gewiesen. Es  ergeben  diese  Beobachtungen,  daß  selbst 
längere  Zeit  konstatierte  hohe  Leukocytenzahlen  eine 
Resorption  nicht  ausschließen  und  somit  eine  Indikation 
zum  operativen  Eingriff  nicht  ergeben^). 

B.  Aufsteigender  Typus. 
Der  aufsteigende  Typus  einer  Perityphlitiskurve  unterscheidet  sich 
von  dem  eben  beschriebenen  absteigenden  Typus  dadurch,  daß  die  nach 

1)  Es  ist  überflüssig,  Kurven  oder  Krankengeschichten  solcher  Fälle 
wiederzugeben,  da  ihr  Verlauf  nach  obiger  Schilderung  klar  ist. 


üeber  Perityphlitis.  249 

einigen  Tagen  nahezu  oder  völlig  zur  Norm  abgefallene  Temperatur,  nach 
verschieden  langer  Dauer  nun  aufs  neue  deutlich  ansteigt.  Dieser  er* 
neute  Anstieg,  der  in  der  Regel  alle  Symptome  gleichmäßig  betrifft, 
kann  ein  bald  langsamer  bald  plötzlicher  sein.  Er  kann  eine  gewisse 
Höhe  erreichen,  entweder  um  längere  Zeit  auf  diesem  Niveau  zu  ver- 
harren oder  aufs  neue  zur  Norm  abzusinken.  Andererseits  jedoch  kann, 
besonders  in  solchen  Fällen,  wo  ein  rapider  Anstieg  manchmal  im  Ver- 
lauf von  24  Stunden  erfolgt,  die  Leukocytose  immer  weiter  steigen,  bis 
der  Exitus  eintritt. 

Anatomisch  ist  der  Vorgang  bei  einer  aufsteigenden  Perityphlitis- 
kurve  folgender:  Setzt  die  Erkrankung  mit  stürmischen  Erscheinungen 
und  demgemäß  hohen  Leukocytenzahlen  ein,  die  in  der  Mitte  der  ersten 
Woche  zur  Norm  zurückgehen,  um  dann  allmählich  wieder  anzusteigen, 
so  handelt  es  sich  anatomisch  erst  um  eine  diffuse  Bauchfellinfektion, 
die  in  einigen  Tagen  in  eine  begrenzte,  lokale  übergegangen  ist  Dieser 
Zeitpunkt  dürfte  dem  Tiefstand  aller  Reaktionen  entsprechen.  Um  diese 
Zeit  würden  wir  bei  der  Operation  sicherlich  ein  locker  begrenztes, 
eiteriges  Exsudat  antreffen.  Klinisch  ist  um  diese  Zeit  meist  ein  deut- 
licher Tumor  nachweisbar.  Der  erneute  Anstieg  ist  dann  der  Ausdruck 
der  Propagation  der  abgekapselten  Peritonitis. 

Gewöhnlich  kommt  das  Wachsen  eines  perityphlitischen  Eiterherdes 
in  der  Weise  zustande,  daß  durchwandernde  Bakterien  in  der  Peripherie 
des  Abscesses  neue  Verklebungen  hervorrufen,  während  an  der  Innen- 
seite die  Wand  eingeschmolzen  wird.  Bei  dieser  Art  einer  relativ 
langsamen  Propagation  pflegt  die  Leukocytose  auch  langsam  anzu- 
steigen, manchmal  aber  doch  bis  zu  recht  hohen  Werten,  die  30000  sogar 
überschreiten  können.  Erwähnenswert  ist  in  solchen  Fällen,  daß  die 
Temperaturkurve  häufig  nicht  einen  gleichen  Anstieg  erkennen  läßt, 
sondern  entweder  sich  auf  einer  konstanten  mäßigen  Höhe  um  37,5 
hält  oder  aber  einen  leicht  remittierenden  Typus  zwischen  37  ®  und  38  ^ 
annimmt.  Es  ist  in  solchen  Fällen  bei  einer  dem  Nachweis  ungünstigen 
Lokalisation  des  Abscesses  das  Vorhandensein  einer  ansteigenden 
Leukocytose  besonders  wertvoll,  vor  allem  aber  hat  sich  uns  bei  post- 
operativen sekundären  Abscedierungen  die  Leukocytenuntersuchung  sehr 
häufig  bewährt,  da  gerade  unter  diesen  Verhältnissen  die  Temperatur- 
erhöhung oft  viel  später  sich  geltend  macht  oder  völlig  ausbleibt.  Ich 
denke  hier  vor  allem  an  die  vielen  sekundären  intraperitonealen  und 
subphrenischen  Abscesse. 

Neben  dem  eben  erwähnten  allmählichen  Anstieg  giebt  es  jedoch 
auch  Fälle  wo  innerhalb  24—48  Stunden  ein  rapides  Indiehöheschnellen 
der  Leukocytenkurve  oft  um  20000  erfolgt  Dann  pflegt  auch  niemals 
ein  rasches  Ansteigen  der  Temperatur  und  Pulskurve  zu  fehlen.  Ana- 
tomisch entspricht  diese  plötzliche  Progression  oft  einem  Durchbruch 
in  das  retroperitoneale  Gewebe  oder  einem  plötzlichen,  heftigen  Nach- 


250 


A.  Federmann, 


Schub.  Ein  baldiger  Eingriff  ist  in  solchen  Fällen  indiziert,  während 
beim  langsamen  Ansteigen  der  Kurve  einem  ein-  bis  mehrtägigen  Ab- 
warten keine  Bedenken  entgegenstehen,  da  hierbei  der  Prozeß  spontan 
aufs  neue  zur  Begrenzung,  ja  sogar  zur  Resorption  kommen  kann. 

Ich  habe  mich  bemüht,  hiermit  ein  Bild  des  aufsteigenden  Leuko- 
cytentypus  zu  entwerfen  und  werde  nun  im  Folgenden  erst  einige  vom 
Anfang  der  Erkrankung  bis  zur  völligen  Heilung  beobachtete  Fälle 
zusammen  mit  ihren  Kurven  wiedergeben,  um  dadurch  meine  eben 
gemachten  Angaben   zu  illustrieren. 

Im  Weiteren  wird  es  jedoch  meine  Aufgabe  sein,  ausführlich  auf 
die  einzelnen  Stadien  einer  derartigen  Kurve  besonders  mit  Rücksicht 
auf  praktische  Zwecke  näher  einzugehen,  da  es  ja  nur  selten  möglich 
sein  wird,  die  gesamte  Kurve  an  einem  Fall  zu  beobachten,  vielmehr 
man  häufig  in  irgend  einem  Stadium  der  Entwickelung  den  Fall  erst  in 
Behandlung  bekommt.  Durch  die  Kenntnis  eines  gesetzmäßigen  Verlaufs 
der  Kurve  sind  wii*  aber  dann  im  Stande,  den  Blutbefund  in  jedem 
Zeitpunkt  richtig  zu  bewerten. 

Es  ist  natürlich  nicht  angängig,  sämtliche  Krankengeschichten  hier 
mitzuteilen;  ich  beschränke  mich  darauf,  einzelne  besonders  typische 
Fälle  herauszugreifen. 

Es  mögen  erst  3  Fälle  hier  mitgeteilt  werden,  wo  unter  unseren 
Augen  ein  rapider  Anstieg  sich  entwickelte: 

1.  Fall.  Neymög.  21  J.,  operiert  am  6.  Krankheitstage. 
Heilung.  Der  Anfall  begann  plötzlich  unter  heftigen  Erscheinungen.  In 
den  nächsten  Tagen  Rückgang  aller  Symptome,  nahezu  bis  zur  Norm.  Am 
5.  Tage  besteht  ein  htihnereigroßer,  wenig  empfindlicher  Tumor  rechts  unten 
und  10000  Leukocyten.  In  den  nächsten  48  Stunden  erfolgt  ein  rapider 
Anstieg  aller  Symptome,  Leukocytenzahl  35  000.  Die  Operation  ergibt  einen 
hühnereigroßen  Absceß,  der  locker  begrenzt  ist  und  einen  Durchbruch  in 
das  retrocökale  Gewebe  aufweist  Der  Wurmfortsatz  ist  gangränös  und 
perforiert.  Freie  Kotsteine.  Resektion.  Tamponade.  Nach  der  Operation 
rascher  Abfall  der  Leukocytenzahl. 


UukZcM 

Ttn^ 

RUs 

BBi^a 

1 

*C000 

t 

35000 

uz' 

160 

s 

s 

30000 

*l' 

no 

^ 

Ä 

X5000 

*o' 

1ZO 

s 

^ 

"1 

A 

WOOO 

39' 

100 

N 

«^ 

i  \ 

15000 

38' 

so 

v<\ 

X^ 

\ 

'rr'if\ 

'  A 

0\ 

« 

10000 

St' 

60 

^ 

z 

V^ 

>^ 

^ 

5000 

36' 

¥) 

T — 

T*— 

^'^ 

z 

3 

-f 

5 

6 

7 

8 

9 

Ueber  Perityphlitis. 


251 


2.  Fall.  Adomeit. 


16Jahrealt,operiert    ^^^ 


am  7.  Krankheits- 
tage.    Heilung. 

Plötzlicher  Beginn  der 

Erkrankung.  Bei  der 
AuAiahme  diffuse 

Bauchdeckenspannun  g. 

Resistenz  nirgends  nach- 
weisbar. Am  5.  Tage 
16  000  Leukocyten. 

Deutlicher  Tumor  rechts 

unten.    In  den  nächsten 

2  Tagen  steigt  die  Leu- 

kocytose   rapid   auf   35000,   unter  Verschlechterung   des  Gesamtbefindens. 

Die   Operation   ergibt    einen    bis   an    die   Leber  heranreichenden   Absceß, 

locker  begrenzt.     Tampon  ade.     Heilung. 

3.  FalL  Wenzel.  21  Jahre  alt,  operiert  am  13.  Krankheits- 
tage. Heilung.  Mehr  allmählicher  Beginn.  Bei  der  Aufnahme  am  8.  Krank- 
heitstage undeutliche  Resistenz  rechts  unten  und  15000  Leukocyten.  Am 
11.  Tage  vollkommenes  Wohlbefinden.  Temperatur  und  Leukocyten 
normal.  Deutlicher  Tumor  rechts  unten.  In  den  nächsten  2  Tagen  erfolgt 
unter  Vergrößerung  des  Tumors  ein  Anstieg  der  Temperatur  und  Leuko- 
cytose.  Allgemeinbefinden  gut.  Die  Operation  ergibt  einen  locker  be- 
grenzten Absceß,  nach  oben  gelegen,  mit  1  Eßlöffel  Eiter.  Von  überall 
her,  besonders  aber  aus  dem  kleinen  Becken,  quillt  trüb- seröse  Flüssigkeit 
und  freier  Darm.  Der  Wurmfortsatz  ist  perforiert.  Freier  Kotsein.  Re- 
sektion.    Heilung. 


Tem/k 

Puls 

1 

40000 

■  u 

^ 

35000 

«• 

160 

i 

•s 

SOOOO 

♦/" 

no 

e^ 

Z5000 

M' 

1ZO 

*! 

4 

ftOOOO 

39' 

100 

B 

vO 

t 

k^ 

15000 

38' 

80 

...A 

«^ 

^ 

> 

« 

10000 

St' 

-60 

y^ 

> 

^ 

y^ 

A 

/> 

v: 

v-^ 

^000 

36' 

w 

Z^' 

v* 

Krankheitsta^ 

7 

8 

9 

10 

// 

n 

13 

/f 

15 

1» 

In  diesem  Fall  ist  die  akute  Propagation  deutlich  an  dem  anato- 
mischen Befund,  der  eine  frische  Entzündung  um  den  Absceß  ergab, 
erkenntlich. 


Diesen  beiden  Fällen  eines  rapiden  Anstieges  möchte   ich  einige 
Beobachtungen   einer  mehr  allmählichen  Progression  gegenüberstellen. 

4.  Fall.  Feiler.    Operiert  am  12.  Krankheitstage.    Heilung. 
Die  Erkrankung  begann  mit  hohem  Fieber,  Schüttelfrost  und  mittelschweren 


252 


A.  Federmann, 


Allgemeinerscheintmgen.  Am  2.  Tage  ist  der  Leib  im  ganzen  gespannt, 
nirgends  hochgradig  schmerzhaft.  Am  7.  Erankheitstage  ist  das  hohe 
Fieber  und  die  hohe  Lenkocytose  zur  Norm  abgesunken,  rechts  unten  sitzt 
ein  deutlicher  Tumor.  Allgemeines  Wohlbefinden.  In  den  nächsten  6 
Tagen  tritt  ein  deutliches  Wachsen  des  Tumors  zu  Tage,  die  Lenkocytose 
steigt  auf  23  000,  hat  leicht  remittierenden  Typus.  Die  Operation  ergibt 
einen  2  Eßlöffel  übelriechenden  Eiters  enthaltenden,  gut  begrenzten  Absceß. 
Die  Höhle  reicht  tief  ins  kleine  Becken.  Wurmfortsatz  nicht  zu  fühlen. 
Nach  der  Operation  allmählicher  Abfall  der  Lenkocytose. 


Auffallend  ist  die  Temperaturkurve,  die  sehr  an  die  eines  Typhus 
im  amphibolen  Stadium  erinnert. 

5.  Fall.  Schilling.  17  Jahrealt.  Operiert  am  1  3.  Krankheits- 
tage. Heilung.  Die  Fat  hatte  bereits  Imal  Blinddarmentzündung.  Vor 
3  Tagen  bekam  sie  unter  Schüttelfrost  und  Erbrechen  eine  Angina.  Gestern 
traten  allmählich  Schmerzen  rechts  unten  auf.  Bei  der  Aufnahme  ist 
der  Leib  gespannt,  rechts  unten  eine  undeutliche  Resistenz,  die  wenig 
empfindlich  ist.  Am  3.  Tage  steigt  die  Lenkocytose  trotz  normaler  Tem- 
peratur auf  20000  und  steigt  nun  langsam  weiter  bis  auf  35  000  am 
13.  Elrankheitstage.  Er  besteht  nun  ein  deutlicher  Tumor.  Allgemein- 
befinden gut.  Die  Operation  ergibt  einen,  bis  nahe  an  die  Leber  heran- 
reichenden, gut  begrenzten  Absceß,  etwa  3—4  Eßlöffel  übelriechenden 
Eiters  enthaltend.     Wurmfortsatz  nicht  zu  fühlen. 


LeukZM 
¥)000 

T<mp. 

Puls 

J                  .                  1 

I. 

\ 

35O00 

M' 

160 

b 

^y 

\l 

SOOOO 

JH' 

no 

1 

^,A. 

^ 

\ 

Z5000 

M' 

120 

^/ 

^ 

-o.... 

— 1 

^- 

WOOO 

39' 

too 

X 

\ 

■0^.      _ 

•«»• 

^ 

***"-.. 

/ 

•er' 

v^ 

* 

15000 

38' 

80 

J> 

/\ 

3r 

A 

A 

v^ 

10000 

St' 

60 

\ 

^ 

^ 

y 

V^ 

/ 

k: 

v^ 

J 

^ 

^ 

5000 

36' 

W 

7*" 

"*^ 

KrankkeUsta^ 

x 

3 

^ 

5 

6 

7 

8 

s 

/o 

// 

/» 

/3 

/^ 

\f5 

6.  Fall.  Stoldt.  39  Jahrefalt.  Operiert  am  9.  Krankheitstage. 
Heilung.  Plötzlicher  Beginn.  Der  Fat.  wird  am  4.  Tage  bereits  mit  einem 
deutlichen  Tumor  und  niedriger  Leukocytenzahl  aufgenommen.     Der  Tumor 


lieber  Peritjrphlitis. 


253 


soheint  erst  kleiner  za  werden,  beginnt  dann  aber  rasch  zu  wachsen.  Die 
Leukocytenzahl  steigt  aaf  23  000.  Die  Operation  ergibt  einen  gut  be- 
grenzten, faustgroßen  Absceß.  Wurmfortsatz  ist  perforiert  und  gangränös. 
Resektion. 


laikZeM 

Tanp 

Puls 

1 

MOOO 

-*1 

35000 

U' 

160 

\ 

30000 

♦/• 

no 

Z5000 

*o' 

1Z0 

J 

WOOO 

39' 

100 

N 

s. 

1S000 

38' 

80 

-•-. 

y 

J^ 

!s 

10000 

sr' 

60 

!£ 

§^ 

^ 

./'\ 

:f:>.-A,   1 

5000 

36' 

¥) 

N 

7' 

n 

KraakheUstaff 

^ 

5 

6 

7 

8 

9 

H) 

d 

7.  Fall.  Lichel.  ISJahrealt.  Operiert  am  13.  Krankheitstage. 
Heilung.  Die  Erkrankung  begann  plötzlich  mit  heftigen  Magenschmerzen 
und  reichlichem  Erbrechen.  Am  3.  und  4.  Tage  Nachlaß  der  Schmerzen. 
Am  8.  Tage  Leukocytenzahl  13  000,  Temperatur  36,6  <>.  Man  fühlt  rechts 
oben  eine  undeutliche  Resistenz.  In  den  nächsten  5  Tagen  Ansteigen  der 
Leukocytenzahl  auf  20000.  Eine  deutliche  Resistenz  ist  auch  jetzt  noch 
nicht  zu  fdhlen.  Die  Operation  ergibt  einen  intraperitoneal  gelegenen,  an 
die  untere  Leberfläche  heranreichenden  Eiterherd  mit  etwa  3  Eßlöffel  sehr 
übelriechenden  Eiters.     Wurmfortsatz  nicht  zu  fühlen.     Heilung. 


LeukZahl 
¥)000 

Temfk 

Puls 

1 

35000 

4Z' 

160 

l 

.| 

30000 

tl' 

M) 

^ 

a 

Z5000 

*o' 

1Z0 

1 

^ 

WOOO 

39' 

100 

l 

^' 

GUtäe 

rJMau/  II 

15000 

38' 

80 

-^ 

^ 

-^^ 

"N 

10000 

sr' 

60 

-■    ^ 

l!^ 

^ 

y^ 

^ 

/\ 

j^ 

/ 

>c 

Sl 

«o 

5000 

36' 

¥> 

^^ 

T" 

s/ 

V 

\t 

v^^ 

7^ 

V^ 

^ 

Krouikheilstaff 

6 

7 

8 

9 

10 

// 

fZ 

/3 

/♦ 

^5 

16 

17 

Der  Fall  ist  deshalb  besonders  interessant,  weil  wegen  der  Lokali- 
sation des  Abscesses  der  Nachweis  ein  außerordentlich  schwieriger  ge-* 
wesen  ist.  Die  ansteigende  Leukocytose  ergab  mit  Sicherheit  das  Vor- 
handensein eines  Eiterherdes. 


8.  FalL  Wirth.  17  Jahre  alt,  operiert  am  1 0.  Krankheitstage. 
Heilung.  Bereits  2  AnfUle  von  Blinddarmentzündung.  Plötzlicher  Beginn 
mit  Schmerzen  im  ganzen  Leib  und  hoher  Leukocytose.  Resistenz  nicht 
nachweisbar.     Am  7.  Krankheitstage  vollkommenes  Wohlbefinden,    Druck- 


254 


A.  Federmann, 


emfindlichkeit  rechts  oben.  Leakoc3rtenzahl  normal.  Langsames  Ansteigen 
der  Kurve.  Kein  Tumor  zu  fühlen.  Die  Operation  ergibt  einen  nufigroßen, 
abgekapselten  Eiterherd,  ganz  unter  der  Leber  gelegen,  der  durch  die  freie 
Bauchhöhle  hindurch  eröffnet  wird.  Heilung.  Langsamer  Abfall  der  Leuko- 
cytose. 


LatkZaJU 

Tempi 

Puü 

1 

UOOOO 

35000 

^z"" 

160 

t 

30000 

i^l"" 

no 

\ 

.1 

Z5000 

W"" 

120 

% 

i 

WOOO 

59^ 

100 

N 

-»k 

J 

Jv 

GlaOerfMoiA 

15000 

38' 

80 

^ 

T 

>> 

^ 

S 

> 

^'^ 

> 

w^ 

^ 

X 

10000 

sr' 

60 

^ 

^ 

Lz^ 

/^ 

^^ 

\ 

b 

5000 

36'' 

hO 

7^ 

v^ 

F=!: 

L — 

^ 

^ 

Krankheüsta^      \ 

3 

^ 

5 

6 

7 

a 

9 

w 

11 

12 

13 

/f 

13 

16 

Der  Fall  gleicht  sehr  dem  Fall  7  wegen  der  Aehnlichkeit  der  Loka- 
lisation und  der  klinischen  Symptome. 

Resümieren  wir  noch  einmal,  so  handelt  es  sich  in  den  eben  be- 
schriebenen Fällen  um  einen  mehr  oder  weniger  stürmischen  Beginn  durch 
eine  Gangrän  oder  Perforation  des  Wurmfortsatzes  meist  mit  diffuser  Bauch- 
fellbeteiligung. Das  Abklingen  aller  Erscheinungen,  zugleich  mit  dem  Zu- 
tagetreten eines  deutlichen  Tumors  rechts  unten,  ist  der  Ausdruck  da- 
für, daß  die  diffuse  Entzündung  sich  lokalisiert  hat  Der  neue  An- 
stieg der  Kurve  bedeutet  die  Propagation  der  Eiterung.  Entweder  tritt 
nun  aufs  neue  Begrenzung  oder  Resorption  ein,  dann  geht  die  Leuko- 
cytose  allmählich  wieder  zur  Norm  zurück,  oder  der  Absceß  wird  auf 
der  Höhe  der  Kurve  eröffnet,  und  man  findet  bei  der  Operation  einen 
mehr  oder  weniger  gut  begrenzten  Eiterherd. 

Ich  möchte  nun  im  folgenden  die  einzelnen  Stadien  der  Kurve  ein- 
gehender besprechen,  um  ihre  praktische  Bedeutung  zu  erörtern. 

Es  geht  aus  den  bisherigen  Kurven  schon  hervor,  wie  wir  dies 
schon  beim  Kapitel  „Frühstadien''  betont  haben,  daß  eine  hohe 
Leukocytose  in  den  ersten  2  —  3  Tagen  der  Erkrankung 
zwar  in  der  Regel  eine  Gangrän  oder  Perforation  des 
Wurmfortsatzes  annehmen  läßt,  aber  eine  spätere  Be- 
grenzung des  eiterigen  Exsudats  in  keiner  Weise  aus- 
schließt. Ich  kann  daher  darauf  verzichten,  solche  Beobachtungen 
hier  namentlich  anzuführen. 

Im  weiteren  ersehen  wir  jedoch  aus  der  Betrachtung  der  obigen 
Kurven,  daß  im  Verlaufe  der  ersten  Woche  ein  Zeitpunkt  eintreten  kann, 
wo  sowohl  Temperatur  wie  Puls  wie  Leukocytose  entweder  nahezu  oder 
völlig  an  der  Norm  angelangt  sind.  Die  allgemeine  Bauchfellreizung  und 


Ueber  Peritjrphlitis.  255 

der  daraus  resultierende  Meteorismus  sind  um  diese  Zeit  beinahe  voll- 
ständig geschwunden,  und  dafür  ist  an  der  Stelle  des  Herdes  ein  mehr  oder 
weniger  deutlicher  Tumor  nachweisbar.  Die  diffuse  Entzündung  hat 
sich  lokalisiert.  Wenn  man  in  einem  solchen  Stadium  operiert,  so 
findet  man  eine  locker  begrenzte,  meist  noch  sehr  infektiöse  Eiterung.  Je 
länger  normale  Werte  der  Leukocyten  bereits  bestanden  haben,  desto  un- 
gefährlicher ist  die  Operation.  Wie  außerordentlich  vorsichtig  man  selbst 
mehrere  Tage  nach  dem  Eintritt  der  normalen  Werte  mit  der  Eröff- 
nung der  freien  Bauchhöhle  sein  muß,  beweist  der  Fall  5  (Kraft)  auf 
der  weiter  unten  stehenden  Tabelle,  wo  am  6.  Tage  der  Erkrankung, 
nachdem  bereits  3  Tage  eine  normale  Leukocytenzahl  bestanden  hatte, 
ein  kleiner  Eiterherd  eröffnet  wurde.  Die  wahrscheinlich  bei  der  Ope- 
ration infizierte  freie  Bauchhöhle  führte  in  diesem  Falle  zu  einer  letalen 
Peritonitis.  Wir  haben  während  dieses  Stadiums  außerdem  nur  noch 
wenige  Fälle  operiert  (Fall  7  und  8).  In  beiden  trat  eine  fortschreitende 
Peritonitis  nicht  ein  (s.  Tab.  p.  256). 

Für  uns  resultiert  also  die  praktisch  und  theoretisch 
äußerst  wichtige  Tatsache,  daß  schon  ganz  kurze  Zeit 
nach  Beginn  der  Erkrankung  im  Verlaufe  der  ersten 
Woche  alle  Symptome  zur  Norm  abgesunken  sein  können, 
und  trotzdem  ein  eiteriges  Exsudat  mit  Sicherheit  vor- 
handen ist.  Ein  Eingriff  in  diesem  Stadium  ist  nicht  zu 
empfehlen,  da  eine  feste  Begrenzung  noch  nicht  ein- 
getreten ist,  und  der  Zustand  des  Peritoneums  einer 
Propagation  sehr  förderlich  zu  sein  scheint.  Es  ist  viel- 
mehr zweckmäßig,  den  eingetretenen  Tiefstand  erst 
einige  Zeit  andauern  zu  lassen,  damit  die  Abkapselung 
einen  möglichst  festen  Grad  annehmen  kann. 

In  der  folgenden  Tabelle  (p.  256)  habe  ich  nun  in  12  Kurven  den  Tag 
herausgesucht,  an  dem  der  Tiefstand  der  Kurve  eingetreten  war. 
Wie  aus  einer  Durchsicht  der  Tabelle  hervorgeht,  schwankt  dieser 
Termin  zwischen  dem  5.  und  11.  Krankheitstage.  Die  Leukocyten-, 
Temperatur-  und  Pulswerte  und  der  Palpationsbefund  an  diesem  Tage 
sind  daneben  gestellt.  Je  nachdem  der  Fall  am  selben  Tage  oder  später 
zur  Operation  kam,  ist  dann  der  Operationsbefund  wiedergegeben.  Die 
Einzelheiten  ergeben  sich  aus  der  Tabelle  selbst. 

Es  ist  nach  unseren  bisherigen  Ausführungen  selbstverständlich, 
daß  nicht  nur  im  Verlaufe  der  ersten  Woche  normale  Werte  trotz  des 
Bestehens  eines  eiterigen  Exsudats  vorhanden  sein  können,  sondern  daß 
dieses  Verhältnis  vor  allem  in  dem  Spätstadium  des  Prozesses  als  ge- 
wöhnlich erscheinen  muß;  denn  es  wird,  sobald  die  Eiterung  zur  Be- 
grenzung gekommen  ist,  die  Leukocytenzahl  sehr  rasch  zur  Norm  ab- 
sinken, und  falls  keine  erneute  Propagation  eintritt,  dauernd  auf  diesem 
niedrigen  Niveau  verharren,   da  ja  nur  ein  Fortschritt  nach  der  einen 


256 


A.  Federmana, 


Tiefstand 

( 

Operation 

Lfd. 
No. 

Name 

Leuk.- 
zahl 

Temp., 
Puls 

OperationB- 
befund 

i* 

Leuk.- 
zahl 

Temp., 
Puls 

Operations- 
befund 

1 

Adomeit 

5 

15000 

37,4 

80 

37,4 

7 

35000 

38,8 

200  com  Eiter 

2 

Wagner 

5 

8000 

Besistenz 

11 

20000 

363 

lEßLEiter.Absc. 

3 

Neimög 

5 

10000 

37 

Kesistenz 

6 

30000 

38,5 

Schwere  Eiters, 
und  retrooökale 
Phlegmone 

4 

Köhler 

6 

8000 

36,2 

Resistenz 

9 

20000 

38,2 

lEßLEiter.Absc. 

5 

Kraft 

6 

9000 

37,5 

Beeifitenz 

8 

11000 

38 

lTeeI.Eiter.Abea 
Tod! 

6 

Stoldt 

7 

10000 

37 

Tumor 

9 

21000 

37,6 

200  ccm  abgek. 
Eiter 

7 

Rath 

7 

10000 

37 

Tumor 

8 

37,5 

2Eßi.Eiter.Abea 

8 

Belaek 

7 

13  000 

38 

Besistenz 

7 

13000 

38 

gener  Abscefi 

9 

FeUer 

7 

10000 

37,2 

Tumor 

12 

23000 

37 

Ab8cefim.3£ai. 
Eiter 

10 

Wirth 

7 

13000 

37,1 

Resistenz 

10 

15000 

363 

1  EßL  Eiter 
LeberwärtB  gele- 
gener Absoess 

11 

lichel 

10 

12000 

36,2 

Besistenz 

13 

20000 

363 

Leberwarts  gele- 
gener Abec^  m. 
3  Efii.  Eiter 

12 

Wenzel 

11 

10000 

36,9 

Groß.  Tumor 

13 

23000 

39 

TiOckerer  Abscefi 
mit  2  Eßl.  Eiter 
u.trfib.  Exsudat 

oder  anderen  Seite  hin  eine  Reaktion  im  Blutbilde  hervorruft.  Es  er- 
gibt sich  daraus  die  praktisch  wichtige  Tatsache,  daß  vor  allem  in 
den  späteren  Stadien  der  Erkrankung  eine  fehlende  Leu- 
kocytenvermehrung  gar  nichts  gegen  das  Vorhandensein 
selbst  reichlicher  Eitermengen  beweist,  wofern  die- 
selben nur  in  einem  abgegrenzten  Raum  sich  befinden. 
Differentialdiagnostisch  bedeutet  dies,  daß  in  solchen  Fällen  nur  ein 
positiver  Ausfall  der  Leukocytenzählung  eventuell  gegen  das  Bestehen 
eines  Tumors  verwertet  werden  kann,  da  eine  niedrige  Leukocytenzahl 
ein  entzündliches  Produkt  nicht  ausschließt. 

Ich  habe  in  der  folgenden  Tabelle  (p.  257)  mehrere  Fälle  zusammen- 
gestellt, wo  trotz  der  vorhandenen  normalen  Leukocyten-  und  Temperatur- 
werte bei  der  Operation  reichlich  Eiter  gefunden  wurde.  In  der  Mehrzahl 
der  Fälle  war  ein  deutlicher  Tumor  palpabel  gewesen,  alle  Abscesse 
befanden  sich  in  einem  gut  begrenzten  Zustande.  Am  Schlüsse  der 
Tabelle  sind  2  Fälle  von  verjauchtem  Cökalcarcinom  angeführt,  deren 
Diagnose  erst  bei  der  Operation  gestellt  werden  konnte. 

Haben  wir  in  diesen  beiden  letzten  Tabellen  dargetan,  daß  schon 
im  Verlauf  der  ersten  Woche,  vor  allem  aber  in  den  späteren  Stadien 
niedrige    Leukocytenwerte    nichts    gegen    das   Vorhandensein    eiteriger 


lieber  Perityphlitis. 


257 


Alte  Abscesse. 


a» 


Name 


Dauer  des 

Bestehens 

der  Er- 

krankuDg 


Leuko- 
cytenzahl 


Temp. 


Operationsbefund 


4 

5 

6 

7 
8 
9 
10 
11 
12 
13 
14 

15 
16 


KorafeiBki 
Rieck 

Dähne 

Kiews 

Hicke 

Frank 

Kessler 

Fiebig 

Ebert 

Pagel 

Hamann 

Bosselmann 

Behlke 

Oiesecke 

Kripke 
Polzin 


I 


7  Wochen 
3       „ 


2V,Woch. 
3        „ 


7000 
8000 

9000 

16000 

6000 

8000 


37^ 
37,8 

36,6 

37,0 

37,0 

37,0 


2V, 

II 

2 

II 

av. 

II 

8 

II 

av. 

II 

2 

11 

2 

II 

2 

II 

4 

„t 

4 

„1 

12000 

37,4 

10000 

37,8 

8000 

38,5 

8000 

37,0 

14  000 

36,2 

8000 

36,1 

10000 

36,6 

8000 

36,6 

12  000 
10000 


38,0 
38,0 


1  Eßlöffel  Eiter 

Apfelgroßer  Absceß,  W.-F.  gan- 
gränös 

Alter  Schwartentumor,  eingedickter 
Eiter 

Apfelgroße  Höhle,  eingedickter 
Eiter,  W.-F.  gangränös 

Schwartentumor,  nußgroße  Eiter- 
höhle 

Hühnereigroßer  Absceß,  W.  F. 
gangränös 

Apfelgroßer  tbk.  Absceß 

1  Eßföffd  Eiter 

Tbk.  Gasabsceß,  2  Eßlöffel  Eiter 
Absceß  mit  1  Eßlöffel  Eiter 
Schwartentumor  mit  eitrigem  Kern 

2  Eßlöffel  Eiter,  Absceß 
Nußgroßer  Absceß 

Nußgroße  Granulationshöhle  ohne 

Eiter 
Verjauchtes  Carcinom 
Verjauchtes  Carcinom 


Exsudate  beweisen,  so  kommen  wir  nun  zu  dem  zweiten  Teile  der 
Kurve,  von  dem  sie  ihren  Namen  einer  „aufsteigenden  Kurve"  hat  und 
damit  zu  den  positiven  Werten,  die  stets  mit  Sicherheit  Eiter  beweisen. 

Wie  wir  schon  in  der  Einleitung  zu  diesem  Abschnitt  besprochen 
haben,  kann  das  Wachstum  eines  eiterigen  Exsudats  ein  plötzliches  oder 
ein  langsames  sein.  Ich  habe  in  der  folgenden  Tabelle  (p.  258)  15  Fälle 
zusammengestellt^),  bei  denen  nach  einer  verschieden  langen  Begren- 
zungsperiode infolge  einer  akuten  Propagation  unter  Verschlimmerung 
aller  Symptome  ein  rapider  Anstieg  eintrat.  Anatomisch  lagen 
wechselnde  Möglichkeiten  zu  Grunde,  deren  Natur  aus  einer  Durchsicht 
der  daneben  stehenden  Operationsbefunde  hervorgeht. 

Die  Fälle  1-5  der  Tabelle  wurden  nicht  sofort  operiert,  so  daß  an 
ihnen  eine  ein-  oder  mehrtägige  Leukocytenbeobachtung  stattfinden 
konnte.  Die  Erscheinungen  waren  bei  ihnen  erst  weniger  bedrohlicher 
Natur,  die  schweren  Symptome  entwickelten  sich  unter  unseren  Augen. 

Die  Fälle  6—15  jedoch  wurden  sofort  nach  der  Aufnahme  ins 
Krankenhaus  operiert  und  ergaben  durchweg  eine  fortschreitende  Eiterung. 
In  diesen  Fällen  wurde  vom  Patienten  beinahe  stets  angegeben,  daß  die 
Erscheinungen  bis  vor  wenigen  Tagen  leichte  gewesen  seien,  und  daß 


1)  Im  ganzen  verfdgen  wir  über  ungefähr  50  Beobachtungen  dieser  Art. 

Ifittefl.  ft.  d.  Or«nz«»bl«ten  d.  Medizin  o.  Chlrorci"     Xm.  Bd.  17 


258 


A.  Federmann, 


Aufgenommen 

Operiert 

No. 

Name 

^'1 

il 

Tem|K 

PuU 

a3 

Temp. 

Operationsbefund 

1 

Türk 

4 

20000 

38 

118 

6 

30000 

38 

Beckenabsceß 

2 

Hermann 

(5 

22000 

38^ 

120 

7 

23  000 

38,2 

'U  1  Eiter  mit  Strepto- 
kokken, lock,  begrenzt 

3 

Wilke 

7 

16000 

38,4 

144 

9 

30000 

38,2 

Subhepatisch  gelesen 
200  rem  Eiter,  lo<äer 

4 

Hahn 

9 

18000 

38,4 

10 

30000 

37,5 

V*  1  Eiter,  lock,  begrenzt 

5 

Kaiser 

5 

17  000 

37,2 

7 

28000 

37,4 

Subhepatisch  gel«;ener , 
hühnereigr.  Absceß, 
locker  b^renzt 

6 

BaiUen 

2Tge. 

^p.  4 
Woch.) 

24000 

39,4 

120 

Großer,  lock^  begrenz- 
ter Absceß 

7 

Schuster 

3Tge. 
(resp.  2 

35000 

38,1 

120 

t 

Gr.  Beckenabeoefi  bis 
an  die  Niere  heran- 

Woch.) 

reichend 

8 

Flügel 

2Tge. 
(resp.  2 
Woch.) 

31000 

39,6 

136 

a 
•3 

Gr.  Beckenabsceß 

9 

Müller 

8 

56000 

39 

96 

200  ccm  Eiter 

10 

Deile 

8 

25  000 

38 

96 

0 
< 

Retroperitoneale  Phleg- 

mone 

11 

Lädke 

12 

28000 

38,2 

100 

TS 

V,  1  Eiter 

12 

Peper 

8 

32  000 

39 

104 

1 

Subhepatischer  Absceß 
mit  \\  1  Eiter 

13 

Hoee 

41000 

38 

128 

1 

Faustgr.,  an  die  Leber 
gehender  Absceß 

14 

Breite 

6 

37  000 

38 

124 

1 

Gr.  Absceß,  200  ccm 

Eiter 

15 

Schulze 

8 

45000 

38,4 

100 

Beckenabsceß,  V,  1  Ei- 
ter 

dann  eine  immer  mehr  sich  steigernde  Verschlimmerung  eingetreten  wäre* 
Wenn  man  sich  schon  aus  dieser  Annahme  ein  deutliches  Bild  des  bis- 
herigen Verlaufes  machen  konnte,  so  wurde  das  Verständnis  des  Vorganges 
noch  klarer  durch  den  augenblicklichen  Zustand  des  Patienten.  In 
diesen  Fällen  konstatiert  man  nämlich  stets  sehr  hohe  Leukocytenwerte, 
ja  die  tiberhaupt  höchsten  Werke,  die  man  zu  beobachen  Gelegenheit 
hat  Auch  der  Puls  und  die  Temperatur  sind  stark  erhöht  Eine 
Resistenz  ist  beinahe  immer  irgendwo  nachweisbar  und  der  Operations- 
befund ergibt  stets  große,  meist  nur  mangelhaft  begrenzte  Abscesse; 
besonders  häufig  große  Beckenabscesse.  Die  Diagnose  ist,  wie  man  sieht, 
unter  solchen  Umständen  eine  leichte.  Die  Leukocytenuntersuchung 
wird  nur  dann  von  großem  Wert  sein,  wenn  die  lokalen  Symptome 
unsicher  sind,  so  daß  der  Nachweis  einer  Resistenz  nicht  gelingt  In 
den  übrigen  Fällen  hat  sie  nur  eine  die  Diagnose  unterstützende 
Bedeutung.  Da  diese  Eiterungen  keiner  spontanen  Rückbildung  fähig 
sind  und  die  Gefahr  der  Sepsis  sehr  naheliegt,  so  ist  die  sofortige 
Operation  indiziert. 


Ueber  Perityphlitis.  259 

Wir  können  uns  demnach  dahin  zusammenfassen:  Finden  wir  am 
Ende  der  ersten  Woche  oder  später,  selbst  nach  ein- 
maliger Zählung  eine  hohe  Leukocytose  und  schwere 
klinische  Symptome  ergibt  noch  dazu  dieAnamnese,  daß 
in  den  letzten  Tagen  eine  akute  Verschlimmerung  ein- 
getreten ist,  so  ist  sofort  zu  operieren,  da  ein  weiteres 
Abwarten  zwecklos  und  gefährlich  erscheint  Es  ist  mit 
Sicherheit  ein  großer  Eiterherd  vorhanden. 

Im  großen  ganzen  erfolgt  die  Propagation  der  Eiterung  seltener 
in  der  eben  beschriebenen  akuten  Art  und  Weise,  sondern  langsamer 
im  Verlauf  mehrerer  Tage,  indem  ganz  allmählich  eine  Vergrößerung 
des  Tumors  eintritt.  Die  klinischen  Symptome  sind  in  solchen  Fällen 
auch  bei  weitem  leichterer  Natur.  Die  Leukocytose  kann  zwar  gleich- 
falls zu  recht  hohen  Werten  ansteigen,  jedoch  geschieht  dies  in  der  Art, 
daß  von  Tag  zu  Tag  ein  allmählicher  Anstieg  um  1 — 4000  Leukocyten 
eintritt  Die  Temperatur  pflegt  entweder  gleichzeitig  parallel  der  Leuko- 
cytenkurve  in  die  Höhe  zu  gehen  oder  aber  sie  nimmt  einen  leicht 
remittierenden  Typus  zwischen  37  und  38^  an.  Oefters  hat  man  auch 
Gelegenheit,  normale  Temperatur  längere  Zeit  zu  beobachten,  trotzdem 
ein  deutliches  Wachsen  des  Abscesses  vor  sich  geht  Ich  habe  diese 
Verhältnisse  auf  p.  252—253  bereits  hervorgehoben  und  auch  mehrere 
Beispiele  und  Kurven  dafQr  gegeben.  Ich  kann  es  mir  deshalb  hier  ver- 
sagen, nochmals  darauf  einzugehen. 

Leicht  ist  es  nun,  den  vorliegenden  Prozeß  zu  beurteilen,  wenn 
er  sich  unter  unseren  Augen  abspielt,  wenn  wir  selbst  beobachten, 
wie  unter  allmählichem  Ansteigen  der  Kurve  die  Resistenz  immer 
größer  wird.  Ungleich  schwieriger  ist  jedoch  eine  Wertschätzung  des 
Zustandes,  wenn  erst  spät  der  Fall  in  Behandlung  kommt.  Die  Leuko- 
cytenzahl  steht  dann  gewöhnlich  um  20000  herum.  Die  Temperatur 
ist  vielleicht  mäßig  erhöht  Lokal  ist  gewöhnlich  ein  deutlicher  Tumor 
vorhanden.    Der  Gesamteindruck  ist  schwankend. 

In  der  großen  Zahl  dieser  Fälle  dürfte  die  Diagnose  eines  Ab- 
scesses auch  ohne  Leukocytenzählung  eine  leichte  sein.  Nur  in  solchen 
Fällen,  wo  der  Nachweis  einer  Resistenz  unmöglich  ist,  hat  auch  das 
Vorhandensein  einer  Leukocytenvermehrung  ein  großes  diagnostisches 
Interesse,  denn,  wie  wir  schon  mehrfach  in  unseren  früheren  Aus- 
führungen betont  haben,  beweist  das  Vorhandensein  einer  Leukocyten- 
zahl  über  18000  auch  bei  normaler  Temperatur  am  Ende  der  1.  Woche 
oder  später  konstatiert,  mit  Sicherheit  das  Bestehen  eines  eiterigen 
Exsudats. 

Das  Hauptinteresse  und  vor  allem  die  größere  Wichtigkeit  hinsicht- 
lich der  Behandlung  liegt  aber  auf  Seiten  der  Indikationsstellung.  Wir 
werden  uns  immer  fragen  müssen,  wenn  wir  bei  mittelschweren  All- 
gemeinerscheinungen  und  einer  erhöhten  Leukocytose   einen  Fall  am 

17* 


260  A.  Federmann, 

Ende  der  1.  Woche  oder  später  in  Behandlung  bekommen,  sollen  wir 
sofort  operieren  oder  abwarten.  Es  ist  natürlich  nach  einer  einmaligen 
Leukocytenzählung  in  diesem  Stadium  nicht  ohne  weiteres  zu  ent- 
scheiden, wie  der  fernere  Verlauf  des  Prozesses  sein  wird,  ob  die 
Eiterung  weiter  fortschreitet  oder  ob  ein  spontaner  Rückgang  zu  er- 
warten steht  Beides  wird  erst  bei  mehrmaliger  Zählung  einen  deut- 
lichen Ausdruck  im  Blutbilde  geben. 

Da  diese  Fälle  keineswegs  bedrohlicher  Natur  sind,  so  ist  ein  sogar 
mehrtägiges  Abwarten  wohl  stets  unbedenklich.  Schon  nach  24  Stunden 
ist  in  der  großen  Mehrzahl  mit  Sicherheit  zu  erkennen,  nach  welcher 
Richtung  hin  der  Absceß  sich  entwickelt.  Ergibt  sich  nach  24  Stunden 
ein  deutlicher  Anstieg  der  Leukocytenkurve,  der  ja  meist  die  Tempe- 
ratur parallel  läuft,  so  ist  ein  weiteres  Abwarten  nicht  vorteilhaft,  da 
vorläufig  keine  Tendenz  zum  Stillstand  besteht.  Eine  Entleerung  des 
Eiters  mit  oder  ohne  Entfernung  des  Wurmfortsatzes  erscheint  in 
solchen  Fällen  zweckmäßiger,  als  die  Resorption  abzuwarten.  Eonsta- 
tieren wir  dagegen,  daß  nach  24  Stunden  die  Leukocytenzahl  nicht 
weiter  gestiegen,  vielleicht  sogar  zurückgegangen  ist,  so  kann  entweder, 
je  nach  den  übrigen  Symptomen,  operiert  oder  aber  die  völlige  spon- 
tane Rückbildung  abgewartet  werden.  Wir  verfügen  selbst  über  mehrere 
Fälle,  die  mit  einem  faustgroßen  Tumor,  einer  Leukocytenzahl  über 
20000  und  einer  Temperatur  von  39*^  nach  der  1.  Woche  in  unsere 
Behandlung  kamen  und  bei  denen  im  Verlaufe  von  4  Wochen  eine 
derart  vollkommene  Resorption  des  Eiters  erfolgte,  daß  die  Patienten 
im  Intervall  operiert  werden  konnten.  Im  allgemeinen  kann  man  sagen, 
daß  das  Verhalten  der  Leukocytenkurve  in  dieser  Hinsicht  ein  feineres 
Reagens  darstellt  als  die  Temperatur ;  diese  kann  vielmehr  längere  Zeit 
hoch  bleiben,  während  uns  eine  niedrige  Leukocytenzahl  längst  den 
weiteren  Verlauf  des  Falles  gekennzeichnet  hat. 

Resümieren  wir  kurz,  so  können  wir  sagen,  daß  eine  Leuko- 
cytenzahl, am  Ende  der  L  Erankheitswoche  oder  später 
festgestellt,  mit  Sicherheit  die  Diagnose  ^eiteriges  Ex- 
sudat"^ gestattet,  jedoch  keinesfalls  an  sich  eine  Indikation 
zum  operativen  Eingriff  ergibt.  Diese  ergibt  sich  viel- 
mehr einerseits  aus  der  Vergleichung  mit  den  übrigen 
klinischen  Symptomen,  andererseits  aus  der  Beobach- 
tung des  weiteren  Verlaufes.  Eonstatieren  wir  nach  24 
Stunden  einen  Anstieg  der  Eurve,  so  ist  die  Operation 
anzuraten,  immerhin  kann  auch  jetzt  noch  ein  Rückgang 
erfolgen.  Bleibt  nach  24  Stunden  die  Leukocytenzahl  auf 
derselben  Höhe  oder  sinkt  sie  sogar  noch  ab,  so  ent- 
scheiden andere  Ueberlegungen.  Eine  völlige  Resorption 
ist  unter  solchen  Umständen  keinesfalls  ausgeschlossen. 
Findet  man  am  Ende  der  I.Woche   oder  noch  später  nie- 


üeber  Perityphlitis, 
a)  Langsam  ansteigende  Kurve. 


261 


Name 


Tag  der 

Auf- 
nahme bis 
Tag  der 
Opmtion 


Anstieg 
d.  Leuko- 

cyten  in 
dieser  Zeit 


Temperat. 

in  dieser 

Zeit 


Phyf^ikaL 
Befund 


Operations- 
befund 


Bemer- 
kungen 


Schnitze 
Lüdike 

Krause 

Beich 

Dntz 

Bötger 
Janz 

Kroll 


6-^ 
6-7 

8-10 

5-6 

7—9 

6-7 
5—7 

9—12 


21—26000 
27-30000 

18-28000 

18-23  000 

15—18000 

15-21 000 
20—25  000 

18—32000 


383 
38^-39^ 

38-373 

383-38,1 

383-39,2 

39 
38 

39 


Handtellergr. 
Besistenz 

DeutLTumor, 
auch  perrec 
tum 


Besistenz  bis 
zur  Mittel- 
linie u.  per 
rectum 

Tumor  r.  u. 


hühner- 
tr  Absceß 


'ageope- 
[)CKerDe- 


Subhet 
eigrofl 

Am  8.  Ti 
riert.Locl 
grenzterAbsceß: 
nach  unten  zu.1 
100  ccm  Eiter  i 

Großer  Becken- 
absceß 


Heilung 


Todn.  3 
Wochen 
(Adhfisi. 
on  " 


Tumor 


Hühnereigroßer 
Abeceß 

Hühnereigroßer 
Absceß 

Subhep.  Absceß 

Taubeneigroßer 
Absceß 

Bubhep.  Absceß 


Heilung 


b)  Gleichbleibende  Kurve. 


9 

KalHdat 

8—9 

17  000 

38 

Tumor 

V,  1  Eiter.    Gut 
begrenzt 

t 
Embolie 
am  8. 
Tage 

lOIidigk 

16—17 

22  000 

373 

T» 

2Eßl.Eiter.  Gut 
begrenzt 

Geheilt 

11  Gramer 

8-10 

28000 

38,2 

—          Subhep.  Absceß 

TJ 

c)  Absinkende  Kurve. 

12  Bienwald 

7-9 

22-17  000 

37 

— 

Hühnereier.  Abs- 
ceß. 2Eßl.Eiter 

Geheilt 

13  Schilling 

7-10 

14-13000 

38 

B.  u.  f austgr. 
Tumor 

150  ccm  geruchL 
Eiter.  Gut  begr. 

fl 

14 

Leech 

10-13 

25-14000 

38-37 

Tumor,     der 
stark  zurück- 
geht 

100   ccm    Eiter. 
Absceß 

n 

15  Boaseimann 

12-14 

20-13  000 

363 

Tumor  r.  u. 

lEßl.  Eiter.  Gut 
begrenzt 

Schwartentumor 
mit  lEßl.  Eiter. 
Besektion     des 
Coecum 

T» 

16 

Seefeld 

5-6? 

24—16000 

38-373 

Derb.  Tumor 

11 

17 

Dittmann 

12-16 

28-15  000 

39-37 

Groß.  Tumor 

Besorption.     Im 
Intervall    oper. 
nach  5  Wochen 

n 

18 

Ussek 

10—23 

22-  8000 

37,8-36,7 

Groß.  TumoriBesorption.    Im 

T» 

8  Wochen  oper. 

262  A.  Federmann, 

drige  oder  fehlende  Leukocytose,  so  beweist  dies  nichts 
gegen  das  Vorhandensein  eines  gut  begrenzten  Eiter- 
herdes. 

In  den  vorstehenden  3  Tabellen  a,  b,  c  (p.  261)  sind  18  Fälle  zusammen- 
gestellt, bei  denen  die  Leukocytenkurve  im  Verlaufe  der  nächsten  Tage 
nach  der  Aufnahme  entweder  weiter  anstieg  oder  stehen  blieb  oder  ab- 
sank. Alle  mit  Ausnahme  von  Fall  17  und  18  sind  operiert.  In  den 
beiden  letzten  wurde  die  völlige  Resorption  abgewartet.  Es  ist  natürlich 
zweifellos,  daß  von  den  Fällen  unter  Tabelle  b  und  c  ein  großer  Teil 
gleichfalls  ohne  Eingriff  zur  Resorption  gekommen  wäre,  es  schien  aus 
jedoch  äußeren  Gründen  eine  Operation  zweckmäßiger. 

III. 
Eiterige  Peritonitis  mit  teilweiser  nnd  mehrfiieher  Abl^apselung. 

(Begrenzt  fortschreitende  Peritonitis,  progredient  fibrinös- 
eiterige  Peritonitis). 

Die  eiterige  Peritonitis  mit  teilweiser  Abkapselung  steht  in  der  Mitte 
zwischen  dem  mehr  oder  weniger  gut  begrenzten  perityphlitischen  Absceß 
und  der  freien  fortschreitenden  Peritonitis.  Charakteristisch  für  diese 
Form  der  Peritonitis  ist,  daß  die  Begrenzung  stets  nur  eine  teilweise 
und  mangelhafte  ist  und  deshalb  ein  dauernder  Fortschritt  resultiert. 
Fälle  dieser  Art  zeigen  einen  mehr  subakuten  Verlauf  und  besitzen 
eine  derart  hohe  Infektionsintensität,  daß  es  dem  Organismus  nicht  ge- 
lingt, eine  völlige  Neutralisation  des  Giftmaterials  herbeizuführen,  sondern 
daß  er  nur  unter  äußerster  Kraftanstrengung  im  stände  ist,  die  tödliche 
Allgemeininfektion  verschieden  lange  Zeit  hinauszuschieben.  Damit  ist 
schon  gesagt,  daß  die  Mehrzahl  dieser  Fälle  ohne  Eingriff  durch  Sepsis 
zum  Tode  führt.  Andererseits  ist  jedoch  die  Infektionsintensität  nicht 
eine  derart  hohe,  daß  eine  von  vorne  herein  ohne  jede  Begrenzung 
fortschreitende  letale  Peritonitis  entsteht 

Welcher  Art  die  Affektion  des  Wurmfortsatzes  ist,  die  ja  nur  einen 
Faktor  in  der  Summe  aller  ursächlichen  Momente  darstellt,  ist  fflr  das 
Zustandekommen  der  vorstehenden  Peritonitis  nicht  von  ausschlag- 
gebender Bedeutung.  Eine  Gangrän  ebenso  wie  eine  Perforation  kann 
unter  gewissen  Umständen  denselben  Effekt  haben. 

Das  anatomische  Bild  der  vorstehenden  Peritonitis  kann  ein  sehr 
verschiedenartiges  sein,  je  nach  der  Intensität  der  Infektion  und  vor 
allem  nach  der  Dauer  des  Bestehens.  In  den  allerersten  Stadien  der 
Erkrankung  kann  es  selbst  bei  der  Operation  unmöglich  sein,  Fälle,  die 
in  die  hier  zu  besprechende  Gruppe  gehören,  von  solchen  zu  unter- 
scheiden, die  später  in  Begrenzung  übergehen;  das  war  auch  mit  ein 
Grund  für  uns  gewesen,  solche  Fälle  in  eine  besondere  Gruppe,  die  der 
Frühstadien,  zusammenzufassen.  Die  Entstehungsweise  der  teilweise  be- 
grenzten Peritonitis  ist  ja  nicht  eine  prinzipiell  verschiedene  von  der  des 


üeber  Perityphlitis.  268 

gewöhnlichen  perityphlitischen  Abscesses,  das  schließliche  Resultat  hängt 
lediglich  von  der  graduell  wechselnden  Infektionsintensität  ab.  Auch 
bei  der  Genese  des  perityphlitischen  Abscesses  hatten  wir  ja  in  sehr  vielen 
Fällen  eine  primäre  diffuse  Entzündung,  die  sekundär  erst  in  Begren- 
zung übergeht,  angenommen,  für  das  Zustandekommen  einer  teilweise 
begrenzten  Peritonitis  halten  wir  diese  Entstehungsweise  für 
die  regelmäßige,  eine  Anschauung,  der  ein  großer  Teil  der  Autoren 
längst  beigetreten  ist.  Betrachtet  man  die  anatomischen  Befunde  unter 
Zugrundelegung  dieser  von  uns  angenommenen  Entstehungsart  aus  einer 
erst  diffusen  Entzündung  so  erklären  sich  ungezwungen  alle  die  ver- 
schiedenartigen Kombinationen,  die  in  den  verschiedenen  Stadien  einer 
derartigen  Peritonitis  beobachtet  werden  können.  Wir  sind  so  stets  im 
Stande,  zu  verstehen,  weshalb  es  in  einem  Falle  nur  zu  einer  einzigen 
lokalisierten  Eiterung  kam  und  weshalb  in  vielen  anderen  Fällen  die 
vorhergegangene  diffuse  Entzündung  vielfache  Lokalisationen  hinterließ. 

Ebenso  wie  das  anatomische,  zeigt  auch  das  klinische  Bild  natür- 
lich ein  wechselndes  Gesicht.  Die  Diagnose,  vor  allem  aber  die  In- 
dikationsstellung ist  in  diesen  Fällen  die  allerschwierigste,  die  Mortalität 
eine  große.  Es  erscheint  deshalb  sehr  schwierig,  ein  einheitliches  Symptom- 
bild dieser,  in  so  mannigfachen  Variationen  auftretenden  Peritonitisform 
zu  zeichnen,  da  keineswegs  eine  derartige  Einheitlichkeit  des  pathologisch- 
anatomisch und  klinischen  Verlaufes  besteht,  wie  wir  sie  doch  immer- 
hin bei  der  freien  fortschreitenden  Peritonitis  meist  beobachten.  So 
erklärt  es  sich  auch,  daß  es  nicht  möglich  ist,  eine  für  alle  Verlaufs- 
arten einer  teilweise  begrenzten  Peritonitis  passende  Leukocytenkurve 
aufzustellen.  Wir  müssen  uns  darauf  beschränken,  einzelne  Verlaufstypen 
herauszugreifen  und  kritisch  zu  beleuchten. 

Ich  werde  deshalb  in  folgendem  eine  Auswahl  aus  den  in  den 
Jahren  1902 — 1903  beobachteten  Fällen  von  progredient-fibrinös-eiteriger 
Peritonitis  mitteilen,  um  an  ihrer  Hand  die  praktisch  wichtigen  Punkte 
zu  besprechen. 

Ich  beginne  mit  zwei  Fällen,  die  in  pathologisch-anatomischer  wie 
in  klinischer  Beziehung  außerordentlich  instruktiv  und  lehrreich  sind. 

1.  Fall.  Kaczmarck,  Hans.  15  Jahre  alt  Erkrankt  am  28.  Aug. 
aufgenommen  am  80.  Aug.,  operiert  am  5.  Sept.,  dem  7.  Krankheits- 
tage, geheilt  entlassen  am  2.  Dez.  1903. 

Anamnese.  Früher  dreimal  Blinddarmentzündung.  Die  jetzige  Er- 
krankung begann  am  28.  Aug.  früh  morgens  plötzlich  mit  hohem  Fieber 
und  Erbrechen,  Patient  erhielt  60  Tropfen  Opium. 

Befund.  Sehr  schwer  krank  aussehender  junger  Mann.  Leib  stark  ge- 
spannt und  meteoristisch  aufgetrieben.  Ueberall,  besonders  links  unten 
hochgradig  empfindlich,  deutliche  Resistenz  nicht  zu  fühlen.  Beiderseits 
Flankenschmerz,  per  rectum  nihil,  Puls  138^^,  Temperatur  38,3, 
Leukocytose  27000. 

Verlauf.    Am  nächsten  4.  Krankheitstage  sinkt  die  Leukocytose  auf 


264 


A.  Federmann, 


13000  und  steigt  am 
8.  Tage  auf  18000.  Der 
Allgemeinzustand  bes- 
sert sich  in  diesen  8 
Tagen.  Der  Meteoris- 
mus geht  etwas  zurück. 
Per  rectum  wird  eine 
deutliche  Vorwölbong 
palpabel  deshalb 

I.  Opera  t.  6.  Sept. 
1903  (Pedbbmann)  Ent- 
leerung eines  großen 
Douglasabscesses  per 
rectum.  Nach  dieser  In- 
cision  gehen  alle  Erscheinungen  derart  zurück,  daß  am  15.  Okt.  der  Wurm- 
fortsatz entfernt  werden  konnte. 

n.  Operation.  15.  Okt.  1903.  Exstirpation  des  Appendix  im  Intervall. 
Der  Wurmfortsatz  ist  stark  verwachsen,  eiteriges  Empyem,  keine  Perforation. 
Verlauf.  Im  weiteren  Verlauf  treten  Ileuserscheinungen  auf  und  es 
wird,  nachdem  die  Leukocytose  nochmals  stark  angestiegen  ist,  an  der 
linken  Bauchseite  ein  faustgroßer  intraperitonealer  Absceß  incidiert.  Von 
da  ab  glatter  Verlauf.  Patient  wird  am  2.  Dez.  mit  guten  Narben  geheilt 
entlassen. 

2.  Fall.  Borchert,  Paul.  11  J.  Erkrankt  am  25.  Dez.  1903,  auf- 
genommen am  29.  Dez.  1903,  operiert  am  7.  Jan.  1904,  dem  13.  Krank- 
heitstage, geheilt  entlassen  am  1.  Feb.  1904. 

Anamnese:  Pat.  erkrankte  am  25.  Dez.  plötzlich  mit  Erbrechen  und 
Schmerzen  rechts  unten,  es  trat  Durchfall  hinzu,  die  Schmerzen  nahmen  zu. 
Bei  der  Aufnahme  am  4.  Exankheitstage  (2$.  Dez.)  zeigt  der  Pat.  folgenden 
schwerkranken  Oesamteindruck.  Temperatur  37,7,  Puls  116,  Leuko- 
cyten  13000,  der  Leib  sehr  stark  aufgetrieben;  überall  empfindlich. 
Nirgends  eine  deutliche  Resistenz  oder  Dämpfung.     Per  rectum  nihil. 

Verlauf:  Das  Bemerkenswerte  in  den  nächsten  Tagen  ist  der  starke 
Durchfall.  Der  Gesamteindruck  bessert  sich  langsam,  aber  deutlich.  In 
der  rechten  oberen  Bauchgegend  bildet  sich  allmählich  eine  deutliche 
Resistenz  heraus,  die  mehr  als  der  übrige  Leib  empfindlich  erscheint,  die 
aber  niemals  Dämpfung  aufweist.  Das  Erbrechen  sistiert  völlig.  Die 
Empfindlichkeit  des  übrigen  Leibes  geht  allmählich  zurück.  Per  rectum 
dauernd  nihil.  Temperatur  und  Leukocyten  bleiben  gleichfalls  dauernd 
niedrig. 

5.  J  a  n.  Pat  klagt  über  stärkere  Schmerzen  und  wird  unruhig.  Leuko- 
cytose und  Temperatur  steigt  In  den  nächsten  Tagen  steigen  unter 
größerer  Unruhe  Leukocyten,  Puls  und  Temperatur  mehr  an.  Rechts  unten 
deutliche  über  handtellergroße  Resistenz  ohne  Dämpfung. 

Operation:  7.  Jan.  (Sonnbnburo).  Plankenschnitt  rechts.  Extraperi- 
toneale Eröffnung  eines  großen  Abscesses  mit  500  ccm  gashaltigen 
Eiters,  der  unter  hohem  Druck  steht.  (Daher  keine  Dämpfung.)  Mit  dem 
Finger  kommt  man  in  eine  flache  Höhle,  die  weit  nach  dem  Nabel  zu 
reicht  und  ganz  locker  abgekapselt  erscheint.  Nach  oben  zu  fühlt  man 
den  Leberrand,  nach  unten  Darm.  Darüber  hinweg  zieht  das  Netz. 
Drainage.     Wurmfortsatz  nicht  zu  fühlen. 


Ueber  Perityphlitis. 


265 


Verlauf:  Sehr  starke  Sekretion.  Absceß  entleert  sich  gut.  Voll- 
kommene Heilung.  Fat.  wird  nach  4  Wochen  zur  Appendektomie  wieder 
bestellt 


leukZahl 
UOOOO 

TemfiL 

Paü 

1 

1 

% 

•s 

S5O00 

M"" 

160 

i 

s 

y 

30000 

♦/^ 

VtO 

J 

1 

1 

^ 

25000 

W^ 

1Z0 

i* 

§ 

\j 

^ 

v 

WOOD 

so"" 

100 

<? 

«5 

/ 

N 

15000 

38'' 

so 

"A 

,•>' 

.•-- " 

J 

"  "-or 

»'' 

A 

... 

«..— 

♦^** 

^* 

10000 

37'' 

60 

fd 

J^ 

e^ 

^ 

y 

/^ 

!^-^ 

^ 

5000 

3S'' 

w 

^ 

y 

K  Wl 

Krankkeiista^ 

* 

5 

e 

;>■ 

s 

9 

/<? 

11 

ie 

13 

IJf 

/5 

/tf 

üü 

Beide  FSlle  stellen  in  verschiedener  Richtung  Typen  dar,  sie  er- 
gänzen sich  gegenseitig.  Beide  Fälle  haben  die  gleiche  Anamnese.  In 
beiden  der  stürmische  Beginn  mit  Erbrechen  und  Schmerzen  im  ganzen 
Leib,  die  bald  nachlassen,  um  nach  einigen  Tagen  aufs  neue  stark  in  der 
rechten  Unterbauchseite  aufzutreten .  Amdritten  bis  viertenTage 
der  Erkrankung  Aufnahme  ins  Krankenhaus  unter  folgendem  Status: 
Aeußerst  kollabierter  Zustand,  demgemäß  alle  Reaktionen  minimal^ 
Temperatur  37— 37,5S  Leukocyten  10—15000,  Puls  klein, 
frequent  120 — 140.  Der  Unterleib  trommelartig  aufgetrieben,  fiberall 
gleichmäßig  stark  druckempfindlich,  auch  in  den  Flanken.  Eine  Re- 
sistenz entweder  gar  nicht  oder  nur  ganz  undeutlich  nachweisbar,  ge- 
wöhnlich Erbredien  und  Durchfall. 

Es  geht  aus  dieser  Beschreibung  hervor,  wie  schwierig  die  richtige 
Beurteilung  dieses  Zustandes  sein  muß  und  wie  schwankend  die  Indi- 
kationsstellung zur  Operation  ist.  Ich  glaube  jedoch,  daß  wir  in  dem 
Verlauf  der  beiden  mitgeteilten  Fälle  einen  Hinweis  haben,  wie  wir  uns 
am  zweckmäßigsten  in  derartigen  Situationen  verhalten.  Es  erscheint 
auf  den  ersten  Blick  als  das  einzig  Richtige,  durch  eine  schnelle 
Entleerung  des  infektiösen  Exsudats  eine  Entlastung  des  Organismus 
herbeizuführen.  Die  Erfahrungen  jedoch,  die  man  mit  Eingriffen  in  solch 
desolatem  Zustande  macht,  sind  durchaus  keine  ermutigenden.  Wir  haben 
manche  Fälle  in  diesem  Intermediärstadium  operiert,  jedoch  leider  mit 
durchaus  schlechtem  Erfolg.  Ich  werde  weiter  unten  noch  näher  auf 
diese  letalen  Fälle  zurückkommen.  Wir  stehen  heute  auf  dem  Stand- 
punkte einer  abwartenden  Behandlung,  indem  wir  uns  unter  genauester 
Beobachtung  des  Fortschrittes  des  Prozesses  unser  jeweiliges  Eingreifen 
vorbehalten.  Operiert  man  nämlich  in  einem  solchen  Stadium,  wo  alle 
Kräfte  bereits  so  außerordentlich  darniederliegen,  so  fügt  man  eine 
neue,  tiefgreifende  Schädigung  hinzu,  die  imstande  ist,  die  Widerstands- 
kraft des  Organismus   völlig  zu  brechen.    Der  Patient  geht  im  Shok 


266  A.  Federmann, 

zu  Grunde.  Eine  andere  noch  größere  Gefahr  in  diesem  Stadium  ist  die, 
daß  die  Adhäsionen,  die  vielleicht  bereits  in  der  Bildung  begriffen  sind, 
zerstört  werden,  und  somit  eine  wenigstens  schon  teilweise  begrenzte  Peri- 
tonitis aufs  neue  in  eine  diffuse  verwandelt  wird.  Es  leuchtet  ein,  daß 
der  durch  vielfache  Momente  schwer  geschädigte  Organismus  eine  er- 
neute Begrenzung  nicht  leicht  herbeizuführen  vermag. 

Es  geht  aus  diesen  Betrachtungen  hervor,  daß  es  sehr  schädlich 
sein  kann,  in  einem  solchen  Stadium  zu  operieren.  Wir  müssen  aufs 
sorgfältigste  und  stündlich  einen  derartigen  Patienten  beobachten  und 
jederzeit  bereit  sein,  einzugreifen.  Bemerken  wir  in  den  nächsten 
Stunden  und  Tagen,  daß  der  Zustand  des  Patienten  auch  nur  eine 
geringe  Besserung  aufweist,  so  werden  wir  froh  sein,  abwarten  zu 
können.  Es  steht  dann  zu  hoffen,  daß  es  den  Wehrkräften  des  Orga- 
nismus gelingen  wird,  eine  Begrenzung  der  allgemeinen  Infektion  her- 
beizuführen ;  diesen  Verlauf  zu  stören,  kann  nicht  in  unserem  Interesse 
liegen. 

Es  ist  nun  sehr  schwierig,  den  Zustand,  in  dem  sich  das  Peri- 
toneum befindet,  mit  Sicherheit  zu  beurteilen.  Nur  einige  Punkte 
möchte  ich  hier  als  besonders  wichtig  hervorheben,  da  ihre  Beachtung 
von  der  größten  Bedeutung  ist.  Unter  dem  physikalischen  Symptomen 
halten  wir  für  das  Hervorstechendste  den  mehr  oder  weniger  starken 
Meteorismus,  durch  den  eine  vorhandene  Resistenz  oft  kaum 
zu  fühlen  ist.  Trotzdem  muß  auf  den  Nachweis  der  letzteren, 
resp.  einer  deutlichen  Dämpfung  großes  Gewicht  gelegt  werden,  und 
in  den  allermeisten  Fällen  gelingt  es  auch,  trotz  des  Meteorismus 
eine  Resistenz  an  irgend  einer  Stelle,  wenn  auch  nur  undeutlich,  nach- 
zuweisen. Die  allgemeinen  Symptome  sind  die  eines  völligen  Dar- 
niederliegens  aller  reaktiven  Kräfte  des  Körpers.  Der  Puls  ist  stets 
sehr  frequent  und  klein,  er  schwankt  zwischen  120 — 140.  Einen  lang- 
samen Puls  haben  wir  in  einem  solchen  Zustand  kaum  jemals  beob- 
achtet, die  Temperatur  ist  mäßig  erhöht,  zwischen  37^  und  38  ^  oft 
niedriger. 

Eine  besondere  Bedeutung  muß  aber  gerade  in  diesen  Fällen,  vor 
allem  in  prognostischer  Beziehung,  die  Leukocytose  beanspruchen. 
Während  am  2.  oder  3.  Krankheitstage  eine  hohe  Leukocytenzahl, 
zwischen  20  und  30000,  gemäß  der  großen  Intensität  des  Pro- 
zesses und  der  noch  nicht  geschädigten  Widerstandskraft  des  Orga- 
nismus, das  durchaus  gewöhnliche  ist,  ist  es  die  Regel,  daß  in  den 
schweren  Fällen,  die  wir  hier  im  Auge  haben,  die  Leukocytose  bereits 
am  4.  Tage  rapid  bis  auf  15000  und  darunter  sinkt.  Dieser  jähe 
Sturz  ist  der  Ausdruck  der  schnell  fortschreitenden  Allgemeininfektion 
und  ein  Zeichen  von  hervorragender  Bedeutung.  Dieser  Tiefstand  der 
Leukocytenzahl  ist  uns  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Wehrkraft  des  Orga- 


üeber  Perityphlitis.  267 

nismus  nahezu  an  ihrem  tiefsten  Punkt  angelangt  ist  Eine  weitere 
Schädigung  vermag  der  Körper  nicht  mehr  zu  überwinden  ^). 

Gewöhnlich  beobachtet  man  den  eben  geschilderten  Befund  am 
4. — 6.  Tage  seit  Beginn  der  Erkrankung.  Die  Leukocytose  wird  um  so 
länger  hochbleiben,  je  später  der  Organismus  erlahmt.  Es  ist  deshalb 
nicht  angängig,  für  jeden  Krankheitstag  eine  bestimmte  Höhe  der  Leuko- 
cytenzahl  festzusetzen,  sondern  in  jedem  Falle  muß  individuell  die  ge- 
fundene Zahl  mit  den  übrigen  Symptomen  zusammen  beurteilt  werden. 
Wir  können  uns  deshalb  dahin  fassen:  Erhält  man  am  3.-7.  Krank- 
heitstage einen  Patienten  in  Behandlung,  der  neben  den 
oben  bezeichneten  schweren  klinischen  Symptomen  eine 
Leukocytenzahl  unter  15000  aufweist,  so  halten  wir  es 
für  das  Richtige,  momentan  mit  dem  Eingriff  zu  warten 
und  den  weiteren  Verlauf  zu  beobachten. 

Denn  in  einer  gewissen  Zahl  von  Fällen,  wovon  die  beiden  oben- 
genannten als  Typus  angesehen  werden  können,  kommt  die  am  4.  Tage 
noch  diffuse  Peritonitis  sekundär  zur  Begrenzung,  und  es  ist  dann 
möglich,  später  ohne  Verletzung  der  freien  Bauchhöhle  einen,  oder 
mehrere  Abscesse  zu  incidieren.  Der  Verlauf  ist  in  solchen  güns- 
tigen Fällen  ein  derartiger,  daß  einige  Tage  noch  die  Leukocytose  auf 
dem  konstatierten  tiefen  Stand  verharrt,  zugleich  mit  der  Temperatur. 
In  diese  Zeit  müssen  wir  den  Beginn  der  Begrenzung  setzen.  Ganz 
allmählich  erfolgt  dann  ein  Anstieg  der  Leukocytenzahl,  manchmal  bis 
zu  sehr  hohen  Graden  infolge  des  erneuten  Wachstums  des  Abscesses 
und  der  zunehmenden  Widerstandskraft  des  Körpers.  Die  Temperatur 
beginnt  gewöhnlich  erst  einige  Tage  später  als  die  Leukocytenzahl  an- 
zusteigen, und  wir  erhalten  durch  die  feinere  Leukocytenreaktion 
früher  schon  Nachricht  von  dem  im  Organismus  sich  vorbereitenden 
Prozesse.  Incidiert  man  dann  am  Ende  der  ersten  oder  im  Verlauf 
der  zweiten  Woche,  je  nach  der  Schnelligkeit  des  Wachstums,  einen 
solchen  Absceß,  so  findet  man  gewöhnlich  nur  eine  lockere  Begrenzung. 
Ein  Suchen  nach  dem  Wurmfortsatz  ist  aus  diesem  Grunde  schon  nicht 
angebracht.  Andererseits  ist  es  nicht  nötig,  daß  die  sekundäre  Abkapse- 
lung überhaupt  in  der  Umgebung  des  Wurmfortsatzes  erfolgen  muß. 

1)  Es  entspricht  einer  durchaus  imgen  Auffassung  der  Leukocytose, 
wenn  mau  lediglich  den  positiven  oder  negativen  Ausfall  der  Untersuchung 
für  das  Vorhandensein  von  Eiter  verwendet.  Eine  Statistik,  wie  sie  kürz- 
lich noch  Rbhk  (Münch.  med.  Woch.,  1903,  No.  60)  gegeben  hat,  die  ein- 
fach auf  den  Befund  hin,  daß  trotz  einer  niedrigen  Leukocytose  eiterige 
Peritonitis  bestand,  sich  aufbaut,  ist  angreifbar.  Es  geht  aus  der  Mit- 
teilung zahlreicher  Fälle  unserer  Beobachtung  hervor,  daß  unter  Umständen 
gerade  das  Pehlen  einer  Leukocytose  bei  sonstigen  schweren  Symptomen 
ftlr  einen  intensiven  eiterigen  Prozeß  spricht  und  daher  gerade  diese  Kom- 
bination nicht  nur  in  diagnostischer,  sondern  vor  allem  in  prognostischer 
Hinsicht  eine  große  Bedeutung  beanspruchen  kann. 


268  A.  Federmann, 

Wir  selbst  verfügen  über  mehrere  Fälle,  in  denen  lediglich  ein  Absceß 
in  der  linken  Bauchseite  von  der  diffusen  Peritonitis  übrig  geblieben 
ist.  Gewöhnlich  muß  man  allerdings  annehmen,  daß  infolge  der  größeren 
Virulenz  des  Exsudats  eine  Resorption  des  dem  Appendix  nächstge- 
legenen Herdes  am  spätesten  erfolgt,  während  an  den  übrigen  Partien 
der  Bauchhöhle  infolge  der  leichteren  Resorbierbarkeit  des  Exsudats 
eine  Resorption  leichter  möglich  erscheint  Außerdem  kommen  sicherlich 
auch  die  verschiedenartigen  Resorptionsverhältnisse  des  Peritoneum 
parietale  und  viscerale  in  Betracht,  weshalb  wir  auch  gewöhnlich  Abs- 
cesse  antreffen,  die  dem  schwerer  resorbierenden  Peritoneum  parietale 
anb'egen. 

Einen  solchen  gutartigen  Verlauf,  wie  ich  ihn  eben  geschildert  habe, 
sehen  wir  vorzüglich  illustriert  durch  den  mitgeteilten  Fall  Borchert, 
wo  der  Absceß  vorn  in  der  Magengegend  in  Erscheiiiung  trat.  Eine 
zweite,  vielleicht  die  häufigste  Lokalisation  derartiger  Abscesse  ist  die 
im  kleinen  Becken  (Douglasabscesse).  Diese  Lokalisation  ist  deshalb 
die  günstigste,  weil  es  durch  einen  sehr  geringfügigen  Eingriff  gelingt, 
eine  Entleerung  herbeizuführen.  Wir  sind  dann,  wenn  wir  eine  empfind- 
liche Vorwölbung  im  Rectum  nachweisen  können,  nicht  gezwungen,  eine 
deutliche  Begrenzung  abzuwarten,  sondern  können  bereits,  ehe  die  Leuko- 
cytose  hohe  Grade  erreicht  hat,  das  Exsudat  ablassen.  Um  eine  der- 
artige Lokalisation  handelt  es  sich  im  Fall  Kaczmarek,  wo  dieser 
Eingriff  bereits  am  8.  Krankheitstage  bei  einer  Leukocytose  von  20000 
mit  Erfolg  ausgeführt  werden  konnte.  Als  üeberrest  der  früheren 
diffusen  Peritonitis  mußte  in  diesem  Fall  ein  zweiter  linksseitiger,  intra- 
peritonealer Absceß  später  noch  entleert  werden,  ehe  die  völlige  Heilung 
erfolgen  konnte. 

Diese  beiden  Fälle,  die  wir  früh  genug  zur  Aufnahme  erhielten 
und  wo  wir  deshalb  im  stände  waren,  die  Entwickelung  unter  unseren 
Augen  zu  beobachten,  dürften  gewissermaßen  als  Typen  des  gutartigen 
Verlaufes  einer  sehr  schweren,  mangelhaft  begrenzten  Peritonitis 
anzusehen  sein.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  wir  Fälle  ganz  ver- 
schiedener Intensität  und  Krankheitsdauer  in  Behandlung  bekommen, 
durch  die  Kenntnis  eines  einigermaßen  gesetzmäßigen  Verlaufes  sind 
wir  aber  im  stände,  selbst  bei  einer  kurz  dauernden  Beobachtung,  uns 
ein  Urteil  über  den  Zustand  des  Peritoneums  zu  bilden  und  unsere  Indi- 
kation danach  einzurichten. 

Ich  möchte  mir  im  weiteren  erlauben,  kurz  einige  in  dieselbe 
Gruppe  gehörige  Fälle  mitzuteilen,  bei  denen  keine  längere  Beobach- 
tungszeit im  Krankenhause  vorlag  und  die  wir  bald  nach  der  Aufnahme 
operierten. 

3.  Fall.  Alex  Müller,  11  Jahre  alt.  Erkrankt  am  4.  Juni,  auf- 
genommen am  11.  Juni  1903,  operiert  am  11.  Juni  dem  7.  Krankheitstage 
geheilt  entlassen  am  3.  Aag.  1903. 


Ueber  Perityphlitis. 


269 


Anamnese:  Früher  gesund.  Der  Anfall  begann  am  4.  Juni  nach- 
mittags 4  ühr  mit  Erbrechen  und  Schmerzen  links  unten.  In  der  Nacht 
zogen  sich  die  Schmerzen  nach  der  rechten  Seite  und  blieben  dort  be- 
stehen. Die  Schmerzhafdgkeit  ließ  nach  und  das  Erbrechen  sistierte. 
Seit  2  Tagen  hochgradige  Verschlimmerung,  erneutes  Erbrechen. 

Befund:  Schwerkranker  Eindruck,  Temperatur  39,7,  Puls  140, 
Leukocyten  36000.  Leib  gespannt  und  aufgetrieben.  Die  linke  Bauch- 
seite ist  frei,  rechts  auf  Druck  hochgradig  empfindlich.  B.echts  eine  bis 
zur  Mittellinie  reichende  Resistenz  und  undeutliche  Dämpfung.  Rechts 
Flankenschmerz.  Per  rectum  eine  ziemlich  starke  empfindliche  Vor- 
wölbung. In  der  Annahme  einer  fortschreitenden  Peritonitis  sofortige 
Operation. 

Operation  11.  Juni  nachm.  6  Uhr  (Fbdbrmann).  Tjrpischer  Planken- 
schnitt rechts.  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums  entleeren  sich  unter 
mäßigem  Druck  etwa  3  Eßlöffel  dünnflüssigen  Eiters.  Beim  Eindringen 
mit  dem  Finger  kommt  man  in  eine  nach  oben  zu  locker  abgekapselte, 
nach  unten  und  median  zu  vollkommen  freie  Höhle,  aus  der  sich  noch 
ziemlich  viel  dicker  Eiter  entleert.  Der  Wurmfortsatz  liegt  nach  median 
zu,  ist  an  verschiedenen  Stellen  gangränös  und  enthält  zwei  große  Kot- 
steine.    Resektion.     Tiefe  Schürzentamponade  der  Wunde. 

Verlauf:  In  den  nächsten  Tagen  reichliche  Sekretion,  es  entsteht 
eine  Kotfistel,  aus  der  sich  reichlich  Faeces  entleeren. 

Nachdem  anfänglich  Temperatur  und  Leukocyten  vollkommen  zur 
Norm  abgesunken  sind,  beginnt  nach  etwa  8  Tagen  ein  allmählicher  An- 
stieg von  Puls,  Temperatur  und  Leukocytose.  Gleichzeitig  tritt  in  der 
linken  Unterbauchgegend  eine  deutliche  Resistenz  in  Erscheinung. 

26.  Juni.  Spontanperforation  eines  großen  Abscesses  in 
den  Mastdarm.  Zurückgehen  aller  Erscheinungen.  Pat.  erholt  sich 
rasch,  wird  am  3.  Aug.  mit  einer  4  cm  langen  Fistel  entlassen.  Da  trotz 
mehrmonatlicher  Behandlung  sich  dieselbe  nicht  von  selbst  schließt,  wird  sie 
Ende  Dezember  mit  vollständigem  Erfolge  operiert. 


Tempi 

fUU 

1 

^€000 

••>• 

Tl 

35000 

uz"" 

160 

' 

y 

^ 

w_ 

i1 

J 

f 

30000 

^l' 

no 

\< 

«. 

\ 

\^ 

■ll 

25000 

^^ 

1Z0 

^ 

s. 

4»^ 

4^ 

^ 

WOOO 

Jt9^ 

100 

> 

*• 

^ 

'S. 

^* 

'Tl^ 

-**— 

"  r 

15000 

38' 

so 

\  /^ 

./\ 

^•. 

XV 

•o-''' 

^ 

^ 

A 

yv 

^ 

fr 

v^ 

/ 

10OO0 

37' 

60 

V 

) 

..  A. 

A^ 

_K 

> 

t^ 

ZJ 

/- 

)^ 

5000 

36' 

'tO 

x^ 

/^ 

T 

7^ 

7^ 

KrtzakkeUstag 

7 

s 

9 

10 

// 

JZ 

t3 

/-f 

/.? 

w 

17 

78 

19 

^6> 

AL 

In  diesem  Falle,  der  am  7.  Krankheitstage  unter  höchst  schweren 
Erscheinungen  (Puls  140,  Temp.  39,7)  zur  Aufnahme  kam,  konnte  nach 
der  Anamnese  sowohl,  wie  nach  dem  Befund  kein  Zweifel  sein,  daß  es 
sich  um  eine  fortschreitende  teilweise  begrenzte  Peritonitis  handelte,  bei 
der  ohne  einen  Eingriff  ein  spontaner  Stillstand  nicht  zu  erwarten  war.  Für 
diese  Auffassung  sprach  vor  allem  die  hohe  Leukocytose  von  30000  und 
die  schweren  Allgemeinerscheinungen.    Von    großem  Interesse   ist  in 


270  A.  Fe  der  mann, 

diesem  Fall  die  Anamnese,  in  der  sich  der  bisherige  Verlauf  deutlich 
widerspiegelt.  Stürmischer  Beginn  der  Erkrankung,  Nachlassen  aller 
Erscheinungen,  allmähliche  Verschlimmerung  seit  2  Tagen.  Der  Ope- 
rationsbefund bestätigte  die  Diagnose,  indem  ein  nur  höchst  mangelhaft 
und  teilweise  abgekapselter  Eiterherd  gefunden  wurde.  Daß  wir  es 
ferner  mit  einem  vorher  diffusen  Prozeß  zu  tun  hatten,  ging  aus  der 
später  erfolgenden  Abscedierung,  dem  Douglasabsceß,  hervor.  Außer- 
dem sehen  wir  durch  diesen  Fall  unsere  Behauptung  bestätigt,  daß, 
solange  bei  noch  hochstehender  Leukocytose  operiert  wird,  die  Prognose 
eine  günstige  ist. 

Als  weiteres  Beispiel  einer  begrenzt  fortschreitenden  Peritonitis 
im  Beginn,  mag  der  folgende  Fall  Strache  dienen. 

4.  Fall.  Strache.  17  Jahre  alt.  Erkrankt  am  18.  Juli  1903,  aufge- 
nommen am  21.  Juli,  operiert  am  21.  Juli,  dem  3.  Krankheitstage, 
geheilt  entlassen  am  1.  Sept.  1903. 

Anamnese.  Pat.  früher  stets  gesund.  Am  18.  Juli  plötzlich  mit 
Schmerzen  rechts  unten  und  kräftigem  Erbrechen  erkrankt,  nachdem  er 
vorher  schon  14  Tage  über  Magenschmerzen  geklagt  hatte.  Da  die 
Schmerzen  dauernd  zunehmen,  der  Leib  sich  immer  mehr  aufbläht,  der 
Oesamteindruck  immer  schlechter  wird,  wird  Pat  zur  Operation  ins 
ELrankenhaus  gebracht. 

Befund.  Schwerkranker  Eindruck.  Zunge  ti'ocken.  Puls  120, 
Temperatur  39,0,  Leukocyten  22  000,  Leib  trommelartig  aufge- 
trieben, die  ganze  rechte  Seite  hochgradig  empfindlich,  undeutlicher  Wider- 
stand. Rechts  Flankenschmerz,  die  linke  Bauchseite  weniger  empfindlich, 
keine  Dämpfung.  In  der  Annahme  einer  fortschreitenden  Peritonitis  sofortige 
Operation. 

Operation.  21.  Juli  Nachmittag  4  ühr  (Fbdbrmann).  Typischer 
Flankenschnitt  rechts.  Nach  Eröffnung  des  etwas  verdickten  Peritoneums 
quillt  von  allen  Seiten  reichlich  übelriechender  dünner  Eiter  hervor. 
Man  kommt  mit  dem  Finger  in  eine  nach  unten  zu  locker  verklebte,  nach 
oben  und  median  zu  völlig  freie  Höhle.  Der  Wurmfortsatz  liegt  nach  unten 
und  median  zu,  wird  mit  Darmklemmen  reseziert  und  übernäht.  Er  ist 
4  cm  lang,  in  seiner  ganzen  Länge  gangränös,  in  der  Mitte  perforiert, 
enthält  einen  Kotstein.     Verlauf  glatt.     Am  1.  Sept.  geheilt  entlassen. 

Das  Verständnis  dieses  Falles  ist  nach  all  dem  Vorausgegangenen 
kein  schwieriges.  Der  Patient  wurde  am  3.  Krankheitstage  mit  einer 
hohen  Leukocytose  von  23000  unter  sehr  schweren  Allgemeinerschei- 
nungen eingeliefert.  Er  war  also  in  demselben  Stadium,  in  dem  sich 
der  Fall  Kaczmarek  bei  der  Aufnahme  befand  und  bot  dieselben  klini- 
schen Symptome.  Während  aber  im  Fall  Kaczmarek  aus  äußeren  Gründen 
mit  dem  Eingriff  gewartet  wurde  und  wir  so  Gelegenheit  hatten, 
den  rapiden  Verfall  nach  weiteren  24  Stunden  zu  beobachten,  wurde 
Strache  sofort  operiert,  da  wir  auf  Grund  der  hohen  Leukocytose 
(22000)  die  Prognose  günstig  zu  stellen  berechtigt  waren.  Der  Aus- 
gang der  Operation  gab  ihr  recht.  Es  ist  mit  großer  Wahrscheinlich- 
keit anzunehmen,  daß  auch  in  diesem  Falle  nach  weiteren  24  Stunden 


Ueber  Perityphlitis.  271 

ein  Nachlassen  aller  Kräfte  eingetreten  wäre,  mit  einer  wesentlichen 
Verschlechterung  der  Prognose.  Der  Operationsbefund  bestätigte  die 
Prognose  insofern,  als  sich  nur  ein  ganz  locker  abgegrenzter  außer- 
ordentlich großer  Eiterherd  von  putridem  Charakter  vorfand.  Durch 
radikale  Operation  und  ausgedehnte  Tamponade  gelang  es,  weitere  Ab- 
scedierungen  zu  verhüten. 

Im  folgenden  Fall  S  toi  dt  haben  wir  ein  außerordentlich  instruk- 
tives Beispiel,  wie  trotz  andauernd  normaler  Temperatur  die  konstant 
hochbleibende  Leukocytose  uns  einen  Fingerzeig  für  die  Schwere  des  sich 
abspielenden  Vorganges  gibt.  Auch  in  diesem  Falle  handelt  es  sich 
sicherlich  um  eine  Form  der  Peritonitis,  die  ohne  einen  operativen  Ein- 
griff zur  progredienten  fibrinös-eiterigen  Peritonitis  geführt  hätte.  Es  ist 
anzunehmen,  daß  in  kurzer  Zeit  ein  Absinken  der  Leukocytose  mit  der 
bekannten  schlechten  Prognose  erfolgt  wäre.  Der  Patient,  der  schon 
nach  48  Stunden  zur  Beobachtung  kam,  zeigte  dauernd  schwere  klinische 
Symptome;  da  die  Leukocytose  dauernd  hoch  blieb,  eine  Wendung  zur 
Besserung  nicht  eintrat,  wurde  am  5.  Krankheitstage  bei  noch  hoch- 
stehender Leukocytose  operiert,  und  trotz  des  ungünstigen  Zeitpunktes, 
gemäß  der  hohen  Leukocytose,  mit  gutem  Erfolg,  wenn  es  auch  später 
noch  zu  mehrfacher  Abscedierung  kam.  Der  Operationsbefund  be- 
stätigte die  Diagnose  insofern,  als  sich  bereits  zwei  mangelhaft  be- 
grenzte Eiterherde  vorfanden.  Der  Anfang  zu  einer  fortschreitenden 
Peritonitis  war  hierdurch  gegeben.  Ich  teile  die  Krankengeschichte  und 
die  Kurve  hier  mit 

6.  Fall.  Stoldt.  18  Jahre  alt.  Erkrankt  am  23.  April,  aufgenommen  am 
26.  April  1903,  operiert  am  28.  April,  dem  5.  Kran kheits tage,  ge- 
heilt entlassen  am  8.  Juni  1903. 

Anamnese.  In  der  Nacht  vom  22. — 23.  April  begann  der  Anfall  mit 
einem  plötzlichen  Schmerz  rechts  unten,  nachdem  schon  den  Tag  über  ge- 
ringe Leibschmerzen  vorhanden  gewesen  waren.  Es  trat  reichliches  Er- 
brechen hinzu,  die  Schmerzen  nahmen  zu. 

Befund.  Schwerkranker  Gesamteindruck.  Temperatur  37,8, 
Puls  120,  Leukocyten  23  000.  Der  Leib  mäßig  aufgetrieben,  in 
der  rechten  Unter  bauchsei  te  eine  ganz  undeutliche  Resistenz  ohne 
Dämpfung,  jedoch  mit  hochgradiger  Empfindlichkeit     Ikterus. 

Verlauf.  In  den  nächsten  Tagen  tritt  rechts  unten  ein  deutlicher 
Tumor  auf,  der  beinahe  bis  zur  Mittellinie  reicht  und  hochgradig  empfind- 
lich ist,  die  Allgemeinerscheinungen  gehen  nicht  zurück,  deshalb  Operation. 

Operation  (28.  April,  Hbrmbs).  Typischer Flankenschnitt rechts.  Nach 
Eröffnung  des  etwas  verdickten  Peritoneums  kommt  man  in  eine  lockere 
Absceßhöhle,  aus  der  sich  etwa  l^,  Eßlöifel  übelriechenden  Eiters  entleert. 
Der  Wurmfortsatz  liegt  an  der  Hinterwand  des  Coccums,  ist  an  seiner 
Spitze  gangränös  und  perforiert  Dieselbe  taucht  in  eine  zweite  Absceß- 
höhle im  deinen  Becken,  aus  der  sich  gleichfalls  zwei  Eßlöffel  Eiter  ent- 
leeren.    Der  Wurmfortsatz  wird  reseziert     Tiefe  Schürzentamponade. 

Verlauf.  In  den  nächsten  Tagen  gingen  die  Erscheinungen  anfänglich 
zurück.    Am  S.Mai  wird  erst  von  der  alten  Wunde  aus  ein  großer  Absceß 


272 


A.  Federmann, 


^latt,  Pat.  wird  mit  guter  Narbe  am  28.  Juni  geheilt 


stumpf  eröffnet,  der 
bis  tief  in  den 
Douglas  hinab- 
reicht.  Entleerung 
von  ca.  300  ccm 
stinkenden  grün- 
gelben Eiters.  Dann 

Eröffnung  eines 
zweiten  Abscesses, 
der  nach  der  linken 

Becken  schaufei 
hingeht,    per   Rec- 
tum, 200  ccm  Eiter, 
Verlauf    ist     dann 
entlassen. 


Hatten  wir  es  bisher  mit  Beobachtungen  zu  tun,  die  sämtlich  einen 
gutartigen  Verlauf  zeigten,  so  möchte  ich  nun  auf  eine  Reihe  von  Fällen 
näher  eingehen,  die  einen  letalen  Ausgang  nahmen  und  gerade  deshalb 
eine  Fülle  interessanter  und  wichtiger  Tatsachen  liefern.  Wir  hatten 
oben  die  Behauptung  aufgestellt,  daß,  wenn  bei  einer  nach  48  Stun- 
den bestehenden  niedrigen  Leukocytose  und  schwerem  Allgemeinzustande 
operiert  wird,  die  Prognose  eine  durchaus  schlechte  ist. 

Ich  möchte  im  folgenden  3  Fälle  mitteilen,  die  nach  dem  3.  Krank- 
heitstage trotz  niedriger  Leukocytose  und  schweren  Allgemeinerschei- 
nungen operiert  wurden  und  alle  zu  Grunde  gegangen  sind.  Der  Abfall 
einer  hohen  Leukocytose  kann  bei  einer  vorher  schon  mangelhaft  be- 
grenzten Peritonitis  dadurch  zu  stände  kommen,  daß  die  Allgemein- 
vergiftung des  Körpers  einen  hohen  Grad  erreicht  hat.  Um  diesen 
Modus  handelt  es  sich  in  der  Regel,  wenn  wir  bereits  in  den  ersten 
3 — 5  Tagen  ein  allmähliches  Absinken  der  Leukocytose  konstatieren. 
Beispiele  dieser  Art  finden  sich  ausführlich  mitgeteilt  in  meiner  ersten 
Arbeit  über  Leukocytose  bei  freier  fortschreitender  Peritonitis.  Alle 
jene  Fälle  wurden  trotz  niedriger  Leukocytose  am  3. — 4.  Tage  operiert 
und  sind  zu  Grunde  gegangen,  und  ich  stellte  schon  in  meiner  ersten 
Veröffentlichung  die  Behauptung  auf,  daß  Operationen  unter  solchen 
Bedingungen  ausgeführt,  eine  durchaus  schlechte  Prognose  geben.  Eine 
zweite  Ursache  des  Leukocytenabfalls,  die  vor  allem  in  den  uns  hier 
interessierenden  Fällen  vorliegt,  bildet  die  Perforation  eines  Abscesses 
in  die  freie  Bauchhöhle.  Ich  werde  mir  erlauben,  nachfolgend  mehrere 
Beispiele  eines  solchen  Vorganges  hier  mitzuteilen,  möchte  aber  vorher 
einige  berichtigende  Worte  voranschicken. 

Es  kommt  sicher  sehr  selten  vor,  daß  ein  völlig  abgekapselter 
Eiterherd  perforiert.  Ich  selbst  habe  dieses  Ereignis  niemals  mit 
Sicherheit  beobachtet.  Wenn  man  von  einer  Perforation  eines  Abscesses 
spricht,  so  handelt  es  sich  meist  um  jene  locker  abgekapselten,  bereits 
im  Fortschritt  begriffenen  Eiteransammlungen,  die  auf  irgend  eine  Weise 
plötzlich  ein  großes,  bisher  nur  leicht  entzündetes  Peritonealgebiet  über- 


Ueber  Perityphlitis.  273 

schwemmen.  Die  Wirkung  eines  solchen  Vorkommnisses  ist  eine  shok- 
artige,  und  wer  sie  einmal  gesehen  hat,  kann  ein  solches  Ereignis  stets 
wiedererkennen.  Das  Verhalten  der  Leukocytose  ist  dabei  geradezu  ein 
typisches.  Während  nämlich  die  Temperatur  ein  verschiedenes  Bild 
zeigt,  in  dem  einen  Falle  unter  die  Norm  absinkt,  in  dem  andern  auf 
40  ^  unter  Schüttelfrösten  ansteigt,  ist  es  die  Regel,  daß  die  Leukocyten- 
zahl,  ganz  abgesehen  auf  welcher  Höhe  sie  vorher  gestanden  hat,  in 
ganz  kurzer  Zeit  erheblich  absinkt,  bis  zur  Norm,  oder  noch  tiefer. 
Dieser  Sturz,  der  meiner  Ansicht  nach  in  erster  Linie  auf  nervöse  Ein- 
flüsse seitens  des  Sympathicus,  der  auch  mit  den  Leukocytencentren  in 
Verbindung  steht,  zurückzuführen  ist,  ist  in  allen  Fällen  gleichmäßig  zu 
beobachten.  Klinisch  macht  sich  eine  derartige  Perforation  außerdem 
durch  einen  höchst  frequenten  Puls,  CoUaps,  allgemeine  Unruhe  des 
Patienten  bemerkbar.  Meistens  bestehen  hochgradige  Schmerzen  in  der 
Gegend  der  Perforation.    Physikalische  Symptome  sind  häufig  undeutlich. 

In  zwei  von  den  3  folgenden  Fällen  (Fall  6  und  7)  trat  die  Perforation 
unter  unseren  Augen  ein.  Beide  Patienten  hatten  vorher  einen  mehr  oder 
minder  deutlichen  Absceß,  ein  durchaus  schwerer  Allgemeineindruck 
konnte  nicht  konstatiert  werden.  In  beiden  Fällen,  die  sich  am  4.  resp. 
5.  Krankheitstage  befanden,  war  vor  der  Perforation  eine  hohe  Leuko- 
cytenzahl  festgestellt  worden.  Die  Leukocytose  sank  eine  Stunde  nach 
der  Perforation  rapide,  aber  trotz  sofortiger  Operation  gingen  beide 
Patienten  zu  Grunde.  Auffallend  ist  die  außerordentlich  reichliche  Eiter- 
menge, die  sich  bei  der  Operation  fand,  ein  Befund,  der  die  Anschauung 
zu  stützen  scheint,  daß  der  wirkliche  Durchbruch  bereits  Stunden  vorher 
stattgefunden  hatte,  die  klinischen  Symptome  aber  erst  infolge  der 
gesteigerten  Einwirkung  auftraten.  In  beiden  Fällen  konnte  durch 
das  Vorhandensein  eines  Teiles  der  früheren  Absceßwände  der  Nach- 
weis geführt  werden,  daß  vorher  ein,  wenn  auch  locker  begrenzter 
Absceß  bestanden  hatte.  Nach  unseren  Erfahrungen  stellten  wir  auf 
Grund  der  niedrigen  Leukocytenzahl  eine  durchaus  schlechte  Prognose, 
die  durch  den  bald  erfolgten  Exitus  leider  bestätigt  wurde.  Von  Interesse 
ist  schließlich  der  weitere  Verlauf  der  Leukocytose  nach  der  Operation. 
Beide  Patienten  gingen  unter  einer  dauernd  ansteigenden  Leukocytose 
und  subnormalen  Temperatur  an  fortschreitender  Peritonitis  zu  Grunde. 

Als  dritter  Fall  einer  Perforationsperitonitis  möchte  ich  noch 
den  Fall  Sommer  anführen,  den  ich  am  Abend  des  dritten  Krank- 
heitstages draußen  mit  einem  anscheinend  gut  begrenzten  Absceß  zu 
Gesicht  bekam.  In  der  Nacht  trat  hochgradige  Verschlimmerung  ein. 
Am  nächsten  Mittag  Leukocytenzahl  von  16000.  Trotz  der  schlechten 
Prognose  operierte  ich  den  Fall.  Bei  der  Operation  fand  sich  neben 
den  Resten  des  alten  Ab^cesses  eine  ausgedehnte  Peritonitis.  Der 
Patient  ging  nach  24  Stunden  im  Collaps  zu  Grunde. 

Ich  teile  im  folgenden  die  Krankengeschichten  dieser  3  Fälle  von 
Perforationsperitonitis  mit : 

MlttdL  a.  d.  OreazfeMetan  d.  Medlsin  a.  Chlrargle.    Zm.  Bd.  18 


274 


A.  Federmann, 


LeukZcM 

Jh^t 

RJ» 

1 

*0000 

35000 

42' 

160 

1« 

30000 

41' 

no 

25000 

*o' 

1ZO 

14 

f — 

» 

WOOO 

so' 

100 

15000 

38' 

80 

*^. 

\ 

r 

*v 

nd. 

10000 

sr' 

60 

,.\ 

\^ 

L 

5000 

36' 

'  W 

^~^ 

w 

^ 

^ 

Tod. 

KrcuikkeUsta0 

♦ 

3 

6 

7 

8 

6.  Fall.  Berthold,  Paul. 
34  Jahre  alt  Erkrankt  29.  Juni, 
aufgenommen  am  3.  Juli,  dem 
4.  Krankheitstage,  sofort 
operiert,  gestorben  6.  Juli  1903. 
Anamnese.  Vor  6  Wochen 
Leibschmerzen  und  Erbrechen. 
Die  jetzige  Erkrankung  begann 
am  29.  Juni  plötzlich  5  Uhr  früh 
mit  Schmerzen  im  Leibe  und  Er- 
brechen. Die  Schmerzen  lokali- 
sierten sich  auf  die  rechte  Bauch- 
seite. Erbrechen  hört  auf. 
Befund.  Fat  macht  einen 
kranken  Eindruck.  Puls  100,  Temperatur  37,6,  Leukocyten 
23  000.  Leib  stark  gespannt  Rechts  unten  fühlt  man  eine  deutliche 
Resistenz  von  Handtellergröße,  die  auf  Druck  schmerzhaft  erscheint  Per 
Rektum  keine  Verwölbung,  rechts  schmerzhaft. 

3.  Juli.  Am  Morgen  ist  die  Temperatur  36,8,  Leukocytenzahl  22000, 
Puls  88.  Resistenz  deutlicher.  Status  idem.  Am  Nachmittag  2  Uhr 
plötzlich  Kollaps,  unter  Absinken  der  Temperatur  und 
Heruntergehen  der  Leukocytenzahl  auf  6000.  Oroße  Un- 
ruhe.    Puls  104. 

Operation  Nachmittag  4  Uhr  (Wolff).  Flankenschnitt  Nach  Eröff- 
nung des  dicken  schwartigen  Peritoneums  entleert  sich  grünflüssiger  Eiter 
in  reichlicher  Menge.  Dick-  und  Dünndarm  drängen  sich  in  die  Wunde 
vor.  Der  Wurmfortsatz  liegt  retrocökal  nach  median  zu  geschlagen.  Er 
ist  kleinfingerdick,  prall  mit  Eiter  gefüllt  Perforation  oder  Gangrän  nicht 
zu  entdecken.  Er  wird  abgebunden  und  übemäht  Lockere  Verklebungen 
bestehen  nur  nach  oben  hin. . 

Verlauf.  Unter  zunehmender  Leukocytose  und  abfallender  Temperatur 
tritt  nach  4  Tagen  unter  fortschreitender  Peritonitis  der  Exitus  ein. 

7.  Fall.  Gattner,  Franz.  39  Jahre  alt  Erkrankt  am  25.  Januar, 
aufgenommen  am  4.  Febr ,  operiert  am  6.  Febr.,  gestorben  am  15.  Febr.  1902. 

Anamnese.  Die  jetzige  Erkrankung  begann  vor  10  Tagen  mit  leichten 
Jjeibschmerzen,  die  Patient  aber  nicht  weiter  beachtete.  Am  2.  Febr. 
traten  plötzlich  abends  heftige  Schmerzen  in  der  rechten  Unterbauchgegend 
auf,  ohne  Erbrechen  und  Schüttelfrost 

Befund:  Der  Leib  nicht  stark  aufgetrieben.  Rechts  unten  eine  etwa 
handtellergroße  Resistenz  und  Dämpfung,  die  empfindlich  ist  Der  übrige 
Leib  ist  schmerzfrei.     Temperatur  39.     Puls  92. 

Am  nächsten  Tage  Temperatur  37,8,  Puls  96,  Leukocytenzahl  20000. 

Gesamtbefund  unverändert;  deutliche  hochsitzende  Resistenz.  Da  am 
nächsten  Tage  unter  plötzlichem  Schüttelfrost  morgens  die  Temperatur 
auf  41^  steigt.  Puls  136,  wird,  unter  Annahme  einer  plötzlichen  Perforation 
des  Abscesses,  sofort  operiert. 

Operation  (Hbrmbs).  6.  Nov.  Typischer  Flankenschnitt  Nach  Er- 
öffnung des  Peritoneums  an  der  Umschlagsfalte  liegt  freies  Coecum  und 
Netz  vor.  Nach  Zurückstopfen  desselben  kommt  man  mit  dem  Finger  in 
einen  nur  zum  Teil  begrenzten,  nach  oben  offenen  Absceßraum  von  Hühner- 
eigröße. Gangränöse  Absceßwandteile  werden  entfernt.  Der  Wurmfortsatz 
liegt  als  8  cm  langer,  dünner  Strang,  zum  Teil  völlig  gangränös,  in  der 
Absceßwand  eingebettet     Resektion.     Schürzentamponade. 


Ueber  Perityphlitis. 


276 


Verlauf:  In  den  ersten  3  Tagen  nach  der  Operation  sinken  Puls, 
Temperatur  und  Leukocyten  parallel  bis  zur  Norm  ab.  £&  erfolgt  Stuhl- 
gang. Starker  Ikterus  tritt  auf.  Einmaliges  Erbrechen.  Wunde  sieht 
schlecht  aus.  In  den  nächsten  6  Tagen  bis  zum  Exitus  steigt  die  Leuko- 
cytose  auf  48000,  während  die  Temperatur  dauernd  subnormale  Zahlen 
aufweist.  Trotz  zweimaliger  Incision  auf  der  linken  Bauchseite  und  Ent- 
leerung von  2  neuen  Absoessen  gebt  Patient  am  14.  Nov.  an  fortschreitender 
Peritonitis  zu  Orunde.     Sektion  ergibt  allgemeine  eiterige  Peritonitis. 


8.  Fall.  Sommer.  9  Jahre  alt  Erkrankte  am  9.  Nov.,  aufgenommen 
am  12.  Nov.,  operiert  am  12.  Nov.,  am  4.  Krankheitstage,  gestorben 
13.  Nov. 

Anamnese.  Pat.  erkrankte  am  8.  Nov.  plötzlich  mit  Leibschmerzen 
und  Erbrechen.  Die  Schmerzen  nahmen  zu,  kein  Schüttelfrost.  Nach  3  Tagen 
war  rechts  unten  eine  deutliche  Resistenz  zu  fühlen,  die  sehr  empfind- 
lich war.  Puls  140,  Temperatur  39,3.  In  der  Nacht  zum  12.  trat 
eine  Verschlimmerung  ein.  Als  Patient  am  12.  mittags  ins  Krankenhaus 
aufgenommen  wurde,  war  er  in  völligem  Kollapszustaüde.  Unterleib  mäßig 
aufgetrieben,  auch  jetzt  besteht  eine  deutliche  handtellergroße  Resistenz 
rechts  unten,  die  sich  diffus  nach  der  Mittellinie  hin  verbreitete.  Der 
ganze  Unterleib  empfindlich,  besonders  rechts  unten  und  in  beiden  Flanken. 
Zunge  trocken.  Fahles  Aussehen.  Temperatur  38,3,  Puls  140, 
Leukocyten  14000.  In  der  Annahme  einer  fortsdireitenden  Peri- 
tonitis sofortige  Operation. 

Operation  12.  Dez.  nachmittags  (Fbdbrmanm).  Flankenschnitt  rechts. 
Es  entleert  sich  unter  mäßigem  Druck  etwa  ein  Eßlöffel  übelriechenden 
Eiters.  Wurmfortsatz  liegt,  kaum  verwachsen,  bogenförmig  geknickt  direkt 
vor,  ist  teilweise  gangränös  und  an  der  Kuppe  perforiert.  Die  Qangrän 
geht  bis  zum  Goecum.  Resektion  desselben  und  Uebemähung.  Beim 
Herausholen  des  Wurmfortsatzes  quillt  aus  dem  kleinen  Becken  von  median 
und  oben  her  reichlich  grüner  Eiter,  im  ganzen  Yg  ^-  Darmschlingen  sind 
kaum  verklebt,  ein  breiter  Netzzipfel  zieht  nach  dem  kleinen  Becken  hinunter. 
Eiter  quillt  frei  zwischen  den  Darmschlingen  hervor.  Mehrfache  tiefe 
Schürzentamponade. 

Trotz  reichlicher  Excitantien  am  nächsten  Nachmittag  Exitus. 

Gewissermaßen  in   die  obige  Kategorie   von  Fällen,    insofern   als 

auch  in  ihm  eine  akute  Perforation   eintrat,  gehört  der  folgende  Fall 

Konrad,  der  gleichfalls  einen  letalen  Ausgang  nahm.    Ich  schicke  die 

Krankengeschichte  voran. 

18* 


276 


A.  Federmann, 


9.  Fall.  Kon r ad.  28  J.,  erkrankt  am  19.  Febr.,  aufgenommen  am 
22.  Febr.,  operiert  am  28.  Febr.,  gestorben  am  4.  März  1903. 

Anamnese:  Früher  angeblich  gesund.  Die  jetzige  Erkrankung  begann 
am  19.  Febr.  mit  heftigen  Schmerzen  in  der  Unterbauchgegend,  Erbrechen 
und  Fieber.  Am  n&chsten  Tage  Stuhlgang.  Da  die  Schmerzen  trotz  Eis- 
blase nicht  nachlassen,  Aufnahme  ins  Krankenhaus. 

Befund:  Bei  der  Aufnahme  bietet  Fat.  einen  mäßig  schwerkranken 
Eindruck.  Temperatur  39®,  Puls  120,  Leukocyten  17000. 
Der  Leib  leicht  aufgetrieben  und  überall  empfindlich.  Brcsistenz  oder 
Dämpfung  nirgends  nachweisbar.     Kein  Erbrechen. 

Verlauf:  25.  Febr.  In  der  rechten  ünterbauchgegend  deutliche 
Resistenz  von  Hühnereigröße.  Fat.  hat  mehrmals  erbrochen.  Stuhlgang 
spontan.     Etwas  Ikterus.     Temperatur  39  o,   Puls  96,   Leukocyten  18000. 

26.  Febr.  Schüttelfrost,  Temperatur  39,2  o,  Puls  104.  Allgemeine  Ver- 
schlechterung. In  den  nächsten  Tagen  wird  das  Allgemeinbefinden  schlechter. 
Ikterus  nimmt  zu,  Erbrechen  hält  an. 

Operation:  28.  Febr.  (Hbrmks).  Flankenschnitt  rechts.  Eröffnung 
eines  faustgroßen  Abscesses  an  der  Umschlags  falte  und  Entleerung  von 
Y^  1  übelriechenden  Eiters.  Die  Höhle  ist  besonders  nach  unten  zu  offen. 
Im  übrigen  sehr  locker  abgekapselt.  Der  Wurmfortsatz  zeigt  in  der  Mitte 
eine  3  cm  lange  gangränöse  Partie,  die  perforiert  ist.  Resektion.  Tiefe 
Schürzentamponade. 

Verlauf:  Unter  fortschreitender  Peritonitis  und  unter  Ansteigen  der 
Leukocyten  auf  42000  geht  Fat.  nach  4  Tagen  zu  Grunde.  Bei  der 
Sektion  findet  sich  ein  großer  Absceß  im  Douglas.  Im  übrigen  ausgedehnte 
Peritonitis. 


Der  Fall  hatte  am  3.  Krankheitstage  bereits  eine  für  die  Schwere 
des  Prozesses  niedrige  Leukocytose,  die  nun  bis  zum  7.  Tage  konstant 
auf  dieser  Höhe  verblieb,  während  gleichzeitig  ein  deutlicher  Tumor  in 
die  Erscheinung  trat.  Wir  müssen  diese  niedrige  Reaktion  als  äußerste 
Anstrengung  des  Organismus  ansehen,  der  noch  nicht  völlig  erlahmt, 
aber  zu  der  nötigen  höheren  Leistung  unfähig  ist.  Immerhin  war  die 
Leukocytose  eine  derartige,  daß  ein  Eingriff  noch  erfolgversprechend 
gewesen  wäre.  Da  trat  am  7.  Tage  ein  akuter  Nachschub  mit  einem 
Schüttelfrost  ein,  gleichzeitig  rapides  Absinken  der  Leukocyten  auf 
10000.  Die  folgende  fortschreitende  Peritonitis  führte  zum  Tode,  ohne 
daß   der  chirurgische  Eingriff  einen  merklichen  Einfluß  hatte.    Es  ist 


üeber  Perityphlitis.  277 

anzunehmen,  daß  die  Begrenzung  von  Anfang  an  nur  eine  höchst 
mangelhafte  gewesen  ist,  und  daß  der  Körper  nur  mit  Aufbietung  aller 
Kräfte  einer  Propagation  widerstand.  Von  größter  Wichtigkeit  ist  der 
Fall  deswegen,  weil  die  vorhandene  konstante  Leukocytose  von  17000 
zu  der  Schwere  des  Prozesses  in  einem  großen  Mißverhältnis  stand  und 
die  Bösartigkeit  des  Vorganges  in  keiner  Weise  erkennen  ließ. 

IV. 
Zasammenfasfliiiig. 

Fasse  ich  am  Schlüsse  meiner  bisherigen  Ausführungen  unsere 
Ansicht  über  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Leukocytenzählung, 
wie  sie  sich  uns  nun  nach  einem  Untersuchungsmaterial  von  ca.  300 
FSllen  in  den  letzten  2  Jahren  ergeben  hat,  kurz  zusammen,  so  möchte 
ich  folgendes  sagen: 

Die  Leukocytose  ist  als  eine  heilsame  Reaktion  des  Organismus 
gegenüber  der  Infektion  aufzufassen.  Sie  stellt  ein  Symptom  der  Er- 
krankung dar  wie  Jedes  andere,  in  mancher  Hfnsicht  vielleicht  ein 
feineres,  jedenfalls  aber  kein  charakteristisches.  Der  Ausfall  dieser 
Reaktion  wird  im  wesentlichen  bestimmt  durch  die  Infektionsintensität 
und  die  Reaktionskraft  des  Körpers.  Von  diesen  beiden  Momenten  ist 
das  erstere  wegen  seiner  größeren  Labilität  als  das  wichtigere  zu  be- 
trachten. Da  sich  bei  der  Perityphlitis  die  Entzündung  vorzüglich  am 
Peritoneum  abspielt,  das  wie  kein  anderes  Organ  befähigt  ist,  jeden 
feinsten  Reiz  widerzuspiegeln,  so  erklärt  sich  dadurch  die  große  Em- 
pfindlichkeit der  Reaktion  bei  dieser  Krankheit.  So  werden  wir  aber 
auch  geradezu  dazu  gedrängt,  die  Beteiligung  des  Peritoneums  neben 
den  anatomischen  Veränderungen  am  Wurmfortsatz  zur  Grundlage  und 
zum  Einteilungsprinzip  zu  erheben.  Nur  durch  eine  Kenntnis  des 
pathologisch-anatomischen  Vorganges  kann  der  Blutbefund  richtig  be- 
wertet werden,  und  umgekehrt  wird  durch  die  Untersuchung  des 
Blutes  das  Verständnis  für  den  anatomischen  Prozeß  erleichtert  und 
gefordert 

Wie  aus  der  großen  Zahl  unserer  Beobachtungen  hervorgeht,  ver- 
läuft jede  Perityphlitis,  mag  es  nun  eine  einfache  katarrhalische  Form 
sein  oder  die  schwere  Gangrän  mit  freier  Peritonitis,  unter  einer  typischen 
Leukocytenkurve,  die  einen  ansteigenden  Teil,  ein  Höhestadium 
und  einen  absteigenden  Teil  hat.  Je  nach  der  Intensität  des  Prozesses 
variiert  diese  Kurve. 

Je  leichter  die  Infektion  ist,  desto  niedriger  ist  die  Leukocyten- 
zahl  im  Beginn  der  Erkrankung  und  desto  schneller  sinkt  sie  parallel 
den  übrigen  Symptomen  zur  Norm  ab.  Je  schwerer  die  Infektion  ist, 
zu  desto  höheren  Werten  steigt  die  Leukocytenzahl  an,  desto  länger 
verweilt  sie  auf  diesem  Niveau,  um  dann  gleichfalls  allmählicher  oder 
rascher  zur  Norm  herunterzugehen.  In  den  allerschwersten  Fällen 
sinkt  sie  nach  einem  kurzen  Höhestadium  zwar  gleichfalls  ab,  während 


J 


278  A.  Federmaun, 

jedoch  im  Gegensatz  dazu  die  übrigen  klinischen  Symptome  dauernd 
an  Schwere  zunehmen. 

Betrachten  wir  unter  Zugrundelegung  dieser  allgemeinen  Gesichts- 
punkte den  Wert  und  die  Bedeutung  der  LeukocytenzäMung  in  den 
einzelnen  Entwickelungsstadien  einer  Perityphlitis,  so  werden  wir  er- 
kennen, daß  die  Verwertung  des  Leukocytose  fOr  diagnostisch  -  pro- 
gnostische Zwecke  nur  statthaft  ist  unter  sorgfältigster  Berücksichti- 
gung aller  übrigen  klinischen  Symptome,  vor  allem  der  Temperatur, 
des  Pulses  und  dem  Zeitpunkt  der  Erkrankung.  Ohne  eine  Ver- 
gleichung  mit  diesen  ist  eine  richtige  Beurteilung  unsicher  und  irre- 
führend. Da  die  Leukocytose  einen  Wert  vor  allem  während  des 
Fortschrittes  der  Krankheit  besitzt,  so  bedeutet  aucH  bei  weitem  mehr 
als  eine  einmalige  Zählung  die  genaue  Beobachtung  der  Leukocyten- 
kurve.  Es  ist  ausdrücklich  davor  zu  warnen,  die  gefundene  Zahl  allzu 
schematisch  aufzufassen  und  der  einmaligen  Zählung  eine  zu  große  Be- 
deutung beizulegen.  Deuten  schon  die  klinischen  Symptome  auf  eine 
schwere  Erkrankung,  so  ist  uns  eine  vorhandene  Leukocytose  eine 
willkommene  Stütze  der  Diagnose.  Einen  besonderen  Wert  hat  die 
Leukocytose  dann,  wenn  die  übrigen  Untersuchungsergebnisse  zweifel- 
hafter Natur  sind. 

In  dem  Frühstadium  der  Erkrankung  —  das  ist  in  den 
ersten  2 — 2^2  Tagen  —  ist  die  Beurteilung  und  Verwertung  der  ge- 
gefundenen  Leukocytenzahl  am  schwierigsten  und  unsichersten,  weil 
die  Momente,  die  gerade  im  Beginne  der  Erkrankung  die  Leukocyten- 
reaktion  beeinflussen,  zu  zahlreich  und  zum  Teil  noch  zu  unbekannt  sind. 
Wir  sind  zwar  auf  Grund  einer  einmaligen  Zählung  meist  in  der  Lage, 
im  vorliegenden  Falle  zu  entscheiden,  ob  eine  Appendicitis  simplex 
oder  eine  Perforation  resp.  Gangrän  des  Organs  besteht,  denn  bei  einer 
Appendicitis  simplex  erhebt  sich  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  die 
Leukocytenzahl  über  20000  (Empyem  des  Wurmfortsatzes),  während 
bei  den  schwereren  Formen  eine  hohe  Leukocytenzahl  über  20000  die  Regel 
darstellt.  Jedoch  sind  wir  keineswegs  im  stände,  auf  Grund  einer  so- 
gar mehrmals  vorgenommenen  Zählung,  in  den  ersten  2 — 3  Tagen  mit 
Sicherheit  zu  entscheiden,  ob  der  vorliegende  eiterige  Prozeß  spontan 
in  Begrenzung  übergeht  oder  dauernd  fortschreitet.  Es  ist  jedenfalls 
feststehend,  daß  eine  selbst  mehrere  Tage  bestehende  hohe  Leukocyten- 
zahl eine  spätere  völlige  Abkapselung  durchaus  nicht  ausschließt. 
Mittelwerte  sind  in  diagnostischer  Hinsicht  von  geringer  Bedeutung,  da 
sie  bei  jeder  Form  der  Perityphlitis  vorkommen  können.  Eine  niedrige 
Leukocytenzahl  zusammen  mit  schweren  klinischen  Symptomen  ist  der 
Ausdruck  von  schon  beginnender  Allgemeinvergiftung  und  beansprucht 
in  prognostischer  Beziehung  eine  große  Bedeutung.  Eine  Indikations- 
stellung lediglich  auf  Grund  der  Leukocytenzahl  ist  in  den  ersten 
48  Stunden  nicht  angängig,  dazu  bedarf  es,  wie  bisher,  der  sorgfilltigen 
Abwägung  und  Beurteilung  aller  vorhandenen  Symptome. 


lieber  Perityphlitis.  279 

Der  Wert  der  Leukocytenzählung  steigt  um  so  mehr,  je  weiter 
der  infektiöse  Prozeß  fortschreitet.  Denn  um  so  mehr  sind  wir  in  der  Lage, 
die  Leukocytenkurve  zu  berücksichtigen.  Schon  am  3.-5.  Krank- 
heitst^ge,  dem  Intermediärstadium,  in  dem  ein  Eingriff  am  ge- 
fährlichsten erscheint,  ist  der  Ausfall  der  Leukocytenzählung  in  dia- 
gnostisch-prognostischer Hinsicht  von  großer  Bedeutung.  Eine  hohe 
Leukocytenzahl  und  schwere  klinische  Symptome  geben  in  diesem 
Stadium  die  Indikation  zum  sofortigen  Eingriff,  da  das  mit  Sicherheit 
vorhandene  eiterige  Exsudat  keine  Tendenz  zur  Abkapselung  zeigt. 
Solange  bei  noch  hochstehender  Leukocytenzahl  operiert  wird,  ist  die 
Prognose  der  Operation  eine  günstige.  Besteht  jedoch  in  diesem 
Stadium  neben  schweren  klinischen  Symptomen  eine  niedrige  oder 
keine  Leukocytose,  so  bedeutet  das,  daß  die  Kräfte  des  Organismus 
bereits  auf  einem  derartig  tiefen  Niveau  angelangt  sind,  daß  eine  weitere 
Schädigung,  wie  sie  ein  operativer  Eingriff  immerhin  darstellt,  nicht 
mehr  vom  Körper  überwunden  werden  kann.  Deshalb  ist  ein  ab- 
wartendes Verhalten  unter  solchen  Verhältnissen  mehr  am  Platze,  um 
dem  Organismus  die  Möglichkeit  zu  überlassen,  spontan  eine  Be- 
grenzung herbeizuführen.  Es  ist  dann  später  unter  günstigeren  Ver- 
hältnissen möglich,  bei  hoher  Leukocytose  einen  oder  mehrere  Abscesse 
zu  eröffnen. 

Geht  der  Verfall  weiter,  so  ist  die  Prognose  mit  oder 
ohne  Operation  eine  ungünstige.  Von  unseren  Peri- 
tonitisfällen  sind  alle  bei  niedriger  oder  fehlender 
Leukocytose  und  schweren  klinischen  Symptomen  ope- 
rierten Patienten  zu  Grunde  gegangen,  während  alle 
bei  hoher  Leukocytose  wenn  auch  schwersten  klinischen 
Symptomen  operierten  —  selbst  die  am  4.  Krankheits- 
tage —  genesen  sind.  Wir  halten  demnach  die  Leuko- 
cytenzahl vor  der  Operation  für  das  sicherste  pro- 
gnostische Merkmal,  weil  er  am  klarsten  die  noch  vor- 
handene Wehrkraft  des  Organismus  widerspiegelt. 

Befindet  sich  der  Prozeß  bereits  am  Ende  der  1.  Woche  oder  in 
einem  noch  späteren  Stadium,  so  ist  eine  Leukocytenzahl  von  20000 
und  darüber  zwar  stets  ein  Zeichen  eines  mehr  oder  weniger  gut  be- 
grenzten Abscesses.  Eine  Indikation  zur  Operation  ist  jedoch  durch 
diese  hohe  Leukocytenzahl  allein  niemals  gegeben,  eine  solche  ergibt 
sich  vielmehr  erst  aus  einer  Vergleichung  mit  allen  übrigen  Symptomen. 
Besteht  eine  hohe  Leukocytose  bei  schweren  klinischen  Symptomen, 
80  spricht  das  für  schnell  wachsenden  Absceß  und  indiciert  sofortige 
Operation.  Konstatieren  wir  eine  hohe  Leukocytenzahl  ohne  bedroh- 
liche Symptome,  so  erlaubt  dies  24-stündiges  Abwarten.  Je  nach  dem 
weiteren  Steigen  oder  Absinken  der  Leukocytenzahl  ist  dann  zu  ope- 
rieren oder  der  weitere  Rückgang  abzuwarten.  Bleibt  die  Leukocyten- 
zahl nach  24  Stunden  auf  der  gleichen  Höhe,  so  entscheiden  die  übrigen 


280  A.  Federmann,  Ueber  Perityphlitis. 

Symptome.  Eine  niedrige  Leukocytose  oder  ihr  Fehlen  beweist  nichts 
für  das  Vorhandensein  eines  Abscesses  und  ist  deshalb  für  die  Indi- 
kationsstellung ohne  größeren  Wert. 

Auch  im  postoperativen  Verlaufe  wie  in  differentialdiagnostischer 
Hinsicht  kann  die  Leukocytenuntersuchung  unter  Umständen  große  Be- 
deutung beanspruchen,  wie  ich  ausführlich  bereits  in  meiner  ersten 
Veröffentlichung  betont  habe. 

Es  geht  aus  dieser  Zusammenfassung  hervor,  daß 
die  Hauptbedeutung  der  Leukocytenuntersuchung  auf 
diagnostisch-prognostischem  Gebiete  liegt  und  daß  ihr 
Wert  hinsichtlich  der  Indikationsstellung  ein  geringer 
ist.  Immerhin  stehen  wir  nicht  an,  sie  als  ein  wertvolles 
Hilfsmittel  in  der  gesamten  Klinik  der  Perityphlitis  zu 
bezeichnen. 

Meinem  hochverehrten  Chef,  Herrn  Geh.  Rat  Sonnenburg,  erlaube 
ich  mir  auch  an  dieser  Stelle  für  die  gütige  Ueberlassung  des  Materials 
und  das  große  Interesse,  das  er  dieser  Arbeit  stets  entgegengebracht 
hat,  hiermit  meinen  ergebensten  Dank  auszudrücken. 


Literatur. 

Ausführliches  Literaturverzeichnis  bereits  in  der  ersten  Mitteilung. 
Rbhn,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1903,  No.  60. 
CuBSCHMANN,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1903,  No.  61. 
Reich,   Bruns'  Beitr.  z.  klin.  Chir.,   Bd.  41,  1904,  Heft  2.     (Ausfährliches 

Literaturverzeichnis.) 
Stadler,  Grenzgeb.  f.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  1903,  Heft  3. 
Gerngross,  Mtlnch.  med.  Wochenschr.,  1903,  No.  37. 


Aus  der  chirurgischen  Klinik  der  Universität  Königsberg 
(Direktor:  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Garrä). 


Nachdruck  verboten» 


XIIL 

Experimentelle  Beiträge  zur  Meren- 
dekapsulation. 

Von 

Dr.  O.  Bhrliardt, 

Privatdozent  und  Assistenzarzt  der  Klinik. 


Als  Edebohls  im  Jahre  1901  seine  viel  erörterten  Mitteilungen 
über  die  operative  Behandlung  des  chronischen  Morbus  Brightii  ver- 
öffentlichte, erregten  nicht  allein  die  bei  der  Kürze  der  Kranken- 
geschichten uns  völlig  unkontrollierbaren  Operationserfolge  Aufsehen; 
in  vielleicht  noch  höherem  Grade  lenkte  sich  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  seltsamen  theoretischen  Anschauungen,  mit  denen  der  amerikanische 
Chirurg  sein  Verfahren  als  ein  rationelles  begründen  wollte^).  Bei 
allen  Formen  des  chronischen  Morbus  Brightii,  mag  es  sich  nun  um 
eine  interstitielle,  eine  parenchymatöse  oder  eine  Mischform  der  chro- 
nischen Nephritis  handeln,  hält  Edebohls  die  Entfernung  der  Capsula 
propria,  die  Dekapsulation  der  Nieren,  für  angezeigt.  Der  Eingriff 
wird  von  ihm  in  typischer  Weise  so  ausgeführt,  daß  möglichst  in  einer 
Sitzung  beide  Nieren  durch  den  Lumbaischnitt  aufgesucht  werden ;  nach 
Ablösung  der  Fettkapsel  wird  die  Niere  luxiert,  die  Capsula  propria 
gespalten,  bis  zum  Hilus  abgeschoben  und  hierauf  in  ganzer  Aus- 
dehnung abgetragen.  Die  Niere  wird  reponiert  und  die  Wunde  ge- 
schlossen. Bei  ausgedehnten  perinephritischen  Prozessen,  welche  dia 
Luxation  der  Nieren  unmöglich  machen,  wird  der  Eingriff  in  der  Tiefe 
der  Wunde  in  situ  ausgeführt. 

1)  Edbbohls,  The  eure  of  chronic  Bright's  disease  by  Operation. 
Medical  Record,  1901,  Dec.  21.  Ferner  in:  On  bandages  for  Nephroptosis^ 
Med,  Eecord,  1901,  May  4.  Questions  of  priori ty  in  the  surgical  treat- 
ment  of  chronic  Bright's  disease.  Ibid.,  1902,  April  16.  Benal  decap- 
sulation  for  chronic  Bright's  disease.     Ibid.,  1903,  March  28. 


282  0.  Ehrhardt, 

Nach  diesem  Verfahren  hatte  Edebohls  bis  Ende  1902  51  Patienten 
operiert,  von  denen  7  im  Anschuß  an  die  Operation,  weitere  6  unge- 
heilt  nach  längerer  Zeit  starben ;  2  leben  ungeheilt,  3  sind  unauffindbar, 
bei  11  gestattet  die  kurze  Zeit,  die  seit  der  Operation  verflossen  ist, 
kein  Urteil  über  den  Erfolg.  In  weiteren  22  Fällen  hat  die  Operation 
Erfolg  gehabt,  indem  10  Patienten  vollständig  geheilt,  12  wesentlich 
gebessert  sind. 

Die  Frage,  wie  eine  Besserung  oder  gar  Heilung  der  chronischen 
Nephritis  durch  Dekapsulation  zustande  kommen  kann,  beantwortet 
Edebohls  auf  Grund  von  Beobachtungen,  die  er  an  3  vor  längerer 
Zeit  mit  Nephropexie  behandelten  Patienten  anstellen  konnte.  In  diesen 
Fällen  hatten  mächtige  bindegewebige  Verwachsungen  die  Niere  an  ihre 
Umgebung  fixiert;  in  dem  neugebildeten  Bindegewebe  verliefen  zahl- 
reiche große  Gefäße,  so  daß  bei  Durchtrennung  der  Adhäsionen  „eine 
starke  Arterie  nach  der  anderen^  unterbunden  werden  mußte.  Ueber- 
haupt  waren  in  den  Adhäsionen  die  Arterien  viel  zahlreicher  als  die 
Venen  und  in  allen  Arterien  war  der  Blutstrom  nach  der  Niere  zu 
gerichtet. 

„Arterielle  Hyperämie,  die  dauernd  vermehrte  Blutzufuhr,  wie  sie 
durch  meine  Operation  bewirkt  wird^,  so  fährt  Edebohls  weiter  aus, 
^bringt  allmählich  die  Produkte  der  interstitiellen  und  parenchymatösen 
Entzündungsprozesse  zum  Verschwinden.  Sie  befreit  die  Harnkanälchen 
und  Glomeruli  vom  äußeren  Drucke,  von  ihrer  AbschnOrung  und 
Knickung,  sie  bewirkt  die  Wiederherstellung  normaler  Zirkulation.  Das 
Endresultat  des  vermehrten  Blutzuflusses  zu  den  Kanälchen  und 
Glomeruli  ist  die  Neubildung  von  Epithelien  mit  sekretorischen  Funk- 
tionen." 

„Die  Dekapsulation  bezweckt  die  Ausbildung  von  ineuen  reichlichen 
kollateralen  Blutgefäßen  für  die  erkrankte  Niere.  Durch  mein  Verfahren 
werden  die  reichen  Gefäßbezirke  der  Fettkapsel  und  die  Nierenober- 
fäche  in  unmittelbare  Berührung  gebracht;  hieraus  ergibt  sich  als  not- 
wendige Folge  eine  Verbindung  der  beiden  Blutbahnen  in  größter  Aus- 
dehnung. Bei  zahlreichen  Operationen  habe  ich  feststellen  können, 
daß  die  fibröse  Capsula  propria  eine  fast  unüberwindliche  Barriere 
zwischen  den  Gefäßen  der  Niere  und  ihrer  Fettkapsel  bildet.  Häufig 
sieht  man  die  Gefäße  der  Capsula  adiposa  infolge  perinephritischer 
Prozesse  an  Zahl  und  Größe  vermehrt,  bisweilen  dringt  eine  große 
Arterie  aus  der  Fettkapsel  in  die  Capsula  propria  ein,  ohne  jedoch, 
wie  man  sich  beim  Abstreifen  der  Capsula  propria  überzeugen  kann, 
je  in  die  Niere  selbst  zu  gelangen.  Die  Capsula  propria  hat  hier  die 
Möglichkeit  einer  neuen  Blutzufuhr  zur  Niere  abgeschnitten.'^ 

„Die  Lebercirrhose,  die  chronische  interstitielle  Hepatitis,  eine  der 
häufigsten  Komplikationen  der  BRiGHTschen  Krankheit,  gehört  thera- 
peutisch seit  3  Jahren  in  das  Gebiet  der  Chirurgie.    Die  heute  übliche 


Experimentelle  Beiträge  zur  Nierendekapsalation.  283 

Operation  der  Lebercirrhose  bezweckt  vor  allem,  die  Entwickelung  von 
ßefäßanastomosen  zwischen  Netz  und  vorderer  Bauchwand,  ferner  die 
Ausbildung  fiächenhafter  Adhäsionen  zwischen  Leberoberfläche  und 
Zwerchfell;  beides  geschieht  zur  Erleichterung  des  Pfortaderkreislaufs 
und  zur  Beseitigung  eines  Krankheitssymptoms,  des  Ascites.  Wenn 
schon  die  Gefäßanastomosen  zwischen  Netz  und  Bauchwand  den  Ascites 
zum  Schwinden  bringen,  so  wird  meines  Erachtens  die  Zukunft  lehren, 
daß  die  Entwickelung  breiter  Adhäsionen  zwischen  Leberoberfläche  und 
Diaphragma  mehr  leistet.  Sie  wird  wahrscheinlich  zu  einer  Besserung 
und  in  einigen  Fällen  zur  Heilung  der  Cirrhose  führen,  indem  sie  eine 
vermehrte  arterielle  Blutzufuhr  zur  Leber  herbeiführt  nach  denselben 
Gesichtspunkten,  die  mich  bei  meiner  Operation  des  chronischen  Morbus 
Brightii  leiteten." 

Edebohls  nimmt  also  an,  daß  durch  die  Dekapsulation  die  Aus- 
bildung eines  reichlichen  Kollateralkreislaufs  angeregt  wird  und  daß  — 
dank  den  besseren  Zirkulationsverhältnissen  —  eine  Aufsaugung  der 
Entzündungsprodukte  und  damit  ein  Rückgang  oder  gar  eine  völlige 
Heilung  der  Nephritis  zustande  kommt.  Es  lag  nahe,  experimentell 
Dekapsulationen  bei  Tieren  auszuführen  und  sich  zu  überzeugen,  ob 
wirklich  nennenswerte  Anastomosen  zwischen  den  Gefäßen  der  Nieren- 
rinde und  der  Fettkapsel  sich  bilden  würden.  Selbstverständlich  sind 
die  hierbei  vorliegenden  Bedingungen  nicht  die  gleichen  wie  sie  bei  der 
chronischen  Nephritis  vorhanden  sind,  bei  der  narbenähnliches  Gewebe 
mit  der  gefäßreicheren  Fettkapsel  in  Berührung  kommt.  Im  allgemeinen 
darf  man  jedoch  meines  Erachtens  annehmen,  daß  die  Anastomosen- 
bildung  bei  normaler  Nierenrinde  reichlicher  sein  wird  als  bei  der  durch 
Schrumpfungsprozesse  veränderten;  die  Experimente  setzten 
günstigere  Bedingungen  für  die  Anastomosenbildung, 
als  sie  bei  den  Schrumpfnieren  vorhanden  sind. 

Ich  habe  vor  etwa  IV2  Jahren  an  Katzen  einige  Dekapsulations- 
versuche  gemacht,  die  zu  völlig  negativen  Resultaten  führten,  in  keinem 
Falle  hatte  eine  Ausbildung  nennenswerter  Anastomosen  stattgefunden. 
Damals  gab  ich  weitere  Versuche  als  aussichtslos  auf,  da  auch  eine 
analoge,  von  einem  Kollegen  unternommene  Versuchsreihe  ein  ähnliches 
Ergebnis  hatte.  Als  ich  kurze  Zeit  danach  die  Veröffentlichungen 
anderer  Autoren,  von  Bonsz-Osmolowsky  i)  und  Albarran*)  u.  a., 
las,  die  ebenfalls  eine  irgend  nennenswerte  Anastomosenbildung  nach 
Dekapsulation  nicht  konstatieren  konnten,   schien  mir  eine  Mitteilung 


1)  Einige  Untersachaiigsergebnisse  über  die  Veränderung  der  Nieren 
bei  Entferung  ihrer  Kapsel.  Russky  Wratsch,  1903.  Ref.  in  der  Münch. 
med.  Wochenschr.,  1903. 

2)  AiiBARRAN  et  Bbrnard,  B^g^n^ration  de  la  capsule  du  rein  aprös 
d^cortication  de  Torgane.  Compt.  rend.  de  la  soc.  de  biol.,  1902,  14  juin, 
et  Semaine  m6dicale,  1902. 


284  0.  Ehrhardt, 

meiner  Versuche  nicht  mehr  erforderlich.  Inzwischen  haben  Asakura  *) 
und  Stursberq')  experimentelle  Untersuchungen  veröffentlicht,  die, 
wie  die  genannten  Autoren  glauben,  zu  hoffiiungsreicheren  Resultaten 
geführt  haben.  Da  meine  Versuchsergebnisse  mit  denen  Asaküras 
und  Stursberqs  bis  auf  einen,  allerdings  den  Kardinalpunkt  der  ganzen 
Frage,  die  Gefäßneubildung,  übereinstimmen,  glaube  ich  meine  völlig 
negativ  ausgefallenen  Versuchsresultate  kurz  mitteilen  zu  müssen. 

Ich  habe  an  6  Katzen  Nierendekapsulationen  ausgefQhrt,  in  allen 
Fällen  entsprach  der  Eingriff  im  wesentlichen  dem  auch  von  Asakura 
und  Stürsberg  geschilderten  Verfahren.  Nach  Freilegung  der  Nieren 
von  Lumbaischnitten  aus  wurde  die  Fettkapsel  von  der  Capsula  propria 
abgestreift,  die  Niere  luxiert,  die  Capsula  propria  von  Pol  zu  Pol  ge- 
spalten, mit  der  Pinzette  gefaßt,  abgestreift  und  am  Hilus  abgetragen. 
Nach  Reposition  der  Niere  wurde  die  Wunde  durch  Naht  geschlossen. 
2mal  wurde  bei  den  Operationen  das  sehr  zarte  Peritoneum  leicht  an- 
gerissen und  sofort  durch  eine  Kopfnaht  wieder  verschlossen.  Die  Tiere 
überstanden  den  aseptisch  vorgenommenen  und  reaktionslos  ver- 
laufenden Eingriff  ohne  besondere  Schädigung;  nach  2—10  Wochen 
wurden  die  Tiere  getötet,  2  von  ihnen  starben  in  dieser  Frist  spontan 
an  Darmkatarrhen.  Die  Untersuchung  der  Nieren  ergab,  daß  die  Niere 
in  allen  Fällen  mit  der  Umgebung  wieder  ziemlich  fest  verwachsen 
war,  und  zwar  umgaben  diese  völlig  flächenhaften  Verwachsungen  die 
Niere  wie  eine  neue  Capsula  propria.  Diese  Bindegewebsneu- 
bildung  rief  den  Eindruck  hervor,  als  hätte  sich  die 
Capsula  propria  einfach  regeneriert.  Ohne  Schwierigkeiten 
gelang  die  Trennung  dieser  neuen  Capsula  propria  von  der  Capsula 
adiposa,  intensiver  ausgebildet  war  die  Verklebung  mit  der  Nieren- 
rinde, von  der  sich  die  neue  Kapsel  nur  schwierig  entfernen  ließ.  Diese 
Erscheinung  findet  ihre  Erklärung  in  der  von  Boncz-Osmolowsky 
nachgewiesenen  Mitbeteiligung  der  Nierenrinde  an  der  Neubildung  der 
Kapsel.  In  keinem  Falle  gelang  es  mir,  eine  Gefäßneu- 
bildung in  dieser  neuen  Kapsel  nachzuweisen,  die  zu 
wirklich  nennenswerten  Anastomosen  zwischen  Nieren- 
rinde und  Capsula  adiposa  geführt  hätte. 

Immerhin  schien  es  noch  notwendig,  die  Leistungsfähigkeit  der 
geringen  Geiäßanastomosen  zu  prüfen.  Da  Injektionsversuche  mir  zur 
Entscheidung  der  Frage  nicht  geeignet  scheinen,  beschloß  ich,  die 
Leistung  der  Anastomosen  dadurch  zu  prüfen,  daß  ich  bei  einer 
8  Wochen   zuvor  dekapsulierten   Niere  die  Arteria   und  Vena  renalis 


1)  Experimentelle  UntersuchuDgen  über  die  Decapsulatio  renam.  Mitteil, 
a.  d.  GreDzgeb.,  Bd.  12. 

2)  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  zur  Heilung  chronischer 
Nephritiden  von  Edebohls  vorgeschlagene  „Nierenentkapselung".  Mitteil, 
a.  d.  Grenzgeb.,  Bd.  12. 


Experimentelle  Beiträge  zur  Nierendekapsulation.  285 

unterband  und  nun  die  Ausdehnung  der  Nekrose  untersuchte.  Tat- 
sächlich blieb  nur  ein  kaum  1  mm  breiter  Rindensaum  von  der  Nekrose 
verschont;  die  neuen  Gefäßanastomosen  hatten  also  irgend 
einen  Einfluß  auf  die  Erhaltung  des  Nierengewebes 
nicht  gehabt. 

Das  sind  in  kurzem  die  Resultate  meiner  Versuche,  die  ich  nur 
mitteile,  weil  die  Aufsätze  Asakuras  und  Stürsberqs  die  theoretische 
Begründung  der  EDEBOHLSschen  Operation  zu  stützen  scheinen.  In  6 
von  mir  vorgenommenen  Dekapsulationen,  sowie  in  einer  größeren,  mir 
anderweitig  bekannt  gewordenen  Dekapsulationsserie  blieb  die  von 
Edebohls  seiner  Nephritisheilung  supponierte  Gefäßneubildung  aus. 
Damit  stimmen  die  Angaben  von  Albarran  und  Boncz-Osmolowskt 
überein. 

Ein  Einwurf  bleibt  natürlich  den  geschilderten  Versuchen  gegen- 
über gestattet:  Die  Dekapsulation  wurde  nicht  an  nephritischen,  son- 
dern an  gesunden  Nieren  vorgenommen.  Da  ein  Verfahren  der  ex- 
perimentellen Erzeugung  von  Schrumpfnieren,  soweit  mir  bekannt  ist, 
nicht  existiert,  konnten  Dekapsulationen  an  SchrumpfDieren  nicht  unter- 
nommen werden.  Akute  Nephritiden,  wie  sie  ja  durch  Infektionen 
oder  durch  Gifte  zu  erzeugen  sind,  können  mit  der  chronischen  Ne- 
phritis nicht  in  Parallele  gestellt  werden.  Bei  akuten  Nephritiden,  bei 
allen  Prozessen,  die  mit  erhöhter  Spannung  des  Nierengewebes  einher- 
gehen, besitzt  die  Dekapsulation  im  Sinne  der  Entspannungsincision 
einen  gewissen  Sinn,  wie  dies  unter  anderen  Harrison^),  Poüsson*), 
Israel^)  gezeigt  haben.  Für  die  Beurteilung  der  Anastomosenbildung 
kann  die  akute  Nephritis  aber  nicht  in  Betracht  gezogen  werden,  da 
bei  ihr  die  Gefäßverhältnisse  von  denen  der  Schrumpfniere  gänzlich 
unterschieden  sind. 

Ich  würde  a  priori  annehmen,  daß  die  Anastomosenneubildung  bei 
Dekapsulationen  der  gesunden  Niere  ausgedehnter  ist  als  bei  der 
Schrumpfhiere,  weil  die  normale  Nierenrinde  gefäßreicher  ist  und  daher 
mehr  Gefäßknospen  bilden  kann  als  die  cirrhotisch  veränderte.  Wenn 
wir  bei  experimentellen  Dekapsulationen  keine  nennens- 
werten Anastomosen  finden,  werden  sie  wohl  auch  bei 
der  Schrumpfniere  ausbleiben. 

Der  von  Edebohls  zur  Stütze  seiner  Behauptungen  herangezogene 


1)  Habrison,  Renal  tension  and  its  treatment  by  surgical  means. 
British  med.  Joum.,   1901,  Oct.  19. 

2)  PoussoN,  De  Tintervention  chirurgicale  dans  les  n^phrites  m6dicales. 
Annales  d.  mal.  d.  org.  g^n.-nrin.,  1902. 

3)  Lsrabl,  Ueber  den  EinfluiS  der  Nierenspaltung  auf  akute  und 
chronische  Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.  Mitteil.  a.  d.  Grenz- 
geb.,  Bd.  5,  1900.  Ferner:  Chirurgische  Klinik  der  Nierenkrankheiten. 
Berlin  1901. 


286     0.  Ehrhardt,  Experimentelle  Beiträge  zur  Nierenentk&pselung. 

Vergleich  der  Dekapsulation  mit  der  TALMASchen  Operation  stellt  zwei 
völlig  inkommensurable  Dinge  nebeneinander;  Talma  will  ein  durch 
die  Kreislaufstörung  in  der  Pfortader  bedingtes,  lediglich  in  Zirku- 
lationsverhältnissen begründetes  Symptom,  den  Ascites,  durch  seine 
Anastomosen  beseitigen,  eine  Aufsaugung  des  Bindegewebes  um  die 
Acini  durch  Gefäßein  Wucherung  in  die  Leber  hat  bisher  niemand  be- 
obachtet. Der  EDEBOHLSsche  Vorschlag,  die  Leberkonvexität  an  das 
Diaphragma  anzuheilen,  um  Gefäßneubildung  und  dadurch  Resorption 
der  Entzündungsprodukte  anzuregen,  wird  wohl  zunächst  Befremden 
hervorrufen. 

Zum  Schlüsse  sei  mir  nur  noch  der  Hinweis  auf  die  Tatsache  ge- 
stattet, daß  die  Lehre  von  der  arteriosklerotischen  Schrumpfiliere,  auf 
die  in  letzter  Linie  auch  Edebohls'  Anschauungen  zurückzuführen 
sind,  heute  nicht  mehr  unanfechtbare  Gültigkeit  besitzt.  Es  mehren 
sich  die  Stimmen,  welche  die  Möglichkeit  einer  Nierenschrumpfung 
durch  ungenügenden  arteriellen  Blutzufluß  bestreiten. 

Zu  einem  Urteil  über  die  operativen  Erfolge  von  Edebohls  be- 
rechtigen die  von  mir  mitgeteilten  Versuche  nicht.  Seine  theoretischen 
Anschauungen  aber  sind  irrige.  Wenn  die  Dekapsulation  bei  Behand- 
lung der  Schrumpfniere  sich  wirklich  bewähren  sollte,  so  dürften  diese 
Erfolge  kaum  auf  ein  Einwuchern  von  neuen  Gefäßen  in  die  Niere  zu 
beziehen  sein.  Neubildung  von  Gefäßanastomosen  findet  bei  experi- 
mentellen Dekapsulationen  nur  in  geringer  Ausdehnung  statt. 

Meinem  hochverehrten  Chef,  Herrn  Geh.  Rat  Garr^,  dem  ich  die 
Anregung  zu  dieser  Mitteilung  verdanke,  sage  ich  auch  an  dieser  Stelle 
meinen  ergebensten  Dank. 


Frommanntche  Buehdniekerei  (Hermann  Fohle)  in  Jena.  —  8678 


Aus  der  medizinischen  Universitätsklinik  zu  Königsberg  i.  Pr. 
(Direktor:  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Lichtheim). 


Nachdruck  ▼erboten. 


XIV. 
Hyperglobulie  und  MilztumorO. 

Von 

Dr.  med.  F.  Freiss, 
I.  Assistenzarzt  der  KUnik. 


Im  folgenden  will  ich  über  einen  Fall  von  Hyperglobulie  und 
Milztumor  berichten,  dessen  Mitteilung  auch  ohne  Autopsie  mir  gerecht- 
fertigt zu  sein  scheint,  da  die  Zahl  der  bisher  bekannten,  ausführlich 
beschriebenen  Fälle  noch  eine  ziemlich  geringe  ist. 

Es  handelt  sich  um  einen  48-jährigen  Patienten,  der  vom  15.  Juli 
bis  31.  August  und  vom  7.  November  bis  5.  Dezember  1903  in  der 
medizinischen  Klinik  lag. 

Seine  Familienanamnese  ist  belanglos.  Er  selbst  hat  nie  Lues,  nie 
Malaria  gehabt,  war  überhaupt  bis  auf  eine  kurzdauernde  fieberhafte 
Krankheit  in  seinem  13.  Jahre  früher  stets  gesund.     Kein  Potus. 

Seit  6 — 7  Jahren  bemerkte  er  in  der  linken  Bauchseite  eine  all- 
mählich wachsende,  derbe,  nicht  empfindliche  Geschwulst,  die  ihm  nie 
irgendwelche  Beschwerden  machte  und  vom  Arzt  als  die  vergrößerte  Milz 
bezeichnet  wurde. 

3Y,  Jahre  vor  der  Aufnahme,  im  Februar  1900,  bekam  er  im  An- 
schluß an  eine  unbedeutende  Fingerverletzung  ein  Erysipel  des  rechten 
Armes  und  im  Verlaufe  desselben  Erscheinungen,  die  eine  Thrombose  der 
Vena  iliaca  sinistra  wahrscheinlich  machten. 

Seit  jener  Zeit  hat  Pat.  fast  immer  unter  heftigen  brennenden 
Schmerzen  in  den  Unterschenkeln,  etwas  oberhalb  der  Sprunggelenke,  zu 
leiden  gehabt,  die  ihn  nicht  mehr  zu  regelmäßiger  Arbeit  kommen  ließen. 
Die  Unterschenkel  sollen  oft  etwas  bläulich  ausgesehen  haben,  und  wenn 
er  umherging,  etwas  geschwollen  gewesen  sein.  Vor  2  Jahren  bildeten 
sich  einige  Geschwüre  an  ihnen,  die  seitdem  nie  ganz  zuheilten. 


1)  Nach  einem  am  30.  November  1903   im  Verein   fOr   wissenschaft- 
liche Heilkunde  zu  Königsberg  gehaltenen  Vortrage. 

mttelL  a.  d.  OraaiceUeten  d.  Ifedlsin  o.  Chlrarcie.    Xm.  Bd.  19 


288  P.  Preiss, 

Nach  der  Erkrankung  vor  8^,  Jahren  bemerkte  Pat.  zuerst  an  den 
Beinen  und  am  Bauche,  später  auch  an  Brust  und  Armen  die  alhn&hliche 
Entwickelung  dicker,  blauer  GeflLßstränge,  die  später  unverändert  blieben. 
Gleichzeitig  bekam  das  Gesicht  eine  bläulich-rote  Farbe  und  die  Mund- 
schleimhaut wurde  so  blutreich,  daß  sie  schon  bei  geringfügigen  Anlässen 
etwas  blutete. 

Seit  ly«  Jahren  besteht  beim  Treppensteigen  und  anderen  körper- 
lichen Anstrengungen  etwas  Druckgeftlhl  in  der  Herzgegend,  sowie  Herz- 
klopfen und  Kurzatmigkeit  mäßigen  Grades. 

Stuhl  regelmäßig.     Appetit^   Schlaf  gut.     Keine   Fiebererscheinungen. 

Aufnahmestatus:  Leidlich  kräftiger  Körperbau;  mäßiger  Er- 
nährungszustand, keine  Oedeme. 

Gesicht  ziemlich  intensiv  rötlich-blau  geftlrbt,  schon  weniger  Hände 
und  Ftiße ;  Conjunctivae  stark  injiziert,  Mundschleimhaut,  Zunge  blau-rötlich, 
Zahnfleisch  etwas  geschwollen,  leicht  blutend.  Die  ganze  Körperhaut  zeigt 
schwach,  aber  deutlich  eine  leicht  oyanotische  Färbung.  Im  Gesicht,  an 
den  Schleimhäuten,  sowie  der  Körperoberfläche  sieht  man  in  mäßiger 
Menge  kleinste  Venenerweiterungen. 

Venae  jugulares  bei  aufrechter  HaHung  nicht  sonderlich  geftlllt. 

Starke  Erweiterung  der  großen  Hautvenen  an  Brust  und  Armen ;  am 
Bauche  und  den  Beinen  ist  sie  noch  erheblicher,  die  Venen  sind  hier  zum 
Teil  stark  geschlängelt.  Blutstrom  in  den  Venen  der  Bauchhaut  nach 
oben  gerichtet. 

An  den  Unterschenkeln  ziemlich  diffuse,  bräunlich-rote  Pigmentierung 
und  je  ein  mäßig  großes  Ulcus  varicosum. 

An  der  Vorder-  und  Außenfläche  des  linkea  Oberschenkels  einige  un- 
regelmäßig begrenzte,  bläulich-rote  Flecken,  die  etwas  druckempfindlich 
und  leicht  erhaben  sind,  sich  etwas  derb  anfühlen. 

Pupillen  gleich,  prompte  Reaktion ;  Betinalvenen  stark  gefällt,  Augen- 
hintergrund sonst  normal. 

Patellarreflexe  auslösbar. 

Thorax  ziemlich  stark  gewölbt,  Atmung  16 — 18  pro  Minute,  in  der 
Auhe  nicht  dyspnoisoh.  Wenn  Pat.  auf  ist  oder  längere  Zeit  spricht, 
stellt  sich  etwas  Kurzatmigkeit  ein. 

Normale  Lungengrenzen.  Ueberall  lauter  Klopfschall  und  Vesikulär- 
atmen  mit  spärlichen  klanglosen  Rasselgeräuschen  über  beiden  Unter- 
lappen. 

Herz:  Spitzenstoß  nicht  fühlbar.  Dämpfung  oben:  oberer  Rand  der 
4.  Rippe.  Rechts:  linker  Brustbeinrand.  Links:  linke  MamiUarlinie.  An 
der  Spitze  neben  2  Tönen  ein  leises,  ziemlich  langes,  blasendes  systolisches 
Geräusch.  Der  zweite  Ton  an  der  Basis  ist  etwas  accentuiert.  Herzaktion 
regelmäßig,  ziemlich  stark  beschleunigt;  ca.  114  pro  Minute, 

Puls  synchron,  gleich  stark,   gut  geffQlt,   Spannung  etwas  vermehrt 

Art  radialis  etwas  geschlängelt,  rund,  deutlich  fühlbar,  aber  nicht 
sklerotisch. 

Blutdruck:  120 — IdO  mm  Hg  nach  GXrtnbr;  146 — 150  mm  Hg  nadi 

RlVA-RoGCI. 

Abdomen:  Milz  als  gi'oßer,  derber,  platter,  nicht  empflndlioher  Tumor 
fühlbar,  der  eine  flache  Prominenz  des  linkem  Hypochondrium  verursacht. 
Der  untere,  sich  wie  etwas  umgekrempelt  anftLhlende  Rand  überragt  die 
Nabelhorizontale  um  1^^  Querflnger,  die  vordere  Grenze  liegt  an  der 
linken  MamiUarlinie. 

Leber  derb,  unempflndlich,  unterer  Rand  stumpf,  bei  der  Exspiration 


Hyperglobnlie  und  Milztumor.  289 

in  der  rechten  Mamillarlinie  den  Rippenbogen  um  8  Querfinger  über- 
ragend 

Untere  Bauchpartien  weich,  tympanitisch  klingend.     Kein  Ascites. 

Urin  rötlich-gelb,  sauer,  spezifisches  Gewicht  1012.  Alb.  1  p.  M. 
Kein  Zucker  und  Indlkan.     Deutlicher  Urobilinstreifen  im  Spektrum. 

Im  spärlichen  Sediment  einzelne  rote  und  weiBe  Blutkörperchen, 
einzelne  hyaline  und  epitheliale  Cylinder. 

Wir  fanden  also  bei  unserem  Patienten  im  wesentlichen  eine  diffuse 
Cyanose,  ferner  Tachykardie,  mäßige  Dyspnoe  schon  bei  geringen  Körper- 
bewegungen eine  starke  Vergrößerung  von  Leber  und  Milz,  geringe 
Albuminurie  und  eine  beträchtliche  Erweiterung  der  größeren  Hautvenen 
am  ganzen  Körper,  Erscheinungen,  die  bis  auf  die  schon  6 — 7  Jahre 
bestehende  Splenomegalie,  vielleicht  auch  die  Lebervergrößerung  erst 
in  den  letzten  3Vi  Jahren  aufgetreten  waren. 

Der  ftußere  Befund,  der  beim  Patienten  zu  erheben  war,  zusammen 
mit  den  anamnestischen  Angaben  ließen  von  vornherein  die  eine  An- 
nahme gesichert  erscheinen,  daß  jetzt  ein  Verschluß  oder  wenigstens 
eine  hochgradige  thrombotische  Verengerung  der  Vena  cava  inferior 
bestand,  die  sich  im  Anschluß  an  die  vor  Sy«  Jahren  entstandene  Throm- 
bose der  Vena  iliaca  sinistra  ausgebildet  hatte.  Der  KoUateralkreis« 
lauf  war,  soweit  er  Beine  und  Bauch  betrifft,  der  fOr  solche  Fälle 
typische. 

Wir  fragten  uns  nun,  getreu  dem  Grundsatze,  alle  Krankheits- 
erscheinungen möglichst  auf  einen  Ursprung  zurückzufahren,  ob  wir 
hier,  abgesehen  von  dem  schon  mindestens  6  Jahre  bestehenden  Milz- 
tumor, alle  Symptome  auf  die  durch  die  Thrombose  der  Cava  inferior 
gesetzte  Zirkulationsstörung  beziehen  könnten. 

Aber  nur  für  die  beträchtliche  Albuminurie  wäre  eine  Abhängigkeit 
von  der  Thrombose  denkbar,  dann  nämlich,  wenn  sich  der  Verschluß 
über  die  Einmündungssteile  der  Vena  renales  und  eventuell  in  diese 
hinein  erstreckte;  die  hierdurch  bedingte  lokale  Stauung  in  den  Nieren 
wäre  dann  als  Ursache  der  Albuminurie  anzusehen. 

Die  Erweiterung  der  Venen  an  der  oberen  Körperhälfte  dagegen 
ist  wenigstens  in  so  hohem  Grade  bei  Thrombosen  der  Cava  inferior 
nicht  vorhanden,  und  auch  die  übrigen  Symptome  lassen  sich  auf  diesem 
Wege  absolut  nicht  erklären. 

Einen  anderen  Ursprung  für  sie  zu  finden,  war  nun  aber  ohne 
weiteres  auch  nicht  möglich. 

Was  zunächst  die  nicht  unbeträchtliche  Gyanose,  die  Tachykardie 
und  Dyspnoö  betraf,  so  konnten  sie  von  den  geringfügigen  Verände- 
rungen an  den  Brustorganen  nicht  oder  wenigstens  nicht  allein  veran- 
laßt sein,  und  eine  andere  Ursache  ließ  sich  aus  dem  Organbefund 
für  sie  ebensowenig  herleiten  wie  für  die  starke  Milz-  und  Leber- 
schwellung,   für  die  die   gewöhnlichen   ätiologischen   Momente,  Lues, 

19* 


290  P.  Preiss, 

Malaria,  Lebercirrhose,  Amyloid,  Leukämie  und  eventuell  maligne  Tu- 
moren, teils  durch  das  Untersuchungsergebnis,  teils  durch  die  fehlende 
Veranlassung  auszuschließen  waren. 

Wir  standen  so  betreffs  der  angeführten  auffälligen  Befunde  .vor 
einem  Rätsel,  das  durch  die  Blutuntersuchung  noch  unlösbarer  zu 
werden  schien. 

Der  Blutbefund  bei  der  Aufnahme  war  folgender: 

Hb   —  ca.  125  Proz.     N  =  6750000.     W.  —  22000.     ^  =  ^. 

Spez.  Gewicht  (Chloroformbeozolmischung)  1064,9. 

Das  Blat  war  dankelkirschrot,  dickflüssig,  gerann  leicht  und  ließ  sich 
schlecht  ausstreichen.  Die  roten  Blutkörperchen  waren  von  normaler  Form 
und  Oröße,  nur  einzelne  Makro-  und  Mikrocyten  waren  vorhanden. 

Die  Auszählung  der  einzelnen  Leukocytenarten  ergab: 

P  =  82  Proz.,  L  —  10%  Proz.,  Mo  und  Ueb.  =  2  Proz.,  Ma  =• 
2  Proz.,  E  =»  31/8  Proz.i). 

Die  Blutplättchen  erschienen  deutlich  vermehrt. 

Wir  fanden  also,  daß  der  Hämoglobingehalt  und  das  spezifische  Ge- 
wicht des  Blutes  stark  vermehrt,  daß  auch  die  morphologischen  Bestand- 
teile viel  reichlicher  als  im  normalen  Blute  waren,  und  daß  es  unter  den 
Leukocyten  nur  die  Knochenmarkselemente  waren,  die  an  der  Steigerung 
teilgenommen  hatten,  während  die  Zahl  der  Lymphocyten  relativ  sogar 
verringert,  absolut  aber  vollkommen  normal  erschien. 

Diesen  auffälligen  Blutbefund  vermochten  wir  anfänglich  nicht  zu 
deuten,  wußten  auch  nicht,  wie  weit  er  etwa  mit  den  übrigen  Sym- 
ptomen zusammenhinge.  Erst  aus  einer  gerade  damals  erschienenen 
Mitteilung  Rosenoarts  (1)  sahen  wir,  daß  eine  Beihe  analoger  Fälle 
bekannt  sei,  in  denen,  wie  bei  unserem,  neben  der  erwähnten  Blutver- 
änderung eine  sonst  nicht  zu  erklärende  Gyanose  bestand  und  in  denen 
sich  außerdem  eine  mehr  oder  weniger  starke  Splenomegalie,  eine 
Albuminurie  und  oft  auch  eine  Lebervergrößerung  fand,  in  den  meisten 
Fällen  ohne  jede  erkennbare  Ursache  für  diese  Organveränderungen. 

Die  beschriebenen  Fälle  [Rosengart,  Türck  (2),  Collet  et 
Gallavardin  (3),  Vaqüez  (4),  Moutard-Martin  et  Lepas  (5), 
Rendü  et  WiDAL  (6),  Osler  (7)  etc.]  unterscheiden  sich  zwar  im 
einzelnen  etwas ;  im  großen  und  ganzen  bilden  sie  aber  durch  die  oben 
genannten  hervorstechenden  Merkmale  ein  wohlcharakterisiertes  Krank- 
heitsbild, das  sich  mit  keinem  anderen  in  irgend  einen  Zusammenhang 
bringen  läßt. 

Irgend  ein  bestimmtes  ätiologisches  Moment  oder  eine  disponierende 

1)  Hb  =s  Hämoglobin.  N  =  Normocyten,  W  =  Leukocyten.  P  =: 
polynukleäre  neutrophile  Zellen.  L  ■=  Lymphocyten.  Mo  und  Ueb  »=» 
große  mononukleäre  Zellen  und  Uebergangsformen,  Ma  =  Mastzellen,  E  =» 
eosinophile  Zellen. 


Hyperglobulie  und  Milztumor.  291 

oder  direkt  veranlassende  Ursache  für  das  Zustandekommen  des  uns 
hier  interessierenden  Krankheitsbildes  ist  bisher  noch  nicht  bekannt  und 
auch  über  sein  Wesen  und  über  das  zeitliche  Entstehen  und  die  Ver- 
knüpfung der  einzelnen  Symptome  würden  wir  absolut  im  unklaren  sein, 
wenn  uns  nicht  anatomische  Befunde  einige  Anhaltspunkte  für  Ver- 
mutungen über  die  Pathogenese  gewähren  würden. 

Von  den  hierher  gehörigen  Fällen  ist  eine  Anzahl  zur  Autopsie 
gekommen.  In  5  von  ihnen  [Osler,  Cominotti  (8),  Vaqübz],  die 
teils  an  interkurrenten  Krankheiten  starben,  teils  aus  Ursachen,  die 
aus  den  Angaben  nicht  genau  ersichtlich  sind,  fand  sich  4mal  eine  mehr 
oder  weniger  starke  beträchtliche  Milzhypertrophie,  2mal  auch  eine  Ver- 
größerung der  Leber;  im  übrigen  bieten  sich  nichts,  was  uns  irgendwie 
zur  Aufklärung  dienen  könnte.  In  je  einem  Falle  von  Breuer  (9) 
und  von  Tt^RCK  (10),  von  denen  der  Breuers  an  einer  Blutung  nach 
einer  Myomoperation  starb,  fand  sich  ein  großer  Blutreichtum  aller 
Organe.  In  der  Milz  und  im  Knochenmark  des  BREUERschen  Falles 
waren  außerdem  die  eosinophilen  Elemente  stark  vermehrt. 

In  3  anderen  Fällen  (Collet  -  Gallavardin  ,  Rendü-Widal, 
Moutard-Martin  et  Lefas)  ergab  nun  die  Autopsie  eine  auf  die  Milz 
beschränkte  chronische  Tuberkulose,  die  zu  starker  Vergrößerung  dieses 
Organs  und  2mal  zu  terminaler  Aussaat  miliarer  Tuberkel  in  Leber, 
Niere,  Pankreas  geführt  hatte,  und  diese  3  Fälle  sind  es,  die  uns  meines 
Erachtens  zu  einer  bestimmten  Auffassung  des  ganzen  Krankheitsbildes 
kommen  lassen  können. 

Auffallend  bei  den  hierher  gehörigen  Fällen,  den  zur  Autopsie 
gekommenen  und  den  übrigen,  ist  es,  daß  sich  fast  konstant  ein  Milz- 
tumor findet,  der  also  als  zum  Krankheitsbild  gehörig  betrachtet  werden 
kann. 

Welche  Rolle  er  spielt,  welche  Stellung  er  im  ganzen  Krankheits- 
bilde einnimmt,  ist  eine  Frage,  die  sich  mit  Sicherheit  wohl  wenigstens 
für  die  3  soeben  erwähnten  Fälle  beantworten  läßt,  in  denen  die  Ver- 
größerung der  Milz  durch  chronische  Tuberkulose  bedingt  war.  In 
diesen  ist,  da  ein  zufälliges  Zusammentreffen  von  Milztuberkulose  und 
Hyperglobulie  hier  wohl  ausgeschlossen  ist,  kein  anderer  Zusammenhang 
zwischen  diesen  Prozessen  denkbar,  als  der,  daß  die  Erkrankung  der 
Milz  das  primäre,  die  Hyperglobulie  das  sekundäre  ist. 

In  den  übrigen  Fällen  ist  nun  der  Zusammenhang  zwischen  Milz- 
erkrankung und  Hyperglobulie  nicht  so  ersichtlich;  doch  liegt  es,  zumal 
bei  der  klinischen  Gleichartigkeit  des  Krankheitsbildes,  nahe,  daran  zu 
denken,  daß  auch  hier  die  Hjrperglobulie  die  Folge  der  Milzerkran- 
kung ist. 

Aus  dem  Fall  van  der  Weyde  —  van  Yzeren  (12),  in  dem 
Cyanose,  Hyperglobulie,  polynukleäre  Leukocytose  neben  einem  enormen, 
derben  Milztumor  bestand,  der  seinerseits  die  Folge  einer  Thrombose 


292 


P.  Preiss, 


der  Vena  portae  nach  alter  Entzündung  und  Verdickung  des  Ligam. 
hepato-duodenale  darstellte,  können  wir  ferner  ersehen,  daß  die  Milz- 
erkrankung an  und  fQr  sich  gar  nicht  ein  primäres  Leiden  im  wahren 
Sinne  des  Wortes  zu  sein  braucht;  sie  scheint  nur  primär  mit  Bezug 
auf  die  Hyperglobulie  zu  sein,  die  wir  hier  analog  zu  den  übrigen 
Fällen  vielleicht  auch  auf  den  Milztumor  zurückführen  dürfen.  Letzterer 
erwies  sich  übrigens  anatomisch  als  Sklerose  mit  Verlust  von  Follikeln 
und  Pulpagewebe. 

Jedenfalls  geht  aus  dem  vorhergesagten  hervor,  daß  die  Hyper- 
globulie bei  verschiedenen  Veränderungen  der  Milz  nicht  etwa  nur  bei 
Tuberkulose  derselben  sich  findet  und  ihr  Entstehen  von  noch  unbekannten 
Faktoren  abhängt  Denn  entsprechend  den  Tierversuchen  von  Lepas 
und  Bender  (11),  durch  experimentelle  Erzeugung  einer  solitären  Milz- 
tuberkulose Hyperglobulie  hervorzurufen,  die  noch  kein  einheitliches 
Resultat  ergeben  haben,  ist  ja  auch  eine  Reihe  von  Fällen  solitärer 
Milztuberkulose  beim  Menschen  ohne  Hyperglobulie  bekannt 

Ich  möchte  jetzt  auf  die  Blutbeschaffenheit  in  den  hierher  gehörigen 
Fällen  noch  etwas  näher  eingehen  und  zunächst  in  einer  Tabelle  zu- 
sammenstellen, was  wir  bei  unserem  Patienten  bei  den  verschiedenen 
Zählungen  gefunden  haben. 

Wir  sehen  aus  dieser  Tabelle,  daß  die  auffällige  Veränderung  des 
Blutes,  die  wir  schon  bei  der  ersten  Untersuchung  gefunden  hatten, 
keine  vorübergehende,  sondern  eine  dauernde,  und  zwar  immer  gleich- 
artige, nicht  etwa  fortschreitende  war. 

Die  Zahlen  für  Hämoglobin,  spezifisches  Gewicht,  Leukocyten  und 
Erythrocyten  schwankten  wohl  etwas,  zeigten  im  übrigen  aber  stets  eine 
erhebliche  Erhöhung  über  die  Norm.  Die  einmalige  starke  Steigerung 
der  Leukocyten  am  28.  Oktober  findet  vielleicht  zum  Teil  ihre  Erklärung 
in  einer  Lymphangitis  am  rechten  Bein,  die  von  einer  Erosion  am 
Unterschenkel  ausgegangen  war. 

Auffallend  und  interessant  im  morphologischen  Blutbefunde  ist  die 


Datum 

Hb 

N 

W 

W 

N 

P 

L 

22.  JuU 
25.      „ 

125  Proz. 
ca.  140     „ 

6750000 
7160000 

22000 
26000 

1/307 
1/275 

82     Proz. 
86,6     „ 

10»/.  Proz. 
6JS      „ 

3.  Aug. 

la    . 

27.      „ 
10.  Nov. 

u   124     „ 

:;  ^  ;; 

7340000 

7176000 
7480000 
6740000 

16800 

21800 
20500 
24200 

1/437 

1/329 
1/365 
1/278 

83^     „ 

8634    „ 
87,35    „ 
85,4     „ 

8         „ 
6,45     „ 
5,64     „ 

a    . 

„     20     „ 

6800000 

36000 

1/189 

85,7      „ 

5,3       „ 

Hyperglobulie  und  Milztumor. 


293 


starke  Vermehrung  der  Eosinophilen  und  der  Mastzellen,  sowie  das 
Vorkommen  vereinzelter  Normoblasten  und  eosinophiler  und  ndtttro- 
philer  Myelocyten,  also  unreifer  Blutzellen  im  strömenden  Blute;  die 
Lymphocyten  waren  auf  6 — 10  Proz.  vermindert,  ihre  absolute  Zahl 
dagegen  völlig  normal. 

Unserem  Falle  kommt  im  Blutbilde  am  nächsten  der  von  TOrok  (2) 
mitgeteilte,  bei  dem  die  Erythrocyten  zwar  um  2  Millionen  reichlicher 
waren,  bei  dem  dagegen  die  Zahl  der  Leukocyten  sich  wie  bei  uns  ver- 
hielt und  außerdem  eine  Vermehrung  der  polynukleären  Neutrophilen 
und  der  Mastzellen  und  eine  relative  Verminderung  der  Lymphocyten 
vorhanden  war.  Bei  ihm,  sowie  in  einem  Falle  Gabots  (12)  fanden 
sich  auch  spärliche  Normoblasten. 

Im  übrigen  ist  das  Blutbild  in  den  beschriebenen  Fällen  ein  sehr 
wechselndes. 

Die  Werte  fflr  Hämoglobin  gehen  bis  zu  180  Proz.  (TOrok)  und 
200  Proz.  (RoBBNaART)  hinauf,  die  Zahl  der  Erythrocyten  schwankt 
von  6200000  (Rbndü-Widal)  bis  zu  10000000  (Kobenoart),  11 600000 
(Osler,  F.  III)  und  12000000  [Shattüok  (13)J.  Noch  größer  sind 
relativ  die  Verschiedenheiten  in  dem  Verhalten  der  Leukocyten.  Die 
Zahlen  schwanken  hier  von  4000  (Osler  I),  6200  (Osler  III),  6000 
(CoMiNOTTi,  Rbndu-Widal)  bis  zu  20—30000  [TOrok,  Osler  I, 
Cabot  I  (12),  Moutard-Martik,  unser  Fall],  also  neben  Fällen  mit 
Leukopenie  finden  sich  solche  mit  starker  Leukocytose.  In  ein  und 
demselben  Falle  (Osler  II)  fanden  sich  bei  verschiedenen  Unter^ 
sachungen  Zahlen  zwischen  8600  und  30000.  Auch  das  prozentuale 
Verhalten  der  einzelnen  Leukocytenarten  ist  ein  verschiedenes.  In 
den  Fällen,  in  denen  nähere  Angaben  hierfiber  existieren,  war  der 
Befund  teils  normal  (Collet-Gallavardik  u.  a.),  teils  war  eine  Ver- 
mehrung der  polynukleären  Neutrophilen  auf  Kosten  der  Lympho- 
cyten vorhanden  (TOrok,  Osler  II,  unser  Fall)  und  nur  in  einem 
(Osler  III)  zeigte  sich  das  entgegengesetzte   Verhalten,   indem   von 


Mo 


Ma 


BpeE. 
Gewicht 


Bemerkungen 


2     Proc 
2^      „ 


3 


8,06 
2,92 


1.7 


2     Proz. 
2,7      „ 


3,6  „ 
3,66  „ 
2,76    „ 


2,4 


2^"^- 


2,2 

1,6 
2,1 
3,24 


4,9 


1064,9 


1065 
1067,7 


Qanz  geringe  AnisocytOBe 

Auf  lObO  W  2  Normoblaeten.  Ein- 
zelne neutrophile  nnd  eoeinophile 
Myelocyten.  Blutplättchen  ver- 
mehrt 

1  Normoblast,  einzelne  Myelocyten, 
Yiel  Blutplättchen 

1  Myelocyt,  viel  Blutplättchen 

1  Normoblast,  viel  Blutplättchen, 
Bpfirlicli  neutrophile  und  eosino- 
pnile  Mjeiocyten 

Spärlich  Myelocyten 


294  P.  Freiss, 

5200  Leukocyten  59  Proz.  P,  32  Proz.  L,  8  Proz.  Mo,  0,6  Proz.  E 
waren. 

Eine  Vermehrung*  der  Mastzellen  fand  sich,  wie  schon  erwfihnt,  nur 
bei  TOrok  nnd  uns,  bei  uns  außerdem  eine  Eosinophilie,  während  wieder 
CoMiNOTTi  keine  Vermehrung  der  Eosinophilen  und  Kosenoart  die- 
selben und  die  Mastzellen  nur  sehr  sp&rlich  sah.  Einkernige  neutro- 
phile  und  eosinophile  Zellen  (Myelocyten)  fanden  sich  nur  bei  uns,  und 
zwar  nur  in  sehr  geringer  Menge.  Die  Blutplättchen  waren  bei  Rosbn- 
6ART  vermindert,  bei  uns  deutlich  vermehrt 

Wir  hatten  nun  oben  gesehen,  daß  es  nicht  unwahrscheinlich  sei^ 
daß  die  veränderte  Blutbeschaffenheit  in  unseren  Fällen  die  Folge  einer 
Milzerkrankung  darstelle  und  zwar  hauptsächlich  im  Hinblick  auf  die 
Fälle  mit  solitärer  Milztuberkulose. 

Ueber  die  Art  der  Einwirkung  der  Milzerkrankung  sind  wir  dabei 
noch  nicht  im  klaren;  wir  können  uns  vermutungsweise  jedoch  vor- 
stellen, daß  aus  der  erkrankten  Milz  Stoffe  in  den  Kreislauf  gelangen» 
die  das  Knochenmark,  das  für  die  Blutbildung  ja  hauptsächlich  in  Be- 
tracht kommende  Organ,  treffen  und  zu  einer  vermehrten  Tätigkeit 
anregen. 

Schon  WiDAX  und  Vaquez  hatten  vermutet,  daß  die  Hyperglobulie 
durch  eine  vermehrte  Knochenmarkstätigkeit  bedingt  sei,  und  auch 
TÜRCK  glaubt,  sie  auf  eine  Mehrleistung  des  Myeloidsystemes  zurück- 
führen zu  können.  Und  in  der  Tat  ist  die  veränderte  Zusammensetzung 
des  Blutes  nicht  gut  anders  zu  erklären,  als  durch  die  Annahme  einer 
gesteigerten,  in  ihrem  normalen  Ablaufe  dabei  nicht  wesentlich  gestörten 
Funktion  des  Knochenmarkes. 

Als  Beweise  hierfür  können  wir  neben  der  Vermehrung  des  Hämo- 
globin und  der  Erythrocyten  das  einige  Male  beobachtete  Vorkommen 
von  Normoblasten  im  Blute,  sowie  die  Zunahme  der  aus  dem  Knochen- 
mark stammenden  Leukocyten,  insbesondere  der  Mast-  und  eosinophilen 
Zellen,  gelten  lassen. 

Auch  die  wiederholt  beobachtete  Zunahme  des  Urobilins  im  Harn 
spricht  indirekt,  da  sie  bei  gleichzeitiger  Vermehrung  der  Erythrocyten 
besteht,  für  eine  verstärkte  Neubildung  derselben. 

Die  Hyperaktivität  des  Knochenmarkes  ist,  jedoch  wie  wir  aus  der 
oben  gegebenen  Schilderung  des  Blutbefundes  sehen,  keine  gleichmäßige; 
in  allen  Fällen  nimmt  das  die  Erythrocyten  bildende  Gewebe  daran 
teil,  nur  in  einem  Teile  derselben  auch  der  leukoblastische  Anteil  des 
Markes. 

Wir  kommen  nun  zu  einer  kurzen  Besprechung  der  übrigen  Haupt- 
symptome des  uns  hier  beschäftigenden  Krankheitsbildes,  die,  wie  wir 
sehen  werden,  mit  der  Milzerkrankung  direkt  nichts  zu  tun  haben, 
sondern  ihrerseits  als  unmittelbare  Folgen  der  Hyperglobulie  zu  be- 
trachten sind. 


Hyperglobulie  und  Milztumor.  295 

Daß  die  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  auf  mehr  als  das 
Doppelte  des  Normalen  —  es  sind  Zahlen  bis  zu  12  Millionen  beob- 
achtet —  eine  erhöhte  Viskosität  des  Blutes  und  dadurch  eine  Er- 
jschwerung  und  Verlangsamung  des  Blutstromes  und  eine  UeberfQllung, 
besonders  der  kleinen  Gefäße  bedingen  muß,  ist  leicht  erklärlich  und 
schon  von  verschiedenen  Autoren  hervorgehoben. 

Es  findet  infolge  dieser  Zirkulationsstörung  eine  stärkere  Sättigung 
des  Blutes  mit  der  00^  der  Gewebe  statt,  ein  Umstand,  der  zumal 
noch  bei  der  Vermehrung  der  färbenden  Substanz,  des  Hämoglobins 
eine  Cyanose  im  Gefolge  haben  muß.  Dieselbe  ist  dabei  manchmal 
nicht  nur  auf  die  gewöhnlichen  Stellen  beschränkt,  sondern  ist,  wozu 
wohl  auch  die  Ueberfüllung  und  Erweiterung  der  kleinen  Gefäße  bei- 
trägt, eine  mehr  diffuse  (Osler,  unser  Fall). 

Die  UeberfQllung  der  kleinen  Gefäße  ist  wohl  auch  die  Ursache 
fär  kleine  Hämorrhagien  aus  dem  Zahnfleisch  (Osler,  unser  Fall),  dem 
Hagen  und  der  Lunge  (Rosenoart). 

Bei  unserem  Patienten  traten  noch  andere  Zeichen  gestörter  Zir- 
kulation auf.  Die  schon  oben  erwähnten  bläulich-roten  Flecken  am 
linken  Oberschenkel,  die  wie  typische  Effloreszenzen  von  Erythema 
nodosum  aussahen,  sind,  da  sie  monatelang  unverändert  an  gleicher 
Stelle  bestanden,  als  lokale  Stauungen,  vielleicht  infolge  thrombotischen 
Verschlusses  kleiner  Hautvenen  aufzufassen.  Die  schon  eingangs  er- 
wähnte Erweiterung  der  Venen  der  oberen  Körperhälfte  bei  unserem 
Patienten  ist,  da  sie  nicht  zum  klinischen  Bilde  der  Thrombose  der 
Vena  cava  inferior  gehört,  wohl  so  zu  erklären,  daß  die  Ueber- 
füllung der  oberen  Hohlvene  nur  deshalb  einen  ungenügenden  Ab- 
fluß aus  ihrem  eigenen  Stromgebiete  nach  sich  zieht,  weil  durch  die 
beschriebene  Blutveränderung  die  Zirkulation  schon  an  und  für  sich 
behindert  ist. 

Wie  stark  übrigens  diese  Zirkulationsstörungen  werden  können, 
zeigt  aufs  schönste  Rosenoarts  Patient,  der  unter  äußerst  heftigen 
Schmerzen  häufig  beim  Gehen  die  Erscheinung  des  intermittierenden 
Hinkens  bekam  mit  Verschwinden  des  Pulses  in  der  Art.  tib.  post  und 
Dors.  pedis  sin.  Da  keine  Arteriosklerose  vorhanden  war,  glaubte 
Rosenoart  wohl  mit  Recht,  dies  Symptom  der  Störung  der  Zirkulation 
infolge  der  Blutbeschafienheit  zur  Last  legen  zu  müssen,  besonders  da 
gleichzeitig  leichte  Insufficienzerscheinungen  von  selten  des  Herzens, 
Dyspnoö  und  Tachykardie  bestanden. 

Auch  in  unserem  Falle  war  eine  dauernde  geringe  Schwäche  des 
Herzens  nicht  zu  verkennen,  die  sich  gleichfalls  in  anhaltender  mäßiger 
Dyspnoe  und  Tachykardie  äußerte.  Die  Herzschwäche  nahm  einmal 
sogar  beträchtlich  zu;  Dyspnoe  und  Tachykardie  wurden  dabei  stärker, 
es  trat  ein  allgemeines  geringgradiges  Anasarka  und  eine  deutliche 
Dilatation  des  Herzens  auf,  und  die  Albuminurie  stieg  auf  das  2-bis 


296  P.  Preise, 

3-fache;  nach  Digitalisdarreichung  trat  eine  fast  vollkommene  Kompen- 
sation ein. 

Die  erwähnten  tnsufficienzerscheinungen  hängen  wohl  gleichfalls  von 
der  veränderten  Blutzusammensetzung  ab ;  denn  es  ist  leicht  einzusehea» 
daß  das  Herz  unter  diesen  Bedingungen  dauernd  eine  vermehrte  Arbeit 
zu  leisten  hat,  und  schließlich,  ebenso  wie  bei  Klappenfehlern,  Arterio* 
Sklerose  etc.,  versagen  kann;  und  es  ist  daher  eigentlich  wunderbar, 
daß  derartige  leichte  Kompensationsstörungen  in  den  einschlägigen  Fällen 
nicht  häufiger  beobachtet  worden  sind.  Daß  sie  bei  unserem  Patienten, 
bei  dem  die  Hyperglobulie  eine  relativ  geringe  war,  so  deutlich  zum 
Ausdruck  kamen,  ist  wohl  die  Folge  davon,  daß  hier  die  Kombination 
mit  der  Thrombose  der  Vena  cava  inferior  bestand,  die  ja  gleichfalls 
ein  Kreislaufhindernis  darstellt. 

Ein  anderes  der  gewöhnlich  beobachteten  Symptome  ist  die  Albumin- 
urie, die  in  allen  Fällen  eine  sehr  geringe  war,  und,  wie  Türok  und 
RosENOART  annehmen,  in  der  Ueberfflllung  der  kleinen  NierengefiLße 
ihre  Ursache  hat  Bei  unserem  Patienten  war  sie  dagegen  ziemlich 
hochgradig,  und  zwar  wohl  deshalb,  weil  erstens  die  Herzkraft  nidit 
normal  war,  zweitens,  weil  hier  zu  der  durch  die  Hyperglobulie 
bedingten  Kreislaufstörung  möglicherweise  noch,  wie  wir  schon  oben 
sahen,  eine  andere  kam,  die  durch  die  Thrombose  der  Nierenvenen 
oder  wenigstens  der  Vena  cava  an  deren  Einmündungssteile  hervor- 
gerufen wurde. 

Daß  trotz  dieser  Hindernisse  bei  unserem  Patienten  die  Urinmenge 
eine  recht  reichliche  war,  sie  betrug  IV2— 2  1,  liegt  wohl  daran,  daß 
selbst  bei  der  leichten  Kompensationsstörung  der  Blutdruck  über  den 
normalen  etwas  hinausging. 

Eine  Steigerung  des  Blutdruckes,  wahrscheinlich  gleichfalls  eine 
Folge  der  veränderten  Blutbeschafienheit,  hat  übrigens  auch  Osler  be- 
obachtet. 

Ueber  den  Verlauf  unserer  Fälle  wäre  zu  sagen,  daß  er  ein  aus- 
gesprochen chronischer,  sich  über  viele  Jahre  erstreckender  und  zum 
Teil  natürlich  von  der  zu  Grunde  liegenden  Erkrankung  der  Milz  ab- 
hängiger ist,  insofern  als  bei  einer  Tuberkulose  man  immer  auf  eine 
plötzliche  Ausbreitung  des  Leidens  gefaßt  sein  muß. 

Die  Klagen  der  Patienten  sind  mannigfach  und  bei  den  einzelnen 
verschieden ;  sie  beziehen  sich  einerseits  auf  Schmerzen  in  der  Milz- 
gegend, andererseits  auf  Kopfschmerzen,  Schwindel,  gastrointestinale 
Störungen,  Beschwerden,  die  wohl  durch  die  Folgezustände  der  Hyper- 
globulie bedingt  sind  und  im  Laufe  der  Jahre  wechseln. 

Klagen  und  Beschwerden,  wie  sie  Robbngarts  und  unser  Patient 
äußerten,  scheinen  dagegen  recht  selten  zu  sein.  Bei  unserem  Patienten 
stand  die  Dyspnoö  im  Vordergrunde;  in  zweiter  Linie  kamen  bei  ihm 


Hyperglobalie  and  Milstumor.  297 

die  Zirkulationsstörungen  hervorgerufen  waren,  aber  nie  einen  so  hohen 
starke  Schmerzen  in  den  Unterschenkeln,  die  wahrscheinlich  auch  durch 
Grad  wie  im  RosExroARTschen  Falle  annahmen. 

Unser  Patient  ist  fibrigens  am  25.  Dez.  1903  etwa  3  Wochen, 
nachdem  er  zum  zweiten  Male  die  Klinik  verlassen  hatte,  zu  Hause 
gestorben,  so  daß  uns  die  anatomische  Kontrolle  Imder  entgangen  ist. 

Es  hatten  sich  bei  ihm  in  der  Klinik  am  rechten  Unterschenkel 
auf  den  pigmentierten  Hautstellen  zahlreiche  mit  Serum  gefüllte  Bläschen 
gebildet,  von  denen  aus  unter  kurzdauerndem  mäßigen  Fieber  eine 
Lymphangitis  entstand,  die  an  den  Inguinaldrüsen  Halt  machte.  Bei 
der  Entlassung  waren  die  Beschwerden  aus  dieser  Komplikation  ge- 
schwunden,  im  übrigen  war  das  Befinden  unverändert;  es  bestand 
dauernd  ein  kleines  rechtsseitiges  Pleuraexsudat. 

Zu  Hause  bildete  sich  beim  Patienten,  wie  seine  Frau  nach  seinem 
Tode  angab,  eine  Anschwellung  des  rechten  Beines  und  des  Scrotums 
aus;  Patient  verfiel  immer  mehr  und  hatte  starke  Schmerzen  in  beiden 
Beinen  und  der  linken  Bauchseite,  hier  besonders  am  Tage  vor  dem 
Tode.  Die  Cyanose,  ebenso  die  Dyspnoe,  waren  bis  zuletzt  unver- 
ändert. 

Ueber  die  eigentliche  Todesursache  sind  wir  hier  also  durchaus 
nicht  im  klaren  und  auch  die  anderen  Fälle,  die  zum  Exitus  kamen,  ohne 
daß  Tuberkulose  der  Milz  sich  fand,  starben  unter  Symptomen,  deren 
Zusammenhang  mit  dem  Grundleiden  meist  nicht  erwiesen  ist  Aus 
dem  oben  über  Rosenoarts  und  meinen  Fall  Gesagten  geht  hervor, 
daß  immerhin  auch  einmal  das  Versagen  des  überanstrengten  Herzens 
eine  Gefahr  für  den  Patienten  bilden  kann. 

Zum  Schlüsse  komme  ich  noch  kurz  zur  Therapie,  möchte  hier 
aber  nur  die  eine  Frage  erörtern,  ob  die  Möglichkeit  besteht,  die 
Patienten  von  ihrem  Leiden  auf  irgend  eine  Weise  radikal  zu  be- 
freien. 

Es  ist  nun  theoretisch  von  vornherein  unzweifelhaft,  daß  diese  Mög- 
lichkeit in  einer  Reihe  von  Fällen  vorliegt,  und  zwar,  worauf  auch 
RosENOART  hinweist,  in  denen,  bei  denen  es  sich  um  eine  solitäre 
Milztuberkulose  handelt. 

In  ihnen,  bei  denen  ja  sicher  die  Milzerkrankung  das  Primäre  ist, 
sollte  eine  Splenektomie  zum  Ziele  führen  können;  denn  man  darf  er- 
warten, daß  nach  der  Entfernung  des  primären,  die  schädigenden  Stoffe 
produzierenden  Krankheitsherdes  das  sekundär  erkrankte  Knochenmark, 
auf  dessen  abnormer  Tätigkeit  alle  anderen  Erscheinungen  beruhen, 
wieder  zur  normalen  Funktion  zurückkehrt;  man  darf  es  erwarten  zum 
mindesten  ebenso,  wie  z.  B.  bei  einer  Botryocephalusanämie  nach  Ab- 
treibung des  Wurmes,  oder  sogar  noch  eher  als  bei  dieser,  da  bei  ihr 
die  Knochenmarkstätigkeit  auch  in  ihrem  Ablauf  keine  normale   ist. 


298  P.  Preiss, 

wfihrend  sie  bei  der  Hyperglobulie  nur  die  Zeichen  einer  Hyperaktivität 
an  sich  trägt. 

Dieser  Indikation  der  Splenektomie  kann  man  aber  einfach  des- 
wegen kaum  gerecht  werden,  weil  die  solitäre  Milztuberkulose  nach  dem 
Urteil  der  Autoren  in  vivo  nicht  diagnostizierbar  ist;  auch  in  den  oben 
erwähnten  Fällen  ist  sie  ja  erst  bei  der  Autopsie  erkannt  worden.  In 
den  seltenen  Fällen  von  Splenektomie  bei  Milztuberkulose  scheint,  so- 
weit ich  sehen  kann,  die  Operation  immer  vorgenommen  worden  zu 
sein,  weil  die  Patienten  einen  großen  Milztumor  hatten,  der  ihnen  starke 
Beschwerden  machte;  die  Natur  des  Leidens  wurde  erst  an  dem  ent- 
fernten Organe  erkannt;  von  einer  Hyperglobuli  bei  diesen  Fällen  ist 
nichts  erwähnt. 

In  unserem  Falle  haben  wir  das  Bestehen  oder  Fehlen  einer  Tuber- 
kulose dadurch  zu  erweisen  versucht,  daß  wir  dem  Patienten  2  proba- 
torische  Injektionen  von  0,001  und  0,01  altem  Tuberkulin  (Koch) 
machten ;  da  er  auf  beide  nicht  reagierte,  können  wir  nach  den  heute 
gültigen  Anschauungen  eine  Tuberkulose  bei  ihm  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit ausschließen.  Eine  Komplikation,  die  sich  beim  Patienten  einstellte, 
lenkte  allerdings  den  Verdacht  auf  Tuberkulose,  nämlich  eine  rechts- 
seitige seröse  Pleuritis,  die  sich  ohne  jede  erkennbare  Ursache  fand  und 
sehr  hartnäckig  war.  Abgesehen  aber  davon,  daß  man  auf  sie  allein 
die  Diagnose  „Tuberkulose^  nicht  basieren  kann,  liegt  für  das  Entr 
stehen  des  Exsudates  noch  eine  andere  Möglichkeit  vor,  nämlich  die, 
daß  es  eine  Folge  kleiner  Lungenembolien  und  kleiner,  symptomlos 
verlaufender  Infarkte  ist,  wie  sie  Breuer  (19)  in  letzter  Zeit  bei  Wöch- 
nerinnen beschrieben  hat.  Wie  dort  Thrombosen  im  Becken  etc.  die 
Ursache  für  die  Embolien  bilden,  könnten  bei  unserem  Patienten 
Thrombosen  in  den  Venen  der  unteren  Extremitäten  schuld  sein.  Das 
Alter  der  Thrombose  in  unserem  Falle  spricht  zwar  gegen  diese  Auf- 
fassung, doch  ist  es  immerhin  nicht  vollkommen  ausgeschlossen,  daß 
z.  B.  in  den  Hautgefäßen  des  linken  Oberschenkels  (wie  oben  erwähnt) 
auch  kleine  frische  Thrombosen  als  Ausgangspunkte  vorhanden  sind. 
Jedenfalls  glaube  ich,  daß  wir  das  Bestehen  einer  Tuberkulose  bei 
unserem  Patienten  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  ausschließen  können. 

Nun  fragt  es  sich,  ob  die  Splenektomie  nicht  auch  in  solchen 
Fällen  von  Hyperglobulie  gerechtfertigt  ist,  in  denen  eine  Tuberkulose 
der  Milz  nicht  erwiesen  oder  sogar  unwahrscheinlich  ist,  und  da  läßt 
es  sich  nicht  leugnen,  daß  jeder,  der  die  Möglichkeit  zugibt,  daß  auch  in 
diesen  Fällen  die  Milzerkrankung  die  Ursache  aller  anderen  Erschei- 
nungen ist,  die  Operation  in  Erwägung  ziehen  muß.  Ich  möchte  hier 
auf  die  günstigen  Erfahrungen  hinweisen,  die  man  mit  der  Splenektomie 
in  Fällen  sogenannter  BAUTischer  Krankheit  gemacht  hat.  Wenn  auch 
beide  Krankheiten  im  klinischen  Symptomenbilde  verschieden  sind,   so 


Hyperglobuli«  und  Milztamor.  299 

gleichen  sie  sich  doch  prinzipiell  dadurch,  daß  bei  beiden  Erscheinungen 
entstehen,  die  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  primäre  Er- 
krankung der  Milz  zurückzuführen  sind. 

Aus  diesem  Gesichtspunkte  glaube  ich  also,  zumal  da  die  Operation 
als  solche  bei  verschiedenen  Arten  von  Milzvergrößerung  so  häufig  und 
mit  Erfolg  ausgeführt  wurde,  daß  etwa  die  Schwere  des  Eingriffes  nicht 
als  Eontraindikation  in  Betracht  gezogen  zu  werden  braucht,  daß  auch 
in  geeigneten  Fällen  unserer  Krankheit  ein  therapeutischer  Versuch 
mit  der  Splenektomie  gemacht  werden  darf;  immerhin  ist  daran  zu 
denken,  daß  der  Blutreichtum  des  Körpers  die  Blutstillung  erschweren 
und  zu  Nachblutungen  Veranlassung  geben  kann. 

Der  ungünstige  Ausgang  im  Falle  yan  der  Weyde  und  van 
YzEREN  braucht  vor  weiteren  Versuchen  nicht  abzuschrecken,  da  dieser 
Fall,  soweit  ich  aus  dem  mir  vorliegenden  Referate  entnehmen  kann, 
ein  komplizierter  gewesen  ist.  Unserem  Patienten  hatten  wir  die  Ope- 
ration nicht  empfohlen,  da  auch  bei  ihm  in  der  Thrombose  der  Vena 
Cava  inferior  eine  nicht  zu  unterschätzende  Komplikation  vorlag. 


Gerade,  als  die  Arbeit  abgeschickt  werden  sollte,  wurde  wieder  ein 
Patient  mit  Hyperglobulie  und  den  übrigen  typischen  Zeichen,  Cyanose, 
Milztumor,  Albuminurie  in  die  Klinik  aufgenommen. 

Ich  bringe  im  folgenden  die  Krankengeschichte;  zu  weiteren  Er- 
örterungen bietet  der  Fall  keinen  Anlaß. 

M.  M.,  53  Jahre,  Vorarbeiter.  Aufgenommen  20.  Febr.  1904.  Fa- 
milienanamnese belanglos.  Früher  nie  ernstlich  krank.  Keine  Lues.  Keine 
Malaria.  Seit  10  Jahren  3 — 4mal  im  Jahre  mehrere  Wochen  lang  mäßige 
Magenbeschwerden,  bestehend  in  kneifenden  Schmerzen  in  der  Magen- 
gegend, Aufstoßen  und  seltenem  Erbrechen  saurer  Speisereste.  Nie  Hä- 
matemesis.  Im  November  1903  Pneumonie.  Am  25.  Dez.  1903  ohne  jeg- 
liche Insalterscheinangen  nach  mehrtägigen  geringen  Kopfschmerzen  Ein- 
tritt einer  Parese  der  linksseitigen  Extremitäten;  keine  Beteiligung  der 
Himnerven. 

Angeblich  8  Tage  dauernder  Ikterus.  Allmählich  vollständiger  Rück- 
gang der  Parese.  Seit  jener  Zeit  ab  und  zu  geringe  Kopfschmerzen,  be- 
sonders linksseitig,  sowie  mehrmals  täglich  leichte  SchwindelanfUlle,  die 
in  letzter  Zeit  nachgelassen  haben. 

Häufig  mehrere  Minuten  lang  kneifende  Schmerzen  in  der  Magen- 
gegend,  sowie  Beißen  im  Kreuz,    zwischen  den  Schultern  und  im  Genick. 

Wegen  dieser  Beschwerden  kommt  Pat.  in  die  Klinik.  Keinerlei 
subjektive  Störung  von  Seiten  der  Brustorgane.  Kein  Fieber;  Stuhl  meist 
regelmäßig,  manchmal  etwas  obstipiert. 

Von  einer  Verfärbung  seines  Gesichtes  weiß  Pat.  nichts.  Eine  Bötung 
der  Augen  wurde  vor  etwa  2  Monaten  bemerkt,  damals  sollen  auch  Hände 
tmd  Ftlße  rot  geworden  sein,  angeblich  infolge  von  Einreibungen,  die  sich 
Pat  wegen  der  Parese  machte. 


300  P.  Preiss, 

Bei  der  Aufnahme:  Mäßig  kraftiger  Mann  in  leidlichem  Er- 
nährungszustande. Kein  Fieber.  Irgendwelche  Residuen  der  linksseitigen 
Parese  sind  bis  auf  ein  geringes  Abweichen  der  Zunge  nach  links  nicht 
vorhanden.     Auch  sonst  keinerlei  nervöse  Störungen. 

Das  Gesicht  hat  in  toto  einen  ausgesprochen  bläulich-violetten  Farben- 
ton, der  besonders  stark  an  den  Ohren  und  Lippen  hervortritt.  Conjunc- 
tivae stark  injiziert ;  Zahnfleisch,  Mund  und  Bachenschleimhaut  von  dunkel- 
kirschroter Farbe.  Zahnfleisch  leicht  blutend,  an  den  Bändern  mit  gelb- 
lichem Belage  bedeckt.  Die  ganze  Körperhaut,  besonders  die  oberen 
Brust-  und  Bückenpartien  haben  ein  leicht  cyanotisches  Kolorit,  das  an 
Händen  und  Füßen,  hauptsächlich  an  Vola  und  Planta  viel  stärker  ist. 
Auf  der  Haut  und  den  Schleimhäuten  zahlreiche  feine  Ektasien  kleinster 
Hautgefäßchen. 

Keine  Schmerzen  beim  Beklopfen  der  Knochen. 

Pupillen  gleich  weit,  von  prompter  Beaktion.  Augenhintergrund 
bis  auf  eine  Erweiterung  der  Venen  normal. 

Thorax  normal  gebaut,  symmetrisch. 

Atmung  regelmäßig,  ruhig,  nicht  dyspnoisch,  auch  beim  Sprechen 
und  nach  dem  Herumgehen  nicht.  Lungengrenzen  an  normaler  Stelle; 
gute  Verschieblichkeit 

Heller  Klopfschall.  Beiderseits  hinten  unten  vereinzelte  klanglose 
Basseigeräusche.     Kein  Husten,  kein  Auswurf. 

Herz:  Spitzenstoß  im  5.  Interkostalraum  innerhalb  der  Mammillar- 
linie.  Tiefe  Dämpfung:  oben  4.  Bippe;  rechts:  auf  dem  Stemum; 
links:  1  Querflnger  innerhalb  der  Mammillarlinie.  Begelmäßige,  etwas 
beschleunigte  Herzaktiun.  Beine  Töne.  Zweiter  Ton  an  der  Basis,  be- 
sonders an  der  Aorta  etwas  accentuiert 

Puls  90  pro  Minute,  kräftig,  voll,  regelmäßig,  nicht  celer.  Arteria 
rad.  weit,  rund,  nicht  besonders  schwer  kompressibel,  nicht  deutlich 
sklerotisch,  etwas  geschlängelt.  Die  großen  peripheren  Arterien  pulsieren 
deutlich,  tönen  aber  nicht  Kein  Kapillarpuls,  kein  Doppelgeräusch  an  der 
Art.  cruralis. 

Blutdruck:  linker  Oberarm  (Biva-Bocci)  190  mm  Hg,  linker  Mittel- 
finger (Gabrtnbr)  136  mm  Hg. 

Abdomen:  normal  konfiguriert,  nicht  empfindlich.  Epigastrische 
Pulsation. 

Kein  Ascites. 

Leber:  unterer  glatter,  etwas  derber  Band  eben  am  Bippenbogen 
zu  ftihlen. 

Milz:  ziemlich  derb,  glatt,  nicht  druckempfindlich,  überragt  um 
1  Querfinger  den  Bippenbogen,  ihre  Dämpfung  reicht  oben  bis  zur  8., 
unten  bis  zur  12.  Bippe. 

Urin:  klar.     Menge  ca.  ly,  1.     Farbe  dunkelgelb. 

Beaktion:  sehwach  sauer. 

Albumen  ca.  0,5  p.  M.  (Esbach).  Kein  Zucker,  Indikan  nicht  ver- 
vermehrt. Im  Spektrum  deutlicher,  nicht  sehr  starker  Urobilinabsorptions- 
streifen. 

Im  spärlichen  Sediment  ganz  vereinzelte  rote  und  weiße  Blutkörperchen 
und  nicht  verfettete  Nierenepithelien ;  spärlich  hyaline  Cylinder. 

Stuhl:  ohne  Besonderheiten. 

Blut:  dick,  dunkelrot. 

Spez.  Gewicht  1074. 


Hyperglobulie  und  Milztumor.  301 

Hb  nach  Gowebs-Sahli  oa.  140  ProaL,  nach  Fleischl-Mibsohbr  ca. 
215  g  im  Liter. 

N  =  8000000. 

W-12000.    5-4 

P  =  80,2  Proz.     L  —  10,2  Proz.     Mo  ~  4,4  Pro». 
Ma  —I  1,2  Pros.     £  »»  4  Pros. 

Bote  Blutkörperchen   von  normaler  Form  und  Ghröße.     Keine  Normo- 
blasten.     Blutplättchen  vielleicht  etwas  vermehrt. 
Unter  den  Leukocyten  1  neutrophiler  Myelooyt. 
6  Tage  später: 

N  =  7250000.     W  =  13500.     J  =  ^.     P  =  86  Proz.     L  = 

5  Proz.     Mo  =  3,76  Proz.     E  »=  3  Proz.     Ma  =  2,25  Proz. 

Keine  Normoblasteu.     Blutpättchen  vermehrt 

Während  seines  kurzen  Aufenthaltes  in  der  Klinik  war  Pat.  fast 
vollkommen  beschwerdefrei,  hatte  nur  ab  und  zu  etwas  Aufstoßen.  Auf- 
fallend war,  daß  man  von  der  auch  bei  einer  zweiten  Untersuchung  kon- 
statierten Blutdrucksteigerung  am  Puls  eigentlich  nichts  fühlen  konnte. 

Auch  dieser  Patient  hat  probatorische  Injektionen  von  0,001  and 
0,01  alt.  Tuberkulin  reaktionslos  vertragen,  so  daß  bei  ihm  also  eine 
tuberkulöse  Erkrankung  wohl  nicht  sehr  wahrscheinlich  ist.  Eine  Ope- 
ration wurde  ihm  seiner  geringfügigen  Beschwerden  wegen  nicht  vor- 
geschlagen. 

Herrn  Geheimrat  Prol  Dr.  Lightheim,  meinem  verehrten  Lehrer 
und  Chef,  spreche  ich  fQr  das  der  Arbeit  entgegengebrachte  Interesse 
und  die  gütige  Unterstützung  meinen  ergebensten  Dank  aus. 


Literatur. 

1)  BosBNOART,   Milztumor   und   Hyperglobulie.     Mitt.   a.   d.   Grenzgeb.    d. 
Med.  u.  Chir.,  Bd.  11,  Heft  4. 

2)  TObck,  Protokoll  d.  Ges.  f.  innere  Med.  in  Wien,  Bd.  1,  p.  7,  Sitzung 
V.  23.  Jan.  1902. 

3)  CoLLBT   et   Gallav ARDIN,   Tuborculose  massive  et  primitive  de  la  rate. 
Arch.  de  m^d.  exp^r.  et  d'anat.  path.,  1901,  Mars,  No.  2. 

4)  Vaquez,  Semaine  m^d.,  1892  u.  1899. 

5)  Moutarb-Martin  et  Lbfas,   Soc.  m^d.  d.  h6p.  de  Paris,    1899,   9  juin. 

6)  Rbkdu  et  WiDAL,  Soc.  m^d.  d.  höp.  de  Paris,  1899,  2  juin. 

7)  OsLBR,  Chronic  Cyanosis  with  Polycythaemia  and  Enlarged  Spleen:    A 
New  Clinical  Entity.    American  Joum.  of  the  med.  scienc,  1903,  Aug. 

8)  CoMiNOTTi,   Hyperglobulie   und   Splenomegalie.     Wiener   klin.  Wochen- 
schrift, 1900,  No.  39. 

9)  Brbübb,   Oes.   f.   innere   Med.   in   Wien,   Sitz.   v.   6.   Dez.    1903;    Bef. 
Deutsche  med.  Wochenschr.,  Vereinsbeil.,  1904,  4.  Febr.,  p.  231. 


302  P.  Preise,  Hjrperglobulie  und  Milztumor. 

10)  TOBCK,  Ges.  f.  innere  Med.  in  Wien,  Sitz.  v.  6.  Dez.  1903;  Ref. 
Deutsche  med.  Wochenschr.,  Vereinsbeil.,  1904,  4.  Febr.,  p.  231. 

11)  Lbfas  et  Bbndbr,  Compt.  rend.  de  la  soc.  de  biol.,  T.  54,  1902,  p.  832. 

12)  VAN  DBR  Wbtde  Und  VAN  YzBRXN,  Chronischer  Tumor  der  Milz  als 
Folge  von  Thrombose  der  Vena  portae.  Ref.  Münch.  med.  Wochenschr., 
1903,  No.  46,  p.  1979. 

18)  Cabot,  Boston  med.  and  surg.  Journ.,  1900,  March  15,  u.  1899,  Dez. 
(Cit.  nach  Oslbr.) 

14)  Shattuok,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1903.  No.  43.  (Ref.  über  Oslbb.) 

15)  Brbübr,  Ueber  puerperale  Pleuritis  und  Pneumonie.  Beitr.  z.  Geburts- 
hilfe u.  GynftkoL,  1903.     (Festschr.  f.  R.  Chrobak.) 


Nachdnick  yerboten* 


XY. 

Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis. 

Von 
Prof.  TL  G.  Iiennander,  Upsala. 


Ehe  ich  zu  der  Berichterstattung  über  die  in  der  Klinik  zu  Upsala 
ausgeführten  Operationen  übergehe,  halte  ich  es  für  wichtig,  einige 
Punkte  aus  der  Lehre  von  der  Appendicitis  zu  berühren,  nämlich: 

1)  lieber  den  latenten  Verlauf  der  Krankheit  im  Innern  des 
Appendix  selbst; 

2)  über  die  Bedeutung  einer  vom  Appendix  ausgegangenen  Lymph- 
angitis  oder  Lymphadenitis; 

3)  über  infektiöse  Enteritis  oder  Colitis  als  ein  wichtiges  ätio- 
logisches Moment  fQr  Appendicitis; 

4)  über  den  Umstand,  daß  das,  was  man  in  akuten  Fällen  dia- 
gnostiziert, nicht  Appendicitis  ist,  sondern  eine  Form  der  Peritonitis, 
oder  in  einzelnen  Fällen  eine  akute  Lymphangitis  mit  Lymphadenitis, 
als  deren  ätiologisches  Moment  man  auf  dem  Wege  des  Ausschlusses 
eine  akute  Appendicitis  annimmt.  Es  finden  sich  deshalb  manche  Ver- 
anlassungen zu  diagnostischen  Mißgriffen; 

5)  über  die  Ursache  davon,  daß  die  Schmerzen  im  Beginn  eines 
Appendicitisanfalles  so  oft  mitten  im  Bauche  und  auf  der  linken  Seite 
gefühlt  werden,  sowie  davon,  warum  in  gewissen  seltenen  Fällen  nicht 
einmal  im  weiteren  Verlaufe  der  Krankheit  auf  der  rechten  Seite 
Schmerzen  auftreten. 

Daß  eine  entzündliche  Krankheit  im  Proc.  vermiformis 
ganz  latent  verlaufen  kann,  ist  ganz  sicher.  Niemand  dürfte 
diesen  Umstand  schärfer  hervorgehoben  haben  als  Sir  Frederick 
Treves.  ^In  dealing  with  the  pathology  of  appendicitis  it  is  desirable 
to  appreciate  clearly  that  the  clinical  phenomena,  which  are 
familiär  under  the  name  of  ,an  attack  of  appendicitis',   are   due   to 

MitMl.  a.  d.  liraoxcebiisteii  d.  MedisiD  a.  Chlnir«to.    2m.  bd.  20 


304  K.  G.  Lennander, 

Peritonitis  in  the  region  of  that  organ.  The  disease  i& 
essentially  a  variety  of  Peritonitis.  Its  manifestations, 
its  effects,  and  its  possibilities  are  those  only  of  Peri- 
tonitis. Whatever  may  be  the  antecedent  condition,  an 
attack  of  appendicitis  is  not  in  evidence,  andindead,  not 
exist  until  the  Peritoneum  is  implicated^  0- 

Schon  1895  hatte  indessen  Hawkins  gesagt,  daß  er  es  als  voll- 
kommen sicher  betrachte,  daß  „in  allen  Fällen  akuter  Appendicitis,  die 
ärztliche  Behandlung  verlangen,  das  Peritoneum  bereits  entzündet  ist"  *). 

Bei  einer  Menge  Operationen  habe  ich  den  Eindruck  bekommen^ 
daß  sich  die  Krankheit  ganz  symptomlos  im  Innern  des  Proc.  vermi- 
formis entwickelt  haben  müsse,  so  lange,  bis  die  Serosa  in  der  Um- 
gebung des  Organes  ergriffen  wurde.  So  operierte  ich  z.  B.  in  einer 
Nacht  im  folgenden  Falle. 

Fall  L  Mädchen,  16  Jahre  alt,  No.  300  A,  1902.  Die  Operation 
wurde  51  Stunden  naoh  dem  Auftreten  des  ersten  Unwohlseins  und  der 
ersten  Schmerzen  ausgeführt.  6  Jahre  vorher  ein  recht  schwerer  Anfall 
von  Appendicitis,  aber  seitdem  gesund.  Es  wurde  zuerst  ein  Schnitt 
durch  die  Vagina  gemacht,  dann  einer  auf  der  rechten  Seite,  der  vom 
Tuberculum  pubis  bis  zum  Muse,  erector  dorsi  reichte ;  und  dann  ein 
kürzerer  Schrägschnitt  an  der  linken  Seite,  vom  Bande  des  Muse,  rectus 
bis  4 — B  cm  hinter  die  Spina  ilei  anter.  superior.  Man  findet  vor  den 
VaBa  iliaca  dextra  den  gangränösen  Wurmfortsatz  und  um  diesen  herum 
eine  vollständig  abgekapselte  Eiteransammlung.  Uebrigens  im  ganzen 
Bauche  unterhalb  des  Colon  transversum,  sowie  in  dem  rechten  sub- 
phrenischen  Räume  eine  fortschreitende  eiterige  Peritonitis  mit  dünnem, 
gelblich-grauem  Eiter. 

Bei  der  Untersuchung  des  Proc.  vermiformis  konnte  man  zu  Anfang 
nicht  sehen,  daß  er  perforiert  war,  weil  das  Loch  so  klein  war,  daß  e& 
nur  eine  Knopfsonde  hindurchließ.  Beim  Aufschneiden  war  der  Proc. 
vermiformis  leer  bis  auf  einen  Fäkalstein  und  ein  wenig  Kalkgries.  Die 
Schleimhaut  war  vollständig  durch  Oangrän  verloren  gegangen  von  der 
Spitze  an  und  bis  1  cm  von  der  Einmündungssteile  in  das  Coecum  ent- 
fernt, wo  man  einen  fast  im  ganzen  Umkreise  vollkommen  scharfen  und 
reinen  Wundrand  (Demarkationslinie  gegen  das  Brandige)  sah. 

Nachdem  der  Proc.  vermiformis  akut  erkrankt  war,  ist  also  die 
Schleimhaut  brandig  geworden,  abgestoßen  worden  und  zu  einem  feinen 
Detritus  zerfallen,  so  daß  dieser  nebst  Schleim  und  Eiter  durch  eine 
millimeterweite  Oeflfhung  sich  vollständig  entleeren  konnte.  Weiter 
hat  sich  die  übrig  gebliebene  gesunde  Schleimhaut  reinigen  können 
längs  der  Demarkationslinie.  Denkt  man  an  ähnliche  pathologische 
Prozesse  an  den  dem  Auge  zugänglichen  Schleimhäuten  (z.  B.  im  Munde, 
im  Rachen),   so  dürfte  man  wohl  in  diesem  Falle  zu  der  Auffassung 


1)  Brit.  med.  Journ.,  1902,  June  23,  p.  1589. 

2)  Hawkins,  Diseases  of  the  vermiform  appendix.  London  1896,  p.  56. 


Meine  Erfahrtmgen  über  Appendicitis.  305 

gelangen,  daß  die  Erkrankung  im  Innern  des  Proc.  vermiformis 
wenigstens  einige  Tage,  wahrscheinlich  noch  länger,  bestanden  habe, 
ehe  die  ersten  Schmerzen  auftraten.  Das  stimmt  ja  auch  sehr  wohl 
mit  meinen  Untersuchungen  über  das  Gefühl  in  der  Bauchhöhle  über- 
ein, die  gezeigt  haben,  daß  auch  ein  kranker  Proc.  vermiformis 
völlig  gefühllos  für  alle  operativen  Eingriffe  ist^). 

Auf  Grund  der  alles  beherrschenden  Stellung,  die  eine  vom  Proc. 
vermiformis  ausgehende,  begrenzte  oder  fortschreitende  Peritonitis  im 
Krankheitsbilde  der  Appendicitis  einnimmt,  hat  man  sich  im  allgemeinen 
nicht  hinlänglich  hineingedacht  in  die  Bedeutung  einer  vom  Proc. 
vermiformis  ausgegangenen  infektiösen  Lymphangitis 
und  Lymphadenitis.  Im  Jahre  1891  hob  Axel  Iyersen')  die 
Bedeutung  der  Lymphgefäße  im  Proc.  vermiformis  als  Weg  der  In- 
fektion von  der  Schleimhaut  zur  Serosa  hervor.  Er  meinte,  daß  die 
Adhärenzen  bei  chronischen  Appendidten  ^als  Produkte  einer  septischen 
Lymphangitis  aufgefaßt  werden  können^. 

TixiER  und  BiANNAY  haben  im  Jahre  1901  die  Lymphgefäße  des 
Appendix  gründlich  studiert^).  Ihre  Angaben  sind  kontrolliert  und  er- 
weitert worden  durch  neue  Untersuchungen  von  Poirier  und  Cün^o. 
Sie  sind  referiert  in  ihrem  im  Jahre  1902  erschienenen  Handbuch  über 
die  Lymphgefäße  des  Körpers^). 

Von  älteren  Arbeiten  ist  an  erster  Stelle  die  von  Clados  zu  nennen. 
Dieser  suchte  teils  zu  beweisen,  daß  sich  konstant  eine  Lymphdrüse 
im  Mesoappendix  hinter  dem  Ileum  findet,  und  teils  auch,  daß  die 
Lymphgefäße  im  Proc.  vermiformis  mit  den  Lymphgefäßen  der  rechten 
Uterusadnexe  und  des  rechten  Ligamentum  latum  kommunizieren^). 
LoGKWOOD  hat,  soviel  ich  weiß,  zuerst  angegeben,  daß  Lymphgefäße 
aus  dem  Appendix  in  die  Lymphgefäße  längs  der  Vasa  hypogastrica  an 
der  rechten  Beckenwand  einmünden^).    Es  ist  indessen  möglich,  daß 


1)  Centralbl.  f.  Chir.,  1901.  —  Upsala  läkarefbren.  Förhandl.,  1901.  — 
Hygiea,  1901.  —  Mitt  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  1901.  Meine 
Untersuchungen  zeigen,  daß  sowohl  der  gesunde  wie  der  kranke  Magen 
und  Darm,  sowie  die  Gallenblase  gefühllos  sind  für  alle  operativen  Ein- 
griffe (Schneiden,  Nähen,  Kneipen  mit  Zangen,  Dehnung  der  Länge  oder 
der  Quere  nach,  Thermokauter,  Salpetersäure,  Chromsäure  u.  s.  w.),  daß 
aber  dagegen  die  parietale  Serosa  reich  an  schmerzleitenden  Nerven  ist. 
Besonders  rufen  Dehnen  und  Schaben  an  der  Innenseite  der  Parietal- 
serosa  Schmerz  hervor. 

2)  Ejöbenhavns  med.  Selskabs  Förhandl.  1891. 

3)  Lyon  möd.,  1901. 

4)  Les  lymphatiques,  Poiriers  und  Charpys  Trait^  d' Anatomie  humaine, 
Tome  2,  Heft  4. 

5)  Compt.  rend.  de  la  soc.  de  biol.,  Paris  1892. 

6)  Lockwood,  Appendicitis,  its  pathology  and  surgery,  London  1901, 
p.  26. 

20* 


306  K.  G.  Lennander, 

diese  Angaben  über  normalerweise  vorkommende  Anastomosen  zwischen 
LymphgefiLßen  im  Proc.  vermiformis  und  den  Lymphgefäßen,  die  zu 
den  Organen  im  kleinen  Recken  gehören,  alle  beide  mindestens  sehr 
zweifelhaft  sind  ^).  Das  stimmt  auch  am  besten  mit  den  Entwickelungs- 
verh&ltnissen  überein,  nach  denen  die  Lymphgefäße  des  Proc.  vermiformis 
nicht  anders  verlaufen  können  als  zu  den  mesenterialen  Lymphdrüsen. 

Nach  PoiRiER  und  Gun£o  sind  die  Lymphgefäße  im  Coecum  und 
Proc.  vermiformis  weit  mehr  entwickelt  als  in  den  übrigen  Teilen  des 
Dickdarms.  Das  gilt  vor  allem  vom  Blinddarmanhange,  dessen  großer 
Reichtum  an  lymphoidem  Gewebe  wohlbekannt  ist. 

Lockwood  lieferte  im  Jahre  1901  eine  vorzügliche  Darstellung') 
der  normalen  mikroskopischen  Anatomie  des  Proc  vermiformis  und 
der  Bedeutung  der  Lymphgefäße  in  diesem  Organ  für  die  Ausbreitung 
von  Krankheiten  daselbst.  Die  Mucosa  im  Proc.  vermiformis  ist  am 
meisten  mit  den  PETERschen  Plaques  zu  vergleichen.  Es  besteht  ein 
Reichtum  an  lymphoiden  Follikeln  (nach  L.  150—200  in  einem  mittel- 
großen Appendix)  und  di£fus  angeordnetem  lymphoiden  Gewebe  mit 
zahlreichen  Lymphgefäßen.  Eine  Anzahl  von  Lymphgefäßen  der  Follikel 
sammelt  sich  zu  großen  Lymphsinus,  die  halbmondförmig  die  Follikel 
umgeben  an  ihrer  tiefen  (submukösen)  Seite.  Die  Sinus  der  Follikel 
entleeren  sich  in  die  Lymphgefäße  der  Submncosa.  In  der  Muskelschicht 
findet  sich  eine  Menge  millimeterweiter  Oeffnungen  „Hiatus  musculares'' 
(Logkwood),  durch  welche  teils  die  Arterien  und  Nerven  vom  Mes- 
enteriolum  und  der  Subserosa  in  die  Submucosa  eintreten,  teils  die 
Venen  und  LymphgeßLße  in  umgekehrter  Richtung  austreten,  um  sich 
zu  größeren  Stämmen  im  Mesenteriolum  zu  sammeln.  Danach  folgen 
die  Lymphgefäße  den  Arterien  auf  ihrem  Wege  zur  Aorta,  und  es  ist 
deshalb  am  einfachsten,  sie  nach  den  Arterien  zu  benennen. 

Erinnern  wir  uns,  daß  der  Proc.  vermiformis  den  rudimentären 
Endteil  des  Coecum  bildet,  und  daß  das  Colon  ascendens,  das  Coecum 
und  der  am  meisten  distale  Teil  des  Ileum  ihr  Blut  durch  die 
Art.  ileocolica  aus  der  Art.  mesenterica  superior  erhalten,  so  ist  es 
leicht,  sich  eine  Vorstellung  von  den  Anastomosen  der  appendikulären 
Lymphgefäße  im  Mesenteriolum  mit  den  Lymphgefäßen  des  Coecum  und 
Ileum  zu  machen  und  von  deren  Vereinigung  zu  Stämmen,  die  bei 
dem  Durchgange  durch  die  Lymphdrüsen  im  Mesenterium  zuerst  der 
Art.  ileocoecalis,  dem  Endzweige  der  Art.  ileocolica,  folgen  und  darauf 
dieser  Arterie  und  der  Art.  mesenterica  superior,  um  zuletzt  in  die 
Lymphdrüsen  und  die  großen  Lymphstämme  um  die  obere  Bauchaorta 
herum  und  von  da  in  den  Ductus  thoracicus  zu  gehen. 

Die   Lymphgefäße   an   der   vorderen   Seite   des  Coecum   sammeln 


1)  PoiRiBR  et  CuNfio,  1.  c.  p.  1225. 

2)  1.  c.  p.  17—73  u.  140—160. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  307 

sich  nm  die  vordere  COkalarterie  herum  und  folgen  dem  Lauf  der- 
selben aufwärts  bis  zu  einer  Gruppe  von  Lymphdrüsen  im  Mesenterium 
um  die  Art.  ileocoecalis  herum,  im  Winkel  zwischen  Ileum  und  Colon. 
Von  der  hinteren  Seite  des  Coecum  aus  folgen  die  Lymphgefäße  in 
gleicher  Weise  der  hinteren  Cökalarterie  nach  oben  bis  zu  derselben 
Lymphdrfisengruppe.  Am  medialen  Teile  des  Coecum  finden  sich  sowohl 
an  der  vorderen  als  auch  an  der  hinteren  Seite  Gruppen  von  sub- 
serösen Lymphdrüsen,  welche  die  Lymphgefäße  teilweise  passieren 
können.  Diese  ^Ganglions  pr6-  et  r^trocoecaux''  sind  indessen  nicht 
konstant. 

Die  von  dem  Appendix  abführenden  Lymphgefäße  sind 
4  oder  5  an  Zahl.  Sie  folgen  der  Art.  appendicularis  in  den  Meso- 
appendix  und  verlaufen  also  hinter  dem  am  meisten  distalen  (analen) 
Segment  des  Ileum,  um  in  die  vorher  genannte  Drüsengruppe  um  die 
Art.  ileocoecalis  herum  einzumünden.  In  ihrem  Verlaufe  im  Meso- 
appendix  können  sie  eine  oder  mehrere  kleine  Lymphdrüsen  passieren 
—  „Ganglions  appendiculaires^.  Diese  sind  nicht  konstant.  Nach 
TixiER  und  BiANNAY  fehlen  sie  in  46  Proz.  aller  Fälle  (50  Leichen 
sind  untersucht  worden).  Sie  werden  am  öftesten  hinter  dem  Ileum  — 
Clados  Drüse  —  angetroffen.  „Ganglions  appendiculaires  r^troil^ux^. 
Seltener  findet  man  eine  oder  mehrere  Drüsen  im  freien  Mesoappendix 
unterhalb  des  Ileum  —  „Ganglions  appendiculaires  sousiläaux'^.  Eine 
dritte  Gruppe  kann  sich  finden  unter  der  Serosa  am  Coecum,  unmittel- 
bar oberhalb  der  Einmündung  des  Proc.  vermiformis  —  „Ganglions 
appendiculaires  juxtacoecaux^.  Da  indessen  keine  von  diesen  3  Lymph- 
drüsengruppen konstant  vorkommt,  hat  man  die  Lymphdrüsen- 
gruppe um  die  Arteria  ileocoecalis  herum  im  Winkel 
zwischen  Ileum  und  Colon  ascendens  als  die  regionären 
Lymphdrüsen  des  Proc.  vermiformis  zu  betrachten. 

Im  Mesoappendix  unterhalb  des  Ileum  habe  ich  bei  Operationen 
mehrere  Male  1 — 4  geschwollene  Lymphdrüsen  gesehen.  Hinter  dem 
nenm  und  neben  dem  Coecum  findet  man  natürlicherweise  bei  Ope- 
rationen keine  Lymphdrüsen  im  Mesoappendix  („r^tro  -  ilSaux^  und 
„juxta-il^aux^),  wenn  nicht  Coecum  und  Ileum  so  beweglich  sind,  daß 
sie  in  die  Bauchwunde  vorgezogen  werden  können. 

Gerade  im  Winkel  zwischen  Ileum  und  Colon  ascendens  sieht  man 
besonders  oft  eine  oder  mehrere  geschwollene  Lymphdrüsen.  Bei  einer 
mehr  ausgebreiteten  Lymphadenitis  findet  man  geschwollene  Lymph- 
drüsen im  ganzen  Mesocolon  ascendens  vom  Colon  aus  bis  zur  Wirbel- 
säule. Das  gilt  sowohl  von  akuten  wie  auch  von  chronischen  Appendi- 
dten.  Ein  etwas  höherer  Grad  von  Fettreichtum  in  den  Mesenterien 
macht  es  jedoch  fast  unmöglich,  bei  einer  Operation  geschwollene 
Lymphdrüsen  zu  erkennen  durch  den  kurzen  Operationsschnitt  hindurch, 
den  man  aus  manchen  Gründen  anzuwenden  bestrebt  ist. 


308  K.  G-.  Lennander, 

Auf  Grund  der  bekannten  Verhältnisse  bei  der  Entwickelung  des 
Proc.  vermiformis,  des  Colon  und  des  Mesenterium  im  Fötalleben  ist 
es  klar,  daß  der  Proc.  vermiformis  ursprünglich  keine  anderen  Lymph* 
drüsenverbindungen  haben  kann  als  die,  über  die  ich  nach  Poirier 
und  Cun£o  berichtet  habe,  d.  h.  daß  die  Lymphgefäße  des  Proc.  vermi- 
formis, ohne  irgendwelche  Anastomosen  mit  retroperi- 
tonealen  Lymphdrüsen,  durch  das  Mesenterium,  einen  Teil  der 
dort  befindlichen  Lymphdrüsen  passierend,  aufwärtq  zu  den  die  obere 
Bauchaorta  umgebenden  Lymphdrüsen  und  LymphgeßLßstämmen  ver- 
laufen. Das  Colon  und  das  Mesenterium  sind  nämlich,  wie  bekannt, 
während  einer  gewissen  Periode  des  Fötallebens  vollkommen  mit  Peri- 
tonealgewebe  bekleidete  Organe,  die  vollständig  beweglich  sind. 

Wenn  später  Coecum  und  Colon  ascendens  ihren  Platz  auf  der 
rechten  Seite  des  Bauches  einnehmen  und  wenn  das  Mesocolon  ascen- 
dens und  in  gewissen  Fällen  auch  der  unterste  Teil  des  Dünndarm- 
mesenterium  an  der  hinteren  Bauchwand  festwachsen,  treten  Venen- 
anastomosen  zwischen  den  Systemen  der  Porta  und  der  Cava  auf. 
Infolgedessen  bilden  die  Venen  des  Coecum  und  also  auch  des  Proc. 
vermiformis  Anastomosen  mit  den  Venen  der  Nierenkapsel,  mit  den 
Venae  spermaticae  und  mit  einem  Teil  der  Wurzeln  der  Venae  iliacae. 
Diese  Venenanastom osen  sind  sehr  eng,  aber  sehr  zahlreich.  Sie 
werden  schon  von  Rutsch  und  Haller  erwähnt,  wurden  aber  zuerst 
von  Retzius  (Veines  de  Retziüs)  näher  beschrieben  i).  Die  Lymph- 
geflUie  verhalten  sich  wahrscheinlich  ungefähr  wie  die  Venen.  Nach 
Poirier  und  Cün£o^)  anastomosiert  das  subseröse  Lymphgefäßnetz 
am  Coecum  mit  dem  Lymphgefäßnetz  unter  dem  angrenzenden  Peri- 
toneum parietale. 

Die  cöko-appendikularen  Lymphgefäße  können  also  auf  diesem 
Wege  mit  in  der  Nähe  liegenden  retroperitonealen  Lymphdrüsengruppen 
in  Verbindung  kommen.  In  je  größerer  Ausdehnung  Colon  ascendens, 
Coecum,  Proc.  vermiformis  und  Mesenteriolum  mit  der  hinteren  und 
lateralen  Bauch  wand  verwachsen  sind,  desto  zahlreichere  Verbindungen 
hat  man  zwischen  den  Lymphgefäßen  dieser  Darmteile  und  der  Bauch- 
wand zu  erwarten.  Es  ist  deshalb  höchst  wahrscheinlich,  daß  wenigstens 
nach  vorausgegangenen  entzündlichen  Prozessen  in  der  Fossa  iliaca 
Lymphgefäßanastomosen  vom  Proc.  vermiformis  in  die  Lymphdrüsen 
längs  der  Vasa  renalia,  der  Vena  cava  und  der  Vasa  iliaca  einmünden 
können,  vielleicht  sogar  in  inguinale  Lymphdrüsen.  Bei  akuter  Appen- 
dicitis  sieht  man  nämlich  manchmal,  daß  auch  Lymphdrüsen  am  Ober- 
schenkel unterhalb  des  Ligam.  Poupartii  anschwellen.  Die  Fälle  von 
akuten  Bubonen  am   Oberschenkel,    die  ich  bei  Appendicitis  gesehen 


1)  PomiBR  und  Cunbo,  1.  c.  Tome  2,  Faso.  3,  p.  1013. 

2)  1.  c.  Tome  2,  Fase.  4,  p.  1226. 


Meine  Erfahrangen  über  Appendicitis.  309 

habe«  haben  indessen  nicht  eine  Operation  erfordert,  wenn  nicht  gleich- 
zeitig eine  extraperitoneale  Eiterung  in  der  Fossa  iliaca  bestand. 

In  den  Fällen,  in  denen  das  Colon  ascendens  nicht  mit  der  hinteren 
Bauchwand  verwächst  und  in  denen  auch  infolge  davon  der  untere  Teil 
des  Dünndarmmesenterium  und  das  Mesocolon  vollständig  frei  and  be- 
weglich sind,  verlaufen  natürlicherweise  alle  Lymphgefäße  des  Proc. 
vermiformis  genau  wie  während  des  frühesten  Fötallebens,  zu  den 
retroperitonealen  Drüsen  um  die  Aorta  herum,  ohne  irgendwelche 
Anastomosen  mit  den  retroperitonealen  Lymphdrüsen  zu  bilden. 

Sobald  sich  eine  Lücke  in  der  Epithelbekleidung  des  Proc.  vermi- 
formis findet,  ist  ein  Teil  der  Lymphgefäße  der  Schleimhaut  für  bak- 
terielle Invasion  offen.  Bakterien  sind  in  den  Lymphgefäßen  in  allen 
Schichten  des  Proc.  vermiformis  nachgewiesen  worden.  Es  ist  klar, 
<iaß  dadurch  auch  miliare  oder  größere  Abscesse  in  der  Wand  des 
Appendix  entstehen  können.  Fenger  berichtete  im  Jahre  1893  über 
«inen  Fall  von  septischer  Lymphangitis  im  Proc.  vermiformis  mit 
miliaren  Abscessen  in  der  Subserosa  Ö-  In  der  Fig.  14  von  Hawkins^) 
sieht  man  zwei  Abscesse  in  der  äußeren  Muskelschicht;  in  Fig.  15 >) 
sieht  man  zahlreiche  kurze  Bacillen  in  einer  Vene  in  der  inneren 
Mnskelschicht. 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen  ist  es  leicht  zu 
verstehen,  daß  eine  infektiöse  Lymphangitis  im  Proc.  ver- 
miformis die  Ursache  einer  begrenzten  oder  fortschrei- 
tenden infektiösen  Peritonitis  sein  kann,  ohne  daß  man 
makroskopisch  eine  Perforation  in  der  Wandung  des  Or- 
gansoder auch  nur  eine  Ulceration  in  dessen  Schleimhaut 
sehen  kann.  Hawkins  berichtet  über  mehrere  derartige  Sektionen 
und  ich  habe  bereits  in  meinen  früheren  Arbeiten  gleiche  eigene  Beob- 
achtungen (s.  a.  Fall  XI)  erwähnt.  Das  dürfte  man  nunmehr  wohl  als 
eine  allgemein  anerkannte  Wahrheit  zu  betrachten  haben,  über  die  alle 
erfahrenen  Chirurgen  vollständig  einig  sind. 

Dagegen  ist  der  von  einer  akuten  Appendicitis  herrührenden  An- 
schwellung der  regionären  Lymphdrüsen  nur  sehr  wenig  Aufmerksam- 
keit geschenkt  worden.  Und  doch  ist  es  etwas  Gewöhnliches,  daß  nach 
Appendiciten  eine  toxische  oder  infektiöse  Lymphadenitis  im  Mesocolon 
oder  vielleicht  auch  in  der  Fossa  iliaca  folgt,  während  sehr  geringe 
oder  gar  keine  Peritonitis  in  der  Umgebung  des  Proc.  vermiformis 
bestehen  kann.  Davon  kann  man  sich  bei  Operationen,  sowohl  während 
des  akuten  Anfalls  als  auch  unmittelbar  nach  demselben,  überzeugen. 
Auch  bei  den  gewöhnlichen  Operationen   „ä  froid^   muß  man  zu  einer 


1)  Citiert  nach  Mvntbr,  Appendicitis.     Philadelphia  1897,  p.  65. 

2)  1.  c.  p.  43. 

3)  1.  c.  p.  47. 


310  K.  G.  Lennander, 

gleichen  Aofifassang  kommen  in  Fällen,  in  denen  man  einen  sogenannten 
katarrhalischen  Proc.  vermiformis  ohne  Adh&renzen  findet,  aber  mit  an- 
geschwollenen Lymphdrüsen,  von  denen  manche  vielleicht  Eitening 
zeigen. 

Man  dfirfte  deshalb  die  Richtigkeit  der  vorher  citierten  Aenßerung 
von  Treyes  in  Zweifel  zn  ziehen  berechtigt  sein,  daß  eine  akute  Appen- 
dicitis,  sobald  sie  Symptome  zeigt,  stets  von  Peritonitis  begleitet  ist 
In  meinem  angeführten  Aufsatz  über  das  Gefühl  in  der  Bauchhöhle 
habe  ich  hervorgehoben,  daß  eine  akute  Appendicitis  nach  meiner  Auf- 
fassung nur  Schmerz  erzeugt,  sobald  das  Peritoneum  parietale  er- 
krankt ist  oder  sobald  eine  vom  Appendix  ausgegangene  Lymphan- 
gitis  die  retroperitonealen  Lymphgefäße  oder  Lymphdrüsen  erreicht 
hat.  Mao  Bürkets  Punkt  nahm  ich  als  die  Stelle  an,  wo  in  gewohn- 
lichen Ffillen  die  vom  Appendix  ausgehenden  Lymphgefäße  zuerst  in 
Berührung  kommen  mit  schmerzleitenden  Nervenzweigen,  die  den 
Lumbalnerven  angehören.  Diese  Ansicht  gewinnt  eine  gute  Stütze  an 
den  später  citierten  Untersuchungen  von  Eeith,  die  zeigen,  daß  die 
Valvula  Bauhini  in  der  Mehrzahl  von  Fällen  Mao  Bürnets  Punkte 
entspricht.  Aber  nach  vorher  erwähnten  Untersuchungen  wissen  wir 
auch,  daß  die  retroilealen  und  juxtacökalen  appendikulären  Lymphdrüsen, 
wie  auch  die  konstant  vorkommende  Lymphdrüsengruppe  um  die  Art 
ileocoecalis  herum  ihre  Lage  gerade  in  der  allernächsten  Nachbarschaft 
der  Ileocökalklappe  haben. 

Schon  im  Jahre  1893  hob  ich^)  die  Symptome  und  die  Bedeutung 
einer  akuten  Lympbangitis  und  Lymphadenitis  sowohl  bei  akuten  wie 
auch  bei  chronischen  Appendiciten  hervor.  Jetzt  wie  damals  glaube 
ich,  daß  es  am  einfachsten  ist,  den  Proc.  vermiformis  mit  den  Rachen- 
mandeln zu  vergleichen.  Wie  sich  akute  Tonsilliten  finden  mit,  wenig- 
stens makroskopisch  betrachtet,  nur  katarrhalischen  Veränderungen^ 
andere  mit  Suppuration  und  wieder  andere  mit  Gangrän,  so  finden 
sich  auch  entsprechende  Prozesse  im  Appendix.  Bei  der  akuten  Ton- 
sillitis schwellen  mehr  oder  weniger  die  regionären  Lymphdrüsen  am 
Halse  an ;  das  ist  auch  der  Fall  mit  den  Lymphdrüsen  des  Proc  vermi- 
formis bei  der  Mehrzahl  von  akuten  Appendiciten. 

Je  nach  der  Art  des  Prozesses  im  Appendix,  kann  dieser  in  dem 
einen  Falle  eine  schwere,  vielleicht  rasch  zum  Tode  führende  Peri- 
tonitis, in  einem  anderen  kaum  irgendwelche  Peritonitis,  aber  eine 
bedeutende  Lymphdrüsengeschwulst  hervorrufen.  Wie  soll  man  das 
erklären?  Wenn  die  Appendicitis  rasch  zum  Brand  des  erkrankten 
Teiles  des  Organes  führt,  dann  werden  Venen  und  Lymphgefäße  in 
einem  sehr  zeitigen  Stadium  der  Krankheit  thrombosiert  und  sterben 


1)  Nord.  med.  ark.,  189S,  No.  27,  p.  12  u.  13.  —  Ueber  Appendicitis. 
Wien  1895. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  311 

danach  rasch  ab.  Es  kann  deshalb  keine  Lymphangitis  außerhalb  des 
Organes  entstehen  und  ebensowenig  eine  entzündliche  Schwellung  in 
den  regionären  Lymphdrüsen.  Es  entsteht  dagegen  Peritonitis,  denn 
entweder  reißt  die  Wand  des  brandigen  Appendix,  dessen  Inhalt  dann 
in  die  Bauchhöhle  entleert  wird,  oder  auch  es  wachsen  die  Mikroben 
quer  durch  die  abgestorbene  Darmwand  hindurch. 

Aber  auch  in  weniger  heftigen  Fällen,  in  denen  man  eher  von  einer 
Ulceration  sprechen  kann,  die  perforiert,  als  von  Gangrän,  wird  der 
Inhalt  des  Appendix  ebenfalls  sofort  in  die  Bauchhöhle  entleert,  die  je 
nach  den  lokalen  Verhältnissen  oder  je  nach  der  Virulenz  der  Bakterien 
gegen  die  Infektion  durch  eine  begrenzte  oder  fortschreitende  Peritonitis 
reagiert,  genau  wie  in  den  eben  genannten  Fällen  mit  Gangrän. 

In  den  Fällen  aber,  in  denen  es  nie  zu  einer  größeren  Zerstörung 
des  Proc.  vermiformis  kommt  oder  in  denen  eine  solche  erst  im  späteren 
Verlauf  der  Krankheit  eintritt,  fährt  die  Schleimhaut  fort  zu  sezer- 
nieren,  aber  das  Sekret  wird  infolge  der  akuten  Schleimhautschwellung 
und  der  möglicherweise  vorhandenen  Verengungen  (Knickungen,  Narben 
u.  s.  w.)  abgesperrt.  Der  infektiöse  Inhalt  im  Proc.  vermiformis  kommt 
unter  Druck.  Der  kranke  Proc.  vermiformis  kann  in  schwereren  Fällen 
am  besten  mit  einem  Furunkel  an  einer  Hand  oder  einem  Fuß  ver- 
glichen werden  oder  mit  einer  Tonsille,  in  der  Absceßbildung  besteht. 
Toxine  und  Mikroben  können  nicht  anders  aus  dem  Proc.  vermiformis 
treten  als  durch  die  Lymphgefäße  (oder  die  Venen?).  Es  entsteht 
je  nach  der  Art  des  Inhaltes  eine  rein  toxische  oder  überwiegend 
toxische  oder  eine  mehr  infektiöse  Lymphangitis  mit  regionärer  Lymph- 
adenitis. 

Da  indessen  die  vom  Proc.  vermiformis  kommenden  Lymphgefäße 
erst  die  Subserosa  des  Organes  und  dann  das  Mesenteriolum  passieren, 
ehe  sie  in  die  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  retroperitonealen  Drüsen 
im  Mesocolon  einmünden,  so  kann,  wie  aus  der  vorhergehenden  Dar- 
stellung deutlich  hervorgeht,  die  Peritonealhöhle  von  den  Lymphgefäßen 
in  der  Subserosa,  im  Appendix  und  im  Mesenteriolum  infiziert  werden, 
gleichzeitig  mit  der  Infektion  der  Lymphdrüsen.  Die  früher  angeführten 
Beobachtungen  von  miliaren  Abscessen  und  von  Mikroben  in  den 
Lymphgefäßen  in  der  Subserosa  machen  das  wohl  begreiflich^). 

In  allen  Fällen,  in  denen  eine  etwas  ernstere  Form  einer  vom 
Proc.  vermiformis  aus  fortgeleiteten  Bauchfellentzündung  besteht,  ver- 


1)  Schöne  Beispiele  von  infektiöser  Lymphangitis  im  Appendix  mit 
eiteriger  Peritonitis  bieten  die  Fälle,  in  denen  man  bei  Operationen 
kurz  nach  einem  Anfalle  den  geschwollenen  Proc.  vermiformis  mehr  oder 
weniger  von  adhärenten  Omentumzipfeln  umgeben  findet  und  im  Innern  der 
fibrösen  Adhärenzen  einen  oder  einige  Tropfen  Eiter,  ohne  daß  man  am 
entsprechenden  Teile  der  Schleimhaut  des  Proc.  vermiformis  makroskopisch 
irgendwelche  Ulceration  sehen  kann. 


312  £.  G.  Lennander, 

liert  natürlich  die  Anschwellung  der  regionären  Lymphdrüsen  (=  akute 
Lymphangitis)  alle  klinische  Bedeutung,  soweit  sie  nicht  in  eiterige  £in- 
schmelzung  der  Lymphdrüsen  übergeht  oder  zu  infektiösen  Thrombosen 
in  nahe  gelegenen  Venenzweigen  des  Porta-  oder  Cavasystems  —  Leber- 
abscessen,  Lungenabscessen  —  führt 

Man  kann  sich  schwer  vorstellen,  daß  Toxine  oder  Mikroben  in 
größerer  Menge  die  Lymphgefäße  in  der  Subserosa  des  Proc.  vermi- 
formis und  dessen  Mesenteriolum  passieren  können,  ohne  wenigstens 
Hyperämie  in  der  Subserosa  selbst  zu  verursachen.  Sicher  ist  indessen, 
daß  man  sowohl  während  eines  Anfalles  wie  einige  Tage  später  an  der 
Außenseite  des  Proc.  vermiformis  ganz  wenig  (Fall  III  und  V)  oder 
gar  keine  Gefäßinjektion  (Fall  IV)  finden  kann. 

Fall  IL  Mann,  20  Jahre  alt,  aufgenommen  am  25.  Sept.  1902. 
Appendicitis  acuta  catarrhalis  haemorrhagica  cum  peri- 
tonitide  serosa  incipiente  et  cum  lymphadeni tide  acuta 
jnesocoli. 

Anamnese.  Fälle  von  Appendicitis  sind  vorher  nicht  in  der  Familie 
oder  in  der  Verwandtschaft  vorgekommen.  Pat  ist  immer  gesund  und 
stark  gewesen.  Im  Sommer  hatte  er  mehrere  Male  geringen,  in  •  der 
rechten  Seite  des  Bauches  lokalisierten  Schmerz,  dicht  oberhalb  des  Ligam. 
Poupartii:  es  „strammte^^  bei  Anstrengungen  und  mitunter  „hieb  es  zu'^ 
Pat.  war  nie  bettlägerig;  die  Darmentleerung  war  die  ganze  Zeit  normal; 
einige  Male  bestanden  geringe  dyspeptische  Symptome.  Am  25.  Sept. 
fühlte  sich  Pat  beim  Aufstehen  vollkommen  gesund  und  aß  sein  Frühstück 
wie  gewöhnlich.  Früh  hatte  er  eine  Darmeutleerung  gehabt,  die  indessen 
recht  gering  gewesen  war.  An  den  vorhergehenden  Tagen  war  die  Darm- 
entleerung normal  gewesen  und  dyspeptische  Beschwerden  hatten  nicht 
bestanden.  Einige  Zeit  nach  dem  Frühstück  (ungefähr  11  Uhr  vormittags) 
hatte  Pat.  das  Gefühl  von  „ Schwere ^^  nach  unten  zu  im  Bauche;  er  ging 
auf  das  Klosett,  hatte  aber  keine  Stuhlentleerung,  nur  unbedeutende 
Blähungen  gingen  ab.  Unmittelbar  danach  stellte  sich  heftiger  Schmerz 
in  der  rechten  Seite  des  Bauches  ein,  der  in  das  rechte  Bein  abwärts  und 
in  den  Bücken  ausstrahlte,  gleichzeitig  bestand  bedeutende  Empfindlichkeit 
in  der  rechten  Fossa  iliaca.  Der  Schmerz  exacerbierte  von  Zeit  zu  Zeit 
und  wurde  sehr  quälend;  um  Ys^^  ^^^  ^^^^  ^^°  P^^^  ^^^  reichliches  Er- 
brechen mit  saurem  Geruch  ein.  Kein  Frost,  weder  am  Morgen  noch  jetzt; 
doch  kam  es  dem  Pat.  vor,  als  ob  er  den  ganzen  Morgen  ungewöhnlich 
stark  geschwitzt  hätte.  Bei  der  um  1  Uhr  mittags  vorgenommenen  Unter- 
suchung wurde  folgendes  gefunden :  Temp.  37,6  ®,  Puls  etwas  unregelmäßig, 
Frequenz  70 — 80.  Der  Bauch  erscheint  etwas  aufgetrieben,  doch  nicht  in 
besonders  hohem  Grade;  bei  der  Palpation  findet  sich  der  Bauch  auf  der 
linken  Seite  weich  und  nirgends  empfindlich ;  geht  man  auf  die  rechte  Seite 
über,  so  spannen  sich  die  Muskeln  bei  sehr  leiser  Palpation  bretthart  an. 
Dabei  wird  bedeutende  Empfindlichkeit  angegeben  über  Mac  Bijbkbts 
Punkt,  sowie  etwas  nach  außen  davon.  Nach  oben  zu  im  rechten  Hypo- 
chondrium  wird  auch  Empfindlichkeit  angegeben,  obwohl  in  geringerem 
Grade  als  in  dem  vorher  angegebenen  Bezirk.  Eine  deutliche  Resistenz 
ist  nicht  zu  fühlen.  Der  Perkussionsschall  erscheint  über  dem  vorher 
genannten  Bezirk  etwas  kürzer  tympanitisch  als  auf  der  linken  Seite. 
Palpation  vom  Rectum  aus  ergibt  nichts.     Von  Seiten  der  Lungen   und 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  313 

des  Herzens  nichts  Abnormes.  Harn  trübe,  etwas  rötlich,  er  gibt  (fil- 
triert!) einen  dünnen,  aber  deutlichen  unteren  Bing  bei  Hbllbbs  Probe. 
Da  die  Diagnose  sicher  erschien,  Fat.  zu  einer  eventuellen  Operation  ge- 
neigt war  und  die  Schmerzen  besonders  heftig  waren,  wurde  1  cg  Mor- 
phium subkutan  gegeben. 

Status  praesens  5  Uhr  nachm.  Ungewöhnlich  muskelstarker 
junger  Mann.  Die  Schmerzen  haben  aufgehört,  Fat  ist  etwas  benommen. 
Bauch  jetzt  weich  und  nicht  besonders  empfindlich  auf  der  rechten  Seite. 
Etwas  Auftreibung  des  Leibes.  Flatus  sind  nicht  abgegangen.  Temp.  37,6  ®, 
Puls  gleichmäßig,  80.  Der  Harn  gibt,  stark  verdünnt,  bei  Hbllers  Probe 
einen  dünnen,  aber  deutlichen  unteren  und  einen  oberen  Eiweißring.  Nichts 
im  Sediment.    Anzahl  der  weißen  Blutkörperchen  16900  im  Kubikmillimeter. 

Operation  5  Uhr  30  Min.  (ungefähr  6^/,  Stunden  nach  dem  Auf- 
treten des  ersten  Unwohlseins).  Die  Diagnose  war  auf  akute  Appendicitis 
gestellt  worden.  Die  Krankheit  wurde  als  gefährlich  betrachtet,  weil  Fat. 
schon  Eiweiß  im  Harne  und  16900  Leukocyten  im  Blute  hatte.  Die  hef- 
tigen Schmerzen  und  die  „brettharte"  Spannung  der  Muskeln  bei  der  ersten 
Untersuchung  deuteten  ebenfalls  darauf  hin.  Schrägschnitt.  Zwischen  der 
vorderen  Bauchwand  und  den  lateralen  Teilen  des  Goecum  und  Colon  ascen- 
dens  fanden  sich  breite,  dünne,  gefäßreiche  Adhärenzen  (vgl.  die  Anamnese). 
Der  Froc.  vermiformis  war  ungewöhnlich  lang.  Er  lag  medial  am  Coecum 
und  ging  in  Trichterform  in  dieses  über.  In  seiner  Serosa  sah  man  nicht 
mehr  als  1  oder  2  injizierte  Ge^ße.  Die  Serosa  an  den  umliegenden 
Därmen  zeigte  vermehrte  Feuchtigkeit  und  vermehrte  Rötung.  Alle  Därme 
waren  mehr  ausgedehnt  als  gewöhnlich.  In  dem  sehr  großen  und  fett- 
reichen Mesoappendix  waren  keine  vergrößerten  Lymphdrüsen  zu  er- 
kennen. Solche  fanden  sich  dagegen  im  Winkel  zwischen  Ileum  und 
Colon  und  von  da  an  bis  an  die  Wirbelsäule.  Sie  hatten  die  Größe 
einer  kleinen  Kaffeebohne  bis  zu  einer  Haselnuß.  Im  untersten  Teile  des 
Dünndarmmesenterium  fanden  sich  keine  geschwollenen  Drüsen.  Die 
Mesenterien  waren  fettreich.  Der  Froc.  vermiformis  wurde  ezstirpiert  und 
der  Bauch  zugenäht  ohne  Drainage. 

Der  exstirpierte  Froc.  vermiformis  war  12  cm  lang  und  von  konischer 
Porm,  gleichmäßig  schmäler  werdend  nach  der  Spitze  zu.  Er  war  voll- 
ständig ausgefüllt  von  einer  recht  festen  Fäkalmasse,  die  in  der  Nähe 
des  Coecum  natürliches  Aussehen  hatte,  aber  nach  der  Spitze  zu  mit 
Schleim  oder  möglicherweise  mit  Eiter  gemischt  war.  In  der  Schleimhaut 
sah  man  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Appendix  einige  wenige  steck- 
nadelkopfgroße und  kleinere  Blutungen.  Die  Schleimhaut  war  in  den 
distalen  Teilen  geschwollen. 

Der  Fat.  wurde  nach  der  Operation  mit  salicylsaurem  Fhysostigmin^ 
0,0002  g  subkutan,  3 — 4mal  täglich,  behandelt.  Jeden  Tag  wurden 
4  Darmausspülungen  gemacht  und  nach  diesen  in  der  ersten  Nacht  2  Ein- 
gießungen von  lÖOO  g  0,9-proz.  Kochsalzlösung  mit  Traubenzucker  und 
Cognac  in  das  Rectum;  danach  wurde  jede  Eingießung  auf  500  g  herab- 
gesetzt. Schon  in  der  ersten  Nacht  reichlicher  Abgang  von 
Flatus.  26.  Sept.  Harn  eiweißfrei,  wie  auch  von  da  an  immer. 
28.  Sept.  Bronchitis  mit  eiterigem  Auswurf.  5.  Okt.  Bauch- 
wunde  geheilt  per  primam.  Fat.  hatte  die  ersten  5  Tage  eine  geringe 
Temperatursteigerung  bis  38,6®  im  Rectum.  Noch  heute  etwas  eiteriger 
Auswurf.  Fat.  hat  nach  der  Operation  keine  andere  Störung  in  der 
Bauchhöhle  gehabt  als  solche,  die  mit  der  Bauchwunde  in  Zusammenhang 
gebracht  werden  konnte. 


314  K.  G.  Lennander, 

War  das  etwa  eine  Allgemeininfektion  mit  Lokalisa* 
tion  im  Appendix  and  in  den  Bronchien  sowie  im  Bachen, 
wo  sich  Rötung,  jedoch  ohne  Schmerz,  fand? 

Fall  III.  Weib,  22  Jahre  alt,  No.  161  A,  1902.  Appendicitis 
acuta  catarrhalis  haemorrhagica  cum  lymphadenitide 
acuta  mesocolL 

Fat  war  am  13.  Mai  1902  ins  Exankenhaus  aufgenommen  worden 
wegen  einer  retrotrachealen  Struma  mit  ErstickungsanfUlen  in 
den  Nächten.  Die  Resektion  des  hinter  der  Trachea  liegen- 
den Teiles  des  linken  Lappens  war  ausgeführt  worden. 
Alle  Symptome  der  Struma  waren  verschwunden  und  die  Operations- 
wunde war  fast  geheilt,  als  die  Fat.  am  9.  Juni  mit  den  Symptomen  einer 
akuten  Appendicitis  erkrankte.  9.  Juni.  Abends,  als  Fat.  im  Begriff  war, 
ihre  Abendmahlzeit  (Orütze  und  Milch)  zu  verzehren,  begann  sie  plötzlich 
üebelkeit  mit  Brechneigung  zu  empfinden  —  sie  hatte  sich  eine  Zeit 
vorher  „frostig^*  gefühlt.  Sie  brach  die  Speisen  aus  und  hatte  seitdem 
Üebelkeit.  Bei  der  Falpation  spannte  sie  den  unteren  Teil  des  Bauches 
an  und  gab  Druckempfindlichkeit  an  über  der  rechten  Eossa  iliaca  bis 
zur  Höhe  des  Nabels  und  über  der  linken  Fossa  iliaca  nach  außen  bis  zur 
Mitte  des  Ligam.  Foupartü.  Im  Rectum  keine  deutliche  Empfindlichkeit. 
Temp.  im  Rectum  37,5^,  Fuls  90.  Fat  hatte  sich  vorher  im  Laufe  des 
Tages  ganz  gesund  gefühlt,  alles  war  gewesen  wie  gewöhnlich.  Sie  hatte 
normale  Stuhlentleerung  gehabt  und  auch  an  den  vorhergehenden  Tagen 
keine  Darmstörungen.  Ord.  Fasten,  2  Eisblasen.  10.  Juni.  Temp.  36,5 
—37,40,  Puls  70—84.  Ein  paarmal  w&hrend  der  Nacht  üebelkeit.  Fat. 
hat  den  größten  Teil  der  Nacht  geschlafen.  Wenn  sie  munter  war,  hat 
sie  Schmerz  im  Bauche  gehabt.  Auch  am  Tage  wurde  nichts  per  os  ge- 
geben. Kochsalzlösung  subkutan  1000  ccm.  Im  Laufe  des  Tages  soll  Fat. 
einige  Male  Üebelkeit  gehabt  haben.  Seit  gestern  Abend  sollen  keine  Blä- 
hungen abgegangen  sein.  Kein  Aufstoßen  von  Gasen.  Bauch  nicht  aufge- 
trieben. Fat.  spannt  den  unteren  Teil  des  Bauches  heute  weniger  als  gestern. 
Bauch  übrigens  sehr  weich.  Die  Empfindlichkeit  soll  heute  nicht  weiter 
nach  links  gehen  als  bis  zur  Mittellinie.  Das  Aussehen  der  Fat.  ist  jetzt, 
wie  immer,  blühend  und  mit  lachender  Miene  erklärte  sie  bei  der  Fal- 
pation, daß  es  wehe  tue.  11.  Juni.  Temp.  36,9—37,6  0,  Fuls  78 — 72. 
Einige  Male  in  der  Nacht  Üebelkeit,  heute  aber  keine.  Immer  noch  sollen 
keine  Gase  abgehen.  Schlaf  in  der  Nacht  gut.  Nichts  per  os.  1200  ccm 
Kochsalzlösung  subkutan.  Bauch  nicht  aufgetrieben,  heute  im  allgemeinen, 
auch  der  untere  Teil,  sehr  weich.  Empfindlichkeit  wird  jetzt  im  medialen 
Teile  der  rechten  Fossa  iliaca  angegeben,  im  übrigen  nicht  12.  Juni. 
Temp.  37 — 37,5  0,  Fuls  70—80.  Heute  haben  Flatus  abzugehen  begonnen. 
Man  läßt  die  Fat.  anfangen,  flüssige  Nahrung  (Brei)  per  os  zu  nehmen. 
1000  ccm  Kochsalzlösung  subkutan.  13.  Juni.  Temp.  36,4^37,5  0,  Fuls 
78 — 72.     1000  ccm  Kochsalzlösung  subkutan. 

Operation  am  14.  Juni.  Schnitt  durch  die  Bectusscheide  mit 
Schonung  der  Nerven.  Im  Mesocolon  ascendens  zahlreiche 
geschwollene  Lymphdrüsen  bis  an  die  Wirbelsäule.  In 
einigen  Drüsen  gelbe,  eiterähnliche  Funkte.  Im  Dünndarmmesenterium 
keine  fühlbaren  Lymphdrüsen.  Serosa  des  Appendix  von  nor- 
malem Aussehen.  Keine  Adhärenzen.  Appendix  lang,  Inhalt 
pur ulent  (mikroskopische Untersuchung).  Schleimhaut  geschwollen, 
Follikel  stark  hervortretend ;  viele  kleine  Blutungen  in  der  Mucosa.  Heilung 


Meine  Erfahrungen  über  Appendiciüs.  316 

der  prünam  intentionem.  Fat.  wurde  am  8.  Juli  geheilt  entlassen.  Im 
Herbst  hat  sie  sich  gesund  und  blühend  wieder  gezeigt  Fat.  hatte  selbst 
verlangt,  operiert  zu  werden,  weil  sie  Dienstmädchen  auf  dem  Lande  war 
und  meinte,  sie  könne  nicht  sofort  Ffiege  und  Behandlung  haben,  falls 
möglicherweise  ein  Rezidiv  eintreten  sollte. 

Bei  Operationen  während  des  freien  Intervalls  ist  es  ganz 
gewöhnlich,  geschwollene  Lymphdrüsen  im  Mesocolon  zu  sehen.  Ich 
pflege  stets  zu  untersuchen,  ob  Fatient  mit  chronischer  Appendicitis 
Empfindlichkeit  gegen  Druck  oberhalb  des  Mac  BuRNETschen  Funktes 
oder  medial  von  demselben  nach  vorn  gegen  die  Mittellinie  hin  zeigen, 
d.  h.  entsprechend  dem  Mesocolon  ascendens.  Findet  sich  eine  solche 
Empfindlichkeit,  dann  habe  ich  Verdacht  auf  vom  Froc.  vermiformis 
ausgehende  Lymphadenitis.  3mal  habe  ich  bei  Appendicitisexstirpationen 
ä  froid  in  Schmelzung  übergegangene  Lymphdrüsen  im  Mesocolon  ent- 
fernt. 2mal  enthielten  sie  Staphylokokken,  Imal  war  der  Inhalt  steril 
in  aöroben  Kulturen.  In  allen  3  Fällen  zeigten  die  geschmolzenen 
Lymphdrüsen  deutliche  Aehnlichkeit  mit  Drüsentuberkulose  mit  käsiger 
Umwandlung.  Tuberkulose  konnte  indessen  nicht  nachgewiesen  werden 
und  die  Fatienten  sind  nach  2—4  Jahren  noch  gesund. 

Einmal  habe  ich  während  des  Anfalls  einen  großen  retroperitonealen 
Absceß  geöffnet,  der  medial  am  Colon  ascendens  lag.  Ein  anderes  Mal 
operierte  ich  einen  großen  retroperitonealen  Absceß  in  der  Fossa  iliaca 
mit  Senkung  nach  dem  Oberschenkel  und  in  das  kleine  Becken  bis  an 
die  Articulatio  sacro-iliaca.  Beide  Fatienten  wurden  vollkommen  gesund. 
In  beiden  Fällen  hatte  die  Krankheit  als  Appendicitis  begonnen.  In 
beiden  fanden  sich  ein  geschwollener  Appendix  und  geschwollene  Lymph- 
drüsen im  Mesocolon;  dabei  in  dem  einen  Falle  keine  und  im  anderen 
unbedeutende  peritonitische  Veränderungen  in  der  Bauchhöhle,  und 
zwar  nur  in  der  Umgebung  des  Appendix.  Bei  den  3  vorhin  erwähnten 
Operationen  ä  froid,  wo  Eiterbildung  in  Lymphdrüsen  bestand,  fand 
sich  ebenfalls  keine  Feritonitis  oder  nur  geringe  Zeichen  einer  abge- 
laufenen Feritonitis. 

Ich  glaube,  daß  bei  manchen  leichten,  rasch  vorüber- 
gehenden Anfällen  von  Appendicitis  sich  keine  Feri- 
tonitis in  der  Umgebung  des  Froc.  vermiformis  findet, 
sondern  nur  Lymphangitis  und  Lymphadenitis  im  Meso- 
colon. Es  ist  wohlbekannt,  wie  rasch  Frost,  Fieber,  Schwellung, 
Empfindlichkeit  und  Schmerz  auftreten  können,  z.  B.  bei  einer  akuten 
Lymphadenitis  im  Leistenkanal  von  einem  infizierten  Beingeschwür  aus, 
aber  auch,  daß  Allgemeinsymptome,  Schmerz  und  Empfindlichkeit  be- 
reits nach  12—24—48  Stunden  in  solchen  Fällen  verschwunden  sein 
können,  wenn  es  nicht  zur  Suppuration  kommt.  Als  pathologisch-ana- 
tomische Grundlage  in  einem  großen  Teile  der  sogenannten  Rezidive 
der  Appendicitis  dürfte  man  ein  Akutwerden  einer  chronischen  Lymph- 


316  K.  G.  Lennander, 

adenitis  finden,  im  Zusammenhang  mit  einer  vermehrten  Toxicität  oder 
Infektiosität  in  dem  mehr  oder  weniger  stagnierenden  Darminhalt  im 
Proc.  vermiformis.  Gleiche  Anfälle  von  Schmerzen  und  Empfindlichkeit 
sieht  man  bei  Exacerbationen  chronischer  Typhliten  in  Fällen,  in  denen 
der  Proc.  vermiformis  schon  seit  langer  Zeit  exstirpiert  worden  ist. 
Ich  hoffe,  bald  Gelegenheit  zu  haben,  in  einer  besonderen  Arbeit  die 
Kasuistik  ausführlicher  vorzulegen,  von  der  ich  glaube,  daß  sie  die 
Richtigkeit  der  hier  ausgesprochenen  Ansichten  beweist^). 

Der  dritte  Punkt,  den  ich  hier  näher  diskutieren  wollte,  lautet: 
eine  akute  infektiöse  Enteritis  oder  Colitis  ist  ein  wich- 
tiges ätiologisches  Moment  für  das  Entstehen  einer 
akuten  Appendicitis.  Hiermit  habe  ich  natürlich  nicht  die  Mög- 
lichkeit einer  hämatogenen  Infektion  des  Proc.  vermiformis  wie  jedes 
anderen  Organes  geleugnet.  Eine  Menge  klinischer  Fakta,  wie  auch 
Beaüsenats^)  und  Jahan  Nioolatsens  ^)  experimentelle  Unter- 
suchungen sprechen  für  die  Bedeutung  der  infektiösen  Enterocolitis. 
Ich  für  meinen  Teil  glaube,  daß  jede  Enterocolitis,  die  die  Valvula 
Bauhini  überschreitet,  auch  eine  Erkrankung  des  Proc.  vermiformis  mit 
sich  führt  Ob  dann  die  Krankheit  im  Proc.  vermiformis  dazu  kommt, 
sich  zu  einem  Anfall  von  akuter  Appendicitis  zu  entwickeln,  das  beruht 
vermutlich  meist  auf  den  individuellen  anatomischen  Verhältnissen  im 
Proc.  vermiformis  und  in  seiner  Umgebung.  Ich  bin  überzeugt,  daß 
jedes  toxische  oder  infektiöse  Agens,  das  eine  Schwellung  des  lymphoiden 
Gewebes  im  übrigen  Darmkanal  mit  sich  bringt  (z.  B.  die  Toxine  des 
Bact.  coli),  auch  und  vor  allem  eine  Schwellung  desselben  Gewebes 
im  Proc.  vermiformis  verursacht,  die  vielleicht  nie  ganz  zurückgeht. 
Fall  IV  scheint  mir  in  dieser  Richtung  von  großem  Interesse. 

Fall  IV.  Mann,  36  J.  alt,  aus  Tjerp,  No.  168  A.  1902.  Enteritis 
acuta   cum   appendicitide    acuta  catarrhali   haemorrhagica 

Pat.  ist  stets  vollständig  gesund  gewesen,  mit  Ausnahme  geringerer 
Diarrhöe  bei  verschiedenen  Gelegenheiten.  Er  ist  nie  gelb  gewesen.  Am. 
Sonnabend,  10.  Mai,  abends  erkrankte  er  mit  Diarrhöe,  Schüttelfrost  und 
Erbrechen,  hatte  aber  keine  Schmerzen  im  Bauche.  Das  Erbrechen  dauerte 
die  ganze  Nacht  und  den  folgenden  Tag  fort  Am  Montag  (12.  Mai)  und 
Dienstag  (13.)  befand  er  sich  besser  und  war  auf.  Am  Mittwoch  begann  er 
wieder  zu  arbeiten,  aber  am  Donnerstag  (15.  Mai)  abends  erkrankte  er 
wieder  und  hatte  nun  starke  Schmerzen  im  Bauche.  Er  nennt  sie  Kolik- 
schmerzen  und   beschreibt   sie   als    vom   Rücken  gerade  nach  vom  gegen 


1)  Meine  Ansicht  über  die  vom  Proc.  vermiformis  ausgehende  Lymph- 
angitis  und  Lymphadenitis  habe  ich  schon  in  einer  in  schwedischer  Sprache 
geschriebenen  Arbeit  niedergelegt  (Tankar  om  diagnos  och  Operation  af 
appendicit.     Nord.  Tidsskr.  f.  Therapi,  Bd.  1,  1902). 

2)  Beausenat,  Appendicite  exp^rimentale.  Revue  de  Gyn.  et  Chir. 
abdom.,  1897,  No.  2. 

3)  Nord.  med.  ark.,  Afd.  1,  1901,  Haft  4,  No.  24. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  317 

den  Nabel  gehend.  Der  Schmerz  fahr  fort  bis  zum  Morgen.  Am 
Freitag  (16.  Mai)  Mittag  begann  der  Schmerz  wieder  in  derselben  Weise. 
Er  ist  seitdem  unverändert  geblieben,  obwohl  er  sich  in  der  letzten  Zeit  auf 
die  obere  rechte  Seite  des  Bauches  beschränkt  hat.  Fat  hat,  seitdem  die 
einleitende  Diarrhöe  aufgehört  hat,  Verstopfung  gehabt.  Er  hat  hin  und 
wieder  kleine  FrostanfkUe  gehabt  und  glaubt,  dafi  Flatus  seit  Freitag  den 
16.  Mai  nicht  abgegangen  seien.  Am  18.  Mai  kam  er  in  das  akademische 
Krankenhaus. 

Status  praesens  am  18.  Mai.  Körperfülle  und  Muskulatur  gut. 
Temp.  37,6  ö,  Fuls  76,  regelmäßig.  Leukocyten  10000.  H  a  r  n :  Bei  Hbllbrs 
Probe  unbedeutender  unterer,  stärker  hervortretender  oberer  Eiweißring, 
kein  Sediment.  Im  Rectum  nichts  Bemerkenswertes.  Fat.  gibt  an,  daß 
es  im  Bauche  brenne,  und  zwar  am  meisten  auf  der  rechten  Seite.  Bei 
der  Palpation  des  Bauches  spannte  er  die  Muse,  recti  etwas;  in  den  un- 
teren und  lateralen  Teilen  der  rechten  Fossa  iliaca  fand  sich  keine  Em- 
pfindlichkeit, aber  im  medialen  oberen  Teile  derselben  Fossa  iliaca  und 
von  da  an  von  der  Wirbelsäule  bis  zum  Nabel  war  eine  bedeutende 
Empfindlichkeit  bei  tiefer  Palpation.  Ebenso  bestand  Empfindlichkeit 
über  der  linken  Seite  der  Wirbelsäule,  doch  nicht  so  stark,  wie  nach 
rechts  zu.  Oberhalb  des  Nabels  nahm  die  Empfindlichkeit  rasch  ab  und 
in  der  Oegend  der  Gallenblase  war  gar  keine  vorhanden.  Es  fand  sich 
keine  abnorme  Dämpfung  am  Bauche.  Nach  eingeleiteter  Narkose  ver- 
suchte man  nachzufühlen,  ob  sich  irgend  welche  Resistenz  im  Bauche 
fand,  aber  es  konnte  keine  nachgewiesen  werden.  Man  nahm  an,  daß 
Fat  am  10.  Mai  an  einer  akuten  Enteritis  erkrankt  war  und  nun  eine 
akute  Appendicitis  habe,  es  unentschieden  lassend,  ob  möglicherweise 
auch  eine  kleine,  begrenzte  pui*ulente  Peritonitis  nach  der  Wirbelsäule 
zu  bestehe. 

Längsschnitt  durch  die  rechte  Rectusscheide ;  man  sah  3  zum  Rectus 
verlaufende  Nerven,  der  mittelste  wurde  durchschnitten,  der  obere  und  der 
untere  wurden  gedehnt  Im  Bauche  sah  man  etwas  vermehrte  Menge  von 
seröser  Flüssigkeit.  Das  Coecum  wurde  vorgezogen ;  der  Proc.  vermiformis 
lag  an  dessen  hinterer  medialer  Seite  und  war  durch  alte  Adhärenzen  in 
einem  Winkel  gebogen  und  mit  dem  Coecum  verwachsen.  Solche  Adhä- 
renzen fanden  sich  auch  zwischen  dem  Coecum  und  der  hinteren  Bauch- 
wand. Am  Proc.  vermiformis  fand  sich  keine  nennenswerte  GeiUßinjektion ; 
er  war  am  schmälsten  am  Coecum;  er  wurde  auf  die  gewöhnliche  Weise 
exstirpiert.  Der  zunächst  liegende  Teil  des  Ileum  wie  auch  das  Coecum 
hatten  das  gewöhnliche  Aussehen,  aber  weiter  oben  war  der  Darm  hell- 
rot von  Farbe  infolge  einer  besonders  lebhaften  Ge&ßinjektion.  Zwischen 
den  Därmen  befand  sich  überall  etwas  vermehrte  Flüssigkeitsmenge,  doch 
nicht  so  viel,  daß  man  sie  in  einer  Pipette  hätte  sammeln  können.  Auch 
das  Mesenterium  war  stellenweise  etwas  gerötet  und  hier  und  da  sah  und 
fühlte  man  vergrößerte  Lymphdrüsen  in  demselben.  Ich  habe  versäumt^ 
aufzuzeichnen,  wie  sich  die  Lymphdrüsen  im  Mesocolon  verhielten.  Die 
Gef^ßinjektion  an  einem  großen  Teile  des  Dünndarmes,  die  Lymph- 
adenitis im  Mesenterium  und  die  vermehrte  Feuchtigkeit  in  der  Bauch- 
höhle wurden  als  i^olgen  einer  akuten  Enteritis  mit  akuter  Lymphangitis 
betrachtet.  Die  Veränderungen  in  der  Schleimhaut  des  Appendix  erwiesen 
eine  akute  katarrhalische,  hämorrhagische  Appendicitis.  Der  exstirpierte 
Proc  vermiformis  war  4  cm  lang.  Beim  Aufschneiden  zeigte  sich  das 
proximale  Ende  dilatiert  und  mit  Faeces  geftillt.  Die  Schleimhaut  war 
geschwollen;   Blutungen    fanden   sich   sowohl   in  der  Mucosa   als   auch  in 


318  K.  G.  Lennander, 

der  Submucosa.    Dieser  dilatierte  Teil  war  iiogefUir  3  cm  lang;   das  un- 
gefähr 1  cm  lange  Endstück  war  obliteriert. 

Rekonvaleszenz  ungestört  Am  10.  Juni  wurde  Fat.  entlassen^  nach- 
dem er  seit  2  Tagen  das  Bett  verlassen  hatte.  Die  Wunde  war  per 
primam  geheilt.  Allgemeinbefinden  gut;  Appetit  gut;  Stuhlentleernng  die 
letzten  3  Tage  ohne  Laxantia.     Am   5.  Okt.  1902   war  Fat.  noch  gesund. 

Dieser  Fall  ist  einer  von  den  nicht  seltenen  Fällen,  in  denen  man 
chronische  Veränderungen  in  der  Umgebung  des  Free,  vermiformis 
findet,  ohne  daB  Fatient  sich  an  einen  Anfall  von  Ferityphlitis  erinnern 
kann. 

Was  den  4.  Funkt —  die  diagnostischen  Schwierigkeiten 
—  betriiTt,  so  beschränke  ich  mich  hier  darauf,  diesen  Funkt  als  These 
aufzustellen.  Wenn  der  Leser  derselben  zustimmmt,  so  wird  er  gern 
zugeben,  daß  man  von  jedem  Chirurgen,  der  akute  Appendiciten  ope- 
riert, fordern  muß,  daß  er  mit  den  Krankheiten  der  zunächst  angren- 
zenden Organe  und  mit  der  erforderlichen  chirurgischen  Technik  so 
vertraut  ist,  daß  er  bei  unrichtiger  Diagnose  sofort  die  veränderte  Situ- 
ation auffaßt  und  die  Operation  ausführt,  die  gerade  für  den  individu- 
ellen Fall  erforderlich  ist 

Die  wechselnde  Lage  des  Froc.  vermiformis  vermehrt  natürlich  die 
Schwierigkeit  einer  richtigen  Diagnose  in  hohem  Grade.  Man  findet 
den  Froc.  vermiformis  in  der  rechten  Bauchhälfte  vom  Ligam.  Foupartii 
an  bis  zur  Leber,  von  dem  Rande  des  Muse,  quadratus  lumborum  an 
bis  zum  Duodenum,  Rückgrat  und  Fromontorium.  Man  findet  ihn  vor 
oder  hinter  dem  Coecum  und  Mesocolon  u.  s.  w.  Es  ist  deshalb  klar« 
daß  verschiedene  Teile  der  Farietalserosa  in  den  verschiedenen  Fällen 
zuerst  angegriffen  werden  können,  je  nach  der  Lage  des  Froc.  vermi- 
formis, und  daß  deshalb  sowohl  die  spontanen  Schmerzen  wie  auch  die 
Druckempfindlichkeit  die  Lage  wechseln  müssen.  Wie  bekannt,  wird 
der  Froc.  vermiformis  oft  im  kleinen  Becken  angetroffen;  manchmal 
liegt  er  sogar  nach  links  von  der  Wirbelsäule. 

Funkt  5.  lieber  Schmerzen  in  der  Mitte  des  Bauches 
und  nach  links  im  Bauche.  Daß  die  ersten  Schmerzen  und  die 
erste  Druckempfindlichkeit  so  oft  „oberhalb  des  Nabels^,  „rings  um  den 
Nabel  herum",  an  Mac  Burneys  Funkt  und  von  da  nach  oben  und 
nach  innen  am  Rückgrat  gefühlt  werden,  beruht,  wie  ich  glaube, 
darauf,  daß  die  ersten  Schmerzen  oft  weit  weniger  durch  eine  pa- 
thologisch-anatomisch nachweisbare  Feritonitis  hervorgerufen  werden, 
als  durch  eine  von  dem  Appendix  und  in  manchen  Fällen  auch  vom 
Coecum  und  Ileum  (akute  Ileocolitis)  ausgegangene  Lymphangitis  und 
Lymphadenitis.  Infolge  der  verhältnißmäßig  wenig  wechselnden  Lage 
der  Valvula  Bauhini  und  des  Mesocolon  ascendens,  in  dessen  Gekröse 
man  ja  die  von  dem  Appendix  ausgehenden  Lymphdrüsen  mit  den 
dazu  gehörigen  Lymphgefäße  findet,  und  weil  alle  diese  Lymphdrüsen 


Meine  Erfahrungen  ttber  Appendicitis.  319 

schließlich  in  den  Lymphdrüsen  und  Lymphgefäßstämmen  um  den  oberen 
Teil  der  Bauchaorta  hemm  vereinigt  werden,  ergreift  eine  akute  Lymph- 
angitis  und  Ljrmphadenitis,  die  vom  Proc.  vermiformis  ausgeht,  zuerst 
die  schmerzleitenden  Nerven  an  der  hinteren  Bauchwand  zwischen  Mao 
Burnets  Punkt  und  dem  Rückgrat  und  um  dieses  herum. 

Wenn  in  einem  Falle  von  abnormer  Lage  der  Därme  der  Dünn* 
dann  nach  rechts  und  der  Dickdarm  nach  links  liegt,  wie  während 
einer  Periode  des  früheren  Fötallebens,  so  ist  es  klar,  daß  die  ersten 
Schmerzen  um  den  Nabel  herum  und  nach  links  zu  im  Bauche  gefühlt 
werden.  Ruft  die  akute  Appendicitis  nur  eine  begrenzte  Peritonitis 
(Periappendicitis,  Perityphlitis)  hervor,  so  bekommen  wir  dann  eine 
^Blinddarmentzündung^  in  der  linken  Bauchhälfte.  Aber  auch,  wenn  das 
Colon  ascendens  normaler  Weise  rechts  im  Bauche  liegt,  können,  wo- 
rauf schon  vorher  hingewiesen  wurde,  der  untere  Teil  des  Dünndarm- 
mesenterium  und  das  Colon  ascendens  verhältnismäßig  frei  beweglich 
sein.  Wenn  in  solchen  Fällen  das  Coecum  und  der  Proc.  vermiformis 
in  das  kleine  Becken  herabhängen,  werden  die  Schmerzen  nicht  eher 
rechts  im  Bauche  gefühlt,  bis  sich  die  appendikuläre  Peritonitis  nach 
oben  vor  die  rechte  Articulatio  sacroiliaca  und  in  die  rechte  Fossa  iliaca 
auszubreiten  beginnt. 

Man  hört  nicht  ganz  selten,  sowohl  von  Aerzten  wie  von  Pa- 
tienten, daß  sie  in  gewissen  Fällen  an  Appendicitis  denken,  aber  den 
Gedanken  aufgeben,  weil  die  „ersten^,  die  „schwersten^  Schmerzen  auf 
der  linken  Seite  auftreten.  In  den  eben  erwähnten  Fällen  von  seltener 
Darmlage,  wo  Coecum  und  Proc.  vermiformis  in  der  linken  Bauchhälfte 
gefunden  werden,  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Schmerzen  auf  der 
linken  Seite  auftreten;  indessen  sind  die  prodromalen  Schmerzen  auf 
dieser  Seite  etwas  ganz  gewöhnliches.  Wie  soll  man  dieses  Verhalten 
erklären?  Es  ist  sehr  wahrscheinlich  (vgl.  die  Lymphadeniten  in  den 
Leisten  und  am  Halse),  daß  eine  besonders  virulente  Infektion 
die  Entzündung  vonweit  mehr  Lymphgefäßen  undLymph- 
drüsen  verursacht,  als  eine  weniger  schwere  Infektion, 
falls  es  nicht  etwa  rasch  zur  Gangrän  des  Organes  kommt,  in  welchem 
Falle,  wie  bereits  erwähnt,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  gar  keine 
Lymphangitis  und  Lymphadenitis  entsteht.  Man  vergleiche  hiermit  das 
Verhalten  der  Drüsen  in  der  Achsel  und  in  den  Leisten  bei  gan- 
gränösen Formen  von  Erysipel  am  Arm  oder  Bein;  sie  pflegen  keine 
Lymphadenitis  zur  Folge  zu  haben.  Eine  mehr  ausgebreitete  Lymph- 
angitis verursacht  natürlich  in  einem  größeren  Umkreise  Schmerz  und 
Empfindlichkeit,  als  eine  weniger  ausgebreitete.  Schwellen  die  retro- 
peritonealen  Lymphdrüsen  vor  dem  Rückgrate  und  nach  links  von  diesem 
an,  so  muß  auch  an  diesen  Stellen  Schmerz  entstehen. 

Ich  glaube  auch,  daß  solche  Fälle,  in  denen  von  Anfang  an  Schmerzen 
und  Empfindlichkeit  in  der  linken  Seite  des  Bauches  vorhanden  sind, 

Mittcil.  a.  d.  GreniceMetoa  d.  Medizin  n.  Chlrargte.    Xni.  Bd.  21 


320  K.  G.  Lönnander, 

und  zwar  am  häufigsten  ^nach  links  vom  Nabel*^,  sich  nur  dadurch  er- 
klaren lassen,  daß  sich  gleichzeitig  mit  der  Entzündung  des 
Appendix  eine  Enteritis  oder  Colitis  mit  Lymphangitis 
und  Lymphadenitis  in  den  Mesenterien  und  in  den  retro- 
peritonealen  Lymphgefäßen  und  Lymphdrüsen  entwickelt 
(vgl.  Fall  IV).  Eine  Enteritis  braucht  an  und  für  sich  ja  weder  zu 
Erbrechen  noch  zu  Diarrhöe  zu  führen,  eine  Colitis  hat  oft  Ver- 
stopfung zur  Folge.  Erst  wenn  diese  Krankheiten  eine  retroperitoneale 
Lymphangitis  hervorrufen,  geben  sie  nach  meiner  Meinung  zu  Schmerzen 
und  Empfindlichkeit  Veranlassung. 

Aber  die  Schmerzen  links  im  Bauche  können  noch  eine  andere 
gefährlichere  Ursache  haben.  Platzt  ein  ausgedehnter  Proc. 
vermiformis  oder  ein  periappendikulärer  Absceß,  so 
können  Infektionsstoffe  unmittelbar  die  linke  Seite  des 
Bauches  überschwemmen  und  sofort  zu  einer  fortschrei- 
tenden Peritonitis  der  linken  Bauchhälfte  führen. 

Ist  der  Infektionsstoff  nicht  besonders  virulent  und  kommt  keine 
neue  Zufuhr  von  Mikroben  hinzu,  so  kann  er  abgekapselt  werden.  Es 
entsteht  dann  im  schlimmsten  Falle  ein  sogenannter  intraperitonealer 
Absceß.  Ist  dieser  klein,  so  kann  der  Eiter  resorbiert  werden.  In  den 
meisten  Fällen  dürfte  er  den  Darm  perforieren,  sofern  nicht  der  Chirurg 
ihn  direkt  nach  außen  entleert.  In  manchen  Fällen  entsteht  kein  Absceß, 
sondern  nur  eine  serofibrinöse  Peritonitis  mit  wenig  vermehrter  Flüssig- 
keitsmenge an  der  infizierten  Stelle  und  einigen  florähnlichen  Belägen  an 
und  zwischen  den  infizierten  Därmen,  die  bald  resorbiert  werden,  wenn 
der  Fall  in  Heilung  ausgeht.  Eine  solche  serofibrinöse  Peritonitis  nennt 
man  vielfach  Peritonismus,  peritoneale  Reizung.  Sie  soll,  wie  wir 
bald  sehen  werden,  eine  Warnung  für  den  Arzt  sein. 

Die  tägliche  Erfahrung  zeigt,  daß  es  nicht  bloß  bei  ungewöhn- 
licher Lagerung  des  Darmes  (Coecum  und  Proc.  vermiformis  in 
der  linken  Bauchhälfte  oder  im  kleinen  Becken)  oder  bei  besonders 
schweren  Infektionen  mit  rascher  retro-  oder  intraperitonealer  Aus- 
breitung des  Prozesses  bis  vor  das  Rückgrat  oder  nach  links  von 
diesem  (s.  oben)  vorkommt,  daß  die  ersten  Schmerzen  bei  einem  Appen- 
dicitisanfall  „in  der  Mitte  des  Bauches^,  „im  ganzen  Bauche^,  in  „der 
Magengrube*",  nach  oben  „unter  die  Brust*^,  nach  links  vom  Nabel  ge- 
fühlt werden.  Das  kommt  auch  in  den  allerleichtesten  Fällen  von 
Appendicitis  vor.  Hierüber  wird  einiges  Licht  verbreitet  durch  Beob- 
achtungen bei  Operationen  wegen  Appendicitis  unter  lokaler  Anästhesie. 
Man  findet  dabei,  daß  auch  ein  geringes  Vorziehen  des  Proc.  vermi- 
formis, des  Mesenteriolum  oder  des  Coecum  mit  Dehnung  an  dem  hin- 
teren Peritoneum  parietale  Unbehagen  oder  Schmerz  „nach  oben  bis 
unter  die  Brust'',  im  „ganzen  Bauche",  in  der  „Magengrube",  „mitten 
im  Magen**  u.  s.  w.  hervorruft.    Gleichzeitig  haben  die  Patienten  oft 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  321 

Brechneigung,  oder  auch  Erbrechen  (reflektorisch).  Ist  der  Zug  an  der 
hinteren  Peritonealserosa  gering,  dann  kommt  es  vor,  daß  die  Patienten 
keine  lokale  Schmerzempfindung  rechts  im  Bauche  haben,  sondern  nur 
Unbehagen  oder  Schmerz  in  der  Mitte  des  Bauches  u.  s.  w. 

Bei  manchen  Patienten,  die  aus  anderen  Gründen  nicht  wegen 
Appendicitis  operiert  wurden,  hat  Berührung  mit  einem  Finger  oder 
Einführen  einer  Salzwasserkompresse  nach  der  Innenseite  des  yorderen 
Parietalperitoneum  ähnliche  Schmerzen  hervorgerufen,  wie  bei  einem 
beginnenden  Appendicitisanfall,  in  der  Mitte  des  Bauches  u.  s.  w.  Ein 
Patient  sagte  bei  Berührung  der  vorderen  Parietalserosa,  „es  tut  weh, 
wie  Blähungen  im  Darme*^.  Die  hier  erwähnten  Phänomene  beruhen 
natürlicherweise  auf  der  Verteilung  der  schmerzleitenden  Nerven. 

Operationen  wegen  Appendicitis  in  der  chirurgischen 
Klinik  in  Upsala  1888-1902. 
Im  Jahre   1893  faßte  ich  meine  Indikationen   für  die  Operation 
der  Appendicitis  folgendermaßen  zusammen. 

„Während  des  Anfalles  wird  unter  folgenden  Umständen  operiert: 

1)  Wenn  ein  Anfall  von  Appendicitis  so  heftig  begonnen  hat,  daß 
man  eine  drohende  oder  bereits  eingetretene  diiTuse  Peritonitis  zu  be- 
fürchten hat;  hier  soll  man  sofort  operieren,  es  mag  Nacht  oder  Tag 
sein,  sobald  die  äußeren  Verhältnisse  die  Ausführung  einer  möglicher- 
weise schweren  Laparotomie  gestatten.  Natürlich  entschließt  man  sich 
leichter  zur  Laparotomie,  wenn  man  vorher  einen  oder  mehrere  Anfälle 
gesehen  hat  und  deshalb  sicher  ist  in  Bezug  auf  die  Diagnose. 

2)  In  leichteren  Fällen  wird  operiert,  wenn  bei  einer  regelrecht 
durchgeführten  medizinischen  Behandlung  nicht  eine  solche  Besserung 
eintritt,  wie  wir  sie  als  typisch  bei  einer  gutartigen  Appendicitis  zu  be- 
trachten gewohnt  sind.  Von  den  einzelnen  Erankheitszeichen,  die  eine 
Operation  indizieren  können,  ist  Ileus  das  wichtigste. 

Bei  rezidivierender  Appendicitis  wird  unter  folgenden  Umständen 
operiert: 

1)  Wenn  die  Anfälle,  auch  wenn  sie  gutartig  sind,  sehr  oft  wieder- 
kommen. Nicht  selten  bedrohen  sie  dann  die  ökonomische  Existenz 
einer  Person  und  machen  sie  mehr  oder  weniger  zum  Invaliden. 

2)  Wenn  der  letzte  Anfall  oder  die  letzten  Anfälle  entschieden 
schwerer  waren  als  die  vorhergehenden. 

3)  Wenn  nach  einem  Anfalle  trotz  regelrechter  medizinischer  Be- 
handlung bei  längere  Zeit  hindurch  wiederholten  IJntersuchungen  eine 
Resistenz  beständig  zurückbleibt.  Die  Indikation  wird  noch  dringender, 
wenn  die  Resistenz  druckempfindlich  ist  und  wenn  man  Verwachsungen 
vermutet,  z.  B.  mit  Därmen  oder  den  Genitalien  ^).^ 


1)  Nord.  med.  ark.,  1893.  —  Deutsch:  Ueber  Appendicitis.    Wien  1895. 

21* 


322  K.  6.  Lennander, 

Appendicektomien  in  der  freien  Zwischenzeit  (ä  froid). 

In  Upsala  wurde  die  erste  Appendicektomie  während  der  freien 
Zwischenzeit  im  September  1891  ausgeführt.  Während  der  Jahre  1891 
— 1902  wurden  318  Patienten  operiert,  ohne  einen  einzigen  Todesfall. 
Bei  der  Aufstellung  meiner  Statistik  habe  ich  einen  Fall  (240  B,  1901) 
ausgeschlossen,  in  dem  ich  bei  einer  über  40  Jahre  alten,  sehr  korpu- 
lenten Frau  erst  einen  chronisch  erkrankten  Appendix  exstirpierte  und 
danach,  nachdem  ich  die  Bauchhöhle  geschlossen  hatte,  die  rechte  Niere 
spaltete,  die  einen  großen  Stein  enthielt.  Bei  der  bakteriologischen 
Untersuchung  vor  der  Operation  hatte  der  Harn  Staphylokokken  ent- 
halten. Der  Verlauf  war  zu  Anfang  sehr  günstig,  aber  nach  einigen 
Tagen  bekam  die  Kranke  gleichzeitig  mit  anderen  Patienten  in  den 
angrenzenden  Krankenzimmern  die  Influenza.  Sie  starb  am  20.  Tage 
nach  der  Operation  an  Peritonitis,  ausgegangen  von  zwei  Perforationen 
im  Colon  transversum  infolge  einer  diphtherischen  Influenzaenterocolitis. 
Im  Colon  fand  sich  so  gut  wie  keine  Schleimhaut  vor. 

Treves  hat  von  1887  an,  wo  er  vor  der  Royal  med.  and  Chirurg. 
Society  in  London  vorschlug,  daß  Fälle  von  rezidivierender  Appendicitis 
durch  Exstirpation  des  Proc.  vermiformis  während  der  freien  Zwischen- 
zeit behandelt  werden  sollten,  bis  zum  Juni  1902  mehr  als  1000  solche 
Operationen  ausgeführt  mit  2  Todesfällen^).  Roüx  teilte  auf  dem 
Chirurgenkongresse  in  Berlin  im  Frülgahr  1902  mit,  daß  er  670  solche 
Operationen  ausgeführt  habe  mit  2  Todesfällen,  1  durch  Ileus  und  1 
durch  Embolie. 

Auf  Grund  vermehrter  Erfahrung  habe  ich  die  Indikationen  für 
die  Operation  der  Appendiciten  während  der  freien  Zwischenzeit  all- 
mählich erweitert.  Ich  operiere  jetzt  jede  Person,  die  einen  sicher 
diagnostizierten  Anfall  gehabt  hat,  wenn  sie  die  Exstirpation  ihres 
Proc.  vermiformis  verlangt.  Ich  rate  zur  Operation  schon  nach  dem 
ersten  Anfall: 

1)  wenn  ich  eine  mehr  gefährliche  Lage  des  Proc.  vermiformis 
diagnostiziert  habe  (z.  B.  an  der  medialen  Seite  des  Coecum  zwischen 
den  Dünndärmen), 

2)  wenn  die  gewöhnliche  Beschäftigung  des  Patienten  eine  solche 
ist,  daß  er  z.  B.  unregelmäßige  Mahlzeiten,  starke  Temperaturwechsel 
oder  heftige  Körperanstrengungen  nicht  vermeiden  kann  und 

3)  wenn  ich  weiß,  daß  er  seine  Tätigkeit  in  einer  Gegend  ausübt 
oder  in  Zukunft  ausüben  wird,  wo  es  nicht  möglich  ist,  bei  einem 
neuen  Anfalle  sofort  chirurgische  Hilfe  zu  erlangen. 

In  den  übrigen  Fällen  rate  ich  nach  einem  ersten  Anfalle  zu  einer 
passenden   Lebensweise   mit  Bücksicht  auf  den  Magendarmkanal   und 

1)  Brit.  med.  Journ.,  1902,  June  28,  p.  1594. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  323 

zu  sofortiger  Operation  bei  dem  möglichen  Eintreten  eines  zweiten 
Anfalles,  d.  h.  Operation  innerhalb  6—12—24  Stunden,  je  nach  der 
Heftigkeit,  mit  der  der  Anfall  begonnen  hat.  Ich  pflege  nicht  operierten 
Appendicitispatienten  zu  raten,  sorgfältig  ihre  Nahrung  zu  kauen, 
die  auf  4,  am  liebsten  5  Mahlzeiten  im  Laufe  des  Tages  verteilt 
werden  muß.  Kalte  Getränke,  wie  Eiswasser,  Bier,  Milch,  müssen 
äußerst  langsam  genommen  werden.  Die  Patienten  müssen 
ihre  Darmtätigkeit  durch  die  Diät  regulieren  und  zusehen,  daß  sie 
jeden  Tag  zu  bestimmter  Zeit  Stuhlentleerung  haben. 
Sie  müssen  sich  in  Acht  nehmen  vor  Diarrhöen,  Drasticis  und  großen 
Klystieren.  Sie  dürfen  keine  Dinge  verzehren,  die  nicht  ganz  verdaut 
werden. 

Bei  einem  zweiten  oder  einem  späteren  Anfalle  ist  es  am  prak- 
tischsten, sofort  zu  operieren  —  die  Diagnose  ist  klar  —  der  Anfall 
wird  durch  die  Operation  auf  einmal  unterbrochen  —  die  Rekonvaleszenz- 
zeit ist  dieselbe  wie  bei  einer  Operation  in  der  freien  Zwischenzeit. 
Als  Beispiele  hierfür  führe  ich  die  Fälle  V  und  VI  an. 

Fall  V.  Student  der  Med.,  24  Jahre  alt,  No.  220A,  1902.  Appen- 
dicitis acuta  gangraenosa,  non  perforans,  cum  peritonitide 
fibrinosa  incipiente  et  hyperaemia  diffusa  peritonei. 
Nach  13  Stunden  Laparotomie  und  Exstirpation  des  Proc. 
vermiformis.     Heilung. 

Fat.  hat  nie  vorher  irgendwelche  ernstere  Störung  im  Digestionskanal 
erfahren.  Ende  Januar  1902  begann  er  unbestimmte  Empfindungen  von 
Unbehagen  im  Bauche  zu  fühlen  und  lokalisierte  sie  in  der  Magengrube. 
Dazwischen  hatte  er  außerdem  etwas  Empfindlichkeit  gegen  Druck  über 
der  rechten  Fossa  iliaca.  Dieser  Zustand  bestand  fort  bis  in  die  letzten  Tage 
des  Februars,  als  Fat.  sich  matt  und  unwohl  zu  fühlen  begann,  weshalb  er 
sich  zu  Bett  legte.  Bald  traten  Frost  und  Schmerz  im  ganzen  Bauche 
auf  und  ein  paarmal  Erbrechen.  Es  wurde  ein  Arzt  gerufen,  der  feucht- 
warme Umschläge  und  Tinct.  opii  verordnete,  wovon  Fat  5  Tropfen  Imal 
nahm.  Nach  dem  Auflegen  des  Umschlages  hörte  der  Schmerz  fast  voll- 
ständig auf  und  Fat.  schlief  die  ganze  Nacht  hindurch  ruhig.  Am  folgen- 
den Tage  befand  er  sich  gut,  war  aber  etwas  empfindlich  über  der  rechten 
Fossa  iliaca.  Er  lag  2  Tage  zu  Bett  In  der  folgenden  Zeit  war  die 
Stuhlentleerung  trag.  Am  3.  April  nahm  Fat  an  einer  gymnastischen 
Uebung  der  Studentenschaft  teil  und  strengte  sich  dabei  bedeutend  an. 
Am  4.  April  um  ^/2lO  Uhr  vormittags  begann  er  sich  etwas  unwohl  zu 
filhlen.  Dessenungeachtet  ging  er  aus  und  aß  Frühstück  in  einem  Cafö. 
Um  ^/,12  Uhr  nahm  das  Unwohlsein  zu;  dabei  fühlte  Fat  keine  eigent- 
lichen Schmerzen  auHer  einem  gelinden  „Stechen"  in  der  rechten  Seite. 
Wiederholt  Uebelkeit.  Fat.  legte  sich  zu  Bett  und  legte  feuchtwarme 
Umschläge  auf.  Nach  einiger  Zeit  begann  er  zu  frieren.  Ungefähr  ^,3  Uhr 
bekam  er  Schmerzen  im  ganzen  Bauche,  am  meisten  auf  der  rechten  Seite. 
Empfindlichkeit  der  ganzen  rechten  Fossa  iliaca.  Der  hinzugerufene  Arzt 
fand  7  Uhr  abends  den  Fat  mit  heftigen  spontanen  Schmerzen  über  dem 
ganzen  Bauche;  Temp.  36,8®,  Fuls  100.  Der  Leib  war  gegen  Druck  em- 
pfindlich fast  über  die  ganze  rechte  Seite,  sowie  auch  etwas  auf  der  an- 
deren Seite    an   der  Mittellinie.     Fat   spannte    den  Bauch   ziemlich   stark 


324  K.  G.  Lennander, 

bei  der  Untersuchung.     Er  schien  auch  etwas  empfindlich   bei  der  Unter- 
suchung vom  Rectum  aus. 

Fat.  kam  in  das  akademische  Krankenhaus  am  4.  April  ^/{lO  Uhr 
abends.  Der  Harn  enthielt  eine  minimale  Spur  von  EiweüJ  (Hellebs 
Probe).  Temp.  38,7  <>,  Puls  88.  Bauch  nicht  aufgetrieben.  Bei  der 
Untersuchung  spannte  Pat.  die  Bauchwand  ziemlich  stark;  aber  als  die 
Untersuchung  erneuert  wurde,  nachdem  eine  Eisblase  eine  Weile  auf 
den  Bauch  appliziert  worden  war,  trat  dieses  Symptom  bei  weitem 
nicht  mehr  so  deutlich  hervor.  Es  bestand  Empündlichkeit  über  dem  unteren 
Teile  des  Bauches,  aufwärts  bis  zu  einer  transversalen  Linie  4 — 5  cm 
oberhalb  des  Nabels.  Nach  rechts  reichte  die  Empfindlichkeit  bis  zu  einer 
sagittalen  Ebene  durch  die  Spina  ilei  anter.  sup.,  nach  links  schloß  sie 
einige  Zentimeter  medial  von  der  entsprechenden  Ebene  ab.  Bei  Zählung 
der  Leukocyten  wurde  ihre  Zahl  (als  Mittel  aus  3  Zählungen)  auf  12000 
bestimmt.  Behandlung:  40  cg  Kampfer,  1  mg  Strychnin,  1  cg  Morphium 
subkutan. 

Operation  sofort.  Pat.  hatte  keinen  wirklichen  Perforationsschmerz 
gehabt,  schien  aber  doch  recht  ernstlich  erkrankt.  Die  Diagnose  „akute 
Appendicitis^*  war  sicher,  dagegen  war  es  ungewiß,  wie  weit  sich  die  nicht 
begrenzte  Peritonitis  ausgebreitet  hatte.  Auf  alle  Fälle  mußte  man  an- 
nehmen, daß  sie  sich  über  einen  größeren  Teil  der  vorderen  Bauchwand 
und  zwischen  die  Ddnndärme  erstreckte.  Man  beschloß  deshalb,  den 
Appendix  sofort  zu  exstirpieren,  und  hoffte,  den  Bauch  ohne  oder  mit  ge- 
ringer Drainage  zunähen  zu  können.  Bauchschnitt  über  der  rechten 
Lumbaigegend  und  über  der  rechten  Fossa  iliaca  zwischen  dem  12.  Inter- 
kostal- und  1.  Lumbalnerven.  Der  Musculus  obl.  ext  und  transversus 
wurden  in  ihrer  Faserrichtung  geteilt.  Der  Appendix  war  nahe  am  Coecum 
im  Winkel  abgebogen;  er  erstreckte  sich  an  der  Linea  terminalis  vorbei 
bis  gegen  die  Mittellinie  und  war  durch  frische  Fibrinbeläge  mit  dem 
untersten  Teile  des  Ileum  und  dem  Omentum  verlötet.  Er  wurde  exstirpiert 
mit  dem  zunächst  liegenden  Teile  des  Omentum  in  der  Ausdehnung  einer 
flachen  Hand.  Der  Appendix  und  das  kranke  Omentum  hatten  zum  Teil 
an  der  vorderen  Bauchwand  gelegen.  Das  Coecum  und  alle  sichtbaren 
Därme  waren  mehr  als  gewöhnlich  injiziert  und  etwas  ausgedehnt,  aber 
ihre  Wandungen  waren  nicht  verdickt,  mit  Ausnahme  der  untersten  Ileum- 
schlinge.  Im  Bauche  fand  sich  kein  flüssiges  Exsudat.  Die  Bauchwunde 
wurde  mit  3  Reihen  versenkter  Catgutnähte  zusammengenäht.  Keine 
Drainage.     Die  Haut  sollte  sekundär  genäht  werden. 

Beschreibung  des  Appendix.  Der  exstirpierte  Appendix  war 
6 — 7  cm  lang.  Die  Wand  fühlte  sich  sehr  fest  an,  war  stark  injiziert 
und  mit  Fibrin  belegt.  Der  Inhalt  des  Appendix  bestand  aus  einer  blutigen, 
trüben  Flüssigkeit,  die  unter  einem  recht  großen  Druck  stand.  Die  Schleim- 
haut erschien  überall  gangränös  oder  bereits  abgelöst.  An  einzelnen 
Stellen  schienen  die  Substanzverluste  bis  zur  Serosa  zu  reichen.  In  der 
ganzen  Ausdehnung  des  Appendix,  soweit  die  Schleimhaut  gangränös 
schien,  war  es  unmöglich,  in  Schabpräparaten  mikroskopisch  Epithel  nach- 
zuweisen. 

Nach  der  Operation  bekam  der  Pat.  Kochsalzlösung  subkutan.  6.  April. 
Mit  Hellers  Probe  heute  schwacher  Eiweißring.  Temp.  resp.  37,2 — 38  ^, 
Puls  80 — 74.  Am  6.  April  gingen  spontan  Flatus  ab;  im  Harn  kein  Ei- 
weiß. 8.  April.  Pat.  ist  afebril  und  befindet  sich  wohl ;  7700  Leukocyten ; 
die  Hautwunde  wurde  genäht.  Am  25.  April  wurde  Pat  geheilt  und  ge- 
sund entlassen.     2.  Nov.  fortdauernd  gesund. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  325 

Eall  VL  Hauefrau,  57  Jahre  alt,  aus  Basbo,  No.  80 B,  1902. 
Appendioitis  acuta  cum  gangraena  membranae  mucosae 
totius  et  cum  periappendicitide  fibrino-purulenta  inci- 
piente.  Nach  55  —  60  Stunden  Laparotomie  und  Exstir- 
pation  des  Froc.  vermiformis;  Heilung. 

Fat.  war  in  der  Nacht  zwischen  dem  15.  und  16.  März  erkrankt 
ohne  bekannte  Veranlassung.  Sie  hatte  einen  ähnlichen  Anfall  2  Jahre 
früher  gehabt,  der  damals  3  Wochen  gedauert  hatte.  Die  Schmerzen  be- 
gannen im  Epigastrium  oberhalb  des  Nabels.  Bisweilen  hatte  Fat.  Uebel- 
keit.  Am  Nachmittag  des  16.  März  bekam  sie  Erbrechen.  Die  Schmerzen 
nahmen  zu  und  verzogen  sich  nach  rechts  unterhalb  des  Nabels  bis  zur 
Fossa  iliaca  deztra.  Am  17.  März  war  der  Zustand  derselbe.  Am  Abend 
war  die  Temperatur  39,3^,  der  Puls  120  (Dr.  Zachribson).  Am  Morgen 
des  18.  März  fühlte  sich  Fat.  besser.  Sie  hatte  Abgang  von  Blähungen 
gehabt.     Am  18.  März  vormittags  kam  sie  in  das  Krankenhaus. 

Status  praesens  am  18.  März.  Herz  und  Lungen  boten  nichts 
Bemerkenswertes.  Temp.  37,8^,  Fuls  98.  Harn  etwas  trübe,  gelbbraun, 
sauer;  spez.  Gew.  1,020;  Hellers  Frobe:  scharfer  unterer  Eiweißring. 
Im  Sediment  rote  und  weiße  Blutkörperchen,  keine  Cylinder.  Leukocyten 
nach  3  Zählungen  in  2  Präparaten  11000.  Der  Bauch  war  unmittelbar 
unter  der  Nabellinie  etwas  aufgetrieben.  Ueber  der  Fossa  iliaca  dextra 
bestand  starker  Tympanismus.  Keine  Empfindlichkeit  in  der  Nähe  des 
Ligam.  Foupartü  und  an  der  Spina  ilei  ant.,  aber  in  einem,  dem  oberen 
medialen  Teile  der  Fossa  iliaca  entsprechenden  Bezirke  bestand  bedeutende 
Empfindlichkeit  Auch  von  der  Vagina  aus  zeigte  sich  bedeutende 
Empfindlichkeit,  sobald  man  den  Uterus  berflhrte  oder  wenn  man  nach 
rechts  und  oben  drückte,  in  der  Kichtung  nach  der  Linea  terminalis  hin. 
Man  glaubte,  daß  der  Appendix  medial  am  Goecum  liege,  und  beschloß 
deshalb,  sofort  die  Fat.  zu  operieren,  weil  man  annahm,  daß  das  Eiweiß  im 
Harne  auf  eine  infektiöse  oder  toxische  Nephritis  deute,  die  von  dem 
Appendix  ausging. 

Chloroform-Aethemarkose.  Schrägschnitt  über  der  vorderen  Lumbal- 
gegend  und  Fossa  iliaca  mitten  zwischen  11.  und  12.  Interkostalnerven 
nach  vom  bis  zum  Eectusrande.  Es  fand  sich  keine  Flüssigkeit  in  der 
Bauchhöhle  und  das  Coecum  hatte  ein  natürliches  Aussehen.  Als  dieser 
Darm  vorgezogen  wurde,  folgte  der  Froc.  vermiformis  mit,  der  gerade 
nach  innen  gerichtet  und  teilweise  von  Omentum  umgeben  war,  das  nach 
dem  Appendix  zu  eiterig-fibrinös  belegt  war.  Das  kranke  Omentum  wurde 
exstirpiert  und  sollte  bakteriologisch  untersucht  werden^).  Der  Free, 
vermiformis  war  fast  so  dick  wie  ein  Finger  und  war  ganz  steif.  Er 
wurde  dicht  am  Goecum  amputiert  Der  ganze  zunächst  liegende  Teil  des 
Goecum  u.  s.  w.  wurde  durch  Gatgutsuturen  eingestülpt.  Im  Mesenteriolum 
und  im  zunächst  liegenden  Teile  des  Mesocolon  fanden  sich  manche  mäßig 
geschwollene  Lymphdrüsen.  Die  vorderen  Zweidrittel  der  Bauchwunde 
wurden  mit  3  Reihen  versenkten,  starken  Gatgutsuturen  zusammengenäht. 
Am  weitesten  nach  hinten  in  der  Wunde  wurde  ein  Jodoformgazetampon 
in  die  Bauchhöhle  eingelegt  und  die  ganze  Hautwunde  offen  gelassen,  um 
sekundär  genäht  zu  werden.  Der  Appendix  war,  wie  gesagt,  sehr  ausge- 
dehnt und  geschwollen;  starke  Injektion  in  der  Serosa;  fibrinöse  Beläge, 
wo    das   Omentum   an   dem  Appendix    anlag.      Der  Inhalt    des  Appendix 


1)  Es  fand  sich  steril  in  aeroben  Kulturen. 


326  K  K.  Lennander, 

war  ein  eiteriger  Schleim.  Die  Schleimhaut  des  ganzen  Appendix  war 
gangränös.  Die  Supporation  in  der  Wandung  erstreckte  sich  an  der 
Spitze  bis  zur  Serosa. 

Die  Rekonvaleszenz  verlief  ungestört  Während  der  nächsten  3  Tage 
war  die  Zahl  der  Leukocyten  im  Blute  zwischen  8000  und  9000,  danach 
geringer.  Vom  29.  März  an  war  der  Harn  ganz  frei  von  EiweiB.  Die 
Hautwunde  wurde  am  26.  März  sekundär  genaht  Pat.  wurde  gesund  am 
17.  April  entlassen. 

Epikrise.  Die  Operation  wurde  sofort  ausgeftihrt,  weil  es  am 
sichersten  fOr  die  Pat.  erschien,  obgleich  sowohl  die  Temperatur  als  der 
Puls  am  3.  Tage  bedeutend  sanken.  Das  Eiweü^  und  die  roten  und  weißen 
Blutkörperchen  im  Harn,  sowie  die  diagnostizierte  Lage  des  Appendix 
medial  am  Coecum  machten  es  mir  zur  Pflicht,  den  Appendix  so  schnell 
als  möglich  zu  entfernen.  In  diesem  Falle  hatte  ein  25  km  weiter  Trans- 
port der  Pat.  im  Wagen  keinen  Schaden  gebracht 

Ich  operiere  sehr  gerne  chronische  Appendiciten ,  die  Ewald 
„Appendicitis  larvata^  genannt  hat,  nachdem  ich  sie  eine  längere 
Zeit  beobachtet  habe.  Das  Symptomenbild,  das  im  wesentlichen  durch 
Magensymptome,  Flatulenz  und  Verstopfung  charakterisiert  wird,  war 
manchen  Chirurgen  schon  lange  vor  Ewalds  Vortrag  bei  dem  Chirurgen- 
kongresse in  Berlin  1899  wohlbekannt.  Diese  Patienten  leiden  oft  an 
^Colica  mucosa^  oder  anderen  Formen  chronischer  Colitis.  Es  ist  des- 
halb nicht  genug  mit  der  Exstirpation  ihres  Appendix;  ihr  Dai-mkanal 
muß  oft  ein  Jahr  lang  oder  länger  behandelt  werden. 

Besonders  beim  Diagnostizieren  chronischer  Appendiciten  ist  man 
versucht,  allzuviel  Beachtung  der  Druckempfindlichkeit  über  Mag  Bur- 
nets Punkt  zu  schenken.  Treves  lieferte  neuerdings  einige  interes- 
sante Mitteilungen  darüber^).  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß  Leute 
mit  chronischer  Typhlitis  (Colitis,  Colica  mucosa)  auf  der  rechten  Seite 
des  Bauches  Empfindlichkeit  zu  zeigen  pflegen,  aber  eine  solche  Druck- 
empfindlichkeit findet  sich  nach  Treves  auch  bei  gesunden  Personen. 
Er  hat  deshalb  die  Beantwortung  der  Frage  angestrebt:  was  für  ein 
Gebilde  kann  es  sein,  idas  es  verursacht,  daß  manche  Personen,  die 
gegen  Druck  auf  der  linken  Seite  des  Bauches  nicht  empfindlich  sind, 
empfindlich  werden,  wenn  man  bei  ihnen  mit  einem  Finger  auf  Mao 
BuRNEYs  Punkt  (1^/, — 2  engl.  Zoll,  4 — 5  cm  von  der  Spina  ilei  ant 
sup.  dextra  auf  der  Linie,  die  den  erwähnten  Knochenpunkt  mit  dem 
Nabel  vereinigt)  oder  auf  Munros  Punkt  drückt?  Dieser  liegt  da, 
wo  der  äußere  Rectusrand  von  der  erwähnten  Linie  zwischen  der  Spina 
ilei  ant  sup.  dextra  und  dem  Nabel  gekreuzt  wird,  also  etwas  mehr 
medial  als  Mac  Burnets  Punkt  oder  ungefähr  2,6  Zoll  (6,6  cm)  von 
der  Spina  ilei  sup.  bei  erwachsenen  jungen  Männern.  Dr.  Addison 
und  Dr.  Arthur  Keith  am  London  Hospital  haben  50  Leichen  unter- 
sucht, die  in  Formalin  gehärtet  waren,  und  gefunden,  daß  die  Valvula 


1)  Brit.  med.  Journ.,  1902,  June  28. 


Meine  Erfahrungen  über  Apenpdicitis.  327 

Bauhini  in  22  Fällen  hinter  Munros  Punkt  lag,  aber  in  14  Fällen  nach 
oben  und  außen,  in  14  anderen  nach  unten  und  innen  von  diesem 
Punkt.  Keith  hat  27  gesunde  Studenten  der  Medizin  untersucht  und 
gefunden,  daß  keiner  von  ihnen  irgend  einen  druckempfindlichen  Punkt 
in  der  linken  Fossa  iliaca  hatte,  daß  aber  24  von  ihnen  einen  solchen 
in  der  rechten  hatten.  Er  lag  bei  11  hinter  Munros  Punkt,  bei  9 
nach  oben  und  außen,  bei  4  nach  unten  und  innen  von  diesem  Punkt 
Die  Valvula  Bauhini  ist  das  einzige  Gebilde,  das  in  der  rechten  Fossa 
iliaca  vorkommt  und  das  kein  entsprechendes  Seitenstück  in  der  linken 
hat.  Keith  und  Treves  meinen,  daß  diese  Klappe  den  empfindlichen 
Fleck  bildet,  der  nach  des  ersteren  Untersuchungen  bei  der  Mehrzahl 
der  gesunden  Personen  sich  in  ihrer  rechten  Fossa  iliaca  finden  soll. 
Sie  glauben  nämlich,  daß  die  Valvula  Bauhini  reichlich  innerviert  ist, 
da  sich  das  ^bei  den  meisten  Oeffnungen  im  Körper  so  verhält''.  Nach 
meiner  Auffassung  hat  die  Valvula  Bauhini  ebensowenig  wie  ein  anderer 
Teil  des  Magendarmkanals,  mit  Ausnahme  des  Anus,  Nerven  für  die 
Empfindung  von  Berührung,  Druck  oder  Schmerz.  Ich  habe  in  ein 
paar  Fällen  das  Coecum  und  die  Valvula  Bauhini  zwischen  den  Fingern 
zusammengedrückt,  ohne  daß  der  Patient  dabei  irgendwelchen  Schmerz 
empfand  0.  Ich  selbst  habe  Druckempfindlichkeit  über  Mag  Burneys 
oder  Munros  Punkt  bei  sicher  gesunden  Personen  nicht  beobachtet. 
Ich  habe  keine  besonderen  Untersuchungen  darüber  angestellt,  aber 
ich  habe  die  Gewohnheit,  die  rechte  Fossa  iliaca  bei  allen  Patienten 
zu  untersuchen,  bei  denen  ich  aus  irgend  einer  Veranlassung  den  Bauch 
palpiere. 

Ich  benutze  die  Gelegenheit,  ein  kleines  Mißverständnis  zu  berich- 
tigen, dessen  sich  Treves  mir  gegenüber  schuldig  gemacht  hat  Er 
sagt  bei  der  Frage  über  Appendicitisrezidive  ^) :  „While  I  cannot  agree 
with  Lennander  that  a  recurrence  is  to  be  anticipated,  at  some  period 
or  another,  in  the  historj  of  every  case.  I  think  that  there  is  no  doubt 
that  the  balance  of  probability  is  in  the  direction  of  a  second  attack.** 
Ich  hatte  gesagt '),  daß  ich  es  für  eine  Pflicht  halte,  jedem  Patienten 
zur  Operation  in  der  freien  Zwischenzeit  zu  raten,  bei  dem  ich  eine 
längere  Zeit  nach  einem  Anfalle  fortwährend  eine  zu- 
rückgebliebene Resistenz  fühlte  (s.  Indikation  3).  Alle  solche 
Patienten,  die  ich  bisher  beobachtet  habe,  haben  nämlich  früher 
oder  später  Rezidive  bekommen.  Mit  Resistenz  meinte  ich  natürlich 
nicht  „den  bleistiftdicken,  abgerundeten,  nach  unten  und  innen  ver- 
laufenden Strang  in  der  rechten  Fossa  iliaca^,  der  in  Krankengeschichten 


1 )  Fortsatta  studier  öfver  känseln  i  organ  och  väfnader  och  öfver  lokal 
anestesi.     Upsala  läkarefbren  ftrh.,  N.  F.  Bd.  9,  Fall  15a  u.  16b. 

2)  1.  c.  p.  1594. 

3)  Ueber  Appendicitis.    Wien  1896,  p.  42. 


328  K  G.  Lennander, 

ein  ^empfindlicher  Proc.  vermiformis*'  genannt  wird,  der  sich  aber  bei 
den  Operationen  oft  als  etwas  ganz  anderes  ausweist 

Während  der  Zeit  1  888  — 1902  wurden  von  mir  283Pa- 
tienten  während  des  akuten  Anfalles  bei  Appendicitis 
operiert;  von  diesen  starben  57,  was  eine  Sterblichkeit  von 
20  Proz.  ausmacht. 

Man  dürfte  diese  283  in  zwei  Gruppen  verteilen  können:  be- 
grenzte und  nicht  begrenzte  Peritonealinfektionen.  Ich  glaube 
indessen,  daß  es  praktischer  ist,  die  Prognose  als  Einteilungsgrund 
zu  nehmen. 

Die  schlimmste  Prognose  geben  rasch  fortschreitende  eiterige  oder 
putride  Peritonitiden,  die  einen  großen  oder  den  größten  Teil  der  Bauch- 
serosa ergriffen  haben.  Je  mehr  die  Peritonealinfektion  eine  zentrale 
Ausbreitung  hat,  d.  h.  je  mehr  die  Entzündung  die  Serosa  der  Dünn- 
därme und  deren  Mesenterium  ergriffen  hat,  desto  gefährlicher  ist  die 
Krankheit.  Eine  bessere  Prognose  geben  mehr  langsam  fortschrei- 
tende Peritonitiden,  bei  denen  die  Infektion  von  Anfang  an  in  2  oder 
mehreren  Herden  abgekapselt  ist.  Viel  besser  wird  die  Prognose,  wenn 
die  Herde  in  diesen  Fällen  in  der  Peripherie  des  Bauches  liegen,  so 
daß  sie  z.  B.  vom  Rectum,  von  der  Vagina,  von  der  Fossa  iliaca,  von 
den  Lendengegenden  aus  geöffnet  werden  können. 

Die  beste  Prognose  geben  die  sogenannten  intraperitonealen  Ab- 
ßcesse,  d.  h.  vollständig  abgekapselte  Peritonealinfektionen  mit  Eiter- 
bildung. In  verhältnismäßig  zeitig  operierten  Fällen  dürfte  man  in- 
dessen mitunter  eiterige  oder  putride  Flüssigkeit  in  der  Umgebung  des 
Proc.  vermiformis  finden,  mit  keiner  oder  unvollständiger  Abkapselung 
(s.  Fall  X,  XIII,  XIV).  Wird  in  diesen  Fällen  mit  der  richtigen  Technik 
operiert,  so  daß  man  es  umgeht,  die  Infektion  zu  verbreiten  und  den 
ganzen  infizierten  Bezirk  „extraperitoneal"  unter  Tamponade  legt,  so 
geben  sie  nach  meiner  Erfahrung  eine  ganz  ebenso  gute  Prognose  wie 
die  vollständig  abgekapselten  „Abscesse". 

Die  Operationsprognose  bei  Peritonitis  ist,  mit  anderen  Worten, 
schlecht  1)  wenn  viele  Toxine  und  Bakterien  bereits  in  das  Blut  über- 
gegangen sind  (Gefahr  der  Nephritis,  Sepsis),  2)  wenn  die  Darmwand 
(besonders  die  Dünndarmwand)  bereits  in  so  großer  Ausdehnung 
und  in  so  hohem  Grade  ergriffen  ist,  daß  dies  Darmparal)'se  mit  sich 
bringt,  und  3)  wenn  man  nicht  mehr  hoffen  kann,  die  Infektion  durch 
Drainage  und  Tampons  zu  begrenzen,  d.  h.  zugleich  die  fortgesetzte 
Ausbreitung  derselben  über  die  Serosa  und  die  fortgesetzte  Aufnahme 
von  Mikroben  und  Toxinen  in  das  Blut  zu  hindern.  Auf  Grund  des 
vorliegenden  Raisonnements  haben  wir  deshalb  die  Fälle  nach  der  Ope- 
rationsprognose in  2  Gruppen  A  und  B  eingeteilt.  In  Gruppe  A  haben 
wir  gerechnet:  1)  was  man  im  allgemeinen  „diffuse  eiterige  Peritonitis^ 


Meine  Erfahrnngen  über  Appendicitis.  329 

nennt,  2)  von  Mikulicz'  progrediente,  fibrino-purulente  Peritonitis,  Von 
dieser  letzteren  finden  sich  nicht  viele  Fülle. 

Für  die  Gruppe  A  ist  die  Prognose  dubia,  mala  und  oft  pessima« 
Für  die  Gruppe  B  ist  sie  in  den  meisten  Fällen  bona,  bei  genügend 
zeitiger  Operation  fast  ohne  Ausnahme  gut. 

Die  Gruppe  A  umfaßt  91  Fälle  mit  46  Todesfällen.  In  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  hat  man  gleich  2  oder  3  Bauchschnitte  gemacht;  in 
manchen  Fällen  ist  es  notwendig  gewesen,  später  noch  1  oder  2  Bauch- 
schnitte hinzuzufügen.  Die  Sektion  ist  in  fast  allen  Fällen  von  tödlichem 
Ausgange  gemacht  worden.  Die  Diagnose:  über  die  ganze  oder 
den  größten  Teil  der  Bauchserosa  fortschreitende 
eiterige  Peritonitis  kann  deshalb  in  diesen  91  Fällen  als 
sicher  angesehen  werden. 

Zur  Gruppe  B  haben  wir  gerechnet  1)  Fälle  von  akuter  Appendicitis, 
nur  mit  Hyperämie  in  der  Bauchserosa  oder  mit  seröser  oder  fibrinöser 
Peritonitis  (z.  B.  Fall  IX),  2)  Fälle  mit  beginnender  eiteriger  Peritonitis, 
die  zwar  frei  war,  d.  h.  nicht  abgekapselt,  aber  nicht  über  mehr  als  einen 
kleinen  Teil  der  Bauchserosa  ausgebreitet  (vgl.  Fall  XIII),  und  3)  alle 
einkämmerigen  intraperitonealen  Abscesse,  auch  wenn  sie  in  raschem 
Wachstum  standen  und  sehr  groß  waren,  z.  B.  sich  von  der  Fossa 
Douglasii  längs  des  rechten  Colon  aufwärts  bis  zum  Diaphragmagewölbe 
erstreckten,  oder  als  sogenannte  Bauchempyeme  den  ganzen  unteren 
Teil  des  Bauches  einnahmen,  sowie  alle  zwei-  oder  mefarräumigen  Abs- 
cesse, wenn  sie  durch  einen  Bauchschnitt  geöffnet  werden  konnten. 
Zur  Gruppe  B  gehören  192  Fälle  mit  11  Todesfällen.  In  der  Tabelle  I 
wird  über  die  Sektionsdiagnose  in  8  der  Todesfälle  berichtet^).  Man 
findet  dabei,  daß  No.  359  A  im  Jahre  1892  infolge  von  Dünndarm- 
volvulus  starb.  Das  ist  der  einzige  Fall  von  Darmverschlingung,  den 
ich  nach  Appendicitisoperationen  gesehen  habe.  Die  übrigen  Todesfälle 
können  mit  der  Operation  in  keinen  Zusammenhang  gebracht  werden. 
Mit  Ausnahme  von  No.  38  A,  Jahr  1896  (chronische  Nephritis,  Bronchi- 
ektasien,  Amyloid),  dürfte  in  allen  der  Tod  infolge  von  Appendicitis 
durch  eine  zeitiger  ausgeführte  Operation  haben  verhütet  werden  können. 

Der  Raum  gestattet  es  nicht,  über  die  Todesursachen  in  der 
Gruppe  A  Rechenschaft  zu  geben,  aber  es  muß  hervorgehoben  werden, 
daß  verschiedene  von  diesen  Patienten  an  Komplikationen  erst  nach 
Wochen  oder  Monaten  gestorben  sind,  nachdem  die  Peritonitis  voll- 
ständig ausgeheilt  war. 

Derjenige,  der  diesen  Aufsatz  liest,  kann  leicht  zu  der  Auffassung 
gelangen,   daß  wir  in  Upsala  oft  Gelegenheit  haben,  zeitig  bei  akuter 


1)  Ich  habe  versäumt,  die  Sektion  der  3  Patienten  zu  verzeichnen, 
die  1902  gestorben  sind.  £iner  von  ihnen  wurde  in  der  2.  Woche  operiert, 
2,  5  Wochen  nach  der  Erkrankung.     Assouan  1.  März  1904. 


330 


K.  G.  Lennander, 


Appendicitis  zu  operieren.  Daß  dies  nicht  der  Fall  war  in  den  Jahren  1888 
—1901,  geht  aus  Tabelle  I  hervor,  in  der  sich  die  Zeit  angegeben  findet, 
die  vom  Auftreten  der  ersten  Symptome  bis  zur  Operation  verflossen 
war.  Von  den  33,  die  während  der  beiden  ersten  Tage  operiert  wurden, 
gehören  nämlich  9  dem  Jahre  1902  an. 


Tabelle  I. 

Zeit  in  hal 

0-  V,  1- 

lVi-2 

2-3 

m  Tagen  z^wtsclieii  d^  Erkrankung  und 
3_4  4-55-66-7    7—13    14-2021-27 

der  Opamtioti 
28  u.    iinbe- 1      Summa 
mehr    kau  Dt  j 

Geuegen 

4 
0 

6 
1 

6 
2 

7 

24 

7-hlb) 

17 
4+1^) 

18 
5 

9 
3 

11 
4 

Ü7 
lO  +  H) 

27     , 
0 

10 
2  +  2«) 

IE 

4  +  2D 

7       22S=80% 
1         57=20% 

4 

7 

8 

14 

32 

22 

23 

12 

fl5 

1     78 

27 

14 

19 

S     '283 

Alle  FäUe,  die  nicht  bei  der  Aufnahme  in  agone  waren,  wurden  nach  den  früher 
besprochenen  Indikationen  operiert.  Alljährlich  konnten  wir  uns  in  einer  größeren 
oder  geringeren  Anzahl  von  Fällen  mit  einer  inneren  Bdiandlung  begnügen.  Im  Jahre 
1902  wurden  so  16  Patienten  medizinisch  behandelt,  von  diesen  wurden  11  symptom- 
frei entlassen.    Bei  5  wurde  der  Proc.  vermiformis  später  ä  froid  exstirpiert 

1)  Anmerkune.  Wo  die  Anzahl  der  Gestorbenen  in  einer  Zeitgruppe  durch 
2  Zahlen  ausgedrückt  ist,  weisen  die  der  zweiten  Zahl  beigefügten  Buchstaben  auf  die 
unten  stehenden  Angaben  über  die  Todesursache  in  diesen  Fäüen  hin. 

a)  1B92,  A  359.  Tod  5  Tage  nach  der  Operation.  Peritonitis,  beruhend  auf 
Volvulus  einor  Dünndarmschlinge.  Neue  Laparotomie  mit  Beposition  des  Dünndarms 
1  Tac  vor  dem  Tode. 

b)  1893,  A  330.  Tod  12  Tage  nach  der  Operation.  Akute  parenchymatöse  Ne- 
phritis (s.  FaU  XV). 

c)  1896,  A  38.  Tod  16  Taj^e  nach  der  Operation.  Diffuse  Am^loidentartung  in 
der  Milz.  Chronische  Bronchitis  mit  Bronchiektasien.  Akute  kapillare  Broncmtis, 
multiple  Bronchopneumonien.  Amyloidentartung  in  den  Därmen,  chronische 
parenchymatöse  Nephritis. 

d)  1^8,  B  456.  Tod  3  Tage  nach  der  Operation.  Sepsis,  ausgegangen  von  einer 
zum  größten  Teile  retroperitoneal  gel^enen  Absceßhöhle.  Pat.,  ein  34  Jahre  alter 
Manu,  hatte  den  Keuchhusten. 

e)  1897,  B  77.  Tod  6  Tage  nach  der  Operation.  Pneumonia  acuta  bilateralis. 
Die  Operationsdiagnose  war:  Appendicitis  acuta  c  periappendidtide  purulenta  permagna 
mit  Zerstörung  der  Fascia  iliaca  und  mit  Durchbruch  zum  Schenkel  unter  dem  Ligam. 
Poupartii.    Die  Eiterhöhle  reichte  aufwärts  bis  zur  Leber. 

1895,  A  72.  Tod  14  Tage  nach  der  Operation.  IVlephlebitis  mit  Thrombus  in 
der  Vena  portae,  multiple  Abscesse  in  der  Leber,  subphrenischer  Abscefi.  Es  wurde 
operiert  wegen  Pyosalmnx  ex  appendicitida 

f)  1893,  B  424.  Tod  78  tilge  nach  der  Operation.  Leberabscefi,  subphrenischw 
Absceu.  Perforation  des  Diaphragma,  rechtsseitiges  Empyem.  Wurde  wie  1895,  A  72 
wegen  Pyosalpinx  ex  appendicitide  operiert. 

1891,  A  110.  Pat.  war  während  der  Schwangerschaft  erkrankt  und  nach  der 
Entbindung  zuerst  in  der  medizinischen  Klinik  behandelt  worden.  Tod  24  Tage  nach 
der  Operation.  Leberabscesse,  multiple  Lun^enabscesse.  Pyämie,  ausge- 
gangen von  einem  Herd  um  einen  gangränösen  Appendix,  die  an  der  medialen  Seite  aes 
Coecum  lag  und  nicht  j^funden  wurde,  als  die  große  Eiterhöhle  hinter  diesem  Darm 
und  an  dessen  Außenseite  geöffnet  wurde. 

Was  die  Indikation  zur  Operation  während  des  Anfalles 
betrifft,  so  habe  ich  versucht,  anzuwenden,  was  ich  1891 — 1893  schrieb. 
Ich  bin  jedoch  den  konservativen  Strömungen  nicht  ganz  ablehnend  ge- 
blieben, die  sich  seitdem  geltend  machten,  namentlich  in  Deutschland.  Ich 
nehme  an,  daß  dieselben  ihre  Höhe  durch  die  Vorträge  von  Renvers  und 
Sonnenburg  und  durch  Rotters,  K(Jmmells  und  Körtes  Aeußerungen 


Meine  Erfahrangen  über  Appendicitis.  331 

in  der  Diskussion  beim  Kongreß  der  deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie 
in  Berlin  1899  erreicht  haben.  Damals  faßte  Sonnenburo^)  seinen 
Vortrag:  ^Indikationen  der  chirurgischen  Behandlung  der  Appendicitis^ 
in  folgende  These  zusammen:  ^£s  läßt  sich  nach  diesen  Erörterungen 
die  Regel  aufstellen,  daß,  wenn  sich  der  Anfall  nach  4—5  Tagen 
nicht  vollständig  ausgleicht,  es  Zeit  ist,  eine  Operation  in  Aussicht  zu 
nehmen.^  Meine  Erfahrung  ist  eine  andere:  sie  stimmt  am  besten  mit 
der  von  Riedel,  Rehn,  Rose  und  Sprengel  ^)  überein.  Nicht  wenige 
Appendicitiden  müssen  nach  meiner  Meinung  schon  am  1.  Tage  operiert 
werden,  noch  mehr  am  2.  Tage.  Wartet  man  5  Tage,  dann  haben  ver- 
schiedene bereits  zum  Tode  geführt. 

Da  die  Appendicitis  nach  meiner  Ansicht  im  engsten  ätiologischen 
Zusammenhange  mit  der  Enteritis  und  Colitis  steht,  so  spricht  alles 
dafür,  daß  die  Appendicitiden  an  verschiedenen  Orten  und  zu  verschie- 
denen Zeiten  eine  verschiedene  Malignität  besitzen.  Es  ist  deshalb 
natürlich,  daß  Chirurgen  mit  verschiedenen  Wirkungskreisen  verschie- 
dene Erfahrungen  machen.  Es  ist  im  allgemeinen  wenig  glücklich, 
wie  Sonnenburo  (1899)  bestimmte  Schemata  für  die  Behandlung  von 
Krankheiten  aufzustellen.  Die  Kunst,  kranke  Menschen  gut  zu 
behandeln,  gründet  sich  auf  die  Fähigkeit  des  Arztes,  eine  in  allen 
Einzelheiten  durchgeführte  Untersuchung  des  Kranken  zu  machen  und 
seine  Behandlung  gerade  nach  dem  Resultat,  das  die  Untersuchung  am 
Individuum  ergeben  hat,  einzurichten.  Mit  anderen  Worten :  Die  Haupt- 
kunst in  einer  guten  Therapie  besteht  darin,  zu  individualisieren 
oder  für  ein  gewisses  Individuum  in  einem  gewissen  Falle  die  rechte 
Behandlung  zu  finden.  Kaum  dürfte  die  Wichtigkeit  einer  genauen 
Untersuchung  und  einer  hierauf  gegründeten  individualisierenden  Be- 
handlung bei  irgend  einer  Krankheit  klarer  hervortreten,  als  bei  der 
Appendicitis. 

Hier  haben  wir  es  mit  verschiedenen  Mikroben  von  höchst  wech- 
selnder Virulenz  zu  tun.  Die  Krankheit  spielt  sich  ab  in  einem  rudi- 
mentären Organe,  das  bei  verschiedenen  Individuen  eine  sehr  ver- 
schiedene Größe,  Form  und  Blutgefäßverteilung  hat,  Verhältnisse,  die 
machen,  daß  eben  ein  vorher  gesunder  Proc.  vermiformis  bei  verschie- 
denen Individuen  eine  verschiedene  Widerstandskraft  gegen  die  Er- 
krankung hat. 

Gewisse,  zur  Erkrankung  disponierende  Eigentümlichkeiten  in  den 
anatomischen  Verhältnissen  des  Proc.  vermiformis  scheinen  vererbt  zu 
werden  und  erklären  eine  Familiendisposition,  die  unbestreitbar  ist.  Wir 
haben  ferner  zu  rechnen   mit  einer  vom  Individuum  erworbenen  Dis- 


1)  Verhandl.  d.  dtsch.  Gesellsch.  f.  Chir.,  II,  p.  473. 

2)  Ders.  Kongr.  1899.     8.   a.   Rehns   und   Spbenoels  Vorträge  beim 
dtsch.  Chir..Kongr.,  1901. 


332  K.  G.  Lennander, 

Position,  vornehmlich  Fäkalsteinen,  Narbenstrikturen,  scharfen  Knickun- 
gen, teilweise  Produkten  einer  vorhergegangenen  Krankheit  in  dem 
Appendix.  Die  Gegenwart  von  einem  oder  mehreren  Koprolithen  im 
Proc.  vermiformis  vermehrt  im  höchsten  Grade  die  Anlage  zu  einer 
schweren  Erkrankung,  kann  aber  als  solche  nicht  diagnostiziert  werden, 
weil  die  Formen  von  chronischer  katarrhalischer  Appendicitis,  bei  denen 
diese  Gebilde  sich  wahrscheinlich  aus  der  Sekretion  der  Schleimhaut 
absetzen,  im  allgemeinen  symptomlos  verlaufen. 

Ein  anderes  ffir  die  Prognose  äußerst  wichtiges  Moment  ist  die  Lage 
des  Proc.  vermiformis  in  der  Bauchhöhle.  Hier  finden  sich  die  mannigfach- 
sten Möglichkeiten  und  es  ist  fast  unmöglich,  sie  alle  aufzuzählen.  Manche 
sind  relativ  günstig,  so  vor  allem  die  Lage  an  der  hinteren  äußeren  Seite 
des  Coecums  und  tief  unten  in  der  Fossa  Douglasii.  An  beiden  Stellen 
wird  ein  infektiöser  Prozeß  leicht  abgekapselt.  Dagegen  ist  die  Lage 
des  Proc.  vermiformis  medial  am  Goecum  zwischen  den  Dünndärmen 
äußerst  gefährlich,  weil  die  Dünndarmperistaltik  so  leicht  die  Infektion 
ausbreitet  und  dadurch  zu  fortschreitender  (diffundierender)  Peritonitis 
führt.  Eine  Peritonitis  in  der  Mitte  des  Bauches,  ich  wiederhole  das 
nochmals,  ist  unvergleichlich  gefährlicher,  als  eine  Peritonitis  in  der 
Peripherie.  Hierzu  kommt  die  Gefahr  der  Thrombose  in  den  Venae 
mesentericae  mit  Leberabscessen  und  die  Gefahr  der  Thrombose  in  der 
Vena  iliaca  mit  Pyämie,  die  besonders  groß  ist  in  denjenigen  Fällen, 
wo  der  kranke  Proc.  vermiformis  vor  der  Vene  festgewachsen  ist 

Noch  ein  Umstand,  der  unser  Urteil  erschwert,  muß  hier  hervor- 
gehoben werden.  Das  ist  der,  daß  es  das  Aussehen  hat,  als  ob  das 
Peritoneum  bei  verschiedenen  Individuen  ein  verschiedenes  Vermögen 
besäße,  Adhärenzen  zu  bilden  und  somit  auch  infektiöse  Herde  abzu- 
kapseln. Es  ist  möglich,  daß  diese  Auffassung  unrichtig  ist;  sicher 
ist  es  aber,  daß  das  Peritoneum  ein  sehr  verschiedenes  Vermögen 
besitzt,  sich  durch  Abkapselung  gegen  verschiedene  Mikroben  oder  gegen 
verschiedene  Virulenzgrade  derselben  Mikroben  zu  schützen. 

Es  tut  mir  leid,  daß  ich  hier  mit  allen  diesen  Aufzählungen  ermüde. 
Ich  habe  das  getan,  um  zu  zeigen,  daß,  wenn  es  sich  um  Appendicitis 
handelt,  nichts  anderes  hilft,  als  den  Patienten  zu  untersuchen 
und  wieder  zu  untersuchen,  so  daß  man  zu  einer  Diagnose  ge- 
langt oder  zu  einer  bestimmten  Ueberzeugung  darüber,  ob  sofort  ope- 
riert werden  muß,  oder  ob  man  ihn  bis  auf  weiteres  medizinisch  be- 
handeln kann.  Das  heißt,  ihn  still  liegen,  hungern  und  dursten 
lassen  (wenn  es  nötig  ist,  Wasser  und  sonstige  Ernährung  subkutan) 
die  Schmerzen  mitOpium  oder  Morphium  stillen  und  ihn 
überwachen  und  dann  operieren  beim  ersten  Anzeichen  dafür,  daß  die 
Infektion  in  der  Bauchhöhle  progredient  (diffundierend)  wird,  oder  daß  sie 
zu  allgemeiner  Sepsis  (Eiweiß  im  Harn),  oder  zu  einer  begrenzten  Suppu- 
ration  im  Bauche  (Verhalten  der  Leukocyten  im  Blute  u.  s.  w.)  führt 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  333 

Derjenige,  der  keine  persönliche  Erfahrung  besitzt,  muß  gute 
Krankengeschichten  in  Massen  lesen,  und  sich  in  jede  von  ihnen  hinein- 
denken. In  dieser  meiner  Mitteilung  betrachte  ich  auch  die  Kranken- 
geschichten als  die  Hauptsache.  Sie  sind  Tatsachen,  an  die  man  sich 
halten  kann. 

Nach  der  bisher  gebräuchlichen  allgemeinen  Auffassung  ist  eine 
Operation  wegen  akuter  Appendicitis  notwendig,  wenn  die  klinischen 
Symptome  eine  fortschreitende  eiterige  Peritonitis  zeigen,  oder  eine 
größere  begrenzte  intra-  oder  extraperitoneale  Eiterbildung.  Bei  der 
Mehrzahl  der  Patienten,  die  in  die  Klinik  in  Upsala  gebracht  werden, 
ist  die  Diagnose  dieses  Zustandes  handgreiflich.  Sie  müssen  sofort 
operiert  werden.  In  Fällen,  die  zeitiger  unter  meine  Beobachtung 
kommen,  frage  ich  jetzt  nicht:  Ist  es  notwendig,  sofort  zu  operieren? 
sondern:  Ist  es  für  den  Patienten  das  Sicherste?  Gewinnt  er  seine 
Gesundheit  am  sichersten  wieder,  wenn  ich  warte,  oder  wenn  ich  sofort 
operiere? 

Die  Erfahrungen,  die  über  die  Behandlung  des  Peritoneum  bei  in- 
fektiösen Leiden  gemacht  worden  sind,  berechtigen  nicht  nur  zu  einer 
derartigen  Fragestellung,  sondern  sie  zwingen  dazu.  Wir  wissen  jetzt« 
daß  trotz  einzelner  glänzender  Erfolge  doch  die  Operation  bei  einer 
mehr  ausgebreiteten,  fortschreitenden  eiterigen  Peritonitis  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  resultatlos  ist.  Die  Therapie  muß  in  Bezug  auf  die 
Peritonitiden  wesentlich  präventiv  werden,  wie  ich  schon  früher  in  meinen 
Arbeiten  über  Peritonitis  scharf  hervorgehoben  habe.  Das  heißt,  wenn  es 
sich  um  akute  Fälle  handelt,  daß  wir  operieren  müssen,  wenn  noch  nur 
ein  kleiner  Bezirk  der  Bauchserosa  infiziert  ist,  und  vor  allem,  ehe  es 
zur  Darmparalyse  gekommen  ist.  Der  Grad  derselben  steht  nach 
meiner  Erfahrung  im  direkten  Verhältnisse  dazu,  ein  wie  großer  Teil 
des  Darmkanales  eine  geschwollene  Wand  hat  und  welchen  Grad  die 
Schwellung  erreicht  hat. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  gehe  ich  zu  einer  näheren 
Kritik  meiner  Indikationen  von  1893  Ober  'und  beginne  mit  Punkt  1. 
Was  ich  damals  ^diffuse  Peritonitis^  nannte,  entspricht  am  meisten 
dem,  was  ich  jetzt  „fortschreitende  eiterige  (serös  eiterige)  Peritonitis 
nenne.  Daß  ein  solcher  Zustand  dem  Chirurgen  das  Messer  in  die 
Hand  drücken  mus,  darüber  sind  heute,  wie  ich  schon  gesagt  habe, 
alle  einig.  Es  muß  operiert  werden,  sobald  man  die  Dia- 
gnose auf  eine  fortschreitende  eiterige  Peritonitis  ge- 
stellt hat.    Beispiele  bilden  die  Fälle  VII— IX. 

Fall  Vn.     Hausfrau,  29  J.  alt     Nr.  366  A  1901. 

Appendicitis  (Koprolith)  cum  perforatione  etcumperi- 
tonitide  sero-purulenta  progrediente  (im  ganzen  Bauche  ge- 
funden, mit  Ausnahme  des  linken  subphrenischen  Baumes,  der  bei  der 
Operation   nicht  untersucht  wurde).     Nach    11  — 12    Stunden   Lapa- 


334  K.  G.  Lennander, 

rotomie  mit  Exstirpation  des  Processus  vermiformis.  Hei- 
lung. 

Die  Pat.  ist  vorher  gesund  gewesen.  Sie  hat  den  Typhus  nicht  gehabt 
Im  allgemeinen  keine  Störungen  in  den  Verdauungsorganen.  Im  Verlaufe 
des  letzten  Jahres  soll  Pat.  indessen  nach  gewissen  Arten  von  schwer  ver- 
daulichen Speisen  ein  Gefühl  von  Schwere  und  Aufblähung  im  Bauche 
gehabt  haben.  Pat.  ist  verheiratet  seit  1898  und  hat  1899  ein  Kind  ge- 
boren (Zange).  —  Die  Menstruationen  sind  regelmäßig  gewesen,  nicht 
schmerzhaft.     Letzte  Menstruation  vom  16. — 20.  Okt  1901. 

In  der  Nacht  vom  19.  zum  20.  Mai  1901  erkrankte  Pat.  mit  Schmerzen 
in  der  linken  Seite  des  Bauches,  Erbrechen,  sowie  vermindertem  Abgang 
von  Blähungen.  Kein  Schmerz  nach  den  Beinen  zu,  auch  keine  Behinde- 
rung der  Harnentleerung.  Pat.  konnte  aufbleiben  bis  zum  Vormittag  des 
20.,  auch  etwas  zu  Mittag  essen,  was  jedoch  sofort  wieder  herausgebrochen 
wurde.  Die  Temperatur,  im  Rectum  gemessen,  war  am  Abend  afebriL 
Gegen  die  Nacht  hin  hörte  das  Erbrechen  auf.  Schlaf  nach  Morphium. 
Gegen  Morgen  am  21.  Mai  nahmen  die  Schmerzen  zu  und  verzogen  sich 
allmählich  nach  rechts  unten.  Am  Abend  des  21.  war  die  Tempe- 
ratur 39,7 ^  Kein  Abgang  von  Blähungen.  Ein  Arzt  konstatierte  Peri- 
tonitis, die  als  von  Appendicitis  ausgegangen  betrachtet  wurde;  doch 
war  die  rechte  Fossa  iUaca  ziemlich  frei  von  Empfindlichkeit.  22.  Mai. 
Pat  gab  Empfindlichkeit  an  unterhalb  des  Nabels,  über  dem  Eingang 
zum  kleinen  Becken,  sowie  über  dem  rechten  Ligam.  Poupartii.  Keine 
absolute  Dämpfung.  Von  der  Vagina  aus  keine  Empfindlichkeit  Keine 
Hervorbuchtung  der  Fomices.  In  der  Nacht  vom  22.  zum  23.  Mai  spontane 
Darmentleerung.  Am  13.  Juni  war  Pat  mehrere  Tage  fieberfrei  gewesen  und 
die  Empfindlichkeit  war  fast  verschwunden;  Temperatur  am  Abend  38,9^. 
Pat.  war  dann  bettlägerig  bis  zum  24.  Juni  und  hier  und  da  war  das  Fieber 
wiedergekehrt.  Die  Darmentleerung  war  die  ganze  Zeit  spontan,  gewöhnlich 
2mal  täglich,  um  ihren  Appendix  im  freien  Intervall  ezstirpieren  zu  lassen, 
reiste  Pat.  am  20.  Okt.  nach  Upsala  und  kam  am  21.  im  Krankenhause 
an.  Am  Tage  vorher  laxierte  Pat.  in  Rücksicht  auf  die  Operation;  sie 
nahm  1  Eßlöffel  Eizinusöl  und  hatte  5  dünne,  nicht  schmerzhafte  Ent- 
leerungen. Sie  fühlte  sich  ganz  munter,  hatte  keine  Empfindungen  von 
Seiten  des  Bauches,  ging  aus  in  die  Stadt  u.  s.  w.  Sie  aß  nichts  Unge- 
wöhnliches und  machte  keine  anstrengenden  Bewegungen. 

22.  Okt  Pat.  fühlt  sich  am  Vormittag  dauernd  wohl.  Bei  der 
Untersuchung  mittags  konnte  man  kein  einziges  krankhaftes 
Symptom  in  ihrem  Unterleibe  entdecken.  Sie  legte  sich  dann 
zu  Bett  Im  Laufe  des  Nachmittags  hatte  sie  hier  und  da  Kolikschmerzen, 
sie  achtete  aber  nicht  besonders  darauf,  weil  sie  oft  damit  beschwert  zu 
sein  pflegte.  Abendtemperatur  37,6®.  Um  9  Uhr  abends  bekam  Pat  ein 
kleines  Wasserkly stier,  das  ohne  größere  Wirkung  wieder  abging.  Um 
^2  10  Uhr  bekam  sie  einmaliges  Erbrechen.  Um  ^j^ll  Uhr  wurde  der 
Unterchirurg  gerufen.  Pat.  klagte  über  heftigen  Schmerz  im  Bauche.  Die 
Schmerzen  waren  über  den  ganzen  Bauch  ausgebreitet  ohne  bestimmte 
Lokalisation.  Sie  waren  aber  stärker  im  unteren  Teile.  Der  Bauch  war 
weich,  aber  nach  Angabe  der  Pat.  überall  empfindlich,  auch  für  geringen 
Druck.  Temp.  37,7®,  Puls  76.  Ordination:  ein  Opiumsuppositorium  von 
0,05  g  und  Eisblase  über  den  unteren  Teil  des  Bauches.  In  der  Nacht 
V2I2  war  die  Temperatur  37,6  ®,  der  Puls  80.  Pat.  war  etwas  benommen 
nach  dem  Opium.  Sie  fühlte  fortwährend  einen  wühlenden,  nicht  bestimmt 
lokalisierten   Schmerz   im   Bauche,    der    fortwährend   weich   war,    aber   in 


Meine  Erfahrangen  über  Appendicitis.  335 

derselben  Weise  empfindlich  wie  vorher.  Bei  diesen  Untersuchnngen  war 
auch  der  Bruder  der  Fat.  anwesend.  Er  ist  ein  Arzt  mit  großer  Erfahrung 
im  GFebiete  der  Bauchchirurgie.  Er  sah  indessen  keine  Oefahr,  sondern 
teilte  die  Auffassung  seiner  Schwester,  daß  es  sich  nur  um  einen  Schmerz- 
anfall derselben  Art  handelte,  wie  sie  ihn  schon  einige  Male  vorher  im  Laufe 
des  Sommers  und  Herbstes  gehabt  hatte  nach  den  schweren  Appendicitis- 
anfallen  im  Mai  und  Juni.  Morgens  V»^  ^^  ^^  ^^^  Temperatur  38,8**, 
der  Puls  112.  Fat  hatte  zeitweise  in  der  Nacht  geschlafen«  Sie  fühlte 
fortwährend  Schmerzen,  obwohl  geringer  als  vorher;  unbedeutende  An- 
wandlungen von  Uebelkeit.  Vormittags  8  Uhr  war  die  Temperatur  38,5  o, 
der  Fuls  108.  Bei  der  Untersuchung  (Lbnnandbr)  war  der  Bauch  jetzt 
unbedeutend,  wenn  überhaupt,  aufgetrieben.  Fat.  spannte  die  Muskulatur 
etwas  mehr  nach  rechts  als  nach  links  von  der  Mittellinie.  Sie  war  etwas 
empfindlich  überall  unterhalb  der  transversalen  Nabelebene,  doch  in  keiner 
der  beiden  Lumbaigegenden.  Die  Empfindlichkeit  war  vielleicht  am  größten 
an  der  der  rechten  Articulatio  sacro-iliaca  entsprechenden  Stelle  und  am 
medialen  Teile  der  rechten  Fossa  iliaca,  sowie  von  da  aus  aufwärts  nach 
dem  rechten  Thoraxrande.  Femer  bestand  Empfindlichkeit  im  rechten 
Fomiz  vaginae.  Lungen  und  Herz  boten  nichts  Bemerkenswertes.  Der 
Harn  war  frei  von  Eiweiß  und  reduzierender  Substanz. 

Vormittags  9  Uhr  Operation  (Chloroform-Aethemarkose).  Erst  wurde 
ein  Schrägschnitt  über  der  rechten  Lumbaigegend  und  Fossa  iliaca  ge- 
macht Der  Schnitt  erstreckte  sich  am  weitesten  hinten  bis  zum  Muse, 
erector  Spinae  und  nach  vom  längs  des  Rectusrandes  bis  fast  zum  Tuber- 
culum  pubis.  Die  Vasa  epigastrica  inferiora  wurden  doppelt  unterbunden. 
Das  Feritoneum  parietale  war  sehr  injiziert.  Das  Omentum,  das  ein  ziemlich 
natürliches  Aussehen  hatte,  lag  vor  den  Därmen  ausgebreitet.  Li  der 
Bauchhöhle  fand  sich  eine  trübe,  etwas  schmutzige  Flüssigkeit,  die  alle 
Organe  in  der  rechten  Bauchhälfte  umgab.  Die  Leber  war  nach  unten 
verschoben,  so  daß  der  untere  Band  nach  unten  bis  an  die  Linea  inter 
Spinae  ilei  ant.  super,  reichte,  oder  noch  etwas  darüber  hinaus.  Die  er- 
wähnte schmutzige  Flüssigkeit  fand  sich  auch  zwischen  Diaphragma  und 
Leber.  Sowohl  das  Coecum  als  das  Heum  in  der  Nähe  der  Valvula 
Bauhini  waren  vor  der  Art.  sacro-iliaca  dextra  festgewachsen.  Ebenso 
verhielt  es  sich  mit  dem  Froc.  vermiformis,  den  zu  erkennen  dadurch 
gelang,  daß  man  einen  kleinen  Fäkalstein  aus  einem  Loche  nahe  an  der 
Basis  hervorkommen  sah.  Nach  vieler  Mühe  gelang  es,  den  Proc.  vermi- 
formis zu  exstirpieren  und  dessen  Basis  mit  verhältnismäßig  unversehrter 
Serosa  aus  der  Umgebung  zu  überkleiden.  Der  Uterus  war  mit  seiner 
hinteren  Seite  an  das  Rectum  festgewachsen,  so  daß  die  Fossa  Douglasii 
zum  gi*ößten  Teile  obliteriert  war.  Man  konnte  deshalb  nicht  durch  die 
Vagina  drainieren.  Danach  wurde  ein  Schrägschnitt  über  der  linken 
Lumbaigegend  gemacht  Hier  fand  sich  ebenfalls  Flüssigkeit  von  der 
vorher  erwähnten  Beschaffenheit  in  der  Bauchhöhle.  Alle  Därme,  die  man 
sah,  zeigten  vermehrte  GFeiUßinjektion,  am  meisten  aber  in  der  Nähe  des 
Appendix.  Einer  oder  der  andere  Darm  hatte  einen  geringeren,  gelblich- 
weißen Fibrinbelag.  Die  Mehrzahl  derselben  waren  etwas  matt  von  Exsudat. 
Ebenso  verhielt  es  sich  auch  mit  der  Leberserosa.  Beide  Bauchwunden 
wurden  offen  gelassen.  Das  kleine  Becken  wurde  von  den  Seiten  her  mit 
Gazetampons  angefüllt,  ebenso  der  rechte  subphrenische  Baum,  wo  außer- 
dem 2  Drainrohre  eingelegt  wurden. 

Die  Nachbehandlung  wurde  in  gewöhnlicher  Weise  ausgeftlhrt,  mit 
Kochsalzlösung  intravenös  und  subkutan,  Darmausspülungen  ungefähr  alle 

Ifittdl.  K  d.  OraaifebleteB  d.  UedislB  o.  Chlraifle.   XIQ.  Bd.  22 


336  K.  O.  Lennander, 

4  Stunden  und  ernährenden  EUystieren.  Es  entstand  eine  ganz  reichliche 
seröse  Sekretion  durch  die  Sauchwunde,  3  Tage  nach  der  Operation  fand 
man  Eiweiß  im  Harn,  sowohl  oberen  wie  unteren  Bing  bei  Hbllbrs  Probe. 
Die  Albuminarie  dauerte  10  Tage  lang.  Die  Herztätigkeit  der  Fat  war 
lange  schwach  und  die  Pulsfrequenz  hoch.  Die  Bauchwunden  waren  nach 
ungefähr  2  Monaten  geheilt  Pat.  konnte  dann  nach  Hause  reisen,  brachte 
aber  mehrere  Wochen  lang  den  größten  Teil  des  Tages  im  Sette  zu,  um 
ihrem  Herzen  die  nötige  Ruhe  zu  gönnen.  Im  Sommer  1902  fühlte  sie 
sich  vollständig  gesund,  machte  Bergwanderungen,  vertrug  alle  Arten 
Nahrung  und  hatte  regelmäüige  Stuhlentleerung.  Im  September  1902 
schreibt  sie,  daß  sie  eben  so  stark  ist,  wie  vorher. 

Epikrise.  Diese  Krankengeschichte  zeigt,  wie  schwer  es  ist,  eine 
fortschreitende  serös-eiterige  Peritonitis  in  den  ersten  Stunden  nach  einer 
Perforation  zu  erkennen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  es,  die  Veränderungen  in  der  Peri- 
tonealhöhle im  Falle  VII A  zu  studieren:  Berstung  eines  periappendiku- 
laren  Abscesses  frei  in  die  Bauchhöhle  hinein  und  Laparotomie  nach 
2V2  Stunden,  sowie  diese  mit  den  klinischen  Symptomen  zu  vergleichen. 

Fall  VnA.  No.  164  A,  1903.  Frau  E.  A.,  32  J.  alt,  wurde  am 
11.  April  1903  aufgenonunen.  Chronische  Obstipation.  Am  4.  April 
1903  Gastroenteritis  acuta.  6.  April  Appendicites  acuta 
mit  eiteriger  Beckenperitonitis.  11.  April  Entleerung  von 
Eiter  durchSchnitt  durch  dieVagina.  Am  26.  April  berstet 
frei  in  die  Bauchhöhle  ein  periappendikulärer  Eiterherd, 
der  an  der  Harnblase  lag.  Binnen  2Ys  Stunden  danach  La- 
parotomie mit  2  Bauchschnitten.  Freie  serös-eiterige  Peri- 
tonitis. 

Pat  hatte  ihre  erste  Menstruation  im  Alter  von  17  Jahren  gehabt. 
Die  Blutungen  waren  reichlich,  boten  aber  im  übrigen  nichts  Bemerkens- 
wertes. Abortus  hat  sie  nie  gehabt;  eine  Oeburt  vor  4  Jahren  verlief 
in  jeder  Beziehung  normal ;  das  Kind  ist  immer  gesund  und  stark  ge- 
wesen. Seit  der  Entbindung  hat  die  Pat  einen  geringen  schleimigen 
Ausfluß  gehabt.  Letzte  Menstruation  vor  3  Wochen.  Sie  ist  stets  ge- 
sund gewesen,  hat  aber  träge  Darmentleerungen  gehabt,  so  lange  sie 
sich  erinnern  kann,  und  in  den  letzten  3  Monaten  auch  hin  und  wieder 
Erbrechen,  das  plötzlich  und  ohne  bekannte  Veranlassung,  am  häufigsten 
in  der  Nacht,  kam  und  nach  1 — 3  Stunden  vorüberging.  Am  Sonntag 
Abend  (Nacht  zum  Montag  den  6.  April)  wurde  Pat  ganz  plötzlich  un- 
wohl, mit  heftigem  Erbrechen  und  Diarrhöe;  die  Darmentleerungen  waren 
von  gewöhnlicher  diarrhoischer  Beschaffenheit  Erbrechen  und  Diarrhöe 
dauerten  die  ganze  Nacht  fort  bis  zum  Montag  morgens,  wo  die  Diarrhöe 
aufhörte,  während  das  Erbrechen  noch  den  Montag  und  Dienstag  (6.)  bis 
gegen  4  Uhr  nachmittags  fortdauerte  und  Pat  Schmerz  im  Bauche  auf  der 
rechten  Seite  nach  unten  zu  bekam.  Gleichzeitig  stellte  sich  Frost  ein. 
Der  hinzugerufene  Arzt  stellte  die  Diagnose  auf  Appendicitis,  verordnete 
Eisblase,  Bettliegen  und  vollständiges  Fasten.  Am  Mittwoch  (7.)  hatte 
sich  der  Schmerz  auf  die  linke  Seite  des  Bauches  verzogen,  weshalb  auch 
die  Eisblase  dahin  gelegt  wurde.  Am  Donnerstag  (8.)  stellte  sich  die 
Menstruation,  zur  richtigen  Zeit,  ein  und  war  noch  am  11.  vorhanden. 

Status   praesens   am    11.  April.     Pat  erscheint  matt  und  blaß, 


Meiue  Erfahrungen  über  Appendicitis.  337 

Körperfülle  nnd  Muskulatur  reduziert.  Temperatur  38,5^  (in  der  Achsel- 
höhle 37,9%  Puls  104.  Leukooyten  16500.  Harn  sauer,  stark  getrübt, 
deutlicher  oberer  und  dickerer  unterer  Ring  bei  Hbllbrs  Probe  (bei 
doppelter  Verdünnung).  Der  Sauch  ist  nicht  aufgetrieben,  weich  anzu- 
fühlen und  nicht  empfindlich,  aufier  in  der  Gegend  oberhalb  der  Symphyse, 
wo  sich  sowohl  rechts  wie  links  von  der  Mittellinie  ein  Bezirk,  ungefllhr 
von  der  GröEe  einer  flachen  Hand,  findet,  in  dem  man  eine  recht  be- 
deutende, stark  empfindliche  Eesistenz  fühlt;  der  Perkussionsschall  ist  in 
diesem  Bezirke  gedämpft.  Dem  rechten  Musa  rectus  entsprechend,  erstreckt 
sich  dieser  Bezirk  fast  bis  hinauf  zur  transversalen  Nabelebene,  wo  er 
diffus  abschließt.  In  der  Gegend,  wo  sich  Mac  Burnbys  und  Monros 
Punkte  finden,  findet  sich  keine  Resistenz  oder  Druckempfindlichkeit  Auf 
der  linken  Seite  fühlt  man  eine  wenig  empfindliche  Resistenz  vom  Ligam. 
Poupartii  in  schräger  Richtung  nach  oben  außen ;  diese  wurde  als  die  mit 
Faeces  gefüllte  Flexura  sigmoidea  aufgefaßt.  Von  der  Vagina  aus  fühlt 
man  die  Fossa  Douglasii  ausgedehnt  durch  ein  Exsudat,  das  den  hinteren 
Fomiz  vorbuchtet:  Auf  der  linken  Seite  kann  man  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zwischen  die  Beckenwand  und  dieses  Exsudat  kommen,  auf  der 
rechten  Seite  geht  das  Exsudat  bis  zur  Beckenwand.  Vom  Rectum  aus 
fählt  man  einen  mehr  als  fingerdicken  Bezirk  von  Resistenz,  die  weicher 
als  die  übrigen  Partien  ist  Diagnose:  Es  wurde  für  wahr- 
scheinlich gehalten,  daß  eine  akute  Appendicitis  der  Aus- 
gangspunkt für  die  intraperitoneale  Eiterbildung  im 
kleinen  Beken  war. 

Operation  sofort  am  11.  April.  Unter  leichter  Aethernarkose 
wurde  zuerst  eine  Punktion  im  hinteren  Fomix  gemacht,  wobei  gelber, 
gashaltiger  Eiter  angetroffen  wurde.  Darauf  wurde  die  Höhle  durch  In- 
cision  von  der  Punktionsstelle  aus  entleert.  Die  Oeffnung  wurde  mit 
BiBGELOWS  Dilatator  erweitert.  In  die  Höhle  wurden  2  fingerdicke  Drain- 
rohre eingelegt,  wonach  die  Vagina  leicht  mit  Jodoformgaze  tamponiert 
wurde.  Nach  der  Operation  1000  com  Kochsalzlösung  subkutan.  Abend- 
temperatur in  der  Achselhöhle  37,20,  p^ig  93,  12.  April  hat  Pat  in 
der  Nacht  ganz  gut  geschlafen.  Der  Harn  wird  durch  Katheter  ent- 
leert, die  Menge  beträgt  525  com.  Temperatur  in  der  Achselhöhle 
37^0—37^40^  Puls  92—92.  Per  os  Milch  und  Vichywasser.  13.  April 
Temp.  37,0—  37,2  (Achselhöhle),  Puls  78—80.  Der  Harn  wurde  ab- 
gezapft, Menge  650  ccm,  bei  Hbllbbs  Probe  Spuren  von  Eiweiß. 
14.  April.  Der  Harn  muß  fortwährend  abgezapft  werden,  Menge 
750  ccm.  Kein  Eiweiß.  Flatus  sind  spontan  abgegangen.  Temp. 
(Achselhöhle)  36,7—36,9  %  Puls  78—80.  15.  April.  Allgemeinzustand  ganz 
gut.  Pat  fühlt  sich  wohl,  schläft  gut  und  klagt  über  Hunger.  Der  Harn 
wird  abgezapft,  700  ccm.  Temperatur  in  der  Achselhöhle  36,6—36,6®, 
Puls  60 — 66.  17.  April.  Darmentleerung  hat  heute  spontan  stattge- 
funden. Platus  sind  seit  dem  14.  jeden  Tag  abgegangen.  Pat.  kann  fort- 
während den  Harn  nicht  selbst  entleeren.  Hammenge  800  ccm;  kein 
Eiweiß.  Die  Pulsfrequenz,  die  gestern  auf  80  gestiegen  war,  ist  heute 
wieder  herabgegangen  auf  64  und  72.  Temp.  36,3 — 36,5  <^.  18.  April. 
Pat.  fühlt  starken  Hunger.  Etwas  Abfluß  von  Eiter  durch  das  Drainrohr 
im  kleinen  Becken  ist  fortwährend  vorhanden.  Temp.  36,4 — 36,7®,  Puls 
66 — 76.  21.  April.  Pat.  kann  den  Harn  selbst  entleeren,  wenn  sie  sich 
im  Bette  auf  die  Knie  erhebt  und  in  knieender  Stellung  ihre  Blase  ent- 
leert Temperatur  im  Rectum  36,3— 36,9 <>,  Puls  60  und  62.  Hammenge 
1100  ccm.     Der  Zustand  der  Pat.  ist  fortwährend   unverändert,   sie   fühlt 

22* 


338  E.  G.  Lennander, 

sich  selbst  besonders  wohl.  Die  Nahningszufiihr  ist  allmählich  vermehrt 
worden.  21. — 24.  April.  Temperatur  im  Rectum  zwischen  36,6  und  37,4®, 
Puls  zwischen  60  und  68.  24.  April.  Fat.  hat  seit  dem  19.  keine  Darm- 
entleerung gehabt,  sie  hat  in  den  3  letzten  Tagen  Eingießungen  in  das 
Rectum  von  je  100  g  Oel  bekommen,  ohne  Wirkung.  Der  Bauch  ist 
überall  weich  imd  nicht  empfindlich.  Der  Perkussionsschall  ist  überall 
tympanitisch.  26.  April.  Morgentemperatur  36,7®,  Puls  88.  Pat.  hat 
sich  in  der  Nacht  und  am  Vormittage  nicht  so  wohl  gefühlt  wie  vorher. 
Bei  der  Visite,  ungefäiir  3  ühr  nachmittags,  war  sie  etwas  empfindlich  im 
unteren  Teile  des  Bauches,  aber  sie  spannte  die  Bauchmuskeln  nicht  bei 
der  Palpation.  Die  Empfindlichkeit  war  möglicherweise  st&rker  in  der 
rechten  Fossa  iliaca,  als  an  den  anderen  Stellen.  In  der  linken  Fossa 
iliaca  fühlte  man  eine  Resistenz,  die  als  mit  Kot  geftlllter  Darm  aufgefaßt 
wurde.  Ordiniert  wurde  vorsichtige  Ausspülung  des  Rectum.  Ungefähr 
um  4  Uhr  wurde  diese  äußerst  vorsichtig  ausgeführt  und  nach  der  Aus- 
sage der  Wärterin  so,  daß  das  Spülwasser  bloß  in  das  Rectum  eindringen 
konnte.  Unmittelbar  darauf  2  große  Darmentleerungen  mit  vielen  Flatus, 
ohne  daß  Pat.  Schmerz  dabei  hatte.  Nach  einer  kurzen  Zeit  wieder  eine 
Darmentleerung,  bei  der  Pat.  plötzlich  Schmerz  im  ganzen  Bauche  bekam, 
jedoch  besonders  lokalisiert  in  der  Magengrube.  Der  unmittel- 
bar hinzugerufene  Arzt  fand  4  Uhr  30  Min.  nachmittags  die  Pat.  unruhig, 
sich  in  Schmerzen  windend,  blaß  und  mit  Atemnot  und  Nasenflügelat- 
mung. Während  der  Schmerzanfälle  liegt  Pat.  heftig  zitternd,  aber 
Frostanfälle  hatte  sie  nach  ihrer  Aussage  nicht.  Die  Schmerzen  zeigen 
keine  deutliche  Lokalisation  über  der  rechten  Fossa  iliaca.  Der  Bauch 
ist  in  seiner  Gesamtheit  nicht  aufgetrieben;  im  oberen  Teile  ist  er  weich 
und  unempfindlich,  über  beiden  Fossae  iliacae  aber  stark  gespannt,  be- 
sonders über  der  linken.  Er  ist  empfindlich  gegen  Druck  überall  unter- 
halb der  transversalen  Nabelebene,  in  bedeutenderem  Grade  jedoch  über 
der  rechten  Fossa  iliaca,  während  die  Empfindlichkeit  über  der  linken 
Fossa  iliaca  ganz  gering  ist.  Temperatur  4  Uhr  46  Min  nachmittags 
39,10,  Puig  72.     Leukocyten  24000—30000.     Im  Harn  kein  Eiweiß. 

Status  um  6  Uhr  nachm.  Die  Palpationsphänomene  haben  sich 
jetzt  etwas  verändert.  Die  Empfindlichkeit  ist  stark,  auch  bei  oberfläch- 
licher Berührung,  über  dem  Hypogastrium  zwischen  Nabel  und  Symphyse. 
Sie  ist  etwas  stärker  nach  links  als  nach  rechts  zu.  An  den  Seiten  wird 
dieser  Bezirk  begrenzt  von  einer  Linie,  die  den  Nabel  mit  dem  Mittel- 
punkte beider  Ligam.  Poupartii  vereinigt  Hier  ist  auch  Muskelspannung 
vorhanden.  Sobald  man  außerhalb  dieses  Bezirkes  kommt,  ist  die  Empfind- 
lichkeit nur  bei  tiefer  Palpation  vorhanden  und  der  Schmerz  wird  dabei 
in  das  Hypogastrium  verlegt  Eine  deutliche  Resistenz  kann  nicht  wahr- 
genommen werden.     Der  Perkussionsschall  ist  überall  tympanitisch. 

Operation  6  Uhr  46  Min.  nachm.  Man  nahm  an,  daß  ein  Absceß 
in  die  freie  Bauchhöhle  geborsten  sei,  und  operierte  deshalb  sobald  als 
möglich  d.  i.  2V2  Stunden  nach  dem  ersten  Auftreten  des  Schmerzanfalles. 
Man  hielt  es  für  wahrscheinlich,  daß  der  Absceß  nahe  an  der  Harnblase 
um  den  Proc.  vermiformis  herum  in  der  Nähe  der  Linea  terminalis  lag.  Es 
wurde  ein  Schrägschnitt  zwischen  dem  XTT.  Costal-  und  L  Lumbalnerven 
gemacht,  mit  Teilung  der  Rectusscheide  und  Unterbindung  der  Vasa  epi- 
gastr.  inferiora.  Es  fand  sich  kein  Oedem  in  der  Subserosa  und  keine 
vermehrte  Gefößinjektion  an  der  Außenseite  des  Peritoneum.  Li  der  Fossa 
iliaca  sah  man  das  Coecum,  das  blaß  war;  es  war  zum  großen  Teile  von 
blassem    Omentum    bedeckt;    man    sah    eine   freie   seröse   Flüssigkeit,    in 


Meine  Erfahrangen  über  Appendicitis.  339 

bedeutender  Menge  rechts  nach  oben  am  Winkel  des  Colon,  um  den 
rechten  Leberlappen.  Als  der  rechte  Teil  des  Omentum  beiseite  ge- 
schoben wurde,  fand  man,  daß  sich  das  Goecum  fast  bis  hinunter  an  des 
Ligam.  Poupartii  erstreckte  und  daß  der  Proc.  vermiformis  lang  war,  um- 
geben von  Omentum  und  wahrscheinlich  am  Os  pubis  festgewachsen. 
Zwischen  Omentum,  Harnblase  und  Dünndärmen  sah  man  in  der  Mittel- 
linie und  unten  im  kleinen  Becken  ein  sero-purulentes  Exsudat.  Dieses 
wurde  mit  Kochsalzkompressen  äußerst  sorgfllltig  ausgetupft.  Deutlich 
sah  man,  daß  ein  Absceß  zwischen  Omentum,  Harnblase,  Os  pubis  und 
Proc.  vermiformis  geborsten  war.  Als  das  Omentum  und  der  Proc.  vermi- 
formis abgelöst  und  in  die  Wunde  vorgezogen  wurden,  fand  sich  nämlich 
noch  ein  wenig  Eiter  um  den  Proc.  vermiformis  herum,  dessen  Serosa  an 
der  Spitze  granulierend  war,  aber  ohne  daß  man  eine  Perforation  an  ihr 
entdecken  konnte.  Alle  hier  sichtbaren  Därme  zeigten  Ge&ßinjektion,  je- 
doch in  sehr  verschiedenem  Grade.  Man  sah  keine  Fibrinbeläge,  aber 
wohlausgebildete  gefUßreiche  Bindegewebsstränge  und  Bänder.  Der  Proc. 
vermiformis  wurde  ezstirpiert  in  der  gewöhnlichen  Weise  wie  im  freien 
Intervall.  Der  unterste  Teil  der  Bauchwunde  wurde  in  der  Muskulatur 
mit  3  Reihen  versenkter  Catgutnähte  zusammengenäht;  der  Rest  der 
Wunde  wurde  offen  gelassen.  Die  ganze  Hautwunde  wurde  offen  ge- 
lassen. Man  drainierte  die  Bauchhöhle  mit  sterilen  Gazestreifen  längs 
beiden  Seiten  des  Colon  ascendens  und  des  Goecum,  sowie  um  die  Harn- 
blase herum.  Danach  wurde  ein  gleicher  Schnitt  auf  der  linken  Seite 
gemacht;  hier  war  die  Außenseite  des  Peritoneum  bedeutend  injiziert,  so 
verhielt  es  sich  auch  mit  allen  sichtbaren  Dünndärmen  und,  obwohl  in 
geringerem  Grade,  mit  der  Flexura  sigmoidea,  die  mit  festen  Scybalis  ge- 
fällt war.  Man  sah  eine  geringere  Menge  freier  seröser  Flüssigkeit  links 
in  der  Bauchhöhle,  als  man  rechts  gesehen  hatte.  Das  beruhte  möglicher- 
weise darauf,  daß  die  Flüssigkeit  vorher  während  der  Operation  in  das  kleine 
Becken  hinabgelaufen  und  dort  ausgetupft  worden  war.  Die  ganze  linke 
Bauohwunde  wurde  offen  gelassen  und  die  Bauchhöhle  mit  steriler  Gaze 
drainiert,  die  an  beiden  Seiten  am  linken  Golon  eingelegt  wurde  zwischen 
der  vorderen  Bauchwand  und  den  Dünndärmen,  sowie  im  kleinen  Becken 
zwischen  Beckenwand  und  Dünndärmen.  Der  Appendix  ist  lang;  ein 
Stück  Omentum  ist  an  ihm  festgewachsen;  an  Omentum  und  Appendix 
sieht  man  eiterige  Beläge;  eine  Perforation  konnte  nicht  entdeckt  werden. 
3  cm  vom  cökalen  Ende  ist  das  Lumen  obliteriert;  proximal  davon  ist 
die  Schleimhaut  geschwollen,  aber  blaß,  und  die  Wandung  in  ihrer  Gesamt- 
heit hat  ungefähr  normale  Beschaffenheit  und  Dicke.  Distal  davon  ist 
die  Schleimhaut  stark  injiziert,  zeigt  zahlreiche  Blutungen  und  ist  an 
gewissen  Stellen  ganz  verschwunden.  Die  Wandung  in  ihrer  Gesamt- 
heit ist  geschwollen,  besonders  betrifft  dies  die  Submucosa.  Dieser  distale 
Teil  des  Proc.  vermiformis  war  gefüllt  mit  einer  schmutzigen,  blutigen 
Flüssigkeit,  die  unter  einem  gewissen  Drucke  stand.  Am  Mesenteriolum 
fühlte  man  keine  geschwollenen  Lymphdrüsen. 

Bei  der  Operation  am  11.  April  war  ein  größerer  Absceß  zwischen 
den  Därmen  im  kleinen  Becken  entleert  worden  von  der  Vagina  aus. 
Zurückgeblieben  war  ein  kleineres,  begrenztes  eiteriges  Exsudat,  das  um 
den  Proc.  vermiformis  herum  an  der  Seite  der  Harnblase  lag.  Dieses  war 
wahrscheinlich  die  Ursache  davon  gewesen,  daß  die  Pat.  den  Harn  nicht 
selbst  lassen  konnte,  bevor  sie  sich  am  21.  April  im  Bette  auf  die  Kniee 
erhob  und  in  dieser  Stellung  ihre  Blase  entleerte.  Die  Darmperistaltik 
und  die  Kontraktionen  der  Bauchwand  im  Zusammenhange   mit   3  Darm- 


340  K.  G.  Lennander, 

entleerungen  waren  wahrscheinlich  das  Moment,  das  einen  Durchbruch  in 
die  freie  Bauchhöhle  hervorrief,  ungefähr  4  Uhr  25  Min.  nachuL  Das  Perito- 
neum reagierte  auf  die  Infektion  durch  rasche  Bildung  eines  seropurulenten 
Exsudats  im  Hypogastrium  (und  eines  serösen  Exsudats  in  der  übrigen 
Bauchhöhle)  1),  im  Verein  mit  einer  bedeutenden  Geftlßinjektion  im  Hypo- 
gastrium und  nach  links  zu  im  Bauche. 

Abend  und  Nacht  desselben  Tages.  Darmausspülung  alle 
4  Stunden.  Nach  jeder  Aussptüung  eine  Eingießung  von  200  g  einer 
Kochsalzlösung  in  das  Rectum,  15  g  Cognac  und  15  g  Traubenzucker. 
1500  g  Kochsalzlösung  subkutan  mit  5  Proz.  Traubenzucker  und  2  Proz. 
Spiritus  (aa  75  g  Traubenzucker  und  30  g  Spiritus).  Nach  Bedarf  wird 
den  Mastdarmeingießungen  eine  Infusion  von  0,15  g  Puly.  fol.  digitalis 
zugesetzt,  oft  zusammen  mit  15  Tropfen  Tinct.  strophanthi.  Pat.  genas 
allmählich  unter  fortgesetzter  gleicher  Nachbehandlung,  die  den  Zweck 
hatte,  1)  die  Darmperistaltik  sobald  als  möglich  in  Gang  zu  bringen, 
2)  die  Herztätigkeit  und  den  Allgemeinzustand  zu  heben  und  3)  dem 
Körper  eine  nach  dem  Funktions vermögen  des  Herzens  und  der  Nieren 
angepaßte,  möglichst  große  Flüssigkeitsmenge  zuzuführen,  zuerst  auf  intra- 
venösem, subkutanem  und  rektalem  Wege  und  dann  per  os,  um  dadurch 
eine  lebhafte  Flüssigkeitsabsonderung  von  den  drainierten  Teilen  der 
Peritonealhöhle  aus  hervorzurufen  und  dadurch  die  Mikroben  und  Toxine 
aus  der  Bauchhöhle  in  den  Verband  fortzuschaffen.  Die  Bauchwunde 
wurde  mit  Ausnahme  der  Haut  am  11.  Mai  genäht.  Die  Pat.  wurde  ge- 
sund entlassen  am  30.  Mai. 

Epikrise.  2  Tage  lang  (4. — 6.  April)  Symptome  einer  akuten  Gastro- 
enteritis, darauf  einer  akuten  Appendicitis  mit  intraperitonealer  Suppuration 
im  kleinen  Becken.  Nach  5  Tagen  (am  11.  April)  wird  eine  große  Menge 
Eiter  durch  die  Vagina  aus  dem  kleinen  Becken  entleert.  Danach  wird 
das  Allgemeinbefinden  gut,  die  Albuminurie  verschwindet,  die  Temperatur 
wird  normal  und  die  Pulsfrequenz  ist  einige  Tage  lang  niedrig,  60 — 64. 
Die  Pat.  ist  schmerzfrei  und  hat  keine  lokale  Empfindlichkeit.  Flatus 
gehen  spontan  ab.  Spontane  Darmentleerungen  stellen  sich  6  Tage  nach 
der  Operation  (11.  April)  ein,  aber  später  nicht  mehr.  Am  14.  Tage 
(23.  April)  hat  die  Pat.  ein  unbestimmtes  Uebelbefinden  und  der  Puls 
steigt  von  64  auf  88.  Man  nahm  an,  daß  diese  Veränderung  des  Allge- 
meinbefindens und  der  Pulsfrequenz  mit  einer  Resorption  von  den  mit 
Faeces  gefällten  Därmen  in  Zusammenhang  stehe.  Das  Rectum  wird 
entleert  durch  vorsichtige  Ausspülungen.  Im  Zusammenhang  mit  einer 
unmittelbar  danach  eintretenden  spontanen  Ausleerung  bekommt  die  Pat. 
einen  heftigen  Perforationsschmerz.  Die  Temperatur  steigt  bis  39,6® 
binnen  2  Stunden,  am  Morgen  hatte  sie  36,7  ®  betragen.  Die  Pulsfrequenz 
steigt  bis  100;  am  Morgen  war  sie  88  gewesen.  Lokal:  Druckempfind- 
lichkeit und  Muskelspannung.  Eine  Leukocytose  von  24000—30000  2  Stun- 
den nach  der  Perforation  bestärkt  uns  in  der  Auffassung,  daß  ein  intra- 
peritonealer Eiterherd  geborsten  ist.  Wir  betrachten  es  nämlich  als  sicher, 
daß  es  der  Eiter  von  diesem  bei  der  Operation  nachgewiesenen  zirkum- 
skripten Abscesse  ist,  der  die  Leukocytose  noch  vor  der  Perforation  hervor- 
gerufen hat.  Als  nächste  Folgen  der  Perforation  sehen  wir  eine  diffuse 
Hyperämie  und  im  Hypogastrium  ein  seropurulentes  freies  Exsudat  Wie- 
weit das  seröse  Exsudat,   das  sich  höher  oben  im  Bauche,   um   die  Leber 


1)  Siehe  die  Epikrise. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  341 

herum  u.  8.  w.,  vorfand,  nach  der  Perforation  des  periappendikulären  Abs- 
cesses  sich  gebildet  hatte  oder  schon  vorher  vorhanden  gewesen  war, 
darüber  wage  ich  eine  Ansicht  nicht  auszusprechen. 

Fall  VIII.  Mann,  26  Jahre  alt,  No.  42ÖA,  1899.  Appendicitis 
acuta  gangraenosa  non  perforans  cum  periappendicitide 
purulenta  putrida  circumscripta  et  peritonitide  sero-puru- 
lenta  progrediente.  Nach  47  Stunden  Laparotomie  mit 
Ezstirpation  des  Appendix.     Heilung. 

Fat.  hat  vorher  zu  3  verschiedenen  Malen  Anfalle  von  Schmerzen 
im  Bauche  gehabt  Diese  sind  indessen  ganz  gelinde  gewesen  und  bald 
vorübergegangen.  Ben  letzten  Anfall  hatte  Fat  vor  13  Monaten  gehabt. 
Er  wurde  damals  in  der  medizinischen  Abteilung  des  hiesigen  Kranken- 
hauses vom  3. — 6.  Oktober  1899  behandelt  unter  der  Diagnose  Gastro- 
enteritis acuta;  die  Behandlung  bestand  in  Anwendung  von  Eisblase 
und  Klystieren.  Die  Stnhlentleerung  des  Fat.  war  in  der  letzten  Zeit 
sehr  unregelmäßig  gewesen,  abwechselnd  war  Diarrhöe  oder  Verstopfung 
vorhanden  gewesen.  Freitag  den  8.  Dez.  2  Uhr  nachm.  begann  Fat. 
„Kneipen  im  Magen ^  zu  bekommen;  um  3  Uhr  afi  er  zu  Mittag  und  ver- 
zehrte dabei  unter  anderem  eine  große  Fortion  Weißkohl;  unmittelbar 
nach  der  Mittagsmahlzeit  nahm  das  Kneipen  zu  und  steigerte  sich  bald 
bis  zu  wirklichen  Schmerzen.  Vor  2  Uhr  nachm.  hatte  Fat.  2  große 
dünne  Ausleerungen  dicht  nacheinander  gehabt.  Zwischen  2  und  6  Uhr 
nachm.  2mal  Erbrechen.  Die  Schmerzen  dauerten  während  des  Nach- 
mittags und  der  Nacht  zum  Sonnabend,  9.  Dez.,  mit  wechselnder  Intensität 
fort,  bald  stärker,  bald  schwächer.  Sie  waren  lokalisiert  im  unteren  Teile 
des  Bauches,  etwas  stärker  auf  der  rechten  Seite.  Keine  Stuhlentleerung, 
kein  Abgang  von  Blähungen.  Sonnabend  den  9.  Dez.  war  der  Zustand 
ziemlich  unverändert,  die  Schmerzen  waren  aber  geringer.  Abends  10  Uhr 
wurde  die  Temperatur  gemessen,  sie  betrug  38,2  <';  die  Fulsfrequenz  war 
zu  derselben  Zeit  98;  Fat.  war  da  fast  frei  von  Schmerz. 

Bei  der  Falpation  des  Bauches  ^),  der  nicht  aufgetrieben  oder  gespannt 
erschien,  gab  Fat  ziemlich  starke  Empfindlichkeit  an  auf  der  rechten  Seite 
des  Bauches  auf  einem  kleinen  Bezirke  dicht  oberhalb  des  Ligam.  Fou- 
partii.  Diese  Empfindlichkeit  nahm  nach  allen  Richtungen  hin  rasch  ab. 
Deutliche  Empfindlichkeit  fand  sich  jedoch  in  der  Gegend  um  den  Nabel 
herum,  etwas  Empfindlichkeit  auch  über  der  linken  Fossa  iliaca,  doch  ver- 
legte Fat.  den  Schmerz  bei  der  Falpation  dieser  Stelle  auf  die  rechte 
Seite.  Bei  Falpation  vom  Rectum  aus  fand  sich  keine  Ausbuchtung  und 
keine  Empfindlichkeit.  Am  Abend  gingen  zu  wiederholten  Malen  Blähungen 
spontan  ab.  Um  2  Uhr  in  der  Nacht  auf  Sonntag  den  10.  Dez.  war  die 
Temperatur  38,4  <^.  Unmittelbar  nachdem  Fat  seine  Temperatur  selbst 
gemessen  hatte,  stand  er  auf,  um  Wasser  zu  lassen.  Eine  kurze  Zeit 
danach  bekam  er  intensive  Schmerzen  im  Bauche.  Diese  dauerten  von  da 
an  in  wechselnder  Intensität  fast  bis  gegen  9  Uhr  am  Sonntag  Vormittag. 
Die  Temperatur  war  in  der  Nacht  allmählich  gestiegen  und  betrug  am 
9  Uhr  vorm.  39,7®.  Im  Laufe  des  Freitags  und  des  Sonnabends  hatte 
Fat  zusammengenommen  8 — 9mal  Erbrechen  gehabt;  das  Erbrochene  war 


1)  Diese  Untersuchung  wurde  von  einem  Freunde  des  Fat.,  Amanuensis 
Cand.  med.  Edwin  Helling,  ausgeführt,  dem  ich  die  anamnestischen  Daten 
zu  danken  habe. 


342  K«  G.  Lennander, 

nicht  übelriechend.  Am  Sonntag  Morgen  nm  10  Uhr  hatte  Pat.  keine 
Schmerzen.  Mehrere  reichliche  Entleerungen  von  Blähungen  erfolgten 
spontan.  Um  11  Uhr  wurde  Fat.  in  das  akademische  Krankenhaus  ge- 
bracht. Bei  seiner  Ankunft  daselbst  war  er  schmerzfrei,  aber  kurze  Zeit 
danach  bekam  er  wieder  heftige  Schmerzen  im  Bauche. 

Aufzeichnung  bei  der  Ankunft  im  Krankenhause:  Der 
Bauch  ist  deutlich  aufgetrieben.  Bei  der  Palpation  des  Bauches  ist  Fat. 
überall  unterhalb  des  Nabels  empfindlich.  Am  stärksten  tritt  die  Empfind- 
lichkeit hervor  auf  einem  kleinen  Bezirke  auf  der  rechten  Seite  dicht 
oberhalb  des  Ligam.  Poupartii.  Bei  der  Palpation  vom  Bectum  aus  fühlt 
man  eine  gespannte  Ausbuchtung,  die  bis  etwas  nach  unten  vom  oberen 
Bande  der  Prostata  reicht,  Druck  darauf  erzeugt  große  Schmerzen. 
Ueber  Puls  und  Harn  findet  sich  keine  Aufzeichnung.  Eine  vollständige 
chemische  und  mikroskopische  Untersuchung  des  Harns  wurde  jedoch  am 
11.  und  13.  Dez.  ausgeführt  und  seitdem  mehrere  Male,  ohne  daß  irgend- 
welche pathologische  Bestandteile  angetroffen  wurden.  Es  ist  deshalb 
anzunehmen,  daß  der  Harn  vor  der  Operation  kein  Eiweiß  enthielt.  Die 
Operation  wurde  sofort  ausgef&hrt,  da  man  eine  akute  (wahrscheinlich 
gangränöse)  Appendicitis  und  eine  sich  ausbreitende  Peritonitis  dia- 
gnostizierte. 

Operation  am  10.  Dez.  1  Uhr  nachm.  Schnitt  längs  des  Ligam. 
Poupartii  und  der  Crista  ossis  ilei  dextri.  Im  subserösen  Bindegewebe 
Oedem.  Als  das  Peritoneum  durchschnitten  wurde,  kam  eine  seröse 
Flüssigkeit  hervor.  Man  sah  ein  injiziertes  Coecum,  ein  gerötetes  Omentum 
und  injizierte  Dünndärme.  Die  Därme  wurden  durch  Kochsalzkompressen 
geschützt.  Ungefähr  an  der  Linea  terminalis  fand  man  einen  gelben, 
dicken,  fibrinösen  Belag  und  hier  fühlte  man  im  kleinen  Becken  eine 
Besistenz  längs  des  mittelsten  Teiles  der  rechten  Beckenwand.  Ein 
roter  Appendix  mit  gelben  Brandflecken  fand  sich  in  der  Eiterhöhle,  mit 
der  Spitze  gerade  nach  vom  gerichtet.  Eine  Zange  wurde  über  dem 
Mesenteriolum  angesetzt,  eine  andere  über  der  Basis  des  Proc  vermiformis, 
der  weggeschnitten  wurde.  Im  kleinen  Becken  fand  sich  eine  große 
Menge  &^eier,  dünnflüssiger,  grauer  Flüssigkeit,  die  man  ausrinnen  zu  lassen 
versuchte  dadurch,  daß  man  den  Pat  auf  die  rechte  Seite  legte,  während 
die  Därme  zurückgehalten  wurden.  In  den  Boden  des  kleinen  Beckens 
wurden  2  Drainrohre  eingelegt ;  dabei  kam  ein  wenig  gelber  Eiter  hervor, 
der  deutlich  daher  rührte,  daß  das  Dicke  von  dem  Exsudat  sich  zu  Boden 
gesetzt  hatte.  Es  wurde  mit  Jodoformgaze  zwischen  den  beiden  Zangen 
am  Proc.  vermiformis  und  am  Mesenteriolum  tamponiert,  im  übrigen  mit 
steriler  Gaze.  Die  ganze  Bauchwunde  wurde  offen  gelassen.  3  ELaut- 
faltensuturen  von  Seide.  Der  exstirpierte  Appendix  enthielt  3  kleine 
Fäkalsteine.  Die  Schleimhaut  war  überall  gangränös  und  an  manchen 
Stellen  erstreckte  sich  der  Brand  nach  außen  bis  zur  Serosa.  Keine  Per- 
foration. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  sich  der  periappendikuläre 
Herd  am  8.  —  9.  Dez.  entwickelte  und  daß  dieser  in  das 
kleine  Becken  in  der  Nacht  vor  dem  10.  Dez.  barst  und  zu 
einer  fortschreitenden  eiterigen  Peritonitis  führte. 

Diagnose  bei  der  Operation:  Appendicitis  acuta  gangraenosa 
non  perforans  cum  periappendicitide  purulenta  circumscripta  et  peritonitide 
purulenta  libera  pelvis  minoris  et  peritonitide  serosa  libera  infraum- 
bilicalis. 

Fat.    wurde    gesund    und    am    23.    Jan.    1900    entlassen.     Unge&hr 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  343 

5  Monate  nach  der  Entlassung  hatte  Fat.  einen  kleinen,  obliquen,  rechts- 
seitigen, beweglichen  Leistenbruch.  Dieser  wuchs  und  konnte  mit  einem 
Bruchbande  nicht  zurückgehalten  werden.  Außerdem  fand  sich  eine 
schwache  Stelle  in  der  Narbe  an  der  Spina  ilei  ant.  snperior.  Es  ist 
wahrscheinlich,  daß  Fat.  den  Leistenbruch  deswegen  bekommen  hat,  weil  die 
Bauchwand  durch  die  Operation  geschw&cht  war.  Am  10.  Okt.  1901 
wurde  der  Bruch  operiert.  Aus  dem  Operationsberichte  ist  folgendes  an- 
zuführen. Schnitt  in  der  alten  Narbe.  Man  gelangte  frei  in  die  Bauch- 
höhle hinein.  Das  Omentum  war  mit  dem  Coecum  und  dem  nächsten 
Teile  der  vorderen  Bauohwand  oberhalb  des  Ligam.  Foupartii  verwachsen« 
Es  wurde  abgelöst  und  nach  oben  in  die  Bauchhöhle  verschoben.  Das  Coecum 
war  an  die  vordere  Bauch  wand  und  an  die  Eossa  iliaca  festgewachsen. 
Im  übrigen  fand  sich  keine  einzige  Adhärenz,  sondern  die 
Serosa  der  Dünndärme  und  der  Harnblase  hatte  ein  natür- 
liches Aussehen.  Die  Einmündungssteile  des  Ileum  in  das  Coecum 
sah  man,  aber  den  Augangspunkt  des  Appendix  konnte  man  nicht  finden. 
Heilung  per  primam  inten tionem.  Im  Sept.  1902  war  Fat  vollständig 
gesund. 

Zur  Diskussion  kommen  diejenigen  Fälle,  in  denen  man  Grund 
hat  anzunehmen,  daß  die  fortschreitende  Peritonitis  serös^  serofibrinös 
ist,  d.  h.  hierher  gehört  aller  der  Wirrwarr,  der  „Peritonismus",  „peri- 
toneale Reizung''  genannt  wird.  Ist  hier  die  „Reizung"  über  einen  be- 
deutenden Teil  des  Peritoneum  ausgebreitet,  sind  die  lokalen  Symptome 
in  der  Gegend  des  Proc.  vermiformis  stark  hervortretend,  ist  der 
Kräflezustand  des  Patienten  noch  gut,  so  operiere  ich  sofort,  in  der 
Hoffnung,  einen  vielleicht  noch  nicht  geborstenen  gangränösen  Proc« 
vermiformis  mit  einer  serösen  Peritonitis  in  der  Umgebung  zu  finden. 
Sollte  sich  bereits  eine  eiterige  Peritonitis  eingestellt  haben,  so  kann 
ich  teils  die  Infektionsquelle  selbst,  den  Proc.  vermiformis,  entfernen 
teils  die  umgebenden  Teüe  der  Serosa,  die  am  meisten  beschädigt  sind, 
drainieren  und  tamponieren  („extraperitoneal  legen").  Dadurch  wird 
die  weitere  Zufuhr  von  Toxinen  und  Mikroben  zu  dem  mehr  oder 
weniger  weit  ausgedehnten  Serosabezirk  abgeschnitten,  in  dem  „Peri- 
tonismus" besteht,  d.  h.  zu  den  Abschnitten  der  Bauchhöhle,  in  welchen 
man  bei  der  Operation  einfach  Hyperämie  findet  oder  Hyperämie  mit 
vermehrter  seröser  Flüssigkeit,  möglicherweise  auch  dünne  Fibrinab- 
lagerungen oder  vielleicht  nur  eine  Trübung  der  Serosa,  wo  aber  die 
Darmwand  noch  nicht  nachweisbar  verdickt  und  die 
Peristaltik  noch  kräftig  ist.  Beispiele  sind  die  Fälle  IX,  X,  XI 
und  XII.  Ich  führe  so  viele  Beispiele  auf,  weil  ich  diese  Frage  für 
äußerst  wichtig  halte. 

Fall  IX.  Mann,  38  Jahre  alt,  Brauereiarbeiter,  No.  460 B,  1895. 
Appendicitis  gangraenosa  non  perforans  cum  hyperaemia 
diffusa  peritonei.  Laparotomie  und  Exstirpation  desFroc. 
vermiformis  nach  ungefähr  22  Stunden. 

Fat.,  der  sehr  fett  und  cyanotisch  an  den  Wangen  ist,  hat  nach 
seiner   eigenen  Meinung   nie    an  Blinddarmentzündung   gelitten.     Im  Ver- 


344  K.  G.  Lennander, 

lauf  von  2  Jahren  hat  er  dmal  An&lle  eines  ünterleibsleidens  gehabt, 
das  vom  Arzt  als  auf  Darmocclusion  beruhend  betrachtet  nnd  demgemäß 
mit  wiederholten  Klystieren  und  Barmausspülungen  behandelt  wurden.  Der 
schwerste  dieser  Anfalle  dauerte  vom  Mittag  des  einen  Tages  an  bis  zum 
Abend  des  folgenden  Tages.  Außerdem  hatte  Pat.  im  April  1895  einen 
ganz  leichten  4.  Anfall.  Zwischen  den  Anfällen  hat  sich  Pat  wohl 
befunden  und  ist  nur  von  Magensäure  und  Aufstoßen  beschwert  gewesen. 
Sonntag  den  6.  Okt.  abends  begann  er  Leibschmerzen  zu  fühlen,  die  um 
10  ühr  bedeutend  zunahmen  nach  einem  geringen  Prost.  Gleichzeitig 
stellte  sich  Erbrechen  ein,  das  mit  wenig  Unterbrechung  fortdauert«  bis 
um  8  ühr  am  folgenden  Morgen  (7.  Okt.).  Um  11  Uhr  30  Min.  vorm. 
von  neuem  Erbrechen.  Das  Erbrochene  bestand  zum  größten  Teile  aus 
Schleim.  Danach  kein  Erbrechen,  auch  keine  spontanen  Schmerzen  im 
Bauche,  nur  ein  Gefühl  von  starker  Empfindlichkeit  unterhalb  des  Nabels. 
In  der  Nacht  zum  7.  Okt  waren  wiederholt  Wasserklystiere  gegeben 
worden,  teils  in  Seitenlage,  teils  in  Knie-Ellenbogenlage.  Auf  sie  folgte 
ein  ganz  unbedeutender  Abgang  von  Gasen  und  Paecos.  Die  größte 
Wassermenge,  die  auf  einmal  eingegossen  wurde,  betrug  etwa  bis  2,6  1. 
Um  Vs^  U^  ^^  ^^^  Nacht  wurden  2  cg  Morphium  subkutan  gegeben  mit 
nur  geringer  Linderung  der  Schmerzen,  die  in  „Kneipen  mitten  im  Magen ^ 
bestanden,  anfallsweise  heftig  waren,  mit  wenige  Minuten  langer  Er- 
leichterung. Bei  wiederholten  Untersuchungen  des  Bauches  konnte  keine 
Empfindlichkeit  in  der  Possa  ileocoecalis  nachgewiesen  werden,  wohl  aber 
dicht  unterhalb  des  Nabels  auf  einem  Umkreise  von  der  Größe  einer 
flachen  Hand.  Die  größte  Empfindlichkeit  bestand  nach  rechts  unterhalb 
des  Nabels,  wo  man  bei  tiefem  Druck  nach  dem  rechten  Bippenrand  zu 
eine  abgerundete  Resistenz  zu  fühlen  glaubte.  Ueber  demselben  Umkreis 
ganz  stark  gedämpfter  Perkussionsschall.  Während  der  ganzen  Zeit  kein 
spontaner  Abgang  von  Blähungen.  Temperatur  am  7.  Okt.  1  Uhr  30  Min. 
nachm.  37,9^  im  B.ectum,  37,4  <)  in  der  Achselhöhle.  Puls  während  der 
Nacht  vom  €.  zum  7.  Okt.  um  130 — 140  herum,  nicht  regelmäßig;  am 
Morgen  des  7.  Okt.  104,  am  Nachmittag  108 — 120.  Nach  der  Aufnahme 
im  Krankenhause  am  7.  Okt.  abends  ein  Klystier  von  3  1,  das  nach  einer 
Weile  entleert  werden  mußte,  ohne  daß  irgendwelche  Gase  dabei  ab- 
gingen. Der  Bauch  war  nicht  erwähnenswert  aufgetrieben.  Puls  120, 
Temp.  38,9  ö  im  Rectum. 

Operation  am  7.  Okt.  abends.  Chloroform- Aethernarkose.  Pat. 
vertrug  sowohl  Aether  als  Chloroform  sehr  schlecht,  so  daß  die  Narkose 
nicht  einmal  vollständig  war,  was  viele  Schwierigkeiten  mit  den  Därmen 
verursachte.  Laparotomie  durch  den  rechten  Muse,  rectus  abdom.  2  cm 
von  der  Mittellinie.  Zuerst  wurde  eine  herabhängende  Schlinge  vom 
Colon  transversum  angetroffen.  Sie  war  blaß  und  zusammengefallen;  an 
der  Spitze  dieser  Schlinge  war  das  Omentum  majus  zusammengebacken 
zu  einer  nahezu  mannsfaustgroßen  Masse.  Auch  nach  links  von  dieser 
Stelle  war  das  Netz  verändert.  So  fand  sich  hier  ein  großes  Loch  im 
Omentum,  das  rund  herum  um  dieses  Loch  bedeutend  verdickt  war.  Es 
wurde  von  seiner  Peripherie  an  bis  zu  dem  Loche  gespalten.  In  die 
Bauchwunde  drängten  sich  eine  Menge  Dünndarmschlingen  vor,  von  denen 
einige  blaß  und  zusammengefallen,  andere  etwas  mehr  rosafarbig  wie  ge- 
wöhnlich und  mäßig  ausgedehnt  waren.  Gerade  an  der  Stelle,  wo  Pat. 
empfindlich  gegen  Druck  war,  nach  unten  zu  und  rechts  vom  Nabel,  fUhlte 
man  ein  Gebilde,  das  am  meisten  an  die  Form  eines  Eisenhakens  erinnerte, 
dessen  gerader  Teil  gerade  nach  hinten  gerichtet,  während  der  abgerundete 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  345 

nach  vom  und  unten  gerichtet  war.  Nachdem  naheliegende  Darmschlingen 
mit  Hilfe  von  Kompressen  zur  Seite  gebracht  waren,  wurde  das  genannte 
Gebilde  als  Proc.  vermiformis  erkannt.  Er  war  wohl  zeigefingerdick  und 
das  Mesenteriolum  war  es,  das  durch  seinen  Zug  die  eigentümliche  Form 
und  Stellung  bewirkte.  Nach  Durchtrennung  des  Mesenteriolum  wurde  die 
Basis  des  Appendix  zwischen  2  Ellemmzangen  durchgebrannt,  von  denen 
die  eine  am  Stumpfe  gelassen  wurde.  Rund  um  die  Zange  herum  wurde 
mit  Jodoformgaze  tamponiert,  im  übrigen  wurde  die  Bauchhöhle  mit 
3  Reihen  Catgutsuturen  und  Silkwormgut  in  der  Haut  geschlossen.  Das 
Coecum  war  groß  und  beweglich  und  lag  weit  nach  der  Mittellinie  zu. 
Der  ganze  herausgenommene  Proc.  vermiformis  war  gangränös  und  von 
einer  stinkenden  schmierigen  Masse   erfüllt. 

Nach  der  Ankunft  im  Krankenhause  hatte  man  am  meisten  an  eine 
akute  Appendicitis  gedacht.  Hierfür  sprach  das  Einsetzen  der  Krankheit 
mit  einem  Froste,  das  heftige  Erbrechen  und  die  Schmerzen,  die  beide 
nach  Verlauf  von  mehr  als  einem  halben  Tage  aufhörten,  um  einer  ziem- 
lich begrenzten  Empfindlichkeit  Platz  zu  machen.  Ferner  die  Temperatur- 
steigerung am  Schlüsse  des  ersten  Tages  (37,7 — 38,9®),  sowie  die  relativ 
hohe  Pulsfrequenz  während  des  ganzen  Verlaufes.  Als  die-  Schmerzen 
nachgelassen  und  das  Erbrechen  aufgehört  hatten,  war  der  Puls  langsamer 
geworden,  aber  er  wurde  wieder  rascher,  als  die  Temperatur  stieg.  Die 
Rekonvaleszenz  wurde  durch  psychische  Unruhe  und  schwache,  rasche 
Herztätigkeit  gestört.  Pat.  wurde  am  1.  Sept.  1902  wieder  untersucht. 
Er  war  gesund,  was  den  Unterleib  betrifft,  aber  er  hat  seit  einigen  Jahren 
einen  mittelschweren  Diabetes  mellitus. 

Fall  X.  Mann,  21  Jahre  alt,  No.  122B,  1900.  Appendicitis 
acuta  catarrhalis  haemorrhagica  cum  peritonitide  puru- 
lenta  ineipiente.  Nach  ungefähr  27  Stunden  Laparotomie 
und  Exstirpation  des  Proc.  vermiformis.     Heilung. 

Zu  Weihnachten  erkältete  sich  Pat.  und  bekam  Kneipen  und  Schmerz 
im  Bauche,  besonders  in  der  rechten  Fossa  iliaca.  Seitdem  hat  er  hie 
und  da  Schmerzen  und  Stechen  in  der  rechten  Fossa  iliaca  verspürt. 

20.  März.  Pat.  wird  im  Krankenhause  wegen  einer  suppurierenden  Lymph- 
adenitis in  der  linken  Leiste  behandelt.  Die  Drüsen  sind  exstirpiert  worden 
und  die  Wunde  granuliert.  Pat.  hat  heute  Temperatursteigerung  —  Abend- 
temp.  38,2 ®  —  woftlr  sich  keine  andere  Ursache  fand  als  eine  unbedeu- 
tendeRötung  imHalse.  Besonders  ist  bemerkt,  daß  er  keinerlei  Sym- 
ptome von  Seiten  des  Bauches  hat.  Stuhlentleerung  normal.  21.  März.  Temp. 
37,7 — 37,8  ®.  Um  3  Uhr  nachm.  bekam  Pat.  heftige  Schmerzen  im  ganzen 
Bauche,  mit  Schwierigkeit,  Blähungen  zu  lassen,  und  Uebelkeit^  jedoch  ohne 
Erbrechen.  Bei  der  Untersuchung  zwischen  6  und  7  Uhr  abends  fand  man 
den  Bauch  weich,  aber  etwas  eingezogen,  sowie  eine  diffuse,  heftige  Em- 
pfindlichkeit für  Druck  über  dem  medialen  Teile  der  rechten  Fossa  iliaca. 
Puls  gleichmäßig,  96.  Behandlung:  Eisblase,  5  cg  Opium  in  einem  Suppo- 
sitorium,  sowie  Fasten.  Dessenungeachtet  dauerten  die  Schmerzen  fort 
mit  fast  vermehrter  Heftigkeit  und  waren  nicht  an  einem  bestimmten  Teile 
des  Bauches  lokalisiert.  Um  11  Uhr  abends  war  der  Bauch  fortwährend 
eingezogen  und  die  Empfindlichkeit  hatte  zugenommen.  Sie  hatte  sich  auf 
die  linke  Fossa  iliaca  ausgebreitet.  Pat.  zeigte  auch  etwas  Empfindlichkeit 
im  Rectum.  Die  Uebelkeit  dauerte  fort,  ohne  daß  es  zu  Erbrechen  kam. 
Temperatur  in  der  Achselhöhle  37,7  <>,  Puls  104.  Pat.  bekam  0,01  g 
Morphium  subkutan,   sowie   ein  Opiumsuppositorium    mit  0,05  g.     Danach 


346  K.  G,  Lennander, 

hatte  er  3—4  Stunden  Schlaf.  Schmerzen  im  späteren  Teile  der  Nacht 
im  Abnehmen  begriffen.  22.  März.  Am  Morgen  hatte  sich  die  Empfind- 
lichkeit nicht  aasgebreitet,  sondern  eher  vermindert.  Pols  104,  Temp. 
im  Bectum  38*>.  Kein  Eiweiß  im  Harn.  Während  der  Nacht  waren 
Blähungen  mit  Hilfe  des  Darmrohres  abgegangen.  Am  Vormittag  hat  Fat 
quälenden  Singultus.  Temp.  4  ühr  nachm.  38,1^,  Puls  112.  Pat.  machte 
den  Eindruck  eines  schwer  Ejranken.  Es  fand  sich  eine  gewisse  „Reizung" 
des  Peritoneum  fast  überall  unterhalb  des  Colon  transversum.  Den  peri- 
appendikulären  Herd  dachte  man  sich  ungefUir  an  der  Linea  innominata 
dextra  liegend. 

Operation  5  Uhr  30  Min.  nachm.  Der  Bauchschnitt  wurde 
oberhalb  des  Ligam.  Poupartii  gemacht  mit  Durchschneidung  der  Vasa 
epigastr.  inf.  Im  subserösen  Bindegewebe  fand  sich  kein  Oedem.  Die 
Serosa  am  Coecum  und  an  den  nahe  gelegenen  Därmen  zeigte  lebhafte 
OefälSinjektion.  In  der  Possa  iliaca  dextra  eine  Spur  von  klebriger  Flüssig- 
keit. Als  man  das  Coecum  hervorzog,  um  zum  Proc.  vermiformis  zu  ge- 
langen, kamen  ein  paar  Eßlöffel  Eiter  aus  dem  kleinen  Becken  heraus. 
Der  Proc.  vermiformis  wurde  in  die  Wunde  hervorgeholt;  er  war  in 
seiner  Mitte  zusammengeklappt  wie  ein  Taschenmesser  und  der  distale 
Teil  bedeutend  mehr  geschwollen  als  der  proximale.  An  ein  paar  her- 
vordrängenden Dünndärmen  sah  man  fibrinöse  Beläge.  Der  Proc.  vermi- 
formis wurde  exstirpiert  wie  bei  Operationen  k  froid.  Als  man  dann 
die  Därme  aus  dem  kleinen  Becken  hinwegschob,  konnte  man  an  keiner 
Stelle  mehr  eiteriges  oder  flüssiges  Exsudat  entdecken.  Man  hatte  den 
Eindruck,  daß  der  Eiter  um  den  Proc«  vermiformis  herum  lag,  aber  nicht 
abgekapselt  war.  Der  rechte  Teil  des  kleinen  Beckens  wurde  mit  ste- 
riler Gaze  tamponiert,  in  die  ein  dickes  Drainrohr  eingelegt  wurde.  Um 
das  Coecum  und  Colon  ascendens  herum  wurde  ebenfalls  mit  steriler 
Gaze  tamponiert.  Die  ganze  Bauchwunde  wurde  offen  gelassen.  Der 
exstirpierte  Appendix  war  6,6  cm  lang;  als  er  aufgeschnitten  wurde,  fand 
sich  der  distale  Teil  mit  übelriechendem  Eot  gefüllt.  Die  Schleimhaut 
in  dem  ganzen  Appendix  war  geschwollen  und  besonders  im  distalen 
Teile  von  Blutungen  durchsetzt. 

Pat.  wurde  gesund  entlassen  und  war  im  Mai  1902  noch  gesund. 

Pall  XL  Rekrut,  21  Jahre  alt,  No.  166A,  1902.  Empyema 
proc.  vermiformis  cum  gangraena  membranae  mucosae  et 
cum  peritonitide  serosa  incipiente  et  lymphadenitide  meso- 
coli.  Laparotomie  mit  Exstirpation  des  Proc  vermiformis 
nach  ungefähr  20  Stunden.     Heilung. 

16.  MaL  Pat.  hat  nie  an  Störungen  von  Seiten  des  Verdauungskanals 
gelitten  bis  vor  1  Jahre,  wo  er  eines  Tages  heftige  Schmerzen  im  Bauche 
und  Erbrechen  bekam;  Schüttel&'öste  hatte  er  nicht.  Die  Schmerzen 
waren  in  der  Mitte  des  Bauches  lokalisiert.  Danach  war  er  gesund,  be- 
kam aber  bei  kalten  Füßen  ELneipen  im  ünterleibe.  Ebenso  ver- 
hielt es  sich  nach  fetter  Kost.  Gegenwärtige  Krankheit.  Pat. 
erkrankte  um  12  Uhr  in  der  Nacht  mit  heftigen  Schmerzen  über  dem 
ganzen  Bauch,  bekam  unmittelbar  danach  eine  etwas  harte  Entleerung 
und  erbrach  die  ganze  Nacht.  Gestern  hatte  er  keine  Stuhlentleerung 
gehabt,  aber  vorgestern  eine  normale.  Gestern  Nachmittag  hatte  er 
Schmerz  über  dem  Nabel  gehabt  und  hatte  vornübergebeugt  bei  dem 
Exerzieren  gehen  müssen,  wobei  der  Druck  der  Kleider  ihm  Schmerz  iu 
der  Magengrube  verursachte.     Als  Abendbrot   verzehrte  er  Grütze,   Milch 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  347 

und  etwas  weiches  Brot.  Heute  Morgen  am  8  Uhr  bekam  Pat.  plötzlich 
heftigen  Schüttelfrost,  der  nur  einige  Minuten  dauerte.  Nach  dem  Frost 
am  Morgen  sind  keine  Blähungen  abgegangen.  Pat.  hat  den  ganzen  Tag 
starke  Schmerzen  im  Bauche  gehabt.  Er  wurde  im  Begimentskranken- 
hause  behandelt  mit  Fasten,  Eisblase  und  Stillliegen  und  wurde  abends 
um  6  Uhr  in  das  akademische  Elrankenhaus  gebracht. 

Status  praesens  bei  der  Ankunft  Pat  ist  von  kräftiger 
Eörperkonstitution.  Gesichtsfarbe  blafi.  Ueber  Lungen  und  Herz  ist 
nichts  zu  bemerken.  Bespirationsfrequenz  vor  der  Operation  26.  Nasen- 
flügelatmen. Harn  klar,  hellgelb,  von  saurer  Beaktion,  enthält  kein  Ei- 
weiß. Pat  hat  heftige  Schüttelfröste,  Temp.  während  des  Frostes  38^, 
Puls  um  128  herum,  klein  und  etwas  unregelmäßig.  Der  Bauch  ist  nicht 
aufgetrieben,  die  Muse,  recti  zeichnen  sich  ab.  Bei  der  Palpation  spannt 
Pat.  den  Bauch  bretthart,  mehr  oben  an  den  Thoraxrändem  als  unten 
nach  den  Leistenfalten  zu  und  vielleicht  etwas  mehr  auf  der  rechten  als 
auf  der  linken  Seite.  Pat  ist  am  empfindlichsten  in  der  rechten  Fossa 
iliaca,  besonders  über  dem  Mac  BuRNATSchen  Punkt  und  medial  von 
diesem.  Bei  tiefem  Druck  erstreckt  sich  jedoch  die  Empfindlichkeit  quer 
über  das  Bückgrat,  ungefthr  gleich  weit  nach  links  wie  nach  rechts,  und 
reicht  aufwärts  bis  4 — 5  cm  über  den  Nabel  hinauf  und  nach  unten  zu 
ebensoweit  unterhalb  desselben.  Ebenso  gibt  Pat  etwas  Empfindlichkeit 
im  Epigastrium  an,  sowie  ganz  unbedeutende  im  linken  Hypochondrium. 
Dagegen  wird  in  den  Lendengegenden  keine  Empfindlichkeit  angegeben. 
Der  Perkussionsschall  ist  überall  tympanitisch.  Keine  Dämpfung  außer 
möglicherweise  etwas  kürzerem  Schall,  ein  paar  Fingerbreiten  über  beiden 
Ligam.  PoupartiL  Leukocyten  5200.  Temp.  abends  6  Uhr  40  Min.,  als 
der  Schüttelfrost  aufgehört  hatte,  40,1  o  im  Bectum,  7  Uhr  15  Min.  40,7  o 
im  Bectum  und  40,1  ^  in  der  Achselhöhle.  7  Uhr  30  Min,  abends  wurde 
operiert 

Operationsbericht  Man  hatte  die  Diagnose  auf  eine  gangränöse 
Appendicitis  gestellt,  wobei  der  Appendix  noch  nicht  geborsten  war,  und 
man  dachte  sich,  daß  der  Appendix  weit  oben  in  der  Fossa  iliaca  hinter 
dem  Coecum  liegen  würde,  wegen  der  unbedeutenden  Empfindlichkeit  an 
der  vorderen  Bauchwand.  Schrägschnitt  über  dem  oberen  Teile  der  Fossa 
iliaca.  Bei  der  Eröfinung  des  Peritoneum  rann  sofort  etwas  klares  Serum 
aus.  Das  Coecum  war  mäßig  injiziert  an  seiner  Vorderseite ;  es  konnte 
in  die  Wunde  vorgezogen  werden.  Man  sah  dabei  ein  paar  Eßlöffel  klaren 
Serums  in  der  Fossa  iliaca.  Fibrin  wurde  nicht  gesehen.  Der  Appendix 
war  ungefähr  8  cm  lang;  er  lag  hinter  dem  medialen  Teile  des  Coecum 
und  war  durch  alte  Adhärenzen  an  diesen  Darm  und  an  die  Fossa  iliaca 
geheftet.  Der  Appendix  war  erst  nach  unten  gerichtet;  danach  war  er 
doppelt  geknickt,  das  geschah  ungefähr  3  cm  vom  Coecum  entfernt.  Der 
längere,  distale  Teil  des  Appendix  war  nach  oben  und  außen  gerichtet. 
Durch  eine  alte,  sehr  feste,  bandförmige  Adhärenz  war  diese  Knickung 
des  Appendix  an  die  hintere  Bauchwand  vor  der  Linea  terminalis  fixiert. 
Der  distale  Teil  des  Appendix  war  bedeutend  dicker  als  der  proximale, 
er  hatte  den  Umfang  des  kleinen  Fingers  eines  Mannes  oder  noch  mehr, 
war  hochrot  von  Farbe  und  besonders  fest  anzufühlen.  Im  Mesenteriolum 
wurden  3  geschwollene  Lymphdrüsen  gefühlt,  sie  waren  wie  Erbsen.  Im 
Mesocolon  zwischen  Beum  und  Colon  wurden  mehrere  größere  geschwollene 
Drüsen  gefühlt  Die  Darmserosa  am  Beum  hatte  ein  fast  natürliches  Aus- 
sehen und  die  Darmwand  erschien  nicht  geschwollen.  Der  Appendix  wurde 
exstirpiert  auf  die  gewöhnliche  Weise   wie  während  des  freien  Intervalls. 


348  E.  O.  Lennander, 

Eine  geschwollene  Lymphdrüse  wurde  entfernt.  In  der  Baachwnnde 
2  Reihen  versenkter  Catgutnähte,  in  der  Haut  Silkwormgutn&hte,  die  se- 
kundär geknotet  werden  sollten ;  keine  Drainage.  Die  Muskulatur  erschien 
ungewöhnlich  dunkelrot.     Die  Operation  wurde  bei  Gaslicht  ausgeführt. 

Beschreibung  des  Appendix.  In  dem  proximalen  Ende  war 
das  Lumen  stark  verengt  in  einer  Ausdehnung  von  1  cm  und  hier  an 
einer  Stelle  sogar  vollständig  obliteriert.  Danach  kam  eine  ungefthr  4  cm 
lange  erweiterte  Partie,  gefüllt  mit  dickem  gelben  Eiter,  der  uoter  starkem 
Druck  stand;  die  Schleimhaut  war  mit  Blut  imbibiert,  gangränös  und  an 
einer  Stelle  in  der  Nähe  des  distalen  Endes  vollständig  zerstört,  so  daß 
die  Muacularis  bloß  lag.  In  Schabpräparaten  von  dieser  Stelle  konnte 
kein  Epithel  entdeckt  werden.  Kein  Fäkalstein,  keine  Perforation.  An 
der  Stelle  der  Obliteration  war  der  Appendix  im  Winkel  gebogen. 

Verlauf.  An  demselben  Tage  erhielt  Pat  2500  com  Kochsalz- 
lösung intravenös,  100  g  Infusion  von  15  cg  Pulv.  foL  digit.  mit  7  Tropfen 
Tinct.  strophanthi  und  2  Eßlöffel  Cognac  in  Klystieren,  bis  auf  weiteres 
alle  4  Stunden;  0,20  Kampfer  alle  8  Stunden.  17.  Mai.  Pat.  hat  am 
Morgen  2500  ccm  Kochsalzlösung  intravenös  bekommen.  Puls  am  Morgen 
114,  Temp.  38,3  <>;  am  Abend  Puls  106,  Temp.  38,2  <>.  Pat.  hat  im  Laufe 
des  Tages  5  Darmausspülungen  erhalten,  mit  denen  Blähungen  in  reich* 
lieber  Menge  abgingen.  Am  Abend  1800  ccm  Kochsalzlösung  subkutan. 
Die  Hammenge  hatte  im  Laufe  des  Tages  800  ccm  betragen.  Der  Harn 
war  klar,  sauer,  ohne  Eiweiß.  Leukocyten  11600.  18.  Mai.  Darmaus- 
spülung am  Vormittag  mit  reichlichem  Abgang  von  Blähungen.  Karls- 
bader Wasser,  Vichy- Wasser  und  Milch.  Harn  klar,  frei  von  Eiweiß. 
Puls  am  Morgen  98,  Temp.  37,2  ^.  Pat  hat  im  Laufe  des  Tages  1000  ccm 
Kochsalzlösung  subkutan  erhalten.  Hammenge  650  ccm.  Pat  hat  in  der 
Nacht  eine  Darmausspülung  erhalten,  wobei  reichliche  Blähungen  ab- 
gingen. Temp.  37,7^,  Puls  68.  Am  Abend  eine  Darmausspülung  und 
danach  ein  Kochsalzklystier  (500  ccm).  Kein  Kochsalz  subkutan.  Harn- 
menge 1500  ccm.  Wunde  reaktionslos.  Die  Tampons  wurden  heute 
herausgenommen  und  die  Hautsuturen  geknotet 

Bakteriologische  Untersuchung  (Dr.  Jörobn  Jbnsbn  in 
Kopenhagen).  Aus  dem  serösen  Exsudat  im  Peritoneum  konnten  keine 
Mikroorganismen  durch  direkte  mikroskopische  Untersuchung  nachgewiesen 
werden ;  in  der  schrägen  Agarkultur  wurden  5—6  Kolonien  von  Bacterium 
coli  erhalten;  in  dem  gelben,  dicken  Eiter  aus  dem  Proc.  vermiformis 
fand  sich  bei  direkter  Untersuchung  eine  Menge  verschiedener  Mikro- 
organismen, sowohl  Kokken  als  Stäbchen,  in  Kulturen  nur  Bacterium  coli. 
In  der  exstirpierten  Lymphdrüse  konnten  keine  Mikroorganismen  nachge- 
wiesen werden,  weder  direkt  noch  in  Kulturen. 

20.  MaL  Spontaner  Abgang  von  Blähungen.  Temp.  37,8— 38®,  Puls 
60 — 72.  21.  Mai.  Spontaner  Abgang  von  Blähungen.  Beichliche,  ziemlich 
feste  Darmentleerung.     Temp.  37,4  <*,  Puls  60.     Von  da  an  afebril. 

Fall  Xn.  Soldat,  24  J.  alt  No.  377  B  1902.  Appendioitis 
acuta  purulenta  cum  hyperaemia  et  oedemate  peritonei. 
Nach  ungefähr  26  Stunden  Laparotomie  mit  Exstirpation 
des  Proc.  vermiformis. 

Pat.  ist  vorher  stets  gesund  und  stark  gewesen.  Er  hatte  stets  einen 
„guten  Magen"  gehabt  und  jede  Art  von  Nahrung  vertragen.  Eines  Tages 
im  Dezember  1901  bekam  er  bei  der  Arbeit  auswärts  einen  heftigen  Frost 
und  sofort  danach  starke  Schmerzen  im  ganzen  unteren  Teile  des  Bauches 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  349 

und  kurze  Zeit  danach  Erbrechen.  Er  ging  sogleich  zu  Bett  und  am  Tage 
darauf  ftlhlte  er  sich  wieder  ganz  gesund;  seitdem  hatte  er  keinerlei 
Symptome  von  Seiten  dos  Unterleibes  bis  zum  31.  Mai  nachmittags.  Er 
hatte  um  1  Uhr  zu  Mittag  gesalzenes  Fleisch  und  Fruchtsuppe  gegessen. 
Um  4  Uhr  begann  er  sich  unwohl  zu  fühlen  und  bekam  Frostanfälle,  ging 
aber  doch  zum  Exerzieren  bis  Y^^  ^^  abends.  Da  begann  es  wieder 
wie  das  vorige  Mal  im  ganzen  unteren  Teile  des  Bauches  zu  schmerzen, 
jedoch  am  meisten  auf  der  rechten  Seite.  Kurz  danach  bekam  Fat. 
heftiges  Erbrechen,  er  „brach  die  ganze  Mittagsmahlzeit  aus^^  Er  ging 
nun  in  sein  Quartier  und  legte  sich  und,  obwohl  er  nichts  aß  und  nichts 
trank,  erbrach  er  mehrere  Male  im  Laufe  der  Nacht  und  fühlte  die  ganze 
Nacht  viel  Frost.  Am  folgenden  Morgen  (1.  Juni)  war  die  Temperatur 
38,4^;  der  Schmerz  dauerte  fort  wie  vorher;  am  Nachmittag  war  die 
Temperatur  38,6^,  der  Puls  112.  Fat.  hatte  im  Laufe  des  Tages  ein 
Paar  Frostanfälle  gehabt  und  ein  Paar  Male  Erbrechen.  Die  Behandlung 
hatte  in  absolutem  Fasten  und  Dursten  bestanden  und  Eisblase  über  der 
rechten  Fossa  iliaca.  Pat  kam  in  das  Krankenhaus  an  demselben  Tage 
(1.  Juni)  9  Uhr  abends. 

Status  bei  der  Ankunft.  Pat.  ist  kräftig  gebaut  Herz  und 
Lungen  bieten  nichts  Bemerkenswertes.  Temp.  39,2^,  Puls  104,  gleich- 
mäßig und  regelmäßig.  Leukocyten  18000.  Der  Harn  gab  bei  Hkllxrs 
Probe  sofort  eine  Spur  von  einem  oberen  Bing  und  nach  einer  Weile 
auch  Spuren  eines  unteren  Ringes.  Der  Bauch  ist  merkbar  aufgetrieben. 
Der  ganze  linke  Teil  ist  bei  der  Palpation  weich  und  nicht  empfindlich. 
Jxx  der  rechten  Seite  des  Bauches  zeigt  Pat.  bedeutende  Empfindlichkeit 
bis  in  die  rechte  Lumbaigegend.  Die  Empfindlichkeit  ist  am  größten  un- 
getfSkhr  2  Querfinger  medial  von  der.  Spina  ilei  anter.  sup.,  von  wo  an 
sie  rasch  abnimmt  in  der  Bichtung  gegen  die  Mittellinie  hin.  Keine  Em- 
pfindlichkeit im  unteren  Teile  der  Fossa  iliaca.  Im  Rectum  keine  Aus- 
buchtung, doch  gibt  Pat.  hoch  oben  nach  rechts  zu  geringe  Empfindlichkeit 
an.     Keine  Dämpfung,   keine  Resistenz  an  irgend  einer  Stelle  im  Bauche. 

Operation  sofort.  Man  hatte  die  Diagnose  auf  akute  Appendicitis 
(gangraenosa?)  gestellt,  betrachtete  es  aber  als  wahrscheinlich,  daß  der 
Appendix  noch  nicht  perforiert  war.  Man  nahm  an,  daß  der  Proc.  vermi- 
formis in  der  Lumbaigegend  in  der  Nähe  der  Leber  liege.  Schrägschnitt 
über  der  Lumbaigegend  und  dem  nächsten  Teile  der  Fossa  iliaca  zwischen 
dem  12.  Literkostalnerven  und  dem  1.  Lumbalnerven.  Als  das  Peritoneum 
eröffnet  wurde,  sah  man  ein  dünnes  Omentum  über  das  Coecum  aus- 
gebreitet, aber  es  fanden  sich  keine  Adhärenzen,  auch  keine  Flüssigkeit 
war  im  Bauche  zu  sehen.  Sowohl  die  Därme  als  auch  das  Omentum 
hatten  natürliche  Farbe.  Darauf  wurde  das  Coecum  hervorgezogen  und 
an  dessen  unterer  Seite  lag  ein  ganz  besonders  langer  (15  cm)  Proc. 
vermiformis,  der  durch  das  Mesenteriolum  an  seinem  proximalen  Teile 
mit  dem  Coecum  verwachsen  war.  Der  Appendix  war  nach  oben  und 
hinten  gerichtet,  so  daß  der  distale  Teil  an  der  Außenseite  des  Colon 
ascendens  lag.  Hier  war  dieser  Darm  sehr  lebhaft  gerötet  durch  GefUß- 
injektion.  Die  gi'oße  Menge  neugebildeter  Oefkße  zeigte  deutlich,  daß  hier 
chronische  Reizung  stattgei^nden  hatte.  Um  das  distale  Drittel  des  Appendix 
herum  fand  sich  ein  dünnes  Blutgerinnsel,  aber  kein  Eiter.  Die  Subserosa 
rund  um  diese  Stelle  herum,  sowohl  am  Darm  als  an  der  Bauch  wand, 
zeigte  ein  mehrere  Millimeter  dickes  Oedem.  Man  sah  keine  Fibrinbeläge. 
Der  Appendix  wurde  auf  die  gewöhnliche  Weise  exstirpiert.  Wo  er  am 
Coecum  festgewachsen  war,   wurde   die  Serosa  sorgfältig  zusammengenäht. 


350  K.  Gr.  Lennander, 

Nach  dem  ödemaiösen  und  injizierten  Teile  des  Colon  zu  wurde  Jodoform- 
gaze und  ein  Drainrohr  eingelegt,  die  durch  den  hintersten  Teil  der  Wunde 
nach  außen  geleitet  wurden,  die  übrigens  mit  3  Reihen  von  versenkten 
Oatgutnähten  und  Silkwormgutnaht  in  der  Haut  geschlossen  wurde.  Im 
Mesocolon  ascendens  fühlte  man  trotz  der  bedeutenden  Fettmenge  mehrere 
größere  und  kleinere  geschwollene  Lymphdrüsen. 

Der  Proc.  vermiformis  war  14,6  cm  lang.  Ungeflihr  5  cm  vom  proxi- 
malen Ende  ist  er  im  Winkel  gebogen.  Der  proximal  von  der  Knickung 
gelegene  Teil  zeigt  auswendig  ein  normales  Aussehen,  nach  dem  Auf- 
schneiden zeigt  die  geschwollene  Schleimhaut  hier  nur  einzelne  Blutungen. 
Der  distal  von  der  Knickung  gelegene  Teil  ist  bedeutend  dicker  und  steifer 
als  der  übrige  und  zeigt  eine  besonders  starke  Injektion  in  der  Subserosa, 
die  nach  der  Spitze  hin  zunimmt.  Die  Serosa  ist  da  von  stark  dunkel- 
roter Farbe,  was  teils  auf  Injektion,  teils  auf  Blutung  unter  der  Serosa 
beruht.  Der  am  meisten  distale  Teil  ist  von  einer  subserösen  Blutung  ein- 
genommen. Beim  Aufschneiden  des  distalen  Teiles  fand  man,  daß  dieser 
einige  Teelöffel  dicken,  gelben  Eiters  enthält,  und  als  dieser  entfernt  wurde, 
sah  man,  daß  die  Schleimhaut  in  diesem  ganzen  Teile  fehlte  und  das 
Lumen  von  einer  Submucosa  (?)  begrenzt  wurde,  die  stark  thrombosierte 
Geftße  zeigte.  Die  Wandung  ist  hier  an  manchen  Stellen  papierdünn. 
Die  Grenze,  wo  die  Muoosa  aufhört,  ist  besonders  scharf  markiert. 

Nach  der  Operation  bekam  der  Fat  2500  ccm  Kochsalzlösung  sub- 
kutan; 0,20  g  Kampfer  alle  4  Stunden.  2.  Juni  Allgemeinzustand  gut 
Spur  eines  oberen  Ringes  im  Harne.  Harnmenge  im  Laufe  der  Nacht 
1000  ccm,  während  des  Tages  ebensoviel.  Leukocyten  14000,  Temp.  37,2 
— 37,6<>,  Fuls  80—88.  3.  Juni.  Harn  eiweißfrei.  Die  B^konvaleszenz 
war  ungestört  und  Fat.  wurde  gesund  entlassen. 

Aus  dem  Vorhergehenden  (s.  Fall  IX— XII)  geht  hervor,  daß  ich 
eine  ausgebreitete  „peritoneale  Reizung"  als  eine  Indi- 
kation, sofort  zu  operieren,  betrachte.  Im  allgemeinen  wird 
ein  solches  serös  oder  serofibrinös  entzündetes  Feritoneum  fflr  viel 
empfindlicher  für  eine  Infektion  gehalten  (Sonnenbürg  u.  a.),  als 
eine  normale  Serosa.  Das  ist  indessen,  soviel  ich  weiß,  noch  nicht 
bakteriologisch  bewiesen;  sollte  es  sich  so  verhalten,  so  würde  mich 
diese  Gewißheit  nur  in  meiner  Ansicht  bestärken.  Ich  halte 
es  nämlich  für  viel  leichter,  das  kranke  Feritoneum  vor  einer  neuen 
oder  einer  fortschreitenden  Infektion  dadurch  zu  schützen,  daß  sofort 
operiert  wird,  als  durch  Zuwarten  unter  medizinischer  Behandlung. 

Im  Bauche  findet  sich  ja  bei  diesen  Fatienten  ein  infektiöser  Kern  : 
Der  Froc.  vermiformis,  mit  oder  ohne  putride  oder  purulente  Flüssig- 
keitsansammlung in  der  Umgebung.  Zu  Anfang  der  Krankheit  braucht 
sich  keine  Abkapselung  um  diese  Flüssigkeit  zu  finden  (s.  Fall  X,  XIII, 
XIV,  XIV  A).  Das  eiterige  Exsudat  kann  ganz  frei  um  den  Froc. 
vermiformis  herumliegen.  Durch  Zuwarten  unter  medizinischer  Behand- 
lung riskiert  man,  daß  die  entzündete  Serosa  (d.  h.  die  Serosa  im 
Bezirke  der  peritonealen  Reizung)  langsam  infiziert  wird  durch  die 
Lymphbahnen,  oder  mit  einem  Schlage  durch  Berstung  des  Froc.  vermi- 
formis,  oder   durch  eine  Verbreitung  der  infektiösen  Flüssigkeit  aus 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  351 

seiner  Umgebung.  Operiert  man  aber,  nachdem  man  sich  durch  eine 
genaue  Uutersuchung  eine  möglichst  klare  Auffassung  davon  verschafft 
hat,  wie  es  im  Innern  der  Bauchhöhle  aussieht,  so  kann  man,  wenn 
man  die  Technik  beherrscht,  den  Proc.  vermiformis  entfernen  und  seine 
Umgebung  „extraperitoneal^  legen  unter  Tamponade,  ohne  einer  so 
erkrankten  Bauchhöhle  neue  Infektion  zuzuführen.  Als  Beispiel  diene 
Fan  XIII,  XIV,  wie  auch  die  Fälle  IX-XII. 

Im  Fall  XIII  handelt  es  sich  um  einen  24  Jahre  alten,  ungewöhnlich 
kräftigen  und  fetten  Mann,  der  stets  „den  besten  Magen^  gehabt  hat 
und  der  in  das  Krankenhaus  am  4.  Mai  1902  kam,  nach  einem  3-stün- 
<ligen  Transporte  auf  der  Eisenbahn  (im  Bette)  mit  dem  Schnellzuge. 

Fall  XTTT.  Zuckerbäcker,  No.  297  A,  1902.  Appendicitis  acuta 
cum  gangraena  et  perforatione  (Koprolith)  et  cum  peri- 
tonitide  putrida  incipiente. 

1.  Sept  nachmittags:  Unwohlsein  mit  Schmerz  im  ganzen  Bauche; 
seitdem  schlechter  Schlaf  in  der  Nacht.  Am  2.  Sept.  arbeitete  Fat.  am 
Vormittag,  aß  aber  zu  Mittag  nur  unbedeutend;  am  Nachmittag  hatten 
sich  die  Schmerzen  auf  die  rechte  Seite  des  Unterleibes  beschränkt,  Fat. 
.ging  zu  Bett.  Temp.  38,3^  (im  B.ectum).  Keine  Stuhlentleerung,  keine 
Flatus.  3.  Sept.  Temp.  38,8—39,6  0;  sehr  große  Empfindlichkeit  medial 
und  oberhalb  der  Spina  ilei  ant.  sup.  dextra.  4.  Sept.  Temp.  39,3  \  Flatus 
gehen  seit  gestern  unbehindert  ab.  Vor  der  Eisenbahnfahrt  eine  „größere" 
Morphiumeinspritzung.  Bei  der  Ankunft  im  Krankenhause  abends  9  Uhr 
Temp.  39,6  0,  Puls  100,  kräftig,  Allgemeinbefinden  ganz  gut.  Keine  Auf- 
treibung des  Bauches;  bei  der  Untersuchung  gehen  Flatus  ab.  Starke 
Empfindlichkeit  und  Muskelspannung  in  einem  kleinen  Bezirke  medial 
von  der  Spina  ilei  ant.  sup.  dextra  und  nach  oben  zu.  Geringe  Empfind- 
lichkeit nach  hinten  in  der  rechten  Lumbaigegend.  Im  Rectum  keine 
Empfindlichkeit,  keine  Vorbuchtung.  Der  Haiii,  der  mit  dem  Katheter 
abgenommen  werden  maßte,  zeigte,  auch  bei  3 — 4-facher  Verdünnung 
2  Eiweißringe,  nämlich  einen  diffusen  oberen  und  einen,  zwar  äußerst 
dünnen,  aber  doch  deutlichen  unteren  Ring.  Leukocytose:  Mehrere 
Zählungen  ergaben  mindestens  12000  und  höchstens  13900  Leukocyten 
Im  Kubikmillimeter  Blut. 

Operation  11  Uhr  abends  (ungefiähr  80  Stunden  nach  der  Er- 
krankung). Schrägschnitt  zwischen  dem  11.  und  12.  Interkostalnerven. 
In  der  parietalen  Subserosa  fand  sich  ein  centimeterdickes  Oedem  vom 
Rectusrande  bis  zum  Muse«  quadratus  lumborum.  An  der  vorderen  äußeren 
und  hinteren  Seite  des  Dickdarmes  schmutziger  Eiter,  der  am  meisten 
Darminhalt  glich;  er  war  nicht  abgekapselt.  Nur  am  Coecum  nach  vorn 
zu  sah  man  ein  paar  weiße  spinnengewebeähnliche  Fibrinbeläge.  Die  be- 
nachbarten Dünndärme  wenig  gerötet,  übrigens  normal.  Hinter  dem  Coecum 
und  Colon  ascendens  fand  sich  ein  brandiger,  an  mehreren  Stellen  perfo- 
rierter Proc.  vermiformis,  der  einen  Fäkalstein  enthielt.  Der  benachbarte 
Teil  der  Cökalwand  war  gelblich-weiß  ge&rbt  und  ungefähr  centimeter- 
dick.  Distal  davon  war  die  Dickdarmwand  rot  durch  Injektion  einer 
Menge  langer,  kleiner  Gefäße  in  der  verdickten  Serosa.  Um  die  Leber 
herum  und  im  nächsten  Teile  des  Bauches  etwas  vermehrte  seröse  Flüssig- 

MttflU.  a.  d.  OT0nzK»M«ten  d.  Medizin  a.  Chirurgie.    XIH.  Bd.  23 


352  E.  G.  Lennander, 

keit.  Der  Proo.  vermiformis  wurde  exstirpiert.  Die  Bauchwunde  ward» 
vom  Mose,  rectus  bis  zur  Spina  ilei  ant.  sup.  mit  3  Beihen  Catgutnähten 
in  Peritoneum  und  Muskeln  zusammengenäht,  die  übrige  Wunde  wurde  mit 
Jodoformgaze  und  steriler  Gaze  tamponiert.  Nachbehandlung:  Häufiger 
Verbandswechsel,  Kochsalzlösung  subkutan,  Darmaussptüungen  und  groß» 
Klystiere  mit  Cognac  (2-— 3  Eßlöffel  Cognac  auf  300—500  physiologische 
Kochsalzlösung,  4 — 5mal  täglich),  0,04  mg  salicylsaures  Physostigmin  sub» 
kutan,  3— 4mal  täglich, .  schon  von  der  ersten  Nacht  an.  Die  Bekon* 
valeszenz  wurde  vom  15. — 17.  Sept.  durch  Fröste,  Temperatursteigerung^ 
und  Stechen  in  der  rechten  Seite  sowie  Bluthusten  gestört.  Es  han- 
delte sich  ziemlich  deutlich  um  einen  geringen  Lungeninfarkt.  Am 
27.  Sept.  schien  sich  der  Pat.  in  vollständiger  Bekonvaleszenz  zu  befinden^ 
Nach  einigen  Wogen  glaubte  man  jedoch,  eine  Myocarditis  diagnosti* 
zieren  zu  können.  Pat.  hatte  zu  3  verschiedenen  Malen  Anftllle  von 
sehr  schweren  Kollapssymptomen.  Am  19.  März  1903  erschien  er  völlig 
gesund. 

Fall  XIV.  Knabe,  4  J.  10  Mon.  alt,  No.  196  A,  1902.  Gangrä- 
nöser, nicht  geborstener  Appendix.  Laparotomie  mit  Ex- 
stirpation  des  Proc.  vermiformis  ungefähr  51  Stunden 
nach  dem  Auftreten  der  ersten  Schmerzen.     Heilung. 

Pat.,  vorher  gesund,  erwachte  am  11.  Juni  morgens  um  6  Uhr  und 
klagte  über  heftigen  Schmerz  im  Bauche.  Nach  einiger  Zeit  Erbrechen. 
Vormittags  Stuhlentleerung.  Nachmittags  saß  er  auf  und  sah  den  Spielen 
seiner  Schwestern  zu.  Abends  hatte  er  starkes  Fieber,  erschien  schlimmer^ 
schlief  aber  doch  ruhig  bis  2  Uhr  morgens,  wo  er  aufwachte  und  schwer 
klagte.  Er  schlief  dann  immer  nur  kurze  Zeit  und  klagte  fast  ununter- 
brochen. Um  9  Uhr  vormittags  bekam  er  einen  Teelöffel  Rizinusöl  und 
um  12  Uhr  mittags  wieder  einen,  die  er  beide  bei  sich  behielt.  Danach 
wurde  er  in  die  Stadt  gefahren.  Er  klagte  auf  dem  Wege,  sobald  der 
Wagen  einen  Stoß  bekam,  über  große  Schmerzen.  Nach  der  Ankunft  in 
der  Stadt  eine  Stuhlentleerung,  dünn  und  hart  gemischt  Er  wurde  in» 
Krankenhaus  aufgenommen  am  12.  Juni  6  Uhr  30  Min.  abends.  Temp. 
38,7  0,  Puls  120,  nach  einiger  Zeit  106,  gleichmäßig.  Pat.  klagt  manchmal 
über  Schmerzen  im  Bauche,  ist  aber  im  ganzen  ruhig.  Der  Bauch  ist 
nicht  aufgetrieben  und  fühlt  sich  im  allgemeinen  weich  an.  Man  glaubt 
eine  Resistenz  in  der  rechten  Fossa  iliaca  zu  fühlen,  wo  Pat  auch  die  stärkst» 
Empfindlichkeit  gegen  Druck  angibt  Im  Harn  kein  Eiweiß;  Temp.  37,6^^ 
Puls  114. 

Operation  am  13.  Juni.  Nachdem  Pat.  eingeschläfert  war,  wurde 
eine  Resistenz  im  medialen  Teile  der  rechten  Fossa  iliaca  palpiert  Schräg- 
schnitt über  der  Lumbaigegend  und  Fossa  iliaca  zwischen  dem  12.  Thorakal- 
und  1.  Lumbalnerven.  In  der  Subserosa  fand  sich  reichliches  Oedem.  Daa 
Peritoneum  parietale  war  besonders  stark  injiziert.  Als  es  geöffnet  wurde, 
kam  ein  gelber  stinkender  Eiter  heraus,  aber  dabei  zeigte  sich  auch  ein 
gesunder  Darm.  Der  Eiter  wurde  rasch  aufgetrocknet;  er  hatte  um  den 
Proc.  vermiformis  herum  gelegen,  der  nach  innen  gerichtet  war  und  mit 
seiner  Spitze  nach  dem  linken  Blatte  des  Dünndarmmesenterium  zu  ge- 
legen hatte.  Die  unvollständig  abgekapselte  Eiterhöhle  war  vom  Dünn- 
darmmesenterium umgeben  gewesen,  vom  untersten  Teile  des  Ileum,  einem 
kleinen  Teile  des  Coecum  und  dem  rechten  Zipfel  des  Omentum  majus. 
In  den  genannten  Dünndarmteilen  fanden  sich  dicke,  fibrinöse  Beläge.  Die 
nächsten  Därme  waren  lebhaft  iM>t.     Im  kleinen  Becken  und  in  der  Lumbal- 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  353 

gegend  fand  sich  etwas  seröse  Flüssigkeit.  Auch  die  am  meisten  ergriffenen 
Därme  hatten  relativ  wenig  geschwollene  Wandungen  und  die  weniger 
ergriffenen  zeigten  eine  lebhafte  Peristaltik.  Weiter  nach  links  im  Bauche 
hatte  die  Darmserosa  ein  normales  Aussehen.  Die  Lymphdrüsen  waren 
bedeutend  vergrößert  im  unteren  Teile  des  Dünndarmmesenterium ,  wie 
auch  im  Mesocolon  ascendens,  wo  sich  eine  reichlich  mandelgroße  Drüse 
im  Winkel  zwischen  Beum  und  Colon  fand.  Vergrößerte  Lymphdrüsen 
wurden  bis  hinauf  zum  Bückgrat  geftihlt.  Der  Proc.  vermiformis  wurde 
auf  die  gewöhnliche  Weise  exstirpiert,  wie  bei  Operation  im  freien  Latervall. 
Nach  dem  kranken  Teile  des  Dünndarmmesenterium  und  dem  untersten 
Teile  des  Ileum  wurde  Drainage  von  Jodoformgaze  und  ein  Drainrohr 
eingelegt,  die  durch  den  hinteren  Teil  der  Wunde  nach  außen  geleitet 
wurden.  Der  vordere  Teil  der  Wunde  bis  an  der  Spina  ilei  ant  sup. 
vorbei  wurde  mit  2  Reihen  versenkter  Gatgutsuturen  und  einer  Reihe 
Silkwormsuturen  zusammengenäht.  Pat.  bekam  800  ccm  Eochsalzinfusion 
unmittelbar  nach  der  Operation. 

Der  exstirpierte  Appendix  war  6  cm  lang,  2  cm  von  der  Spitze 
war  er  geknickt.  Distal  davon  war  der  Umfang  weiter  als  proximal. 
Ein  Stück  reseziertes  Omentum  saß  an  dem  erweiterten  distalen  Teile 
fest.  Li  dem  proximalen  Teile  war  die  Schleimhaut  etwas  geschwollen, 
mit  kleinen  Blutungen.  Im  distalen  fand  sich  Eiter  und  ein  knapp 
erbsengroßer,  trockener  und  wohlgeschichteter  Päkalstein.  Die  Schleim- 
haut war  hier  durch  Gangrän  vollständig  zerstört;  die  Grenze  gegen 
die  nur  katarrhalisch  veränderte  Schleimhaut  im  proximalen  Teile  war 
sehr  scharf;  0,5  cm  von  der  Spitze  des  Proc.  vermiformis  ging  die 
Gangrän  an  einer  Stelle  durch  die  ganze  Wand.  Es  handelte  sich 
also  um  eine  gangränöse  Appendicitis  (Knickung  des  Appendix 
+  Fäkalstein)  mit  einer  fibrino-purulenten,  nur  teilweise 
abgekapselten  Periappendicitis  und  eine  seröse  Peri- 
tonitis in  den  Umgebungen  (Hyperämie  und  seröser  Erguß). 
Daneben  fand  sich  eine  hochgradige  akute  Lymphadenitis 
im  Mesenterium  und  Mesocolon  ascendens.  Pat  hatte  wahr- 
scheinlich eine  Bronchopneumonie  vom  16. — 18.  Juni.  Danach  Besserung 
und  ungestörte  Rekonvaleszenz.  Er  wurde  am  14.  Aug.  geheilt  entlassen. 
Ln  Januar  1903  war  er  gesund. 

Epikrise.  .Li  diesem  Falle  nahm  die  Pulsfrequenz  zu,  trotzdem 
die  Temperatur  sank.  Am  Abend  des  12.  Juni  Temp.  88,7  <^,  Puls  106; 
am  Morgen  des  13.  Juni  Temp.  37,6^,  Puls  114.  Dieses  Verhalten  im 
Verein  mit  der  vermuteten  Lage  des  Appendix  medial  vom  Goecum  gab 
die  Lidikation  ab,  sofort  zu  operieren. 

Die  Ausdrücke  ^Peritonismus"  und  ^peritoneale  Reizung**  bringen 
nur  Verwirrung  hervor  und  sollten  deshalb  nicht  angewendet  werden. 
Manche  Aerzte  glauben,  daß  hinter  dem  Worte  ^Reizung**  nur  ein  „ner- 
vöses Leiden"  liegt. 

Ist  der  Allgemeinzustand,  namentlich  die  Tätigkeit  des  Herzens, 
bei  einem  Patienten  mit  fortschreitender  Peritonitis  schlecht,  so  daß 
man  die  Narkose  und  Operation  fürchtet,  dann  verordne  man  ein  gutes 
Bett  und  sehe  zu,  daß  der  ganze  Körper  warm  gehalten  wird.  Sind  die 
Schmerzen  heftig,  gebe  man  Morphium  subkutan.  In  jedem  Falle  gebe 
man  Kampfer  (wenigstens  0,40  g)  und  Strychnin  (1—3  mg)  subkutan, 

23* 


354  K.  G.  Lennander, 

womöglich  auch  (man  beachte  das  Herz)  physiologische  Kochsalzlösung 
subkutan  oder  intravenös  (sehr  langsam!).  Unter  einer  solchen  Be- 
handlung wird  der  Puls  bald  so  viel  besser,  daß  man  eine  Narkose 
[am  liebsten  lokale  Anästhesie  im  Verein  mit  allgemeiner  Narkose]^) 
wagen  kann,  sofern  es  nicht  schon  zu  spät  ist  zum  operieren. 

Sowohl  in  den  Handbüchern  wie  in  Vorträgen  und  Diskussions- 
äußerungen wird  beständig  hervorgehoben,  daß  ein  kleiner  und  fre- 
quenter  Puls*  eine  Indikation  für  die  Operatio  nbei  Appendicitiden 
ist  Ich  möchte  statt  dessen  sagen:  Man  soll  operieren,  noch 
ehe  der  Puls  klein  und  frequent  wird.  Appendicitiskranke 
haben  im  allgemeinen  einen  vollen  und  etwas  gespannten  Puls  mit 
einer  Frequenz  von  80 — 110,  wenn  sie  sich  von  dem  Erbrechen 
und  den  heftigen  initialen  Schmerzen  erholt  haben,  wenn  sie  solche 
gehabt  haben.  Durch  die  Spannung  in  der  Bauchwand  (defense  mus- 
culaire)  und  durch  den  zunehmenden  Meteorismus  wird  nämlich  der 
Blutdruck  im  Beginne  der  Krankheit  vermehrt.  Und  so  geht  es  fort, 
bis  die  Blutzufuhr  zur  rechten  Herzhälfte  vermindert  oder  zuletzt  fast 
abgeschnitten  wird  durch  die  Gefäßerweiterung  im  Bauche 
(Lähmung  des  vasomotorischen  Zentrums  in  der  Medulla  oblongata  und 
damit  des  großen  Gebietes  des  N.  splanchicus)  und  durch  Kom- 
pression der  vom  Bauche  abführenden  Venen,  vor  allem 
der  Vena  cava,  im  Zusammenhange  mit  der  fortschreitenden  Peritonitis 
und  der  immer  stärker  werdenden  Verschiebung  des  Zwerchfells  nach 
oben.  Die  Verschlechterung  des  Pulses,  die  wesentlich  ein  Produkt 
der  hier  genannten  mechanischen  Verhältnisse  ist,  kommt  deshalb  un- 
erwartet rasch,  ja  für  den  weniger  Erfahrenen  als  eine  reine  Ueber- 
raschung.  Bei  Sektionen  findet  man  oft,  daß  das  Herzfleisch  ein  ge- 
sundes Aussehen  hat. 

Hindern  es  äußere  Verhältnisse,  einen  Patienten  mit  nicht  be- 
grenzter Peritonitis  sofort  zu  operieren,  oder  hält  man  den  Zustand 
des  Patienten  für  so  gut,  daß  man  an  eine  medizinische  Behandlung 
denken  kann,  dann  verordne  man  eine  solche:  gutes  Bett,  Kniepolster, 
auf  den  Bauch  2  große  Eisblasen,  nichts  per  os,  außer  vielleicht  heißes 
Wasser  teelöfFelweise.  Durch  diese  vollständige  Ruhe  für  den  ganzen 
Körper  und  für  den  Darm,  sowie  durch  die  Applikation  des  Eises 
auf  den  Bauch  hören  oft  die  Schmerzen  ganz  rasch  auf.  Sollten  sie 
es  nicht  tun,  wird  eine  subkutane  Morphiumeinspritzung  gegeben  oder 
0,05  g  Opium  auf  einmal  in  das  Rectum,  aber  die  Gabe  von  Morphium 
oder  Opium  wird  nicht  wiederholt,  wenn  nicht  die  Schmerzen  von 
neuem  dazu  zwingen.  In  diesem  Falle  muß  man  sich  in- 
dessen erst  fragen,  ob  es  nicht  am  sichersten  ist,  sofort 


1)  Vgl.  meine  Abhandlung   über   die  Sensibilität  in   der  Bauchhöhle. 
Hygiea,  1901.     Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  10. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  355 

ZU  operieren.  Das  nötige  Wasser  und  Nahrung  werden  subkutan 
gegeben,  nicht  per  rectum. 

Wenn  bei  der  hier  angegebenen  medizinischen  Behandlung  nicht 
nur  das  Allgemeinbefinden  des  Patienten,  sondern  auch  alle  Haupt- 
symptome: Schmerzen,  sowohl  spontane  wie  die  Druckempfindlichkeit, 
Meteorismus,  Puls,  Temperatur  und  Fehlen  von  Eiweiß  im  Harn,  binnen 
12—24  Stunden  für  Besserung  sprechen,  so  setzt  man  natürlich  die 
exspektative  Behandlung  fort.  Man  darf  sich  hingegen  nicht  darauf 
verlassen,  daß  Besserung  eingetreten  sei,  weil  das  Erbrechen  aufgehört 
hat  und  die  Schmerzen  vermindert  sind  und  sich  ein  relatives  Wohl- 
befinden bei  dem  Patienten  eingestellt  hat,  wenn  nicht  wirklich  auch 
Temperatur,  Puls,  Meteorismus,  der  Harn  u.  s.  w.  alle  in  derselben 
Richtung  auf  Besserung  hindeuten.  Es  ist  nämlich  oft  und  mit  Recht 
von  amerikanischen  und  französischen  Aerzten  hervorgehoben  worden, 
daß  sich  gleichzeitig  mit  dem  Brandigwerden  des  Proc.  vermiformis  nicht 
selten  die  Beschwerden  vermindern  und  eine  gewisse,  Ruhe  gebende  Stille 
über  den  Patienten  kommt.  Das  ist  der  Zustand,  den  Prof.  Dieulafoy 
„raccalmie  traitresse^  nennt.  Man  hat  sich  vorgestellt,  daß  die 
Schmerzen  abnehmen  oder  aufhören,  weil  die  Nerven  im  Proc.  vermi- 
formis abgestorben  sind.  Da  nach  meinen  Beobachtungen  auch  der 
kranke  Proc.  vermiformis  vollständig  gefühllos  ist  für  alle  operativen 
Eingriffe,  kann  man  an  dieser  Erklärung  nicht  länger  festhalten.  Mein 
Gedanke  ist,  daß  durch  den  Brand  die  Lymphgefäße  und  Venen  im 
Proc.  vermiformis  zerstört  werden.  Es  entsteht  deshalb  eine  Unter- 
brechung für  die  Ausführung  von  Toxinen  und  Mikroben  aus  dem 
Proc.  vermiformis,  bis  dieser  berstet  oder  bis  es  den  Mikroben  gelingt, 
in  Massen  die  tote  Darmwand  zu  passieren. 

Um  sich  klar  zu  werden,  ob  eine  Peritonitis  fortschreitend  ist, 
muß  man  bei  der  ersten  Untersuchung  genau  verzeichnen 

1)  das  Verhalten  des  Meteorismus  (unter  anderem  die  Leber- 
dämpfung), sowie 

2)  den  Grad  und  die  Ausbreitung  der  Muskelspannung  (defense 
musculaires)  und 

3)  die  Grenzen  der  Empfindlichkeit  bei  der  Palpation,  sowohl  von 
der  Bauchwand  wie  auch  vom  Rectum  (von  der  Vagina)  aus. 

Eine  Menge  Operationen  haben  gezeigt,  daß  man  durch  Achten 
auf  die  Druckempfindlichkeit  für  leise  Palpation  mit  einem  oder  höchstens 
zwei  Fingern  fast  auf  den  Zentimeter  genau  die  Ausbreitung  der  Ent- 
zündung an  der  vorderen  oder  hinteren  Serosa  der  Bauchwand  be- 
stimmen kann. 

Zusammenfassung.  Wenn  man  zu  einem  Patienten  gerufen 
ist,  der  schwer  an  Appendicitis  erkrankt  ist,  besteht  die  Indikation 
für  sofortiges  Operieren,  wenn  man  eine  fortschreitende  eiterige  Peri- 
tonitis diagnostiziert.    In  den  übrigen  Fällen  von  schwerer  Erkrankung 


356  K.  O.  Lennander, 

hat  man  stets  genau  zu  erwägen,   ob  es  nicht  am  sichersten  für  den 
Patienten  ist,  seinen  Proc.  vermiformis  sofort  zu  entfernen. 

Schwangerschaft. 

Eine  besondere  Beachtung  verdient  eine  akute  Appendicitis 
bei  bestehender  Schwangerschaft.  Es  ist  Pinards  Verdienst, 
die  Gefahren  derselben:  Abortus,  vorzeitige  Geburt,  Tod  der  Frucht, 
allgemeine  eiterige  Peritonitis  gezeigt  zu  haben. 

Am  25.  März  1903  spät  abends  klingelte  es  an  meinem  Telephon. 
Es  war  mein  alter  Freund,  Oberarzt  P.  Söderbaum  in  Falun,  der  mich 
wegen  einer  Patientin  um  Rat  fragen  wollte,  zu  der  er  neulich  gerufen 
wurde  vom  Oberarzt  an  der  medizinischen  Abteilung,  Pfannenstill. 
Nachdem  ich  die  Anamnese  von  Fall  XIV  A  gehört  hatte,  antwortete 
ich:  ^Patientin  muß  binnen  2  Stunden  operiert  werden.  Wartet  man 
bis  morgen  Vormittag,  kann  es  nach  meiner  Meinung  leicht  den  Tod 
zur  Folge  haben,  weil  ich  vermute,  daß  es  zur  Geburt  in  der  Nacht 
kommt,  wenn  man  nicht  operiert,  und  weil  ich  glaube,  daß  ein  freies 
serös-eiteriges  Exsudat  den  Proc.  vermiformis  umgibt.  Unter  solchen 
Verhältnissen  kann  die  Geburtearbeit  leicht  das  Exsudat  über  die  ganze 
Bauchhöhle  verbreiten,  so  daß  es  morgen  zu  einer  allgemeinen  Bauch- 
fellentzündung gekommen  sein  kann,  die  dann  ein  operativer  Eingriff 
nicht  mehr  aufhalten  kann.  Sollte  das  Exsudat  wider  Vermutung  ab- 
gekapselt sein,  dann  ist  es  wahrscheinlich,  daß  die  Geburtsarbeit  die 
Adhäsionen  sprengt,  so  daß  das  Resultat  dasselbe  wird,  als  wenn  keine 
Abkapselung  vorhanden  wäre.^ 

Mein  Rat  wurde  befolgt.  Die  Patientin,  sofort  in  das  Lazarett 
von  Falun  übergeführt  und  unmittelbar  nach  ihrer  Ankunft  daselbst  ope- 
riert; sie  wurde  gesund.  Für  die  Erlaubnis,  diese  interessante  Kranken- 
geschichte zu  publizieren,  bin  ich  meinen  Kollegen  Söderbaum  und 
Pfannenstill  Dank  schuldig. 

Fall  XIVA.  Appendicitis  acuta  cum  peritonitide  sero- 
purulenta  incipiente  libera  sab  fine  graviditatis.  26.  März 
1903.  Exstirpatio  proc.  vermiformis;  pneumonia  acuta 
dextra  et  sin.  13.  April.  Partus;  solutio  manualis  partis 
placentae.  Synovitis  coxae  sin.  Pleuritis  dextra.  Cystitis 
acuta.     Heilung. 

Hausfrau,  26  Jahre,  aus  Falun,  aufgenommen  im  Lazarett  zu  Falun 
am  25.  März  1903.  Fat  ist  im  allgemeinen  gesund  gewesen;  sie  hatte 
im  Sommer  1898  einen  Anfall  von  Bauchschmerzen,  die  damals  in  der 
linken  Seite  lokalisiert  waren  und  vermutlich  auf  Nierensteinkolik  be- 
ruhten und  14  Tage  lang  dauerten.  Im  übrigen  vollständig  gesund.  Sie 
hat  2  Kinder  geboren  und  ist  wieder  schwanger  seit  21.  Juli  1902.  Am 
21. — 23.  März  hatte  Pat  allgemeines  Unbehagen  im  Bauche  und  auch 
eine  dünne  Stahlentleerung,  doch  war  sie  in  voller  Tätigkeit  und  im 
ganzen  munter  bis  zum  24.  März  abends,  wo  Bauchschmerzen  begannen 
mit  Erbrechen,   es   wurde   aber  nur  sehr   wenig   erbrochen.     Um    8   Uhr 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  357 

«bende  trat  Frost  auf  und  die  Fat  fröstelte  die  ganze  Nacht.  Gegen 
Morgen  lokalisierten  sich  die  Schmerzen  in  der  rechten  Seite.  Der  Puls 
wechselte  am  25.  März  von  OS«— 110.  Die  Temperatur  stieg  allmählich 
bis  38,2  <>  am  Abend.  Die  Uebelkeit  dauerte  fort.  Im  Laufe  des  Tages 
haben  sich  deutliche  Geburtswehen  eingestellt  Am  25.  März  abends  8  Uhr 
war  der  Puls  gut,  um  100.  Schmerzen  nicht  besonders  heftig,  aufier  wenn 
die  Wehen  kamen.  Fat  ist  empfindlich  über  der  rechten  Seite  des 
Uterus  in  gleicher  Höhe  mit  der  Crista  ilei  und  von  da  rückwärts 
bis  in  die  Lendengegend,  wenn  man  von  hinten  nach  vorn  drückt.  Nur 
•eine  fingerdicke  Resistenz  in  der  Höhe  der  Crista  ilei  kann  wahrge- 
nommen werden.  Portio  mitten  im  Becken,  der  Kanal  läßt  2  Finger  pas- 
sieren. Der  Kopf  liegt  vor  und  wird  gefühlt.  Am  25.  März  ^/2l2  Uhr 
nachts  wird  nach  vorhergegangener  Kochsalzinfusion  (1000  g)  und  sub- 
kutaner Anwendung  von  Kampfer  und  Str3'^chnin  die  Laparotomie  längs 
<ler  Crista  ilei  von  der  Spina  ilei  ant  superior  nach  hinten  zu  gemacht. 
Nach  Durohschneidung  des  Peritoneum  kam  seropurulente  Flüssigkeit 
heraus  und  danach  die  geschwollene  Salpinx  und  das  rechte  Ovanum. 
Lateral  davon  traf  man  den  stark  angeschwollenen  Proc.  vermiformis,  der 
auf  die  gewöhnliche  Weise  losgelöst  und  nach  vorhergegangener  proximaler 
Ligatur  mit  dem  Thermokauter  abgebrannt  wurde.  Dann  wurde  die  Am- 
putationsstelle mit  einem  Paar  Catgutnähten  vernäht  Am  Proc.  vermiformis 
fand  man  Beläge,  aber  übrigens  keine  Adhärenzen.  Meeulioe'  Beutel 
wurde  eingelegt.  Der  resezierte  Proc.  vermiformis  war  8  cm  lang,  er- 
schien nicht  perforiert  und  enthielt  3  Fäkalsteine  und  "eine  schleimig- 
blutige Flüssigkeit.  Die  Breite  der  Schleimhaut  war  2^/,  cm,  sie  war 
injiziert  und  mehr  oder  weniger  tief  ulceriert  in  ihrer  ganzen  Länge. 

30.  März.  Zustand  im  ganzen  genommen  befriedigend.  Nach  der  Ope- 
ration stieg  die  Temperatur  nur  2mal  bis  über  38^,  nämlich  am  Morgen  nach 
<ler  Operation  38,5  <>  und  gestern  Abend  38,1  <^;  etwas  Husten,  Expektorat 
blutig.  Am  28.  März  konnte  Pneumonie  im  rechten  unteren  Lappen  kon- 
statiert werden  und  am  29.  März  im  linken  unteren  Lappen.  Reichliche 
Därmen  tleernng  nach  Klystier  gestern  und  heute.  Am  27.  März  trat 
Aufstoßen  von  saurem  Wasser  auf.  Da  man  den  Magen  im  Epigastrium 
gespannt  fühlte,  wurde  er  ausgespült,  wonach  die  Spannung  aufhörte. 
Der  Verband  wurde  am  28.  März  gewechselt.  Es  zeigte  sich  etwas 
Eiter  an  den  Bändern  der  Wunde,  aber  übrigens  war  alles  in  guter 
Ordnung.  Am  30.  März  waren  die  Salpinx  und  das  Coecum  in  die 
Wunde  vorgefallen  und  die  Gaze  war  mit  seröser  Flüssigkeit  durch- 
tränkt nach  einem  1  Stunde  vorher  aufgetretenen  Hustenanfalle.  Auch 
das  Omentum  lag  vor  und  bei  der  Ablösung  desselben  von  der  Bauch- 
wand fand  sich  eine  eiterig  infiltrierte  Stelle  von  der  Qröße  eines 
Zehnpfennigstückes.  Dabei  war  der  vorgefallene  Teil  des  Omentum  im 
ganzen  angeschwollen  und  ödematös,  weshalb  diese  Stelle  nach  vorher- 
gegangener Ligatur  reseziert  wurde.  Nun  wurde  die  vordere  Hälfte  der 
Wunde  mit  2  Beihen  Catgutnähten  vereinigt.  Die  Haut  wurde  nach  vorn  zu 
mit  2  Nähten  genäht,  wodurch  die  Wunde  bedeutend  kleiner  wurde.  In  die 
Peritonealhöhle  wurde  Gaze  eingelegt,  sonst  keine  Tampon  ade.  Schwache 
<3^ebartsschmerzen  kamen  an  jedem  Tage  vor,  wurden  aber  durch  eine 
Morphinmdose  gestillt.  1.  April.  Verbandwechsel;  die  Gaze  war  serös 
durchtränkt,  die  in  die  Bauchhöhle  eingelegte  wurde  herausgenommen 
und  statt  derselben  Xeroformgaze  eingelegt.  Geringe  Wehenschmerzen 
stellten  sich  nach  dem  Verbandwechsel  ein,  wurden  durch  Morphium  be- 
ruhigt   und    kehrten    ein    paarmal    in    der    Nacht    wieder,    wurden    aber 


358  K.  G.  Lennander, 

wieder  durch  Morphinm  gestillt.  Der  allgemeine  Znstand  war  gut.  Am 
2.  April  Resolution  der  Pneumonien.  Am  3.  April  wurde  die  Xeroform- 
gaze aus  der  Bauchhöhle  genommen.  6.  April.  Beim  Verbandwechsel 
zeigte  sich  nicht  ganz  wenig  Eiter  in  den  vordersten  Suturen.  Die 
Suturen  wurden  entfernt,  wobei  Eiter  in  reichlicherer  Menge  herauskam.. 
Es  zeigte  sich,  daß  der  Eiter  teils  subkutan,  teils  unter  den  Muskeln 
auf  dem  Peritoneum  lag.  Am  8.  April  war  die  Absonderung  ganz, 
unbedeutend  und  seropurulent.  Schmerzen  stellten  sich  täglich  2mal 
ein,  waren  aber  meist  nicht  von  schwererer  Beschaffenheit,  jedoch  sind 
schwere  Schmerzen  am  4.  April  und  in  der  Nacht  zum  10.  April  ver- 
zeichnet. Im  allgemeinen  sind  sie  durch  1  cg  Morphium  subkutan  ge- 
stillt worden ;  wenn  sie  schwerer  waren,  durch  25  Tropfen  Opiumtinktur.  • 
Am  10.  April  dauerten  die  Schmerzen  den  ganzen  Tag  fort  und  wichen 
nicht  nach  Morphium.  Am  11.  April  morgens  ^/,3  ühr  begannen  richtige 
Wehen  und  dauerten  bis  6  Uhr  15  Min.  früh  an,  wo  ein  wohlgebildeter, 
3  kg  schwerer  Knabe  geboren  wurde.  Das  Kind  erschien  ausgetragen. 
Die  Placenta  ging  unter  Wehen  um  6  Uhr  45  Min.  früh  ab.  Indessen 
begann  Schüttelfrost  unter  dem  Austreibungsstadium  und  dauerte  bis  gegen 
8  Uhr  vorm.  fort  und  die  Blutung  dauerte  unaufhörlich  fort,  wenn  auch 
nicht  sonderlich  reichlich.  Pat.  bekam  eine  Injektion  von  1  g  Extract^ 
fluidum  secaL  com.  in  das  rechte  Bein.  Etwas  mehr  Blutung  8  Uhr 
15  Min.  vorm.,  wobei  die  Pat.  cyanotisch  wurde ;  die  Blutung  nahm  immer 
mehr  zu,  so  daß  Pat.  8  Uhr  30  Min.  pulslos  war.  Bei  der  Untersuchung 
fand  sich  keine  Läsion  in  der  Vulva,  Vagina  oder  an  dem  Os  uteri.  Der 
Uterus  stand  eine  quere  Hand  über  der  Nabelebene.  Es  wurden  erst 
2  Finger  in  den  Cervikalkanal  eingeführt,  sie  stießen  aber  am  Os  uteri 
intemum  auf  einen  starken  Widerstand  und  Pat.  klagte  über  heftigen 
Schmerz.  Nach  einer  Weile  wurde  ein  3.  Finger  eingeführt,  wonach  die 
Uterushöhle  palpiert  werden  konnte.  Dabei  fühlte  man  an  der  vorderen 
Wand  eine  Blase,  die  entfernt  wurde  und  sich  als  Eihautrest  erwies^ 
der  im  Durchmesser  6  X  ^  c™  ^^^  ^^^  x^i^  einer  ziemlich  dicken  Schicht 
Decidua  bedeckt  war.  Pat.  war  immer  noch  pulslos,  weshalb  eine  intra- 
venöse Kochsalzinjektion  von  1100  g  gemacht  wurde,  nachdem  vorher 
ungefähr  1000  g  subkutan  eingespritzt  worden  waren.  Pat.  bekam  eine 
2.  Injektion  voti  Extract.  fluidum  secal.  corn.  in  das  rechte  Bein.  Darauf 
besserte  sich  der  Zustand  offenbar  und  die  Pat.  konnte  10  Uhr  30  Min» 
vorm.  wieder  in  ihr  Bett  gebracht  werden.  Etwas  Blutung,  obwohl  nicht 
von  Bedeutung,  zeigte  sich  am  15.  April.  Am  13.  April  war  die  Harnblase 
ausgedehnt  Pat.  hatte  zwar  Harn  gelassen,  aber  seit  der  Entbindung 
die  Blase  nie  ganz  entleert.  Der  Harn  wurde  abgezapft  und  die  Blase 
mit  steriler  Kochsalzlösung  ausgespült  am  13.,  14.  und  15.  April.  Dann 
ging  der  Harn  normal  ab,  obwohl  mit  etwas  Brennen.  Am  16.  April 
begann  Pat.  Schmerzen  im  linken  Beine  zu  empfinden,  die  sich  steigerten 
und  bei  Bewegungen  ganz  schwer  waren.  Sie  war  empfindlich  oberhalb 
des  Trochanter  major,  ungefähr  in  der  Ausdehnung  der  Gelenkkapsel  und 
in  der  Fovea  ovalis.  18.  April.  Die  Schmerzen  im  linken  Bein  haben 
abgenommen.  Uterus  eine  Hand  breit  über  der  Symphyse.  21.  April.  Die 
Pat  befindet  sich  relativ  wohl.  Die  Bauchwunde  zieht  sich  zusammen^ 
die  Sekretion  ist  unbedeutend.  Harn  klarer,  wässerig,  jedoch  fortwährend 
getrübt.  An  den  Stellen  am  rechten  Bein,  wo  Seeale  injiziert  worden 
ist,  finden  sich  haselnußgroße  Herde  mit  gangränösem  Zerfall.  30.  ApriL 
Die  Pat.  verläßt  das  Krankenhaus  und  reist  heim. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  359 

Pleuritis  dextra;  am  26.  April  klagte  Pat.  über  heftige  Schmerzen 
in  der  rechten  Seite,  die  bei  allen  Bewegungen  und  bei  der  Atmung  zu- 
nahmen. Keine  Temperatursteigerung.  Bei  genauer  Untersuchung  wird 
keine  vermehrte  Dämpfung  beobachtet,  dagegen  fand  sich  am  27.  April 
abends  eine  (ungefähr  2  Finger  breite)  Dämpfung  rechts  unten.  Bei  der 
Punktion  kam  klares  Serum  in  geringer  Menge  heraus.  Temperatur- 
steigerung am  Abend  und  den  ganzen  folgenden  Tag.  Am  29.  April 
wurde  schwaches  Reibegeräusch  nach  hinten  über  der  Basis  der  rechten 
Lunge  gehört  Die  Schmerzen  verschwinden  und  der  Zustand  ist  gut.  In 
der  rechten  Leiste  sind  die  L3rmphdrüsen  geschwollen  infolge  einer  Lymph- 
adenitis, von  den  Injektionsstellen  für  das  Seeale  ausgehend,  von  denen 
die  oberste  rein  ist,  die  unterste  noch  unbedeutend  sezemiert.  15.  Mai. 
Nach  der  Heimkunft  der  Pat.  ist  die  Temperatur  erhöht  gewesen  bis  zum 
13.  Mai,  wo  sie  in  der  Nacht  ziemlich  intensive  Schmerzen  in  der  rechten 
Seite  hatte,  die  am  Morgen  abnahmen.  Beim  Verbandwechsel  wurden  ein 
paar  Eßlöffel  von  Eiter  am  Verband  gefunden.  Bei  der  Sondierung  fand 
sich,  daß  der  Absceß  der  Eichtung  der  Narbe  nach  hinten  folgte,  aber 
diese  nicht  wesentlich  nach  irgend  eine  Eichtung  überschritt,  weshalb  die 
Eiterbildung  sicherlich  von  einer  Stelle  in  dem  zusammengenähten  Schnitt- 
rande ausging.  Nachdem  der  Absceß  sich  entleert  hatte,  wurde  die  Eiter- 
bildung eben  so  unbedeutend  wie  vorher  und  das  Fieber  verschwand.  Das 
pleuritische  Exsudat  fand  sich  noch,  nahm  aber  täglich  ab.  1.  Juli.  Mutter 
und  Eind  vollständig  gesund. 

Was  die  leichteren  Krankheitsfälle  betrifft,  die  ich  unter  Punkt  2 
meiner  Indikation  1893  aufgenommen  habe,  d.  h.  die  Fälle,  in  denen 
nichts  auf  Sepsis  oder  fortschreitende  Peritonitis  deutet,  so  werden  diese 
derselben  strengen  exspektativen  Behandlung  (vollständige  Enthaltung 
von  Essen  und  Getränk)  unterworfen,  wie  früher  beschrieben  worden 
ist.  Sie  werden  operiert,  wie  ich  1893  schrieb,  wenn  nicht  unter  einer 
regelrecht  durchgeführten  „medizinischen  Behandlung"  (s.  oben)  „eine 
solche  Besserung  eintritt,  die  wir  als  typisch  bei  einer  gutartigen 
Appendicitis  zu  betrachten  pflegen",  oder  sobald  man  Eiterung  um  den 
Appendix  herum  annehmen  kann,  d.  h.  nachdem  man  eine  Resistenz 
wahrgenommen  hat,  die  nicht  verschwindet,  sondern  eher  zunimmt, 
trotz  der  medizinischen  Behandlung.  Spricht  irgend  ein  Symptom: 
Druckempfindlichkeit,  Puls,  Temperatur,  Eiweiß  im  Harn  oder  große 
Leukocytenzahl  im  Blute  für  Verschlimmerung  oder  für  Suppuration, 
so  wartet  man  natürlich  nicht  darauf,  daß  die  Resistenz  an  Größe 
zunimmt,  sondern  operiert  sofort.  Man  muß  sich  daran  erinnern, 
was  besonders  Riedel  sehr  stark  hervorgehoben  hat,  daß,  wenn 
der  Proc.  vermiformis  in  der  Nähe  der  Leber  liegt  oder  zwischen 
den  Dünndärmen  medial  am  Coecum  oder  im  oberen  Teile  des  kleinen 
Beckens,  man  in  manchen  Fällen  keine  Resistenz  fühlen  kann.  Die 
Druckempfindlichkeit  kann  auch  fehlen  oder  unbedeutend 
sein,  sowohl  von  vorne  aus  wie  vom  Rectum,  wenn  kein 
oder  nur  ein  geringer  Teil  der  Parietal  serosa  ergriffen  ist. 


360  K.  G.  Lennander, 

Ich  strebe  danach,  bei  Operationen  während  des  An- 
falles den  Appendix,  wenn  irgend  möglich,  zu  exstirpieren : 

1)  weil  ich  gefunden  habe,  daß  man  nie  sicher  sein  kann,  daß  man 
alle  peritonealen  Eiterherde  eröffnet  hat,  wenn  man  sich  nicht  des 
Appendix  versichert  hat,  und 

2)  weil  ich  in  manchen  Fällen  Rezidive  gesehen  habe,  in  denen  er 
nicht  entfernt  worden  ist. 

Suppurative  Peritonitiden  tief  unten  im  kleinen  Becken  öffne  ich 
womöglich  von  der  Vagina  oder  vom  Rectum  aus  und  stehe  also  in 
diesen  Fällen  von  jedem  Gedanken  ab,  den  Appendix  während  des 
Anfalls  zu  exstirpieren. 

Eine  gefährliche  Lage  des  Appendix,  wie  zwischen  den  Dünndärmen, 
am  Rande  des  kleinen  Beckens  vor  den  Vasa  iliaca  oder  oben  unter 
der  Leber,  sehe  ich  in  jedem  Falle  als  ein  Plus  zu  den  übrigen  Indi- 
kationen für  eine  frühzeitige  Operation  an. 

Die  Gegenwart  von  Eiweiß  im  Harn  (verdünnter  Harn,  Hellers 
Probe)  sehe  ich  stets  als  ein  Warnungszeichen  an,  daß  Gefahr 
im  Anzüge  ist.  Ich  glaube,  daß  ich  meinen  Kollegen  einen  Dienst 
erweise,  wenn  ich  den  Fall  mitteile,  der  es  mir  klar  machte,  daß  das, 
was  wir  Fieberalbuminurie  zu  nennen  pflegten,  ein  Beweis  dafür  ist, 
daß  Toxine  oder  Mikroben  in  das  Blut  übergegangen  sind  und  eine 
akute  Nephritis  hervorgerufen  haben  (Fall  XV). 

Fall  XV.  Mann,  27  Jahre  alt,  No.  330 A,  1893.  Aufgenommen  am 
22.  Okt.,  gestorben  am  1.  Nov.  1893.  Appendicitis  acuta  gan- 
graenosa perforans  cum  periappendicitide  purolenta  pu* 
trida  circumscripta.  22.  Okt.  Laparotomie;  Proc.  vermi- 
formis exstirpiert  nach  ungefähr  60  Stunden.  Tod  am 
1.  Nov.    Akute  Nephritis,  Bronchopneumonien. 

Im  Verlauf  einiger  Jahre  hatte  Pat  hie  und  da  Unbehagen  in  der 
Blinddarmgegend  gefühlt;  im  Herbst  1893  chronische  Diarrhöe.  Am 
19.  Okt.  war  Pat.  am  Tage  vollkommen  gesund,  am  Abend  11  Uhr  war 
plötzlich  Unwohlsein  (auf  der  Strafe)  aufgetreten.  Nach  der  Heimkehr 
fühlte  Pat.  heftige  Schmerzen  um  den  Nabel  herum  und  besonders  nach 
links  von  ihm;  sie  nahmen  bald  einen  sehr  heftigen  Charakter  an  und 
wurden  von  heftigem  Erbrechen  begleitet.  Wiederholte  Gaben  von  Opium 
im  Laufe  der  Nacht  stillten  die  Schmerzen  nicht,  die  am  Morgen  jedoch 
einigermaÜen  durch  Morphium  subkutan  gemildert  wurden.  20.  Okt.  Das 
Erbrechen  hörte  am  Vormittage  auf.  Der  Puls  war  um  80  herum.  Die 
Schmerzen  waren  fortwährend  geringer,  wurden  aber  in  der  Fossa  iliaca 
dextra  lokalisiert,  ausstrahlend  nach  dem  rechten  Beine.  Am  Abend  be- 
sonders heftige  Schmerzen  in  der  rechten  Lendengegend.  In  der  Nacht 
auf  den  21.  Okt.  keine  besonders  heftigen  Schmerzen.  21.  Okt.  Temp. 
38,3  <>,  Puls  90.  Am  Morgen  konnte  Pat.  keinen  Harn  entleeren,  sondern 
er  mußte  katheterisiert  werden  Um  11  Uhr  vorm.  bekam  er  einen  starken 
Schüttelfrost,  der  über  ^/j  Stunde  lang  dauerte.  Danach  Temp.  39,6  •, 
Puls  116.  Kein  Abgang  von  Blähungen  am  letzten  Tage;  der  Bauch  ist 
jetzt  gespannt;    die  Leberdämpfung  ist  in   der  Mamillarlinie   so   gut  wie 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis»  361 

verschwunden.  Am  Nachmittag  Abgang  von  Blähungen  durch  ein  Darm- 
Tohr;  Pat  kann  Harn  lassen.  Am  Abend  fühlt  er  sich  bedeutend  besser. 
Temp.  38,6^,  Puls  112.  Die  Untersuchung  des  Bauches  (auch  vom  Rectum 
aus)  zeigte,  daß  er  nur  in  der  Fossa  iliaca  deztra  empfindlich  war  und 
daß  der  intensivste  Schmerz  hervorgerufen  wurde,  wenn  man  medial  von 
der  Spina  ilei  und  vom  Ligam.  Poupartii  nach  hinten  und  innen  drückte. 
Der  Perkussionsschall  war  über  diesem  Gebiete  überall  tympanitisch,  wes- 
halb man  annehmen  mußte,  daß  das  Exsudat  hinter  dem  Coeoum  lag. 
11  Uhr  abends.  Pat.  mußte  katheterisiert  werden;  der  Harn  gab  deut- 
liche Eiweißreaktion.  In  der  Nacht  vor  dem  22.  Okt.  heftige  Schmerzen 
trotz  Morphium.  Am  22.  Okt.  morgens  Temp.  39,6^,  Puls  114,  später 
vormittags  über  120. 

Operation  am  22.  Okt.,  ungefähr  nach  60  Stunden.  Auch  nach 
eintretender  Narkose  konnte  eine  Resistenz  nicht  sicher  gefühlt  werden. 
Incision  längs  der  Crista  ilei  und  des  äußeren  Teiles  .  des  Ligam.  Pou- 
partii. Pat  war  sehr  fett  und  hatte  eine  sehr  kräftig  entwickelte  Bauch- 
muskulatur. Das  subseröse  Fett  bildete  eine  wenigstens  zentimeterdicke 
Schicht;  zunächst  dem  Peritoneum  war  es  von  Oedem  durchtränkt  Das 
Peritoneum  war  lebhaft  injiziert,  es  wurde  etwas  von  der  Fascia  iliaca 
gelöst  und  man  fühlte  nun  ganz  deutlich  eine  Resistenz  nach  innen  zu 
vom  Peritoneum  parietale.  Dieses  wurde  durchschnitten,  wobei  man  in 
die  freie  Peritonealhöhle  gelangte.  Nachdem  diese  sorgfältig  mit  Kom- 
pressen abgesperrt  worden  war,  wurde  das  Coecum  von  der  hinteren 
Bauchwand  in  der  Fossa  iliaca  abgelöst.  Hierdurch  wurde  eine  ziemlich 
große  Höhle  hinter  dem  Coecum  eröffnet  Sie  enthielt  ein  dünnes, 
schmutzig-graues,  stinkendes  Exsudat  Nach  vielem  Suchen  fand  man  vor 
dem  Muse,  psoas  und  der  Oefäßscheide  ein  zusammengefaltetes  Gebilde, 
das  sich  dann  als  der  distale  Teil  des  Proc.  vermiformis  erwies.  Er  war 
durch  Gangrän  losgetrennt  Man  entfernte  danach  ein  kleineres  Stück  des 
proximalen  Stumpfs.  Weil  die  Herztätigkeit  gegen  den  Schluß  der  Ope- 
ration hin  sehr  schlecht  war  (Aethernarkose)  wagte  man  nicht,  Jodoform- 
gaze in  der  Höhle  anzuwenden,  sondern  man  tamponierte  nur  mit  steriler 
Gaze.    Die  ganze  Wunde  wurde  offen  gelassen. 

Pat.  starb  am  1.  Nov.  Von  seiten  der  Bauchhöhle  oder  der  Wunde 
hatte  er  nie  beunruhigende  Symptome  nach  der  Operation.  Am  26.  Sept 
«in  sehr  langwieriger  Kollapsanfall.  27.  Okt.  Eiweißmenge  im  Harn  sehr 
vermehrt  Am  29.  und  30.  Okt.  Zeichen  von  Pneumonie.  Im  Sputum 
eine  Menge  von  Kapseldiplokokken.  Temp.  am  letzten  Tage  zwischen 
39,6  und  41,6  o.  Puls  126—144. 

Die  Sektion  zeigte  in  der  rechten  Fossa  iliaca  hinter  dem  Coecum 
eine  durch  die  Operation  vollständig  geöffnete  Höhle,  die  einige  gangränöse 
Beste  vom  Proc.  vermiformis  enthielt  Die  Höhle  war  vollständig  abge- 
kapselt gewesen.  Das  retroperitoneale  Bindegewebe  zeigte  keine  krank- 
haften Veränderungen.  Die  übrigen  Teile  der  Bauchhöhle  waren  gesund. 
Es  bestand  hochgradige  akute  Nephritis  und  katarrhalische  Pneumonie 
in  beiden  Lungen. 

Epikrise.  Dieser  traurige  Fall  erinnert  uns  lebhaft  daran,  daß 
man  bei  der  Beurteilung  der  Aussichten  für  einen  operativen  Eingriff  gegen 
eine  Infektion  —  sie  mag  nun  eine  eiterige  Peritonitis,  eine  Bindegewebe- 
phlegmone,  einen  Karbunkel  oder  etwas  anderes  hervorgerufen  haben  — 
nicht  nur  mit  den  Mikroben  und  Toxinen  zu  rechnen  hat,  die  sich  in  der 
Eiterhöhle  u.  s.  w.   finden,   sondern   auch   mit  denjenigen,   die   bereits   in 


362  .  K.  G.  Lennander, 

das  Blut  übergegaDgen  sind.  Es  ist  deutlich,  daß  unser  Fat.  nicht 
die  Kräfte  gehabt  hat,  diese  zu  überwinden.  Es  muß  bemerkt  werden^ 
daß  er  vor  seiner  letzten  Krankheit  keine  Zeichen  von  Nephritis  darbot. 
Alle  Erfahrung  spricht  dafür,  daß  er  hätte  gerettet  werden  können  durch 
eine  Operation  binnen  12 — 24  Stunden  nach  der  ersten  Erkrankung.  Sie 
wurde  ihm  am  20.  Okt.  vorgeschlagen,  aber  er  schlug  sie  ab. 

Die  Albuminurie  zeigt  nicht  an,  daß  Suppuration  vorhanden  ist, 
sie  sagt  nur,  daß  Allgemeininfektion  oder  Intoxikation  besteht.  Man 
kann,  wie  bekannt,  eine  gangränöse  Appendicitis  mit  Suppuration  im 
Peritoneum  haben,  ohne  daß  sich  eine  Spur  von  Eiweiß  im  Harn  zeigt. 
Ein  solcher  Fall  ist  No.  XVI.  Hier  sprachen  indessen  Temperatur, 
Puls  und  vermehrte  Leukocytose  im  Blute  für  Suppuration.    Schon  am 

I.  Tage  betrug  die  Anzahl  der  Leukocyten  23000,  am  2.  Tage  22500. 

Fall  XVL  Mann,  21  Jahre  alt,  No.  241B,  1902.  Appendicitis 
acuta  gangraenosa  perforans  (Fäkalsteine)  cum  periappen- 
dicitide  purulenta  circumscripta.  Laparotomie  mit  Ex- 
stirpation  des  Proc.  vermiformis  nach  ungefähr  43  Stun- 
den. Heilung.  Während  der  Rekonvaleszenz  akute  Lymph- 
adenitis in  der  rechten  Leiste. 

Pat.  war  vorher  gesund  gewesen,  aber  wegen  eines  beweglichen 
Leistenbruches  operiert  worden  am  19.  März.  Am  Abend  des  1.  April 
war  seine  Temperatur  38,8  <'.  der  Puls  83  und  er  fühlte  Schmerzen  in 
der  rechten  Seite  des  Bauches.  Er  erwähnte  das  aber  nicht  eher  als  am 
folgenden  Vormittag,  wo  die  Temperatur  39 '^  und  die  Pulsfrequenz  95 
betrug.  Am  Mittag  war  die  Temperatur  39,6  ^.  Die  Anzahl  der  Leuko- 
cyten betrug  am  Vormittag  23000  und  am  Nachmittag  21500.  Im  Harn 
fand  sich  bei  Hellbrs  Probe  kein  Ring;  keine  Uebelkeit,  kein  Erbrechen. 
Der  Bauch  war  nicht  ausgedehnt,  aber  empfindlich  über  Monros  und 
Mac  Burnbts  Punkte  und  von  da  nach  außen  nach  der  Spina  ilei  hin 
und  in  der  ganzen  rechten  Lumbaigegend,  am  meisten  um  die  Axillar- 
linie. Man  dachte  an  eine  gangränöse  Appendicitis,  aber  äußere  Verhält- 
nisse machten,  daß  die  Operation  bis  zum  3.  April  nachm.  1  ühr  aufge- 
schoben werden  mußte.  Temperatur  und  Puls  am  Morgen  desselben  Tages 
39,2®  und  96.  Puls  vor  der  Operation  105;  Leukocyten  22500.  Die 
Empfindlichkeit  hatte  sich  nach  oben  und  vorn  ausgebreitet,  so  daß  Pat. 
deutlich  die  rechten  Bauchmuskeln  anspannte.  Die  Empfindlichkeit  wurde 
begrenzt  nach  vom  und  oben  von  einer  Linie  vom  Thoraxrand  in  der 
Mamillarlinie  bis  zum  Nabel,  nach  vom  und  unten  von  einer  Linie  vom 
Nabel  bis  zur  Spina  ilei. 

Operation  am  3.  April  1  Uhr  nachm.,  ungefllhr  43  Stunden 
nach  den  ersten  Symptomen  der  Appendicitis.   Schrägschnitt  zwischen  dem 

II.  und  12.  Interkostalnerven.  Das  Peritoneum  parietale  war  ziemlich 
stark  injiziert  und  es  sah  aus,  als  wäre  etwas  vermehrte  Flüssigkeit  im 
Innern  des  Bauches.  Coecum  und  Colon  ascendens  zeigten  in  ihren 
vorderen  Teilen  lebhafte  Gefäßinjektion.  Nach  hinten  zu  fühlte  sich  die 
Wand  derselben  sehr  fest  an  und  war  hier  ganz  rot  von  Farbe.  Als  sie 
von  der  hinteren  Bauchwand  losgelöst  wurde,  kam  stinkender,  schmutziger 
Eiter  in  der  Menge  von  ein  paar  Eßlöffeln  hervor.  Der  Proc.  vermiformis, 
der   etwas    an    seinem  Abgange   vom   Coecum   im   Winkel  gebogen    war^ 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  363 

lag  an  der  hinteren  äoüeren  Seite  des  Coecum  und  des  Colon  ascendens. 
Er  war  gangränös  und  perforiert.  Er  wurde  am  Coecum  exstirpiert.  Die 
ganze  Eiterhöhle  wurde  mit  Jodoformgaze  austamponiert.  Die  ganze 
Wunde  wurde  offen  gelassen  und  mit  steriler  Gaze  ausgefüllt.  Der  ex- 
stirpierte  Appendix  war  ungeftlhr  7  cm  lang,  ^/j  cm  von  der  Spitze  des 
aufgeschnittenen  Organs  fand  sich  eine  Demarkationslinie  in  der  Schleim- 
haut und  hier  begann  eine  Gangrän,  die  sich  über  die  ganze  Schleimhaut 
5  cm  nach  oben  gegen  das  Coecum  hin  erstreckte.  Auf  einem  geringeren 
Umkreise  war  die  ganze  Wandung  gangränös  und  hier  fanden  sich  2  Per- 
forationen. Der  Appendix  war  leer  und  enthielt  nur  einen  geschichteten 
kleineren  Fäkalstein.  Am  nächsten  am  Coecum  war  der  Proc.  vermi- 
formis von  natürlichem  Aussehen. 

Nach  der  Operation  bekam  der  Pat.  sofort  1200  ccm  Kochsalzlösung 
subkutan  und  außerdem  wurde  die  gewöhnliche  Behandlung  angewendet: 
ernährende  E^ystiere;  Darmausspülungen,  0,20  Kampfer  subkutan  alle 
3  Stunden.  Darmgase  und  Faeces  gingen  ab.  23  000  Leukocy ten.  4.  April. 
Darmentleerung  am  Abend.  1000  ccm  Kochsalzlösung  subkutan.  Im  Harn 
kein  Eiweiß.  19600  Leukocyten.  6.  April.  Temp.  afebril.  12000  Leuko- 
cyten.  13.  April.  7500  Leukocyten.  Die  Rekonvaleszenz  wurde  vom 
19.  April  bis  2.  Mai  durch  akute  Lymphadenitis  in  der  rechten  Leiste 
gestört,  mit  recht  hohem  Fieber.  Man  fand  keine  andere  Ursache  als  die 
Infektion  auf  dem  Wege  der  Lymphbahnen  vom  Eiterherde  im  Bauche 
aus.  Die  Drüsengeschwulst  ging  allmählich  ohne  Eiterbildung  zurück. 
Am  24.  April  wurde  die  Wunde  sekundär  genäht.  Am  5.  Juni  wurde 
Pat.  geheilt  entlassen. 

Die  Frage  nach  der  Bedeutung,  die  das  Verhalten  der  Leukocyten 
im  Blute  hat,  ist  von  großem  Interesse  und  bei  weitem  noch  nicht  er- 
ledigt. Man  dürfte  wohl  darüber  einig  sein,  daß  eine  vermehrte  Leuko- 
cytose  bedeutet,  daß  Toxine  in  das  Blut  übergehen  und  daß  der  Körper 
Kraft  hat,  gegen  sie  zu  reagieren.  Es  ist  deshalb  zu  erwarten,  daß 
man  häufig  vermehrte  Leukocytose  in  relativ  gutartigen  Fällen  finden 
wird,  d.  h.  akuten  Appendicitiden  mit  begrenzter  intraperitonealer  Eiter- 
bildung. Vermehrte  Leukocytose  muß  ein  in  prognostischer  Hinsicht 
günstiges  Zeichen  sein. 

Während  des  Jahres  1902  sind  in  der  chirurgischen  Klinik  in  einer 
großen  Anzahl  Fälle  Zählungen  der  Leukocyten  vorgenommen  worden. 
Die  Angaben  hierüber  finden  sich  in  den  Krankenjournalen  der  Dienst- 
tuenden. Nur  aus  einem  Teile  derselben  habe  ich  Zeit  gehabt,  Aus- 
züge zu  machen,  weshalb  die  Zahlen,  die  ich  hier  angeben  werde,  nur 
einen  Teil  der  Untersuchungen  repräsentieren.  In  üebereinstimmung 
mit  CüRSCHMANN,  DA  CosTA,  WASSERMANN,  Heaton  u.  a.  haben  wir, 
wenigstens  bisher^),  gefunden,  daß  eine  Leukocytenzahl  von  über  20000 


1)  Vgl.  Emil  Müllers  Fall  (weiter  unten),  in  dem  sich  eine  Tag  für 
Tag  steigende  Leukocytose  bis  zu  20250—25000  fand  und  keine  ent- 
sprechende Eiterung  an  irgend  einer  Stelle,  weder  bei  der  Operation  noch 
bei  der  Sektion  gefunden  wurde. 


364  K.  O.  Lennander, 

bei  Appendicitis  ein  Zeichen  von  Suppuration  außerhalb  des  Appendix 
ist  In  4  Fällen  von  sogenannten  intraperitonealen  Abscessen  ist  die 
Leukocytenzahl  vor  der  Operation  zu  resp.  23000,  25000,  27000,  2800O 
berechnet  worden.  In  7  zum  Teil  sehr  schweren  Fällen  von  ein-  oder 
mehrkämmerigen  intraperitonealen  Abscessen  ist  jedoch  das  Resultat 
zwischen  16000  und  19000  gewesen.  In  einem  FaUe  von  großem  intra- 
peritonealen Absceß  war  die  Zahl  der  Leukocyten  von  12100 — 12700^ 
in  einem  anderen  Falle  11800.  Imal  (Fall  VI)  11000  bei  Gangrän 
im  Proc.  vermiformis  und  einer  sehr  geringen  fibrinös-purulenten  Peri- 
tonitis zwischen  Proc.  vermiformis  und  Omentum.  In  einem  Falle  von 
recht  großem  Absceß  nahe  am  Promontorium  wurden  nur  4500  Leuko- 
cyten gezählt.  Eine  Leukocytenzahl  von  ungefähr  12000 — 
16000,  ja  sogar  eine  so  geringe  Zahl  wie  4500  darf  uns 
deshalb  nicht  davon  abhalten,  zu  operieren  in  Fällen  von 
Appendicitis  und  begrenzter  Peritonitis,  wenn  ein  oder 
einige  von  den  übrigen  klinischen  Zeichen  es  erfordern. 

In  2  Fällen  von  akuter  Appendicitis  mit  beginnender  freier,  eiteriger 
(putrider)  Peritonitis  war  die  Leukocytenzahl  in  dem  einen  16500— 
17000,  im  anderen  12000—13900  (Fall  XIII).  In  2  FäUen  von  akuter 
Appendicitis  mit  freier  eiteriger  Peritonitis  im  ganzen  Bauche,  den 
linken  subphrenischen  Raum  ausgenommen,  betrug  sie  in  dem  einen 
21000  (Fall  I),  im  anderen  18000.  In  4  Fällen  von  akuter  Gangrän 
des  Proc.  vermiformis,  aber  ohne  Perforation  und  ohne  eiterige  Peri- 
toniüs  betrug  die  Leukocytenzahl  in  FaU  II  16900,  in  Fall  V  12000, 
in  Fall  XI  5200  und  in  Fall  XII  18000.  Die  Fälle  II,  V  und  XII, 
bei  denen  sich  vermehrte  Leukocytose  fand,  zeigten  alle  eine  Spur  von 
Albuminurie,  im  Fall  XI  war  dies  nicht  der  Fall.  Man  sieht,  daß 
diese  Leukocytenzahlen  nicht  viel  Aufklärung  geben.  Besonders  bitte 
ich  den  Leser,  die  Falle  V,  XI  und  XIII  zu  studieren. 

In  4  Fällen,  die  als  katarrhalische  Appendicitiden  oder  Enteritiden 
mit  Appendicitis  und  seröser  Peritonitis  gedeutet  wurden,  ist  die  An- 
zahl der  Leukocyten  7800—10000  gewesen.  Die  Diagnose  ist  in 
3  Fällen  (darunter  Fall  IV)  durch  die  Operation  bestätigt  worden. 

Bei  einem  jungen  Manne,  der  6  Tage  vor  der  Aufnahme  am  5.  No- 
vember 1902  sehr  heftig  erkrankt  war  an  Symptomen,  die  durchaus  der 
Appendicitis  glichen,  wurden  die  Leukocyten  gezählt;  es  fanden  sich 
8200.  Patient  war  deutlich  sehr  schwer  krank  und  das  Krankheitsbild 
erinnerte  bei  der  Aufnahme  am  meisten  an  eine  doppelseitige  Pleuritis 
diaphragmatica.  12  Tage  später  war  es  deutlich,  daß  man  einen  Pyo- 
pneumothorax  subphrenicus  vor  sich  hatte.  Man  fand  bei  der  Operation 
einen  gangränösen  Appendix  und  eine  abgekapselte  eiterige  Periappen-^ 
dicitis,  sowie,  getrennt  von  dieser,  einen  kolossalen  subphrenischen 
Absceß.  Der  Eiter  wurde  auf  2  1  (?)  geschätzt.  Ein  Erguß  in  beiden 
Pleurahöhlen   wurde  später  spontan  resorbiert  und  eiire  Pneumonie  in 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  365 

der  linken  Lunge  hat  sich  allmählich  gelöst,  so  dafi  der  Patient  voll- 
ständig gesund  entlassen  wurde.  Hier  stand  ich  mit  Unrecht  von  einer 
zeitigen  Operation  ab,  hauptsächlich  auf  Grund  des  Verhaltens  der 
Leukocyten. 

Von  2  Fällen  von  tuberkulöser  Peritonitis,  die  unter  der  Diagnose : 
akute  Appendicitis  mit  Eiterbildung  in  das  Krankenhaus  geschickt 
wurden,  betrug  die  Leukocytose  in  dem  einen  9900,  im  anderen,  in 
dem  die  Symptome  auf  Berstung  eines  Abscesses  in  die  freie  Bauch- 
höhle hinein  deuteten,  18000.  In  beiden  Fällen  wurde  operiert.  Der 
letztere  Kranke  wurde  geheilt  und  frei  von  Symptomen  entlassen,  der 
erste  starb  nach  2—3  Monaten  an  Darmperforationen. 

In  3  Fällen  von  perforierendem  Magengeschwür  mit 
eiteriger  Peritonitis  in  der  ganzen  Bauchhöhle  war  die 
resp.  Zahl  der  Leukocyten  7300,  10000,  11600—12000.  Alle  3  Fälle 
endeten  tödlich. 

Von  2  Fällen  von  akuter  eiteriger  (brandiger)  Cholecystitis 
war  die  Leukocytenzahl  in  dem  einen  18000—18400,  im  anderen  12400» 
Im  ersten  fand  sich  eine  beginnende  freie,  seröse  Peritonitis,  im  anderen 
eine  begrenzte  Eiterbildung  um  die  ganze  Gallenblase  herum  mit 
dickem,  stinkendem  Eiter. 

In  einem  Fall  von  Ascites  bei  Krebs  des  Peritoneum  mit 
heftigen  Symptomen,  und  deshalb  als  Peritonitis  eingeschickt,  wurden 
21000  Leukocyten  gefunden. 

In  einem  Falle  von  sehr  ausgebreiteter,  multilokularer  Strepto- 
kokkenperitonitis, von  einer  doppelseitigen  Pyosalpinx  ausgegangen» 
fanden  sich  bei  einer  ersten  Zählung  am  27.  November  (5.,  6.  Krank- 
heitstag) 25000  Leukocyten  und  bei  einer  anderen  am  2.  Dezember 
9  Uhr  30  Minuten  vormittags  9300  und  bei  einer  dritten  an  demselben 
Tage  9  Uhr  abends  15200.  Am  Tage  darauf,  am  3.  Dezember,  wurden 
alle  Eiterhöhlen  entleert  und  unter  Aortenkompression  die  inneren 
Genitalien  vollständig  exstirpiert.  Im  Februar  1902  war  die  Kranke 
geheilt.  Bei  anhaltender  oder,  wie  in  diesem  Falle,  ver- 
mehrter Suppuration  findet  man  also  nicht  immer  an 
einem  späteren  Tage  dieselbe  hohe  Leukocytenzahl  wie 
bei  einer  vorhergehenden  Zählung  (vgl.  Cürschmann).  Bei 
erneuten  Leukocytenzählungen  hat  man  darauf  zu  achten,  daß  das  Blut 
von  derselben  Stelle  des  Körpers  genommen  wird  wie  beim  ersten 
Male  (Fingerspüze ,  Zehenspitze,  Ohrläppchen)  und  daß  es  zu  der- 
selben Tageszeit  und  in  demselben  Verhältnis  zu  einer  vorherge- 
gangenen Mahlzeit  entnommen  wird. 

Es  ist  demnach  klar,  daß  wir  zur  Zeit  eine  brauch- 
bare Aufklärung  durch  die  Zählung  der  Leukocyten  im 
Blute  gerade  in  denjenigen  Fällen  nicht  erhalten,  wo 
wir  sie  am  meisten  brauchen  könnten,  nämlich  bei  zei^ 


366  K.  G.  Lennander, 

tigen  Operationen  wegen  Appendicitis,  wo  es  gilt,  durch 
Exstirpation  eines  kranken  Proc.  vermiformis  einerPeri- 
tonitis  vorzubeugen.  Hier  sind  noch  fortgesetzte  Studien  nötig, 
die  sich  auf  die  Formen  und  Färbungsverhältnisse  der  Leukocyten  er- 
strecken müssen. 

Folgender  Fall  von  Emil  Müller  i)  mahnt  zu  großer  Vorsicht, 
wenn  man  die  therapeutische  Bedeutung  einer  sogar  von  Tag  zu  Tag 
steigenden  Leukocytenzahl  zu  beurteilen  hat.  Er  zeigt,  daß  die  von 
CuRSGHMANN,  Cazin  uud  Gros  ^)  uud  mehreren  anderen  vorher  und 
nun  neuerdings  beim  deutschen  Chirurgenkongreß  im  Juni  1903  aus- 
gesprochene Ansicht,  daß  eine  anhaltend  hohe  und  noch  mehr  eine  Tag 
für  Tag  zunehmende  Leukocytose  ein  sicherer  Beweis  von  Suppuration 
sei,  unrichtig  sein  kann  und  deshalb  therapeutisch  irreleiten  kann. 

Ein  32  J.  alter  Mann  hatte  am  19.  Mai  1903  Schmerz  in  der  Gegend 
der  Cardia,  schlief  dann  gut  in  der  Nacht,  hatte  aber  am  20.  Mai  Schmerz 
in  der  rechten  Seite  des  Unterleibes.  Temperatur  am  20.  Mai  40,0® — 
39,0  0.  Albuminurie.  21.  Mai  Temp.  38,1—37,80,  Puls  92.  Spuren  von 
Eiweiß.  Leukocyten  8100.  22.  Mai  Temp.  37,2—37,80,  kein  Eiweiß  im 
Harn,  Leukocyten  11400.  23. — 30.  Mai.  Temperatur  zwischen  36,7  und 
38,3 0  nur  2mal  über  37,9 <>;  28.  Mai  starke  Eiweißreaktion,  Puls  die 
ganze  Zeit  um  90  herum.  Allgemeinbefinden  gut.  Die  Leukocytenzahl 
ist  von  Tag  zu  Tag  gewesen  13600,  11400,  19200;  26.  Mai  12000 
—20300;  27.  Mai  19400—19600;  28.  Mai  26000,  29.  Mai  26  600—26000; 
30.  Mai  19300.  Auf  Grund  der  Albuminurie,  aber  besonders  auf  Grund 
der  hohen  Leukocytenzahl  wurde  die  Operation  gemacht  am  30.  Mai.  Der 
Proc.  vermiformis  lag  in  frische  Adhärenzen  eingebettet.  Es  fand  sich 
kein  Eiter.  Der  Proc.  vermifornus  wurde  exstirpiert,  die  Bauch  wunde 
geschlossen  ohne  Drainage.  Die  Schleimhaut  in  dem  exstirpierten  Appendix 
war  geschwollen  und  injiziert,  aber  ohne  Zeichen  von  Nekrose,  Abend- 
temperatur 39,7»,  Leukocyten  23  750.  31.  Mai  Temp.  39,2»  Puls  132. 
Anurie.  Abends  Temp.  40,8®,  Puls  180,  Leukocyten  16  600.  Tod  abends 
11  Uhr.  Sektion  am  1.  Juni.  Peritoneum  überall  von  natürlichem  Aus- 
sehen. Amputationsstelle  am  Goecum  verklebt.  Kleine  Lymphdrüsenge- 
schwülste im  Mesenterium  in  der  Nähe.  Nieren  hyperämisch.  Nirgends 
im  Körper  wurde  irgend  welche  Eiterbildung  angetroffen. 

Zuletzt  bitte  ich,  meine  Kollegen  wieder  auf  Riedels  sowie  auf 
Payrs  ^)  und  Sprengels*)  Abhandlungen  über  Frühoperationen  bei 
Appendicitis  hinweisen  zu  dürfen.  Diese  definieren  den  Begriff  „Früh- 
operation"   in  Uebereinstimmung  mit  anderen  deutschen  Autoren  als 


1)  Hospitalstidende,  1903,  No.  25. 

2)  Semaine  m6d.,  1903,  No.  18. 

3)  Payr,  Beiträge  zur  Frage  der  Frühoperation  bei  Appendicitis. 
Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  68,  1902,  p.  306. 

4)  Spbkngbl,  Versuch  einer  Sammelforschung  zur  Frage  der  Früh- 
operation bei  akuter  Appendicitis  nach  persönlichen  Erfahrungen.  Arch. 
f.  klin.  Chir.,  Bd.  68,  p.  346. 


Geheilt 

Todesfälle 

Summe 

230 

2 

232 

227 

57 

284 

39 

8 

47 

9 

9 

21 

1 

22 

9 

7 

16 

188 

49 

237 

11 

11 

165 

19 

184 

12 

30 

42 

Meine  £rfalirtmgen  über  Appendicitis.  367 

Operation  binnen  48  oder  höchstens  60  Stunden  nach  der  Erkrankung. 
Sprengel  hat  in  seiner  Arbeit  eine  wichtige  Statistik,  die  die  Fälle 
umfaßt,  die  im  Verlaufe  von  16  Monaten,  1.  Dez.  1900  bis  31.  März  1902, 
in  den  von  Rehn,  Riedel,  Sghnitzler,  Sonnenburg  und  Sprengel 
geleiteten  Anstalten  operiert  worden  sind. 
Sie  hat  folgendes  Aussehen: 

I.  Operationen  im  freien  Intervall 
II.  Operationen  während  des  Anfalles 
•    a)  Zeitig,  in  den  ersten  2X24  Std. 
davon  ohne  Peritonitis 
mit  begrenzter  Peritonitis 
mit  freier  Peritonitis 
b)  Spät,  nach  den  ersten  2 X 24  Std. 
davon  ohne  Peritonitis 
mit  begrenzter  Peritonitis 
mit  freier  Peritonitis 

Die  Summe  der  Operationen  während  des  Anfalles,  284  mit  57  Todes- 
fällen oder  20  Proz.  Todesfälle,  stimmt  gut  mit  dem  Resultate  der  Klinik 
in  üpsala  von  1888—1902,  283  Operierte  mit  57  Todesfällen  =  20  Proz. 
Todesfälle. 

Ich  glaube,  daß  Frühoperation  als  Bezeichnung  für  eine  binnen 
den  ersten  48,  höchstens  60  Stunden  ausgeführte  Operation  ein  un- 
glücklich gewählter  Ausdruck  ist,  der  den  Begriff  nur  verwirren  kann. 
Frühoperation  darf  nach  meiner  Meinung  nur  eine  solche  Operation 
genannt  werden,  die  ausgeführt  wird,  ehe  es  xu  Peritonitis  gekommen 
ist,  wenigstens  ehe  es  zu  eiteriger  oder  putrider  Peritonitis  gekommen 
ist.    Ihre  Aufgabe  ist  es,  der  Peritonitis  zuvorzukommen. 

Es  kommt  zu  keiner  Verminderung  dieser  20  Proz.  Todesfälle 
nach  Operationen  wegen  akuter  Appendicitis,  bevor  nicht  die  inneren 
Aerzte  gelernt  haben,  daß  sie  in  jedem  irgendwie  ernsten  Falle 
von  Appendicitis  —  es  mag  das  allgemeine  Aussehen  des  Patienten 
oder  irgend  ein  einzelnes  Symptom  sein,  was  beunruhigend  wirkt  — 
präzis  so  zu  handeln  haben,  wie  bei  einem  eingeklemmten  Bruche, 
d.  h.  unverzüglich  einen  Chirurgen  zu  rufen,  oder  noch  besser,  den 
Kranken  so  schnell  als  möglich  in  eine  chirurgische 
Klinik  zu  schaffen.  Hier  können  der  innere  Arzt  und  der  Chirurg 
den  Kranken  gemeinsam  studieren  und  in  aller  Ruhe  die  Bestimmung 
über  eine  eventuelle  Operation  fassen.  Bei  verständiger  Anordnung 
des  Transportes  unmittelbar  nach  der  Erkrankung  habe  ich  auch  bei 
recht  langen  Reisen  keine  Ungelegenheiten  gesehen.  Es  dürfte  von 
großer  Bedeutung  sein,  wenn  der  innere  Arzt  oft  Gelegenheit  hat,  bei 

liitt«U.  a.  d.  OmxgeMflten  d.  Medixtn  n.  Chiraivie.    Xm.  Bd.  24 


368  K.  G.  Lennander, 

der  Operation  seiner  an  akuter  Appendicitis  leidenden  Kranken  gegen- 
wärtig zu  sein. 

Zum  Vergleich  mit  Sprenoels  Tabelle  teile  ich  2  Tabellen  mit, 
die  alle  Fälle  umfassen,  die  in  der  Klinik  in  Upsala  bis  zum  De- 
zember 1902  in  den  ersten  2X24  Stunden  nach  der  Erkrankung  ope- 
riert worden  sind. 

Tabelle  II.  Fälle  aus  der  Gruppe  B,  binnen  48  Stunden  nach 
dem  Auftreten  der  ersten  Symptome  operiert,  zusammengestellt  nach 
der  Anzahl  Stunden,  die  zwischen  dem  Auftreten  der  ersten  Symptome 
und  der  Operation  verlaufen  sind. 

Stunden    0-12    12-24  24—36  36-48 
Heilung       15             4  3 

Tod  0  0  0  1^) 

15  4  4 

Tabelle  III.  Fälle  der  Gruppe  A,  operiert  binnen  48  Stunden  nach 
dem  Auftreten  der  ersten  Symptome,  zusammengestellt  nach  der  Anzahl 
Stunden,  die  zwischen  dem  Auftreten  der  ersten  Symptome  und  der 
Operation  verlaufen  sind. 

Stunden    0—12  12—24    24-36  36-48 

Heilung       3  12             4 

Tod              0  12             6 

3  2             4            10 

Man  sieht,  daß  man  wegen  der  freien,  fortschreitenden 
Peritonitis  sofort  operieren  muß.  Die  Indikation  zur  Operation  ist 
mindestens  ebenso  dringend,  wie  bei  einem  eingeklemmten  Cruralbruch. 
Von  16  Fällen,  die  operiert  worden  sind,  nachdem  die  ersten  12  Stunden 
verflossen  waren,  haben  9  einen  tödlichen  Ausgang  gehabt. 

In  Tabelle  IV  und  V  habe  ich  die  Fälle  von  freier,  fortschreitender 
Peritonitis  zusammengestellt,  in  denen  binnen  48  Stunden  operiert 
worden  ist  vom  Zeitpunkte  einer  diagnostizierten  Berstung  frei  in  die 
Bauchhöhle  entweder  eines  kranken  Proc.  vermiformis  oder  eines  peri- 
appendikulären  Abscesses.  Wir  sehen,  daß  von  9  Fällen,  die  binnen 
24  Stunden  nach  einer  solchen  Perforation  operiert  worden  sind,  nur 
2  gerettet  werden  konnten. 

Tabelle  IV.  Fälle  aus  der  Gruppe  A,  operiert  binnen  48  Stunden 
nach  einem  vor  der  Operation  vermutetem  Durchbruche  eines  mit 
Eiter  gefüllten  Proc.  vermiformis  oder  eines  begrenzten  periappen- 
dikulären  Abscesses,  zusammengestellt  nach  der  Anzahl  Stunden,  die 
zwischen  dem  Zeitpunkte  der  Perforation  und  der  Operation  ver- 
flossen sind: 

1)  Todesursache:  Volvulus  intestini  tenuis,  siehe  oben. 


Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis.  369 

Stunden    0—12    12—24  24—36    36-48 

Heilung       0             2  11 

Tod              16  0             0 

18  11 

Die  Tabelle  V  enthält  dieselben  Fälle  wie  Tabelle  IV.  In  Paren- 
thesen findet  man  die  Zeit  in  Tagen  (T.)  oder  Stunden  (St.)  ausge- 
drückt, die  zwischen  dem  Beginne  der  Erkrankung  und  dem  Auftreten 
der  Perforationssjrmptome  verflossen  ist. 

Es  wäre  also  Zeit  gewesen,  wenigstens  3,  wahrscheinlich  5  oder  6 
von  diesen  7  Kranken  vor  der  todbringenden  Berstung  in  die  freie 
Peritonealhöhle  hinein  zu  retten,  wenn  der  erste  Beginn  der  Krankheit 
beachtet  worden  wäre. 

Stunden       0-12  12—24  24—36         36—48 

Heilung  0  2  (2V„  3  T.)  1  {6%  T.)    1  (8V,  T.) 

Tod  1  (27  T.)    6  (1,  12,  24,  29  St.,  0  0 

S%  5V,  T.) 

Summa  18  11 

Das  Studium  meiner  akuten  Fälle  von  Appendicitis 
hat  mich  gelehrt,  daß  es  am  besten  für  den  Kranken  ist, 
wenn  er  im  Verlaufe  einer  der  nächsten  Stunden  operiert 
wird,  nachdem  man  die  Diagnose  auf  akute  Appendicitis 
hat  stellen  können,  sobald  entweder  sein  allgemeines 
Aussehen  oder  irgend  eines  von  den  Symptomen  Veran- 
lassung zu  Beunruhigung  gibt.  Dieser  Ausspruch  geschieht 
unter  der  Voraussetzung,  daß  es  ein  in  der  Bauchchirurgie  erfahrener 
Chirurg  ist,  der  operiert. 

Findet  sich  keine  Gelegenheit  zu  chirurgischer  Behandlung,  dann 
kann  viel  gewonnen  werden  durch  Bettruhe  und  vollständige  Ent- 
haltung von  Speise  und  Trank  in  der  ersten  Zeit.  Diese 
Behandlung  findet  sich  beschrieben  in  meinen  Aufsätzen  ^om  appendicit*^ 
im  Nord.  med.  arkiv,  1893  (lieber  Appendicitis.  Wien  1895),  und  „ora 
akut  (varig)  peritonit"  (Upsala  läkarefören.  förh.,  N.  F.  VI,  1900—1901. 
—  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  1902.  —  Encyklopädie  der  Chirurgie,  heraus- 
gegeben von  Kocher  und  de  Quervain).  Im  letzteren  Aufsatze  findet 
sich  auch  eine  ausführliche  Darstellung  der  Operationstechnik  und  Nach- 
behandlung bei  den  verschiedenen  Formen  von  Peritonitis. 

Von  einem  Paar  Modifikationen  der  Nachbehandlung  hoffe  ich,  daß 
sie  sich  als  wertvoll  erweisen  werden.  Statt  steriler  Gaze  zur  Tampo- 
nade und  Drainage  der  Bauchhöhle  habe  ich  oft  Dochte  angewendet, 
am  häufigsten  nur  sterile  Dochte,  am  Appendixstumpf  jedoch  nicht  selten 
Jodoformdochte  (Billroth).  In  die  Dochte  lege  ich  1  oder  2  Drain- 
röhre» ein.  Diese  können  nach  1  oder  2  Tagen  herausgenommen  werden, 
nachdem  man  vorher  mit  einer  Wundspritze  Glycerin  mit  oder  ohne 

24* 


370  K  G.  Lennander, 

Zusatz  von  Wasserstoffsuperoxyd  eingegossen  hat.  Danach  beginnt  man 
die  einzelnen  Fäden  der  Dochte  auszuziehen.  Man  beginnt  mit  den 
in  der  Mitte,  zunächst  an  den  Drainkanälen  liegenden  und  zieht  jeden 
Tag  einige  aus.  Damit  die  Fäden  nicht  mit  der  Bauchwunde  und  den 
zunächst  liegenden  Teilen  des  Peritoneum  parietale  verwachsen  sollen, 
werden  sie  mit  einem  abgeschnittenen  Condom  oder  mit  Guttapercha- 
papier umgeben.  Nach  5 — 7  Tagen  sind  gewöhnlich  alle  Dochte 
herausgenommen.  Man  muß  zusehen,  daß  der  Docht  hinlänglich 
grob  und  stark  ist.  Die  Dochte  drainieren  gut.  Durch  die  einge- 
legten Drainrohre  wird  die  Drainage  sehr  locker.  Durch  Eingießung 
von  Wasserstoffsuperoxydglycerin  kann  die  Drainage  noch  wirksamer 
gemacht  werden.  Da  das  Guttaperchapapier  das  Verwachsen  der 
Dochte  mit  der  Bauchwunde  unmöglich  macht,  können  sie  verhältnis- 
mäßig schmerzlos  (oft  fast  ganz  schmerzlos)  herausgenommen  werden. 
Ich  suche  im  allgemeinen  die  schräge  Bauchwunde  medial  von  der 
Spina  ilei  ant.  sup.  zusammenzunähen,  die  Drainage  wird  so  lateral 
von  diesem  Punkte  herausgeleitet.  Das  Peritoneum  und  die  Muskeln 
werden  mit  2  oder  3  Reihen  von  Nähten  aus  gröberem  Catgut  zu- 
sammengenäht Die  Hautwunde  und  das  subkutane  Fett  werden  sekundär 
genäht.  Bei  spät  operierten  Fällen,  hochgradiger  Darmparese  u.  s.  w. 
lasse  ich  stets  die  Bauchwunde  ganz  und  gar  offen.  Mit  Docht  zu 
drainieren,  lernte  ich  in  Billroths  Klinik.  Ich  gab  das  indessen 
nach  einigen  Jahren  auf,  als  ich  ein  schlechtes  Garn  bekommen  hatte; 
manche  Fäden  zerrissen,  als  sie  herausgenommen  werden  sollten.  Man 
muß  auch  genau  darauf  achten,  wie  man  die  Fäden  im  Verhältnis  zu 
den  Därmen  legt.  Es  ist  denkbar,  daß  ein  verirrter  Faden  beim  Heraus- 
nehmen ein  Loch  in  einen  Darm  schneiden  kann.  Den  Docht  mit 
Guttaperchapapier  in  so  großer  Ausdehnung  wie  möglich  in  der  Bauch- 
wunde und  längs  des  parietalen  Peritoneum  zu  umgeben,  ist  nur  eine 
selbstverständliche  Konsequenz  meiner  Studien  über  das  Gefühl  in  der 
Bauchhöhle. 

Nach  den  meisten  Appendicitisoperationen  —  sowohl  während  des 
Anfalles  als  auch  während  des  freien  Intervalles  — -  wird  unmittelbar 
nach  der  Operation,  ehe  der  Patient  aus  der  Narkose  erwacht,  eine 
Eingießung  in  das  Rectum  von  1  I  physiologischer  Kochsalzlösung 
mit  ungefähr  5  Proz.  Traubenzucker  und  3  Proz.  Alkohol  gemacht, 
um  dem  Darme  etwas  Arbeit  zu  geben.  Digitalisinfus,  Liqu.  am- 
monii  anis.  werden  zugesetzt,  wenn  diese  Mittel  für  nötig  erachtet 
werden.  Die  allermeisten  Patienten  behalten  eine  so  große  Eingießung, 
wenn  sie  unmittelbar  nach  der  Operation  gemacht  wird.  Nach  5  bis 
6  Stunden  wird  ein  Darmrohr  in  das  Rectum  eingeführt,  das  gewöhnlich 
keine  Flüssigkeit  enthält,  ein  Beweis  dafür,  daß  wenigstens  der  Teil  der 
Eingießung,  der  im  Rectum  sich  befand,  resorbiert  worden  ist.  Dei^Darm 
wird  danach  mit  mehreren  Litern  Wasser,  Salzwasser  oder  Seifenwasser 


Meine  ErfahruDgen  über  Appendicitis.  371 

ausgespült.  Gewöhnlich  gehen  sowohl  Flatus  als  auch  Faeces  dabei  ab. 
Das  deutet  noch  nicht  darauf  hin,  daß  die  Darmperistaltik  in  Gang  ge- 
kommen ist.  Es  ist  nur  ein  größerer  oder  kleinerer  Teil  des  Colon,  der 
entleert  wird.  Dann  wird  eine  neue  Eingießung  von  physiologischer 
Kochsalzlösung  mit  Traubenzucker  und  Stimulantien  und  Tonids  nach 
Bedarf  gegeben.  Es  ist  gewöhnlich,  daß  die  Patienten  nach  V2  1  oder 
weniger  ^Halt"^  sagen.  Man  fährt  mit  den  Darmausspülungen  und 
Darmeingießungen  jede  fünfte,  sechste  Stunde  fort,  bis  die  Darm- 
peristaltik in  Gang  gekommen  ist.  Am  2.— -4.  Tage  werden  eine  oder 
mehrere  Kochsalz-Traubenzuckereingießungen  oft  mit  solchen  von  Oel, 
mit  oder  ohne  Zusatz  von  Ricinusöl  vertauscht.  Oeleingießungen  haben 
ja  großen  Wert  bei  der  Behandlung  von  Coliten  mit  symptomatischer 
Verstopfung.  Sie  müssen  deshalb  auch  Nutzen  bringen  können  bei  dem 
ähnlichen  Zustande  nach  Operationen.  Das  Oel  bleibt  nicht  im  Rectum 
stehen.  Es  wird  durch  das  ganze  Colon  aufwärts  transportiert  bis 
zum  Coecum  und  möglicherweise  auch  weiter.  Bei  einem  Patienten 
mit  Cökalfistel  sahen  wir  beständig  Oel  aus  der  Fistel  rinnen  in  der 
folgenden  Nacht  oder  am  Morgen,  wenn  er  am  Abend  eine  Eingießung 
von  50—100  ccm  Oel  in  das  Rectum  bekommen  hatte. 

Bei  schwacher  Herztätigkeit  und  drohendem  Lungenödem  haben  wir 
Nutzen  von  subkutanen  Strychnininjektionen  gesehen.  Es  ist  möglich, 
daß  sie  auch  die  Darmperistaltik  vermehren. 

Um  der  Darmparese  entgegenzuwirken,  haben  wir  während  der 
letzten  2  Jahre  in  manchen  Fällen  Physiostigmininjektionen  versucht,  wie 
es  scheint,  nicht  ohne  Nutzen.  Das  Wichtigste  sind  indessen  ohne  Frage 
die  mechanischen  Maßregeln :  locker  sitzender  Verband,  wechselnde  Lage 
im  Bette,  Darmrohr,  Darmeingießungen,  Darmausspülungen,  wenn  nötig 
Magenausspülungen  einmal  oder  mehrere  Male  im  Laufe  eines  Tages. 
Es  ist  notwendig,  mit  allen  zweckmäßigen  Mitteln  dahin  zu  arbeiten, 
daß  sobald  als  möglich  nach  jeder  Bauchoperation  die  natürliche 
Darmperistaltik  in  Gang  kommt,  weil  ja  auf  diese  Weise  am 
sichersten  Verwachsungen  in  der  Bauchhöhle  vermieden 
werden.  Hierzu  ist  es  auch  von  Bedeutung,  daß  die  Bauchserosa 
normal  feucht  erhalten  wird,  d.  h.  daß  dem  Körper  eine  der  Herz- 
tätigkeit und  Diurese  entsprechende  Feuchtigkeitsmenge  zugeführt  wird 
—  per  rectum,  per  os,  subkutan  oder  intravenös,  je  nach  dem  Zu- 
stande des  Patienten. 

Um  den  Zweck  zu  erreichen,  daß  nach  Operationen  in  der 
Bauchhöhle  keine  Verwachsungen  entstehen,  müssen  wir  das 
Peritoneum  während  der  Operation  schonend  behandeln.  Wir  dürfen 
nichts  anderes  in  die  Bauchhöhle  einlegen,  als  Salzwasserkompressen,  und 
mit  nichts  anderem  darin  trocknen.  Jedes  Eingeweide,  das  während  der 
Operation  nach  vorn  in  die  Bauchwunde  zu  liegen  kommt,  soll  sofort 
mit  Salzwasserkompressen  bedeckt  werden.    Wir  dürfen  das  Peritoneum 


372       K.  O.  Lennander,  Meine  Erfahrungen  über  Appendicitis. 

parietale  nicht  vornähen  an  die  Ränder  der  Bauchwunde,  sondern  wir 
müssen  im  Gegenteil  während  der  Operation  die  Parietalserosa  sich  so 
weit  als  möglich  zurückziehen  lassen.  Bei  der  Bauchnaht  sollen  wir 
die  beschädigten  Ränder  der  Serosa  womöglich  extraperitoneal  legen. 
Das  Omentum  muß  man  im  allgemeinen  nicht  hinter  der  Bauchwunde 
ausbreiten.  Die  Dünndärme  sollen  sich  da  frei  bewegen  können.  Sie 
verwachsen  nicht  leicht  mit  der  lädierten  Bauchwand.  Anders  verhält 
es  sich,  wenn  die  vordere  Parietalserosa  in  größerer  Ausdehnung  als 
die  Bauchwunde  beschädigt  oder  exstirpiert  worden  ist  Da  ist  es 
am  besten,  das  Omentum  mit  feinem  Catgut  an  die  vordere  Bauch- 
wand zu  nähen,  so  daß  alle  geschädigte  Parietalserosa  vom  Omentum 
bedeckt  oder  ersetzt  wird.  Hierbei  achte  man  auf  die  Lage  des 
Colon!  Im  Peritoneum  parietale  und  im  Omentum  dürfen  wir  nur 
leicht  resorbierbaren  Catgut  versenken. 


Aus  dem  pharmakolog.  Institute  in  Heidelberg  (Prof.  R.  Gottlieb). 


Nachdruck  verboten. 


XVL 

Hat  die  Gelatine  einen  Einfluss  auf  die 
Blutgerinnung? 

Kritische  nnd  experimentelle  Untersuchungen. 

Von 
Dr.  Hermann  Ejtposi, 

Privatdozent  und  Assistent  der  chirurgischen  Klinik. 


Die  zahlreichen  Mitteilungen  über  glückliche  Erfolge  bei  Anwendung 
der  Gelatine  in  Fällen  unstillbarer  Blutungen  aller  Art  beweisen  die 
Bedeutung  eines  derartigen  Mittels,  denn  gar  mancher  Kranke,  bei 
dem  eine  schwere,  chirurgisch  nicht  zugängliche  Blutung  auf  keine 
Weise  zum  Stehen  gebracht  werden  konnte,  verdankt  der  Gelatine 
sein  Leben.  Dennoch  fehlt  es  nicht  an  Stimmen,  welche  die  Wirkung 
überhaupt  leugnen  und  dem  nach  ihrer  Ansicht  zweifelhaften  Erfolge 
die  großen  Gefahren  der  Embolie,  der  Tetanusinfektion  u.  a.  entgegen- 
halten. 

Es  hängt  dieser  Widerspruch  wohl  vor  allem  damit  zusammen,  daß 
uns  noch  jede  Kenntnis  von  der  Wirkungsweise  der  Gelatine  abgeht, 
und  daß  es  bisher  nicht  gelungen  ist,  die  Wirkung  im  Tierexperimente 
einwandsfrei  zu  demonstrieren.  Aber  selbst  die  skeptischesten  Beob- 
achter können  die  Fülle  der  günstigen  klinischen  Erfahrungen  nicht 
hinwegleugnen;  dazu  sind  diese  zu  zahlreich  und  die  Autoren  zu  ein- 
wandsfrei,  als  daß  man  in  allen  Fällen  von  „Beobachtungsfehlem^ 
sprechen  oder  das  Aufhören  der  Blutung  auf  den  Kollaps  schieben 
könnte,  in  dem  bekanntlich  Blutungen  spontan  zum  Stehen  kommen. 

Klinisch  steht  daher  die  Wirkung  der  Gelatine  fest;  um  so  auf- 
fallender mußte  es  sein,  daß  uns  das  Experiment  am  Tier  so  inkon- 
stante Resultate  ergab.  Es  ist,  wie  wir  sehen  werden,  bisher  von 
keinem  Experimentator  einwandsfrei  nachgewiesen  worden,  daß 
Gelatine  im  Tierversuche  wirkt.  Es  schien  daher  eine  dankenswerte 
Aufgabe,  der  Gelatinefrage  nochmals  näherzutreten,  die  Experimente 
historisch  und  kritisch  zu  prüfen  und  neue,  beweisende  an  ihre  Stelle 
zu  setzen. 


374  Hermann  Kaposi, 

Meine  Versuche  sind  im  Heidelberger  pharmakologischen  Institute 
ausgeführt,  und  ich  bin  Herrn  Prof.  Gottlieb,  sowie  Herrn  Dr.  Jakobt 
für  ihre  vielfachen  Ratschläge  zu  größtem  Danke  verpflichtet. 

Wenn  wir  zuerst  die  kasuistischen  Erfahrungen  der  Klinik  Revue 
passieren  lassen,  so  wird  uns  diese  Arbeit  durch  das  ausgezeichnete 
Sammelreferat  von  v.  Boltenstern^  wesentlich  erleichtert.  Für  die 
therapeutische  Anwendung  am  Menschen  kommt  selbstverständlich  nie- 
mals die  intravenöse,  sondern  nur  die  örtliche  Applikation  der  Gelatine 
in  Anwendung,  dann  die  Darreiqjhung  per  os  (per  rectum)  und  die  sub- 
kutane Injektion,  v.  Boltenstern  folgend,  zähle  ich  von  bekannt  ge- 
wordenen Fällen  auf^): 

1.  Oertliche  Anwendung. 

Am  häufigsten  Stillung  von  Nasenbluten  durch  Gaze,  die 
mit  Gelatine  getränkt,  und  mit  der  die  Nase  tamponiert  wurde,  und 
zwar  mit  „fast  augenblicklichem  Erfolge,  selbst  wenn  Hämophilie,  Leuk- 
ämie oder  Arteriosklerose  zu  Grunde  lag". 

Ferner  vaginale,  intrauterine,  hämorrhoidale  Blutungen, 
Blutungen  nach  Zahnextraktionen,  Schnittwunden  der  Finger, 
postoperative  Larynxblutung,  Gelenkblutung  bei  einem  Hä- 
mophilen, Blasenblutungen,  endlich  auch  eine  Nachblutung 
aus  der  Leber  nach  Punktion  eines  Leberabscesses. 

Im  Tierexperiment  wurden  parenchymatöse  Blutungen  aus  Leber- 
und Milzwunden  durch  einfache  Applikation  10-proz.  Gelatinelösung 
binnen  2  Minuten  gestillt 

2.  Innerliche  Anwendung. 

Per  os  mehrmals  bei  Magenblutungen  infolge  Ulcus  rotundum ; 
bei  einem  Hämophilen  mit  Nierenblutungen  gab  Hahn^) 
200—250  g  Gelatine,  worauf  die  Blutung  sofort  stand.  Hesse*)  gab 
bei  einem  hereditär  belasteten  8-jähr.  Knaben  mit  Hämophilie  täglich 
200  g  einer  10-proz.  Gelatinelösung  mit  Beimengung  von  Himbeer-  oder 
Zitronensaft.  Die  Darreichung  mußte  6  Monate  lang  erfolgen  (==  36  kg 
Gelatine  1);  eine  vorhergegangene  nur  4-wöchentliche  Kur  war  erfolglos 
geblieben. 

Bei  Hämorrhoiden,  bei  Melaena  neonatorum  wurde  teils  per 
os,  teils  per  rectum  erfolgreich  Gelatine  gegeben. 


1)  BoLTENSTBRN,  Uebsr  die  Behandlung  innerer  Blutungen  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  Gelatineanwendung.  Würzburger  Abhandl.^ 
Bd.  3,  Heft  5. 

2)  In  Bezug  auf  Details  sowie  die  Namen  der  Autoren  muß  auf  die 
genannte  Arbeit  verwiesen  werden. 

3)  Hahn,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1900,  No.  42. 

4)  Hesse,  Therapie  der  Gegenwart,  1902,  9. 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  375 

Im  ganzen  wurde  die  Gelatine  innerlich  selten  gereicht,  weil  sie 
im  Magen  so  verändert  wird,  daß  ihre  hämostatische  Wirkung  kaum 
zur  Geltung  kommen  dürfte. 

Um   so  häufiger  sind  die  Mitteilungen  über  günstige  Erfolge  bei 

3.  subkutaner  Anwendung. 

Zahlreich  sind  die  Berichte  der  Kliniken  über  den  Effekt  bei  Lungen - 
blutungen,  und  zwar  auch  bei  schweren  profusen  und  wiederholten 
Blutungen ;  „selten  waren  mehr  als  eine  Injektion  erforderlich*'  (Cürsch- 
MANN,  Klemperer)  bei  Haematemesis  (Curschmann  u.  a.),  bei 
typhösen  und  anderen  Darmblutungen,  mehreren  Fällen  von 
Melaena  neonatorum,  bei  Nieren-  und  Nierenbeckenblu- 
tungen. Ebenfalls  zahlreich  sind  die  Erfolge  bei  den  Bluterkrankungen^ 
bei  Hämophilie,  bei  Purpura  haemorrhagica,  cholämi- 
sehen  Blutungen  und  überhaupt  dort,  „wo  es  sich  um  profuse, 
protrahierte,  oft  sich  wiederholende  Blutungen,  namentlich  auf  der 
Grundlage  einer  Blutdissolution  handelt**. 

Auch  an  unserer  Klinik  hatten  wir  mehrmals  Gelegenheit,  Gelatine 
zur  Blutstillung  zu  benutzen,  und  zwar  fallen  die  meisten  Fälle  in  die 
Zeit  vor  der  Einführung  der  Gelatina  sterilisata  Merck.  Bei  lokaler 
Applikation,  so  z.  B.  in  wenigen  Fällen  von  Epistaxis,  dann  bei  einem 
stark  blutenden  Ulcus  carcinomatosum  des  Ohres  i¥ar  ein  Erfolg  unver- 
kennbar. 

Die  subkutane  Anwendung  erfolgte  bei  Kranken  mit  schweren 
cholämischen  Blutungen;  nur  bei  einem  dieser  ist  ein  sicherer  Erfolg 
zu  konstatieren  gewesen,  bei  den  übrigen  war  der  Erfolg  zweifel- 
haft und  der  Exitus  trat  ein;  allerdings  waren  es  stets  hochgradig 
kachektische  Individuen,  die  viele  Monate  ikterisch  gewesen  waren. 

Der  positive  Erfolg  betraf  eine  55-jähr.  Dame,  die  seit  Y2  Jahre 
intensiv  ikterisch  war,  und  die  mehrere  von  Schüttelfrösten  begleitete 
Gallenkoliken  gehabt  hatte.  Bei  der  Operation  wurde  die  Gallenblase  ver- 
wachsen gefunden,  eine  größere  Anzahl  von  Steinen  extrahiert  8  Tage 
nach  der  Operation  trat  eine  schwere  Nachblutung  auf,  es  blutete  aus  dem 
Netz  an  mehreren  Stellen ;  diese  wurden  umstochen,  dann  2mal  an  diesem 
Tage  200  g  2-proz.  (gewöhnlicher)  Gelatine  injiziert  (also  8  g  Gelatine). 
Die  Blutung  stand  und  wiederholte  sich  nicht  mehr. 

Gutes  Resultat  hatten  wir  ferner,  und  zwar  mehrmals,  in  dem- 
selben Falle  von  Hämophilie. 

Es  betraf  ein  14-jähr.  Mädchen,  hereditär  belastet,  das  eben  die  Periode 
bekommen  hatte;  die  1.,  2.  und  B.  war  sehr  stark,  die  4.  aber  so  heftig, 
und  zugleich  von  Nasenbluten  begleitet,  daß  Fat.  in  die  Klinik  gebracht 
wurde.  Das  Mädchen  war  hochgradig  ausgeblutet,  Puls  kaum  fühlbar. 
H&moglobingehalt  betrug  20  Proz.,  keine  Leukocytose.  Es  trat  am  Auf- 
nahmetage Nasenbluten  und  Vaginalblutung  auf.  Neben  Nasen-  und  Vaginal- 
tamponade wurde   in  den  nächsten  Tagen  200  com  2-proz.  Gelatinelösung 


376  Hermann  Kaposi, 

subkutan  injiziert,  daneben  aber  Seeale  comutum  gegeben,  worauf  nicht 
nur  die  Blutung  stand,  sondern  Fat.  sich  rasch  so  erholte,  daü  sie  nach 
4  Wochen  wesentlich  gekräftigt  entlassen  werden  konnte.  Zu  Hause  wurde 
sie  nicht  weiter  mit  Gelatine  behandelt.  Nach  2  Monaten  kam  sie  wieder 
wegen  einer  heftigen  Menstrualblutung.  Nebst  Seeale  comutum,  Tampo- 
nade, gab  man  2mal  100  com  2-proz.  Lösung  von  Gelatine.  Wieder  stand 
die  Blutung,  Fat.  wurde  gebessert  entlassen.  Sie  starb  nach  Y,  J^^^ 
zu  Hause  an  profuser  Blutung  bei  der  wieder  eingetretenen  Feriode. 
Aerztliche  Hilfe  war  aber  erst  am  letzten  Tage  eingeholt  worden. 

Endlich  war  der  günstige  Erfolg  unverkennbar  bei  einer  schweren, 
mehrmals  sich  wiederholenden  Nachblutung  nach  gewöhnlicher  Eol- 
porrhaphie. 

Es  handelte  sich  um  eine  32-jähr.  Frau,  die  zwar  anämisch  war,  in 
deren  Anamnese  aber  von  Hämophilie  nichts  nachgewiesen  werden  konnte. 
Nach  einem  Fartus  war  ein  Dammriß  zurückgeblieben,  der  nicht  genäht 
wurde,  und  der  nach  einer  weiteren  Geburt  zum  Totalprolaps  mit  Cysto- 
cele  nnd  Bectocele  führte.  Die  sonst  ungestörte  Operation  bestand  in 
vorderer  und  hinterer  Kolporrhaphie  mit  Dammplastik.  Am  2.  und  4.  Tage 
post  operationem  trat  heftige  Nachblutung  auf,  die  aber  auf  Gelatineein- 
spritzung (2mal  100  ccm  2-proz.)  stand.  Infolge  der  Vaginaltamponade 
waren  die  Nähte  geplatzt,  und  so  mußte  nach  14  Tagen  Sekund&maht 
gemacht  werden.  Aber  auch  nach  dieser  trat  heftige  Nachblutung  auf. 
In  3  Tagen  2mal  je  200  g  2-proz.  Gelatinelösung  stillte  die  Blutung 
definitiv. 

Die  Gelatina  sterilisata  Merck  wurde  seit  1  Jahr  vereinzelt  be- 
nützt. Lokal  war  ihre  Wirkung  ziemlich  identisch  der  früher  ange- 
wandten gewöhnlichen  Gelatine.  Subkutan  ist  mir  speziell  ein  Fall 
von  schwerer  Magenblutung  in  Erinnerung,  die  bei  Lösung  des  Mürphy- 
Knopfes  nach  Gastroenterostomieoperation  auftrat,  und  die  nach  Injektion 
von  2  Tuben  (=»  8  g)  Erfolg  zu  haben  schien.  Allerdings  war  schon 
schwerer  Kollaps  eingetreten.  Im  ganzen  sind  unsere  Erfahrungen  mit 
der  genannten  Gelatina  sterilisata  nicht  allzu  groß. 

Der  Erfolg  bei  der  Behandlung  der  Aneurysmen  ist  ein  sehr  zweifel- 
hafter und  soll  hier  nicht  weiter  besprochen  werden. 

Diese  vielen,  sicher  schon  mehrere  Hundert  Fälle  betragenden  kli- 
nischen Beobachtungen  beanspruchen  unser  ganzes  Interesse  und  lassen 
einen  Zweifel  an  ihrer  Richtigkeit  höchstens  bei  manchem  Einzelfalle 
berechtigt  erscheinen.  Für  die  Tatsache  der  Wirksamkeit  der  Gelatine 
spricht  auch  seine  Geschichte.  Es  ist  ein  „altes"  Blutstillungsmittel. 
Nach  v.  BoLTENSTERN  soll  schou  in  den  ältesten  Zeiten  der  Leim  als 
hämostatisches  Mittel  gegolten  haben:  „Im  Anfang  des  vergangenen 
Jahrhunderts  ist  diese  Verwendung  des  Leimes  empfohlen  worden. 
Hecker  (1888)  rühmte  nach  Zibell  eine  Auflösung  von  Hausenblase 
bei  Nasenbluten  und  Mutterflüssen.  Osiander  bezeichnet  als  Volks- 
arzneimittel bei  Blutungen  nach  Verwundungen  den  warmen  Tischler- 
leim, welcher  auf  die  blutende  Wunde  gestrichen  wird." 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  377 

Von  Interesse  ist  auch,  was  wir  von  der  Verwendung  der  Gelatine 
in  Japan  und  China  lesen  [ich  zitiere  wörtlich]^). 

„Die  Anwendung  der  Gelatine  als  Haemostaticum  ist  nicht  neueren 
Datums.  In  der  europäischen  Literatur  findet  sie  sich  erst  im  Anfange 
und  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  erwähnt;  in  China  dagegen  ist 
schon  im  Anfange  des  3.  Jahrhunderts  n.  Chr.  Gelatine  als  Haemo- 
staticum vielerlei  in  Gebrauch.  So  findet  sich  in  dem  —  wenigstens 
in  China  und  Japan  —  berühmten  Buche  San-Han-Ron  (eine  Art  von 
Pathologie  und  Therapie)  des  damals  in  China  angesehenen  Arztes 
Chian  Chiyun  Kiton,  zwischen  204  und  219  n.  Chr.  chinesisch  ge- 
schrieben, Gelatine  als  Haemostaticum  bei  Blutungen  aller  Art  empfohlen. 
Auch  in  der  japanischen  alten  Literatur  finden  sich  viele  Mitteilungen 
Qber  dasselbe  Thema. 

Da,  wie  bekannt,  die  japanische  Medizin  im  Altertum  aus  China  ein- 
geführt wurde,  so  ist  natürlich  in  Japan  die  Gelatine  als  Haemostaticum 
etwas  später  in  Gebrauch  genommen,  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  seit 
ca.  1000  Jahren.  Die  Gelatine  heißt  chinesisch  0-Kiu,  japanisch  Nikawa 
(d.  h.  Lederdekokt).  Solcher  Nikavasorten  gibts  in  Japan  viele;  ge- 
wöhnlich bereitet  man  sie  aus  Bos  taurus  (Bindsleder). 

In  China  und  Japan  war  die  subkutane  und  intravenöse  Anwendung 
unbekannt;  hauptsächlich  war  die  Gelatine  in  Wasser  gelöst,  seltener  in 
Pulverform  angewandt,  z.B.  zu  Einblasungen  bei  Nasenblutungen. 

Chinesen  und  Japaner  brauchten  sie  bei  Lungenblu- 
tnn gen  (Hämoptoe),  Magenblutung,  Blutungen  aus  dem  Uro- 
genitalapparate, der  Gebärmutter  (besonders  bei  Abortus),  dem 
D a r m  mit  dem  Mastdarm,  bei  Anämie,  und  zwar  nicht  rein,  sondern 
meist  mit  verschiedenen  Droguen  versetzt,  in  ziemlich  großen  Dosen. 
So  z.  B.  Gelatine  und  Coptis  brachypetala  etc.,  Pulver  aus  dem  Hörn 
des  Nashorns  .  .  . 

Außerdem  brauchen  die  Chinesen  und  Japaner  die  Gelatine  als 
Stärkungs-  und  Blutbereitungsmittel,  ähnlich  dem  Eisen  .  .  .'' 

Das  lange  vergessene  Mittel  hat  dann  1896  Carnot  zur  lokalen  An- 
wendung empfohlen.  Im  gleichen  Jahre  haben  Dastre  und  Floresgo 
ihre  Experimente  über  intravenöse  Einspritzung  veröffentlicht  und  1897 
haben  Langereaux  und  Paulebco  Versuche  über  subkutane  Applikation 
publiziert.  Aber  wie  bereits  eingangs  kurz  erwähnt  wurde,  fanden  die 
Resultate  der  Tierexperimente  vielfachen  Widerspruch ;  bald  folgten  be- 
stätigende, bald  ganz  negative  Veröffentlichungen,  und  so  kam  es,  daß 
eine  Reihe  von  Forschern  auf  Grund  der  Tierversuche  trotz  der  sicher- 
gestellten Wirkung  bei  klinischen  Fällen,  der  Gelatine  jeden  beschleu- 
nigenden Einfluß  auf  die  Blutgerinnung  absprachen. 


1)  Dr.  Y.  MiuRA,  Beiträge  zur  Geschichte   der  Gelatine    als   Haemo- 
staticum.    Centralbl.  f.  Chir.,  1902,  No.  9. 


378  Hermann  Kaposi, 

Wie  ist  nun  diese  Differenz  der  klinischen  Tatsachen  niit  dem  Tier- 
experiment zu  deuten? 

Ich  hoffe  in  folgendem  eine  befriedigende  Erklärung  geben  zu 
können,  muß  aber  dazu  auf  die  ersten  Versuche  von  Dastre  und 
Floresco,  sowie  auf  die  Experimente  der  anderen  Forscher  etwas  ge- 
nauer eingehen. 

Carnot  hatte  zwar  schon  1896  die  Gelatine  als  lokales  Haemo- 
staticum  wieder  empfohlen,  fand  aber  zunächst  keine  weitere  Beach- 
tung. Dastre  und  Floresco,  welche  den  eigentlichen  Anstoß  zum 
weiteren  Ausbau  der  Gelatinefrage  gaben,  machten  nun,  wie  das  Studium 
der  Originalarbeiten  ^)  lehrt,  die  Entdeckung  von  der  Wirksamkeit  der 
Gelatine  bei  intravenöser  Anwendung  nur  zufällig.  Nach  Abschluß 
gleich  zu  erwähnender  Vorstudien  über  natürliche  und  künstliche  Gela- 
tineverdauung  wollten  sie  den  Einfluß  der  Gelatine  auf  den  Stoffwechsel 
untersuchen  und  machten  zu  diesem  Zwecke  unter  anderem  Gelatine- 
injektionen in  die  Blutgefäße.  Sie  suchten  dann  in  den  diversen 
Exkreten  des  Tieres  nach  der  Gelatine  oder  ihren  Stoffwechselprodukten. 
Bei  diesen  Einspritzungen  beobachteten  sie  nun  das  fast  momentane 
Gerinnen  des  Blutes  und  verfolgten  dieses  Phänomen  in  zahlreichen 
Versuchen. 

Nicht  allein  die  Gerinnungsversuche,  auch  die  genannten  Vorver- 
suche sind  für  unsere  Frage  von  großem  Interesse.  In  der  erstge- 
nannten Arbeit  verfolgten  Dastre  und  Floresco  den  Zweck,  einen 
Vergleich  anzustellen  zwischen  der  natürlichen  und  der  künstlichen 
Gelatineverdauung  besonders  beim  Zusammenbringen  der  Gelatine  mit 
neutralen  Salzlösungen.  Die  Eigenschaften  der  Gelatine  werden  zu- 
nächst besprochen.  Sie  erstarrt  nur  in  mehr  als  1-proz.  Lösung.  Ich 
zitiere  wörtlich :  „Die  Lösung  ist  um  so  starrer,  je  konzentrierter  sie  ist, 
und  der  Erstarrungsprozeß  geht  um  so  rascher  vor  sich,  je  höher  pro- 
zentig  die  Lösung  ist,  so  daß  man  ungefähr  aus  der  Erstarrungszeit 
einen  Schluß  auf  den  Eonzentrationsgrad  der  Lösung  ziehen  darf.  Z.  B. 
eine  1-proz.  Lösung  von  40®  auf  22®  abgekühlt,  erstarrt  erst  in  50  bis 
70',  eine  2,5-proz.  in  40—50',  eine  5-proz.  in  20—30'. 

Dieses  Erstarren  bei  Abkühlung  einer  Gelatinelö- 
sung ist  das  für  uns  sinnfälligste  und  zugleich  charak- 
teristische Symptom  der  Gelatine.  Geht  die  Gelatine 
Modifikationen  ein,  so  ist  das  auffallendste  Zeichen  der 
Spaltungsprodukte  der  Verlust  der  Erstarrungsfähig- 
keit (la  perte  de  la  facult6  de  se  gölifier).  Dastre  und  Floresco 
erörtern  weiter,  daß  man  solche  Modifikationen  aus  der  Gelatine  er- 
halten könne 


1)  Dastrb  u.  Floresco,  Arch.  de  physiol.,  1895,  p.  701,  und  ebenda 
1896,  p.  402. 


Hat  die  G-elatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung? 


379 


1)  durch  MagenverdauuDg ; 

2)  Pankreasverdauung; 

3)  durch  Fäulnis; 

4)  Einfluß  von  Mikroorganismen; 

5)  hohe  Temperaturen. 

Die  Produkte,  welche  durch  die  vorgenannten  Prozeduren  aus  der 
Gelatine  entstehen,  lassen  sich  in  völlige  Analogie  bringen  mit  den 
Spaltungsprodukten  der  sonstigen  Eiweißkörper.  Dastre  und  Floresgo 
stellen  folgende  Tabelle  auf: 


Gelatine 

Proto- 
gelatose 

Deutero- 
gelatose 

Gelatine- 
Peptone 

entarrbar 

nicht  e. 

nicht  e. 

nicht  e. 

wird  durch  Ammonenlfat  gefällt 
wird  durch  gesättigte  Kochsalzlösung 

gefäUt  durch  Kochsalz  +  30-proz. 

Essigsäure 
gefäUt  durch  Platinchlorür 

do. 

idem,  aber  un- 

Yollständig 

idem 

idem 

do. 
nicht  gefällt 

nicht  gefönt 

nicht  gefäUt 

do. 
nicht  gefällt 

nicht  gefallt 

nicht  gefällt 

Es  gelingt  also,  die  Gelatine  von  ihren  nicht  erstarrenden  Spaltungs- 
produkten zu  differenzieren.  Von  aUen  Methoden,  solche  Spaltungs- 
produkte zu  erzielen,  interessiert  uns  am  meisten  Punkt  5,  die  Ein- 
wirkung hoher  Temperaturen,  denn  durch  solche  sterilisieren  wir  ja 
die  Gelatine  vor  ihrer  Anwendung  zur  Blutstillung. 

Zu  diesem  Punkt  5  bemerken  Dastre  und  Floresco  wörtlich: 
^11  sufiit  de  chauffer  un  instant  la  Solution  de  g^latine  a  la  temp4rature 
de  140®  en  tube  scell6  ou  dans  l'autoclave  pour  lui  faire  perdre 
döfinitivement  la  facult^  de  se  prendre  en  gel6e  par  le  refroi- 
dissement.  La  mgme  chose  se  produit  (d  apr^s  Hofpmeister)  lorsque 
Ton  maintient  ä  rebullition  la  Solution  de  g^latine  ä  la  pression  ordi- 
naire,  pendant  24  heures." 

Also  Erhitzen  der  Gelatine  bei  über  100®  im  Autoklaven,  oder 
Kochen  durch  24  Stunden  verändert  die  Gelatine  zur  nicht  erstarrbaren 
Gelatose.  Es  drängt  sich  wohl  von  selbst  die  Frage  auf,  ob  dieser 
Mangel  der  Erstarrungsfähigkeit  von  Einfluß  auf  die  Eigenschaft  der 
Gelatine  ist,  die  Blutgerinnung  zu  beschleunigen,  und  ich  werde  noch 
zu  zeigen  haben,  daß  dies  in  der  Tat  der  Fall  ist. 

Auf  den  zweiten  Teil  der  Arbeit  von  Dastre  und  Floresgo, 
worin  sie  zeigen,  daß  gewisse  Neutralsalze  ähnlich  der  Verdauung  auf 
Gelatine  wirken  und  sie  in  Gelatose  verwandeln,  so  daß  sie  geradezu 
von  einer  Digestion  saline  sprechen,  brauche  ich  als  nicht  hierher- 
gehörig nicht  einzugehen.  Dies  war  die  Vorarbeit  zu  Stoffwechsel- 
untersuchungen, in  deren  Verlaufe  Dastre  und  Floresco  auf  die 
rapide  Blutgerinnung  bei  intravenöser  Einspritzung  aufmerksam  wurden. 
Diese  Entdeckung  wurde  nun  eifrig  verfolgt  und  durch  zahlreiche  Ex- 


380  Hermann  Kaposi, 

perimente  zu  sichern  gesucht.  Die  Versuche  der  genannten  Autoren 
wurden  das  Paradigma  für  die  Nachprüfenden.  Mit  geringen  Modifi- 
kationen und  Verbesserungen  haben  alle  folgenden  Experimentatoren 
eine  ähnliche  Versuchsanordnung  gewählt;  Gelatine  wurde  intravenös, 
später  (durch  Langereaux  und  Paulesco  angebahnt)  auch  subkutan 
injiziert  und  aus  einer  Arterie,  in  welche  eine  Kanüle  eingebunden 
wurde,  das  Blut  entnommen,  oder  man  setzte  das  Blut  erst  in  vitro 
der  Gelatine  zu.  Immer  wurde  die  Zeit  bestimmt,  welche  das  der  Ader 
entnommene  Blut  brauchte,  um  zu  gerinnen,  und  aus  den  Differenzen 
vor  und  nach  Gelatineanwendung  wurden  dann  die  Schlüsse  gezogen. 
Daß  diese  Schlüsse  viele  Fehlerquellen  aufweisen,  soll  sogleich  gezeigt 
werden. 

Dastre  und  Floresco  injizierten  an  Hunden  und  Kaninchen  von 
einer  5-proz.  Lösung  ihrer  Gelatine  in  Kochsalz  so  viel  in  die  Tibialis- 
vene,  daß  8  dg  auf  1  kg  Tier  kamen.  Die  Injektion  erfolgte  mit  dem 
^Thermostat  injecteurs"  bei  Körpertemperatur.  Aus  der  Arteria  cruralis 
wurde  mit  dreiteiliger  Kanüle  das  Blut  entnommen.  Aus  der  einen 
floß  es  in  Gelatinelösung,  aus  der  zweiten  in  physiologische  Kochsalz- 
lösung, und  aus  der  dritten  un vermischt;  die  erste  Probe  gerann 
am  raschesten.  Oder  es  wurde  vor  der  Gelatineinjektion  das  Blut 
^nativ^  auf  seine  Gerinnungszeit  geprüft,  und  dann  das  aus  derselben 
Kanüle  fließende  Blut  nach  der  Injektion  ebenfalls.  Läßt  sich  gegen 
die  erstgenannte  Versuchsanordnung  schon  das  einwenden,  was  Sacktjr 
ihr  vorwarf,  daß  „bei  dem  kleinen  Kaliber  der  dreiteiligen  Kanüle  leicht 
schon  innerhalb  derselben  Gerinnselbildung  sich  einstellen  könnte^,  so 
gilt  dies  noch  viel  mehr  für  die  zweite  Versuchsreihe.  Bei  Verwendung 
derselben  Kanüle  vor  und  nach  der  Gelatineinjektion  läßt  sich  ein 
Zurückbleiben  von  Blutgerinnseln  gar  nicht  vermeiden,  und  die  müssen 
den  Versuch  stören.  Aber  man  könnte  wohl  sagen :  Bei  der  Anordnung 
mit  der  dreiteiligen  Kanüle  gerinnt  das  in  die  Gelatinelösung  fließende 
Blut  doch  am  schnellsten,  da  sind  ja  für  alle  3  Röhren  dieselben  Ver- 
suchsfehler vorhanden? 

Sehen  wir  uns  die  von  den  Autoren  angegebenen  Zeiten  an. 

Tube  A  (natives  Blut).  Beginn  der  Gerinnung  nach  6'  20";  voll- 
endet nach  13'  20". 

Tube  B  (Kochsalz).  Beginn  der  Gerinnung  nach  5*  20";  vollendet 
nach  10'  20". 

Tube  C  (5-proz.  Gelatine).    Beginn  der  Gerinnung  nach  4';  voll- 
endet nach  8'. 

Das  ergibt  eine  Differenz  von  2'  20"  für  den  Beginn,  und  von 
5'  20"  für  das  Ende  der  Gerinnung  in  Bezug  auf  das  native  Blut, 
aber  in  Bezug  auf  das  Kochsalzblut  nur  1'  20",  resp.  2'  20";  und 
daraus  schließen  Dastre  und  Floresco,  das  Blut  in  Gelatine  gerinne 
beaucoup   plus  rapidement!  Diese  geringe  Zeitdifferenz  beweist 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  381 

mit  Rücksicht  auf  die  später  zu  besprechenden  Schwankungen  in  der 
Norm  nicht  einwandfrei  genug  die  Wirksamkeit  der  Gelatine,  und  so 
erscheint  es  begreiflich,  daß  dieser  „Grundversuch"  der  genannten  Autoren 
viele  Nachuntersucher  nicht  überzeugt  hat. 

Beweisend  erscheint  mir  hingegen  der  Antagonismus  der  Wirkung 
von  Pepton  Witte  und  Gelatine,  den  Dastre  und  Floresco  auch 
festgestellt  haben,  in  der  Hoffnung,  auf  diesem  Wege  eine  Erklärung 
für  die  Art  der  Gelatinewirkung  zu  bekommen.  Es  zeigte  sich,  daß 
Blut,  welches  durch  0,80  g  Pepton  per  Kilogramm  Tier  ungerinnbar 
gemacht  worden  war,  seine  Gerinnbarkeit  schon  bei  nachheriger  Injektion 
von  0,4  g  Gelatine  pro  Kilogramm  Tier  wieder  erlangt  hatte.  Eine  Er- 
klärung für  die  Gelatinewirkung  vermochten  die  Autoren  uns  zwar  aus 
dieser  Tatsache  des  Antagonismus  nicht  zu  geben.  Genau  wissen  wir 
ja  auch  heute  nicht,  wieso  Pepton  gerinnungshemmend  wirkt;  daß  Bei- 
mengungen der  Albumosen,  und  nicht  die  Albumosen  selbst  im  soge- 
nannten Pepton  die  wesentliche  Rolle  dabei  spielen,  haben  Spiro  und 
Ellinger  gezeigt.  Der  Antagonismus  beweist  aber  meiner  Ansicht 
nach  einwandfrei,  daß  Gelatine  eine  Wirkung  auf  die  Blutgerinnung 
ausüben  muß. 

Merkwürdigerweise  sind  diese  Versuche,  die  gerinnungsbefördernde 
Eigenschaft  der  Gelatine  durch  ihre  Gegenwirkung  gegenüber  ge* 
rinnungshemmenden  Agentien  zu  prüfen,  nicht  weiter  verfolgt  worden. 
Vielmehr  findet  man  als  Kriterium  der  Wirkung  oder  Nichtwirkung  der 
Gelatine  bei  allen  Experimentatoren  (mit  Ausnahme  von  Gebele)  die 
vor  und  nach  der  Injektion  von  Gelatine  kontrollierte  Gerinnungszeit 
aufgestellt.  Und  auf  Grundlage  der  Gerinnungszeit  haben  Camus  und 
GleyO  der  Gelatine  jede  Wirkung  abgesprochen,  Lancereaux  und 
Paülesco*)  sie  wieder  zu  beweisen  gesucht,  so  haben  auch  die  ita- 
lienischen Forscher  Gaglio*)  eine  geringe  Beschleunigung,  Moriani*) 
bei  seinen  intravenösen  und  subkutanen  Einspritzungen  und  Giordano  ^) 
bei  lokaler  Applikation  auf  Leberwunden  keine  Beschleunigung  der  Ge- 
rinnung zu  konstatieren  vermocht  Von  russischen  Forschern  hat  Do- 
BROCHOTOw  ^)  ebenfalls  aus  der  Beobachtung  der  Gerinnungszeit  sogar 
eine  Verlangsamung  der  Blutgerinnung  herauslesen  wollen,  und  von 
Deutschen  hat  Sackür  ')  in  seinen  Experimenten  auch  keine  auffallende 
Verkürzung  der  Gerinnungszeit  erhalten  können,  Sorgo  hat  große 
Mesenterialvenen  abgebunden  und  vor  und  nach  der  Gelatineinjektion 
die  Gerinnungszeit  bestimmt. 

Jedoch  haben   sich  auch  hier  schon  ohne  Injektion  nach  wenigen 


1)  Camus  et  Qley,  Arch.  de  physiol.,  1897,  p.  764. 

2)  Lancersaux  et  Paulesco,  Bull,  de  l'acad.  de  Paris,  1897. 

3)  4)  5)  Gaglio,  Moriani,  Giordano,  zit.  nach  Centralbl.  f.  Chir.,  1901. 

6)  Dobrochotow,    zit  nach  Centralbl.  f.  d.  Grenzgeb.,    1900,    p.   841. 

7)  Sackur,   Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,   Bd.   8,    p.   188. 


382  Hermann  Kaposi, 

Minuten  die  ersten  Anfänge  der  Gerinnung  gezeigt.  Gebele  hat  zur 
Kontrolle  der  Gerinnungszeit  noch  die  in  der  Zeiteinheit  (10")  vor  und 
nach  der  Injektion  aus  der  Arterie  fließenden  Blutmengen  aufgefangen 
und  gewogen  und  unter  bestimmten  noch  zu  erläuternden  Bedingungen 
(gewisser  Grad  von  Anämie)  positive  Resultate  erhalten. 

Erst  vor  kurzer  Zeit  ist  eine  Arbeit  von  L'Abb£  und  Froin  ^)  er- 
schienen, die  auf  Grund  höchst  mangelhafter  Beobachtungen  und  Ex- 
perimente der  Gelatine  ganz  kategorisch  jeden  Wert  absprechen  will. 
Zur  Charakteristik  der  Schlüsse,  welche  die  Autoren  aufstellen,  möchte 
ich  die  Arbeit  kurz  referieren.  Einleitend  bemerken  sie,  daß  nichts 
schwieriger  sei,  als  den  therapeutischen  Effekt  einer  Medikation  bei  der 
Blutstillung  zu  beurteilen,  denn  jede  Blutung  stünde  schließlich  von 
selbst.  Man  könne  überhaupt  den  Wert  eines  neuen  Mittels  nur  schwierig 
bemessen,  da  jedes  neue  Medikament  von  selten  derjenigen,  die  damit 
experimentierten,  stets  günstig  beurteilt  werde  (!).  Die  Erfahrungen 
der  Autoren  erstreckten  sich  nun  auf  5  klinische  Fälle  und  5  (!)  Ver- 
suche an  Kaninchen.  Bei  den  klinischen  Fällen  wurden  1-proz.  Lösungeu 
verwendet,  und  zwar,  kurz  zusammengefaßt,  bei  folgenden. 

Bei  einer  Purpura  haemorrhagica  ...  in  6  Tagen  3mal  60  ccm  der 
Lösung. 

Bei  einer  tuberkulösen  Hämaturie  .  .  .  4mal  50  ccm  in  4  Tagen;  am 
5.  180,  am  6.  100  ccm. 

Bei  einem  Icterus  gravis  in  2  Tagen  je  100  ccm. 

Bei  einer  Typhusblutung  1  Injektion  &  100  ccm. 

Bei  einem  Aneurysma  der  Aorta  vom  17.  Dez.  bis  20  Jan.  17  In- 
jektionen k  50  ccm. 

Die  Tierversuche  sind: 

Kaninchen  I — IV  10  ccm  einer  2-proz.  Lösung  einmal  injiziert. 
Kaninchen  V  2 mal  5  ccm  derselben  Lösung. 

Und  aus  diesen  Erfahrungen  heraus  schließen  die  Autoren  folgender- 
maßen: „Aus  unseren  Beobachtungen  (5)  und  Experimenten  (5)  folgt, 
daß  die  subkutanen  Injektionen  von  Gelatinelösung  nicht  den  geringsten 
Effekt  auf  die  Gerinnung  des  Blutes  und  die  Stillung  einer  Blutung 
haben.  Gelatine  wird  nicht  resorbiert.  Wenn  man  dagegen  hält,  daß 
die  Einspritzungen  schmerzhaft  sind,  daß  man  mehrmals  nach  denselben 
Tetanus  gesehen  hat,  so  kann  man  nur  wünschen,  die  Gelatine  aus  der 
Reihe  unserer  Blutstillungsmittel  auszustoßen.*' 

Aus  derartigen  „klinischen  Beobachtungen"  und  „Experimenten", 
welche  nicht  nur  in  ganz  ungenügender  Zahl,  sondern  vor  allem  mit 
viel  zu  geringen  Mengen  Gelatine  angestellt  sind,  in  einer  so  wichtigen 


1)  L'Abbä  et  Froin,  Presse  med.,  1903,  No.  40. 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  383 

Frage  ein  Urteil  abgeben  zu  wollen,  kann  wohl  nicht  scharf  genug  ge- 
tadelt werden. 

Neue  Erfahrungen  über  die  Gelatinefrage  haben  wir  durch  die 
Arbeiten  von  Sackur^)  und  Gebele=^)  gewonnen;  sie  müssen  noch 
mit  einigen  Worten  gestreift  werden,  ehe  ich  meine  eigenen  Versuche 
beschreibe. 

Sagkur  hat  den  Versuchsfehler  von  Dastre  und  Floresgo,  der 
eine  und  dieselbe  Kanüle  zur  Blutentnahme  anwandte  und  dadurch 
möglicherweise  schon  im  Röhrchen  Gerinnung  bekam,  ausgeschaltet, 
dadurch,  daß  er  stets  eine  frische  Glaskanüle  in  die  Carotis  einband 
und  zwar  bei  jeder  neuen  Blutentnahme  mehr  zentralwärts ;  so  kam 
das  Röhrchen  auch  stets  an  eine  intakte  Gefäßwand  zu  liegen.  Er  ent- 
nahm ferner,  um  den  Einfluß  der  Anämie  auszuschalten,  nur  wenige 
Tropfen  Blut,  nicht  wie  die  französischen  Autoren  8—10  g.  Als  Kriterium 
der  erfolgten  Gerinnung  galt  ihm  allerdings  auch  die  mit  der  Uhr  kon- 
trollierte Gerinnungszeit. 

Von  seinen  Resultaten  interessiert  uns,  daß  er  außerhalb  des  Tier- 
körpers (in  vitro)  negative  Resultate  bekam,  bei  intravenöser  In- 
jektion ebenfalls,  bei  subkutaner  Injektion  bei  5  Kaninchen  3mal 
positive,  2mal  negative,  bei  Hunden  aber  nur  negative  Resultate  hatte. 

Nach  Sagkurs  Untersuchung  wäre  daher  der  Wert  der  Gelatine- 
injektion ein  sehr  problematischer.  Volle  Beachtung  verdient  seine 
Beobachtung  der  Gefäßverlegungen.  Da  alle  Tiere  nach  intravenöser 
Gelatineinjektion  starben,  so  hat  Sagkur  mit  der  im  Breslauer  pharma- 
kologischen Institute  geübten  Methode  der  Selbstfärbung  der  Tiere 
durch  intravenöse  Indigokarminlösung  und  nachheriger  Ausspülung  mit 
physiologischer  Kochsalzlösung  auf  solche  Gefäßverlegungen  gefahndet 
und  dieselben  auch  sichtbar  gemacht.  Es  zeigte  sich,  daß  in  Lungen, 
Nieren,  dem  Herzen,  aber  auch  in  anderen  Organen  solche  Gefäßver- 
stopfungen in  der  Tat  bestanden. 

Aber  auch  bei  subkutaner  Gelatineinjektion  konnte  Sagkur 
die  Gefäßverlegungen  bei  Hunden  in  einigen  Fällen  nachweisen,  bei 
Kaninchen  hingegen  nicht.  Sein  Verdienst  ist  es  ferner,  zuerst  unter 
dem  Mikroskop  die  Veränderungen  des  Blutes  bei  Gelatinezusatz  ver- 
folgt zu  haben.  Die  Bilder,  die  er  beschreibt,  kann  ich  durchaus  be- 
stätigen ;  ich  werde  bei  Beschreibung  meiner  Experimente  darauf  zurück- 
kommen müssen. 

Gebele  verdanken  wir  endlich  die  weitere  Tatsache,  daß  die  Gela- 
tinewirkung erst  eklatant  im  Experiment  nachweisbar  wird,  wenn  wir  dem 
Tiere  eine  bestimmte  Menge  Blut  entziehen.  Dies  entspricht  auch  mehr 
den  Tatsachen  am  Krankenbette,  wo  wir  es  fast  stets  mit  ausgebluteten 


1)  Saokur,  1.  c. 

2)  Gbbblb,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1901,  No.  24. 

3fitt0lL  ft.  d.  Ormxffobletfln  d.  Medizin  o.  CUrarcla.     Xm.  Bd.  25 


384  Hermann  Kaposi, 

und  schwer  Anämischen  zu  tun  haben.  Gebele  hat  gezeigt,  daß  zwar 
mit  der  Zunahme  der  Anämie  das  Blut  an  und  für  sich  rascher  gerinnt, 
daß  diese  Beschleunigung  aber  höchstens  10  Proz.  beträgt,  während  sie 
bei  Gelatinezusatz  40—50  Proz.  ausmacht.  „Die  Blutverluste  mflssen 
Vi — Vs  des  Gesamtblutes  ausmachen,  wenn  die  Gelatine  prompt  wirken 
soll,  was  ja  in  praxi  oft  zutrifft.'*  Zur  Bestimmung  der  Gelatine- 
wirkung diente  Gebele,  wie  bereits  erwähnt,  sowohl  das  Ablesen  der 
Gerinnungszeit,  als  das  Wägen  der  in  gleichen  Zeiten  ablaufenden 
Blutmengen. 

Eigene  Versuche. 

Die  schwankenden  Resultate  der  vorstehenden  experimentellen  Unter- 
suchungen und  ihre  Differenz  mit  den  Erfahrungen  der  Klinik  mußte 
sofort  auffallen;  sie  mußten  eine  gemeinsame  Ursache  haben,  und  die 
konnte  nur  in  der  Unsicherheit  liegen,  die  Gerinnungszeit  präzise  zu 
fixieren.  Es  steht  uns  nämlich  keine  exakte  Methode  zur  Verfügung, 
um  den  Zeitpunkt  der  Gerinnung  zu  bestimmen  und  die  Zeiten,  welche 
wir  schon  bei  normalem  Blute  ohne  Gelatinezusatz  gewinnen,  schwanken 
in  so  gewaltigen  Grenzen,  daß  ein  Zeitunterschied  von  5—10  Minuten 
nicht  den  geringsten  Wert  für  uns  haben  kann. 

Vergleichen  wir  nur  die  Zeiten  bei  der  Gerinnung  des  „natlren^^ 
Blutes,  welche  Dastre  und  Floresgo  und  Sackur,  sowie  Gebele, 
die  ja  am  exaktesten  gearbeitet  haben,  uns  angeben : 

Dastre  und  Florbsco:  Beginn  6*  20",  vollendet  13'  20". 
Sackur:  Beginn  2'  45",  vollendet  8'  45"  (im  Wasserbad). 
Sackur:  Beginn  6'  05",  vollendet  8'  55"  (bei  Zimmertemperatur). 
Gkbblb:  Beginn  7'  40",  vollendet  U»/^'. 

Also  schon  bei  unverändertem  Blute  Differenzen  von  5  bis 
10  Minuten! 

Vergleichen  wir  damit  die  Zeiten  nach  Gelatinezusatz: 

Dastbb  und  Florbsco  :  Beginn  4 ',  vollendet  8 '  i). 
Sackur:  Beginn  1'  30"*  vollendet  2'  10"  (im  Wasserbad). 
Sackur:  Beginn  2*  35",  vollendet  4'  35"  (bei  Zimmertemperatur). 
Gbbble:  Beginn  1^2'»  vollendet  4^ 

Nehme  ich  dazu  die  Erfahrungen,  die  ich  bei  meinen  Versuchen 
(über  50  Kaninchen)  gewonnen  habe,  und  die  mir  Gerinnungszeiten 
von  3—15'  bei  nativem  Blut  ergaben,  so  braucht  es  wohl  keines 
weiteren  Beweises  mehr,  daß  unsere  Methode,  die  Gerinnungszeiten  zu 
bestimmen,  eine  ungenaue  sein  muß.  Die  Zeiten,  welche  wir  bis  zu 
vollendeter  Gerinnung  erhalten,  stehen  in  geradem  Verhältnis  zur  Menge 

1)  Als  Beginn  der  Gerinnung  wird  allgemein  das  erste  Sichtbar- 
werden von  Fibrinflocken  im  Gefäß  bezeichnet;  als  vollendet,  wenn 
man  dasselbe  umkehren  kann,  ohne  daß  noch  ein  Tropfen  abfließt. 


Hat  die  Oelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  385 

des  entnommenen  Blutes  und  zur  Weite  des  Gefäßes,  in  dem  wir  das 
Blut  auffangen,  d.  h.  je  größer  die  entnommene  Blutmenge  ist,  und  je 
weiter  das  Kaliber  des  Röhrchens,  in  welches  wir  das  Blut  fließen 
lassen,  um  so  mehr  Zeit  vergeht  bis  zur  vollendeten  Gerinnung. 

Da  ich  mir  also  klar  gemacht  hatte,  daß  die  alte,  oft  versuchte 
Methode  keine  sicheren  Resultate  ergeben  konnte,  so  mußte  ich  einen 
neuen  Weg  einschlagen.  Ich  suchte  nach  einem  Mittel,  das  Blut  des 
Experimentaltieres  intra  vitam  ungerinnbar  zu  machen ;  wenn  dies  gelang 
und  wenn  ich  dann  Gelatine,  sei  es  intravenös,  sei  es  subkutan,  dem 
Tiere  zuführte  und  das  Blut  wurde  dadurch  gerinnbar,  so  wäre  eine 
Wirkung  der  Gelatine  zweifellos  erwiesen.  Solche,  die  Gerinnung  auf- 
hebende, Mittel  kennen  wir  eine  große  Zahl:  Die  Albumosen,  z.  B.  Pepton 
Witte  resp.  die  diesen  anhaftende  gerinnungshemmende  Substanz, 
gallensaure  Salze,  Oxalate,  Neutralsalze  der  Alkalien  und  Erden,  niedrige 
Temperaturen,  den  Blutegelextrakt,  Aalblutserum,  Krebsmuskelextrakt, 
Extrakte  aus  den  verschiedensten  Organen  (Leber,  Eingeweide  etc.)  u.  a. 

Von  diesen  Mitteln  haben,  wie  wir  sehen,  Dastre  und  Floresco 
schon  das  Pepton  Witte  benützt ;  für  länger  dauernde  Versuche  ist  es 
nicht  gut  verwendbar,  weil  es  den  Blutdruck  so  stark  herabsetzt,  daß 
die  Tiere  zu  Grunde  gehen,  die  anorganischen  Salze  wirken  nur  kurze 
Zeit,  zerstören  die  Blutkörperchen,  Oxalsäure  macht  durch  Fällung  der 
Kalksalze  schwere  Störungen  des  Blutes.  Meine  ursprüngliche  Absicht, 
in  Anlehnung  an  die  Blutdissolution  bei  schwer  Ikterischen  Tiere  chol- 
ämisch  und  damit  hämophil  zu  machen,  scheiterte  an  der  Erwägung, 
daß  die  Tiere  vorher  zu  Grunde  gehen  würden.  Ich  wandte  mich  daher 
dem  Blutegelextrakt  zu,  dessen  gerinnungshemmende  Wirkung  bekanntlich 
von  Haycraft*)  zuerst  festgestellt  wurde,  und  dessen  Eigenschaften 
zuletzt  Pekelharino  ^)  genau  studiert  hat.  Es  traf  sich  gerade  günstig, 
daß  Friedrich  Franz  ^)  in  Göttingen  zur  selben  Zeit  den  wirksamen 
Bestandteil  des  medizinischen  Blutegels  isolierte.  Er  gewann  ihn  „aus 
dem  vordersten  Teile  des  Körpers,  aus  dem  Schlundring  samt  dem  an- 
haftenden Muskelgewebe,  vor  allem  der  Mundlippe.^'  Nach  mühsamen, 
hier  nicht  weiter  zu  erörternden  Versuchen  fand  er,  daß  durch  Zer- 
kleinern der  Mundteile  des  Tieres,  Verreiben  mit  Sand  und  Extrahieren 
mit  Chloroform  die  Substanz  sich  rein  isolieren  lasse.  Dieses  Präparat 
bringt  die  Fabrik  E.  Sachsse  in  Leipzig*)  unter  dem  Namen  Hirudin 


1)  Haycraft,  Arch.  f.  experiment-Pathol.  u.  Pharm.,  Bd.  18,  1884, 
p.  209. 

2)  Pbkblhabino,  Untersuchungen  über  Fibrinfei-ment.     1892. 

3)  Friedrich  Franz,  Ueber  den  die  Blutgerinnung  aufhebenden  Be- 
standteil des  medizinischen  Blutegels.  Arch.  f.  experimeut.  Pathol.  u. 
Pharm.,  Bd.  49,  Heft  4  u.  5. 

4)  Ich  kann  nicht  umhin,  an  dieser  Stelle  den  Herren  der  Fabrik 
meinen  Dank  für  ihr  stets  coulantes  Entgegenkommen  auszusprechen.     Die 

25* 


386  Hermann  Kaposi, 

in  bequemer  Form  in  Glastuben  eingeschmolzen  in  den  Handel.    Mit 
dieser  Substanz  habe  ich  meine  Versuche  gemacht. 

Das  Hirudin  besteht  aus  grauen  bis  braunroten,  glänzenden  Schüpp- 
chen und  Plättchen.  Es  löst  sich  in  physiologischer  Kochsalzlösung 
vollständig  zu  einer  leicht  opalisierenden  Flüssigkeit. 

Nach  der  Vorschrift  der  Fabrik,  welche  die  Wirksamkeit  des  je- 
weilig frisch  dargestellten  Präparates  vor  der  Versendung  im  Göttinger 
pharmakologischen  Institute  prüfen  läßt,  ist  0,1  g  der  Substanz  in 
25  ccm  Kochsalzlösung  zu  lösen.  Ein  Milligramm  der  Substanz  vermag 
5  ccm  Blut  ungerinnbar  zu  machen,  also  0,1  g  500  ccm  Blut.  Bei 
meinen  Versuchen  nahm  ich  nun  stets  die  im  Versuchstiere  enthaltene 
Blutmenge  auf  ^lo  des  Gesamtgewichtes  an  (eher  zuviel,  da  andere 
Autoren  die  Blutmenge  mit  Vu — Vis  des  Gewichtes  berechneten).  Hatte 
ich  z.  B.  ein  Kaninchen  von  2000  g,  so  wurde  das  Blut  auf  SfoO  g  ge- 
schätzt und  0,04  Hirudin  =  10  ccm  der  Lösung  injiziert,  also  1  ccm 
der  Lösung  ==  20  ccm  der  angenommenen  Blutmenge  gesetzt. 

Zu  jeder  der  zu  schildernden  Versuchsreihe  wurden  15—20  Kaninchen 
benützt. 

Versuche  mit  Hirudin  allein. 

Bevor  ich  an  die  Prüfung  des  Antagonismus  der  Gelatine  gegenüber 
ungerinnbar  gemachten  Blute  ging,  mußte  die  Zeit  ausprobiert  werden, 
innerhalb  welcher  die  gerinnungshemmende  Wirkung  des  Hirudins  eine 
absolut  sichere  ist.  Die  Versuche  wurden  stets  so  ausgeführt,  daß  in 
eine  oder  meistens  in  beide  Karotiden  Glaskanülen,  in  die  Vena  jugularis 
aber  eine  sogenannte  (mit  Kochsalz  zu  füllende)  Venenkanüle  einge- 
bunden wurde.  Durch  die  Vene  wurde  die  Substanz  (Hirudin,  Gelatine) 
dem  Kreislauf  zugeführt,  aus  den  Karotiden  wurde  das  Blut  in  be- 
stimmten Zeitabschnitten  in  kleinen,  ^/j  ^^  ^^  Durchmesser  haltenden 
Reagenzröhrchen  in  Menge  von  2—3  ccm  entnommen.  In  beide  Karo- 
tiden abwechselnd  wurden  die  Kanülen  deshalb  eingebunden,  um  den  Ein- 
fluß des  im  Gefäß  stagnierenden  Blutes  auf  die  Gerinnung  der  nächsten 
Probe  auszuschließen.  Es  wäre  aber  in  keinem  Falle,  wo  ich  mit  Hirudin 
allein  arbeitete,  nötig  gewesen,  denn  wenn  auch  aus  einer  Kanüle  in 
einer  halben  Stunde  8 — 10  Proben  Blut  entnommen  waren,  so  blieb 
das  Blut  dennoch  völlig  flüssig,  und  beim  Entfernen  der  Kanüle  aus 
der  Ader  floß  das  in  der  Kanüle  gebliebene  Blut,  ohne  irgend  eine 
Spur  von  Gerinnsel  darin  zu  lassen,  glatt  ab. 

Ich  fand  nun  zunächst,  daß  tatsächlich  die  oben  angegebene  Menge 
von  0,02  des  von  mir  angewandten  Hirudinpräparates  (=  5  ccm  Lösung) 
genügten,  um   nach  der  Injektion  etwa   100  ccm   Blut  innerhalb  des 


Substanz  hat  mich  nie  im  Stich  gelassen.  Der  Preis,  der  anfangs  10  M. 
für  0,1  g  betrug,  hat  sich  schon  auf  8  M.  ermäßigt  und  dürfte  noch 
billiger  werden. 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  anf  die  Blatgerinnnng  ? 


387 


Organismus  ungerinnbar  zu  machen,  so  daß  entnommene  Blutproben 
lange  ungeronnen  bleiben.  Die  Wirkung  beginnt  sofort  nach 
der  Injektion,  sicher  ist  schon  das  in  der  ersten  Minute  entnommene 
Blut  dauernd  ungerinnbar. 

Nur  das  in  der  ersten  halben  Stunde  nach  der  Ein- 
spritzung der  Carotis  entnommene  Blut  bleibt  stunden- 
lang ungerinnbar.  Das  nach  dieser  Zeit  untersuchte  Blut  zeigt 
zwar  eine  Verlängerung  der  Gerinnungszeit,  die  auch  am  anderen  Tage 
noch  nachweisbar  ist,  die  aber  ganz  inkonstant  ist,  bald  eine  Stunde, 
bald  nur  10—15  Minuten  beträgt,  mit  der  jedenfalls  nicht  gerechnet 
werden  darf. 

Nur  das  in  der  ersten  halben  Stunde  post  injectionem 
aufgefangene  Blut  darf  also  für  die  Beurteilung  des  An- 
tagonismus der  Gelatine  berücksichtigt  werden. 

Aus  den  zahlreichen  Versuchen  wähle  ich  folgende  besonders  cha- 
rakteristische aus: 


rönnen 


Kaninchen  XIII.    Gewicht  2000  g.    NormaleB  Blut  entnommen  6^  20';  ge- 
rn 6''  25'  bis  e»-  28'.    Hirudin  0,04  (=  10  ccm  Löeung)  6"  23'. 


No.  d. 
Probe 


Zeit 


6»"  24' 
6^  30' 
6»»  35' 
6"  40' 
ö"»  46' 
6"  50' 


Entnommen  nach 


1'  nach  der  Injektion 

12'  .  . 

17'  .  , 

23'  ,  , 

28'  ,  „ 


Bemerkungen 


AUe  Proben 

nach  24  Standen 

YöUig  flüssig 


oder 


Kaninchen  XLI. 
ronnen  3»»  33'  bis  3»»  36'. 


Gewicht  1550  g.    Normales  Blut  entnommen  3**  27' 
Hirudin  0.032  (=  8  ccm  Löeung)  3"  29'. 


ge- 


No.  d. 
Probe 

Zeit 

Entnommen  nach 

Bemerkungen 

1 
2 
3 
4 
5 
6 

3^  31' 
3»>  35' 
3»»  40' 
3"  45' 
3^  50' 
3''  53' 

2'  nach  der  Injektion 

6'     .       „ 
11'     «       . 
16'     „       . 
21'     .       . 
23'     ,       .. 

Alle  Proben 

nach  24  Stunden 

flüssig 

Es  war  ein  naheliegender  Gedanke,  das  Hirudinblut  unter  dem 
Mikroskope  zu  betrachten.  Ich  habe  dies  sowohl  in  gewöhnlicher  Weise 
gemacht,  indem  ich  einen  Tropfen  des  ungerinnbaren  Blutes  auf  den 
Objektträger  brachte  und  mit  dem  Deckglas  bedeckte  (ohne  zu  ver- 
dünnen, wie  es  Sackür  tat),  oder,  indem  ich  mich  der  HoUundermark- 
methode  von  J.  Arnold  bediente.  Ich  ließ  dann  das  Blut  vom  HoUunder- 
markplättchen  aufsaugen,  das  auf  einem  an  seinen  Rändern  vaselinierten 


388  Hermann  Kaposi, 

Deckgläschen  lag.  Nachdem  das  Plättchen  beschickt  war,  wurde  es  auf 
den  hohlen  Objektträger  gebracht;  so  hielt  sich  das  Blut  lange  Zeit 
beobachtungsfähig. 

Am  Hirudinblut  fiel  nun  vor  allem  eine  sehr  geringe  Geldrollen- 
bildung auf,  die  größte  Menge  der  roten  Blutkörperchen  schwamm 
isoliert  in  der  Blutflüssigkeit  umher,  die  Blutkörperchen  selbst  zeigten 
sich  kaum  verändert,  es  kam  nach  einiger  Zeit  fast  an  allen  zu  Stech- 
apfel- und  Morulaformen,  man  sah  auch  Blutplättchen  in  nicht  geringer 
Zahl,  aber  niemals  konnte  ich  Fibrinfäden  entdecken.  An  den  weißen 
Blutzellen  war  nichts  auffallend  Charakteristisches,  etwa  für  Hirudin- 
wirkung  Spezifisches,  woran  man  sie  zu  diagnostizieren  imstande  wäre. 

Ich  kann  an  dieser  Stelle  gleich  das  mikroskopische  Bild  schildern, 
das  ich  beobachten  konnte,  wenn  diesem  ungerinnbar  gemachten  Blute 
Gelatine  zugesetzt  wurde.  Es  stimmt  genau  mit  dem  Bilde  überein, 
das  uns  Sag  kür  von  dem  normalen  Blute  nach  Gelatinezusatz  ent- 
worfen hat.  Dort,  wo  der  Gelatinetropfen  einfließt,  kommt  sofort  eine 
starke  Strömung  in  die  Blutzellen,  in  wenigen  Augenblicken  sind  die 
roten  Blutkörperchen  zu  mehr  als  ihrem  doppelten  Volumen  aufge- 
quollen, in  Mengen  von  30 — 40  klumpen  sie  sich  aneinander  und  bilden 
grobe  Schollen  und  Balken,  die  ich  am  ehesten  in  ihrer  äußeren  Form 
mit  den  Kernen  der  Knochenmarksriesenzellen  vergleichen  möchte. 
Das  Herangezogenwerden  und  Verkleben  immer  neuer  quellender  roter 
Blutzellen  an  die  groben  verklumpten  Balken  ist  stets  sehr  schön  zu 
verfolgen.  Ich  stimme  vollkommen  mit  Sackür^)  überein,  daß  man 
den  Eindruck  hat,  die  Erythrocyten  konglutinierten,  sie  würden  förmlich 
„zusammengeleimt",  dabei  fließen  ihre  Zellleiber  anscheinend  größten- 
teils ineinander. 

Für  diese  vorwiegend  mechanische  Wirkung  scheint  mir  auch  zu 
sprechen,  daß  man  ganz  dasselbe  Bild  wie  mit  Gelatine  auch  mit 
Gummi  arabicum  bekommen  kann.  Auch  dieses,  dem  Hirudinblut 
unter  dem  Deckgläschen  zugesetzt,  macht  dieselben  Bilder  des  Auf- 
quellens und  Verklebens,  wie  ich  mich  mehrmals  überzeugt  habe. 

Versuche  mit  Hirudin   und  nachfolgender  intravenöser 

Gelatineinjektion. 
Das  Hirudin  sowie  die  Gelatinelösung  wurden  durch  die  Venen- 
kanüle eingespritzt,  das  Blut  stets  beiden  Karotiden  entnommen,  und 
zwar  niemals  mehr  wie  2 — 3  Proben  einer  und  derselben  Kanüle,  um 
die  Gefahr  der  Gerinnselbildung  innerhalb  der  Kanüle  möglichst  aus- 
zuschließen. Injiziert  wurden  zwei  verschiedene  Gelatinesorten. 
Ich  begann  mit  der  jetzt  fast  allgemein  angewendeten  Gelatina  ste- 
rilisata  Merck,  die  bekanntlich  in  Tuben  zu  40  g,  entsprechend  4  g 


1)  Sackub,  I.  c. 


Hat  die  Oelatine  einen  Einflaß  auf  die  Blutgerinnung? 


389 


Gelatine,  in  den  Handel  gebracht  wird.  Diese  Gelatinelösung  ist 
bei  gewöhnlicher  Temperatur  (Zimmertemperatur)  flüssig.  An- 
ÜBings  injizierte  ich  nach  Angabe  der  Autoren  0,8  g  Gelatine  pro  Kilo- 
gramm Tier  und  bekam  folgendes  Resultat: 

Kaninchen  X.    Ge?ncht  1375  g.    Normales  Blut  eutnommen  3"  16';  gerinnt 
3»«  25'  bia  27'.    Hirudin  0,028  (=  7  ccm  Lösung)  3"  16S','- 


No.  d. 
Probe 

Zeit 

Entnommen  nach 

Bemerkungen 

1 
2 

3"  17' 
3»»  20' 

1'  nach  der  Hirudininjektion 
*      »»       tt                11 

1  Die  Proben  sind 
/nach  24  Std.  flüssig 

1 

2 
3 
4 
5 


3  *>  20'  bis  3"  22'  12V,  ocm  Gelatine  Mebck  intravenös. 

nach  Hirudin 


3»'  23' 
3»'  25' 
3''  30' 
3"  35' 
3»»  40' 


1' nach  Gelatine,    7' 

3'     „  „         10' 

8'     „  „         15' 

13'     „  „         20' 

18'     „  „         25' 


Alle  Proben  nach 
24  Stunden  flüssig 

geblieben  (zeigen 
die  gleich  zu  schil- 
dernde Schichtung) 


Ich  wiederholte  diesen  Versuch  mehrmals,  stets  mit  dem  gleichen 
Resultate ;  ich  injizierte  statt  0,8  g  pro  Kilogramm  Tier  in  mehreren 
Versuchen  eine  halbe  Tube  der  MERCKschen  Gelatine  =  20  ccm  oder 
2  g  Gelatine.  Stets  fand  ich  dasselbe:  Sowohl  das  Hirudinblut  allein, 
wie  die  Blutproben,  die  nach  Injektion  von  Gelatine  entnommen  wur- 
den, blieben  flüssig.  Auf  die  Wiedergabe  der  Protokolle  kann  ich  ver- 
zichten, da  sie  dem  obigen  gleichlauten  und  kein  weiteres  Interesse 
haben. 

Den  gleichen  Versuch  machte  ich  mit  gewöhnlicher  käuflicher  Ge- 
latine in  2-proz.,  dann  in  5-proz.  und  10-proz.  Lösung,  und  zwar  auch 
hier  beginnend  mit  0,8  g  pro  Kilogramm  Tier,  später,  wie  bei  der 
MERGKSchen  Gelatine,  mit  größeren  Mengen,  und  da  war  das  Resultat 
der  Versuche  ein  wesentlich  anderes.  Die  ersten  Proben  nach  der 
Hirudineinspritzung  blieben  wie  gewöhnlich  flüssig,  und  zwar  auch  nach 
24  Stunden.  Die  nach  der  Gelatineinjektion  entnommenen  Blutmengen 
zeigten  ungefähr  von  der  5.  Minute  ab  eine  deutliche,  rasch  zunehmende 
Schichtung,  d.  h.  man  sah,  daß  sich  die  zelligen  Bestandteile  am  Boden 
des  Reagenzröhrchens  anhäuften  und  über  ihnen  stand  eine  klare,  durch- 
sichtige Flüssigkeitsschicht,  die  nach  und  nach  erstarrte.  Die  Erstar- 
rung erfolgte  verschieden  rasch,  je  nach  der  Menge  der  injizierten  Ge- 
latinelösung, so  daß  z.  B.  bei  0,8  g  pro  Kilogramm  Tier  IV« —2  Stun- 
den vergingen,  während  bei  l*/« — 2  g  pro  Kilogramm  schon  nach 
^/j  Stunde,  einige  Proben  schon  nach  Vi  Stunde  starr  wurden.  Als 
Beispiel  führe  ich  den  Versuch  Kaninchen  XV  (vgl.  p.  390)  an. 

Die  erwähnte  Schichtung  der  Blutproben  zeigt  sich  übrigens  in 
gleicher  Weise  nach  der  Einspritzung  von  Gelatine  Merck;  auch  hier 
sieht  man  je  nach  der  Menge  der  injizierten  Gelatine  früher  oder  später 
(^/^ — V»  Std.)  die  festen  Blutelemente  zu  Boden  sinken  und  darüber 


390 


Hermann  Kaposi, 


Kaninchen  XV.    Gewicht  1770  g.    Blutentnahme  S**  30';  geronnen  in  10'. 
Hirudininjektion  3"  31',  0,036  -=  9  ccm  Lösung. 


No.  d. 
Probe 


Zeit 


3"  33 ' 
3»»  36 ' 
3'»  40' 


Entnommen  nach 


2 '  n.  d.  Hirudininj. 

'S  ' 
Q ' 


Bemerkungen 


Die  Hirudinproben 
blieben  alle  am  an- 
deren Tage  flüssig 


5-proz.  Gelatineinjektion  30  g  (in  5'). 


3»-  46' 
3»»  50' 
3"  53' 
3^  55' 
4"  00' 


15 'n. 

d. 

Hirudininj. 

19'.. 

1t 

>» 

522 '„ 

n 

n 

24'.. 

1» 

>» 

'2Ö',. 

1* 

i> 

Die  Gelatineproben 
zeigt,  nach  ^/,  Std.be- 
ginnende  Schichtg., 
um  6'*,  also  ca.  2  Std. 
p.  inj.  waren  allestarr 


das  klare  Plasma,  das  aber  auch  nach  längerer  Zeit  (12 — 24  Std.) 
flüssig  bleibt. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  ich  auch  diese  Proben  unter  dem 
Mikroskope  betrachtete.  Das  Bild  war,  was  ja  nicht  weiter  wunderbar 
ist,  identisch  dem  früher  geschilderten:  verklumpte,  verklebte,  ver- 
quollene Blutschollen ;  die  Gelatine  hatte  eben  auch  innerhalb  des  Tier- 
körpers als  „Blutkörperchenleim^  gewirkt. 

Für  die  am  meisten  bei  den  vorgenannten  Versuchen  auffallende 
Erscheinung,  daß  bei  der  Gelatine  Merck  das  Blut  flüssig  bleibt,  bei 
der  unreinen,  gewöhnlichen  käuflichen  aber  eine  Erstarrung  eintritt, 
scheint  die  Erklärung  eine  sehr  naheliegende  zu  sein.  Erstere  ist  eben 
bei  Körper-  und  Zimmertemperatur  flüssig,  letztere  erstarrt  aber  bei 
der  genannten  Temperatur.  Man  könnte  also  vermuten,  daß  das  Blut 
nach  Injektion  käuflicher  Gelatine  gar  nicht  wirklich  gerinne,  sondern 
daß  die  Gelatine  im  Blute  nur  erstarre.  Dieser  Einwand,  den  sich 
schon  Dastre  und  Floresoo,  die  das  Phänomen  der  Schichtung  auch 
sahen,  selbst  gemacht  haben,  läßt  sich  sehr  einfach  dadurch  widerlegen, 
daß  man  die  Reagenzröhrchen,  sofort  nachdem  das  Blut  aufgefangen 
ist,  ins  Wärmebad  bei  38^  C  stellt.  Tut  man  dies,  und  ich  habe  die 
Probe  mehrmals  wiederholt,  so  tritt  die  Erstarrung  in  der  gleichen 
Weise  ein,  wie  bei  Zimmertemperatur. 

Die  Versuche,  auf  intravenösem  Wege  den  Antagonismus  zwischen 
Gelatine  und  Hirudin  zu  prüfen,  führten  also  zu  dem  Ergebnis,  daß 
die  Wirksamkeit  der  Erstarrungsfähigkeit  des  injizierten  Mittels  parallel 
geht.  Die  bei  Zimmertemperatur  flüssige  MERCKSche  Gelatine  führt 
wohl  zur  Eonglutinierung  der  zelligen  Elements  des  Blutes,  aber  nicht 
zur  Gerinnung,  die  unreine  Gelatine  hingegen  macht  die  Blutzellen 
sowohl  konglutinieren  als  das  Plasma  erstarren.  (Ob  wir  dies  eine 
echte  Gerinnung  nennen  dürfen,  bleibt  fraglich.)  Diese  merkwürdige 
DiflFerenz  bei  Anwendung  der  beiden  Gelatinesorten  mußte  unser  ganzes 
Interesse  auf  die  zu  gewinnenden  Resultate  bei  subkutaner  Anwendung 
lenken. 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung?  391 


Versuche  mitHirudin  und  subkutaner  Gelatineinjektion. 

Die  Frage,  ob  die  Gelatine  bei  subkutaner  Applikation  überhaupt 
in  den  Kreislauf  gelangt,  ja  selbst  ob  dies  bei  intraperitonealer  Injektion 
der  Fall  sei,  wurde  von  manchen  Forschern  zwar  geleugnet,  ist  aber 
jetzt  wohl  zu  Gunsten  der  Resorption  entschieden.  Man  kann  sich 
durch  die  Autopsie  des  Tieres,  und  auch  ich  habe  dies  wiederholt  ge- 
tan, davon  überzeugen,  daß  an  der  Einspritzungsstelle  nichts  mehr  von 
der  Gelatine  zu  finden  ist.  Wenn  man  z.  B.  unter  die  Tierhaut  ein 
Gelatinedepot  setzt,  das  sich  durch  einen  deutlichen  Buckel  nach  der 
Einspritzung  markiert,  und  diese  Vorwölbung  ist  nach  24  Stunden 
verschwunden,  so  muß  die  Gelatine  sich  zum  mindesten  verteilt  haben, 
und  wenn  sie  bei  der  Sektion  nicht  mehr  zu  sehen  ist,  so  ist  eine 
Resorption  nicht  wegzuleugnen.  Allerdings  muß  man,  wie  ich  kon- 
statieren muß,  sehr  vorsichtig  sein.  Ich  habe  öfters  bei  meinen 
Kaninchen  eine  größere  Menge  Gelatine  unter  die  Rückenhaut  ein- 
gespritzt (z.  B.  50—60  ccm)  und  war  dann,  besonders  anfangs,  wo  ich 
keine  Massage  der  deponierten  Gelatine  machte,  sehr  erstaunt,  am  an- 
deren Tage  am  Bauche  des  Tieres  einen  oder  mehrere  große  Buckel 
vorzufinden,  welche  sich  bei  näherer  Untersuchung  als  große  Gelatine- 
mengen herausstellten.  Die  Gelatine  hatte  sich,  der  Schwere  folgend, 
dem  subkutanen  Gewebe  entlang  an  die  tiefste  Stelle  gesetzt  und  fand 
sich  dort  vor.  Es  scheiterten  daher  meine  ersten  Versuche  der  sub- 
kutanen Applikation  an  der  offenbar  zu  geringen  spontanen  Resorption, 
und  erst  nachdem  ich  das  Gelatinedepot  ca.  10  Minuten  kräftig  massiert 
hatte,  oder  wenn  ich,  was  allerdings  für  das  Tier  sehr  schmerzhaft  ist, 
intramuskulär  injizierte,  fielen  meine  Versuche  positiv  aus. 

Daß  die  Gelatine  resorbiert  wird,  soll  übrigens  nach  v.  Bolten- 
STERN  auch  dadurch  festgestellt  sein,  ^daß  sie  als  solche  wieder  aus- 
geschieden wird,  zum  Teil  durch  den  Harn,  während  der  andere  Teil 
im  Körper  verbrannt  wird".  Vielleicht  auch  wird  nicht  in  allen  Fällen 
Gelatine  wieder  ausgeschieden.  Lewandowski  beobachtete  in  einem 
Falle,  „daß  ein  Fat.  nach  2  Injektionen  von  je  1  g  Gelatine  dauernd 
Spuren  von  Leim  ausschied,  nachgewiesen  durch  den  Niederschlag, 
welcher  nach  Tanninzusatz  oder  durch  Kochen  mit  Essigsäure  nach 
Sättigung  mit  Kochsalzlösung  auftritt".  Für  die  Nachprüfung  der  nun 
zu  schildernden  Versuche  möchte  ich  auf  die  oben  erwähnte,  länger 
dauernde  künstliche  Verteilung  der  Gelatine  mit  Massage  besonders 
aufmerksam  machen,  weil  man  sonst,  wie  es  auch  mir  anfangs  ging, 
nur  zweifelhafte  oder  negative  Resultate  erhalten  wird.  Auch  die  Ein- 
haltung der  Zeitintervalle  zwischen  Gelatineeinspritzung  und  Hirudin- 
injektion  ist  von  Wichtigkeit,  da  vielleicht  das  Blut  erst  eine  bestimmte 
Menge  Gelatine  aufgenommen  haben  muß,  ehe  sich  der  Antagonismus 
der  beiden  Substanzen  in  eklatanter  Weise  äußert. 


392 


Hermann  Kaposi, 


Die  Versuche  gelingen  dann  da  am  besten,  wenn  die  Hirudinlösung 
frisch  bereitet  ist,  eine  mehrere  Tage  aufbewahrte  Lösung  verliert 
an  Wirksamkeit. 

Zuerst  versuchte  ich,  die  Gelatinewirkung  zu  prüfen,  indem  ich 
Blut  durch  Hirudin  ungerinnbar  machte  und  gleich  nach  der 
Hirudininjektion  Gelatine  subkutan  einspritzte. 

Ich  begann  auch  in  dieser  Versuchsreihe  mit  der  vielfach  als  aus- 
reichend angegebenen  Menge  von  0,8  g  auf  1  kg  Tier. 

Um  den  Versuchsfehler  auszuschalten,  der  durch  eventuelles 
Zurückbleiben  von  Blutgerinnseln  in  der  Kanüle  sich  hätte  einstellen 
können,  wurden  bei  allen  Subkutanversuchen  die  ersten  3—4  Proben 
der  einen  Kanüle,  die  5.  Probe  aber  der  anderen,  frischen,  in  die 
zweite  Carotis  eingeführten  Kanüle  entnommen.  Wie  zu  erwarten 
war,  fielen  diese  Versuche  nicht  beweisend  aus.  Hirudin  wirkt  ja 
nur  sicher  gerinnungshemmend  während  der  ersten  30  Minuten,  und 
bis  zur  Resorption  der  Gelatine  vergeht  immerhin  eine  längere  oder 
kürzere,  jedenfalls  nicht  genau  bestimmbare  Zeit.  Trotzdem  konnte  in 
einigen  Versuchen  bei  den  Blutproben,  welche  in  der  15.  bis  zur 
30.  Minute  nach  der  Hirudininjektion  entnommen  waren,  beginnende 
Gerinnung  nachgewiesen  werden,  was  bei  den  Kontrolltieren  mit 
Hirudineinspritzung  allein,  wenn  die  genau  gleiche  Menge  injiziert 
wurde,  niemals  der  Fall  war. 

Ich  erhielt  z.  B.  folgendes  Resultat  : 

Kaninchen  XVIII.  1550  g.  NormaleB  Blat  entnommen  4'*  28';  gerinnt 
von  4»»  35'  bis  40'.    Hirudin  0,032  («=  8  ccm  Lösung)  4»»  29'. 


No.  d. 
Probe 


Zeit 


I 


Entnommen  nach 


Bemerkungen 


1  4»>31 

2  4"  33 

3  4"  36 


2'  nach  Hirudininjektion 

6;    „ 

8       ,t  11 


Alle  Hirudinproben  blieben  nach 
24  Stunden  flCissig 


Subkutane  Injektion  von  25  ccm  käuflicher  Gelatinelösung  (5  Proz. 

A^  37'  bis  4»»  39'. 


1,25  g  Gelatine) 


4h 

41' 

4h 

44' 

4" 

48' 

4»- 

52' 

4»« 

55' 

2 '  nach  Gelatine,  (12 '  nach  Hirudin) 

5  jt            ii         (lo        M            »I      } 

9  ;i                  11             (19           „                  11         ) 

13  „             „          (do        tf             I,       ) 

16'  „           „        (26'     „           „      ) 


Probe  1—3  der  Gelatineproben 
blieben  ebenfalls  flüssig.  Proben 
4  und  5  zeigten  um  8^  abends 
beginnende  Gerinnung,  am  an- 
deren Morgen  waren  sie  erstarrt 


Ich  will  gleich  vorwegnehmen,  daß  ich  eine  solche  Andeutung  einer 
Gerinnung  bei  Injektion  von  MERCKScher  Gelatine  gleich  nach 
der  Hirudineinspritzung  nie  fand. 

Eine  sicher  beweisende  Beschleunigung  der  Gerinnung  durch 
Gelatine,  sowie  eine  deutliche,  immer  mehr  zu  Tage  tretende  Differenz 
zwischen  Gelatina  sterilisata  und  der  käuflichen  gewöhnlichen  Gelatine 
bekam  ich  aber  erst,  als  ich  die  Gelatine  vor  der  Hirudinlösung  sub- 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blutgerinnung! 


393 


kutan  injizierte  und  besoDders  als  ich    die  Mengen,    welche   injiziert 
wurden,  steigerte. 

Ich  stelle  zunächst  folgende  2  Versuche  einander  gegenüber: 

Kaninchen  XXII.  Gewicht  1600  g.  S^  20'  normaleti  Blut;  gerinnt  in  7'. 
3**  25'  25  ocm  10-otoz.  Gelatine  (»  2,5  g  gelöst  unrein)  subkutan,  3''  50'  0,036  g 
(«  9  ccm  Lösung)  Hirudin  eingespritzt : 

Bemerkungen 

Probe   1   nach  24  Std.   flüssig. 
Proben  2—5  zeigen  um  5»»  be- 

finnende  Gerinnung  (auch  Probe 
,  frisches  Böhrchenl)   um   6** 
alle  fest  geronnen 

Der  gleiche  Versuch  mit  Gelatina  sterilisata  Merck  lautet: 

Kaninchen  XXI.  Ge?richt  1510  g.  3**  15'  natives  Blut,  geronnen  in  8'. 
8^  20'  25  ccm  Gelatina  Mebck  («  2^  ccm  gelöst)  subkutan,  3»  40'  0,03  (»  7,5  ccm 
Lösung)  Hirudin: 


p^l^-    Zeit                     Entnommen  nach 

1  13»' 55' 

2  4>'00' 

3  ,4*05' 

4  '4"  10' 

5  ,4 "  15 ' 

30' nach  Gelatine,    5' nach  Hirudin 
3o       „          „            10       „          „ 

4o;    „       „        15;    „ 

40        „            „             dy)        „           „ 

60'     „         „          25'     „ 

No.  d.l 
Probe! 


Zeit 


Entnommen  nach 


Bemerkungen 


j3M2' 
i3  »•  45 ' 
!3*50' 
|3»'55' 

k^oo' 


4»'05',45' 


22'  nach  Gelatine,  2' 

25'     „         „  5 

30'     „         „  10 

35'     „  „  16 

40'     „  .,  20 


nach  Hirudin  'Alle  Proben    nach   16   Stunden 
I  noch  flüssig! 


25' 


Nicht  bei  allen  in  gleicher  Weise  angestellten  Versuchen  ist  die 
Differenz  so  eklatant,  wie  in  den  beiden  angeführten.  Es  trat  mitunter 
in  den  mit  Meroks  Gelatine  angestellten  Proben  nach  5—7  Stunden 
(in  den  Blutproben  4 — 6)  leichte  Gerinnung  auf,  die  bis  zum  anderen 
Morgen  stärker  wurde,  manchmal  auch  zur  Erstarrung  führte.  Vor 
der  5.  Stunde  aber  sah  ich  diese  Gerinnsel  nie,  während  nach  der 
gleichen  Menge  gewöhnlicher  Gelatine  die  Gerinnung  meist  nach  1  bis 
3  Stunden  vollendet  war.  Nur  die  erste  (1  Minute  nach  Hirudin- 
injektion)  entnommene  Probe,  einige  Male  auch  die  2.  (3—5'),  blieben 
stets  flüssig.  Die  gerinnungshemmende  Wirkung  des  Blutegelextraktes 
kam  da  offenbar  noch  voll  zur  Geltung. 

Es  ist  wohl  überflüssig,  alle  Versuche  anzuführen,  die  ich  anstellte, 
um  die  beste  Zeit  und  die  nötige  Menge  der  wirksamen  Gelatine  aus- 
zuprobieren. Die  sichersten  Resultate  erhielt  ich,  wenn  die  Gelatine 
3V9~4  Stunden  vor  dem  Hii'udin  eingespritzt  wurde,  und  wenn  sie 
mindestens  4  g  pro  Kilogramm  Tier  betrug.  Es  erscheint  diese  Menge 
enorm  im  Vergleich  zu  den  beim  Menschen  therapeutisch  empfohlenen 
und  angewandten  Gelatinemengen.  Mir  kam  es  aber  auch  auf  keine 
therapeutischen  Wirkungen  an,  ich  arbeitete,  wenn  ich  so  sagen  darf, 
am  künstlich  hämophil  gemachten  Tiere,  und  der  Zweck  meiner  Arbeit 
war  nur,  den  Antagonismus  zwischen  den  gerinnungshemmenden  Hirudin 


394 


Hermann  Kaposi, 


und  der  Gelatine  festzustellen,  um  dadurch  die  oft  angezweifelte  Wirk- 
samkeit der  Gelatine  zu  beweisen. 

Arbeitete  ich  nun  mit  vorgenannten  Mengen  und  Zeiten,  so  erhielt 
ich  folgende  Befunde  (ich  vergleiche  wieder  unreine  Gelatine  mit 
Gelatina  sterilisata) : 

Kaninchen  XXX.  Gewicht  1620  g.  1*  P/,  Tuben  MEBCK-Gelatioe  H  6g 
Gelatine)  sabkntan.    4*>  0,036  (^  9  ccm)  Hirodin: 


No.  d. 
Probe 

Zeit 

Ehitnommen  nach 

Bemerkungen 

1 
2 
3 

4 
5 
6 

4  »«02' 
4>'05' 
4"  10' 
4M5' 
4*20' 
4''25' 

2' 
5' 
10' 
15' 
20' 
25' 

12  «^  nachts  aUe 
flüseig 

Im  Gegensatz  dazu: 

Kaninchen  XXXIV.    Gewicht  1300  g.    '/.l"*  60  ccm  lO-pros.  unreine  Gela- 
tine (=  6  Gelatine).    3»'  07'  0,026  Hirudin  (=  67,  ccm): 


No.  der 
Probe 


1 
2 
3 
4 
andere  f  5 


Zeit 


3M0' 
3*  15' 
3»»  20' 
3  »»25' 
?.''30' 


Caroti8l6  3''35 


Entnommen  nach 


3' 
8' 
13' 
18' 
23' 
28' 


Bemerkungen 


\   4»'  15'   XT"         fest 
/bcginnend/5*  30'    „ 

1  um  4*  15'  fest  ge- 
I  rönnen 


oder 


Kaninchen  XXXV.    Gewicht  1440  g.    "AI''  60  ccm  10-proz.  Gelatine  unrein. 
4^  23'  Hirudin  0,03  (6\',  ccm): 


No.  d. 
Probe 


Zeit 


4^25' 
4»' 30 
4*35 
4''40 
4"  45 
4  "50' 


Entnommen  nach 


frische  Kanüle| 
andere  CarotlBl 


Bemerkungen 


5»»  10'  geronnen 
4**  50'  geronnen 
5*  10'  geronnen 


Es  gelingt  also,  durch  meine  Versuchsanordnung  nachzuweisen: 
1)  daß  die  Gelatine  zweifellos  eine  gerinnungsbefördernde  Wirkung  hat, 
und  2),  daß  der  bei  Zimmertemperatur  flüssigen  Gelatina  sterilisata 
eine  geringere  Wirkung  zukommt,  als  der  unreinen,  für  gewöhnlich 
starren  Gelatine.  Es  bleibt  die  Frage  zu  beantworten:  Wie  ist  dieser 
Unterschied  der  Wirksamkeit  zu  erklären?  und  was  für  eine  Vor- 
stellung von  der  Art  der  Wirksamkeit  der  Gelatine  können  wir  uns 
aus  vorstehendem  machen? 

Auch  hier  darf  ich  nicht  verschweigen,  daß  in  einigen  Versuchen 
mit  der  Gelatina  sterilisata  Merck  in  Proben  3—6  (niemals  in  1—2) 


Hat  die  Oelatine  einen  Einflaß  auf  die  Blntgerinnong  ?  395 

nach  5—6  Stunden  (jerinnselbildung  auftrat,  die  stets  sehr  langsam 
zunahm,  so  daß  erst  nach  4—6  weiteren  Stunden  die  Gerinnung  kom- 
plett wurde.  In  eklatanten  Fällen  —  ich  habe  von  jeder  Reihe  fast 
2  Dutzend  untersucht  —  verliefen  die  Versuche  so,  wie  sie  oben 
einander  gegenübergestellt  wurden. 

Die  erste  Frage  beantwortet  sich  relativ  einfach.  Der  Grund  liegt 
wahrscheinlich  in  dem  großen  Gehalt  der  Gelatina  sterilisata  Merck 
an  Gelatosen.  Zur  Abspaltung  dieser  aus  der  Gelatine  muß  es  ja 
bei  der  Art  der  Darstellung  kommen.  Wie  aus  dem  jeder  Tube  bei- 
gegebenen Prospekte  hervorgeht,  wird  die  Gelatine  folgendermaßen  dar- 
gestellt 0: 

„Knochen  und  Bindegewebe  notorisch  gesunder,  unter  Kontrolle 
eines  beamteten  Tierarztes  geschlachteter  Kälber  werden  mehrere  Stunden 
im  Autoklaven  erhitzt  und  von  da  ab  unter  der  strengsten  aseptischen 
Vorsichtsmaßregel  behandelt  Nach  Kochsalzzusatz  wird  die  Lösung 
neutralisiert,  filtriert  und  in  Glasröhren  abgefüllt,  welche  evakuiert,  zu- 
geschmolzen und  aufs  sorgfältigste  durch  mehrfaches  Erhitzen  im 
Autoklaven  sterilisiert  werden.  Nach  dem  Sterilisieren  werden  die 
Röhren  noch  eine  Reihe  von  Tagen  bei  Brut-  und  Zimmertemperatur 
auf  Sterilität  beobachtet.'' 

Dieses  Erhitzen  im  Autoklaven  ist  eine  der  sichersten  Me- 
thoden, um  aus  der  Gelatine  ihre  Spaltungsprodukte,  die  Gelatosen,  zu 
gewinnen  (s.  Untersuchungen  von  Dastre  und  Floresco  p.  379). 
Gelatosen  aber  haben,  wie  vielfach  festgestellt  wurde  (Hammarsten 
u.  a.),  gerade  die  entgegengesetzte  Wirkung,  sie  verlangsamen  die 
Blutgerinnung. 

Auch  Brat^,  welcher  mit  Gl u ton  (einer  reinen  Gelatose)  arbeitete, 
fand,  daß  „die  Wirkung  der  Gelatine  mit  der  des  Peptons  qualitativ 
identisch  ist^  das  heißt  die  Blutgerinnung  aufhebt  resp.  verlangsamt 
Seine  Tierversuche,  welche  die  Vermehrung  der  Fibrinausscheidung 
dartun  sollen,  sind  schon  in  der  Methode  anfechtbar  und  auch  die  von 
ihm  gegebenen  Abbildungen  der  gewonnenen  Gerinnsel  weisen  für  mich 
keine  auffallende  Differenz  auf. 

Um  so  schwieriger  ist  die  Beantwortung  der  zweiten  Frage.  Wir 
müssen  da  meiner  Ansicht  nach  die  Wirkung  bei  lokaler  (intra- 
venöser) Applikation  von  der  bei  subkutaner  trennen.  Beim  Kontakt 
von  Gelatine  mit  dem  Blute  spielt  zweifellos  die  unter  dem  Mikroskope 


1)  Die  vor  beschriebenen  Versuche  wurden  mit  einer  Gelatina  sterili- 
sata (Mbrgk)  abgestellt,  welche,  wie  erwähnt,  bei  Zimmertemperatur  flüssig 
ist.  Nach  einer  mir  zugekommenen  Mitteilung  der  Fabrik  bringt  dieselbe 
jetzt  sterile  Gelatine  in  den  Handel,  welche  bei  derselben  Temperatur  er- 
starrt. Mit  dieser  habe  ich  keine  Versuche  gemacht,  kann  daher  kein 
Urteil  über  dieselbe  abgeben. 

2)  Brat,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1902,  No.  49  u.  60. 


396  Hermann  Kaposi, 

zu  verfolgende  Quellung,  Zusammenleimung,  Eonglutinierung  eine  Haupt- 
rolle, und  es  ist  wohl  a  priori  verständlich,  daß  ein  solches  Verkleben 
der  Blutkörperchen  die  Blutgerinnung  befördern  muß. 

Die  Wirkungsweise  bei  subkutaner  Einverleibung  wird  nicht 
sicher  erklärt  werden  können,  so  lange  man  nicht  weiß,  in  welcher 
Form  die  Gelatine  in  den  Kreislauf  gelangt.  Sollte  sie  als  solche  re- 
sorbiert werden  (was  nicht  wahrscheinlich  ist),  so  könnte  ihr  Vermögen, 
die  Blutkörperchen  zu  konglutinieren,  sich  überall  dort,  wo  Blut  die 
normale  Gefäßwand  verläßt,  oder  die  Zirkulation  eine  verlangsamte  ist, 
besonders  geltend  machen.  Vielleicht  wird  die  Entdeckung  Molls^ 
zur  Lösung  der  Frage  beitragen.  Er  fand,  daß  das  Blut  von  Tieren, 
die  mit  wiederholten  subkutanen  Injektionen  von  Eiweißkörpern  aller 
Art  behandelt  worden  waren,  neben  Veränderungen  der  Eiweißkörper 
des  Serums  auch  andere  Gerinnungsverhältnisse  zeigten;  es  fiel  ihm 
auf,  daß  der  Blutkuchen  eines  solchen  Tieres  viel  fester  war,  als  bei 
normalem  Tier.  Quantitative  Untersuchungen  ergeben  nun,  daß  das 
Fibrinogen  in  einem  solchen  Blute  im  Vergleiche  zu  dem  Fibrinogen- 
gehalte  vor  der  Eiweiß(Gelatine)injektion  sehr  erheblich  vermehrt  war. 
Am  intensivsten  zeigte  sich  diese  Erscheinung  im  Blute  von  Tieren, 
denen  Gelatine  subkutan  verabreicht  worden  war.  Die  Zunahme 
war  erst  nach  12 — 24  Stunden  konstatierbar  und  betrug  gewöhnlich 
das  Doppelte  des  ursprünglichen,  normalen  Fibrinogengehaltes. 

Meine  Versuchsanordnung  wird  zur  Erklärung  der  Gelatine- 
wirkung auf  normales  Blut  nicht  ohne  weiteres  herangezogen  werden 
können,  weil  ich  ja  durch  die  vorhergehende  Hirudininjektion  das 
Fibrinferment  im  Blute  unwirksam  machte.  Wenn  das  Blut  bald  wieder 
gerinnen  soll,  so  muß  das  Ferment  wieder  frei  werden  oder  hinzu- 
gefügt werden.  Vielleicht  läßt  sich  eine  Erklärung  meiner  Resultate 
auf  folgende  Weise  geben.  Durch  Pekelharing  ist  folgendes  fest- 
gestellt worden :  Trennt  man  im  Blutegelblute,  das  spontan  nicht  gerinnt^ 
durch  Zentrifugieren  das  Plasma  von  den  Blutkörperchen,  behandelt 
die  letzteren  dann  mit  Wasser,  so  werden  sie  zerstört,  das  Zymogen 
des  Fibrinfermentes  wird  frei,  und  fügt  man  diese  Flüssigkeit  jetzt  dem 
Blutegelplasma  zu,  so  tritt  sofort  Gerinnung  ein.  Die  Rolle  des  Wassers 
in  dem  vorgenannten  Versuche  könnte  in  meinen  Versuchen  die  Gelatine 
spielen.  Vielleicht  weisen  die  mikroskopischen  Befunde  auf  eine  Beein- 
flussung der  Blutkörperchen  durch  Gelatine  hin  und  vielleicht  würde 
so  dem  Blute,  das  kein  Fibrinferment  mehr  besaß,  wieder  solches  resp. 
dessen  Zymogen  zugeführt.  Vielleicht  geschieht  dies  auch  bei  der  An- 
wendung der  Gelatine  zu  therapeutischen  Zwecken,  unfl  man  könnte 
dann  annehmen,  daß  nicht  nur  Fibrinogen  (Moll  1.  c),  sondern  auch 
das  Fibrinferment  dem  Blute  zugeführt  resp.  neugebildet  wird.    Selbst- 


1)  Moll,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1903,  No.  44,  p.  1215. 


Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  auf  die  Blatgerinnung  ?  397 

verständlich  kommt  dieser  Erklärung  vorläufig  höchstens  der  Wert  einer 
Hypothese  zu. 

Darstellung  wirksamer,  steriler  Gelatine. 

Da  aus  meinen  Versuchen  erhellt,  daß  die  im  Autoklaven  sterili- 
sierte und  dadurch  sicher  keimfrei  gemachte  Gelatine  infolge  ihres  Reich- 
tums an  Gelatosen  weniger  wirksam  ist,  als  die  gelatosefreie,  so  handelte 
es  sich  darum,  eine  sicher  keimfreie  Gelatine  an  ihre  Stelle  zu  setzen. 
Ich  brauchte  nicht  lange  nach  einer  solchen  zu  suchen.  Paul  Krause  ^) 
hat  nicht  nur  nachgewiesen,  daß  in  den  meisten  Fällen,  welche  an 
Tetanus  nach  Gelatineeinspritzung  gestorben  waren,  die  Gelatine  gar 
nicht  oder  höchst  mangelhaft  sterilisiert  war,  sondern  er  gab  auch  ein 
Verfahren  an,  das  ein  einwandsfreies  Sterilisieren  der  Gelatine  garan- 
tiert. Nach  zahlreichen,  hier  nicht  weiter  ausgeführten  Versuchen  kann 
ich  auch  behaupten,  daß  diese  „Krause sehe  Gelatine**,  welche  am 
Menschen  ohne  Gefahr  anwendbar  ist,  sich  auch  im  Tierexperimente 
wirksam  erwies.  Allerdings  ist  ihr  die  gewöhnliche,  rohe  Gelatine  an 
Wirksamkeit  überlegen.  Eine  geringe  Einbuße  der  gerinnungsbeför- 
dernden  Eigenschaften  wird  man  wohl  bei  jeder  Sterilisation  in  Kauf 
nehmen  müssen.    Das  KRAUSEsche  Verfahren  lautet  wörtlich: 

„1 — 5  g  bester  Gelatina  alba  werden  in  etwa  40^  C  warmer,  steriler, 
0,5-proz.  Kochsalzlösung  vollständig  aufgelöst,  darauf  in  den  Dampftopf 
in  strömenden  Dampf  von  100®  C  V2  Stunde  gebracht;  am  zweck- 
mäßigsten erscheint  es  mir,  die  Gelatine  von  Anfang  an  in  einer  weit- 
halsigen  Flasche  mit  eingeschlilfenem  Glasstöpsel  aufzubewahren  und 
zu  sterilisieren.  Die  Sterilisation  wird  an  5  aufeinanderfolgenden  Tagen 
je  V2  Stunde  wiederholt;  es  ist  darauf  zu  achten,  daß  der  Dampf  stets 
die  Temperatur  von  100^  C  habe,  ehe  die  Gelatine  in  den  Dampftopf 
gesetzt  wird.  Nach  der  3.  Sterilisation  wird  jede  Gelatine  kulturell 
und  mittels  Tierversuches  auf  ihre  Sterilität  geprüft. 

Wird  an  Stelle  der  sauren  Gelatine  eine  alkalische  vorgezogen^ 
was  entschieden  Vorteile  bietet,  da  die  schwach  alkalisch  gemachte 
Gelatine  schneller  und  schmerzlos  resorbiert  wird,  so  empfiehlt  sich  die 
Alkalisierung  mittels  Vio  Normalnatronlauge  oder  Sodalösung  vor 
der  ersten  Sterilisation  vorzunehmen.  Wird  die  Gelatine  danach  trübe^ 
so  kann  sie,  wenn  es  gewünscht  wird,  durch  wiederholte  Filtration  oder 
Klärung  mittels  Eiweißlösung  (mit  kurzem  Aufkochen)  und  nachfolgender 
Filtration  sehr  leicht  wasserklar  gemacht  werden.  Nach  der  letzten 
Sterilisation  wird  der  Stöpsel  der  Flasche  mit  sterilem  Pergamentpapier 
fest  verbunden;  die  Gelatinelösung  ist  monatelang  haltbar." 

Die  nach  der  angegebenen  Methode  sterilisierte  Gelatine  enthält 
wenig  Gelatosen  und  erstarrt  bei  Zimmertemperatur. 


1)  Kbause,  P.,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1902,  No.  29. 


398     H.  Kaposi,  Hat  die  Gelatine  einen  Einfluß  anf  die  Blutgerinnung 

Zur  Prüfung  der  Sterilität  habe  ich  einige  Tierversuche  gemacht. 
Aus  dem  hygienischen  Institute  bekam  ich  durch  die  Güte  des  Assistenten 
Herrn  Dr.  Marschall  virulente,  frisch  angelegte  Tetanuskulturen.  Ihre 
Wirksamkeit  wurde  bei  2  Meerschweinchen  und  2  Kaninchen  ausprobiert, 
dann  setzte  ich  vor  dem  Sterilisieren  der  Gelatine  in  unserer  Apotheke 
eine  frische  Agarkultur  meines  Tetanus  hinzu,  und  nach  Ablauf  der 
vorgeschriebenen  5  Tage  injizierte  ich  wieder  2  Kaninchen  und  ebenso 
viele  Meerschweinchen  mit  einigen  Kubikcentimetem  der  Gelatine,  die 
in  warmem  Wasser  bis  zur  Verflüssigung  erwärmt  worden  war.  Die 
Tiere  zeigten  keine  Reaktion. 

Die  KRAüSEsche  Methode  der  Sterilisation  erscheint  mir  durchaus 
empfehlenswert,  da  sie  nach  meinen  Tierexperimenten  die  gerinnungs- 
befördernde  Wirkung  der  Gelatine  nicht  zer3tört 

Schlußsätze. 

Die  Gelatine  hat  eine  die  Blutgerinnung  beschleunigende  Wir- 
kung, die  sich  im  Tierexperimente  durch  den  Antagonismus  gegen  das 
gerinnungshemmende  Hirudin  einwandsfrei  nachweisen  läßt 

Zur  lokalen  Applikation  kann  wohl  die  bei  Zimmertemperatur 
starre,  wie  die  gelatosenreiche,  bei  dieser  Temperatur  flüssige  „Gelatina 
sterilisata^'  Anwendung  finden,  da  ihre  Wirkung  nach  Sagkur  eine  we- 
sentlich physikalische,  Blutkörperchen  konglutinierende  ist. 

Zur  subkutanen  Anwendung  empfiehlt  sich  die  gewöhnliche, 
erstarrende  Gelatine  vor  der  weniger  wirksamen  flüssigen  „Gelatina 
sterilisata". 

Die  Sterilisation  der  Gelatine  hat  nach  der  Methode  von 
P.  Krause  zu  geschehen,  d.  h.  an  5  aufeinanderfolgenden  Tagen  bei 
100«  C  im  Dampftopf  je  V2  Stunde  lang. 

Diese  Art  der  Sterilisation  genügt,  hebt  aber  weder  das  Er- 
starrungsvermögen noch  die  Wirksamkeit  der  Gelatine  auf. 


Aus  der  chirurgischen  Klinik  (Geh.-Rat  von  Mikulicz) 
und  dem  pharmakologischen  Institute  (Geh.-Rat  Filehne)  zu  Breslau. 


Nachdruck  Terboten. 

XVIL 

Zur  Pathologie  des  oifenen  Pneumothorax 

und  die  Grundlagen  meines  Yerfahrens  zu 

seiner  Ausschaltung. 

Von 

Dr.  SauerbruclL, 

wissenschaftlichem  Assistenten  der  Klinik. 

(Hierzu  9  Abbildungen  und  12  Kurven  im  Texte,  und  2  Kurvenbeilagen.) 


I.  Einleitung. 

Der  gewaltige  Fortschritt,  den  die  allgemeine  Anerkennung  der 
Asepsis  in  der  Medizin  bedeutet,  beruhte  in  erster  Linie  darauf,  daß 
unter  ihrem  Schutze  neue  Gebiete  des  Körpers,  speziell  die  Körper- 
höhlen, dem  Messer  des  Chirurgen  zugänglich  wurden.  Ganz  besonders 
gilt  dies  von  ider  Bauchhöhle.  Die  Scheu  vor  ihrer  Eröffnung  schwand, 
und  heute  gibt  es  wohl  kaum  ein  Organ  des  Abdomens,  das  nicht  ge- 
legentlich operativ  behandelt  würde. 

Die  meisten  Erkrankungen  der  Brustorgane  haben  noch  bis  heute 
dem  Chirurgen  getrotzt.  Wir.  haben  keine  Thoraxchirurgie,  die  sich 
der  abdominalen  ebenbürtig  an  die  Seite  stellen  könnte.  Zum  Teil 
liegt  es  in  der  Art  der  Erkrankung,  von  der  die  Brustorgane  befallen 
werden  —  Emphysem,  Vitium  cordis  — ,  daß  hier  die  innere  Therapie 
allein  zu  Worte  kommt;  aber  auch  Tumoren  und  Verletzungen,  ja  selbst 
diejenigen  mit  gefährlichen  Blutungen,  die  bei  allen  anderen  Organen 
eo  ipso  dem  Chirurgen  gehören,  sind  ihm  hier  nur  unter  besonders 
günstigen  topographischen  Verhältnissen  erreichbar.  Daneben  spielen 
die  Schwierigkeiten  der  Diagnose  eine  große  Rolle.  Die  starre  Brust- 
wand verhindert  eine  zuverlässige  Palpation.  Auskultation  und  Per- 
kussion haben  nur  einen  bedingten  Wert,  und  die  RÖNTGEN-Durchleuch- 
tung  liefert  auch  keine  unzweideutigen  Befunde,  zumal  sie  im  wesentlichen 
nur  die  in  verringertem  Maße  lufthaltigen  Partien  der  Lunge  von  den 
normal  lufthaltigen  differenziert.  Eher  kommt  sie  für  das  Maß  der 
respiratorischen  Beweglichkeit,  in  erster  Linie  des  Zwerchfells,  für  die 
Herzgrenzen  u.  a.  in  Frage.    Die  indirekten  Symptome,  Fieber,  Art  und 

HittflU.  a.  d.  ONDSfebletan  d.  Madisln  u.  Chirnrcle.    2UL  Bd.  26 


400  Sauerbruoh, 

Menge  des  Auswurfes,  Schmerzen  etc.  haben  noch  weniger  Wert  für  die 
Lokaldiagnose;  wir  sind  meistens  nur  in  der  Lage,  die  Art  des  Leidens 
sicher  zu  diagnostizieren,  aber  nicht  immer  mit  der  wünschenswerten  Ge- 
nauigkeit seinen  Sitz  und  seine  Ausdehnung.  Das  ist  aber  für  jede 
erfolgreiche  chirurgische  Behandlung  eine  conditio  sipe  qua  non! 

Den  Hauptgrund  für  diese  Reserve  der  Chirurgen  den  Erkrankungen 
der  Brustorgane  gegenüber  bilden  aber  die  besonderen  physikalischen  Ver- 
hältnisse des  Brustraumes.  Die  physiologische  DruckdüFerenz  zwischen 
Lungen  und  Brustfellraum  wird  durch  das  Eindringen  der  atmo- 
sphärischen Luft  in  den  letzteren  gestört;  die  Lunge  kollabiert,  ihrer 
Elastizität  folgend;  ein  Pneumothorax  mit  seinen  Gefahren  entsteht 
Die  durch  das  Tierexperiment  und  auch  beim  Menschen  immer  wieder 
gemachte  Erfahrung,  daß  durch  den  Kollaps  einer  Lunge  das  Leben 
bedroht,  durch  den  beider  so  gut  wie  ausgeschlossen  ist,  machte  bisher 
fast  aUe  Eingriffe  unmöglich,  bei  denen  mit  dieser  Komplikation  sicher 
zu  rechnen  war. 

Aber  trotzdem  hat  man  auch  dieses  Gebiet  sich  zu  erringen  ver- 
sucht. In  erster  Linie  hat  sich  darum  Quincke,  der  vielleicht  der 
Begründer  der  modernen  Lungenchirurgie  genannt  werden  darf,  Ver- 
dienste erworben.  Vor  Quinckes  grundlegender  Arbeit  „lieber  die 
Pneumotomie**  (Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.,  1896)  ist  allerdings 
schon  hier  und  da  ein  Absceß  oder  Gangränherd  der  Lunge  geöffnet 
worden;  seitdem  Quincke  dann  aber  eine  ganz  spezieUe  Technik  für 
Lungenoperationen  ausgebildet  hat,  haben  sich  die  Mitteilungen  über  die 
operative  Behandlung  der  Lungenerkrankungen  gehäuft.  Ich  erinnere 
an  die  Arbeiten  von  Garr^,  Korteweo,  W.  Müller,  Bardenheuer, 
Lenhartz  u.  a.  Besondere  Erwähnung  verdient  auch  noch  der  Vortrag 
von  R£cLUS  auf  dem  französischen  Chirurgenkongreß  zu  Paris  189Ö: 
^La  Chirurgie  du  poumon''. 

Immerhin  war  aber  das  Arbeitsfeld  des  Chirurgen  an  den  Or- 
ganen der  Brusthöhle  eng  begrenzt  Die  Verletzungen  des  Herzens 
sind  nach  Rehns  kühnem  Beispiele  von  Parrozoni,  Kosinski, 
Paoenstecher  u.  a.  chirurgisch  behandelt  worden;  subpleurale  Tu- 
moren sind  nach  vorheriger  Verklebung  der  Pleurablätter  entfernt, 
Gangrän-  und  Absceßhöhlen  eröffnet  und  drainiert  worden.  Von 
einer  Naht  des  Zwerchfells  berichtet  Farinatto  in  einem  Falle,  wo 
Darm  in  die  Pleurahöhle  getreten  war  (Operation  nach  Postemskt- 
Rüdiqer)  ;  auch  bei  der  Operation  von  Brustwandtumoren  wurden  Teile 
des  Zwerchfells  reseziert  (v.  Mikulicz).  Alle  Eingriffe  an  dem  Brust- 
teile der  Speiseröhre  haben  letal  geendet,  mit  Ausnahme  eines  einzigen 
Falles  von  Enderlen,  dem  es  gelang,  ein  verschlucktes  Gebiß  aus  der 
Speiseröhre  auf  transpleuralem  Wege  zu  entfernen.  In  der  Hauptsache 
aber  wurden  Pleuraerkrankungen,  vor  allem  das  Empyem,  operativ  be- 
handelt. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  401 

Bei  diesen  wenigen  bisher  möglichen  operativen  Eingriffen  ist  es, 
trotz  Asepsis  und  der  verbesserten  diagnostischen  Hilfsmittel,  geblieben. 
An  dem  Stillstande  auf  diesem  Gebiete  ist  eben  ein  anderer  Faktor 
schuld:  die  Pneumothoraxgefahr,  die  man  nicht  zuverlässig  aus- 
schließen konnte. 

IL  Pathologie  des  Pneumothorax. 

Zum  Verständnis  der  Pathologie  des  Pneumothorax  ist  eine  Klar- 
legung der  physiologischen  Verhältnisse  notwendig,  auf  die  ich  des- 
halb vor  Besprechung  meiner  eigenen  Untersuchungen  in  Kürze  ein- 
gehen will. 

Das  Herz  und  die  großen  Gefäße  sind  gemeinsam  mit  den  Lungen 
luftdicht  in  den  Brustraum  eingefügt.  Die  Lungen  werden  durch  den 
von  der  Luftröhre  her  auf  ihre  innere  Oberfläche  wirkenden  Atmo- 
sphärendruck in  ausgedehntem  Zustande  erhalten.  Auf  der  äußeren 
Brustwand  lastet  ebenfalls  der  Druck  von  einer  Atmosphäre,  der  aber 
von  dem  Brustkorbe  vollständig  getragen  wird,  so  daß  er  für  den 
intrathorakalen  Raum  nicht  mehr  in  Betracht  kommt  Gegen  alle 
Organe  innerhalb  der  Brusthöhle  würde  also  die  Lunge  mit  dem  durch 
die  Luftwege  auf  ihre  innere  Oberfläche  wirkenden  Druck  von  einer 
Atmosphäre  wirken,  wenn  dieser  sich  ungeschwächt  auf  jene  Organe 
fortpflanzen  würde.  Das  ist  nicht  der  Fall.  Die  Lungen  haben  nämlich 
kraft  ihrer  elastischen  Gebilde  das  Bestreben,  dem  Atmosphärendruck 
entgegen  sich  nach  der  Lungenwurzel  hin  zusammenzuziehen,  da  ihre 
Ruhelage  der  sogenannte  Kollapszustand  ist.  Diese  elastische  Kraft 
der  Lunge,  die  am  deutlichsten  zur  Anschauung  kommt,  wenn  bei  Er- 
öffnung des  Thorax  das  ausgedehnte  Organ  kollabiert,  schwächt  also  den 
atmosphärischen  Druck,  der  ohne  sie  auf  die  Organe  neben  der  Lunge 
wirken  würde.  Das  Herz,  die  großen  Gefäße  und  die  anderen  intra- 
thorakalen Organe  stehen  also  unter  einem  Atmosphärendruck,  der  um 
diese  elastische  Kraft  der  Lungen  vermindert  ist.  Diese  bestimmte  be- 
reits DoKDERS  bei  Leichen  und  fand,  daß  sie  in  der  Exspiration  7,5,  bei 
einer  gewöhnlichen  Inspiration  9,  bei  einer  möglichst  tiefen  Inspiration 
30—40  mm  Hg  beträgt.  Die  Spannung  der  Luft  in  den  Lungen  ist 
aber  selbstveränderlich  (vergl.  Hermann,  Handbuch  der  Physiologie). 
Sie  steigt  bei  der  Exspiration  und  sinkt  bei  der  Einatmung,  weil  die 
Erweiterung  des  Brustraumes  die  Lungen  ausdehnt.  Unter  normalen 
Verhältnissen  ist  wegen  des  schnellen  Ausgleiches  der  Luft  diese 
Schwankung  gering.  Nach  I.  K  Ewald  beträgt  der  normale  At- 
mungsdruck in  der  Inspiration  0,1  mm  Hg,  in  der  Exspiration 
0,13  mm  Hg.  Es  hält  sich  also  der  intrathorakale  Druck  auf  Herz 
und  Gefäße  innerhalb  sehr  enger  Grenzen,  aber  so,  daß  er  in  beiden 
Phasen  unter  einer  Atmosphäre  bleibt.  Wird  aber  die  Aus-  oder  Ein- 
atmung forciert  oder  z.  B.  durch  Verschluß  eines  Nasenloches  erschwert, 

26* 


402  Sauerbruch, 

oder  wird  nach  vorausgegangener  Inspiration  bei  verschlossenem  Munde 
und  Nasenöffnung  kräftig  ausgeatmet  (VALSALVAscher  Versuch),  oder 
nach  vorausgegangener  Exspiration  ebenso  eingeatmet  (Müllers  Ver- 
such), dann  wird  die  Spannung  der  Luft  im  Lungenraume  bedeutend 
erhöht  oder  herabgesetzt  und  damit  denn  auch  der  intrathorakale  Druck 
beträchtlich  verändert  Er  kann  im  ersten  Falle  stark  ansteigen,  im 
letzten  stark  negativ  werden^).  Daraus  folgt:  Das  auf  der  inneren 
Oberfläche  der  Lungenalveolen  liegende  Eapillarnetz  ist  dem  in  den 
Bronchien  herrschenden  Drucke  ausgesetzt.  Beim  ruhigen  Atmen  ist 
der  Druck,  welcher  auf  die  Kapillaren  wirkt,  größer  als  der  auf  die 
großen  Gefäße  wirkende  intrathorakale  Druck.  Beim  VALSALVAschen 
Versuche  steigt  der  Druck  auf  die  Kapillaren  ebenso  wie  der  Druck 
auf  die  Gefäße,  immer  aber  bleibt  der  letztere  um  den  der  elastischen 
Kraft  der  Lunge  äquivalenten  Druck  kleiner  als  der  erstere.  Beim 
Mt^LLERschen  Versuche  nimmt  der  Druck  auf  die  Kapillaren  be- 
trächtlich ab,  der  Druck  auf  die  großen  Gefäße  ebenfalls,  aber 
wiederum  ist  der  letztere  um  den  der  elastischen  Kraft  der  Lunge 
kleiner.  Die  Differenz  zwischen  intrathorakalem  und  intrapulmonalem 
Druck  ist  im  zweiten  Falle  größer  als  im  ersten.  Das  Blut  wird  also 
fortwährend  aus  den  Kapillaren  der  Lunge  in  der  Richtung  nach  den 
Venen  zum  Herzen  mit  einer  gewissen  Kraft  befördert,  da  die  rück- 
gängige Bewegung  nach  den  Arterien  durch  die  Systole  des  rechten 
Ventrikels  und  den  Schluß  der  Pulmonalarterienklappen  gehindert  ist 
Der  negative  intrathorakale  Druck  wird  ^  sich  aber  auf  die  dünnwandigen 
Venen  leichter  fortpflanzen,  als  auf  die  Arterien,  wodurch  die  Druck- 
differenz zwischen  beiden  gesteigert  und  so  wiederum  der  Blutkreislauf 
durch  die  Lungen  gefördert  wird  (nach  Hermann).  Die  außerhalb  des 
Brustkorbes  verlaufenden  Venei)  (die  Körpervenen)  stehen  mittelbar 
oder  unmittelbar  mit  der  oberen  bezw.  unteren  Hohlvene  in  Verbindung. 
Diese  letzteren  stehen  nun  unter  dem  negativen  Drucke  des  Brustraumes. 
Die  Körpervenen  selbst  dagegen  sind  durch  die  umliegenden  Gewebe, 
auf  denen  der  Druck  einer  Atmosphäre  lastet,  und  die  Muskeln,  die 
bei  ihrer  Kontraktion  den  Atmosphärendruck  noch  vermehren,  einem 
positiven  Drucke  ausgesetzt.  Es  resultiert  daraus  eine  wesentliche  Unter- 
stützung des  Körperblutkreislaufes  durch  den  negativen  Druck  des 
Brustkorbes. 

Der  Grad  der  elastischen  Dehnung  der  Lunge  kann  unmittelbar 
an  der  Leiche  gemessen  werden,  indem  man  ein  Manometer  luftdicht 
in  der  Trachea  befestigt  und  dann  beide  Pleurahöhlen  eröffnet.  Sofort 
ergibt  sich  ein  Ausschlag  dadurch,  daß  jetzt  der  Ueberdruck  von  innen 
durch  den  Druck  von  außen  ausgeglichen  wird  und  die  Lunge  sich,  ihrer 


1)  VON  Mikulicz  bestimmte  durch  manometrische  Messung  im  Brust- 
ösophagus  den  maximalen  Exspirationsdruck  auf  180  mm  Hg. 


Zur  Pathologie  des  oflfenen  Pneumothorax  etc,  403^ 

Elastizität  folgend,  zusammenziehen  kann;  man  mißt  so  die  elastische 
Spannung  der  Lunge  bei  der  betreffenden  Größe  der  Lunge,  also  in  un- 
serem Falle  derjenigen,  welche  sie  bei  der  Normalstellung  im  Thorax  bat 
Man  kann  aber  vorher  die  Lunge  auch  bis  zu  einem  beliebigen  Grade  auf- 
blasen, dann  die  Verbindung  mit  dem  Manometer  herstellen  und  so  den 
Druck  messen,  welcher  einem  jeden  Ausdehnungsgrade  entspricht.  Nach 
dieser  Methode  haben  Carsow,  Donders,  Hutghison,  Harms  Be- 
stimmungen über  den  Lungendruck  gemacht.  Donders  Werte  fielen 
zwischen  6—30,  Hutghison  fand  13,5—37,6  (cit.  bei  Hermann).  Siehe 
über  die  Messung  des  Druckes  am  Lebenden  unter  Abschnitt  IV. 

Dieser  negative  Druck  ist  im  intrauterinen  Leben  noch  nicht  vor- 
banden, und  ebenso  fehlt  er  bei  Kindern,  die  tot  geboren  werden  oder 
kurz  nach  der  Geburt,  ohne  geatmet  zu  haben,  sterben.  Der  negative 
Druck  entsteht  also  mit  dem  ersten  Atemzuge.  Bernstein  (Arch.  f. 
d.  ges.  Phys.,  Bd.  17,  1878,  p.  617)  fand,  daß  man  auch  bei  totgeborenen 
Kindern  durch  Aufblasen  der  Lunge  einen  manometrisch  nachweisbaren 
negativen  Pleuradruck  erzeugen  kann,  ferner,  daß  der  Thorax  nach  der 
Aufblasung  nicht  mehr  in  seine  alte  Lage  zurückkehrt,  sondern  erweitert 
bleibt.  Aehnlich  verhält  es  sich  auch  bei  dem  ersten  spontanen  Atem- 
zuge. Den  Grund  für  das  Verharren  des  Thorax  in  der  neuen  Stellung 
sieht  er  in  einer  sperrzahnartigen  Einrichtung  der  Costovertebralgelenke, 
infolgedessen  die  Rippen  nach  der  Aufblasung  bezw.  Einatmung  der 
Lunge  nicht  mehr  in  die  alte  Stellung  zurückgehen  können.  Hermann 
erklärt  nach  den  Versuchen  von  Keller  (Arch.  f.  d.  ges.  Phys.,  Bd.  20, 
p.  365)  die  Sache  anders.  Er  nimmt  an,  daß  die  atelektatischen  Lungen 
infolge  einer  ziemlich  starken  Adhäsion  der  aneinanderliegenden  kleinsten 
Bronchialwände  und  Alveolen  der  Aufblasung  der  Lungen  einen  Wider- 
stand entgegenstellen  müssen,  welcher  größer  ist,  als  das  Aequivalent 
ihrer  elastischen  Kraft.  Der  erste  Atemzug,  der  durch  starke  inspira- 
torische Thoraxbewegung  zu  stände  kommt,  überwindet  diesen  Wider- 
stand. Da  nun  die  Elastizität  der  Lunge  kleiner  als  die  zur  Aufblähung 
angewandte  Kraft  ist,  bleiben  Thorax  und  Lunge  in  ausgedehntem  Zu- 
stande. Dieser  Auffassung  schließt  sich  auch  Rosenthal  an.  (Nach 
Hermanns  Handbuch  der  Physiologie.) 

Bei  allen  unseren  operativen  EingrüBFen,  die  ein  breites  OeflFnen 
der  Brusthöhle  zur  Voraussetzung  haben,  wird  dieses  physiologische 
Verhältnis,  wie  schon  oben  erwähnt,  gestört:  Die  atmosphärische  Luft 
dringt  in  den  Brustraum;  die  Lunge  kollabiert  und  wird  funktionell 
ausgeschaltet;  ein  Pneumothorax  entsteht.  Diese  Komplikation  wird 
vielleicht  noch  ertragen,  wenn  sie  einseitig  ist;  wird  aber  im  Verlaufe 
der  Operation  noch  die  andere  Pleura  eröffnet,  —  und  bei  vielen  Ein- 
griffen ist  das  nicht  zu  vermeiden  —  so  ist  der  Tod  die  sichere  Folge. 

Die  inneren  Kliniker  beobachten  eine  häufigere  Form  des  Pneumo- 
thorax.   Es  ist  in   diesen  Fällen  meist  durch  Zerfall  von  tuberkulösen 


404  öauerbruch, 

Herden  oder  durch  Gangrän  eines  Lungenabschnittes  zur  Perforation 
der  Lungenoberfläche  gekommen;  es  dringt  die  Luft  von  dem  Bronchial- 
raume  her  in  die  Pleurahöhle  ein;  dadurch  wird  auch  hier  ein  Druck- 
ausgleich zwischen  der  Pleurahöhle  und  dem  Bronchialraume  erreicht 
und  die  Lunge  kollabiert.  Diese  Form  des  Pneumothorax  hat  von  jeher 
ein  besonderes  Interesse  für  den  internen  Kliniker  gehabt.  Sehr  viele 
Forscher  haben  sich  infolgedessen  theoretisch  wie  experimentell  mit 
seiner  Pathologie  befaßt  und  auch  die  Abarten  dieses  Haupttypus, 
speziell  den  Ventilpneumothorax,  bei  ihren  Arbeiten  berücksichtigt. 
Fast  alle  machen  einen  grundsätzlichen  Unterschied  zwischen  den  ver- 
schiedenen Formen  des  Pneumothorax  und  sprechen  von  einem  offenen, 
einem  geschlossenen  und  einem  Ventilpneumothorax;  die  meisten  ver- 
stehen aber  unter  einem  offenen  einen  solchen,  bei  welchem  die  Luft  durch 
eine  ganz  kleine  Oeffnung,  z.  B.  eine  Punktionsöffnung,  in  die  Pleura- 
höhle eingedrungen  ist.  Allgemein  wird  betont,  daß  schon  der  einseitige 
Pneumothorax,  namentlich  der  offene,  recht  bedrohliche  Erscheinungen 
zur  Folge  hat,  daß  der  doppelseitige  sicher  tödlich  wirkt. 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  auf  diese  zahlreichen  Arbeiten 
hier  referierend  einzugehen,  dagegen  werde  ich  bei  Besprechung  meiner 
eigenen  Resultate  die  Literatur,  soweit  nötig,  kritisch  berücksichtigen 
und  gebe  hier  ihrem  Inhalte  nach  nur  die  wichtigsten  wieder. 

Der  erste,   der  über  den  Pneumothorax  arbeitete,  war  Guttmann. 

Er  berichtet  über  2  Versuche,  bei  denen  nach  Anstechung  der  rechten 
Brusthälfte  eine  starke  Abnahme  der  Atemfrequenz  und  ein  Sinken  des 
Minaten Volumens  auf  den  3. — 4.  Teil  der  ursprünglichen  Größe  eintrat. 
Es  ist  zu  betonen,  daß  Guttmann  zu  seinen  Atemmessungen  den  Hutchinson- 
schen  Spirometer  benutzte,  in  dem  die  Tiere  aber  nach  wenigen  Minuten 
asphyk tisch  wurden,  so  daß  die  Versuche  ausgesetzt  werden  mußten. 

Aehnliche  Resultate  wie  Güttmann  hatte  Leiohtenstern. 

Er  ließ  seine  Tiere  durch  Voixsche  Ventile  und  eine  Gasuhr  atmen 
und  fand  nach  Anlegung  eines  offenen  Pneumothorax  in  2  Untersuchungen 
ein  Sinken  des  Minutenvolumens  um  mehr  als  die  Hälfte.  Die  Atem- 
frequenz blieb  im  ersten  Versuche  unverändert,  im  zweiten  stieg  sie. 

Die  ausgedehntesten  Untersuchungen  haben  Weil  und  später  dieser 
Autor  in  Verbindung  mit  Thomas  gemacht. 

Sie  experimentierten  an  geschlossenem  und  offenem  Pneumothorax  und 
in  Verbindung  damit  am  Hydrothorax.  Sie  fanden,  daß  alle  Faktoren  der 
Atmung,  die  näher  bestimmt  werden  konnten,  eine  oft  sehr  beträchtliche 
Herabsetzung  erfuhren.  Das  Minuten volumen  nahm  um  27,4 — 76,0  Proz., 
durchschnittlich  um  47,4  Proz.  ab.  Eine  etwas  geringere  Herabsetzung,  im 
Mittel  nur  38,3  Proz.,  erlitt  die  Atemtiefe,  während  die  Atemfrequenz  im 
ganzen  noch  weniger,  aber  immerhin  noch  sehr  beträchtlich  herabging.  In 
nur  zwei  Fällen  fanden  sie  allerdings  eine  mäßige  Steigerung. 

Außerdem  fugt  Weil  über  die  Ergebnisse  seiner  ersten  Arbeit  noch 
folgendes  hinzu: 


Zur  Pathologie  des  offeaeu  Pneumothorax  etc.  40& 

1)  Die  Atmungsfrequenz  steigt  am  wenigsten  beim  geschlossenen,  am 
meisten  beim  Ventilpneumothorax.  Zwischen  beiden  steht,  was  die  Atmungs- 
frequenz betrifft,  der  offene  Pneumothorax. 

2)  Die  Atmungsexkursionen  der  Thoraxwand  sind  beim  Ventilpneumo- 
thorax und  bei  geschlossenem  Pneumothorax  geringer,  bei  offenem  größer 
als  in  der  Norm.  Kaninchen  und  Hunde  zeigen  steigende  Atmungsfrequenz 
bei  geschlossenem  und  Ventilpneumothorax  und  eine  enorme  Vergrößerung 
der  Atmungsexkursion  der  Thorakalwand  bei  offenem  Pneumothorax.  Beide 
Tierarten  führen  beim  Ventilpneumothorax  kleinere,  aber  öftere  Atmungs- 
ztige  aus,  als  beim  offenen  Pneumothorax.  Während  der  offene  Pneumo- 
thorax beim  Kaninchen  eine  Verlangsamung  der  Atmung  hervorruft,  be- 
wirkt er  beim  Hunde  eine  Vermehrung  der  Atemzüge,  so  daß  diese  die 
Atmungsziffer  bei  geschlossenem  Pneumothorax  übersteigen. 

Sehrwald,  der  auch  Untersuchungen  über  den  Pneumothorax  an- 
gestellt hat,  faßt  seine  Resultate  folgendermaßen  zusammen: 

1)  Die  Wirkung  eines  einseitigen,  nach  außen  offenen  Pneumothorax 
auf  die  Respiration  hängt  nicht  ab  von  der  absoluten  Weite  seiner  Oeff- 
nung,  sondern  von  dem  relativen  Verhältnis  zwischen  der  Größe  dieser 
Oeffnung  und  der  Weite  der  zuführenden  Luftwege. 

2)  Der  zweite  wesentliche  Faktor  fOr  das  Zustandekommen  einer 
Ventilation  der  gesunden  Lunge  beim  offenen  Pneumothorax  ist  die  Be- 
schaffenheit des  Mediastinums.  Ist  dasselbe  sehr  zart  und  sehr  leicht  aus- 
dehnbar, so  wird  es  bei  der  Inspiration  so  stark  gegen  die  gesunde  Lunge 
hin  aspiriert,  daß  es  dieselbe  an  der  Entfaltung  hindert.  Ist  es  sehr 
derb  und  straff  gespannt,  so  bietet  es  einen  festen  Stützpunkt  für  die  Er- 
weiterung der  gesunden  Lunge  und  ermöglicht  einen  ausgiebigen  Ghas- 
wechsel. 

8)  Sehr  jugendliehe  Individuen  und  ebenso  vorher  an  den  Brust' 
Organen  völlige  Gesunde  ertragen  wegen  der  Zartheit  und  Dehnbarkeit 
ihres  Mediastinums  daher  den  offenen  Pneumothorax  viel  schwerer  als 
Patienten,  bei  denen  durch  starke  Schwartenbildung  das  Mediastinum  in  eine 
derbe,  unnachgiebige  Membran  verwandelt  worden  ist.  Die  Schwarten- 
bildung ist  in  diesem  Palle  ein  Vorteil  für  den  Organismus. 

4)  Außer  dem  anatomischen  ist  auch  der  funktionelle  Zustand  des 
Mediastinums  hierbei  ftlr  den  Atemmechanismus  von  großer  Bedeutung. 
Bei  der  Inspiration  wird  durch  das  Abwärtssteigen  des  Zwerchfelles  und 
der  Größenzunahme  des  sagittalen  Durchmessers  des  Thorax  das  Media- 
stinum bedeutend  angespannt  und  die  Atmung  der  gesunden  Seite  dadurch 
wesentlich  erleichtert. 

5)  Dieser  Faktor  ist  beim  offenen  Pneumothorax  um  so  wirkungs- 
voller, da  bei  diesem  die  inspiratorische  Thorax-  und  Zwerchfellbewegung 
um  das  4 — 5-fache  an  Größe  zunimmt. 

ß)  Um  die  völlig  kollabierte  Lunge  der  offenen  Thoraxseite  wieder  zu 
einer  gewissen  Entfaltung  und  Teilnahme  an  der  Respiration  zu  zwingen, 
empfiehlt  es  sich,  die  Thoraxöffnung  am  Ende  einer  forcierten  Exspiration 
mit  einem  Verband  luftdicht  zu  verschließen. 

M.  Kreps  machte  an  Hunden  über  die  Atmungsbewegungen  beim 
Pneumothorax  Versuche: 

Nach  ihm  tritt  bei  der  Erzeugung  des  offenen  Pneumothorax  eine 
Veränderung  der  normalen  Atmung  ein,   die,    an  den  Thoraxexkursionen 


406  Sanerbrncli, 

abgelesen,  in  einer  Zunahme  der  Frequenz  und  Tiefe  sich  kund  gibt. 
Beide  Faktoren,  Frequenz  und  Tiefe,  erfahren  gegenüber  dem  expiratorisch 
geschlossenen  Pneumothorax  beim  offenen  eine  Zunahme,  während  beim 
üebergang  eines  durch  Injektion  einer  abgemessenen  Lufbnenge  erzeugten 
Pneumothorax  in  den  offenen  die  Frequenz  steigt  und  die  Tiefe  sinkt. 

Die  im  Anschluß  an  die  EREPSsche  Arbeit  von  Blumenthal  vorge- 
nommenen Untersuchungen  des  Lungengaswechsels  ergeben: 

Die  Atemfrequenz  erleidet  bei  allen  Formen  des  Pneumothorax  eine 
beträchtliche  Zunahme  gegen  die  Norm.  Am  stärksten  ist  diese  Zunahme 
bei  dem  expiratorisch  geschlossenen  Pneumothorax,  weniger  bei  dem 
inspiratorisch  geschlossenen  ausgeprägt.  Die  Mittelstellung  behauptet  der 
offene  Pneumothorax.  Die  Atemgröße  erflühirt  bei  dem  in-  und  expiratorisch 
geschlossenen  Pneumothorax  eine  regelmäßige  Steigerung  beim  offenen 
ebenfalls,  und  zwar  ist  hier  die  Atemgröüe  und  Größe  der  Oeffnung 
proportional.  Erst  bei  ganz  großen  Oeffnungen  sinkt  sie  unter  die  Norm, 
sonst  steht  sie  hoch  über  derselben.  Die  Atemtiefe  erleidet  bei  neuen 
Formen  des  Pneumothorax  eine  Abnahme.  Bei  dem  offenen  Pneumothorax 
ist  die  Atemtiefe  ungefllhr  umgekehrt  der  Größe  der  Thoraxfistel  pro- 
portional. 

Gilbert  und  Roger  stellten  ihre  Versuche  an  nicht  narkotisierten 
Hunden  an.  Den  Pneumothorax  erzeugten  sie  mittelst  einer  Hohlsonde 
oder  eines  Troikarts. 

Sie  fanden,  daß  die  Respirationskurve,  abgesehen  von  der  ersten  ver- 
längerten und  unregelmäßigen  wellenförmigen  Inspiration  und  nachfolgenden 
heftigen  Exspiration,  normal  verläuft.  Bei  offenem  Pneumothorax  fanden 
sie  die  Atmung  beschleunigt  und  vertieft,  bei  geschlossenem  verlangsamt 
und  die  einzelnen  Atemzüge  noch  verstärkt.  An  der  Blutzirkulation  konnten 
sie  nach  Erzeugung  des  Pneumothorax  keine  auffällige  Veränderung  kon- 
statieren. In  gewissen  Fällen  glauben  sie,  daß  im  Momente  des  Luftein- 
trittes  in  den  Pleuraraum  ein  Seltenerwerden  der  Herzkontraktionen  eintritt. 
Nach  Ueberwindung  dieser  Initialphase  findet  wiederum  ein  Ausgleich  in 
der  gestörten  Zirkulation  statt. 

Beinahe  gleichzeitig  mit  den  genannten  Autoren  veröffentlichten 
Rodet  und  Poürrat  ihre  Untersuchungen.  Sie  studierten  sowohl  die 
dabei  auftretenden  Zirkulations-  als  auch  Respirationsstörungen. 

Sie  fanden  bei  nicht  narkotisierten  Hunden  mit  geschlossenem  Pneumo- 
thorax beschleunigte,  bei  (mit  Morphium  und  Chloroform)  narkotisierten 
Hunden  verlangsamte  und  oberflächliche  Respiration.  Nach  erfolgter  Durch- 
schneidung der  Vagi  wurde  die  Atmung  weniger  frequent  und  tiefer.  Bei 
offenem  Pneumothorax  —  sie  öffnen  die  Brusthöhle  durch  einen  großen 
Lappenschnitt  —  stellte  sich  nach  kurz  vorübergehender  Beschleunigung 
eine  fortschreitende  Verlangsamung  und  baldiger  Stillstand  der  Respiration 
bei  vermehrter  Amplitude  ein.  Die  Verlangsamung  der  Atmung  geht  — 
ihren  Angaben  zufolge  —  Hand  in  Hand  mit  einer  Verlangsamung  des 
Pulses,  welche  in  vollständigen  Herzstillstand  endet.  Vor  dem  Eintritte 
der  Atmungsverlangsamung  können  die  einzelnen  Pulswellen  „ineinander- 
fließen^*, und  das  tritt  gewöhnlich  gleichzeitig  mit  der  Inspirationsphase  ein. 
(Sie  zählten  in  der  Periode  der  Pulsre tarda tion  10 — 15  Schläge  pro  Minute.) 


Zur  Pathologie  des  ofiPenen  Pneumothorax  etc.  407 

Einige  der  späteren  Arbeiten  berücksichtigen  auch  die  Verhältnisse 
des  Blutdruckes. 

So  experimentierte  Libyen  an  Hunden  mittlerer  Größe  und  mitt- 
leren Alters,  denen  er  0,04—0,06  g  Morphium  subkutan  injizierte.  Jedes 
Tier  wurde  tracheotomiert ,  unter  Druck  mit  dem  FiOKschen  Peder- 
manometer  gemessen.  Er  untersuchte  ebenso  wie  Wbtl  die  verschiedenen 
Arten  des  Pneumothorax.  Seine  Resultate  sind:  Weder  ein  offener  noch 
ein  geschlossener  Pneumothorax  verändert  den  Blutdruck.  Wurde  in  den 
Pleuraraum  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Luft  geblasen,  so  blieb  der  Blut- 
druck auf  normaler  Höhe  stehen.  Wurde  dabei  eine  gewisse  Grenze 
überschritten,  so  stieg  der  Druck,  solange  Luft  eingeblasen  wurde,  all- 
mählich an,  um  dann  zur  normalen  Höhe  zurückzukehren.  Bei  Erzeugung 
eines  Ventilpneumothorax  verhält  sich  der  Druck  ähnlich,  nach  einer  ge- 
wissen Zeit  sinkt  er  aber  und  das  Tier  erstickt. 

Sackur,  auf  dessen  Arbeiten  wir  unten  nach  näher  eingehen  werden, 
untersuchte  sowohl  die  Respirations-  als  auch  die  Blutdruckänderungen. 

Den  Pneumothorax  erzeugte  er  auf  einer  Seite.  17  Versuche  wurden 
an  Kaninchen,  4  an  Hunden  ausgeführt.  Er  fand  die  Lungenkapazität 
nach  der  Operation  so  groß,  wie  unter  normalen  Verhältnissen,  die  Fre- 
quenz aber  und  die  Tiefe  der  Atemzüge  erschien  vergrößert.  Weiterhin 
fand  er,  daß  der  Druck  in  der  Carotis  bei  einseitigem  Pneumothorax  nicht 
steigt,  hingegen  macht  sich  ein  Anstieg  im  venösen  Kreislaufe  bemerkbar. 
Die  Sauerstoffmenge  im  Blute  dagegen  nimmt  konstant,  oft  bis  um  die 
Hälfte  ab. 

Zu  einer  grundverschiedenen  Anschauung  gelangte  Aron. 

Er  konstatierte  ein  Anwachsen  des  Blutdruckes  mit  Zunahme  der 
in  den  Pleuraraum  eingeblasenen  Luft.  Bei  offenem  Pneumothorax  sank 
der  Blutdruck  ein  wenig,  blieb  jedoch  immerhin  höher  als  normal.  Wurde 
der  Pneumothorax  geschlossen,  so  änderte  sich  der  Blutdruck  nicht  weiter. 
Bei  einseitigem  Pneumothorax  konnte  ein  Steigen  des  intrathorakalen 
Druckes  auf  der  Gegenseite  bewiesen  werden. 

Dann  möchte  ich  noch  eine  experimentelle  Arbeit  von  HnXtek 
erwähnen,  dessen  Resultate  mit  den  meinigen  zum  Teil  übereinstimmen. 
An  den  betreffenden  Stellen  wird  dies  erwähnt. 

Die  Reihe  der  hierhergehörigen  Arbeiten  ließe  sich  noch  vergrößern, 
überall  finden  wir  aber  widersprechende  Angaben.  Der  Grund  hier- 
für liegt  meines  Erachtens  hauptsächlich  darin,  daß  die  einen  nur 
am  geschlossenen,  die  anderen  nur  am  offenen  Pneumothorax  experi- 
mentierten. Dabei  verstehen  die  meisten  unter  einem  offenen  Pneumo- 
thorax einen  solchen,  bei  dem  die  Pleurahöhle  durch  einen  Troikart 
mit  der  atmosphärischen  Luft  in  Verbindung  steht.  Nur  wenige  machen 
größere  Oeffnungen  in  die  Brustwand.  Ferner  ist  nicht  immer  ange- 
geben, wie  die  Atmung  gemessen  ist,  ob  an  den  Brustkorbexkursionen, 
oder  an  den  Schwankungen  des  Lungenvolumens. 

Meine  Untersuchungen  über  den  Pneumothorax  gingen  aus  dem 


408  Sauerbruch, 

praktischen  Bedürfnis  hervor,  ein  Verfahren  zu  finden,  das  die  be- 
kannten lebensbedrohlichen  Erscheinungen,  die  mit  dem  Kollabieren 
der  Lunge  fast  immer  eintreten,  Dyspnoe,  Herzschwäche  und  Kollaps 
beseitigt.  Der  für  den  Chirurgen  bei  seinen  Operationen  in  Frage 
kommende  Pneumothorax  ist  stets  ein  offener;  und  zwar  handelt  es 
sich  um  große  Oeffnungen,  die  gestatten,  mit  Instrumenten,  ja  sogar 
mit  der  Hand,  im  Inneren  der  Brusthöhle  zu  arbeiten.  Meine  Ver- 
suche beziehen  sich  infolgedessen  ausschließlich  auf  den 
Pneumothorax  mit  breiter  Oeffnung  der  Brustwand. 

Um  Mißverständnisse  zu  vermeiden,  ist  es  wichtig  zu  betonen,  daß 
zwischen  verschiedenen  Tierarten  bezüglich  der  Bedeutung  des  Pneumo- 
thorax ein  wesentlicher  Unterschied  besteht;  Kaninchen  vertragen  ihn 
z.  B.  viel  besser  als  Hunde  und  zeigen  infolgedessen  auch  lange  nicht 
in  so  hohem  Maße  die  resultierenden  Atmungs-  und  Zirkulationsstö- 
rungen; femer,  daß  ich  die  experimentellen  Untersuchungen  über  die 
Atmungsänderung  und  den  Blutdruck  ohne  Narkose  vorgenommen 
habe.  Um  ein  ganz  reines  Bild  der  Pneumothoraxwirkung  zu  haben, 
ist  es  unbedingt  nötig,  für  einige  Versuche  auf  die  Narkose  zu  ver- 
zichten, damit  die  reflexhemmende  Wirkung  der  Narkotika,  speziell  des 
Morphiums  und  des  Opiums  wegfällt.  Hierin  weiche  ich  von  den  meisten 
anderen  Untersuchern  wesentlich  ab,  die  mit  Chloroform,  Opium  oder 
Morphium  das  Versuchstier  einschläferten. 

Wenn  man  experimentell  einen  offenen  Pneumothorax  erzeugt,  so 
sieht  man  zunächst  als  Reflex  des  Schmerzes,  den  der  Hautschnitt  ver- 
ursacht, abgesehen  von  heftigen  Abwehrbewegungen  des  Tieres,  eine 
ziemlich  beträchtliche  Beschleunigung  der  Atmung.  Es  ist  deshalb 
nötig,  daß  man  sich  die  Pleura  freipräpariert  in  dem  ganzen  Bereiche, 
in  dem  sie  geöffnet  werden  soll,  daß  man  dann  das  Tier  sich  erholen 
läßt  und  jetzt  erst  die  Pleura  spaltet.  In  dem  Augenblick,  wo  das  zarte 
Brustfell  mit  der  Schere  durchtrennt  wird,  dringt  mit  einem  scharfen, 
zischenden  Geräusche  die  atmosphärische  Luft  in  den  Brustraum;  die 
Lunge  fällt  ganz  plötzlich  zusammen,  und  die  schöne  hellrosarote  Farbe  des 
Parenchyms  ist  einer  schmutzig  dunkelgrauroten  gewichen.  Der  Kollaps 
der  Lunge  beim  Eröffnen  der  Pleurahöhle  ist  kein  vollständiger;  die  Lunge 
ist  keineswegs  auf  ihre  natürliche  Größe  zurückgekehrt,  denn  die  natürliche 
Größe,  d.  h.  diejenige,  in  der  das  Gewebe  gar  keine  Elastizitätsspannung 
mehr  besitzt,  ist  der  Zustand  der  Atelektase.  Zu  diesem  können  die 
Lungen  nicht  kommen,  weil  beim  Zusammenfallen  die  Bronchioli  an 
ihrer  engsten  Stelle,  d.  h.  am  Uebergang  ins  Infundibulum,  sich  voll- 
ständig schließen  und  so  der  noch  in  den  Alveolen  befindlichen  Luft 
den  Ausgang  versperren.  Diese  Erklärung  stammt  von  Traube  und 
ist  später  von  Rosenthal  bestätigt  worden.  Rosenthal  machte  fol- 
gendes Experiment:  Er  öffnete  bei  einem  lebenden  Kaninchen  eine 
Pleurahöhle,   und  ließ  nun  das  Tier  am   Leben.     Er  beobachtete  es 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc. 


409 


1 


€ 


g 

'V 

a 


o 

< 

i 
1 


9 

S 

a 

d 

o 

1 

OD 


I 

§ 
< 

I 

I 

60 


s 


Q 


GQ 


s^v» 


I 

O 

a 


bO 


TS 

a 


-a 


«' 


410  Sauerbruch, 

etwa  8 — 10  Stunden  und  fand,  daß  von  der  Eröffnung  an  die  Lunge 
immer  weiter  in  ihrem  Volumen  abnimmt  und  schließlich  vollständig 
atelektatisch  wird.  Zur  Erklärung  dieser  Beobachtung  nimmt  er  an, 
daß  die  in  den  abgesperrten  Alveolen  eingeschlossene  Luft  allmählich 
von  den  Alveolargefäßen  resorbiert  wird.  Beweisend  för  die  Richtigkeit 
dieser  Auffassung  ist  auch  ein  Experiment  von  Hermann  und  Keller; 
sie  vermochten  nicht  durch  mechanischen  Druck  die  Lunge  atelektatisch 
zu  machen. 

Unmittelbar  nach  der  Eröffnung  der  Pleura  und  dem  Kollaps  der 
Lunge  tritt  ein  ganz  kurzer  Atmungsstillstand  ein,  an  den  sich  sofort 
heftige  ausgiebige  Atmungsstöße  anschließen  (s.  Kurve  1  p.  409). 

Wir  sehen  das  Tier  etwa  15—20  Sekunden  lang  mit  Anstrengung 
aller  Hilfsmuskeln  atmen^  der  Thorax  hebt  und  senkt  sich  über  der 
unbeweglich  in  seinem  Innern  liegenden  Kollabierten  Lunge;  Frequenz 
und  Tiefe  der  Atmung,  soweit  man  an  den  Thoraxexkursionen  sehen 
kann,  wachsen,  (lieber  die  Größe  des  Gasaustausches  siehe  unten.) 
Gleichzeitig  wird  der  Typus  der  Atmung  ein  unregelmäßiger.  Nach 
etwa  90  Sekunden  wird  die  Atmung  ruhiger,  regelmäßiger,  nur  gegen 
die  Norm  verlangsamt,  dafür  aber  tiefer.  Diese  Verlan gsamung  nimmt 
zu,  namentlich  durch  Verlängerung  der  Exspirationsphase  (s.  Kurve  2), 
schließlich  entstehen  nur  noch  ab  und  zu  in  großen  Intervallen  kurze 
Inspirationen,  und  ganz  allmählich  kann  diese  Verlangsamung  der  At- 
mung in  Stillstand  übergehen.  In  diesem  letzten  Stadium  treten  beim 
rechtsseitigen  Pneumothorax,  der  infolge  des  Wegfalles  des  größeren 
Teiles  der  Lunge  gefahrlicher  ist,  schon  die  HsiDENHAiNschen  Mit- 
bewegungen der  Extremitäten  als  Zeichen  größter  Dyspnoö  auf;  Krämpfe 
stellen  sich  ein;  das  Herz  schlägt  eine  Zeit  lang  ruhig  weiter;  ab  und  zu 
folgt  dann  noch  eine  ganz  schwache  Exkursion  des  Brustkorbes,  schließ- 
lich treten  Herzstillstand  und  Tod  des  Tieres  ein.  Bei  doppelseitigem 
Pneumothorax  ist  dieser  Verlauf  sehr  viel  stürmischer,  die  einzelnen 
Phasen  lassen  sich  aber  auch  hier  deutlich  unterscheiden. 

Man  hat  die  schädliche  Wirkung  des  doppelseitigen  Pneumothorax 
stets  als  eine  direkte  Folge  des  Ausfalles  beider  Lungen  angesehen, 
und  diese  Auffassung  ist  ja  auch  auf  den  ersten  Blick  verständlich: 
Beide  Lungen  sind  durch  ihren  Kollaps  funktionell  vollständig  aus- 
geschaltet; der  zur  Oxydation  des  Blutes  unbedingt  notwendige  Luft- 
wechsel in  den  Lungen  hat  aufgehört.  Das  Blut  wird  dadurch  mit 
Kohlensäure  überladen,  das  Atmungszentrum  (Vagus)  gereizt  und  re- 
flektorisch die  Atmungsänderung  angeregt.  Der  eintretende  Tod  ist 
dann  die  Folge  einer  KoMensäurevergiftung. 

Anders  liegt  die  Sache  beim  einseitigen  Pneumothorax;  hier  gehen 
die  Erklärungsversuche  doch  sehr  weit  auseinander.  Am  naheliegendsten 
ist  die  Annahme,  daß  durch  den  Wegfall  der  einen  Lunge  die  Respi- 
rationsfläche fast  auf  die  Hälfte  (auf  der  rechten  Seite  sogar  mehr)  ver- 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  411 

mindert,  daß  dadurch  wiederum  der  Gasaustausch  geringer  werde  und, 
ähnlich  wie  beim  doppelseitigen  Pneumothorax,  reflektorisch  die  Atmungs- 
änderung zu  Staude  komme.  Daß  zweifellos  der  Sauerstoffgehalt  des 
Blutes  beim  einseitigen  Pneumothorax  sinkt,  ist  experimenteU  durch 
Sackur  nachgewiesen  (siehe  nnten).  Er  fand  in  seinen  21  Versuchen, 
die  er  über  diese  Frage  anstellte,  eine  bedeutende  Herabsetzung  des 
0-Gehaltes  fast  bis  auf  die  Hälfte.  Wir  werden  sehen,  daß  daran  noch 
andere  Ursachen  schuld  sind.  Andererseits  wissen  wir  aber  aus  der  kli- 
nischen Erfahrung,  daß  selbst  relativ  kleine  Teile  einer  Lunge  ffir  den  Be- 
darf des  Organismus  ausreichen,  ohne  daß  Dyspnoä  eintritt.  Nach  einer 
weitverbreiteten  Ansicht  sind  diese  Störungen  bezw.  der  Tod  die  Folgen 
der  Verlagerung  des  Herzens  und  der  großen  Gefäße.  Diese,  insbesondere 
die  untere  Hohlvene,  sollen  abgeknickt  werden ;  das  Herz  würde  dadurch 
von  der  venösen  Zufuhr  abgeschnitten  und  man  müßte  die  bedenklichen 
Folgen  darauf  zurückführen.  Nach  einigen  kommt  noch  die  Raum- 
beengung  der  gesunden  Lunge  durch  das  Mediastinum,  das  von  der 
Pneumothoraxseite  her  gegen  die  andere  Brusthälfte  gedrückt  wird, 
hinzu.  Schon  die  Tatsache,  daß  große  Exsudate  das  Herz  beträchtlich 
verlagern,  ohne  daß  diese  schweren  Erscheinungen  eintreten,  sollte  da- 
gegen sprechen;  allerdings  haben  die  Organe  bei  allmählichem  Ent- 
stehen Zeit,  sich  den  neuen  Verhältnissen  anzupassen.  Wie  gut  aber 
das  Herz  und  die  Gefäße  selbst  starken  plötzlichen  Druck  vertragen, 
werden  wir  unten  sehen,  wo  ich  zur  Besprechung  der  Versuche  in 
meiner  Kammer  komme.  Hier  mag  nur  angeführt  werden,  daß  man 
bei  linksseitigem  Pneumothorax  das  Herz  bis  an  die  rechte  Thoraxwand 
pressen  kann,  ohne  wesentliche  Störung  hiervorzurufen.  Auch  Garr6 
wendet  sich  in  dem  jüngst  erschienenen  Buche  über  Lungenchirurgie 
gegen  diese  Ansicht  und  erklärt  seinerseits  die  Dyspnoe  folgender- 
maßen :  „Anders  gestalten  sich  die  mechanischen  Verhältnisse  bei  weiter 
Pleuraöffnung.  Ist  eine  solche  vorhanden,  durch  die  bei  der  Inspiration 
und  Exspiration  die  atmosphärische  Luft  in  den  Pneumothorax  unge- 
hindert ein-  und  ausströmen  kann,  so  wird  natürlich  die  Lunge  der 
betreffenden  Seite  sofort  funktionell  ausgeschaltet.  Bei  jeder  Inspiration 
wird  nun  der  Druck  in  den  beiden  Pleuraräumen  ein  verschiedener 
sein :  im  Pneumothorax  Atmosphärendruck,  auf  der  gesunden  Seite  ein 
negativer  Druck  (normale  inspiratorische  Druckschwankung  —  7  mm  Hg). 
Die  Folge  davon  wird  sein,  daß  die  Scheidewand  der  Pleuren,  das 
Mediastinum,  nach  der  gesunden  Seite  zu  angezogen  wird,  sich  dahin 
ausbuchtet  und  vorwölbt.  Unter  solchen  Umständen  kann  sich  die 
gesunde  Lunge  nicht  genügend  entfalten.  Bei  normaler  Exspiration 
hält  der  Atmosphärendruck  rechts  und  links  sich  das  Gleichgewicht. 
Bei  jedem  exspiratorischen  Pressen,  beim  Husten,  Stöhnen,  bei  reflek-« 
torisch  „gepreßtem  Atem"  mit ,  Verengerung  der  Glottis  (z.  B.  bei 
Schmerz)  wird  ein  positiver,   intrathorakaler  Druck  der  gesunden  Seite 


412  Sauerbrach, 

das  Mediastinum  nach  dem  Pneumothorax  zu  vorwölben  (wo  kein  posi- 
tiver Druck  herrscht)  und  dadurch  resultiert  hinwieder  eine  ungenügende 
exspiratorische  Entleerung  der  Lunge.  Die  eine  gesunde  Lunge  genügt, 
wie  die  tägliche  Erfahrung  uns  zeigt,  völlig  den  Ansprüchen  des  ruhenden 
Körpers  unter  der  Voraussetzung  ungehinderter  physiologischer  Funktion. 
Wo  aber,  wie  bei  weit  offenem  Pneumothorax,  sowohl  die  inspiratorische 
£nt£altung  wie  die  exspiratorische  Entleerung  eine  ungenügende  ist,  da 
müssen  Dyspnoe  und  schließlich  Herzkollaps  eintreten.^  Auch  Sehr- 
wald (siehe  oben)  hat  schon  auf  dieses  Schwanken  des  Mediastinums 
ausdrücklich  hingewiesen. 

Das  Mediastinum  wird  in  der  Tat  bei  offenem  Pneumothorax  in 
der  Inspiration  nach  der  gesunden  Seite  hingezogen  und  in  der  Ex- 
spiration nach  der  Pneumothoraxseite  vorgewölbt.  Wie  stark  dieses 
Flottieren  des  Mediastinum  sein  kann,  mag  eine  Beobachtung  zeigen, 
die  ich  gelegentlich  einer  Oesophagusresektion  machte: 

Nach  breiter  Eröffnung  der  linken  Pleura  unter  Kollaps  der  Lunge 
traten  die  typischen  Aenderungen  der  Atmung  bei  Pneumothorax 
ein.  Das  Mediastinum  bildete  bei  jeder  Inspiration  ein  Eugelsegment, 
dessen  Höhe  etwa  4  cm  betrug,  und  wurde  bei  jeder  Exspiration  etwa 
bis  zu  ^/4  der  Breite  der  linken  Pleurahöhle  vorgebuchtet;  nach  ca. 
2  Minuten  riß  bei  forcierter  Exspiration  das  Mediastinum  auf  der  Höhe 
der  Wölbung  und  ein  doppelter  Pneumothorax  entstand;  unter  stürmi- 
schen fruchtlosen  Exkursionen  des  Brustkorbes  starb  das  Tier  nach  12  Se- 
kunden. Die  Beeinträchtigung  der  gesunden  Lunge  in  ihrer  physio- 
logischen Funktion  durch  dieses  Schwanken  des  Mediastinums  ist  klar, 
und  die  Erklärungen  Garr^s,  daß,  „wo  sonst  die  inspiratorische  Ent- 
faltung wie  die  exspiratorische  Entleerung  eine  ungenügende  ist,  Dys- 
pnoe und  schließlich  Herzkollaps  eintreten  müssen^,  scheint  berechtigt. 

Aber  dennoch  kann  ich  sie  nicht  als  richtig  anerkennen,  seitdem 
ich  gesehen  habe,  mit  wie  wenig  „Lunge^  ein  Tier  auskommen  kann. 
So  genügt  bei  einem  Hunde,  der  durchschnittlich  800  ccm  in  der  Minute 
atmet,  ein  Gasweehsel  von  nur  70  ccm.  Es  ergibt  sich  dieses  geringe 
At^nbedürfnis  aus  den  Versuchen,  die  weiter  unten  beschrieben  werden. 
Auf  Grund  dieser  Versuche  kann  man  mit  Sicherheit  behaupten,  daß 
nicht  die  Behinderung  der  unversehrten  Lunge  durch  das 
Mediastinum  schuld  an  der  Dyspnoö  sein  kann.  Außerdem  ist 
tatsächlich  diese  Behinderung  der  gesunden  Lunge  gering,  denn  es  tritt 
nur  eine  kleine  Differenz  der  Atmungsgröße  beim  Pneumothorax  gegen- 
über der  Norm  ein. 

Die  Atmungsgröße  ist  abhängig  von  der  Atmungsfrequenz  und  dem 
Atmungsvolumen.  In  der  ersten  Zeit  nach  Eintritt  des  Pneumothorax 
wird  diese  Konstanz  der  Atmungsgröße  durch  eine  Zunahme  der  Atmungs- 
frequenz erreicht;  aber  auch  in  der  2.  Phase,  wo  die  Frequenz  sogar 
vermindert  ist,   ist  die  Atmungsgröße   annähernd   dieselbe   geblieben. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc. 


413 


Diese  Kompensation  wäre  ausgeschlossen,  wenn  die  Be- 
hinderung der  Lunge  durch  das  Flottieren  des  Media- 
stinums nennenswert  wäre. 

Versuche. 

Zur  Messung  des  Atemvolumens  habe  ich  mich  folgenden  Ver- 
fahrens bedient: 

Das  Tier  wird  in  Rückenlage  gefesselt  und  tracheotomiert.  Die 
beiden  freien  Enden  der  T-f5rmigen  Trachealkanüle  werden  mit  je 
einem  Ventil  so  verbunden,  daß  eine  Scheidung  der  In-  und  Exspi- 
rationsluft  herbeigeführt  wird.  Erstere  muß  den  Weg  durch  eine  Gas- 
uhr nehmen.  Auf  der  einen  Thoraxseite  des  Tieres  (abwechsebid  rechts 
und  links)  wird  vom  5.-7.  oder  —8.  Interkostalraum  Haut  und  Mus- 
kulatur in  einem  n-förmigen  Lappen  durchtrennt,  so  daß  die  Pleura 
costalis  freiliegt.  Zur  Kontrolle  der  Temperatur  des  in  Watte  und 
Decken  gut  eingepackten  Tieres  wird  ein  Thermometer  im  Rectum  be- 
festigt. Sobald  das  Tier  sich  beruhigt  hat,  liest  man  minutenweise  den 
Stand  der  Gasuhr  ab  und  zählt  die  Atemzüge.  Wenn  die  Atmung 
gleichmäßig  geworden  ist,  das  heißt,  sobald  die  Zahl  der  Atemzüge  in 
der  Minute  eine  bestimmte  und  die  von  der  Gasuhr  abgelesenen  Zahlen 
dauernd  ungefiihr  gleich  geworden  sind,  wird  die  Pleura  in  einem  Inter- 
kostalraume  durch  schnellen  Stich  mit  dem  Skalpell  gespalten,  und 
von  hier  aus  im  Bereiche  des  Hautmuskellappens  weit  eröfinet.  Un- 
gefähr 15—20  Minuten  nach  Beginn  der  Beobachtung  tritt  diese  Gleich- 
mäßigkeit der  Atmung  ein. 

1.  Kaninchen,  2100  g. 


Atemvolumeo  pro  Minute 
normal  1  1.  Pneumothorax 


Atemfrequenz 


normal 


480   I      530 
2.  Kaninchen,  2400  g  nach  10  Minuten 


58 


1.  Pneumothorax 


74 


Atemvolumen  pro  Minute 


normal 


L  Pneumothorax 


460 


3.  Kaninchen,  2050  g. 


470 


Atemirequenz 
normal  1   1.  Pneumothorax 


54 


48 


El 


Atemvolumeo  pro  Minute 
normal  1   r.  Pneumothorax 


525 
4.  Kaninchen,  2300  g. 


480 


Atemfrequenz 
normal  1  r.  Pneumothorax 


62 


70 


P^S 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal   I  r.  Pneumothorax 


430 


460 


Atemfrequenz 


normal 
48 


r.  Pneumothorax 
46 


414 


Sauerbruch, 


Die  oben  beschriebene  Aenderung  des  Atmungstypus  beim  Pneumo- 
thorax hat  also  eine  auEfSllige  Rückwirkung  auf  die  Atmungsgröße: 
die  gesunde  Lunge  hält  durch  Mehrarbeit  den  Luftwechsel  in  den  Lungen 
in  demselben  Umfange  aufrecht,  wie  er  normalerweise  von  beiden 
Lungen  geleistet  wird.  Angesichts  dieser  Tatsache  muß  es  wunder 
nehmen,  daß  trotzdem  gelegentlich,  namentlich  beim  rechtsseitigen 
Pneumothorax,  die  Tiere  sehr  bald  eingehen.  Es  kann  also  un- 
möglich dieser  ausgiebige  Luftwechsel  in  genügender 
Weise  für  die  Ventilation  des  Blutes  ausgenutzt  werden. 
Es  vollzieht  sich  durch  den  Wegfall  der  einen  Lunge  der 
Oasaustausch  auf  einer  viel  kleineren  Oberfläche;  das 
Blut  hat  andererseits  eine  sehr  niedrige  Absorptions- 
grenze für  den  Sauerstoff,  so  daß  es  nur  einen  ganz  ge- 
ringen Prozentsatz  der  Sauerstoffmenge,  die  ihm  durch 
den  ausgiebigen  Luftwechsel  in  den  Lungen  zur  Verfü- 
gung steht,  in  sich  aufnehmen  kann.  Ich  glaube,  daß  diese 
Behinderung  des  Oasaustausches  bei  der  Pathologie  des  Pneumothorax 
zu  berücksichtigen  ist. 

Bei  der  Bedeutung,  die  der  Nervus  vagus  für  die  Tätigkeit  der 
Lunge  und  des  Herzens  hat,  könnte  man  erwarten,  daß  sein  Einfluß 
beim  Pneumothorax  in  Frage  kommt.  Wir  wissen,  daß  dieser  Nerv 
gewissermaßen  ein  Regulator  ist,  der,  aufs  genaueste  eingestellt,  auf 
kleinste  Reize  mit  Aenderung  der  Funktionen  der  von  ihm  versorgten 
Organe  antwortet.  Es  wäre  möglich,  daß  durch  den  heftigen  mecha- 
nischen Reiz,  den  der  Lungenkollaps  auf  die  feinsten  Vagusfasern 
ausübt,  reflektorisch  die  Vertiefung  und  Beschleunigung  bezw.  die  spä- 
tere Verlangsamung  der  Atmung  angeregt  würde. 


Versuche. 


1.  KanincheD,  2700  g. 


Atemvolumen  pro  Minute 


1.  nor- 
mal 


2.  nach  Durch- 
schneidung d.  Vagi 


3. 1.  Pneumo- 
thorax 


1.  nor- 
mal 


Atemfrequenz 

2.  nach  Durch- 
schneidung d.  Vagi 


3. 1.  Pneumo- 
thorax 


430  460 

2.  Kaninchen,  1800  g. 


4Ö5 


60 


40 


56 


Atemvolumen  pro  Minute 


1.  nor- 
mal 


2.  nach  Durch- 
schneidung d.  Vagi 


3.  l.  Pneumo- 
thorax 


Atemfrequenz 

1.  nor-  I    2.  nach  Durch-    |3. 1.  Pneumo- 
mal     I schneidung  d.  Vagi!      thorax 


510  530 

3.  Kaninchen,  3100  g. 


520 


52 


41 


48 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal  I  1.  Pneumothorax 


Atemfrequenz 
normal  1  L  Pneumothorax 


510 


495 


I 


60 


66 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc. 


415 


4.  Nach  DuichBchnddung  der  linken  Vagi. 


Atemvolumen  pro  Minute 


510 


Atemfrequenz 


56 


^.  Kaninchen,  2500  g. 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal      L  Pneumothorax 


435 


Atemfrequenz 
normal  1   1.  Pneumothorax 


445 


42 


56 


6.  Nach  Durchschneidung  der  linken  Vagi. 


Atemvolumen  pro  Minute  Atemfrequenz 


440 


48 


7.  Kaninchen,  3200  g. 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal  1  r.  Pneumothorax 


560 


530 


Atemfrequenz 


normal 


46 


r.  Pneumothorax 


50 


S,  Nach  Durchschneidung  der  linken  Vagi. 


Atemvolumen  pro  Minute  Atemfrequenz 


520 


40 


"Q.-Kaninchen,  2455  g. 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal  1  r.  Pneumothorax 


480 


450 


Atemfrequenz 
normal      r.  Pneumothorax 


52 


58 


10.  Nach  Durchschneidung  der  linken  Vagi. 


Atemvolumen  pro  Minute   Atemfrequenz 


420 


46 


11.  Kaninchen,  2&K)  g. 


Atemvolumen  pro  Minute 
normal  1  1.  Pneumothorax 


Atemfrequenz 


normal 


«  520      {  555  I       52 

12.  Nach  Durchschneidung  der  linken  Vagi. 


I.  Pneumothorax 


58 


Atem  Volumen  pro  Minute 


560 


Atemfrequenz 


50 


13.  Kaninchen,  2480  g. 


Atemvolumen  pro  Mioute 


normal 


490 


1.  Pneumothorax 


480 


Atemfrequenz 
normal      l.  Pneumothorax 


50 


54 


lUttilL  a.  d.  OrtnzgeMftten  d.  Medisia  a.  Ohirarcl«.    ZIU.  Bd. 


27 


416  Sftuerbruoh, 

14.  Nach  DurchBchneiduDg  der  linkeD  Vagi. 


Atemvolumen  pro  Minutei  Atemfrequenz 


485  I  45 

Diese  Versuche  ergeben,  daß  die  Durchschneidung  der  Vagi  auf 
die  Respirationsstörung  des  Pneumothorax  nur  einen  bescheidenen 
Einfluß  hat.  Bei  der  Beobachtung  eines  vagotomierten  Tieres  hat  man 
den  Eindruck,  als  ob  die  Veränderung  der  Respiration  weniger  scharf 
einsetze.  Das  ist  erklärlich,  weil  jetzt  von  vorneherein  der  Atmungs- 
modus schon  im  Sinne  einer  Vergrößerung  und  Verlangsamung  der 
Atmung  verändert  ist.  Man  hat  den  Eindruck,  als  ob  die  Tiefe  der 
Atmung  noch  zunähme ;  die  genauen  volumetrischen  Zahlen  zeigen  aller- 
dings, daß  das  kaum  der  Fall  ist  Jedenfalls  werden  aber  die  Exkur- 
sionen des  Brustkorbes  bedeutend  größer  und  stürmischer.  Daneben 
kann  man  nach  Durchschneidung  der  Vagi  und  einseitigem  Pneumo- 
thorax beobachten,  daß  die  Eonstanz  der  Atmungsgröße  mehr  durch 
Vergrößerung  des  Atmungsvolumens  erzielt  wird,  während  die  Frequenz 
gleich  bleibt  oder  gar  abnimmt. 

Trotzdem  muß  man  aber  erwarten,  daß  ein  für  die  Atmung  so 
wichtiger  Nerv  unbedingt  beim  Zustandekommen  dieser  merkwürdigen 
Kompensation  beteiligt  sein  muß.  Hauptsächlich  scheint  mir  die  Schnellig- 
keit, mit  der  die  Atmungsveränderung  eintritt,  dafür  zu  sprechen,  daß 
nervöse  Einflüsse  im  Spiele  sind. 

Die  kollabierte  Lunge  erweitert  sich  nicht  mehr,  wie 
wir  gesehen  haben.  Diese  Untätigkeit  schaltet  einen 
spezifischen  Reiz  auf  die  feinsten  sensiblen  Fasern,  die 
ja  in  der  ganzen  Lunge  zu  finden  sind,  aus.  Vielleicht 
ist  dieser  vom  wechselnden  Volumen  der  Lunge  abhän- 
gige Reiz  auf  das  Respirationszentrum  eine  Vorbedin- 
gung für  die  normale  Atmung.  Das  ist  eine  Vermutung! 
Sicher  aber  ist,  daß  die  Atmungsstörung  bei  Pneumo- 
thorax sehr  an  die  nach  Vagusdurchschneidung  erinnert. 
In  beiden  Fällen  wird  von  der  Lunge  aus  dieser  spezi- 
fische Reiz  dem  Zentrum  nicht  mehr  übermittelt.  Die 
Erregung  fällt  beim  Pneumothorax  durch  die  Untätigteit 
der  Lunge,  nach  derVagotomie  durch  Unterbrechung  der 
Leitungsbahn  fort. 

Zu  berücksichtigen  sind  ferner  auch  Reflexe,  die  von  der  Pleura 
ausgelöst  werden  können ;  ich  meine,  daß  der  Lufteintritt  für  die  feinsten 
sensiblen  Nerven  einen  Reiz  bedeutet,  den  man  nicht  vernachlässigen 
darf.  Inwieweit  dieser  aber  in  Frage  kommt,  läßt  sich  experimentell 
wohl  kaum  feststellen.  In  tiefer  Narkose  ist  er  ausgeschaltet  (siehe 
unten),  und  als  Resultat  dieses  Wegfalles  ergibt  sich  eine  geringe 
Aenderung  der  Atmung.    Von  anderer   Seite   ist   die  Bedeutung   des 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  417 

Vagus  und  der  anderen  Nerven  (Sympathicus)  sehr  verschieden  be- 
urteilt worden.  Aron  z.  B.  nimmt  an,  daß  der  Vagus  in  dieser  Be- 
ziehung überhaupt  keine  Rolle  spielt,  während  Taützk  geradezu  ihn 
allein  dafür  verantwortlich  macht.  Er  hält  die  Vertiefung  der  Inspi- 
ration für  eine  reflektorische  Wirkung  des  Vagus,  und  nach  ihm  soll 
Durchschneidnng  desselben  an  der  Kollapsseite  diese  Erscheinung  nicht 
zu  Stande  kommen  lassen.  (?) 

An  dieser  Stelle  will  ich  gleich  eine  Beobachtung  über  die  Funktion 
des  Vagus  für  die  Lunge  niederlegen: 

Eröfltoet  man  in  meiner  Kammer  auf  beiden  Seiten  die  Brusthöhle 
und  zwar  derart,  daß  die  vordere  Brustwand  abgetragen  wird,  so  atmet, 
wie  wir  unten  sehen  werden,  das  Versuchstier  ruhig  weiter.  Durch- 
schneidet man  jetzt  auf  beiden  Seiten  die  Vagi,  so  sieht  man,  daß  im 
Vergleich  zu  vorher  die  Inspirationsausdehnung  der  Lunge  größer  wird. 
Auch  auf  andere  Weise  läßt  sich  diese  Zunahme  des  Lungen volumens 
nach  Wegfall  des  Vaguseinflusses  feststellen.  Oeffnet  man  bei  einem 
Versuchshunde  beide  Pleurahöhlen  in  der  Kammer  bei  einem  bestimmten 
Drucke  (—  10  mm  Hg),  verbindet  jetzt  die  Luftröhre  luftdicht  mit  einem 
Gasometer  und  läßt  jetzt  den  Druckausgleich  zwischen  Außenluft  und 
Kammerinnerem  eintreten,  so  kollabieren  die  Lungen,  und  die  vorher 
in  ihnen  enthaltene  Luft  wird  in  die  Gasuhr  hineingetrieben,  so  daß 
wir  hier  ihr  Volumen  ablesen  können.  Tötet  man  das  Tier  jetzt,  stellt 
wieder  denselben  Druckunterschied  her,  so  daß  die  Lungen  sich  wieder 
ausdehnen,  und  läßt  jetzt  den  Druckausgleich  von  neuem  eintreten,  so 
daß  wiederum  die  Lungen  zusammenfallen  und  alle  Luft  in  das  Gaso- 
meter entweicht,  so  findet  man,  daß  die  Lungen  jetzt  ein  größeres  Luft- 
volumen faßten.  Daraus  folgt,  daß  die  rein  mechanische  Aufblähung 
der  Lungen  —  die  im  Tode  allein  in  Frage  kommt  —  größer  ist,  als 
diejenige,  die  bei  unversehrten  Vagi  vorgenommen  wird;  d.  h.,  beim 
lebenden  Tiere  besteht  ein  Tonus  des  Lungengewebes,  der  von  dem 
Vagus  abhängig  ist. 

Nach  der  Durchschneidung  der  Vagi  fSllt  der  Tonus  der  Lunge 
fort;  die  Ausdehnung  durch  die  Luft  von  der  Trachea  her  kann  infolge- 
dessen größer  werden,  d.  h.  die  Inspirationen  nehmen  zu.  Es  verschiebt 
sich  jetzt  die  Atmungsbreite,  und  zwar  so,  daß  sich  die  Atmung  zwischen 
tieferer  Inspiration  und  schwächerer  Exspiration  vollzieht.  Eine  direkte 
Folge  der  Inspirationszunahme  ist  die  Verlangsamung  der  Atmung.  Reizt 
man  dagegen  den  Vagus,  so  nimmt  der  Tonus  zu;  die  Ausdehnungs- 
möglichkeit durch  die  äußere  Luft  wird  geringer,  d.  h.  die  Inspirationen 
werden  kleiner,  und  damit  wird  die  Atmung  frequenter.  Die  Bedeutung 
des  Vagus  für  den  Tonus  der  Lunge  werden  wir  weiter  unten  noch 
näher  kennen  lernen. 

Gelegentlich  einer  Oesophagusresektion  bei  einem  Hunde,  die  ich 
unter  künstlicher  Atmung  mit  einem  Blasebalge  vornahm,  machte  ich 

27* 


418  Sauerbruch, 

folgende  Beobachtung:  Das  Tier  bekam  nach  lappenförmiger  Eröffnung 
der  linken  Brusthöhle  hochgradige  Dyspnog  und  entsprechende  Aende- 
rung  der  Atmung.  Mit  der  künstlichen  Atmung  wurde  begonnen,  die 
kollabierte  Lunge  rhythmisch  aufgeblasen.  Auf  der  Höhe  einer  solchen 
Aufblähung  rückte  die  Kanüle  plötzlich  aus  der  Trachea  heraus,  ge- 
rade als  ich  in  der  Nähe  des  Lungenhilus  operierte  und  offenbar 
einen  Druck  auf  den  Hauptbronchus  ausübte.  Der  Bronchus  wurde 
so  verschlossen,  und  die  Lunge  der  eröfltoeten  Brustseite  fiel  nicht 
zusammen;  zu  meiner  Ueberraschung  trat  jetzt  trotz  Wegfall  der 
künstlichen  Atmung  infolge  des  Herausgleitens  der  Kanüle  keine 
Dyspnoö  ein.  Die  Frequenz  der  Atmung,  die  ich  vorher  leider  nicht 
gezählt  hatte,  schien  mir  nicht  verändert  gegen  vorher,  und  die  Be- 
wegungen des  Brustkorbes  hielten  sich  innerhalb  der  gewöhnlichen 
Grenzen.  Auch  fehlten  alle  jene  Mitbewegungen  (Nasenflügelatmen), 
die  sonst  beim  Eintritt  der  Dyspnoö  gewöhnlich  beobachtet  werden.  Im 
Anschluß  an  diese  Beobachtung  habe  ich  nun  folgende  Versuche  gemacht: 
Nach  lappenförmiger  Eröffnung  einer  Brustseite  wurde  die  kollabierte 
Lunge  durch  einen  Blasebalg  aufgeblasen ;  ich  präparierte  mir  den 
Bronchus  frei  und  klemmte  ihn  mit  einer  Arterienklemme  ab.  Dann 
wurde  die  Verbindung  mit  dem  Blasebalge  unterbrochen  und  das  Tier 
beobachtet.  Später  habe  ich  diesen  Versuch  dahin  abgeändert,  daß 
ich  in  meiner  Kammer  eine  einseitige  Eröffnung  der  Brusthöhle  vor- 
nahm, jetzt  den  Bronchus  wiederum  abklemmte,  und  nun  den  Druck- 
ausgleich zwischen  atmospärischer  Luft  und  Kammerinnerem  eintreten 
ließ.  Ich  gebe  in  folgendem  die  Resultate  der  Versuche  wieder:  Die 
Luftvolumina  wurden  wie  in  den  obigen  Versuchen  mit  einem  genau 
eingestellten  Gasometer  gemessen  und  Mittelzahlen  in  der  Minute  aus 
einer  längeren  Beobachtungsreihe  genommen. 

Versuche. 
1.  Mit  künstlicher  Aufblähung  der  kollabierten  Lunge  und  Abklemmung 

des  Bronchus. 


Atemvolumen  pro  Miaute 
normal  1  1.  Pneumothorax 


Atemfrequenz 
normal      1.  Pneumothorax 


1.  Kaninchen,  2300  g. 

480      I              360              I       52  I               54 

2.  Kaninchen,  2100  g. 

495   I      340      I   58  {      (jO 

3.  Hund,  6  kg. 

1260  I      695      I   22  I      24 

4.  Hund,  6  kg. 

1340  I      700      I   28  I      30 


Zar  Pathologie  des  offenen  Fneomodioraz  etc. 


419 


2.  In  meiner  Kammer. 

AtemTolnmen  pro  Minute 
normal      1.  Pneumothorax 

Atemfrequenz 
normal      L  Pneumothorax 

460 

5.  Kanincheo,  1800  g. 
290                    52 

46 

435 

320                    46 

52 

900 

7.  Hund,  4,375  kg. 
530                    26 

30 

1110 

a  Hflndin 

640 

,  4ß20  kg. 
20 

21 

Diese  Zahlen  zeigen  einen  wesentlichen  Unterschied  gegenüber  den- 
jenigen, die  wir  oben  bei  den  Pnenmothoraxversnchen  verzeichneten: 
dort  eine  Zunahme  des  Atmungsvolumens  und  der  Frequenz,  hier  eine 
ziemlich  betrachtliche  Abnahme  des  Volumens  bei  konstanter  Frequenz. 
Im  Gegensatz  dazu  im  ersten  Falle  alle  Zeichen  der  unzureichenden  At- 
mung trotz  vermehrter  Größe,  im  zweiten  eine  ruhige  ausreichende  Venti- 
lation der  Lunge.  Bei  diesen  Versuchen  ist  jeder  Gasaustausch  in  den 
Alveolen  der  Lunge  ausgehoben,  die  Lunge  also  genau  so  funktionell 
ausgeschaltet  in  Bezug  auf  die  Atmung,  wie  bei  ihrem  Kollaps.  Der 
Druck  im  Brustraume  auf  das  Mediastinum  ist  derselbe,  wie  beim 
Pneumothorax;  es  hat  sich  allein  das  Volumen  der  Lunge  gefindert  Die 
Atmungsstörungen  und  die  anderen  Erscheinungen  der 
hochgradigen  Dyspnoe  beim  Zustandekommen  des  Pneu- 
mothorax mflssen  also  lediglich  eine  Folge  des  Zu- 
sammenfallens  der  Lunge  sein,  d.  h.  mit  ihrer  Volumens- 
abnahme sindVorgänge  verbunden,  die  die  Dyspnoe  und 
ihre  Folgen  bedingen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  bei  dieser  Versuchsanordnung  der  spe- 
zifische Reiz,  der  durch  die  Ausdehnung  der  Lunge  normalerweise  dauernd 
auf  den  Vagus  ausgeübt  wird,  trotz  Eröffnung  der  Brusthöhle  bestehen 
bleibt;  da  nun  dieser  konstante  Reiz,  wie  wir  sahen,  vielleicht  eine 
Vorbedingung  fQr  die  normale  Atmung  bedeutet  und  diese  Regulation 
durch  seinen  Wegfall,  der  ja  beim  Kollaps  der  Lunge  eintritt,  auf- 
hört; so  könnte  man  geneigt  sein,  darin  den  Grund  fUr  den  Eintritt 
der  Atmungsänderung  beim  Pneumothorax  zu  suchen.  Wenn  man  bei 
so  behandelten  Tieren  den  Vagus  der  Pneumothoraxseite  durchschneidet, 
also  wiederum  den  spezifischen  Reiz  auf  das  Atmungszentrum  aus- 
schaltet, so  müßte  genau  wie  bei  gewöhnlicher  Eröffnung  der  Brust- 
höhle die  Atmungsänderung  eintreten.  Das  ist  nicht  der  Fall.  Es 
nimmt  zwar  auch  jetzt  das  Atmungsvolumen  zu,  aber  nicht  im  Vergleich 
zur  Norm,  sondern  nur  im  Vergleich  zu  dem  verminderten  Luftwechsel, 


420  Sauerbruch, 

wie  er  vor  der  Durchschneidung  des  Vagus  bestand.  Es  müssen  also 
unbedingt  hier  noch  wichtigere  Faktoren  eine  Rolle  spielen. 

Kommt  es  zu  Kreislaufstörungen?  Und  was  haben  wir  von  ihnen 
zu  erwarten?  Die  Störungen  des  Lungenblutstromes  haben  ganz  andere 
Folgen,  als  die  des  Körperkreislaufes;  die  Unterschiede  sind  begründet 
und  verständlich  durch  die  zahlreichen  anatomischen  'und  funktionellen 
Verschiedenheiten,  welche  zwischen  beiden  Teilen  bestehen.  Man  denke 
an  die  geringen  arteriellen  Widerstände,  die  Zartheit  der  Gefäß- 
wände, vor  allem  auch  an  den  geringen  Einfluß  der  Vasomotoren ;  wird 
z.  B.  die  Arteria  femoralis  zugebunden,  so  steigt  der  arterielle  Blut- 
druck nicht;  denn  vasomotorische  Einflüsse  in  anderen  Gefäßgebieten 
—  im  Sinne  einer  Erweiterung  der  Gefllßbahn  —  gleichen  sofort  die 
Verkleinerung  der  Strombahn  aus.  Anders  ist  es  in  der  Lunge:  Wird 
hier  z.  B.  der  Durchfluß  durch  die  Gefäße  eines  Oberlappens  erschwert, 
so  wächst  der  Druck  in  den  zuführenden  Arterien.  Durch  ihn  er- 
weitern sich  die  weit  dehnbaren  Gefäße  sämtlicher  anderer  Bezirke, 
und  durch  diese  Gefäßdilatation  und  verstärkte  Herzaktion  wird  das 
Hindernis  ausgeglichen.  Alle  Aenderungen  in  der  Lungenbahn  werden 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  vom  rechten  Ventrikel  ausgeglichen,  aller- 
dings wie  alle  Kompensationen  im  kleinen  Kreislaufe  nie  ohne  Aende- 
rungen des  Atmungsmodus  (zit.  nach  Krehl).  Wenn  es  also  durch 
den  Kollaps  der  Lunge  wirklich  zu  Störungen,  im  Kreislaufe  kommt,  so 
finden  wir  vielleicht  darin  den  Grund  für  die  Dyspnoö. 

Im  allgemeinen  wird  angenommen,  daß  mit  dem  Kollabieren  einer 
Lunge  eine  Verkleinerung  des  Gesamtquerschnittes  in  der  Lungen- 
blutbahn  einhergehe.  In  der  Zeiteinheit  würde  demnach  weniger  Blut 
durch  den  Gesamtquerschnitt  fließen,  als  in  der  Norm ;  die  Lunge  würde 
also  mit  dem  Verluste  ihrer  Atmungsfunktion  auch  einen  Teil  des  Blutge- 
haltes einbüßen.  Die  gesunde  Lunge  bekäme  demnach  mehr  Blut,  denn 
entsprechend  wird  angenommen,  daß  mit  der  Vergrößerung  der  Inspiration, 
die  ja,  wie  wir  sahen,  beim  Pneumothorax  regelmäßig  eintritt,  auch  der 
Gesamtgefäßquerschnitt  der  Lungengefäße  wächst.  Da  nun  die  gesunde 
Lunge  durch  kompensatorische  Tätigkeit  fast  so  ausgiebig  arbeitet,  wie 
beide  Lungen  in  der  Norm,  so  könnte  bei  einem  regeren  Blutwechsel 
trotz  der  besprochenen  Verkleinerung  der  Oberfläche  auch  mehr  Blut 
arterialisiert  werden. 

Diese  angenommene  Verkleinerung  des  Querschnittes  gilt  aber  nur 
für  den  Kollaps  oder  besser  ausgedrückt,  für  die  Exspirations- 
stellung  der  Lunge,  so  lange  sie  unter  normalen  Verhält- 
nissen in  der  Pleurahöhle  liegt.  In  der  Inspiration  findet  man 
dann  in  der  Tat  eine  Zunahme,  in  der  Exspiration  eine  Abnahme  des 
Gefäßquerschnitts.  Sobald  aber  die  Brusthöhle  eröffnet  wird  und  die 
Druckdifferenz  zwischen  Innerem  und  Oberfläche  der  Lunge  fortfällt, 
ändern  sich  die  Verhältnisse  erheblich. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  421 

Die  Durchströmung  der  Lunge  hängt  unter  normalen  Bedin- 
gungen ab 

von  der  Kraft  der  rechten  Herzkammer, 

von  der  Druckdifferenz  zwischen  der  Lungenarterie  und  der  Lungen- 
Tene,  die  sich,  wie  wir  wissen,  mit  der  Vergrößerung  des  negativen 
Druckes  im  Brustkorb  steigert, 

von  dem  Druck  in  den  Lungen, 

von  der  Veränderung  des  Gefilßquerschnittes,  bei  der  Veränderung 
<les  Lungenvolumens. 

Angenommen,  die  Kraft  des  rechten  Herzens  sei  konstant,  so  haben 
wir  bei  einer  jeden  Inspiration  eine  Zunahme  des  negativen  Druckes, 
also  eine  Vergrößerung  der  Druckdifferenz  zwischen  der  Arterie  und 
Vene,  sowie  eine  Verdünnung  der  Luft  in  den  Lungen  und  damit  eine 
Abnahme  des  Druckes  in  denselben,  schließlich  eine  freiere  Entfal- 
tungsmöglichkeit der  Alveolargef&ße  durch  die  Abnahme  des  Druckes 
und  ein  Wachsten  des  Querschnittes.  Alle  diese  Umstände  unter- 
stützen sich,  so  daß  daraus  während  der  Inspiration  eine  Zunahme 
der  Kapazität  und  der  Geschwindigkeit  des  Blutes  in  den  Lungen 
folgt.  Dazu  kommt  nun  noch  eine  Vergrößerung  des  Stromgefälles 
Yon  den  peripheren  Körpervenen  zu  dem  rechten  Herzen,  so  daß 
während  der  Inspiration  das  Herz  in  der  Diastole  mehr  Blut  erhält 
und  somit  auch  in  der  Systole  mehr  Blut  entleeren  kann  als  in  der 
Exspiration,  bei  welcher  durch  die  Abnahme  des  negativen  Druckes 
<iie  Zufuhr  zum  rechten  Herzen  erschwert  wird  und  mit  jeder  Kontrak- 
tion desselben  weniger  Blut  in  die  Gef&ße  gelangt.  Außerdem  nimmt 
nach  den  Untersuchungen  von  Einbrodt  und  Kühn  die  Frequenz  des 
Herzschlages  während  der  Einatmung  zu,  während  der  Ausatmung  ab,  ein 
zusammengesetzter  regulatorischer  Vorgang,  der  nach  Hering  von  ner- 
vösen Einflüssen  unabhängig  ist  (zit.  nach  Hermann).  Die  Vergrößerung 
des  Schlagvolumens  und  der  Schlagfrequenz  in  der  Inspiration  kommen 
noch  zu  den  oben  erwähnten  Momenten  hinzu  und  unterstützen  ihren 
Erfolg:  Die  Vergrößerung  der  strömenden  Blutmengen  in  den  Lungen. 

Dagegen  bewirkt  die  durch  die  Exspiration  bedingte  Steigerung 
des  intrathorakalen  Druckes 

eine  Verringerung  des  Druckunterschiedes  zwischen  der  Arteria  und 
Vena  pulmonalis, 

eine  Zunahme  des  Druckes  in  den  Lungen, 

eine  Verkleinerung  des  Gefäßquerschnitts. 
Dazu  kommt: 

die  reflektorisch  bedingte  Abnahme  des  Schlagvolumens  und  der 
Frequenz  des  Herzschlages.  Hieraus  folgt  dem  Dargelegten  nach  eine 
Abnahme  der  strömenden  Blutmenge. 

Beim  Entstehen  eines  Pneumothorax  tritt  ein  Druckausgleich 
zwischen  der  äußeren  und  inneren  Lungenoberfläche  ein.    Es  fällt  dadurch 


422  Sanerbrach, 

erstens  die  Druckdifferenz  zwischen  Arteria  und  Vena  pulmo- 
nalis  fort, 

zweitens  stehen  jetzt  die  Alveolargefäße  nicht  mehr  unter  einem 
wechsehiden,  sondern  unter  einem  gleichmäßigen  Druck  von  einer  Atmo- 
sphäre, und 

drittens  kommt  es  zu  einer  bedeutenden  Vergrößerung  des  Gefäß- 
querschnittes. 

Daß  die  Gefäße  der  aufgeblähten  Lunge  einen  geringeren  Durch- 
messer zeigen,  als  die  der  kollabierten  Lunge,  ferner,  daß  die  Durcb- 
strömungszeit  bei  aufgeblasener  Lunge  größer  ist,  als  bei  koUabier- 
ter,  hat  zuerst  Poissüeille  experimentell  bewiesen.  Quinoke  und 
Pfeiffer,  Funke  und  Latsghenberoer  haben  dies  später  bestätigt 
(nach  Hermann,  Handbuch  für  Physiologie).  Poissüeille  injizierte  die 
Gefäße  einer  ausgeschnittenen  Lunge  zuerst  im  Kollaps,  dann  eben- 
falls im  aufgeblasenen  Zustande,  und  fand,  daß  sie  in  letzterem  Falle 
einen  geringeren  Durchmesser  zeigen,  als  die  der  kollabierten  Lunge. 
Voraussetzung  für  die  Richtigkeit  dieses  Experimentes  wäre  natOrlich^ 
daß  jedes  Mal  unter  gleichem  Druck  die  Iiyektionsmasse  eingespritzt 
worden  wäre.  Die  Methode  erscheint  mir  aber  auch  aus  anderen 
Grflnden  nicht  einwandsfrei  zu  sein,  denn  wir  wissen,  daß  solche 
Messungen  von  kleinsten  Gefäßen  —  auf  diese  kommt  es  ja  nur  an 
—  sehr  schwierig  sind;  ferner  ändert  sich  an  der  herausgenommenen 
Lunge  der  Gewebsturgor  derart,  daß  wir  nicht  ohne  weiteres  solche  Re- 
sultate auf  die  noch  lebende  Lunge  übertragen  dürfen.  Dagegen  hat 
Sagkur  im  hiesigen  pharmakologischen  Institute  auf  Grund  von  0-Be- 
stimmungen  des  Carotisblutes  vor  und  nach  Erzeugung  eines  ein- 
seitigen Pneumothorax  die  Strömungsverhältnisse  der  kollabierten  Lunge 
berechnet  und  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  beim  einseitigen 
Pneumothorax  durch  die  kollabierte  Lunge  mehr  Blut 
fließt,  als  durch  dieselbe  Lunge  vor  Erzeugung  des 
Pneumothorax. 

Aus  rein  physikalischen  Gründen  kann  man  sich  diese  Tatsache 
theoretisch  ableiten: 

Wir  wissen,  daß  die  Vasomotoren  auf  die  Lungengef&ße  nur  einen  ge- 
ringen Einfluß  haben,  daß  lediglich  mechanische  Einflüsse  ihre  Kapazität 
bedingen.  Normalerweise  stehen  die  Gefäße  von  der  Lunge  her  unter 
dem  Drucke  von  einer  Atmosphäre.  Je  größer  der  Unterschied  zwischen 
Bronchial-  und  Pleuradruck  ist,  desto  stärker  werden  die  Alveolargefäße 
komprimiert.  Bei  vollständigem  Druckausgleich  zwischen  Lungeninnerem 
und  Pleurahöhle  entfalten  sich  die  Gefäße  bis  zur  Erreichung  der  Elastizi- 
tätsgrenze, d.  h.  der  Querschnitt  wird  größer,  die  Widerstände  werden 
geringer  und  die  Druckströmungsverhältnisse  leichter;  und  daraus  erklärt 
sich  beim  Eintritt  des  Pneumothorax  der  Abfluß  zur  kollabierten  Lunge. 


Zar  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  423 

In  dieser  Hyperämie  liegt  meines  Erachtens  der 
Schlüssel  ffir  das  Verständnis  der  Dyspnoe  bei  einsei- 
tigem Pneumothorax;  die  gesunde  Lunge  mit  all  ihrer 
kompensatorischen  Tätigkeit  vermag  eben  nur  den  Teil 
des  Blutes  zu  arterialisieren,  der  ihr  mit  jeder  Systole 
zuströmt,  und  das  ist  weniger  als  in  der  Norm.  Die  un- 
tätige kollabierte  Lunge  nimmt  den  größeren  Teil  des 
Lungenblutstromes  auf  und  gibt  ihn  dem  linken  Herzen 
unarterialisiert  zurück.  Es  kommt  also  zu  keiner  wirk- 
lichen, sondern  nur  einer  seh  einbaren  Kompensation.  Die 
gesunde  Lunge  arbeitet  eben  nur  mit  beschränktem  Er- 
folge; das  Blut  wird  nicht  genügend  arterialisiert,  der 
Sauerstoffmangel  reizt  das  Atmungszentrum,  und  die 
Dyspnoe  entsteht.  Beim  künstlichen  Aufblasen  der  Lunge 
und  Abklemmen  des  Bronchus  wachsen  die  Widerstände 
in  den  Lungen  dadurch,  daß  die  Gefäß  quer  schnitte  kleiner 
werden;  die  gesunde  Lunge  bekommt  jetzt  mehr  Blut; 
sie  kann  in  folgedessen  mehr  arterialisieren,  undeskann 
ihre  Mehrarbeit  jetzt  im  Sinne  einer  wirklichen  Kom- 
pensation ausgenutzt  werden.  Die  Dyspnoö  nimmt  ab 
und  kann  sogar  verschwinden. 

Sehr  wichtig  scheint  mir  eine  Beobachtung  zu  sein,  die  W.  Müller 
gelegentlich  der  Exstirpation  eines  mit  der  Lunge  verwachsenen  Osteo- 
sarkoms der  Rippen  gemacht  hat.  Ich  zitiere  diese  nur  nach  Garr& 
(Grundriß  der  Lungenchirurgie,  p.  42): . . .  „Die  Pleura  riß  ein  und  es  ent- 
stand eine  reichlich  handtellergroße  Oeffnung  der  Thoraxwand.  In  diesem 
Augenblick  sank  der  losgelassene  Tumor  mit  der  Lunge  ein  Stück 
zurück  in  die  Brusthöhle,  was  sofort  einen  Zustand  des  bedenklichsten 
Kollapses  zur  Folge  hatte.  Die  Atmung  sistierte,  der  Puls  war  nicht 
fühlbar,  aber  die  Erscheinungen  änderten  sich,  sobald  der  Tumor  wieder 
ge&ßt  und  nach  vorn  gezogen  wurde.  Jetzt' wurde  es  klar,  daß  er  mit 
dem  rechten  Unterlappen  der  Lunge  untrennbar  verwachsen  war.  Als 
die  Lunge  darauf,  losgelassen,  plötzlich  kollabierte,  trat  sofort  wieder 
ein  Zustand  tiefen  Kollapses  ein.  Die  rasch  wieder  gefaßte  und  an- 
gezogene Lunge  füllte  sich  bei  der  Inspiration  sogleich  wieder,  und  die 
Kollapserscheinungen  schwanden.^ 

Diese  Erfahrung  scheint  mir  indirekt  die  Richtigkeit  meiner  Auf- 
fassung über  die  Art  der  Pneumothoraxwirkung  zu  beweisen.  Die 
Lunge  kam  durch  das  Hervorziehen  in  Inspirationsstellung,  ähnlich  wie 
wir  es  durch  Aufblasen  und  Abklemmen  des  Bronchus  bei  unseren  Ex- 
perimenten erzielten. 

Die  Veränderungen  des  Atmungstypus  bei  einsei- 
tigem Pneumothorax   sind   also  die  Folge   eines  Sauer- 


424  Sauerbrach, 

stoffmangels  des  Blutes,  der  dadurch  eintritt,  daß  die 
kollabierte  Lunge  mehr  Blut  bekommt  als  die  gesunde 
und  daß  diese  trotz  ihrer  Mehrarbeit  und  bei  einem  an  sich 
vollständig  genügenden  Luftwechsel  den  Ausfall  nicht 
kompensieren  kann.  Vergrößert  wird  dieser  SauerstoflFmangel 
noch  durch  die  bereits  oben  erwähnte  Oberflächenbeschränkung  der 
Lunge.  Es  vollzieht  sich  durch  den  Wegfall  der  einen 
Lunge  der  Gasaustausch  auf  einer  viel  kleineren  Ober- 
fläche; das  Blut  hat  andererseits  eine  sehr  niedrige  Ab- 
sorptionsgrenze für  den  Sauerstoff,  so  daß  es  nur  einen 
geringen  Prozentsatz  der  Säuerst  off  menge,  die  ihm  durch 
den  ausgiebigen  Luftwechsel  in  den  Lungen  zur  Verfü- 
gung steht,  in  sich  aufnehmen  kann. 

Den  Einfluß  des  Vagus,  der  auch  nicht  zu  vernachlässigen  ist, 
hatten  wir  oben  schon  besprochen. 

Mit  den  Aenderungen  der  Zirkulation  in  der  kollabierten  Lunge 
kommen  wir  zu  den  Zirkulationsstörungen  überhaupt.  Von  vorneherein 
steht  zu  vermuten,  daß  die  Strömung  im  großen  Keislaufe  Aende- 
rungen erfahren  muß.  Man  denke  an  den  Wegfall  bezw.  die  Behin- 
derung der  Aspiration  des  Brustraumes,  —  die  Aspiration  der  rechten 
Vorkammer  bleibt  ja  unverändert  —  die  beim  linksseitigen  Pneu- 
mothorax schon  eintritt  und  beim  rechtsseitigen  beträchtlich  wird, 
ferner  an  die  Aenderungen  des  Stromgefälles  von  den  Lungen  zum 
linken  Vorhof  —  die  dünnwandigen  Lungenvenen  werden  stark  kom- 
primiert — . 

Die  Arbeit  des  Herzens  ist  das  Produkt  von  arteriellem  Druck  und 
ausgeworfener  Blutmenge  und  abhängig  von  der  Zahl  der  Einzelkontrak- 
tionen in  der  Zeiteinheit.  Das  Herz  hat  vielleicht  von  allen  Organen  am 
meisten  die  Fähigkeit,  sich  veränderten  Verhältnissen  und  Ansprüchen  an- 
zupassen :  Wenn  wähfend  einer  Diastole  die  Kammern  mehr  Blut  erhalten, 
so  wird  mit  der  nächsten  Systole  entsprechend  mehr  ausgeworfen; 
steigen  im  Stromkreis  die  Widerstände,  so  vermag  das  Herz  durch 
kräftigere  Kontraktion  sie  prompt  zu  überwinden.  Der  Druck  steigt; 
und  umgekehrt  stellt  sich  auf  Verminderung  der  Blutzufuhr  und  Ab- 
nahme der  Widerstände  das  Herz  sofort  mit  entsprechender  Abnahme 
der  Triebkraft  ein.  Diese  Anpassungsfähigkeit  des  Herzens,  die,  wie 
wir  jetzt  mit  Sicherheit  wissen,  eine  rein  muskuläre  Eigenschaft,  unab- 
hängig vom  Nervensystem  ist  (nach  Krehl),  spielt  bei  allen  Zirku- 
lationsstörungen die  größte  Rolle,  so  daß  wir  sogar  oft  bei  großen 
Kreislaufshindernissen  ihre  Gefahr  für  den  Körper  nach  der  Leistungs- 
fähigkeit des  Herzmuskels  beurteilen.  Beim  Pneumothorax  fällt,  wie 
wir  wissen,  die  Aspiration  des  Herzens  fort;  eine  Stase  im  venösen 
System  resultiert.  Messungen  des  Venen  drucks  in  der  Vena  femoralis 
ergeben  in  der  Tat  eine  Steigerung  des  Druckes. 


Zar  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  425 


Versuche: 

1)  Hund  9,8  kg  Gewicht.  Es  wird  eine  Kanüle  in  die  Vena  femoralis 
eingebunden  und  durch  einen  mit  Magnesiumsulfatlösung  gefüllten  Schlauch 
mit  einem  Quecksilbermanometer  verbunden.  Das  Manometer  zeigt  keinen 
Ausschlag.  Jetzt'  wird  die  rechte  Pleurahöhle  breit  geöffnet :  in  demselben 
Augenblicke  ein  positiver  Ausschlag  des  Manometers  von  3  mm  Hg. 

2)  Hund  7,3  kg.  Versuchsanordnung  wie  in  Versuch  1.  Um  Kon- 
traktionen der  Bauch-  und  Schenkelmuskulatur,  die  durch  den  entstehen- 
den Druck  auf  die  Vene  auch  zu  einem  positiven  Ausschlag  führen 
können,  auszuschalten,  wird  das  Tier  mit  Chloroform  narkotisiert;  auch 
jetzt  nach  Eröffnung  der  rechten  Pleura  ein  positiver  Ausschlag  von 
2,5  mm.  Diese  Versuche  habe  ich  an  zwei  anderen  Hunden  mit  negativem 
Erfolg  gemacht;  in  dem  einen  Falle  trat  durch  eine  frühzeitige  Gerinnung 
des  Blutes  eine  Verstopfung  der  Kanüle  ein. 

Bestimmungen  des  Blutdruckes  in  den  Venen  sind  schwieriger  und 
komplizierter,  als  in  den  Arterien;  es  liegt  dies  hauptsächlich  an  der 
dünnen  Wandung,  die  dem  leisesten  Druck  nachgibt.  Besonders  in  den 
Teilen,  in  denen  die  Venen  Klappen  fühlen,  können  ganz  geringe  Be- 
wegungen des  Tieres  einen  positiven  Ausschlag  durch  die  Kompression 
der  Vene,  durch  die  umgebende  Muskulatur  herbeiführen,  der  sonst 
fehlt.  Die  Ergebnisse  solcher  Venendruckversuche  sind  nicht  immer 
einwandsfrei.    Tiefe  Narkose  ist  unerläßlich. 

Die  rechte  Kammer  erhält  also  weniger  Blut  und  wirft  deshalb  bei 
jeder  Systole  auch  weniger  in  die  Lungen.  Mit  der  üeberfüllung  des 
venösen  Systems  kommt  es  zu  einer  abnormen  Verteilung  des  Blutes 
und,  da  die  arterielle  Spannung  nicht  beeinflußt  wird,  so  müssen  Ge- 
fälle und  Geschwindigkeit  des  Kreislaufs  sinken.  Nach  diesen  physio- 
logischen Voraussetzungen  haben  wir  also  eine  Aenderung  der  Kreis- 
laufverhältnisse beim  Pneumothorax  unbedingt  zu  erwarten. 

Ich  gebe  in  folgendem  drei  Kurven  wieder,  die  ich  alle  von 
Kaninchen  gewann,  nachdem  das  eine  Mal  zuerst  ein  linksseitiger,  dann 
ein  doppelseitiger,  das  andere  Mal  zuerst  ein  rechtsseitiger,  dann 
wiederum  ein  doppelseitiger  Pneumothorax  erzeugt  würde.  Die  Kurven 
wurden  in  der  üblichen  Weise  mit  dem  LuDwioschen  Kymographion 
gewonnen  und  zwar  durch  Verbindung  mit  der  rechtsseitigen  Carotis. 
Zur  Verhütung  der  Blutgerinnung  wandte  ich  5-proz.  Magnesiumsulfat- 
lösung an  (vgl.  Kurve  3,  4  u.  5). 

Aus  diesen  Kurven,  denen  ich  noch  andere  gleichlautende  an- 
fügen könnte,  geht  unzweideutig  hervor,  daß  nach  Eröffnung  der 
Brusthöhle  ein  mäßiges  Steigen  des  Blutdruckes,  eine  Verlangsamung 
des  Herzschlages  und  ein  Größerwerden  der  einzelnen  Wellen  ein- 
tritt. Sind  diese  Aenderungen  nun  lediglich  Folgen  der  veränderten 
Zirkulation? 

Wir  wissen,  daß  die  Herzaktion  abhängig  ist  von  dem  qualitativen 


426 


Sauerbrach, 


II 


So-« 


5-51 


Ig- 

5*2. 


BS 
5  5 


i 

I 

8  IT 


P  o 

"'S 

SS* 


Zar  Pathologie  des  ofifenen  Pneumothorax  etc. 


427 


^5? 

w  o 

r » 

g   O   CT 

H> 


S'g-g' 

s 

S.3 


D   O 

SS 

o 


OD    5* 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc. 


429 


^  « 


430  Sauerbruch, 

Zustand  des  Blutes  und  namentlich  auch  von  nervösen  Einflüssen. 
Aenderungen  der  Blutbeschaffenheit  —  Ueberladung  mit  Kohlensäure 
kann  hier  nur  in  Frage  kommen  —  als  Dyspnoe  im  engeren  Sinne, 
bewirken  eine  Steigerung  des  Blutdruckes  und  verlangsamte  Schlag- 
folge des  Herzens.  Von  den  nervösen  Einflüssen  kommt  die  Reizung 
des  Vagus  in  Frage,  die  ja  auch  Verlangsamung  des  Herzschlages, 
also  zugleich  mit  einer  Schwächung  der  Herzschläge  macht.  Die  Dys- 
pnoe  läßt   sich  durch  künstliche  Ventilation,   der  Vaguseinfiuß   durch 


Kurve  7.  Linksseitiger  Pneumothorax.  Bei  a  Durchschneidunff  der  Vagi:  Herab- 
sinken des  Blutdruckes  und  FortfaU  der  Pulsretardation.  (Oben  aas  Heraminken  des 
Blutdruckes  sehr  deutb'ch.) 


Resektion  des  Nerven  beseitigen.  Zunächst  eine  Kurve  (6),  die  die 
Wirkung  der  künstlichen  Atmung  auf  den  Blutdruck  beim  Pneumo- 
thorax zeigt. 

Die  Wirkung  der  künstlichen  Atmung  ist  klar:  Schnelles  Sinken 
des  Blutdruckes,  allerdings  nicht  bis  zur  Norm;  es  bleibt  eine  ge- 
ringe Steigerung  übrig;  außerdem  werden  die  einzelnen  Ausschläge 
geringer. 

Ebenso  verändert  die  Durchschneidung  der  Vagi  das  Bild  der 
Pneumothoraxwirkung  auf  das  Herz  wesentlich.  Man  vermißt  jetzt 
die  stets  eintretende  Verlangsamung  des  Herzschlages,  der  Puls  bleibt 
von  normaler  Frequenz ;  außerdem  fehlt  die  Steigerung  des  Blutdruckes 
(Kurve  7),  ja  es  tritt  eher  eine  Senkung  ein. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  eto.  431 

Es  wQrden  also  künstliche  Atmung  und  Vagotomie  den  durch  den 
Pneumothorax  gesteigerten  Blutdruck  herabsetzen;  die  künstliche  At- 
mung mehr  als  die  Vagotomie  (Aehnliches  fand  auch  HnAtek).  Läßt 
man  schließlich  bei  einem  Tiere  mit  Pneumothorax  künstliche  Atmung 
einleiten  und  reseziert  jetzt  die  Vagi  (Kurve  8),  so  fehlt  jede 
Aenderung  des  Blutdruckes. 

Die  Veränderungen,  der  Blutdruckkurve  lassen  sich  also  durch 
künstliche  Atmung  und  gleichzeitige  Vagotomie  beseitigen.  Künstliche 
Atmung  allein  bewirkt  ebenso  wie  die  Vagotomie  allein  lediglich  eine 
Abnahme  der  Steigerung  des  Druckes  und  Verminderung  der  Herzkon- 
traktionen. Der  Einfluß  der  künstlichen  Atmung  ist  größer  als  der  der 
Vagotomie.  Wenn  Einige  also  das  Hauptgewicht  auf  die  Dyspnoä  als 
Ursache  der  Blutdruckänderung  legen,  wie  z.  B.  Rodet  und  Poürrat 
es  tun,  so  läßt  sich  nichts  dagegen  sagen.  Es  kommt  aber  unzweifel- 
haft noch  die  durch  den  Vagus  vermittelte  Einwirkung  eines  Reizes 
hinzu.  Daß  der  Vagus  Pulsverlangsamung  und  Blutdrucksteigerung 
vermitteln  kann,  wissen  wir  aus  Bezolds  ersten  Untersuchungen 
(Bezold,  üeber  die  Innervation  des  Herzens,  Würzburg  1863).  Der 
Vagus  führt  zentripetale  Fasern,  die  dem  Zentrum  Reize  übermitteln 
können;  daß  aber  die  eindringende  atmosphärische  Luft  für  den  Vagus 
einen  Reiz  bedeutet,  kann  man  wohl  mit  Sicherheit  annehmen. 

Die  Ursache  fü r  die  Blutdrucksteigerung  und  Retarda- 
tion  des  Pulses  liegt  also  in  zwei  Momenten,  in  der  Kohlen- 
säureüberladung des  Blutes  und  in  der  Reizung  des  Vagus.  Daß 
der  Sauerstoffmangel  tatsächlich  den  Blutdruck  zu  erhöhen  und  die  Puls- 
frequenz herabzusetzen  vermag,  ist  eine  schon  lange  erwiesene  Erfahrung. 
Wir  wissen  aus  zahlreichen  Experimenten,  daß  durch  Sauerstoffmangel 
die  vasokonstriktorischen  und  die  Vaguscentra  gereizt  werden,  infolge 
hiervon  der  Blutdruck  steigt  und  die  Verlangsamung  des  Pulses  unter 
Erhöhung  der  Pulswellen  eintritt  Der  Reiz  auf  die  Vagi,  der  zweitens  in 
Frage  kommt,  wird  in  dem  Eindringen  von  Luft  und  in  den  veränderten 
Widerständen  und  Reibungsverhältnissen  liegen.  Zentripetale  regulatori- 
sche Fasern  übermitteln  dem  Zentrum  einen  Reiz,  der  durch  Pulsver- 
langsamung und  Drucksteigerung  beantwortet  wird. 

Die  erste  experimentelle  Arbeit,  die  sich  mit  dem  Blutdruck  bei 
Pneumothorax  befaßt,  stammt  von  Lieven.  Er  experimentierte  an 
Hunden  mittleren  Alters  und  mittlerer  Größe,  denen  er  0,04  oder  0,06  g 
Morphium  subkutan  injizierte;  jedes  Tier  wurde  tracheotomiert  und  der 
Druck  mit  dem  FiCKschen  Federmanometer  gemessen.  Lieven  unter- 
suchte ebenso  wie  Weil  verschiedene  Arten  des  Pneumothorax,  seine 
Ergebnisse  sind  folgende: 

Weder  ein  offener  noch  ein  geschlossener  Pneumothorax  verändert 
den  Blutdruck ;  wurde  in  den  Pleuraraum  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
Luft  eingelassen,  so  blieb  der  Blutdruck  auf  normaler  Höhe  stehen; 

MttUdl.  a.  d.  GrensfeUetea  d.  Medizin  n.  Chirarfto.    XUI.  Ud.  28 


432 


Sanerbruch, 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  433 

wurde  dabei  eine  gewisse  Grenze  überschritten,  so  stieg  der  Druck,  solange 
Luft  eingeblasen  wurde,  •allmählich  an,  um  dann  zur  normalen  Höhe  zu- 
rückzukehren. Bei  Erzeugung  eines  Ventilpneumothorax  verhält  sich  der 
Druck  ähnlich ;  nach  einer  gewissen  Zeit  sinkt  er,  aber  das  Tier  erstickt. 

Von  den  zahlreichen  Arbeiten,  die  dieser  gefolgt  sind,  kommt  für 
den  offenen  Pneumothorax  nur  noch  eine  von  Hnätek  in  Frage, 
alle  anderen  beziehen  sich  auf  den  Pneumothorax  mit  punktförmigen 
Oeffnungen.  Hnätek  fand,  daß  bei  ganz  offenem  Pneumothorax  der 
Blutdruck  erhöht,  die  Wellen  groß  und  der  Puls  verlangsamt  sind, 
Resultate,  die  mit  den  unserigen  übereinstimmen. 

Alle  diese  Störungen  des  Blutdrucks  und  der  Schlagfolge  des  Her- 
zens sind  nicht  als  wesentlich  zu  bezeichnen.  Der  Herzschlag  bleibt 
regelmäßig  und  äqual;  nur  vollzieht  er  sich  gewissermaßen  in  einer 
anderen  Breite.  Von  allen  Beobachtern,  mögen  sie  nun  von  einer  Stei- 
gerung, einem  Gleichbleiben  oder  einem  Sinken  des  Blutdrucks  be- 
richten, wird  kein  großes  Gewicht  auf  diese  Aenderungen  in  der  Zir- 
kulation gelegt.  Andererseits  muß  man  vor  der  Annahme  warnen,  daß 
Gleichbleiben  des  Blutdrucks  identisch  ist  mit  Gleichbleiben  der  Zir- 
kulation überhaupt.  Trotzdem  der  arterielle  Mitteldruck  anscheinend 
unverändert  bleibt,  können  in  kleinen  wie  in  größeren  Bezirken  venöse 
Hyperämie  oder  arterielle  Anämie  bestehen.  Vor  allem  wird  das  Herz 
durch  Vergrößerung  seines  Schlagvolumens  mehr  Arbeit  zu  leisten 
haben;  die  verstärkte  Arbeitsleistung  ist  zwar  geeignet,  einen  Teil  der 
ungünstigen  Folgen,  die  aus  dem  Kollaps  der  Lunge  für  den  Kreislauf 
sich  ergeben,  durch  Erhaltung  eines  mittleren  Druckes  zu  kompensieren, 
dagegen  wohl  kaum,  die  Zirkulation  in  normaler  Weise  aufrecht  zu  er- 
halten, da  neben  der  Konstanz  des  Druckes  nicht  auch  eine  gleiche 
Geschwindigkeit  wie  vorher  und  ein  gleiches  Schlagvolumen  des  Herzens, 
also  eine  allen  Bedürfnissen  entsprechende  Grundlage  für  die  Tätigkeit 
der  Gewebe  erzielt  werden  kann  (Rosen bach);  ich  erinnere  an  die  oben 
erwähnte  Stase  im  venösen  System.  Es  war  mir  leider  im  pharma- 
kologischen Institute  keine  Stromuhr  zugänglich,  so  daß  ich  auf  Unter- 
suchungen über  die  Geschwindigkeit  verzichten  und  sie  den  Physiologen 
überlassen  muß. 

Die  Störungen  der  Atmung  und  der  Zirkulation  haben  wir  damit 
erledigt ;  es  bleibt  noch  ein  Wort  über  den  doppelseitigen  Pneumothorax 
zu  sagen.  Ich  erwähnte  schon,  daß  hier  die  Erscheinungen  gewisser- 
maßen Verstärkungen  derjenigen  bei  einfachem  Pneumothorax  sind. 
Die  stürmische,  ausgiebige  Atmung,  die  erhebliche  Blutdrucksteigerung, 
schließlich  der  Stillstand  der  Atmung  und  das  Sinken  des  Blutdrucks 
bis .  zum  Exitus  letalis  sind  lediglich  Folgen  des  Lufthungers,  der  ja 
bei  vollständigem  funktionellen  Wegfall  beider  Lungen  erklärlich  ist. 
Trotz  aller  Anstrengungen  des  Tieres  bleibt  die  Verstärkung  der  Atmung 
eine  rein  muskuläre ;  die  Ventilation  der  Lunge  ist  gleich  Null.    Selbst- 

28* 


434  Sauerbruch, 

verständlich  kommt  auch  hier  der  Fortfall  des  spezifischen  Vagusreizes 
in  Frage  (s.  oben);  der  doppelte  Wegfall  dess*elben  wird  auch  doppelt 
stark  die  entsprechende  Aenderung  der  muskulären  Atmung  bedingen. 
Soweit  ich  aus  der  Literatur  ersehe,  ist  bisher  bei  allen  experi- 
mentellen Arbeiten  über  den  Pneumothorax  weder  der  Wärmeverlust 
noch  die  Infektionsgefahr  berücksichtigt  worden.  Wir  wissen,  daß  Tem- 
peraturerniedrigung auf  die  Respiration  einen  ziemlich  starken  Einfluß 
hat,  und  bei  Versuchen,  bei  denen  es  auf  genaue  Werte  ankommt,  muß 
man  diesen  berücksichtigen.  Deshalb  haben  wir,  nachdem  uns  durch 
die  folgenden  Versuche  klar  geworden  war,  wie  hoch  der  Temperatur- 
verlust anzuschlagen  ist,  für  eine  ausreichende  Erwärmung,  die  diesen 
Verlust  deckt,  nach  unseren  Untersuchungen  über  die  Atmung  und  den 
Blutdruck  Sorge  getragen.  Dies  ist  nicht  von  Seiten  anderer  Forscher 
geschehen;  jedenfalls  erwähnen  es  nur  Sagkur  und  Hnätee  ausdrücklich. 

Versuche. 

1)  Kaninchen,  2100  g,  Körpertemperatur  39,4  <>.  Eröffnung  der  linken 
Pleurahöhle  durch  Resektion  von  ca.  3  qcm  Brustwand,  Temperatur  des 
Zimmers  20«  C.  Nach  i/.  Stunde  mißt  das  Tier  37,4  <>.  Nach  «/^  Stunden 
Temperatur  35,8  ^     Nach  1  Stunde  Exitus. 

2)  Kaninchen,  2700  g.  Zimmertemperatur  22  ^  C.  Körpertemperatur  40  ^, 
Eröffnung  der  rechten  Pleurahöhle  in  derselben  Weise.  Temperatur  nach 
1/,  Stunde  37,2  <>,  nach  1  Stunde  36,5 ». 

3)  Hund,  4,700  kg,  Temperatur  37,9  «.  Eröffnung  der  rechten  Pleura- 
höhle durch  Lappenschnitt  von  5  qcm  Größe.  Temperatur  nach  20  Mi- 
nuten 36,4     Kurz  darauf  Exitus  des  Tieres. 

4)  Hund,  7  kg.  Temperatur  37,6  ^  Zimmertemperatur  18«.  Links- 
seitiger Pneumothorax  in  derselben  Weise  erzeugt.  Temperatur  nach 
1/^  Stunde  35,6«  In  V2  Stunde  35,6«.  Verschließen  der  Wunde.  In 
1/2  Stunde  Temperatur  36«,  nach  1  Stunde  37,2«. 

5)  Kaninchen,  3000  g.  Körpertemperatur  38,9  «.  Zimmertemperatur  19  «. 
Laparotomie:  Schnitt  vom  Querfortsatz  bis  zur  Symphyse.  Eventeration 
der  Därme.     Temperatur  nach  */j  Stunde  38«,  nach  »/^  Stunde  37,6«. 

6)  Hund,  4,375  g.  Temperatur  37,9«  Zimmertemperatur  22«  C. 
Laparotomie:  in  derselben  Weise,  wie  in  dem  vorhergehenden  Versuche. 
Temperatur  nach   »/^  Stunde  37,3«  nach  »/^  Stunden  36,9«. 

Der  Wärmeverlust  bei  einem  offenen  Pneumothorax  ist  also  be- 
trächtlich, weit  größer,  als  bei  breiter  Eröffnung  der  Bauchhöhle.  Der 
Grund  in  dieser  Verschiedenheit  liegt  meines  Erachtens  in  dem  großen 
Gefäßreichtum  der  Lunge  und  der  direkten  Abkühlung  des  Herzens. 
Alle  diese  Versuche  wurden  ohne  Narcoticum  mit  peinlichster  Blut- 
stillung ausgeführt.  Für  praktische  Eingriffe  käme  noch  die  Wärme 
herabsetzende  Wirkung  des  Chloroforms,  bezw.  Aethers  und  des  Blut- 
verlustes hinzu.  Wir  haben  also  mit  aller  Wahrscheinlichkeit  unter 
diesen  Umständen  einen  noch  größeren  Wärmeverlust  zu  erwarten,  der 
unter  Umständen  den  Eingriff  wesentlich  kompliziert. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  435 

lieber  die  direkten  Folgen  der  Abkühlung,  sind  von  Reineboth  ex- 
perimentelle Untersuchungen  gemacht  worden.  Er  wies  nach,  daß  durch 
die  Wirkung  der  Außentemperatur  auf  die  Pleura  organische  Verände- 
rungen in  dieser  entstehen.  Er  fand  bei  Kaninchen  regelmäßig  im  An- 
schluß an  das  Eindringen  der  Außenluft  subpleurale  feinste  Blutungen. 
Auch  wir  sahen  fast  regelmäßig,  namentlich  bei  Operationen,  die  wir 
mit  künstlicher  Atmung  vornahmen,  solche  kapilläre  Blutungen  entstehen. 
Ich  glaube,  daß  sie  eine  besondere  Komplikation  bedeuten,  insofern  als 
von  hier  nach  meinen  Erfahrungen  sehr  gerne  lobulär-pneumonische 
Herde  ausgehen.  Solche  hat  Reineboth  nicht  beobachtet,  dagegen 
Atelektasen,  Thrombosen  und  Embolien  der  Blutgefäße.  Nebenbei  fand 
er  nach  48  Stunden  bei  einem  Tiere  Albuminurie,  bei  einem  anderen 
Zuckerausscheidung.  Nach  Reineboth  entstehen  die  Sugillationen 
der  Pleura  nach  Abkühlung  dadurch,  daß  ^anfänglich  durch  den  Reiz 
des  abkühlenden  Mediums,  dann  aber  wahrscheinlich  durch  die  infolge 
der  Erkältung  auftretende  Blutschädigung  speziell  die  Hämoglobinämie 
eine  Erregung  des  vasomotorischen  Zentrums  stattfindet.  Diese  ver- 
anlaßt ein  Bersten  der  feinsten  subpleuralen  und  endopulmonalon  Ge- 
fäße, die  ihrerseits  durch  das  Zurückdrängen  des  Blutes  von  der  er- 
kältenden Oberfläche  ins  Körperinnere  stärker  mit  Blut  gefüllt  sind. 
Eine  augenblickliche  Schädigung  der  Gefäßwände  oder  vielleicht  auch 
direkte  nervöse  Irritation  derselben  infolge  der  Hämoglobinämie  läßt 
sich  dabei  nicht  von  der  Hand  weisen;  Eine  Schädigung  im  Sinne 
einer  sogleich  entstehenden  Brüchigkeit  infolge  Gewebsveränderung  bei 
Epithelien  ist  weniger  wahrscheinlich.  Es  ist  schließlich  noch  möglich, 
daß  die  in  jeder  Inspiration  auftretende  Veränderung  der  Blutmasse 
innerhalb  des  Thorax  die  Entstehung  der  Ekchymosen  begünstigt.  Bei 
künstlicher  Atmung,  wo  das  Schwanken  des  Lungen volumens  und  damit 
auch  die  Füllung  der  Gefäße  sehr  wechselnd  ist,  spielen  sicher  mecha- 
nische Veränderungen  eine  Rolle." 

Daß  die  Pleurahöhle  mit  ihrem  Reichtum  an  Lymphgefäßen  leicht 
infizierbar  ist,  steht  zu  erwarten.  Die  Infektionsgefahr  ist  in  der  Tat 
hier  eine  sehr  große  und  übertrifft  bei  weitem  die  des  Peritoneums. 
Schon  die  einfache  Eröffnung  eines  Interkostalraumes  ohne  aseptische 
Kautelen  führt  oft  zu  einem  blutigen  bezw.  eiterigen  Exsudat,  an 
dem  die  Tiere  am  zweiten,  dritten,  oft  schon  am  ersten  Tage  zu 
Grunde  gehen.  Ja  selbst  bei  strenger  Asepsis  kommen  Fälle  vor,  wo 
auf  die  Eröffnung  der  Pleurahöhle  das  Tier  sehr  bald  an  Sepsis 
stirbt.  Ganz  besonders  gilt  dies  für  die  Hunde,  die  ein  im  hohen 
Maße  empfindliches  Brustfell  besitzen.  Hunde,  die  einen,  ich  möchte 
sagen,  rohen,  operativen  Eingriff  in  der  Bauchhöhle  ohne  alle  aseptische 
Vorsichtsmaßregeln  glatt  vertragen,  gehen  im  Anschluß  an  eine  mit 
peinlichster  Sauberkeit  ausgeführte  Eröffnung  des  Pleuraraumes  an  In- 
fektion zu  Grunde.    Diese  Erfahrung  habe  ich  den  letzten  Winter  immer 


436  Sauerb rnch, 

wieder  machen  müssen,  und  ich  bin  der  Ueberzeugung,  daß  hier  noch  be- 
sondere Verhältnisse  vorliegen,  die  man  vorläufig  noch  nicht  übersieht. 


Die  Pathologie  des  Pneumothorax  setzt  sich  also  zusammen  aus 
einer  Reihe  von  Gefahren  bezw.  Störungen,  die  verschiedene  Ursachen 
haben:  Dyspnoe,  Wärmeverlust,  Infektionsgefahr  der 
Pleura  und  schließlich  Kreislaufstörungen.  Bei  weitem 
überwiegt  die  akute  Gefahr  der  Dyspnoö,  die  das  Leben  unter  Um- 
ständen direkt  bedroht.  Sie  ist  nur  zum  Teil  pulmonalen  Ursprunges, 
d.  h.  nicht  eine  Folge  des  funktionellen  Wegfalls  der  Lunge;  haupt- 
sächlich ist  sie  die  Folge  der  Hyperämie  der  kollabierten  Lunge.  Der 
Einfluß  des  Vagus  muß  schließlich  auch  berücksichtigt  werden.  Wärme- 
verlust und  Infektionsgefahr  spielen  für  den  Theoretiker  eine  unter- 
geordnete Rolle ;  sie  haben  mehr  ein  praktisches  Interesse  für  den  Chi- 
rurgen, der  bei  seinen  Operationen  sehr  mit  ihnen  zu  rechnen  hat. 

Um  diese  Gefahren  der  Brusthöhleneröffnung  auszuschalten,  hat 
man  eine  Reihe  von  Verfahren  angewandt,  von  denen  ein  jedes  eine 
gewisse  praktische  Bedeutung  erlangt  hat.  An  der  Spitze  steht  die 
künstliche  Atmung,  die  ich  zunächst  ausführlich  besprechen  möchte. 

III.  Die  künstliche  Atmung. 
Von  den  Gefahren  des  Pneumothorax  überwiegen  entschieden  die 
Dyspnoe  und  ihre  Folgen.  Man  erklärte  sie  sich,  wie  wir  gesehen 
haben,  durch  den  funktionellen  Wegfall  der  Lunge.  Es  lag  deshalb 
nahe,  die  Arbeit  der  Pneumothoraxlunge  durch  periodisches  rhyth- 
misches Einblasen  von  atmosphärischer  Luft  mit  Hilfe  eines  Blase- 
balges zu  erzielen.  Die  aktive  Tätigkeit  des  Thorax  und  der  Lungen 
wird  auf  diese  Weise  durch  die  Arbeit  eines  Respirationsapparates  er- 
setzt. Diese  Form  der  künstlichen  Atmung  ist  sehr  alt.  Schon  Vesal 
hat  diesen  Kunstgriff  angewandt,  um  seine  Tiere  nach  Eröffnung  der 
Brusthöhle  am  Leben  zu  erhalten.  (Vesalius,  de  humani  corporis 
fabrica,  p.  824,  Basileae  1559)  (Inflato  igitur  semel  atque  iterum  pul- 
mone,  cordis  motum  visu  tactuq;  quantum  lubet  examinas  et  arteriae 
magnae  caudicem  .  . .  quo  aliquandiu  observato,  pulmo  rursus  inflandus 
est:  hocq;  artificio,  quo  mihi  gratius  in  anatome  nullum  comperi, 
magna  pulsuum  differentiarum  cognitio  paranda  venit.)  Gewöhnlich  wird 
aber  das  Verfahren  auf  Hook  zurückgeführt,  dessen  Mitteilung  aus 
dem  Jahre  1667  stammt  (nach  Rosenthal,  Hermanns  Handbuch  für 
Physiologie).  Er  verbindet  die  Trachea  direkt  mit  einem  Blasebalg, 
der  abwechselnd  gefüllt  und  geleert  wird.  Durch  regelmäßige  Luft- 
einblasung wird  der  Hund  länger  als  eine  Stunde  am  Leben  er- 
halten; wenn  die  Einblasungen  ausgesetzt  werden,  verfällt  der  Hund 
in  Krämpfe ;  erneute  Einblasungen  beleben  ihn  wieder.    Hundert  Jahre 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneamothorax  etc.  437 

später  benutzte  Fontana  die  künstliche  Atmung,  um  zu  untersuchen, 
wie  das  Viperngift  auf  geköpfte  Tiere  wirkt  (Fontanas  Abhandlung 
über  das  Viperngift,  a.  d.  Französ.  übersetzt,  p.  218,  Berlin  1787). 
Nach  ihm  weist  Goodwin  (zit.  bei  Le  Gallois,  Exp^riences  sur  le 
principe  de  la  vie,  p.  335,  Paris  1812)  darauf  hin,  daß  die  künstliche 
Atmung  das  beste  Mittel  zur  Behebung  der  Asphyxie  ist.  Oefters 
hat  erst  Le  Gallois  die  künstliche  Atmung  verwandt.  Er  benutzte 
«ine  zinnerne  Spritze,  die  an  ihrem  unteren  Ende  eine  Seitenöffnung 
hat  und  in  eine  Trachealkanüle  ausläuft,  deren  Mündung  etwas  enger 
sein  muß  als  das  erwähnte  Loch.  Die  Kanüle  wird  in  die  Luftröhre 
«ingeschoben.  Dann  treibt  er  die  Luft  aus  der  Spritze  in  die  Lunge 
und  saugt  sie  unmittelbar  wieder  aus,  indem  das  erwähnte  Loch  mit 
dem  Finger  verschlossen  wird.  Nun  wiederholt  er  die  Hin-  und  Her- 
bewegung des  Spritzenstempels  bei  unverschlossenem  Loch,  wodurch 
die  Lungenluft  aus  der  Spritze  entfernt  und  frischer  Ersatz  in  sie  ein- 
gesogen wird,  worauf  wieder  die  Eintreibung  in  die  Lunge  erfolgt. 
Trotz  aller  Vorsicht  hat  er  bei  dem  Verfahren  öfter  Zer- 
reißungen der  Lunge  und  Eintritt  der  Luft  in  die  Pleurahöhle 
gesehen  (nach  Hermanns  Handbuch  für  Physiologie). 

Magendie,  der  Begründer  der  experimentellen  Physiologie  und 
Pathologie,  hat  die  künstliche  Atmung  wohl  zuerst  für  physiologische 
Versuche  seit  dem  Jahre  1811  regelmäßig  angewandt.  Nach  ihm  haben 
sich  fast  alle  Forscher,  hauptsächlich  die  Physiologen,  dieser  Methode 
bei  ihren  Tierexperimenten  mit  Erfolg  bedient;  denn  sie  erwies  sich 
auch  für  ihre  Zwecke  als  ausreichend;  kam  es  ihnen  doch  wohl  immer 
nur  darauf  an,,  dem  Beobachtungstier  für  eine  Zeit  über  die  Er- 
stickungsgefahr hinwegzuhelfen,  bis  zur  Beendigung  des  Versuches.  Es 
hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  eine  ganz  besondere  Technik  der  künst- 
lichen Atmung  herausgebildet,  die  ich  kurz  beschreiben  will. 

Um  die  aktive  Respiration  des  Tieres  vollständig  auszuschalten, 
wird  es  vor  Beginn  des  Versuches  kurarisiert;  dann  wird  eine  weite 
I  Kanüle  in  die  Luftröhre  eingeschoben;  das  eine  Ende  steht  in 
Verbindung  mit  einem  Blasebalg,  das  andere  ist  durch  ein  Müller- 
sches  Ventil  geschlossen.  Durch  rhythmische  Kompressionen  des  Blase- 
balges werden  auch  die  Lungen  rhythmisch  aufgeblasen.  Um  gleich- 
zeitig dem  Tiere  Aether  oder  Chloroformdämpfe  zuzuführen,  kann  man 
das  Zuleitungsrohr  des  Blasebalges  durch  einen  Seitenansatz  mit  einer 
Flasche  verbinden,  in  der  Aether  oder  Chloroform  verdunstet.  Oder 
aber  man  bedient  sich  des  KiONKAschen  Narkoseapparates,  der  es 
gestattet,  das  Narcoticum  selbst  in  kleinsten  Dosen  exakt  der  zu- 
führenden Luft  beizumischen.  Natürlich  kann  man  den  Blasebalg  auch 
durch  eine  Cylinderdruckpumpe  ersetzen;  das  ist  kein  prinzipieller 
Unterschied.  Im  Breslauer  pharmakologischen  Institut  wird  die  künst- 
liche Atmung  mit  Hilfe  einer  solchen  Pumpe  vorgenommen,   die  für 


438  Sauerbruch, 

die  Narkose  mit  einem  KiONKAschen  Apparate  in  Verbindung  steht- 
Auf  diese  Weise  läßt  sich  sehr  bequem  die  künstliche  Atmung  vor- 
nehmen. Uebrigens  ist  zur  Ausschaltung  der  aktiven  Atmung  die 
Kurarisierung  des  Tieres  nicht  nötig.  Bei  ausgiebiger  Ventilation  der 
Lungen  durch  die  künstliche  Atmung  tritt  bald  ein  Zustand  von  Apnoe 
ein,  wodurch  von  selbst  jede  Tätigkeit  der  Atmungsmuskulatur  wegfällt. 

Auch  beim  Menschen  sind  schon  Versuche  mit  der  künstlichen 
Atmung  gemacht  worden;  so  hat  sie  Dr.  Fell  im  Jahre  1893  bei  einer 
Opium  Vergiftung  mit  Erfolg  angewandt.  Die  Luft  wurde  durch  eine 
Trachealkanüle  oder  vermittelst  einer  über  Mund  und  Nase  gestülpten 
Maske  mit  einem  einfachen  Blasebalg  eingeblasen.  Tuffi£r  und  Hallion 
sind  große  Anhänger  der  künstlichen  Atmung  auch  für  operative  Zwecke 
beim  Menschen.  O'Dwyer  hat  durch  Einfügung  seiner  Intubations- 
kanüle die  Tracheotomie  vermieden  und  dadurch  den  Apparat  wesentlich 
verbessert.  In  neuester  Zeit  hat  R.  Matas  den  Blasebalg  auch  für  den 
Menschen  durch  eine  Cylinderdruckpumpe  ersetzt.  Die  Hahnstellung 
für  Inspiration  und  Exspiration  geschieht  automatisch  vermittelst  eines 
parallellaufenden  Stempels  mit  Winkelhebel  (zit.  nach  Garrä). 

Als  fernere  Verbesserung  ist  zu  nennen  die  Einschaltung  eines 
Luftfilters,  eines  Hg.Manometers  und  einer  Vorrichtung  für  Zuführung 
von  Aether  oder  Chloroform  zur  Narkose  (GarrS). 

QüfiNü  und  LoNGüET,  vor  allem  aber  Tüffier  und  Hallion  haben 
in  einigen  Publikationen  sich  mit  der  Bedeutung  der  künstlichen  Respira- 
tion experimentell  beschäftigt.  Sie  kommen  in  ihren  Arbeiten  alle  zu  dem 
Schluß,  daß  tatsächlich  die  künstliche  Ventilation  als  ein  vollständiger 
Ersatz  der  normalen  Atmung  zu  betrachten  ist,  und  sind  der  Meinung^ 
daß  man  sich  mit  Erfolg  in  der  Praxis  dieser  Methode  auch  beim 
Menschen  bedienen  könne.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  ja  in  der 
Tat  die  hauptsächliche  Gefahr,  die  ungenügende  Ventilation  des  Blutes, 
beseitigt.  Und  da  auf  ihr  sekundär,  wie  wir  sahen,  ein  Teil  der 
Aenderungen  der  Blutzirkulation  beruht,  so  wird  man  auch  für  sie 
eine  Besserung  erwarten  können;  aber  dennoch  erscheint  der  Wert 
der  künstlichen  Atmung  zweifelhaft  für  die  Fälle,  wo  es  darauf  an- 
kommt, die  Tiere  am  Leben  zu  erhalten.  Sie  birgt  eben  doch  eine 
Reihe  von  Gefahren,  die  man  kennen  muß,  um  ihre  Unbrauchbarkeit 
für  EingriflFe  am  Menschen  einzusehen.  Trotz  der  enthusiastischen 
Empfehlung  von  Tuffier  und  Hallion:  „Les  exp6riences  que  nous 
venons  d'indiquer  achdvent,  pensons-nous,  de  justifier  Tapplication  k 
Thomme  des  proc^d^s,  qui  nous  ont  r6ussi  chez  le  chien;  elles 
contribuent  k  d^montrer  Tinoculit^  de  la  respiration  artificielle  sous 
pression,  et  pr^cisent  les  conditions  qu'on  doit  r6aliser  pour  rendre 
efficace  et  inoffensive  Tinsufflation  destin^e  ä  supprimer  un  pneumo* 
thorax  accidentel  ou  opöratoire'*,  ist  meines  Wissens  noch  kein  Ver- 
such mit  dieser  Methode  am  Menschen  zu  operativen  Zwecken  gemacht 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  439 

worden.  Ich  bin  überzeugt,  daß  nur  wenige  Chirurgen  das  nötige  Zu- 
trauen zu  diesem  Verfahren  haben  und  sich  deshalb  scheuen,  es 
praktisch  anzuwenden.  Ich  wies  in  einem  kurzen  Artikel  der  No.  6 
des  Centralblattes  für  Chirurgie  bereits  auf  8  Punkte  hin,  die  nach 
meinen  Erfahrungen  und  Untersuchungen  bei  der  künstlichen  Atmung 
schädlich  wirken.    Ich  betonte  als  solche 

1)  die  Abänderung  des  Atmungsmodus, 

2)  das  interstitielle  Lungenemphysem  als  Folge  des  künstlichen 
Einpumpens  der  Luft  in  die  Lunge, 

3)  die  Rückwirkung  auf  die  Zirkulation, 

4)  das  Zurückbleiben  eines  Pneumothorax  beim  Aussetzen  der 
künstlichen  Atmung, 

5)  den  großen  Wärmeverlust, 

6)  die  größere  Infektionsgefahr  der  Pleura  durch  den  ausgiebigen 
Luftwechsel  im  Pleuraraum, 

7)  die  Notwendigkeit  der  Tracheotomie, 

8)  die  Schwierigkeit  der  Narkose,  alles  Gründe  gegen  die  künstliche 
Atmung,  die  ich  im  Folgenden  näher  besprechen  möchte. 

Nach  dem  Entstehen  des  Pneumothorax  haben  die  Lungen  kraft 
ihrer  Elastizität  das  Bestreben,  sich  nach  dem  Hilus  zu  retrahieren. 
Um  diesen  Kollaps  der  Lungen  zu  verhindern ,  muß  also  der  intra- 
bronchiale Druck  wenigstens  der  elastischen  Kraft  der  Lungen  das 
Gleichgewicht  halten,  d.  h.  1  Atmosphäre  +  ca.  10  mm  groß  sein. 
Um  nun  die  für  die  Respiration  nötige  Bewegung  der  Lunge  zu  er- 
zielen, muß  man  jetzt  entweder  mit  dem  Drucke  nachlassen,  so  daß 
die  Lunge  sich  verkleinern  kann,  oder  aber  man  macht  die  eigentliche 
Inspirationsstellung  zur  Exspirationsstellung  und  bläht  auf  diese  Weise 
die  Lunge  von  der  Inspirationsstellung  aus  auf.  Die  Atmung  vollzieht 
sich  jetzt  durch  ziemlich  beträchtliche  Schwankungen  des  Lungen- 
volumens innerhalb  des  starren,  jetzt  inaktiven  Brustkorbes.  Man 
kann  den  Grad  der  Aufblähung  der  Lunge  durch  ein  Manometer,  das 
mit  dem  Zuführungsrohr  in  Verbindung  steht,  prüfen  und  durch  Nach- 
lassen des  Druckes  abändern.  Es  ist  möglich,  die  Lunge  mit  der 
Kraft,  die  sie  normalerweise  expandiert  erhält,  aufzublähen.  Aber  es 
gelingt  nur  schwer,  so  allmählich  und  schonend,  wie  es  nötig  wäre, 
die  Aufblähung  vorzunehmen. 

Die  normale  Atmung  vollzieht  sich  dagegen  ganz  anders.  Die  In- 
spiration geschieht  stets  durch  Muskelwirkung.  Es  kommen  in  Frage: 
Zwerchfell,  Scaleni  und  Intercostales,  namentlich  die  Externi,  nur  bei 
absichtlich  tiefer  oder  angestrengter  Inspiration  treten  noch  die  soge- 
nannten accessorischen  Inspirationsmuskeln  in  Tätigkeit,  zunächst  die 
Serrati  postici  superiores  und  die  Levatores  costarum,  bei  höchster 
Atemnot  die  Sternocleidomastoidei,  Pectorales,  Serrati  antici  etc.  Das 
Zwerchfell  erweitert  den  Thoraxraum,  indem  es  sich  bei  seiner  Kon- 


440  Sauerbruch, 

traktioD  namentlich  an  den  muskulösen  Partien,  abflacht  und  sich  an 
seinen  Rändern,  mit  denen  es  in  der  Ruhe  der  Thoraxwand  anliegt,  sich 
von  ihr  abhebt.  Die  übrigen  Muskel  wirken  erweiternd  durch  Hebung 
der  Rippen  (Hermann). 

Die  Exspiration  geschieht  in  der  Regel  passiv,  das  heißt  dadurch, 
daß  die  Thoraxwandungen,  die  bei  der  Inspiration  ihre  Gleichgewichtslage 
verlassen  hatten,  nach  dem  Aufhören  der  Inspirationskräfte  durch  Schwere 
und  Elastizität  wieder  in  sie  zurückkehren.  Die  Schwere  zieht  die  ge- 
hobenen Rippen  in  ihre  alte  Lage,  der  Elastizität  der  Lungen  folgt  das 
Zwerchfell  dadurch,  daß  es  in  die  Höhe  steigt,  und  die  Thoraxwände 
passen  sich  ebenfalls  dem  neuen  Volumen  der  Lunge  an.  Bei  ange- 
strengter Exspiration  (bei  manchen  Tieren  stets)  treten  außerdem  Muskel- 
kräfte in  Tätigkeit,  und  zwar  haben  die  Exspirationsmuskeln  im  allge- 
meinen die  Richtung  von  hinten  und  unten  nach  vom  und  oben.  Die 
hauptsächlichsten  Exspirationsmuskeln  sind  die  Bauchmuskeln,  welche 
bei  ihrer  Kontraktion  den  Bauchinhalt  zusammenpressen  und  dadurch 
das  Zwerchfell  in  die  Höhe  treiben;  auch  ziehen  sie  die  Rippen  nach 
unten;  dasselbe  tun  die  Quadrati  lumborum  (Hermann). 

Da  die  Lungen  durch  die  Art  ihrer  Einpassung  in  den  Brustraum 
jeder  Bewegung  der  Thoraxwand  nachfolgen  müssen,  so  bewirkt  jede  In- 
spiration eine  Vergrößerung  der  Lungen  im  Querschnitt  und  in  den  Längs- 
durchmessern. Letzteres  ist  mit  einem  Herabrücken  der  ganzen  Lunge 
längs  der  Thoraxwände  verbunden  und  bedingt  schon  für  sich,  auch  ohne 
Erweiterung  des  Thoraxquerschnittes,  eine  Vergrößerung  des  Lungenquer- 
schnittes, da  durch  das  Herabrücken  in  dem  kegelförmigen  Thorax  jede 
Lungenschicht  in  einen  tieferen,  also  größeren,  Thoraxquerschnitt  gelangt. 
Das  Herabrücken  der  Lungen  zieht  auch  Luftröhre  und  Kehlkopf  bei  der 
Inspiration  etwas  nach  unten,  was  man  leicht  von  außen  bemerkt  (Her- 
mann). Die  Lungen  werden  ganz  allmählich  und  sanft  durch  die 
Exkursionen  des  Thorax  beeinflußt;  es  richtet  sich  der  Grad  ihrer 
Volumenschwankung  nach  dem  Atmungsbedürfnis  des  Tieres.  Es  kommt 
dabei  niemals  zum  vollständigen  Kollaps  der  Lunge,  und  Ueberdehnungen 
des  Gewebes  werden  vermieden.  Anders  bei  der  künstlichen  Atmung. 
Zunächst  entsprechen  Tiefe  und  Frequenz  dabei  nicht  mehr  dem 
Atmungsbedürfnis,  sondern  der  jeweiligen  Funktion  des  Respirations- 
apparates.  Die  Höhe  des  Drucks,  der  bei  der  künstlichen  Aufblähung 
angewandt  wird,  richtet  sich,  wie  wir  sahen,  nach  der  Größe  der 
elastischen  Kraft  der  Lunge.  Er  muß  also  mindestens  ca.  10  mm  Hg 
betragen.  Für  den  Fall,  daß  nur  eine  Pleurahöhle  eröffnet  und  ohne 
Curare  die  künstliche  Atmung  vorgenommen  wird,  und  das  wird  für 
praktisch-chirurgische  Zwecke  wohl  gewöhnlich  der  Fall  sein,  erwächst 
aus  der  künstlichen  Atmung  für  die  Lunge  der  un eröffneten  Brustseite 
eine  Schwierigkeit  der  Atmung.  Genau  wie  beim  VALSALVAschen  Ver- 
such, kommt  es  zu  einer  erschwerten  Exspiration.    Fällt   nun   zufällig 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc. 


441 


-a 


eine  Exspirationsphase  der  normalen  Lunge  mit  der  Aufblähungspbase 
der  künstlichen  Atmung  zusammen,  so  wirken  zwei  Kräfte  entgegen- 
gesetzt (siehe  Fig.  1).  Dadurch  wird  der  Druck  in  der  Lunge  noch 
mehr  erhöht,  so  daß  sehr  leicht  Schädigungen  des  Lungengewebes 
eintreten  können.  Wenn  man  nun  bedenkt,  daß  sehr  oft  der  Druck  — 
derselbe  läßt  sich  nur  schwer  regulieren  —  größer  ist  als  10  mm  Hg, 
und  außerdem  nicht  allmählich,  sondern  ruckweise  und  forciert  auf  die 
Lunge  wirkt,  so  kommen  wir  damit  zu  einer  ferneren  Schädlichkeit 
der  künstlichen  Atmung,  nämlich:  dem 
interstitiellen  Lungenemphysem. 

Ich  denke,  seine  Entstehungsursache 
ist  nach  dem  oben  Gesagten  so  klar,  daß 
wir  nicht  näher  darauf  einzugehen  brau- 
chen. Das  Lungengewebe  wird  eben  zu- 
nächst gedehnt,  dann  überdehnt  und  reißt 
in  dem  Augenblicke  ein,  wo  die  Elasti- 
zitätsgrenze überschritten  ist.  Diesen 
Punkt  haben  meiner  Ansicht  nach  die 
Anhänger  der  künstlichen  Ventilation, 
namentlich  die  Franzosen  und  Ameri- 
kaner, zu  wenig  berücksichtigt;  ich  gebe 
in  folgendem  einige  Sektionsberichte  aus 
meinen  Versuchen  wieder,  die  das  Ge- 
sagte illustrieren  mögen. 

1.  14.  Nov.  Hund,  6  kg.  Thoraco- 
tomia,  künstliche  Atmung.  Freilegen  der 
Speiseröhre,  Vagolysis,  Resektion  der  Speise- 
röhre, Verschluß  der  Wunde,  Naht  der 
Trachea.  Sektion  am  15.  Nov.:  Doppel- 
seitiger Pneumothorax,  doppelseitiges  blu- 
tig-eiteriges Exsudat  rechts  300,  links 
200  ccm.  Linker  Unterlappen  atelekta- 
tisch,  unterer  Teil  des  rechten  Unterlappens 
ebenfalls ;  zahlreiche  subpleurale 
Hämorrhagien,  Emphysema  bullosum  des  rechten  Ober- 
lappens.    Naht  undicht. 

2.  17.  Nov.  Hund,  4  kg.  Operation  wie  1.  Sektion  18.  Nov.  Pleuritis 
fibrinosa  links,  subpleurale  Hämorrhagien  des  linken  Oberlappens,  kleine 
Luftbläschen  im  linken  Unterlappen.  Größere  im  rechten 
Mittellappen.     Naht  undicht. 

3.  5.  Dez.  Hund,  7  kg.  Operation  wie  oben.  Sektion  8.  Dez.  Links- 
seitiges Empyem,  im  rechten  Unter-  und  Mittellappen  zahlreiche  bis  pfennig- 
stückgroße lobulär  pneumonische  Herde,  Suggillationen  der  Pleura  des  linken 
Oberlappens.     Naht  undicht. 

Diese  Befunde  zeigten  sich  fast  regelmäßig  an  den  Tieren,  denen 
ich  unter  künstlicher  Atmung  die  Speiseröhre   resezierte.     Ganz   be- 


Fig.l.  a  ZuführuDgsschlauch 
für  die  künstliche  Atmung.  1 
Druck  der  ExspiratiooBlmifte  auf 
die  Lunge.  2  Druck  der  ein- 
eeblasenen  Luft  von  innen  auf 
die  Lunge. 


442  Sauerbrach, 

sonders  häufig  entstand  das  interstitielle  Lungenemphysem  in  der  Lunge 
der  uneröffneten  Seite,  aus  Gründen,  die  ich  oben  auseinandersetzte. 
In  einem  Falle,  wo  offenbar  die  Aufblähung  der  Lunge  unter  zu  starkem 
Drucke  geschehen  war,  bestand  im  rechten  ünterlappen  ein  Emphysem- 
herd von  etwa  Eirschkerngröße,  umgeben  von  zahlreichen  bis  steck- 
nadelkopfgroßen kleineren  Herden.  Außerdem  fanden  sich  vereinzelt 
in  der  linken  Lunge  auch  ähnliche,  aber  viel  kleinere  Stellen. 

Die  Störungen  der  Zirkulation  halten  Tüffier  und  Hallion  für 
geringfügig  und  glauben  sie  deshalb  bei  der  praktischen  Verwertung 
der  Methode  vernachlässigen  zu  dürfen.  Die  Forscher  machen  den 
schon  oben  erwähnten  Fehler,  aus  der  Konstanz  des  Blutdruckes  ein 
Gleichbleiben  der  Zirkulationsverhältnisse  zu  schließen. 

Wir  hatten  gesehen,  daß  die  Durchströmung  der  Lungen  normaler- 
weise abhängt 

1)  von  der  Kraft  der  rechten  Herzkammer, 

2)  von  der  Druckdifferenz  zwischen  Lungenarterie  und  Lungenvene, 

3)  von  der  Veränderung  des  Gefäßquerschnittes  bei  der  Veränderung 
des  Lungenvolumens. 

Wir  nehmen  der  Einfachheit  halber  für  die  folgende  Deduktion 
die  Herzkraft  als  konstant  an  und  finden  bei  der  Lispiration  durch 
die  Zunahme  des  negativen  Druckes  eine  Vergrößerung  der  Druck- 
differenz zwischen  der  Arteria  und  Vena  pulmonalis,  ferner  eine 
Verdünnung  der  Luft  in  den  Lungen,  eine  Abnahme  des  Druckes 
und  schließlich  eine  freiere  Entfaltungsmöglichkeit  der  Alveolargefäße 
und  ein  Wachsen  des  Querschnittes.  Hinzu  kommt  noch  die  oben 
näher  beschriebene  Zunahme  der  Frequenz  des  Herzschlages  in  der 
Inspiration.  Alle  diese  Kräfte  wirken  in  demselben  Sinne,  so  daß  wir 
in  der  Inspiration  eine  Zunahme  der  Kapazität  und  der  Geschwindigkeit 
des  Blutes  in  den  Lungen  haben.    Die  Exspiration  dagegen  bedingt 

1)  eine  Verringerung  der  Druckdifferenz  zwischen  der  Arteria  und 
Vena  pulmonalis, 

2)  eine  Zunahme  des  Druckes  in  den  Lungen, 

3)  eine  Verkleinerung  des  Gefäßquerschnittes  und 

4)  eine  Abnahme  des  Schlagvolumens  und  der  Frequenz  des  Herz- 
schlages, d.  h.  in  der  Exspiration  nehmen  Kapazität  und  Geschwindigkeit 
des  Blutstromes  in  den  Lungen  ab.  In  der  Inspiration  steigt  der  Blut- 
druck, in  der  Exspiration  fällt  er. 

Anders  sind  die  Verhältnisse  bei  der  künstlichen  Atmung: 
hier  wird  mit  dem  Verschwinden   des  negativen  Druckes   in   der 
Pleurahöhle  auch  die  Druckdifferenz  zwischen  Lungenarterie  und  Lungen- 
vene verringert, 

ferner  haben  wir  jetzt  in  der  Inspiration  (Aufblasung)  einen  grö- 
ßeren Druck  im  Bronchialbaume,  als  in  der  Exspiration  (Kollaps  der 
Lunge);  daraus  folgt,  daß  die  Alveolargefäße  in  der  Inspiration  stärker  kom- 
primiert werden,  ihr  Lumen  kleiner  wird  und  ihre  Kapazität  abnimmt, 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  443 

während  in  der  Ex8piration  umgekehrt  mit  der  Abnahme  des  Druckes  die 
Alveolargefäße  an  Querschnitt  und  Inhalt  zunehmen;  also  das  entgegen- 
gesetzte Bild  der  normalen  Zirkulationsverhältnisse  in  den  Lungen. 

Wenn  es  trotz  dieses  prinzipiellen  Unterschiedes  in  der  Strömung 
des  Blutes  durch  die  Lunge  bei  normaler  und  künstlicher  Atmung  in 
beiden  Fällen  zu  respiratorischen  Schwankungen  des  arteriellen  Blut- 
druckes kommt,  so  darf  daraus  nicht  mehr  als  ein  Einfluß  der  Volumens- 
änderung der  Lunge  auf  die  Zirkulation  geschlossen  werden;  keines- 
falls aber  ein  Gleichbleiben  der  Kreislaufverhältnisse.  Hat  man  es 
doch  mit  ganz  anderen  Ursachen  zu  tun.  In  der  Inspiration  (bei  der 
Einblasung)  steigt  der  Blutdruck,  in  der  Exspiration  (beim  Kollabieren 
der  Lungen)  sinkt  er.  Also,  wie  gesagt,  man  hat  es  bei  der  künst- 
lichen Atmung  mit  einer  Erscheinung  ganz  anderer  Natur  zu  tun,  als 
wir  es  bei  der  normalen  Atmung  kennen  lernten.  Ich  gebe  im  fol- 
genden die  Darstellung  Herrmanns  über  das  Zustandekommen  dieser 
Schwankungen  wieder: 

„Werden  bei  geöffneter  Brusthöhle  die  Lungen  ausgedehnt  durch 
Einblasen  und  darauf  ausgedehnt  erhalten,  so  sieht  man  nach  einer  vor- 
übergehenden Steigerung  des  Blutdruckes  in  den  Arterien  diesen  beträchtlich 
sinken  und  während  der  Dauer  der  Atmungssuspension  aber  auf  dem  nie- 
deren Stande  verharren  (Kowalbwsky  und  Adamük,  Kuhn,  Kowalewsky). 
Diese  Druckherabsetzung  während  der  Suspension  der  aufgeblasenen  Lungen 
hat  Kowalbwsky  als  negative  Welle  bezeichnet.  Läßt  man  dagegen  die 
Lunge  kollabieren  und  suspendiert  jetzt  die  Atmung,  so  steigt  der  Blutdruck 
In  den  Arterien,  wie  dieselben  Experimentatoren  konstatierten.  Diese 
Steigerung  bei  koUabierter  Lunge  ist  Kowalbwskys  Orundwelle.  Wird 
die  Suspension  bei  einem  beliebig  durch  AufblasuDg  entfalteten  Lungen- 
volumen vorgenommen,  so  verharrt  der  Blutdruck  auf  dem  niederen 
Werte,  den  er  am  Ende  der  Aufblasung  erreicht  hat  (Kuhn),  und  zwar 
ist  dieser  Druck  niedriger  als  der  Druck  bei  koUabierter  Lunge,  aber 
höher  als  bei  stärkerer  Aufblasung  der  Lunge.  Es  ergibt  sich  aus  diesen 
Versuchen,  daß  die  Höhe  des  arteriellen  Druckes  mit  dem  jeweiligen  Zu- 
stande der  Lungen  sehr  innig  zusammenhängt.  Da  aber  die  Ausschaltung 
aller  nervösen  Einflüsse  an  den  angeführten  Erscheinungen  nichts  ändert, 
ao  kann  die  Wirkung  verschiedener  Ausdehnungsgrade  der  Lunge  auf  den 
Blutdruck  nur  in  mechanischen  Ursachen  gesucht  werden,  welche  bei  der 
Ausdehnung  der  Lungen  den  Blutzufluß  zum  linken  Herzen  beschränken. 
Wir  haben  diesen  Moment  bereits  früher  bei  der  Besprechung  des  Blut- 
stromes  in  den  Lungen  kennen  gelernt.  Es  ist  der  positive,  intrapulmo- 
nale Druck,  der  beim  Aufblasen  der  Lungen  entsteht  und  die  Kapillaren 
der  Lunge  komprimiert.  Folgen  nun  die  Einblasungen  wie  bei  einer  regel- 
mäßigen künstlichen  Respiration  in  bestimmten  Perioden  aufeinander,  so 
daß  die  Lunge  nur  für  einen  Moment  oder  nur  während  einer  kurzen 
Pause  im  kollabierten  Zustande  verharrt,  oder  sogar  diesem  Zustande  sich 
nur  annähert,  so  wird  die  Grundwelle  niemals  in  der  vollen  Höhe  sich 
entwickeln  können.  Es  wird  vielmehr  der  mittlere  Blutdruck  in  den 
Arterien  immer  unter  der  Höhe  der  Grundwelle  zurückbleiben.  Jede 
einzelne  der  sich  folgenden  Aufblasungen  wird  aber  zur  Folge  haben,  daß 
das  Blut,  welches  während  der  Entlastung  der  Kapillaren  beim  Kolla- 
bieren der  Lunge  in  die  Kapillaren  gelangt  ist,    durch   den   bei  der  Auf- 


444  Sauerbrach, 

blasnng  steigenden  intrapulmonalen  Druck  aus  den  Kapillaren  wieder  aus- 
gepreßt wird,  und  dadurch  wird  die  inspiratorische  Steigerung  des  arte- 
riellen Druckes  bei  der  künstlichen  Atmung  bedingt,  während  die  exspira- 
torische  Herabsetzung  des  arteriellen  Druckes  sich  daraus  erklärt,  dai^ 
während  des  KoUabierens  der  Langen  sich  das  Blut  in  der  vom  hohen 
intrapulmonalen  Drucke  entlasteten  Kapillaren  ansammelt  Die  beschrie- 
benen Wirkungen  der  künstlichen  Bespiration  auf  den  arteriellen  Blutdruck 
sind  in  derselben  Weise,  auch  bei  uneröffnetem  Pneumothorax,  vorhanden 
(Kuhn,  Kowalbwsky)/^  ,,Die  künstliche  Atmung  kann,  von  mechanischer 
Seite  betrachtet,  keineswegs  als  ein  förderndes  Moment  für  den  Kreislauf, 
sondern  eher  als  eine  Hemmung  betrachtet  werden  (Kowalbwsky).^^ 

Wichtig  erscheint  mir  auch  der  Umstand,  daß  trotz  künstlicher 
Atmung  die  Aspiration  des  Thorax  auf  die  großen  Körpervenen  weg- 
fällt Wir  hatten  gesehen,  daß  daraus  sich  eine  Stase  im  venösen  System 
ergiebt,  die  wir  manometrisch  nachweisen  konnten.  Ich  habe  an 
mehreren  Versuchstieren  mit  einseitigem  Pneumothorax  den  Druck  in 
der  Vena  femoralis  bei  künstlicher  Atmung  gemessen  und  fand  keine 
Steigerung.  Dagegen  gelang  es  mir  in  2  Fällen  von  doppelseitigem 
Pneumothorax,  trotz  ausgiebiger  künstlicher  Atmung, 
einen  positiven  Druck  in  den  Venen  nachzuweisen» 
Zweifellos  ist  diese  Störung  der  Zirkulation,  wenn  sie  sich  auch  nicht 
durch  schwere  Erscheinungen  kundtut,  bei  etwaigen  Eingriffen  am 
Menschen  zu  berücksichtigen. 

Eine  weitere  Schwierigkeit,  über  die  uns  die  künstliche  Atmung 
nicht  hinweghilft,  ist  die  Beseitigung  des  Pneumothorax  nach  Beendi* 
gung  der  Operation.  In  dem  Augenblicke,  in  dem  man  die  künstliche 
Atmung  unterbricht,  tritt  der  Pneumothorax  mit  seinen  Gefahren  ein. 
Die  Lunge  kollabiert  und  ist  wieder  funktionell  ausgeschieden.  Tüffier 
und  Hallion  schlugen  vor,  durch  Aufblasungen  die  Lunge  längere 
Zeit  in  stärkster  Inspirationsstellung  zu  halten  und  währenddessen 
die  Wunde  zu  verschließen.  Für  einige  Sekunden  kann  man  tatsächlich 
die  Atmung  in  Inspirationsstellung  der  Lungen  ohne  Gefahr  für  das 
Tier  unterbrechen.  Aber  schon  nach  6—10  Sekunden  tritt  Dyspnoe 
mit  ihren  Folgen  ein,  so  daß  die  künstliche  Atmung  wieder  in  ihre 
Rechte  treten  muß.  Andere  haben  vorgeschlagen,  ohne  Rücksicht  auf 
den  Pneumothorax  die  Wunde  zu  verschließen  in  der  Annahme,  daß 
die  Luft  bald  resorbiert  und  die  Lunge  wieder  ausgedehnt  werde.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  überall  da,  wo  während  der  Operation  (Oeso- 
phagusresektion)  die  zweite  Pleura  eröffnet  wurde,  dies  Verfahren  aus- 
geschlossen ist,  denn  es  bleibt  ein  doppelseitiger  Pneumothorax  zurück, 
der  sicher  ad  exitum  führt.  Fr.  König  berichtet  zwar  von  einem  doppel- 
seitigen Pneumothorax,  der  gelegentlich  einer  Brustbeinresektion  ent- 
standen sein  soll  und  von  der  Patientin  glücklich  überstanden  wurde. 
Er  hatte  durch  Gaze  die  Risse  in  der  Pleura  tamponiert.  Er  dürfte  dies 
ein  Ausnahmefall   sein,   der   vielleicht  dadurch  erklärlich  ist,  daß  Teile 


Zur  Pathologie  des  offesen  Pneumotliorax  etc.  445 

der  Langen  an  der  Brustwand  adhärent  waren  und  auf  diese  Weise 
ein  völliger  Kollaps  der  Lunge  ausgeschlossen  war.  Herr  Prof.  Filehne 
schlug  Yor,  die  Luft  in  der  Pleurahöhle  durch  Sauerstoff  zu  ver- 
drängen, indem  man  nach  Schluß  des  Pneumothorax  durch  eine  enge 
Oeffnung  der  Brustwand  unter  Druck  0  einläßt  und  diese  Oeffnung 
dann  verschließt.  Der  Sauerstoff  wird  sehr  leicht  resorbiert.  Mit 
seiner  Resorption  wird  die  Brusthöhle  wieder  leer  und  die  Lunge  kann 
sich  wieder  ausdehnen.  An  sich  ist  die  Methode  brauchbar,  leidet  nur 
an  dem  Fehler,  daß  der  Pneumothorax  immerhin  nach  Beendigung  der 
Operation  noch  eine  Zeit  lang  besteht,  und  zwar  gerade  in  der  Zeit, 
wo  wir  alles  Interesse  daran  haben,  mit  möglichst  physiologischen  Be- 
dingungen im  Körper  zu  rechnen.  Denn  nach  der  Operation,  wo  so 
viele  ungünstige  Rückwirkungen  derselben  für  den  Organismus  zu- 
sammenkommen, erscheint  mir  die  Beseitigung  des  Pneumothorax  sehr 
wichtig,  und  jedes  Verfahren,  welches  das  erzielt,  ist  der  Sauerstoffin- 
jektion vorzuziehen.  Bei  vielen  Operationen  habe  ich  auf  folgende  Weise 
den  Pneumothorax  zu  beseitigen  versucht.  Ich  schloß  nach  Beendigung 
der  Operation  die  Pleurahöhle  durch  eine  Etagennaht  bis  auf  eine  kleine 
Oeffnung  in  einem  Wundwinkel.  Auch  hier  legte  ich  2—3  Nähte  und 
machte  sie  zum  Knüpfen  fertig.  Dann  führte  ich  ein  Drain  von  ca.  4  mm 
Durchmesser  in  die  Pleurahöhle,  setzte  die  künstliche  Atmung  aus  und 
ließ  durch  das  Drain  mit  Hilfe  einer  Wasserluftpumpe  die  Luft  aus  der 
Pleurahöhle  absaugen.  Im  Moment,  wo  die  Pleurahöhle  leer  war,  die 
Lunge  sich  wieder  ausdehnte,  zog  ich  unter  Verschluß  des  Fingers  das 
Gummirohr  aus  der  Pleurahöhle  heraus,  gleichzeitig  knüpfte  der  Assistent 
die  Fäden.  Auf  diese  Weise  gelang  es  in  einigen  Fällen,  den  Pneumo- 
thorax zu  beseitigen,  in  anderen  versagte  dieser  Weg. 

Die  Eröffnung  des  Pleuraraumes  war,  wie  wir  sahen,  mit  einer 
sehr  starken  Temperaturerniedrigung  verbunden,  ein  üebelstand,  der 
durch  die  künstliche  Atmung  noch  vergrößert  wird.  Auf  diese  starke 
Abkühlung  der  Tiere  bei  der  künstlichen  Atmung  hat  vor  100  Jahren 
schon  Le  Gallois  (s.  oben)  hingewiesen.  Die  größeren  Exkursionen 
der  Lunge  führen  zu  einem  ausgiebigeren  Luftwechsel  in  der  Pleura- 
höhle. Dazu  kommt  die  Beschleunigung  der  Zirkulation,  so  daß  im 
Querschnitt  in  der  Zeiteinheit  mehr  Kalorien  abgegeben  werden  können. 

Versuche. 

1.  KanincheD.  2100  g.  Körpertemperatur  40^,  Zimmertemperatur 
19®  C.  Breite  Eröffnung  der  rechten  Pleurahöhle  und  Einleiten  der  künst- 
lichen Atmung.    Temperatur  nach  ^/j  Stunde  36,6  <>,  nach  »/^  Stunden  35,8  <>. 

2.  Kaninchen,  2300  g.  Körpertemperatur  38,9®,  Zimmertemperatur 
17  ®  C.  Eröffnung  wie  oben.  Künstliche  Atmung.  Temperatur  nach 
20  Min.  36,3®  nach  »/^  Stunden  36  0. 

3.  Hund,  7  kg.  Körpertemperatur  38®,  Tracheotomie.  Chloroform- 
narkose.    Künstliche  Atmung.     Eröffnung   der   1.  Pleurahöhle.     Freipräpa- 


446  Sauerbruch, 

rierung  der  Speiseröhre,  Vorziehen  derselben,  Resektion  von  2  cm.  Naht 
des  Oesophagus,  Naht  der  Pleura-  und  Hautwunde.  Dauer  40  Minuten. 
Temperatur  35,3  ö. 

Selbst  bei  höheren  Außentemperaturen  ist  der  Abfall  der  Temperatur 
keineswegs  gering,  wie  folgender  Versuch  beweist: 

Kaniuchen  240()  g.  Körpertemperatur  39,4  <^,  Temperatur  des  Kastens, 
in  welchem  die  Operation  vorgenommen  wurde,*  28®  G.  Eröffiiung  der 
rechten  Pleura  wie  oben.  Temperatur  nach  ^/^  Stunde  37,2®,  nach 
»/^  Stunden  36,8®. 

Wir  kommen  zur  Infektionsgefahr  der  Pleura.  An  sich  ist  die- 
selbe als  seröse  Haut  schon  durch  ihren  Reichtum  an  Lymphbahnen 
mit  offenen  Stomata  sehr  empfindlich,  vielleicht  noch  empfindlicher  als 
das  Peritoneum,  das  ja  ziemlich  viel  verträgt.  Die  an  sieh  schon  beste- 
hende große  Infektionsgefahr  wird  nun  durch  die  künstliche  Atmung  noch 
erhöht  Die  Lungen  befinden  sich  in  einer  fortwährenden  ausgiebigen 
Bewegung,  bei  der  die  Lymphgefäße  bald  weit  klaffen,  bald  komprimiert 
werden.  Die  Keime,  die  sich  an  der  Oberfläche  oder  in  den  Anfangs- 
teilen der  Lymphbahnen  befinden,  können  dadurch  angesaugt  und  schließ- 
lich mechanisch  weiter  massiert  werden.  Darüber  wissen  wir  noch  nichts 
Näheres.  Experimentelle  Untersuchungen  wären  sicher  hier  sehr  lohnend. 

Was  die  Tracheotomie  angeht,  die  eine  Vorbedingung  für  die  künst- 
liche Atmung  ist,  so  ist  sie  nicht  nur  eine  unnötige  Komplikation  des 
Eingriffs,  sondern  bedeutet  unter  Umständen  geradezu  eine  Gefahr.  Ich 
erinnere  daran,  daß  durch  das  Einpumpen  der  Luft  bei  der  künstlichen 
Atmung  sehr  leicht  Gewebsverletzungen  (interstitielles  Emphysem)  auf- 
treten können  (s.  oben). 

Wir  wissen  ferner,  daß  im  Anschluß  an  Tracheotomien  gern  Ent- 
zündungen der  Lunge  auftreten,  die  meist  die  Folge  von  Sekundär- 
infektionen sind.  Die  zahlreichen  Stellen  der  Gewebszerreißungen  sind 
für  die  Infektion  besonders  prädisponiert,  und  wir  sehen  fast  regelmäßig 
im  Anschluß  an  die  künstliche  Atmung  multiple  lobuläre  Pneumonien 
auftreten,  in  deren  weiterem  Verlauf  es  zur  Verschmelzung  der  einzelnen 
Herde  und  funktionellem  Ausfall  eines  ganzen  Lungenlappens  kommen 
kann.  Oft,  namentlich  wenn  die  primären  Lungenherde  subpleural 
liegen,  kommt  es  zu  fibrinöser  Pleuritis  und  Empyem.  Daß  gerade 
die  Lunge  der  gesunden  Seite  besonders  von  solchen  lobulär 
pneumonischen  Herden  befallen  wird,  darf  nicht  wunder  nehmen,  da 
ja  auch  hier  die  Parenchymzerreißungen,  infolge  des  starken  Ueber- 
druckes  mit  Vorliebe  auftreten  (vergl.  oben.).  Man  hat  durch  Sterili- 
sieren der  eingepumpten  Luft  die  Gefahr  der  Infektion  beseitigen  wollen, 
wahrscheinlich  aber  ohne  wesentlichen  Erfolg;  denn  einmal  erscheint 
mir  zur  Verhütung  von  Infektionen  die  Hauptvorbedingung  die  Un- 
versehrtheit des  Lungengewebes  zu  sein,  die  durch  dieses  Ver- 
fahren nicht  gewährleistet  wird,  dann  werden  immerhin  durch  den  Druck 


Zar  Pathologie  des  ofifenen  Pneumothorax  etc.  447 

der  eingepumpten  Luft  die  Keime,  die  in  der  Trachea  und  den  Bron- 
chien sich  befinden,  in  die  Alveolargebiete  der  Lungen  hineingepreßt 
und  reichen  für  die  Infektion  vollständig  aus.  Eine  gewisse  Verbesse- 
rung ist  ja  allerdings  der  Ersatz  der  Trachealkanüle  durch  den  O'dwter- 
schen  Tubus.  Sie  erspart  die  Tracheotomie,  schaltet  aber  nicht  die 
Gefahren  des  Einpumpens  der  Luft  in  die  Lungen  und  die  sekundären 
Oewebszerreißungen  aus;  außerdem  werden  bei  der  Durchführung  des 
Tubus  durch  die  Mundhöhle  leicht  Keime  in  den  Kehlkopf  und  den 
oberen  Teil  der  Trachea  gebracht  und  von  hier  aus  mit  dem  Ein- 
pumpen der  Luft  weiter  befördert  bis  zu  Stellen,  wo  sie  zur  Infektion 
führen  können. 

Schließlich  kommen  wir  zu  den  Schwierigkeiten  der  Narkose.  Wir 
sind  gewohnt,  unter  normalen  Druckverhältnissen  das  Narkotikum  in 
geringen  Mengen  der  Einatmungsluft  beizumischen  und  haben  die  Durch- 
führung der  Betäubung  zuverlässig  in  unserer  Hand.  Vor  allen  Dingen 
können  wir  verhüten,  daß  die  Kranken  zu  viel  von  dem  Einschläferunge- 
mittel aufnehmen.  Bei  der  künstlichen  Atmung  ist  das  anders.  Die  Gase 
des  Chloroforms  oder  Aethers  werden  in  den  Zuführungsschlauch  für  die 
Luft  hineingeleitet  und  gelangen  unter  demselben  Druck  wie  die  Respi- 
rationsluft in  das  Lungeninnere.  Wir  wissen,  daß  die  Narkose  auf  einem 
osmotischen  Gasaustausch  beruht  und  wesentlich  vom  Druck,  unter  dem 
das  Gas  steht,  abhängig  ist.  Bei  der  künstlichen  Atmung  ist  der  Druck 
wenigstens  in  der  gesunden  Lunge  vergrößert,  damit  wird  die  Resorp^ 
tion  des  Gases  in  das  Blut  erleichtert.  Kionka  hat  die  Gefahr  einer 
zu  starken  Wirkung  dadurch  umgangen,  daß  er  den  Zuführungsschlauch 
mit  einem  Apparat  verband,  der  die  genaue  Dosierung  des  Narkotikums 
2uläßt  (s.  unten).  Es  genügen  also  weit  geringere  Mengen  als  unter 
normalen  Verhältnissen. 

Andererseits  wird  allerdings  die  Gefahr  einer  zu  starken  Resorption 
durch  ausgiebigere  Ventilation  gemildert. 

An  der  Hand  der  Kurve  10  möchte  ich  nachweisen,  wie  man  an  der 
Pulskurve  sich  von  der  Ausgiebigkeit  der  künstlichen  Atmung  überzeugen 
kann;  gleichzeitig  ist  die  Kurve  ein  nochmaliger  Beweis  dafür,  daß  die 
Blutdrucksteigerung  beim  Pneumothorax  zum  Teil  durch  die  Djspnoö  des 
Blutes  bedingt  ist.  Solange  die  Einblasung  der  Luft  unter  zu  schwachem 
Drucke  geschieht,  oder  in  zu  großen  Zwischenräumen,  sind  die  Exkur- 
sionen der  Lunge  zu  klein  bezw.  zu  selten,  und  die  Ventilation  des 
Blutes  ist  also  nicht  genügend ;  so  lange  bleibt  aber  auch  die  Blutkurve 
bezüglich  des  arteriellen  Druckes  gesteigert,  bezüglich  der  Fre- 
quenz verlangsamt.  Bei  Zunahme  der  Ventilation  sinkt  der  Blut- 
druck, bis  wir  bei  vollständig  ausreichender  Respiration 
aus  der  Kurve  eine  regelmäßige  gleichmäßige  Herztätigkeit 
herauslesen,  die  nur  etwas  verlangsamt  ist  gegen  die  Norm  und 
«twas  höhere  Wellen  zeigt,   Veränderungen,  die,  wie  wir  sahen, 

MittiU.  ft.  d.  OrmscoMeten  d.  IfedIxlB  o.  Chlrarfle.   XIII.  Bd.  29 


448 


Sauerbruch, 


1:1= 
Sil 

5-5-0 

3 


B 
B 


g3& 

Hl 

P    O 


2:00 

00g 

r1 


S  o- 


5 


00 

5 
5 


r 


4  ^ 


Ss. 

Bf 

et  (t 


5 
B 


M 

I 


.g-        CO 

"       B 
B 


Sco 


5^ 

OS 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  449 

auf  Vagusreizung  zurückzuführen  sind.  Zu  bemerken  ist,  daß  ein  Ex- 
pansionsdruck von  10  mm  bei  einem  Hunde  nicht  genügt,  um  eine 
ausgiebige  Ventilation  selbst  bei  ziemlicher  Frequenz  (30—40  in 
der  Minute)  yorzunehmen.  Wir  sehen  in  der  Kurve  erst  bei  13  mm 
und  20  Einblasungen  in  der  Minute  eine  ausreichende  Ventilation  des 
Blutes. 

Den  acht  Punkten  möchte  ich  schließlich  noch  eine  Schattenseite  der 
künstlichen  Atmung  anfügen,  die  in  erster  Linie  praktisch  chirurgisches 
Interesse  hat  Alle,  die  in  der  Brusthöhle  unter  künstlicher  Atmung 
operiert  haben,  werden  wissen,  wie  unangenehm  man  durch  das  Schwan- 
ken des  Lungenvolumens  in  seinen  Manipulationen  behindert  wird.  Mit 
jeder  Aufblähung  verdeckt  die  Lunge  das  Operationsfeld  und  verdrängt 
förmlich  die  Hand  des  Operateurs.  Ein  Zurückhalten  der  Lunge  ist 
erstens  sehr  schwierig,  zweitens  aber  setzt  es  die  Respirationsgröße 
herab,  die  bei  dieser  Form  der  Atmung  nicht  verkleinert  werden  darf. 

Einen  Vorteil  hat  die  künstliche  Atmung  dadurch,  daß  sie  die  Ge- 
fahren, die  jedes  Narkotikum  für  die  Respiration  mit  sich  bringt,  ver- 
mindert Atmungsstillstand  kann  nicht  eintreten,  und  das  Herz,  das  ja 
in  hohem  Maße  von  der  Funktion  der  Lunge  abhängig  ist,  wird  auch 
weniger  bedroht  als  sonst. 

Immerhin  bleibt  die  künstliche  Atmung  ein  Verfahren,  das  bei 
aller  Brauchbarkeit  für  das  Tierexperiment  beim  Menschen  sich  nicht 
genügend  erprobt  hat  und  dem  solche  Mängel  anhaften,  daß  ihre  An- 
wendung von  vornherein  mindestens  bedenklich  sein  muß.  Die  Chi- 
rurgen haben  sich  infolgedessen  bisher  meist  auf  andere  Weise  geholfen. 
GARRiK  gibt  in  seiner  Arbeit  über  die  Technik  der  Lungenoperationen 
einen  Ueberblick.  Am  häufigsten  haben  sich  die  Chirurgen  wohl  der 
Tamponade  bedient,  die  namentlich  von  Krause  warm  empfohlen  wird; 
andere  haben  auf  Grund  der  Experimente  von  Bardenheuer  mit  Erfolg 
die  Pleuraöffnung  durch  Einnähen  der  Lunge  verschlossen.  Insbesondere 
für  Lungenoperationen  hat  sich  eine  andere  Methode  herausgebildet, 
die  von  Quincke  begründet  ist  und  darin  besteht,  die  beiden  Pleura- 
blätter vor  dem  eigentlichen  Eingriff  zu  vereinigen.  Entweder  hat  man 
sie  nach  Injektion  von  Chlorzink  verkleben  lassen  und  zweizeitig  ope- 
riert, oder  man  hat  sie  vernäht  und  ist  innerhalb  des  abgeschlossenen  Ge- 
bietes eingegangen.  Eine  wirkliche  Eröfihnng  des  Pleuraraumes  wird  da- 
durch umgangen  und  die  Gefahren  des  Pneumothorax  vermieden.  In 
der  Art  der  Operationsmethode  liegt  schon  ihre  Beschränkung  auf  ge- 
wisse Fälle.  Es  kommen  in  Frage  subpleural  gelegene  Tumoren,  Gan- 
gränherde und  Abscesse  der  Lungen,  kurz,  diejenigen  Erkrankungen 
der  Brusthöhle,  bei  denen  es  genügt,  von  einer  umschriebenen  Stelle 
in  die  Tiefe  zu  dringen.  Wo  aber  als  Vorbedingung  für  die  eigent- 
liche Operation  eine  breite  Oeffnung  der  Brusthöhle  nötig  ist,  wie  z.  B. 
bei  der  Resektion  der  Speiseröhre,  ferner  wo  ein  eventuelles  Abtasten 

29* 


450  Sauerbruchy 

für  die  Diagnose  noch  in  Frage  kommt  —  and  das  wird  gerade  in 
der  Brusthöhle  sehr  oft  nötig  sein  —  da  lassen  die  Methoden  der  Tam- 
ponade und  der  Fixation  durchaus  im  Stich.  Sie  yerhindern  die  Uebersicht 
und  beschränken  die  Orientierung  und  die  Operationstechnik. 

Alles  in  allem,  haben  wir  also  fOr  die  Eröffnung  der  Brusthöhle 
nur  Mittel,  die  unter  Umständen  brauchbar  sein  können ;  aber  ein  Ver- 
fahren, das  erlaubte,  systematisch  wie  in  anderen  Körpergebieten  opera- 
tive Eingriffe  vorzunehmen,  war  bisher  nicht  vorhanden. 

IV. 

Die  Ausschaltung  desPneumothorax  durch  Beibehaltung 

der  physiologischen  Druckdifferenz  zwischen  Pleura- 

und  Interbronchialraum  (unter-  und  Ueberdruckverfahren). 

Diese  ganzen  Studien  über  den  Pneumothorax  und  seine  Beseiti- 
gung durch  die  künstliche  Atmung  machte  ich  im  Auftrage  meines 
Chefs,  Herrn  Geheimrats  v.  Mikulicz.  Er  hatte  bei  seinen  Versuchen, 
die  Speiseröhre  auf  transpleuralem  Wege  zu  resezieren,  die  Schatten- 
seiten der  künstlichen  Atmung  zur  Genüge  kennen  gelernt.  Auf  Grund 
seiner  Erfahrung  im  Tierversuche  kam  er  zu  der  Ueberzeugung,  daß 
die  künstliche  Atmung  nur  ein  Notbehelf  und  für  praktisch  chirurgische 
Zwecke  am  Menschen  vollständig  unzureichend  sei.  Die  Vorbedingung 
für  erfolgreiche  Brustoperationen  sah  er  in  einer  zuverlässigeren  Methode 
des  Atmungsersatzes.  Ihm  verdanke  ich  die  Anregung  zu  der  Arbeit 
und  zwar  speziell  in  dem  Sinne,  auf  die  künstliche  Atmung  ganz  zu 
verzichten  und  auf  anderem  Wege  zum  Ziele  zu  gelangen. 

Zunächst  bemühte  ich  mich  also  festzustellen,  worin  die  Pathologie 
des  Pneumothorax  besteht,  warum  er  eine  so  gefährliche  Komplikation 
unserer  operativen  Eingriffe  bedeutet.  Die  Ergebnisse  meiner  Ver- 
suche habe  ich  oben  niedergelegt  Man  kann  sie  dahin  zusammenfassen : 
Alle  Schädlichkeiten  des  Pneumothorax  gehen  in  der 
Hauptsache  aus  dem  Lungenkollaps  hervor,  und  zwar 
sind  sie  weniger  auf  den  funktionellen  Fortfall  derLunge 
zurückzuführen,  als  auf  die  Veränderung,  die  mit  ihrer 
Volumenabnahme  unmittelbar  zusammenhängt  (Hyper- 
ämie, Vagus  ref  lex.)  Ich  glaube,  diese  wichtige  Tatsache  geht  aus 
meiner  obigen  Darstellung  zur  Genüge  hervor. 

Wenn  es  also  gelang  —  das  ist  die  direkte  Folge  meiner  Ver- 
suche —  beim  Oeffnen  der  Brusthöhle  den  Kollaps  der  Lunge  zu  ver- 
meiden, so  war  anzunehmen,  daß  die  Pneumothoraxgefahr  wesentlich  ver- 
ringert würde.  Damit  war  die  Fragestellung  meiner  Aufgabe  genauer 
geworden:  Wie  verhindere  ich  beim  Oeffnen  der  Brusthöhle 
den  Kollaps  der  Lunge? 

Wie  ich  schon  ausgeführt  habe,  hängt  die  Ausdehnung  der  Lunge 
von  drei  Umständen  ab,    nämlich   1)  von  dem  auf  ihrer  Innenfläche 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  451 

lastenden  vollen  Lnftdrncke,  der  durch  die  frei  mit  der  Atmosphäre 
in  Verbindung  stehenden  Bronchien  vermittelt  wird,  2)  von  dem  auf  die 
Außenfläche  (Pleura  pulmonalis)  der  Lunge  wirkenden  Druck  und  3) 
von  der  eigenen  Elastizität  des  Organs.  Da  nun  aber  unter  normalen 
Verhältnissen  ein  solcher  Außendruck  nicht  besteht,  weil  die  knöchernen 
und  muskulösen  Wände  des  Thorax,  in  den  die  Lunge  luftdicht  ein- 
gefügt ist,  die  Last  der  Atmosphäre  tragen,  so  kommen  nur  zwei 
Faktoren,  der  Innendruck  und  die  Elastizität,  in  Betracht,  welche  in 
entgegengesetzter  Richtung  wirken;  denn  während  der  erstere  das 
Organ  zu  dehnen  bestrebt  ist,  wirkt  letzteres  konzentrisch  verkleinernd 
und  sucht  die  Lunge  auf  das  Volumen  zurückzuführen,  welches  sie  nach 
ihrer  Entfernung  aus  dem  Thorax  einnimmt. 

Es  ist  demnach  klar,  daß  infolge  dieser  luftdichten  Einfassung  der 
Lunge  in  den  Thorax  der  Ueberdruck  auf  die  Innenfläche  sie  zwingt, 
der  Erweiterung  der  Thoraxwände  im  ausgedehntesten  Maße  zu  folgen, 
und  daß  erst,  wenn  dieser  Innendruck  durch  den  entsprechenden 
Außendruck  —  unter  exspiratorischen  Zurücksinken  der  Thoraxwand 
—  gewissermaßen  ausgeglichen  wird,  die  Wirkung  der  Lungenelastizität 
eine  Verkleinerung  des  Organs  herbeiführen  kann. 

Eine  solche  Kompensation  findet  aber  natürlich  nur  statt,  wenn 
ein  positiver  Druck  in  der  Pleurahöhle  auftritt,  so  daß  die  Lunge,  der 
Elastizität  folgend,  einen  kleineren  Raum  einnehmen  kann.  Je  stärker 
der  auf  die  Pleura  ausgeübte  Druck  ist,  in  desto  größerem  Umfange 
erfolgt  der  Ausgleich  des  Innendruckes  und  desto  mehr  kommt  die  Wir- 
kung der  Lungenelastizität  zur  Geltung,  und  umgekehrt,  je  geringer  dieser 
Druck,  desto  geringer  wird  die  Wirkung  der  Elastizität  zur  Geltung 
kommen  können.  Ueberwiegt  also  der  Innendruck  über  die  Kraft  der 
Lungenelastizität,  so  kann  kein  Kollaps  der  Lunge  eintreten  (Rosenthal). 
Mit  anderen  Worten :  Behalte  ich  bei  Eröffnung  des  Thorax  die  physio- 
logische Druckdifferenz  bei,  so  bleibt  die  Lunge  aufgebläht;  das  war  selbst- 
verständlich. Ferner  konnte  ich  hoffen,  daß  damit  die  Pneumothoraxgefahr, 
die  ja  direkt  an  den  Kollaps  geknüpft  ist,  fortfällt  Ebenso  blieb  die  Lunge 
allerdings  funktionell  ausgeschaltet  wie  vorher,  aber  die  andere  würde 
ja  für  den  Gasaustausch  genügen,  das  wußte  ich  aus  meinen  Versuchen. 
An  irgend  welche  Leistung  der  Lunge  konnte  man  nicht  denken,  lehren 
doch  die  Physiologen,  daß  die  Vorbedingung  für  die  Atmung  die  unver- 
sehrte Pleurahöhle  ist,  ohne  die  der  ganze  mechanische  Atmungsapparat 
seine  Saug-  und  Druckwirkung  auf  die  Lunge  nicht  ausüben  kann.  So- 
lange man  sich  auf  die  Eröffnung  der  Pleura  auf  einer  Seite  beschränkte, 
konnte  man  sie  in  der  ausgiebigsten  Weise  vornehmen,  ohne  mit  Dyspnoö 
und  dergleichen  Gefahren  zu  rechnen.  Damit  wäre  also  schon  viel  ge- 
wonnen gewesen :  Die  Möglichkeit  einer  einseitigen  Thorax- 
eröffnung ohne  die  schädlichen  Wirkungen  des  Pneumo- 
thorax und  ohne  künstliche  Atmung. 


452 


Sauerbrach, 


Um  experimentell  die  Richtigkeit  dieser  Ueberlegung  feststellen  zu 
können,  brauchte  ich  also  nur  unter  Beibehaltung  der  physiologischen 
Druckunterschiedes  die  Eröffiiung  der  Pleurahöhle  vorzunehmen.  Zu 
dem  Zwecke  konstruierte  ich  zunächst  einen  ganz  primitiven  Apparat 
(Fig.  2). 

Ein  beiderseits  offener  Glascjlinder  wurde  auf  beiden  Seiten  durch 
ein  Stück  Guttaperchapapier  verschlossen.  Auf  der  einen  Seite  be- 
fanden sich  in  dem  Guttaperchapapier  3  Löcher  (2  kleinere  und  ein 
größeres),  auf  der  anderen  Seite  nur  ein  größeres  Loch.  Durch  die 
beiden  größeren  Löcher  wurde  das  Versuchstier  hindurchgezogen,   so 


^tmfjnn. 


Fig.  2.  üreprüDglicher  Apparat  zur  Eröffnung  der  Brusthöhle.  (Die  Hände 
sind  durch  luftdicht  schließende  Manschetten  in  den  Cy linder  gesteckt;  Kopf  und 
Bauch  des  Tieres  sind  draußen ;  im  Cylinder  Luftdruck  — 10  mm  Hg.) 


daß  der  Kopf  auf  der  einen,  Hinterbeine  und  Unterleib  auf  der  anderen 
Seite  heraussahen,  während  Thorax  und  obere  Bauchgegend  sich  im 
Cylinder  befanden.  Nach  Einbringung  der  nötigen  Instrumente  ging 
ich  dann  mit  beiden  Händen  in  die  kleineren  Löcher  ein.  Nachdem 
dann  alle  Oeffnungen  durch  Gummibinden  und  Klebstoffe  luftdicht  ab- 
geschlossen waren,  wurde  von  einem  Gehilfen  mittels  eines  in  das 
Innere  des  Cylinders  führenden  und  ebenfalls  luftdicht  umschlossenen 
Drainrohres  (Gummischlauches)  Luft  abgesaugt,  so  daß  im  Inneren  des 
Cylinders  ein  negativer  Druck  entstand,  der  einer  Quecksilbersäule 
von  ca.  10  mm  Länge  entsprach.  Nun  eröflFhete  ich  beiderseits  den 
Thorax :  Die  Lungen  kollabierten  nicht,  und  die  Atmung  des  Tieres  ging 
ohne  Dyspnoö  ungestört  weiter.  Nach  etwa  3  Minuten  riß  eine  Stelle 
der  Verschlußmembran,  und  unter  angestrengten  Atembewegungen  und 
Kollaps  der  Lungen  trat  der  Tod  des  Tieres  ein. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  453 

Der  Ausfall  dieses  Versuches  ermutigte  mich,  einen  Apparat  von 
«inem  Mechaniker  herstellen  zu  lassen,  in  welchem  der  Verschluß 
durch  Gummipelotten  nach  demselben  Prinzip  bewerkstelligt  wurde. 

Darin  stellte  ich  zahlreiche  Versuche  über  die  Möglichkeit  der 
Thoraxöffoung  an.  Die  Versuche  zeigten,  daß  es  möglich  ist,  doppel- 
seitig ausgedehnt  den  Thorax  zu  eröffnen,  ja  selbst  Brustbein  und 
Kippen  bis  auf  kleine  Stümpfe  an  der  Wirbelsäule  abzutragen,  ohne 
daß  das  Tier  unter  den  Folgen  der  Brusthöhleneröffhung  zu  leiden  hat. 
Immer  wieder  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  nicht  nur  auf  diese  Weise 
die  Pneumothoraxgefahr  mit  Erfolg  beseitigt,  sondern  daß  sogar  mehr 
'erreicht  war:  Das  Tier  blieb  unter  physiologischen  Be- 
dingungen und  atmete  ruhig  weiter.  Wie  die  Atmung 
trotz  Wegnahme  von  ausgedehnten  Abschnitten  des 
Brustkorbes  noch  möglich  war,  blieb  mir  vorläufig  ein 
Eätsel  (siehe  unten). 

Von  dem  Bau  dieses  Apparates,  der  nur  physiologische  Unter- 
suchungen, aber  keine  genauere  Ausführung  von  Operationen  zuließ, 
war  nur  ein  Schritt  zur  Herstellung  einer  Art  Operationskammer,  die 
angehindert  Operationen  nach  chirurgischen  Regeln  gestattet.  Ich  ließ 
mir  eine  Kammer  bauen  von  1,5  m  Länge,  1  m  Breite  und  1,3  m 
^öhe  (Fig.  3).  Die  Kammer  ist  aus  festen,  2  cm  dicken  Brettern  zu- 
sammengefügt, innen  mit  Blech  ausgeschlagen,  das  an  den  Uebergangs- 
teilen  verlötet  ist,  und  oben  durch  eine  dicke  Glasplatte  (d)  verschlossen. 
Die  Tür,  ca.  1,15  m  hoch,  0,60  m  breit,  ist  durch  Gummieinlagen  luft- 
dicht verschließbar.  An  der  der  Tür  gegenüber  liegenden  Wand  befindet 
sich  in  Sitzhöhe  ein  kreisrundes  Fenster  (f)  von  55  cm  Durchmesser, 
in  das  eine  Gummimanschette  eingesetzt  werden  kann.  Durch  die  Oeff- 
nung  der  Manschette  wiirdvder  Kopf  des  Tieres  durchgesteckt,  der 
dadurch  luftdicht  abgeschlossen  ist. 

Die  Kammer  bietet  bequem  Platz  für  den  Operationstisch  (f),  auf 
dem  der  Rumpf  des  Tieres  festgebunden  wird,  und  zwei  Sitzplätze  zu 
heiden  Seiten  für  Operateur  und  Assistent.  Außerdem  führen  2  etwa 
markstückgroße  Oeffnungen  in  die  Kammer,  von  denen  die  eine  (a) 
mit  einer  Saugpumpe,  die  andere  (6)  mit  einem  Ventil  (F)  in  Ver- 
bindung steht.  Dieses  Ventil  läßt  beim  Absaugen  der  Luft  durch  die 
Saugpumpe  stets  so  viel  Außenluft  nachströmen,  daß  in  der  Kammer 
ein  gleichbleibender  und  durch  das  Ventil  regulierbarer  Minusdruck  er- 
halten wii^d. 

Das  Ventil  ist  leicht  aus  Fig.  3a  zu  verstehen. 

Ein  Glascylinder  (c)  von  ca.  6  cm  Durchmesser  und  75  cm  Länge 
ist  durch  einen  Gummipfropf  (p)  luftdicht  verschlossen.  Durch  den 
Pfropf  geht  ein  langes  verschiebliches,  beiderseits  offenes  Glasrohr  (/) 
von  ca.  1  cm  Durchmesser,  .  von  ca.  90  cm  Länge,  außerdem  noch  ein 
zweites  (A;),  das  nur  in  den  Anfangsteil,  des  Cylinders  ragt.    Schließlich 


454 


Sauerbruch, 


steht  mit  dem  Raum  a  noch  ein  Quecksilbermanometer  {m)  in  Verbindung. 
Es  ist  also  dem  Prinzip  nach  das  einfache  Wasserdruckventil,  wie  es 
jeder  Physiker  zu  seinen  Versuchen  braucht.  Dieses  Ventil  wird  mit 
dem  Rohr,  das  nach  b  führt,  verbunden.  Wird  nun  mit  der  Pumpe 
bei  a  abgesaugt,  so  wird  die  Luft  im  Kasten  verdünnt;  da  nun  Kasten- 
inneres und  Ventilraum  r  durch  k  kommunizieren,    wird  der  Grad  der 


Fig.  3. 


Dr.  Löschmann, 


Fig.  3a. 


Fig.  3.  OperatioDskaminer  f  iir  Tierversuche,  d  Glasplatte,  f  Fenster,  m  Gmnmi- 
manschette.    i  OperatiODstisch.    a  Saagöffnung.    h  Ventilöffnung. 

Fi^.  3  a.  Wasserdnickventil.  c  Glascylinder.  p  Gummipfropf,  t  offenes  ver- 
schieblicnes  Glasrohr,  k  Glasrohr,  m  Manometer,  r  Ventilraum.  s  Wassersaule  in  e. 
8  Wassersäule  im  Cylinder.     V  VentiL 


Verdünnung  sich  an  dem  Stand  der  Quecksilbersäule  des  Manometers 
anzeigen.  Vor  Eintritt  der  Luftverdünnung  steht  das  Wasser  in  dem 
Glascjlinder  und  dem  Rohre  gleich  hoch.  Sobald  im  Kasten,  und  da- 
mit auch  in  dem  Räume  a  der  Druck  nachläßt,  drückt  der  äußere 
Luftdruck  die  Wassersäule  {s)  um  so  viel  herunter,  wie  die  Diffe- 
renz des  Druckes  zwischen  Atmosphäre  und  r  beträgt.  Bei  gehöriger 
Verdünnung  in  r  wird  der  Fall  eintreten,  daß  die  ganze  Säule  ^ 
aus  dem  Rohre  /  gewichen  ist,  d.  h.  die  äußere  Luft  kann  jetzt 
durch  das  Rohr  l  in  die  Wassersäule  S  und  damit  auch  in  den 
Raum  r  und  den  Kasten  treten.    Es  ist  also  eine  Verbindung  zwischen 


Zur  Pathologie  des  o£fenen  Pneumothorax  etc.  465 

äußerer  Luft  und  Easteninnerem  hergestellt  Von  der  Stärke  der  Saug- 
kraft der  Pumpe  hängt  die  Geschwindigkeit,  mit  der  die  Druckver- 
minderung  eintritt,  ab.  Mit  der  Zunahme  des  Druckes  in  a  läßt  die 
Differenz  nach,  d.  h.  der  äußere  Luftdruck  vermag  jetizt  nicht  mehr, 
der  ganzen  Wassersäule  das  Gleichgewicht  zu  halten.  Diese  steigt  in 
das  Rohr  /  zurück  und  verschließt  damit  den  Ventilraum  r  aufs  neue. 
In  dem  Augenblick,  wo  derselbe  niedrige  Manometerstand  wie  vorher 
erreicht  ist,  wird  in  derselben  Weise  die  Wassersäule,  s  fallen  und 
Luft  in  den  Ventilraum  r  und  die  Kammer  eintreten.  Durch  Ver- 
längerung bezw.  Verkürzung  der  Wassersäule  «,  d.  h.  durch  Einschieben 
bezw.  Ausziehen  des  Rohres  l  habe  ich  es  in  der  Hand,  den  Druck  in 
der  Kammer  beliebig  zu  regulieren.  Empirisch  kann  ich  den  Stand 
des  Rohres  bei  einem  bestimmten  Druck  x  finden.  Ich  stelle  das 
Rohr  /  auf  diese  Marke  ein;  das  Ventil  arbeitet  dann  so** zuverlässig, 
daß  kaum  Schwankungen  von  1  mm  Hg  selbst  bei  stärkster  Absaugung 
in  a  eintreten.  Es  ist  damit  möglich,  unter  Beibehaltung  eines  kon- 
stanten Druckes  in  ausgiebigster  Weise  die  Kammer  zu  ventilieren. 

Wie  vertragen  Operateur  und  Assistenten  den  Aufenthalt  in  der 
Kammer? 

Von  den  zahlreichen  Teilnehmern  an  Operationen  in  unserer 
Kammer  hat  kaum  einer  irgend  welche  unangenehmen  Nebenwirkungen 
verspürt;  und  nach  unseren  Erfahrungen  über  den  Aufenthalt  auf 
Bergen  ließ  sich  das  auch  nicht  erwarten.  Wir  wissen,  daß  wirklich 
ernsthafte  Störungen  der  Luftverdünnung  die  sogenannte  Bergkrank- 
heit immer  erst  bei  einer  Höhe  von  3000  m  eintritt,  bezw.  einer  Luft- 
verdünnung von  über  200  mm  Hg.  Eine  Luftverdünnung  von  10  mm 
Hg  entspricht  etwa  einer  Luftsäule  von  300  m,  d.  h.  man  befindet  sich 
bezüglich  des  Luftdruckes  bei  einer  Verdünnung  von  10  mm  unter 
denselben  Bedingungen,  wie  auf  einem  300  m  hohem  Berge  oder  dem 
Eiffelturm.  Bei  den  meisten  Menschen  macht  sich  dieser  Wechsel  im 
Druck  der  umgebenden  Luft  überhaupt  nicht  bemerkbar,  und  erst  bei 
höheren  Graden  der  Luftverdünnung  bis  zu  100 — 120  mm  treten  bei 
einigen  Erscheinungen  ein,  die  etwas  an  die  Bergkrankheit  erinnern. 
Pulsbeschleunigung,  Schwindel  etc.  Bei  einer  Verdünnung  bis  zu  20  mm 
hat  man  höchstens  das  angenehme  Gefühl  der  erleichterten  Atmung,  und 
objektiv  läßt  sich  bei  einigen,  aber  keineswegs  allen  Menschen  nur 
eine  geringe  Steigerung  der  Pulsfrequenz  nachweisen.  Wenn  man 
durch  forcierte  Absaugung  der  Operationskammer  die  Luftverdünnung 
zu  schnell  herbeiführt  —  bei  einem  Raum  von  2  cbm  in  einigen 
Sekunden  —  so  empfindet  man  höchstens  dadurch,  daß  das  Trommel- 
fell sich  nicht  sofort  diesen  neuen  Druckverhältnissen  akkommodiert, 
das  bekannte  Knacken  im  Ohre,  das  nach  einmaligem  Schlucken  sogleich 
verschwindet.  Uebrigens  kann  man  die  Absaugung  durch  langsames 
Anlassen   der  Pumpe    so  vornehmen    lassen,    daß    ganz  allmählich  in 


456  Sauerbruch, 

einigen  Minuten  der  normale  Druck  auf  den  gewünschten  vermindert 
wird.  Umgekehrt  haben  wir  es  in  der  Hand,  nach  Schluß  der  Ope- 
ration den  Druckausgleich  zwischen  atmosphärischer  Luft  und  Kammer- 
inneren so  allmählich  eintreten  zu  lassen,  daß  dieses  erwähnte  Einziehen 
des  Trommelfells  ausbleibt.  Jedenfalls  tritt  durch  die  Luft- 
verdünnung mit  Sicherheit  nicht  die  geringste  unange- 
nehme Wirkung  auf  den  Körper  ein. 

Eher  könnte  man  die  Wärmestauung,  die  leicht  bei  dem  Auf- 
enthalte von  2  Personen  in  einem  so  kleinen  Räume  eintritt,  als 
unangenehme  Zugabe  empfinden.  Der  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft 
nimmt  zu  und  erschwert  unsere  Transpiration,  aber  diese  Schattenseite 
kommt  kaum  ernstlich  in  Frage.  Wir  sind  zu  dreien  bis  2  Stunden 
in  der  Kammer  gewesen  und  haben  keine  unangenehmen  Wirkungen 
der  Tempefatur  verspürt,  und  in  manchen  großen  Operationsräumen 
wird  durch  die  Dämpfe  der  Sterilisatoren  Temperatur  und  Feuchtigkeits- 
gehalt der  Luft  kaum  geringer  sein.  Durchschnittlich  betrug  bei  einer 
Operation  von  etwa  1—2  Stunden  die  Temperatur  in  unserer  Kammer 
28^  C.  In  größeren  Räumen,  wie  z.  B.  in  der  Operationskammer  der 
Klinik,  welche  im  März  1904  fertiggestellt  wurde,  wo  die  Lüftung 
durch  eine  große  Pumpe  bedeutend  ausgiebiger  ist,  können  5—6  Per- 
sonen bis  zu  2  Stunden  sich  aufhalten,  ohne  daß  die  Temperatur  we- 
sentlich ansteigt.  Uebrigens  hat  die  Wärmestauung  auch  einen  nicht 
zu  unterschätzenden  Vorteil.  Die  Gefahr  der  Abkühlung  der  Pleura 
durch  die  Eröffnung  der  Brusthöhle  wird  beschränkt  auf  geringere  Grade. 
Der  Wärmeveriust  fällt  fort  oder  nimmt  wenigstens  keine  größere  Aus- 
dehnung an.  Ferner  ist  der  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft  auch  der  Ver- 
stäubung von  InfektionsstoflFen  hinderlich^). 

Da  die  Anlage  unserer  großen  Operationskammer  wohl  für  viele 
von  Interesse  ist,  will  ich  an  dieser  Stelle  eine  genaue  Beschreibung 
von  der  Konstruktion  und  Einrichtung  derselben  geben :  Die  pneumatische 
Kammer  (Fig.  4)  ist  ein  14  cbm  großer  Raum,  der  nach  demselben  Prinzip 
des  oben  beschriebenen  Holzkastens  hergestellt  ist.  Boden,  Decke  und 
Unterbau  sind  aus  massivem  Eisenblech,  in  der  Höhe  von  1,30  m  be- 
ginnt eine  Glasbekleidung  (s.  Fig.  4).  Die  Längswand  des  Kastens  be- 
trägt 2,50  m,  die  Breite  2,25  m,  die  Höhe  2,50  m.  Alle  Verbindungs- 
stücke zwischen  dem  Eisenblech  sind  luftdicht  genietet,  außerdem  aber 
noch  mit  einem  festen  Kitt  verstrichen.  Eine  Längswand  und  die  Decke 
sind  vollständig  massiv,  dagegen  beginnt  in  der  Höhe  von  1,30  m  ein 
Eisengestell,  welches  so  konstruiert  ist,  daß  einzelne  quadrätförmige  Felder 
durch  Eisenschienen  abgeteilt  werden.  Diese  Eisenschienen  tragen 
Rinnen  und  dienen  zur  Aufnahme  von  entsprechend  großen  Glasplatten. 
Die  Glasplatten  sind  12  mm  dick  und  können  eine  Druckdifferenz  von 

1)  Nach  mündlicher  Mitteilung  des  Herrn  Geh.-Rat  Flügge  spielt  die 
üeberladung  der  Luft  mit  Coj  keine  Rolle  bei  dem  Aufenthalte  in  ge- 
schlossenen Räumen. 


Zur  Pathologie  des  ofifenen  Pneumothorax  etc. 


457 


ca.  70  mm  Quecksilber  aushalten.  Im  Anfange  hatten  wir  große 
Schwierigkeiten,  die  Glasplatten  luftdicht  in  die  Rinnen  einzusetzen. 
Wir  hatten  mit  Gummieinlagen  die  Abdichtung  vorgenommen  und 
mußten,  um  den  Gummi  fest  an  die  Glasplatten  anzupressen,  von  beiden 
Seiten  die  beweglichen  Eisenschienen  zusammenpressen.  Da  dieses 
Einpressen  nicht  leicht  gleichmäßig  gemacht  werden  kann,  wird  die 
Glasplatte  verschieden  belastet  und  springt  infolgedessen.  Deshalb 
haben  wir  später  zum  Abdichten  ein  Gemenge  von  Glaserkitt,  Zement 


^rmf//r^l^f^ 


Dr,  t^sckmann* 


Fie.  4.  Pneumatische  Operatiooskammer  der  chirurgischen  Klinik  zu  Breslau: 
Man  siät  durch  die  geöffnete  Doppeltür  in  das  Innere  des  Kastens,  a  Absauge- 
öffnung,   t  Telephon,    m  Kopfmanschette. 


und  Mennige  benutzt,  und  erzielten  einen  zuverlässigen  luftdichten  Ver- 
schluß. Die  Kopföffnung,  die  sich  an  einer  Breitenwand  in  einer  Höhe 
von  92  cm  befindet,  ist  von  ovaler  Form,  35  cm  hoch  und  50  cm  lang 
In  sie  ist  eine  Doppelgummiraanschette  eingesetzt,  ähnlich  wie  wir  sie  für 
Tierexperimente  verwandt  haben.  An  der  Außenseite  der  Kammer  ist 
eine  entsprechende  bewegliche  Kopfstütze  (s.  Fig.  4)  angebracht.  Eine 
große  Bogenlampe,  deren  Konstruktion  aus  Fig.  4  ersichtlich  ist,  ist 
luftdicht  von  oben  durch  die  Decke  in  die  Kammer  eingelassen  und 
sorgt  für  ausreichende  Beleuchtung;  außerdem  sind  im  Innern  der 
Kammer  4  Steckkontakte  angebracht,  an  die  wir  Glühlampen  anbringen 


458 


Sauerbruch, 


Fig.  5.  Ventil  der  pnemnatischeD  Kammer  der  chirurgischen  Klinik  zu  Breslau. 
Ha  Hahn  für  Zuführungsluft  Hb  Hahn  für  Uebcrdruck.  W  Wasserleitung,  a  Ab- 
laßhahn. 


Zar  Pathologie  des  ofiFenen  Pneumothorax  etc. 


459 


K  a  m  m  e  t* 


können.  Das  Ventil  (s.  Fig.  5)  für  die  Regelung  des  Druckes  besteht  aus 
einem  etwa  1  m  hohen  Kupfercylinder  von  ungefähr  25  cm  Durchmesser, 
der  durch  ein  Eisenrohr  von  12  cm  Durchmesser  mit  der  Außenluft  in 
Verbindung  steht.  Die  Regulierung  des  Ventils  geschieht  hier  nicht 
durch  Verschieben  eines  Rohres,  wie  bei  dem  erstem  Kasten,  sondern 
durch  Zu-  und  Ablassen  des  Ventilwassers.  Der  Innenraum  des  Cy- 
linders  ist  zu  dem  Zwecke  mit  der  Wasserleitung  verbunden,  außerdem 
aber  auch  mit  einem  Abflußrohre.  Durch  einen  I  Hahn  kann  ich 
das  Ventil  so  mit  der  Kammer  verbinden,  daß  es  auch  ffir  den  Fall, 
daß  in  der  Kammer  ein  Ueberdruck  erzeugt  wird  (s.  unten),  funktioniert. 

Für  die  Luftverdünnung  arbeitet  eine  Saugpumpe,  die  bei  höchster 
Arbeitsleistung  in  der  Minute  etwa  300 1  absaugt.  Sie  wird  von  einem 
Elektromotor  von  einer  Pferdekraft  betrieben.  Die  Pumpe  kann  als 
Saug-  und  Druckpumpe  benutzt  werden  und  ist  durch  zwei  getrennte 
Röhrensysteme  mit  dem  Innern  des 
Kastens  verbunden.  Ventil,  Motor  und 
Pumpe  sind  alle  vom  Innern  des  Ka- 
stens aus  zu  regulieren.  Um  allen  Even- 
tualitäten, die  mit  dem  Versagen  des 
mechanischen  Betriebes  zusammenhän- 
gen, vorzubeugen,  ist  außerdem  noch 
eine  zweite,  allerdings  kleinere.  Pumpe 
(100 1  pro  Minute)  aufgestellt,  die  auch  i^iTVi^rir 
für  Handbetrieb  eingerichtet  ist.  Die 
Türe  der  Kammer  in  der  der  Kopföff- 
nung gegenüberliegenden  Breitenwand 
ist  75  cm  breit,  so  daß  bequem  ein  Ope- 
rationstisch durchgefahren  werden  kann. 

Um  das  Verlassen  des  Raumes  während  einer  Operation  zu  ermöglichen, 
ist  vor  dieser  Tür  ein  Schleußenraum  angebracht  von  53  cm  Länge  und 
58  cm  Breite  im  Grundriß  (s.  Fig.  6).  Dieser  Raum  wird  durch  eine  zweite 
luftdicht  verschließbare  Tür  abgeschlossen.  Die  Abdichtung  der  Tür  er- 
zielen wir  dadurch,  daß  wir  sie  durch  einen  8-armigen  Hebel  gegen  den 
Türrahmen  pressen,  der  mit  einer  weichen  Gummiplatte  bedeckt  ist 
(s.  Fig.  4).  Dieser  kleine  Vorraum  ist  seinerseits  unabhängig  von  der 
großen  Kammer  mit  der  Pumpe  verbunden  und  kann  genau  auf  den 
Druck,  der  in  der  großen  Kammer  herrscht,  gebracht  werden,  anderer- 
seits aber  auch  unabhängig  von  der  eigentlichen  Kammer  Atmosphären- 
druck au&ehmen. 

In  unserer  großen  Operationskammer  befindet  sich  nun  der  Kopf- 
öfhung  gegenüber  noch  ein  großer  Hohlcylinder,  der  mit  der  Außenluft 
in  Verbindung  steht;  diese  Abänderung  fehlt  an  dem  ursprünglichen 
Kasten,  ist  aber  meines  Erachtens  für  chirurgische  Zwecke  am  Menschen 
unbedingt  nötig,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 


Vorraum 
r  77t  ü  r» 


Fig.  6. 


460 


Sanerbrnch, 


Wenn  ich,  mit  Ausnahme  des  Kopfes,  den  ganzen  Körper  unter 
Minusdruck  bringe  und  jetzt  die  Pleurahöhle  öffne,  so  fehlt  zwar  der 
Kollaps  der  Lunge  und  die  Atmung  geht  ruhig  weiter,  aber  von  selten 
der  Zirkulation  treten  Störungen  ein.  Das  Herz,  der  rechte  Vorhof, 
speziell  die  großen  Hohlvenen,  stehen  unter  demselben  Druck  von 
— 10  mm  Hg  wie  die  Körpervenen.    Das  StromgefUle,  das  normaler- 


Fig.  7. 


Fig.  8. 


Fig.  7.    Schema  der  yenöeen  Stase  bei  Unterdruck  des  ganzen  Körpers. 
Fig.  8.    Schema   des  Blutkreislaufes  bd  Unterdrück  aosschliefilicii  über  den 
Lungen. 


weise  zwischen  den  Körpervenen  und  dem  Herzen  besteht,  nimmt  ab, 
oder  fällt  sogar  ganz  fort  und  eine  Stase  tritt  ein  (s.  Fig.  7). 

Diese  Stase  des  Blutes  kann  nur  durch  eine  Mehrarbeit  des  linken 
Herzens  überwunden  werden,  bedeutet  also  einen  Umstand,  der  nicht  zu 
vernachlässigen  ist.  Während  bei  meinen  ursprünglichen  experimentellen 
Eingriffen  in  einem  Glascylinder,  wo  nur  der  Brustkorb  unter  Minus- 
druck stand,  dagegen  der  übrige  Körper  sich  in  der  Atmosphäre  befand, 
niemals  eine  solche  Stase  eintrat,  sah  ich  sie  des  öfteren  bei  Operationen 


Zur  Pathologie  des  ofiPenen  Pneumothorax  etc. 


461 


in  meiner  Kammer.  Durch  den  Cylinder  (s.  Fig.  4)  ermögliche  ich  die 
Beibehaltung  der  Druckdifferenz  zwischen  Körpervenen  und  rechtem 
Vorhof  (s.  Fig.  8).  Das  Herz  bekommt  auf  diese  Weise  dieselbe  Blut- 
menge und  kann  genau  so  viel  abgeben,  d.  h.  die  Zirkulation  bleibt 
konstant.  Auf  diese  Weise  ist  die  ganze  Kammer  wirklich  weiter  nichts, 
als  eine  wesentlich  vergrößerte  Pleurahöhle.  Da  der  Hohlcylinder  sehr 
viel  Platz  wegnimmt  und  auch  seine  Anpassung  an  den  Patienten  das 
Verfahren  etwas  kompliziert,  haben  wir  jetzt  einen  einfachen  Gummi- 


Fig.  9.     Lagerung  eines  Patienten   in  der  Kammer  zur  Operation  nach  dem 
phyBiologiflchen  Unterdruckverfahren. 


sack  angebracht,  in  den  der  Patient  mit  den  Beinen  und  dem  Bauche 
bis  zum  Rippenbogen  hineingesteckt  wird.  Das  andere  Ende  des  Sackes 
endigt  in  einen  dicken  Gummischlauch,  der  seinerseits  mit  einem  in  die 
Außenluft  mündenden  Metallrohr  verbunden  ist.  Um  die  Aufblähung 
des  Sackes  zu  verhindern,  wird  er  mit  einem  straifen  Leinensacke 
überzogen.  Auf  diese  Weise  läßt  sich  sehr  bequem  die  Beibehaltung 
des  Körpervenendruckes  erzielen.  In  8  Fällen  hat  sich  diese  Einrich- 
tung bereits  tadellos  bewährt  Fig.  9  gibt  die  ganze  Einrichtung  wieder. 
Diese  große  Operationskammer  arbeitet  genau  so  zuverlässig  wie  der 
ursprüngliche  Holzkasten.  Der  Patient  wird  mit  dem  Kopfe  durch  die 
Kopfmanschette  gesteckt,  die  den  Hals  ganz  lose  umschließt.    Ich  möchte 


462  Sauerbruch, 

hier  betonen,  daß  eine  Reihe  von  Versuchspersonen  (Aerzte  und  andere 
Personen  der  Klinik),  welche  in  die  Lage  eines  zu  Operierenden  gebracht 
wurden,  nicht  einmal  den  leisesten  Druck  geschweige  denn  irgend  eine 
Belästigung  empfanden ;  irgend  welche  Binden  zum  luftdichten  Verschluß 
sind  gänzlich  unnötig,  so  daß  von  Schwierigkeiten  des  Abschlusses  gar 
nicht  die  Rede  sein  kann.  Es  macht  bei  der  Art  unseres  Betriebes 
gar  nichts  aus,  wenn  wirklich  durch  diese  Manschette  Nebenluft  in  die 
Kammer  kommt.  Die  Pumpe  saugt  so  ausgiebig,  daß  trotzdem  der 
Druck  konstant  bleibt.  Die  Regulierung  durch  das  Ventil  ist  bei  der 
großen  Kammer  ebenso  zuverlässig  wie  in  der  kleinen ;  es  kommt  auch 
hier  kaum  zu  Schwankungen  von  1  mm  Hg. 

Wir  werden  weiter  unten  sehen,  daß  wir  jetzt  unter  fast  physio- 
logischen Verhältnissen  die  Eröffnung  der  Brusthöhle  vornehmen  können. 

Zu  diesem  Verfahren  gehört  ein  ziemlich  großer  Apparat,  der  nicht 
ohne  weiteres  für  ein  jedes  Krankenhaus  zu  beschaffen  ist,  und  da  die 
Methode  lediglich  auf  der  Beibehaltung  der  physiologi- 
schen Druckdifferenz  zwischen  Luftröhren  und  Pleura- 
druck beruht,  so  lag  es  nahe,  in  einfacherer  Weise  dieselbe  herzu- 
stellen. Wir  haben  sehr  bald  damit  begonnen,  die  Druckdifferenz  dadurch 
zu  erzeugen,  daß  wir  von  der  Trachea  her  die  Lunge  unter  konstanten 
Ueberdruck  setzten,  während  wir  die  Operation  unter  normalem  Luft- 
druck vornahmen.  Der  Kopf  des  Tieres  wurde  jetzt  in  die  Kammer 
gebracht,  der  Körper  blieb  draußen,  und  in  der  Kammer  wurde  ein 
Ueberdruck  von  ca.  10  mm  Hg  hergestellt.  Es  ergab  sich  sofort,  daß  auch 
auf  diese  Weise  die  Eröffnung  der  Brusthöhle  ohne  die  Komplika- 
tionen eines  Pneumothorax  möglich  war.  Diese  Umkehr  hat  auf  den 
ersten  Blick  infolge  ihrer  Einfachheit  etwas  Bestechendes,  sie  erspart  uns 
die  große  Operationskammer.  Der  Kopf  des  Patienten  kann  in  einem 
viel  kleineren  Räume  unter  Ueberdruck  gesetzt  werden  und  wir  haben 
die  Annehmlichkeit,  im  großen  Operationssaal  frei  hantieren  zu  können. 
Wäre  diese  Methode  meiner  ursprünglichen  gleichwertig,  so  wäre  sie 
ihr  vorzuziehen.  Auf  Grund  meiner  Experimente  (s.  unten)  bezweifle 
ich  das,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen : 

EiNBRODT  (zit.  nach  Hermann),  der  eingehende  Studien  über  den 
Einfluß  der  Atembewegungen  auf  den  Blutdruck  gemacht  hat,  beschäf- 
tigte sich  ebenfalls  mit  der  Wirkung  der  Atmung  verdichteter  und  ver- 
dünnter Luft.  Er  setzte  die  Trachea  von  Hunden  mit  einem  abge- 
schlossenen Lufträume  in  Verbindung,  in  welchem  die  Luft  verdichtet 
wurde;  durch  eine  Hahnvorrichtung  konnte  dann  schnell  die  Luftröhre 
wieder  mit  der  normalen  Luft  verbunden  werden.  Ebenso  konnte  die 
Luft  dieses  Raumes  auch  beliebig  verdünnt  werden. 

Er  beobachtete  nun  beim  Atmen  von  komprimierter  Luft,  daß  ganz 
regelmäßig  zunächst  mit  dem  Steigen  des  Respirationsdruckes  auch  der 
Blutdruck  anstieg.    Hatte  nun  der  Respirationsdruck  eine  bestimmte 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  eto.  463 

Höhe  erreicht,  so  wurden  die  Atembewegungen  sehr  erschwert,  und 
der  arterielle  Druck  sank  merklich,  während  er  in  den  Venen  und 
dem  rechten  Vorhof  beträchtlich  zunahm.  Schließlich  erhielt  das  linke 
Herz  und  das  Aortensystem  nur  sehr  wenig  Blut,  die  Pulse  wurden 
infolge  dieser  Anämie  kleiner,  und  die  Blutdrucklinie  wurde  eine 
gerade  Linie.  Sobald  aber  während  der  Zeit  des  Bestehens  des 
positiven  Respirationsdruckes  eingeatmet  wird,  nimmt  der  Blutdruck 
vorübergehend  wieder  zu.  Waldenburg  (Berl.  klin.  Wochenschrift, 
1873,  40,  41,  46,  47),  der  sich  sehr  viel  mit  der  Wirkung  ver- 
änderter Respirationsluft  auf  die  Zirkulation  beschäftigt  hat,  kommt 
auf  Grund  theoretischer  Ueberlegung  und  Pulsbeobachtung  zu  dem 
Schluß,  daß  die  Einatmung  komprimierter  Luft  den  Blutdruck  steigert; 
und  zwar  erklärt  er  diese  Erscheinung  folgendermaßen :  „Bei  der  In- 
spiration komprimierter  Luft  wird  der  Druck  in  den  Lungen,  der  bei 
normaler  Inspiration  ein  erheblich  negativer  ist,  verstärkt.  Wenn  die 
Luft  hinlänglich  komprimiert  ist,  wird  sogar  der  negative  Druck  in  einen 
positiven  umgewandelt.  Es  ist  also  eine  entsprechende  Luftkompression 
erforderlich,  um  diesen  negativen  Druck  vollkommen  au&uheben,  und 
eine  noch  größere  Kompression,  um  denselben  in  einen  positiven  zu  ver- 
wandeln. Indes,  gleichviel  ob  derselbe  nur  vermindert  oder  in  einen 
positiven  verwandelt  wird,  in  jedem  Falle  werden  das  Herz  und  die 
großen  Gefäße  bei  Inspiration  komprimierter  Luft  entlastet  (?)  und  zwar 
in  um  so  höherem  Maße,  je  stärker  die  Kompression  ist,  so  daß  bei  ge- 
nügend starker  Luftverdichtung  sogar  die  Lungen  noch  einen  Druck 
auf  den  im  Thorax  eingeschlossenen  Zirkulationsapparat  auszuüben 
vermögen.    Die  Folge  hiervon  ist: 

1)  Erhöhung  des  Druckes  im  Aortensystem.  Der  Puls  wird  ent- 
schieden gespannter,  selbst  hart,  während  die  Inspiration 
vollzogen  wird. 

2)  Der  Zufluß  des  Blutes  ins  Aortensystem  wird  gesteigert.  Der 
Puls  wird  voller. 

3)  Der  Abfluß  des  Blutes  aus  den  Venen  ins  rechte  Herz  wird  ge- 
hemmt, indem  die  aspirierende  Kraft  der  Inspiration  vermindert  ist,  oder 
fortfallt,  oder  sogar  in  eine  entgegengesetzte,  das  Blut  zurückdrängende 
Bewegung  umgewandelt  ist.  Deutlich  erkennt  man  dies  bei  der  Be- 
obachtung des  Halses  der  betreffenden  Personen.  Ich  fand  bei  In- 
spiration komprimierter  Luft,  daß  die  Jugularvenen  nicht  in  normaler 
Weise  zusammenfielen,  sondern  turgescent  blieben,  ja  sogar  bei  starker 
Luftverdichtung  deutlich  gefüllt  hervortreten. 

4)  Der  vermehrte  Ausfluß  aus  der  linken  Herzhälfte  und  der  gleich- 
zeitig verminderte  Abfluß  des  Blutes  aus  den  Venen  in  das  rechte  Herz 
bedingt  notwendig  einerseits  eine  vermehrte  Blutfülle  im 
großen  Kreislauf  und  dementsprechend  einen  verminderten  Blutgehalt 
im  kleinen  Kreislauf,  namentlich  in  den  Lungen. 

Mitteil.  a.  d.  Oraaxfebieten  d.  Medlxln  a.  Chtrurcie.    XIII.  Bd.  30 


464  Sauerbruch, 

5)  Was  die  Pulsfrequenz  angeht,  so  wird  diese  am  wenigsten 
erheblich  modifiziert;  sie  schien  mir  meist  deutlich  verlangsamt  zu 
werden. 

Exspiration  in  komprimierter  Luft.  Schon  bei  gewöhnlicher  Ex- 
spiration ist  der  negative  Lungendruck  erheblich  geringer,  als  bei  der 
Inspiration.  Es  bedarf  hier  demnach  nur  einer  viel  geringeren  Druck- 
steigerung der  Atmungsluft,  um  den  negativen  Lungendruck  selbst  in 
einen  positiven  zu  verwandeln.  Alle  bei  der  Inspiration  beschriebenen 
Wirkungen  machen  sich  deshalb  bei  der  Exspiration  in  komprimierter 
Luft  noch  in  viel  höherem  Maße  geltend,  oder,  was  dasselbe  ist,  schon 
geringere  Grade  der  Luftkompression,  vermögen  eine  gleiche  Wirkung 
auf  den  Zirkulationsapparat  auszuüben,  wie  höhere  Grade  bei  der  In- 
spiration ;  auch  hier  zeigt  sich: 

1)  Der  Druck  im  Aortensystem  wird  erhöht,  der  Puls  wird  ge- 
spannt und  hart. 

2)  Der  Blutzufluß  ins  Aortensystem  wird  gesteigert,  der  Puls  wird 
voller. 

3)  Der  Abfluß  des  Blutes  aus  den  Venen  wird  in  hohem  Maße 
gehemmt,  indem  au  Stelle  der  Aspiration  eine  Rückstauung  des  Blutes 
tritt.  Die  Venen  am  Halse  treten  als  dicke  Stränge  hervor,  ähnlich 
wie  bei  starken  Hustenstößen  oder  wie  beim  VALSALVAschen  Versuch. 

4)  Das  Blut  wird  im  großen  Kreislauf  angestaut;  der  Blutgehalt  der 
Brustorgane,  speziell  im  kleinen  Kreislauf,  vermindert. 

5)  Die  Pulsfrequenz  wird  mehr  oder  weniger  verlangsamt.^ 
Droschoff  und  Botschetsghkoff  (Centralbl.  f.  d.  med.  Wissen- 
schaft, 1875,  p.  65,  713,  785),  die  bei  Anwendung  des  Waldenbürg- 
schen  Apparates  den  Blutdruck  in  den  Arterien  von  Hunden  gemessen 
haben,  sprechen  sich  gegen  die  Auffassung  Waldenburgs  aus.  Sie 
erhielten  Resultate,  die  mit  denjenigen  Einbrodts  fast  ganz  überein- 
stimmten. Ebenso  kamen  Dugrocq,  Cambert,  Kuss  und  Zuntz  zu 
denselben  Resultaten  wie  Einbrodt  (Rollet,  Physiol.  d.  Blutbewegung, 
Hermann,  Handb.  f.  Phys.). 

Mittelst  des  Plethysmographen  gelangte  Basoh  auch  am  Menschen 
über  die  Wirkung  des  Atmens  komprimierter  Luft  zu  Ergebnissen,  die 
mit  denen  von  Einbrodt  übereinstimmen.  Trotz  der  beim  Atmen 
komprimierter  Luft  sichtbaren  venösen  Stauung  fand  Basoh  doch  das 
Armvolumen  kleiner,  was  seiner  Ansicht  nach  nur  durch  ein  Sinken 
des  arteriellen  Blutdrucks  erklärt  werden  kann. 

Es  ist  nun  mit  Recht  die  Wirkung  der  Atmung  komprimierter  Luft 
mit  derjenigen  beim  Valsalv Aschen  Versuch  auf  den  Blutdruck  ver- 
glichen worden.  In  der  Exspiration  ist  dieser  Vergleich  zweifellos  ganz 
zutreffend;  insofern  als  sich  in  beiden  Fällen  aus  der  Erschwerung 
der  Ausatmung  die  Druckwirkungen  auf  die  Zirkulation  ergeben  (Zu- 
nahme des  intrapleuralen   Drucks  und  des  Drucks  auf  die  Alveolar* 


Zur  Pathologie  des  oiFenen  Pneumothorax  etc.  465 

gefäße).  Die  zahlreichen  beim  Menschen  während  der  Ausübung  des 
VALSALYAchen  Versuches  vorgenommenen  sphygmographischen  Messungen 
haben  folgendes  ergeben: 

Aufblasungen  der  Lungen  eines  Tieres  unter  hohem  Druck,  Aus- 
atmen in  komprimierter  Luft,  der  VALSALVASche  Versuch  beim  Men- 
schen, haben  einen  sehr  konstanten  Einfluß,  sowohl  auf  die  Pulskurven- 
reihe  als  auch  auf  die  einzelnen  Pulse.  Die  Höhe  der  Kurve  steigt 
allmählich  empor,  wenn  die  Luft  in  den  Lungen  allmählich  komprimiert 
wird,  rasch  und  plötzlich,  wenn  die  Kompression  plötzlich  einsetzt ;  die 
Pulse  werden  dann  bald  stark  dikrot,  sehr  klein,  sehr  frequent,  und 
unter  zunehmender  Kleinheit  tritt  bei  zunehmendem  Druck  Pulslosigkeit 
ein.  Wird  die  Atmung  wieder  freigegeben,  so  sinkt  die  Kurvenreihe 
plötzlich  wieder  herunter,  die  Pulsgröße  nimmt  aber  nur  allmählich  zu, 
ebenso  die  Frequenz,  und  ebenso  schwindet  nur  allmählich  der  Dikro- 
tismus  (s.  Kurve  11,  nach  Hermann,  Handbuch  d.  Physiologie). 


Kurve  11.  Pulskurve  von  der  Badialarterie  des  Menschen  während  des  Valsalva- 
schen  Versuches.  (Nach  Mabey  aus  Hermanns  Handbuch  der  Ph^rsiologie.)  Das 
Hervortreten  des  Dikroüsmus  spricht  trotz  Hebung  der  Welle  für  ein  Sinken  des 
Blutdruckes. 

Von  Rollet  ist  nun  darauf  hingewiesen  worden,  daß  an  den  Puls- 
kurven die  gesteigerten  Abschnitte  einen  starken  Dikrotismus  und  eine 
starke  Zunahme  der  Frequenz  zeigten.  Er  sieht  darin  einen  Beweis 
fQr  eine  bedeutende  Drucksenkung  mit  auffallender  Zunahme  der  Ge- 
schwindigkeit des  Herzschlages,  und  glaubt,  daß  man  die  Elevation  der 
Pulskurvenreihe  nicht  durch  eine  Zunahme  des  Druckes  in  den  Arterien 
deuten  könne.  (Weichteile  und  Muskeln  können  eine  Pelottenerbebung 
bewirken.)  Selbstverständlich  bezieht  sich  das  alles  in  erster  Linie  auf 
die  Atmung  bei  uneröffneter  Pleurahöhle,  gilt  aber  natürlich  auch  für 
die  Fälle,  wo  nur  eine  Brusthöhle  eröffnet  ist,  wie  das  in  der  Praxis 
meistens  der  Fall  sein  wird.  Die  ungünstige  Wirkung  der  Atmung 
komprimierter  Luft  betrifft  dann  in  erster  Linie  die  Lunge  der  uneröff- 
neten  Seite. 

Unsere  Versuche  über  die  Wirkung  komprimierter  Luft  auf  die 
Zirkulation  sind  nicht  sehr  zahlreich  gewesen ;  wir  haben  sie  bei  ungeöff- 
neter Brusthöhle  und  bei  einseitigem  Pneumothorax  vorgenommen.  Wir 
fanden  im  ersteren  Falle  stets  eine  geringe  Steigerung  des  arteriellen 
Druckes  mit  Abnahme  der  Pulsfrequenz,  später  ein  Sinken  mit  Zunahme 
der  Frequenz.  Bei  höheren  Druck  werten  von  20 — 30  mm  Hg  und  mehr 
tritt  gleich  eine  ziemlich  starke  Erhöhung  des  arteriellen  Druckes  ein,  die 

30* 


466  Sauerbrnoh, 

meiner  Ansicht  nach  etwas  an  die  dyspnoische  Steigerung  des  Blutdrucks 
erinnerte.  Eigentümlicherweise  war  im  zweiten  Fall  (einseitige  Eröff- 
nung der  Brusthöhle)  die  Rückwirkung  auf  die  Zirkulation  auffälliger: 
venöse  Stase,  bald  Steigen,  bald  Sinken  des  Blutdruckes  und  deutliche 
Verlangsam ung  des  Pulses  mit  größeren  Ausschlägen  (Dyspnoe?). 

Die  venöse  Stase  ist  leicht  zu  erklären :  durch  die  Einatmung  kom- 
primierter Luft  wird  auf  der  un  er  öffneten  Seite  der  Brust  die  Lunge 
stark  gedehnt,  der  intrapleurale  Druck  nimmt  zu  und  die  Aspiration 
wird  vermindert. 

Durch  die  intrapneumonale  Druckerhöhung  werden  die  Alveolargefaße 
komprimiert,  ihr  Querschnitt  wird  kleiner,  der  Widerstand  größer  und 
die  Zirkulation  im  kleinen  Kreislauf  wesentlich  erschwert. 

Das  bedeutet  für  das  Herz  schon  eine  wesentliche  Mehrarbeit.  Dazu 
kommt,  daß  genau  wie  bei  meinem  ursprünglichen  Verfahren  dadurch, 
daß  Pleurahöhle  und  Körperoberfläche  unter  demselben  Druck  stehen, 
wie  wir  sahen,  die  Aspiration  des  rechten  Herzens  fortfällt  und  auf 
diese  Weise  schon  eine  Komplikation  für  das  Herz  entsteht.  Zur  Not 
könnte  man  diese  letztere  durch  Anbringung  eines  Hohlcylinders,  in 
dem  ebenfalls  ein  Ueberdruck  erzeugt  wird,  ausschalten;  dann  wäre 
aber  dieses  einfache  Verfahren  schon  komplizierter  geworden.  Die 
Störungen  des  Lungenkreislaufes  durch  die  Wirkung  des  Ueberdruckes 
und  die  durch  die  Zunahme  des  intrathorakalen  Druckes  bedingte  rück- 
läufige Stase  im  rechten  Herzen  und  in  den  Körpervenen  kann  man 
manometrisch  sehr  schön  nachweisen. 

Versuch. 
Hund,  7,4  kg.  Kopf  kommt  in  den  Operationskasten,  der  Körper 
bleibt  draußen.  Im  Kasten  wird  ein  Ueberdruck  von  etwa  10  mm  erzeugt. 
Ein  Manometer  ist  vorher  in  die  Vene  des  Oberschenkels  eingebunden. 
In  dem  Augenblick,  in  welchem  das  Tier  komprimierte  Luft  atmet,  kommt  es 
ab  und  zu  in  der  Exspiration  zu  ganz  geringen  Schwankungen.  Jetzt  wird 
die  rechte  Brustseite  eröffnet;  es  entsteht  sofort  ein  positiver  Ausschlag 
von  etwa  6  mm,  der  anhält. 

Ich  habe  diesen  Versuch  mit  dem  gleichen  Erfolge  bei  mehreren 
Tieren  wiederholt. 

Durch  die  doppelseitige  Eröffnung  der  Brusthöhle  wird  infolge 
des  Wegfalles  des  negativen  Druckes  in  der  Pleurahöhle  die  Erschwe- 
rung der  Exspiration  fortfallen,  also  die  Atmung  nicht  mehr  im  Sinne 
des  VALSALVASchen  Versuches  behindert  sein ;  was  diesen  Punkt  angeht, 
wäre  also  eine  doppelte  Eröffnung  eher  günstiger. 

Man  könnte  geneigt  sein  anzunehmen,  daß  auch  dem  Unterdruck- 
verfahren bei  einseitiger  Pleuraeröffnung  derselbe  Uebelstand  an- 
hafte, insofern  als  die  Lunge  der  uneröffneten  Seite  im  relativen  Sinne 
komprimierte  Luft  atme,  dadurch  daß  der  Körper  unter  Unterdrück 
gesetzt  wird,  während  die  Lunge  unter  normalem  Druck  bleibt.    Das 


Zur  Pathologie  des  oiSenen  Pneumothorax  etc.  467 

ist  nicht  der  Fall;  denn  der  Unterdruck,  der  auf  dem  Thorax  lastet, 
ist  infolge  der  relativen  Unnacbgiebigkeit  des  Brustkorbes  fast  ohne  Ein- 
fluß auf  die  Pleurahöhle,  so  daß  sich  ihr  Druck  nicht  ändert  und  die 
Differenz  zwischen  Pleura  und  intrapulmonalem  Druck  dieselbe  bleibt 
wie  in  der  Norm, 

Selbst  bei  doppelter  Pieuraeröffhung,  bei  der  in  beiden  Ver- 
fahren, bezüglich  des  inthrathorakalen  und  intrapulmonalen  Druckes 
die  gleichen  Verhältnisse  bestehen,  ist  noch  ein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  Unter-  und  Ueberdruck  zu  berücksichtigen.  Dieser 
beruht  darauf,  daß  die  Lunge  im  ersten  Falle  nicht  aufgeblasen,  son- 
dern durch  Aspiration  expandiert  gehalten  wird.  Die  Alveolargefäße 
werden  nämlich  bei  der  InsufBation  der  Lungen  zweifellos  mehr  kom- 
primiert. Die  Gefäßveränderungen  und  sekundären  Zirkulationsstörungen, 
die  sich  daraus  ergeben,  habe  ich  oben  bereits  besprochen. 

Für  die  Tiere  mit  ihrem  anpassungsfähigen  Herzen 
und  dem  widerstandsfähigen  Zirkulationssystem  mögen 
diese  groben  Störungen  weniger  in  Betracht  kommen. 
Beim  Menschen  aber,  wo  das  gesunde  Herz  schon  weit 
empfindlicher  und  das  kranke  sehr  oft  solchen  Mehr- 
ansprüchen nicht  gewachsen  ist,  gehen  daraus  Bedenken 
gegen  die  Anwendung  der  Umkehr  meines  Verfahrens 
hervor^). 

Daneben  kommen  noch  andere  Schwierigkeiten  in  Frage.  In 
erster  Linie  die  Narkose.  Entweder  wird  sie  von  einem  Arzte  in 
einem  kleinen  Räume  vorgenommen,  und  dann  wird  dieser  durch 
die  Narkosendämpfe  wesentlich  belästigt.  Dafür  haben  wir  ein  ekla^ 
tantes  Beispiel  erlebt.  Herr  Geheimrat  v.  Mikulicz  eröffnete  unter 
Herrn  Dr.  Ansghütz'  und  meiner  Assistenz  unter  Ueberdruck  die 
Pleurahöhle  eines  Hundes.  Der  Kopf  des  Tieres  befand  sich  in  der 
von  mir  angegebenen  Abschlußvorrichtung  im  Kasten,  der  Körper 
draußen.  Im  Kasten  wurde  jetzt  ein  Ueberdruck  von  10  mm  Hg  er- 
zeugt, so  daß  die  physiologische  Druckdifferenz  nach  Eröffnung  der 
Pleurahöhle  beibehalten  blieb.  Das  Tier  atmete  genau  wie  bei  der 
ursprünglichen  Methode  ruhig  weiter  trotz  seines  doppelten  Pneumo- 
thorax. Es  ergab  sich  somit  das,  was  wir  erwarteten,  nämlich  das 
ungestörte  Weiteratmen  bei  völlig  entfalteten  Lungen  trotz  breiter  Er- 
öffnung beider  Pleurahöhlen.  Dagegen  stellten  sich  andere  Schwierig- 
keiten heraus.  Herr  Dr.  Heile,  der  in  dem  Kasten  die  Narkose  vor- 
nahm, empfand  bereits  nach  20  Minuten  Beschwerden  der  Ghloroform- 
wirkung.    Beim  Oeffhen  der  Kammer  strömte   uns  ein  so  intensiver 


1)  Während  des  Druckes  dieser  Arbeit  ist  von  Ebllimq  (Centralbl.  f. 
Chir.,  No.  20)  auch  betont  worden,  daß  die  beiden  Methoden,  Unter-  und 
Ueberdruck,  nicht  gleichwertig  sind.  Er  weist  speziell  auf  Zirkulationsstö- 
rungen bei  dem  Ueberdruckverfahren  hin,  die  er  für  ziemlich  bedenklich  hält. 


468  Sauerbruch, 

Geruch  von  Chloroform  entgegen,  daß  wir  einen  längeren  Aufenthalt 
in  einem  so  kleinen  Räume  für  ausgeschlossen  hielten. 

Der  Aufenthalt  in  komprimierter  Luft  wird  an  sich  schon  schlechter 
vertragen,  als  der  in  entsprechender  Verdünnung.  Verminderung  der 
Atmungsfrequenz,  Zunahme  der  Tiefe  der  einzelnen  Atemzüge,  Herunter- 
sinken des  Zwerchfells,  Hebung  der  Rippen,  das  sind  die  Folgen.  Die 
Einatmung  geschieht  schneller,  die  Ausatmung  langsamer;  bei  längerem 
Aufenthalt  tritt  leichter  Kopfschmerz  und  Atembeschwerden  ein  (COj- 
Retention?). 

Nach  Vorschlag  des  Herrn  Geheimrat  v.  Mikulicz  kann  man  sich 
dreier  anderer  Wege  bedienen,  um  das  Ueberdruckverfahren  praktisch 
zu  verwerten:  eines  Taucherhelmes,  einer  Lachgasmaske  oder  aber  der 
Tracheotomie. 

Anstatt  der  Kammer,  in  der  sich  der  Kopf  des  Patienten  abge- 
schlossen befindet,  wird  eine  Art  Taucherhelm  konstruiert,  der  am  Halse 
ebenso  dicht  abschließt,  wie  die  Gummimanschette  der  Kammer.  In 
derselben  Weise  wie  bei  der  letzteren  würde  man  unter  einem  ent- 
sprechenden Ueberdruck  Luft  zu-  und  abführen  und  zugleich  mit  der 
zuführenden  Luft  das  narkotisierende  Gas.  Durch  eine  eingefügte  Glas- 
platte bliebe  das  Gesicht  des  Patienten  der  Beobachtung  zugängig. 

Viel  einfacher  in  der  Handhabung  wäre  eine  Narkotisierungsmaske, 
welche  wie  die  Ansatzstücke  bei  der  Lachgasnarkose  Mund  und  Nase 
luftdicht  abschließt.  Diese  müßte  auch,  wie  bei  der  Lachgasnarkose, 
mit  einem  Luftreservoir  in  Verbindung  stehen,  durch  das  die  einzu- 
atmende Luft  mit  dem  narkotisierenden  Gas  gemischt  und  unter 
Ueberdruck  den  Luftwegen  zugeführt  würde.  Das  Ausatmen  müßte 
natürlich  auch  unter  Ueberdruck  geschehen,  und  zwar  durch  einen 
Abzugsschlauch.  Der  zu-  und  abführende  Schlauch  müßte  sich  durch 
Ventile  automatisch  öffnen  und  schließen. 

Für  die  Tracheotomie  käme  im  wesentlichen  dieselbe  Anordnung 
wie  bei  2.  in  Frage.  Nur  wird  die  einzuatmende  Luft  samt  dem  nar- 
kotisierenden Gas  nicht  durch  eine  Maske  der  Mund-  und  Nasenöffnung 
zugeführt,  sondern  durch  eine  luftdicht  schließende  Kanüle  unmittelbar 
der  Luftröhre. 

Bei  den  beiden  ersten  Methoden  verzichtet  man  auf  eine  exakte 
Kontrolle  der  Narkose  und  auf  die  Möglichkeit,  bei  Störungen  derselben 
schnell  eingreifen  zu  können.  Man  denke  nur  an  Erbrechen  während 
der  Narkose,  die  Gefahr  der  Aspiration,  ferner  Zurücksinken  der  Zunge 
und  Glottisverschluß.  Es  würde  also  unter  Umständen  nötig  sein,  die 
Maske  bezw.  den  Taucherhelm  zu  lüften  oder  gar  zu  entfernen,  um 
die  Störung  der  Narkose  zu  beseitigen;  damit  setzt  man  sich  der  Ge- 
fahr aus,  daß  durch  den  Wegfall  des  Ueberdrucks  die  Lunge  kollabiert 
und  alle  Folgen  eines  Pneumothorax  eintreten.  Man  könnte  durch  zwei 
Gummimanschetten,  die  an  dem  Taucherhelm  angebracht  würden,  aller- 


Zur  Patholojfie  des  offenen  Pneumothoarx  eto.  469 

dings  die  Hände  einführen  und  auf  diese  Weise  Narkosestörungen  be- 
seitigen. Immerhin  bleibt  zu  bedenken,  wie  behindert  man  dadurch 
ist  und  gerade  in  Fällen,    wo  ein  schnelles  Eingreifen  so  sehr  not  tut. 

Was  die  Tracheotomie  angeht,  so  ist  sie  schon  deshalb  unsym- 
pathisch, weil  sie  eine  Operation  mehr  bedeutet  und  keineswegs  eine 
geringe  Komplikation  in  den  Fällen  ist,  wo  Lunge  und  Atmungswege 
nicht  gesund  sind.  Ihre  Schattenseiten  habe  ich  bei  der  künstlichen 
Atmung  ausführlich  besprochen. 

Schließlich  ist  der  Wärmeverlust,  der  bei  der  Eröffnung  der  Brust- 
höhle, wie  wir  sahen,  eine  wichtige  Rolle  spielt  auch  größer  in  einem 
freien  Operationsraume,  als  in  einer  geschlossenen  Kammer. 

Aber  diese  rein  technischen  Bedenken  treten  zurück 
gegenüber  den  physiologischen,  die  ich  für  wesentlicher 
halte.  Die  Technik  würde  sicherlich  bald  einen  Weg  finden,  diese 
Schwierigkeiten  zu  beseitigen  und  die  Methode  praktisch  brauchbar  zu 
machen,  wenn  die  Erfahrung  lehren  sollte,  xiaß  meine  Bedenken  un- 
gerechtfertigt sind. 

Auf  meine  Mitteilung  in  No.  6  des  Centralblattes  für  Chirurgie  hin 
haben  sich  auch  die  Herren  Professoren  Brauer  und  Petersen  aus 
Heidelberg  mit  der  Umkehr  meines  Verfahrens  beschäftigt.  Brauer 
ist  im  Anschluß  an  meine  vorläufige  Mitteilung  unabhängig  von  uns  zu 
einer  ganz  bestimmten  Versuchsanordnung  für  das  Ueberdruckverfahren 
gekommen.  Er  tracheotomiert  die  Tiere,  setzt  eine  T-Kanüle  ein  und 
verbindet  das  eine  Ende  mit  einer  Sauerstoffpumpe,  das  andere  zunächst 
mit  einer  10  Liter-Flasche  und  diese  dann  mit  einem  Ventil,  das 
den  Druck  regelt.  Dem  Zuführungsrobr  kann  man  dann  noch  ein 
zweites  anfügen,  das  mit  einer  Flasche  verbunden  ist,  in  der  sich  ein 
Narkotikum  befindet.  Ich  habe  mich  selbst  gelegentlich  des  medizini- 
schen Kongresses  Leipzig  1904  von  der  Einfachheit  und  praktischen 
Brauchbarkeit  dieses  Verfahrens  überzeugt  und  glaube,  daß  man  auf 
diese  Weise  sehr  leicht  und  bequem*  zu  experimentellen  Zwecken  eine 
Eröffnung  der  Brusthöhle  vornehmen  kann.  Für  praktisch  chirurgische 
Zwecke  aber  wird  man  hoffentlich  zunächst  bei  dem  Unterdruckverfahren 
bleiben  und  das  Ueberdruckverfahren  vielleicht  für  Notfälle  reservieren. 
Man  bedenke  die  Annehmlichkeit,  in  einem  freien  Raum  narkotisieren 
zu  können  ohne  die  Schwierigkeiten  der  Luftzuführung,  wie  sie  ja  doch 
dem  Ueberdruckverfahren  anhaften.  Außerdem  halte  ich  es  für 
wünschenswert,  daß  wenigstens  für  die  ersten  Ope- 
rationen, wo  durch  unsere  mangelnde  Erfahrung  der 
Eingriff  an  sich  schon  so  viel  Komplikationen,  die  ge- 
fährlichwerden können,  mitsich  bringt,  unter  möglichst 
physiologischen  Bedingungen  gearbeitet  wird;  das  Unter- 
druckverfahren  entspricht  aber  zweifellos  mehr  den 
normalen  Verhältnissen. 


470  Sauerbruch,    , 

Uebrigens  hatte  ich  den  Eindruck,  als  ob  die  Tiere  bei  der  Ver- 
sucbsanordnung  des  Herrn  Prof.  Brauer  nicht  mehr  wie  bei  meinem 
ursprünglichen  Verfahren  regelmäßig  wie  in  der  Norm  atmeten,  sondern 
daß  infolge  der  konstanten  Sauerstofifzufuhr  eine  Apnoe  erzeugt  wurde, 
die  fQr  das  Tier  die  Atmung  überflüssig  machte.  Jedenfalls  sah  ich 
nur  in  großen  Zwischenräumen  einige  Atemzüge,  die  mir  auch  kürzer 
und  oberflächlicher  zu  sein  schienen  als  in  der  Norm.  Wegen  aller 
näheren  Fragen  verweise  ich  auf  die  in  diesem  Hefte  erscheinende 
Arbeit  Brauers. 

Durch  eine  Mitteilung  des  Herrn  Prof.  Korteweg  an  meinem  Chef 
wurde  ich  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  schon  vor  einigen  Jahren 
die  Amerikaner  nach  dem  Ueberdruckverfahren  operierten.  Die  von  ihm 
angeführten  englischen  Autoren  waren  mir  bekannt,  und  ich  habe  sie 
auch  bei  der  Besprechung  der  künstlichen  Atmung  berücksichtigt,  bis 
auf  einen  (Bryants  operative  surgery,  3.  edition  [1900  und  1901 J,  Vol.  II, 
p,  1032).  In  allen  Publikationen  wird  die  große  Bedeutung  des  Fell- 
O'DwTERschen  Apparates  betont:  it  is  an  essential  part  of  the  operativ 
armamentarium,  „intended  to  revolutionaire  this  field  of  surgery^. 

Wie  gesagt,  bei  der  künstlichen  Atmung  habe  ich  diese  Methode 
besprochen,  denn  da  gehört  sie  hin.  Es  ist  weiter  nichts  als  eine 
künstliche  Atmung  durch  rhythmisches  Aufblasen  der  Lunge,  die  sich 
wesentlich  von  dem  „Ueberdruckverfahren^  unterscheidet.  Es  handelt 
sich  dort  nicht  um  eine  konstante  Druckdififerenz,  bei  der  das  Tier 
aktiv  atmet,  sondern  es  wird  die  Atmungstätigkeit  durch  den  Apparat 
ersetzt.  Beim  Schluß  der  Wunde  haben  allerdings  die  Amerikaner* 
übrigens  auch  Tuffier  und  Hallion,  den  Zuleitungsschlauch  auf  der 
Höhe  einer  Insufflation  zugedrückt,  wodurch  natürlich  die  Lunge  aus- 
gedehnt erhalten  wird,  und  der  Pneumothorax  auf  diese  Weise  beseitigt 
wird.  Das  ist  nur  auf  Sekunden  möglich.  In  gewissem  Sinne  ist  dies 
ja  auch  ein  „Ueberdruckverfahren^,  das  sich  jedoch  wesentlich  von  dem 
unsrigen  unterscheidet. 

Nach  den  Auseinandersetzungen  über  die  Pathologie  des  Pneumo- 
thorax darf  das  Fehlen  jeder  Dyspnoe  bei  Eröffnung  der  Brusthöhle 
bei  meinem  Verfahren  nicht  wunder  nehmen.  Die  Hauptgefahren  be- 
standen ja  erstens  in  der  durch  den  Kollaps  bedingten  Hyperämie» 
ferner  dem  Wegfall  des  spezifischen  Vagusreizes.  Die  Lunge  bleibt  in 
ihrem  physiologischen  Expansionszustande,  der  die  gefährliche  Hyper- 
ämie derselben  verhindert.  Der  durch  die  Expansion  bedingte  Reiz  auf 
die  feinsten  Vagusfasern  bleibt  erhalten ;  die  andere  Lunge  arbeitet  aus- 
reichend für  den  Luftwechsel,  so  daß  trotz  des  funktionellen  Fortfalles 
der  Pneumothoraxlunge  kein  Grund  für  Dyspnoe  und  ihre  Folgen  vor- 
liegt. Aber  nicht  nur,  daß  diese  Komplikationen  der  Eröffnung  der 
Brusthöhle  beseitigt  werden,   das  Verfahren  leistet  weit  mehr:   Das 


Ähitml  a.  d.  Qrenx^eh.  d.  Med,  u.  CäiV.,  Bd,  Xlll 


m  p.  471. 


Kurve  12.    Puls  und  Atmirngskiirve  eineB  tTaninfihAna  vor  and  nach  der  ^^  ^^  ^ 


Sauerhruch. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  471 

Tier  regelt  seineAtmung  nach  seinem  Atmungsbedürfnis 
genau  wie  in  der  Norm  durch  die  Exkursionen  des  Thorax, 
soweit  er  noch  vorhanden  ist.  Beide  Lungen  beteiligen 
sich  an  der  Atmung.  Es  ist  auffällig,  wie  wenig  Einfluß  eine  schon 
ziemlich  beträchtliche  Resektion  der  Brustwand  auf  die  AtmungsgröBe 
bei  konstanter  Atmungsfrequenz  hat.  Bei  einer  Eröffnung  der  linken 
Brusthöhle  eines  Hundes  von  4,6ö0  kg  durch  einen  Lappenschnitt  von 
6  qcm  Größe  konnte  ich  durch  gasometrische  Messungen  nachweisen, 
daß  sich  die  Atmungsgröße  nicht  geändert  hatte:  Das  Tier  atmete  vor 
Eröffnung  während  einer  Beobachtungszeit  von  20  Minuten  durch- 
schnittlich 600—900  ccm  in  der  Minute.  Nach  Eröffnung  der  Brust- 
höhle trat  als  Reflex  auf  den  Operationsschmerz  zunächst  eine  Zu- 
nahme von  durchschnittlich  800—1100  ccm  in  der  Minute  ein;  dann  ging 
die  Atmungsgröße  auf  dasselbe  Maß  wie  vor  der  Eröffnung  zurück. 
Bei  einem  narkotisierten  Tiere  habe  ich  eine  Eröffnung  unter  Kon- 
trolle von  Puls  und  Atmung  der  Brusthöhle  vorgenommen  und  gebe 
die  gewonnene  Kurve  (12)  wieder. 

Die  Kurven  wurden  folgendermaßen  gewonnen: 

In  die  eröffnete  Luftröhre  des  Versuchstieres  wurde  eine  gewöhn- 
liche Kanfile  zur  Atmung  eingebunden;  an  das  freie  Ende  derselben 
wurde  ein  Gummischlauch  gebracht,  der  ^einerseits  mit  einer  Maret- 
schen  Trommel  in  Verbindung  stand.  In  dem  Gummischlauche  befand 
sich  nun  ein  kleines  Loch,  dessen  Größe  in  einem  bestimmten  Ver- 
hältnis zu  dem  Querschnitt  des  Qummirohres  stand,  und  zwar  so,  daß 
die  Oeffnung  zur  Erhaltung  einer  ausgiebigen  Atmung  gentigte,  anderer- 
seits aber  immer  noch  so  viel  Luft  an  dem  Loche  vorbei  in  das  obere 
Ende  des  Schlauches  bis  zur  MARETSchen  Trommel  gelangt,  daß  die- 
selbe dadurch  beeinflußt  wurde.  Alle  Schwankungen  der  Luftsäule  in 
der  Trachea  werden  auf  diese  Weise  auf  die  MARETsche  Trommel  über- 
tragen. Brachte  ich  nun  an  den  Schreibhebel  eine  Begistriertrommel, 
so  konnte  ich  durch  Aufzeichnen  dieser  Schwankungen  ein  getreues  Bild 
der  Atmung  gewinnen. 

Ich  war  erstaunt,  daß  überhaupt  kaum  eine  Aenderung  eingetreten 
ist,  mit  Ausnahme  einer  ganz  kurzen  im  Augenblick  der  Eröffnung 
der  Pleurahöhle  (Kurve  12).  Es  fiel  mir  schon  im  Anfange  auf,  daß 
diese  Konstanz  der  Atmungsgröße  keinesfalls  durch  die  Mehrarbeit  der 
anderen  Lunge  bedingt  sein  könne,  denn  im  Gegensatze  zu  der  ge- 
wöhnlichen Eröffnung  der  Brusthöhle  kommt  es  ja  bei  diesem  Ver- 
fahren nicht  zu  jenen  Atmungsstörungen,  die  wir  als  charakteristisch 
für  den  Pneumothorax  kennen  gelernt  hatten,  ich  meine:  Zunahme  der 
Frequenz  und  der  Größe  der  Atmung.  Im  Gegenteil,,  die  Atmung 
vollzieht  sich  so  ruhig  und  regelmäßig  wie  in  der  Norm.  Diese  Kon- 
stanz der  Gesamtatmungsgröße  ist  auf  eine  Leistung  beider  Lungen  zu 
beziehen.    Man  sieht,  wie  gesagt,  in  der  Tat,  daß  auch  die  bloßgelegte 


472  Sauerbruoh, 

Lunge  an  der  respiratorischen  Tätigkeit  beteiligt  ist.  Sie  schwankt 
zwischen  Exspiration  und  Inspiration  selbst  bei  großem  Defekt  der 
Brustwand.  Im  Anfange  war  ich  auf  Grund  dieser  Tatsachen  von  einer 
spontanen  und  aktiven  Respiration  der  Lunge  überzeugt  und  wurde  in 
dieser  Auffassung  noch  dadurch  bestärkt,  daß  selbst  nach  Wegnahme 
des  größten  Teiles  des  Brustkorbes  die  Atmung  weitergeht  und  keine 
Störungen  eintreten.  Es  war  mir  bekannt,  daß  von  vielen  Forschern 
angenommen  wird,  daß  sich  in  den  kleinsten  Bronchen,  ja  sogar  noch 
in  den  Alveolen  (Fürbringer)  Muskelfasern  finden,  die  einer  aktiven 
Kontraktion  fähig  sind.  Zudem  sind  ja  die  Lungen  bei  manchen 
Amphibien,  z.  b.  den  Schildkröten,  mit  aktiver  Beweglichkeit  aus- 
gestattet. (Nach  Untersuchungen  von  Fano  und  Fasola  nach  Her- 
mann.) Den  Einfluß  des  Vagus  hatte  ich  bei  meinen  Versuchen  kennen 
gelernt,  und  in  Verbindung  mit  diesen  letzten  Beobachtungen  schien 
mir  die  Deutung  dieser  aktiven  Eontraktionsfähigkeit  im  Sinne  einer 
Exspiration  und  ihr  Erschlaffen  im  Sinne  einer  Inspiration  gerecht- 
fertigt. Den  ganzen  mechanischen  Atmungsapparat  faßte  ich  als  ein 
unterstützendes  Moment  auf«  das,  die  Expansion  der  Lungen  voraus- 
gesetzt, unbeschadet  einer  ausgiebigen  Atmung,  fortfallen  könnte. 
Die  logische  Folge  dieser  Auffassung  war,  daß  man  von  dem  Thorax 
noch  mehr  wegnehmen  könne  ohne  Funktionsstörungen  der  Lunge, 
ja  daß  man  auf  alle  muskulösen  Hilfsapparate  (Zwerchfell)  verzichten 
könne.  Daraufhin  resezierte  ich  einem  Tiere  allmählich  den  Brustkorb 
und  nahm  gleichzeitig  eine  Atmungskurve  auf  (Kurve  13). 

Diese  Kurve  zeigt  uns  sehr  deutlich,  wie  die  Atmungsgröße  eng  ge- 
bunden ist  an  den  Grad  der  Einbuße  des  mechanischen  Atmungsappa- 
rates. Mit  seiner  Verkleinerung  ist  eng  verbunden  eine  konstante  Ab- 
nahme der  Ausgiebigkeit  der  Atmung,  die  meines  Erachtens  direkt  die 
Unrichtigkeit  meiner  ursprünglichen  Auffassung  beweist.  Schon  bei  a 
haben  die  Ausschläge  abgenommen,  bei  b  sind  sie  bereits  sehr  gering 
geworden,  und  bei  c  fehlt  jeder  Ausschlag  des  Hebels.  Hier  treten  denn 
auch  bald  Dyspnoe,  Krämpfe  ein,  Erscheinungen,  welche  die  Folge  des  Aus- 
falles der  Atmung  sind.  In  dem  Augenblick,  wo  also  der  ganze 
muskuläre  Atmungsapparat  wegfällt,  hörtauch  die  „spon- 
tane^ Atmung  auf.  Die  Lungen  bleiben  wie  zwei  aufgeblasene  Säcke  in 
der  dem  Außendruck  entsprechenden  Expansionsstellung  ohne  jede  aktive 
oder  passive  Bewegung  stehen  und  sind  funktionell  dadurch  vollständig 
ausgeschaltet.  Solange  noch  ein  kleiner  Rest  von  mechanischem 
Atmungsapparat  vorhanden  ist,  so  lange  haben  wir  auch  noch  Exspi- 
ration und  Inspiration. 

Herr  Geh.-Rat  Filehne  glaubte  von  vornherein  nicht  an  eine  spon- 
tane Atmung  der  Lunge,  sondern  erklärte  ihre  scheinbar  aktiven  Bewe- 
gungen rein  mechanisch.  Auf  Grund  zahlreicher  Beobachtungen  habe 
ich  mich  dieser  Auffassung  angeschlossen  und  erkläre  die  Tätigkeit  der 


Zu  p.  472. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneomothorax  etc.  473 

Lunge  trotz  Wegfall  des  größten  Teiles  der  mechanischen  Hilfsapparate, 
wie  folgt: 

Die  expandierte  Lunge  liegt  eng  dem  Rest  des  mechanischen  Atmungs- 
apparates an,  so  daß  sich  ihr  die  geringste  Bewegung  desselben  mit- 
teilen muß.  Sie  ist  ein  mit  einem  bestimmten  vom  Vagus  abhängigen 
Tonus  begabtes  Organ,  das  jedem  leisen  Drucke  nachgibt.  Nehmen 
wir  z.  B.  an,  die  Rippen  und  das  Brustbein  seien  fortgefallen  und  nur 
das  Zwerchfell  übrig  geblieben.  Durch  die  exspiratorische  Bewegung 
des  Zwerchfells  wird  die  Lunge,  die  der  Kuppel  desselben  eng  aufliegt, 
zunächst  gehoben.  Der  obere  Teil  der  Lunge  kann  nicht  ausweichen, 
die  Hebung  des  Zwerchfells  dauert  fort,  und  dadurch  wird  eine  leichte 
Kompression  der  Lunge  erzeugt.  Bei  dieser  Kompression  wird  die 
Luft  aus  dem  unteren  Teile  des  Lungenlappens  ausgetrieben ;  ein  Teil 
gelangt  in  normaler  Weise  durch  die  Bronchen  und  die  Luftröhre  nach 
außen,  ein  Teil  geht  auf  dem  Wege  der  Bronchen  in  andere  frei- 
liegende Lungenabschnitte,  die  infolge  der  Fortnahme  der  Brustwand  von 
jedem  mechanischen  Drucke  frei  sind  und  an  der  ^Exspiration^  nicht 
teilnehmen.  Diese  Teile  werden  durch  den  Exspirationsstrom  der  unteren 
Partien  aufgebläht  und  kommen  dadurch  in  Inspirationsstellung.  In  dem 
Augenblicke,  wo  die  inspiratorische  Bewegung  des  Zwerchfells  beginnt, 
läßt  sein  mechanischer  Druck  auf  den  unteren  Teil  der  Lunge  nach ;  der 
intrabronchiale  Ueberdruck  kommt  wieder  zur  Geltung  und  bläht  die 
Lunge  langsam  passiv  wieder  auf.  Bei  Tieren  kann  man  sehr  schön 
sehen,  wie  diese  scheinbare  aktive  Inspiration  in  Wirklichkeit  in  der 
Exspiration  zu  stände  kommt.  Für  den  Fall,  daß  nur  kleine  Teile  des 
Brustkorbes  weggenommen  werden,  ist  die  Atmung  ganz  normal.  Die 
Lunge  schmiegt  sich  dem  Brustkorbe  eng  an  und  folgt  seinen  Ex- 
kursionen auf  das  genaueste;  davon  kann  man  sich  sehr  leicht  über- 
zeugen. 

Und  doch  sind  Inspiration  und  Exspiration  nicht  rein  mecha- 
nische Vorgänge.  Ich  erinnere  an  das  oben  gemachte  Experiment: 
Eröffnet  man  in  meiner  Kammer  auf  beiden  Seiten  die  Brusthöhle,  und 
zwar  derart,  daß  die  vordere  Brustwand  abgetragen  wird,  so  atmet 
das  Versuchstier  ruhig  weiter.  Durchschneidet  man  jetzt  auf  beiden 
Seiten  die  Vagi  (siehe  obige  Versuche),  so  nimmt  im  Vergleich  zu 
vorher  die  Inspirationsausdehnung  der  Lunge  zu.  Diese  Vergrößerung 
ist  ja  auch  dadurch  zu  erzielen,  daß  man  ein  Versuchstier,  das  in  der- 
selben W^eise  behandelt  ist,  tötet,  ohne  vorheriges  Durchschneiden  der 
Vagi;  auch  jetzt  nimmt  das  Volumen  der  aufgeblähten  Lunge  zu. 
Es  kann  diese  vom  Vagus  abhängige  Volumensänderung  der  Lunge 
durch  ein  Zu-  bezw.  Abnehmen  des  Querschnittes  der  Bronchien  oder 
der  Alveolen  bedingt  sein,  so  daß  mehr  bezw.  weniger  Luft  in  das 
Innere  der  Lungen  hineinströmen  kann.  Wo  der  Einfluß  des  Vagus 
wirkt,  ob  lediglich  auf  die  Bronchialmuskulatur,  für  die  es  von  den  Physio- 


474  Sauerbruch, 

logen  ja  wohl  bewiesen  ist,  oder  auch  auf  die  Muskelfasern  (?)  der 
Alveolen,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Dieser  Tonus  der  Lunge  ist  bei  der  Atmung  wichtig.  Zu  jeder 
mechanischen  Kompression  durch  das  Zwerchfell  kommt  auf  reflekto* 
rischem  Wege  eine  Zunahme  des  Tonus  als  Folge  eines  Reizes,  den  die 
mechanische  Erregung  der  feinsten  Nervenfasern  der  Lunge  erzeugt 
Beim  Nachlassen  der  Kompression  tritt  neben  der  Wiederausdehnung 
der  Lunge  durch  den  Ueberdruck  eine  Erschlaffnung  des  Tonus  ein, 
der  wiederum  reflektorisch  durch  Fortfall  des  mechanischen  Reizes  zu 
erklären  ist.  Daß  dieser  Einfluß  des  Tonus  eine  Rolle  spielt,  kann  man 
durch  Durchtrennung  des  Vagus  sehr  hübsch  nachweisen. 

Versuch. 

Kaninchen,  8200  g,  reine  Zwerchfellatmung,  Kanüle  in  der  Trachea 
mit  einer  MABEYschen  Schreibtrömmel  verbunden.     Der  Zeiger  zeigt  einen 


Kurve  14.  Atmungskurve  nach  DurchBchneiduDg  der  Vagi.  (Nur  die  ein- 
tretende BeschJeuDigung  wiedergegeben;  das  Stadium  der  Verlangsamung  noch  nicht 
erreicht.) 

bestimmten  Ausschlag.     Nach  Durchschneiden  des  Vagus  werden   die   re- 
spiratorischen Schwankungen  größer  (s.  Kurve  14). 

Ob  dieses  durch  nervöse  Reflexe  vermittelte  Zusammenwirken  der 
mechanischen  Atmung  und  der  Aenderung  des  Lungentonus  im  Sinne 
der  HERiNG-BREUERschen  Auffassung  über  das  Zustandekommen  der 
Atmung  gedeutet  werden  darf,  steht  dahin. 

Wenn  wir  bei  diesen  Versuchen  die  Beobachtung  machen,  daß 
Tiere  nach  Eröflfnung  der  Brusthöhle,  ja  nach  vollständiger  Verstümme- 
lung des  Brustkorbes  und  einer  daraus  sich  ergebenden  minimalen  At- 
mung ohne  Dyspnoe  weiter  leben  und  auch  sonst  die  Komplikationen,  die 
für  gewöhnlich  die  Eröflfnung  der  Brusthöhle  begleiten,  wegfallen,  so 
können  wir  nur  annehmen,  daß  das  Atmungsbedürfiiis  ein  sehr  geringes 
ist.  Es  ergibt  sich  ferner  die  interessante  Tatsache,  daß  wir  experi- 
mentell feststellen  können,   wieviel  Luftwechsel  für  eine  ausreichende 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  475 

Arteriellisation  des  Blutes  nötig  ist.  Man  braucht  nur  allmählich  so  viel 
von  dem  Thorax  wegzunehmen,  bis  die  ersten  Zeichen  der  Dyspnoe 
eintreten.  Nach  meinen  Beobachtungen  liegt  die  Grenze  nach  unten, 
bei  der  die  ersten  Erscheinungen  des  Sauerstoffmangels  eintreten,  etwa 
in  dem  10.— 12.  Teile  des  normalen  Atmungsvolumens.  Ein  Hund,  der 
durchschnittlich  700  ccm  atmet,  kann  seine  Atmungsgröße  ruhig  auf' 
70  ccm  herabsetzen,  ohne  daß  Lufthunger  eintritt;  Kaninchen  scheinen 
eine  noch  geringere  Abnahme  vertragen  zu  können. 

Versuche. 

1)  Hund,  3,6  kg,  wird  in  die  Kammer  gebracht.  Atmungsgröße  etwa 
540.  Allmähliche  Resektion  des  ganzen  Brustkorbes  bis  auf  Rippenstümpfe. 
Allmähliche  Abnahme  der  Atmungsgröße  von  540 — 500—440—800 — 220 
—180—120—90-85—75—60.  Das  Tier  wird  unruhig;  die  Atmung  fre- 
quenter,  — 50,     Krämpfe,  — ^30,  Exitus  letalis. 

2)  Bei  einem  Tiere  habe  ich  Brustbein,  alle  Rippen,  Zwerchfell  und 
schließlich  die  Bauchmuskulatur  fortgenommen,  und  trotzdem  blieb  das 
Tier  am  Leben,  ja  es  traten  nicht  einmal  hochgradige  dyspnoische  Er- 
scheinungen ein.  Der  Ausschlag  des  Gasometers  war  sa  0.  Das  einzige 
Moment,  das  einen  zu  geringen  Gasaustausch  anzeigte,  war  eine  geringe 
Steigerung  des  Blutdruckes,  der  ja,  wie  wir  sahen,  eine  Folge  einer  zu 
geringen  Arteriellisation  des  Blutes  ist.  Da  das  Gasometer  keinen  Aus- 
schlag zeigte,  brachte  ich  die  Trachea  mit  der  MARBvschen  Trommel  in 
Verbindung.     Die  verzeichneten  Schwankungen  waren  kaum  wahrzunehmen. 

Ich  bin  geneigt,  zu  glauben,  daß  in  diesem  Falle  die  geringen 
Schwankungen,  die  durch  die  Diastole  und  Systole  des  Herzens  bedingt 
sind,  für  einen  zur  £lrhaltung  des  Lebens  genügenden  Gaswechsel  aus- 
reichen ^).  Ich  habe  diesen  Versuch  mehrfach  an  Hunden  wiederholt  mit 
negativem  Ergebnis,  dagegen  gelang  es  mir,  bei  einem  Kaninchen  genau 
so  wie  in  dem  beschriebenen  Falle,  das  Leben  trotz  Wegfall  des  ganzen 
mechanischen  Atmungsapparates  aufrecht  zu  halten,  und  zwar  lediglich 
durch  diese  Schwankungen  des  Lungenvolumens,  wie  sie  durch  die 
Tätigkeit  des  Herzens  ausgelöst  werden. 

Dieses  auffällig  geringe  Atmungsbedürfnis  bei  sonst  gut  erhaltenen 
Funktionen  beweist  uns  nochmals,  daß,  wie  wir  oben  bei  Besprechung 
der  Pathologie  des  Pneumothorax  schon  betonten,  nicht  der  funk- 
tionelle Wegfall  der  Lunge  und  die  daraus  resultierende  Verminderung 
der  Atmungsgröße  die  Störungen  herbeiführen  können. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einer  weiteren  wichtigen  Tatsache,  die  sich 
bei  Experimenten  in  meiner  Kammer  ergeben  hat,  das  ist  die  Möglich- 
keit, genauer  als  bisher  den  negativen  Druck  in  der  Brusthöhle  zu  be- 
stimmen. Ein  genauer  Maßstab  für  die  bestehende  physiologische  Druck- 
verminderung der  Brusthöhle  ist  das  feste  Anliegen  der  Lungenober- 
fläche an  der  inneren  Seite  der  Brustwand.    Solange  noch  ein  Raum 

1)  Vielleicht  kommen  auch  geringe,  durch  die  Tätigkeit  der  Pumpe 
bedingte  Luftdruckschwankungen  in  Frage. 


476  Sauerbruoh, 


I 


zwischen  Lunge  und  Brustwand  besteht,  solange  ist  die  Druckverminde- 
rung in  der  Kammer  noch  nicht  ausreichend.  Für  die  Exspirationsstel- 
lung  ist  sie  wiederum  geringer  als  für  die  Inspirationsstellung,  und 
dadurch,  daß  wir  den  Druck  für  beide  Phasen  so  gering  machen,  daß 
die  Lunge  der  Innenwand  des  Brustkorbes  eng  anliegt,  haben  wir  die 
"Möglichkeit,  genau  den  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  bestehenden 
negativen  Druck  der  Brusthöhle  zu  bestimmen.  Es  ergibt  sich,  daß 
die  bisherigen  auf  andere  Arten  gefundenen  Werte  von  den  jetzigen 
abweichen,  und  zwar  übereinstimmend  so,  daß  sie  zu  gering  angegeben 
sind.  Es  liegt  dies  zum  großen  Teil  wohl  an  der  Unzuverlässigkeit  der 
früheren  Methoden.  Das  luftdichte  Einführen  von  Kanülen  in  die  Brust- 
höhle durch  die  Brustwand  hindurch  ist  sehr  schwierig  trotz  aller  für 
diesen  Zweck  besonderen  Konstruktionen  (z.  B.  das  Manometer  nach 
Bt^DiNOER).  Die  Messung  des  Pleuradruckes  in  der  Speiseröhre  er- 
gibt ebenfalls  ungenaue  Werte,  die  von  der  Kontraktion  ihrer  musku- 
lösen Wand  abhängen.  Die  Maße  bei  Menschen  sind  von  Donders 
zuerst  experimentell  gefunden  worden,  und  zwar  an  der  Leiche.  Er 
nahm  als  Durchschnittswert  — 7,5  an.  Diese  Werte  sind  von  Aaron 
am  Lebenden  nachgeprüft,  der  einen  etwas  höheren  Druck  fand.  Nach 
unseren  Beobachtungen  herrscht  in  der  Brusthöhle  des  Kaninchens  ein 
negativer  Druck  von  etwa  4—6,  bei  kleinen  Hunden  6—8,  bei  mittleren 
von  7 — 9  und  bei  großen  von  9—15  mm  Hg.  Beim  Menschen  scheint 
nach  unseren  bisherigen  Beobachtungen  das  Minimum  der  Verdünnung 
in  der  Operationskammer  10—15  mm  Hg  zu  betragen. 

Wichtig  für  den  Chirurgen,  namentlich  in  praktischer  Beziehung, 
sind  die  Pleurareflexe.  Ich  verstehe  darunter  den  infolge  des  Eindrin- 
gens der  Luft  in  die  Pleurahöhle  auf  die  feinsten  Nervenendungen  aus- 
geübten Reiz,  der  reflektorisch  durch  ein  schnelles  forciertes  Atmen 
mit  Sinken  des  Blutdruckes  und  Beschleunigung  des  Pulses  beantwortet 
wird.  Es  ist  diese  Aenderung  der  Respiration  nicht  zu  verwechseln 
mit  derjenigen,  die  beim  Pneumothorax  eintritt  und  bei  Eröffnung  der 
Brusthöhle  in  meiner  Kammer  ja  vollständig  fortfällt  Der  Unterschied 
liegt  darin,  daß  beim  PneumoÜiorax  auch  in  der  Narkose  diese  Stö- 
rungen bestehen  bleiben,  während  sie  im  anderen  Falle  verschwinden. 
Es  erinnert  die  Form  der  Atmung  sehr  an  eine  Art  Husten  (Pleura- 
husten)  oder  an  das  forcierte  Atmen,  wie  es  bei  Stöhnen  und  Schreien 
auch  bei  Menschen  gelegentlich  beobachtet  wird:  Langes  Exspirium 
mit  Anstrengung  aller  Hilfsapparate  und  kurzes  ruckweises  Inspirium. 
In  tiefer  Narkose  habe  ich  nie  diese  Aenderung  bei  Eröfihung  der 
Brusthöhle  beobachten  können,  weder  am  Pulse  noch  an  der  Form 
der  Atmung  war  die  geringste  Abänderung  festzustellen.  Sobald  aber 
die  Tiefe  der  Narkose  nachläßt,  haben  wir  sofort  mit  dem  Eintritt 
dieser  Pleurareflexe  zu  rechnen,  die  unter  Umständen  eine  unangenehme 
Komplikation  bedeuten.     Man   hat  geradezu  in  der  Art  der  Atmung 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  477 

einen  Indikator  für  die  Tiefe  der  Narkose.  Ich  glaube,  daß  mehr  noch 
als  beim  Tiere  beim  Menschen  diese  Reflexe  zu  berücksichtigen  sind, 
wie  weit,  das  werden  spätere  Erfahrungen  lehren.  Jedenfalls  möchte 
ich  für  die  Operationen  am  Menschen  eine  tiefe  Narkose 
empfehlen,  solange  die  Pleurahöhle  offen  ist  und  Reflexe 
durch  das  Eindringen  derLuft  und  durch  die  mechanische 
Berührung  der  Pleuraoberfläche  ausgelöst  werden  können. 

Nachdem  wir  gesehen  haben,  daß  dieses  Verfahren  ohne  jegliche 
schädliche  Rückwirkung  auf  den  Organismus  angewandt  werden  kann, 
bleibt  uns  nur  noch  übrig,  auf  einige  Vorteile  gegenüber  der  künst- 
lichen Atmung  einzugehen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  das  intersti- 
stielle  Lungenemphysem,  das  wir  als  direkte  Folge  des  künstlichen  Ein- 
pumpens  der  Luft  in  die  Lungen  kennen  lernten,  durch  die  Art  unseres 
Verfahrens  wegfallen  muß.  Die  fortwährend  in  normaler  Stellung  auf- 
geblähten Lungen  werden  genau  wie  unter  physiologischen  Verhält- 
nissen ausschließlich  von  dem  mechanischen  Atmungsapparat,  der 
Thoraxmuskulatur  und  dem  Zwerchfell  bewegt.  Dabei  werden  die  phy- 
siologischen Grenzen  eingehalten  und  alle  Schädigungen  des  Lungen- 
gewebes vermieden.  Das  für  den  Operateur  hinderliche  Schwanken  des 
Lungenvolumens  zwischen  vollständigem  Kollaps  und  nötiger  Blähung 
ist  ausgeschlossen. 

Der  Wärmeverlust,  der,  wie  wir  sahen,  bei  der  künstlichen  Atmung 
ganz  besonders  groß  war,  ist  bei  uns  allerdings  auch  vorhanden,  aber 
in  weit  geringerem  Maße  als  dort  Ich  habe  an  vielen  Tieren  nach 
vollständiger  Resektion  des  Brustkorbes  Messungen  von  über  V2  Stunde 
Dauer  vorgenommen  und  nie  mehr  als  Temperaturabnahmen  von  einem 
Grad  gefunden.  Es  hängt  wahrscheinlich  dieser  geringe  Wärmeverlust 
damit  zusammen,  daß  in  der  Kammer  eine  ziemlich  hohe  Temperatur 
herrschte  und  Luftströmungen  nur  in  geringem  Maße  vorhanden  waren. 

Die  schädliche  Rückwirkung  der  Eröffnung  der  Brusthöhle  auf  die 
Zirkulation,  die  bei  künstlicher  Atmung  besteht,  habe  ich  oben  eingehend 
besprochen. 

Durch  mein  Verfahren  wird  an  den  Druckverhältnissen  in  der  Brust- 
höhle gegen  die  Norm  nichts  verändert;  die  Differenz  zwischen  dem 
Druck  in  der  Pleurahöhle  und  auf  ihre  Gefäße,  und  dem  Druck  im 
Lungeninneren  und  auf  die  Alveolargefäße  bleibt  dieselbe.  Die  Ver- 
wendung des  oben  beschriebenen  Hohlcylinders  oder  besser  noch  des 
Sackes,  der  es  uns  ermöglicht,  die  Körperoberfläche  unter  dem  physio- 
logischen Atmosphärendruck  zu  lassen,  gewährleistet  auch  bezüglich  der 
Aspiration  der  Brusthöhle  auf  die  großen  Körpervenen  physiologische 
Verhältnisse.  Hier  möchte  ich  noch  einmal  betonen,  daß  gerade  für 
den  Menschen  die  Beibehaltung  der  normalen  Zirkulationsverhältnisse 
meines  Erachtens  ein  nicht  zu  unterschätzender  Vorteil  meines  Ver- 
fahrens gegenüber  der  künstlichen  Atmung  ist. 


478  Sauerbruch, 

Für  praktische  Zwecke  springt  aber  am  meisten  der  Vorteil  in  die 
Augen,  daß  wir  nach  Beendigung  der  Operation  nicht  mehr  mit  den 
Schwierigkeiten  der  Pneumothoraxbeseitigung  zu  kämpfen  haben.  Wenn 
man  nach  ausgedehnter  Eröffnung  der  Brusthöhle  mit  Zurückdrängen 
der  Lunge  und  Abtamponieren  des  Operationsgebietes,  genau  so,  wie 
man  es  bei  den  Laparotomien  tnacht,  die  Operation  beendigt  hat  und 
durch  Entfernung  des  Tampons  der  Lunge  Gelegenheit  gibt,  sich  in- 
folge des  intrabronchialen  Ueberdrucks  wieder  auszudehnen,  so  ist  jeder 
Pneumothorax  verschwunden.  Die  Lunge  legt  sich  mit  ihrer  Ober- 
fläche eng  an  die  Innenseite  der  Brustwand  an,  so  daß  jeder  Zwischen- 
raum zwischen  den  beiden  Pleurablättern  beseitigt  wird,  d.  h.  nor- 
male Verhältnisse  entstehen.  Es  bleibt  jetzt  nur  noch  übrig,  für 
einen  sicheren  luftdichten  Verschluß  der  Wunde  zu  sorgen,  eine  Forde- 
rung, die  man  nach  unserer  Erfahrung  sehr  leicht  erfüllen  kann, 
wenn  man  zuerst  die  Pleura  allein,  oder  aber,  wo  diese  zu  dünn  ist, 
die  Pleura  und  die  Interkostalmuskulatur  vernäht  und  zwar  am  besten 
fortlaufend,  und  wenn  man  darüber  die  Thoraxmuskulatur  legt  und  sie  so 
vernäht,  daß  die  Nahtlinie  seitwärts  von  der  ersten  kommt,  und  schließ- 
lich darüber  die  Haut  durch  fortlaufende  Naht  gut  verschließt.  So  hat 
man  mit  dieser  Drei-Etagennaht  eine  wirklich  sichere  Garantie,  daß 
sekundär  keine  atmosphärische  Luft  in  die  Pleurahöhle  eindringt ;  jeden- 
falls haben  wir  bei  unseren  zahlreichen  Operationen  am  Tier  niemals 
später  einen  Pneumothorax  beobachtet.  Auch  für  die  Fälle,  wo  eine 
primäre  Naht  der  Brustöffnung  nicht  möglich  ist  und  die  Drainie- 
rung  in  Frage  kommt,  kann  man  sich  vor  dem  Eintritt  eines  sekun- 
dären Pneumothorax  mit  Sicherheit  schützen.  Man  braucht  nur,  wie 
Schede  es  bei  seiner  Empyembehandlung  getan,  die  Wunde  durch 
einen  luftdichten  Verband  abzuschließen ;  am  besten  erreicht  man  diesen 
Verschluß  durch  einen  feuchten  Verband,  über  den  man  noch  eine 
Lage  Billrothbatist  oder  Guttaperchapapier  legt  und  mit  mehreren  Mull- 
binden fixiert.  Einen  eventuell  nötigen  Verbandwechsel  müßte  man 
dann  wie  die  Operation  unter  Minusdruck  vornehmen.  Oder  aber  man 
bedient  sich  einer  sehr  praktischen  Modifikation  des  PERTHESschen  Ver- 
fahrens, die  Herr  Geh.-Rat  v.  Mikulicz  angab,  lieber  die  offene  Thorax- 
wunde wird  ein  Glascylinder  gestülpt,  der  oben  durch  eine  Gummikappe 
luftdicht  geschlossen  ist,  und  mit  einer  Wasserstrahlpumpe  oder  einem 
MüLLERschen  Ventil  in  Verbindung  gebracht  werden  kann.  Am  anderen 
Ende  des  Cylinders  ist  ein  breiter  Gummikragen  angebracht,  der  sich 
luftdicht  auf  die  mit  Lanolin  bestrichene  Haut  legt  und  so  einen  sicheren 
Abschluß  gegen  die  äußere  Luft  garantiert.  Wir  haben  uns  bereits  in 
zwei  Fällen  von  Lungengangrän  mit  Erfolg  dieses  Apparates  bedient. 
Außerdem  haben  wir  eine  Art  Taucherhemd  herstellen  lassen,  das  auch 
luftdicht  um  die  Brust  gelegt  wird.  Im  Innern  wird  dann  durch  Aspi- 
ration ein  Minusdruck  von  etwa  10  mm  Hg  erzeugt. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  479 

Nun  noch  einige  Beobachtungen  am  Herzen.  Zunächst  kann  man 
sehr  schön  nach  der  Eröffnung  der  Brust  in  der  Kammer  seine  Tätig- 
keit beobachten.  Die  Art  seiner  Kontraktion,  die  Lageverschiebung, 
die  bei  seiner  Arbeit  eintritt,  seine  Färbung  und  dergleichen  mehr.  Da- 
rauf möchte  ich  aber  in  dieser  Arbeit  nicht  eingehen,  sondern  nur  einige 
Tatsachen  mitteilen,  die  für  die  Chirurgen  Bedeutung  haben.  Zunächst 
<iie  Verschiebung  des  Herzens.  Es  ist  eigentümlich,  wie  weit  ich  das 
Herz  zur  Seite  drücken  kann,  ohne  daß  es  in  seiner  Tätigkeit  gehemmt 
wird;  ja  eine  vollständige  Luxation  des  Herzens  aus  der  Brusthöhle 
heraus  kann  man  kurze  Zeit  versuchen.  Das  ist  wichtig  für  Eingriffe  hinter 
dem  Herzen  (Mediastinum).  Ferner  wird  die  Kompression  der  Aorta  und 
der  großen  Hohlvenen  auch  für  eine  Zeitlang  gut  ertragen.  Es  besteht 
allerdings  ein  wesentlicher  Unterschied,  welchen  Teil  der  Aorta  ich 
komprimiere:  vor  Abgang  der  Halsschlagadern  oder  nachher;  im  ersten 
Falle  treten  schon  nach  2 — 3  Minuten  Krämpfe  ein,  die  wahrscheinlich 
auf  den  Reiz  des  kohlensäureüberladenen  Blutes  auf  das  Gehirn  zurück- 
zuführen sind.  Im  anderen  Falle  kann  man  ruhig  die  Kompression  bis 
zu  einer  halben  Stunde  fortsetzen,  ohne  daß  Störungen  entstehen.  Sehr 
schlecht  wird  die  Kompression  der  Lungengefäße  vertragen.  Es  tritt 
schon  nach  kurzer  Zeit  Dyspnoe  ein,  und  im  Anschluß  daran  kommt  es 
zu  Krämpfen.  Man  kann  dabei  bemerken,  wie  das  linke  Herz,  das  sich 
normalerweise  durch  seine  hellrote  Farbe  scharf  vom  rechten  abhebt, 
immer  dunkler  wird  und  wie  schließlich  eine  Farbendifferenz  zwischen 
beiden  Seiten  nicht  mehr  zu  erkennen  ist.  Wenn  man  mit  dem  Drucke 
wieder  nachläßt,  so  erholt  sich  das  Herz  sehr  bald;  die  Frequenz  seiner 
Tätigkeit  und  die  Größe  seiner  Kontraktionen  nehmen  wieder  zu,  und 
die  normalerweise  bestehenden  Farbenunterschiede  treten  wieder  zu  Tage. 

Ferner  kann  man  beobachten,  wie  jede  mechanische  Berührung 
des  Herzmuskels  durch  einen  ganz  kurzen  Herzstillstand  mit  folgender 
Beschleunigung  der  Schlagfolge  beantwortet  wird.  Schon  die  Eröffnung 
des  Herzbeutels  wirkt  in  diesem  Sinne. 

Auch  mit  anderen  physiologischen  Fragen  habe  ich  mich  be- 
schäftigt, auf  deren  Wiedergabe  ich  zunächst  verzichte;  es  genügte  mir 
fürs  erste,  die  physikalischen  und  physiologischen  Grundlagen  meines 
Verfahrens  niederzulegen.  Alle  speziellen  Untersuchungen,  denen  man 
durch  dieses  Verfahren  jetzt  näher  treten  kann,  Untersuchungen  über 
die  Herztätigkeit,  über  die  Atmung  der  Lungen,  über  Nerveneinflüsse 
u.  s.  w.  müssen  wir  weiteren  Arbeiten  überlassen. 

Ebenso  verzichte  ich  auf  eine  Wiedergabe  unserer  chirurgischen 
Erfahrungen  am  Tier,  die  übrigens  Herr  Geheimrat  v.  Mikulicz  in 
No.  15  und  16  der  Deutschen  Medizinischen  Wochenschrift  kurz  be- 
sprochen hat.     Wenn    wir    erst  Erfahrungen    am  Menschen  ^)    haben 


1)  Herr  Prof.  v.  Mikulicz  hat  bis  jetzt  10  Fälle  in  der  Kammer  operiert. 

Mitten,  a.  d.  OranxivbifltMi  d.  Medixin  a.  CUrorgl«.    Xm.  Bd.  S\ 


480  Sauerbrach, 

werden,  so  soll  auch  die  rein  praktisch  chirurgische  Seite  berücksichtigt 
werden. 

Ich  schließe  mit  dem  Wunsche,  daß  meine  Untersuchungen  von  mög- 
liehst  vielen  anderen  nachgeprüft  bezw.  erweitert  werden.  Es  war  in» 
Anfang  meine  Absicht,  alle  sich  ergebenden  Fragen  experimentell  zu 
untersuchen  und  möglichst  vollständig  dieses  neue  Gebiet  zu  behandeln. 
Darauf  habe  ich  verzichten  müssen,  einmal  weil  ich  damit  die  vorher- 
gehende Abhandlung  noch  weiter  hätte  herausschieben  müssen,  haupt* 
sächlich  aber  deshalb,  weil  einer  allein  wohl  kaum  dieser  Arbeit  ge- 
wachsen ist,  andererseits  man  auch  wünschen  muß,  daß  möglicht  voit 
verschiedenen  Seiten  die  Untersuchungen  vorgenommen  werden.  Deir 
Herren,  die  mit  großer  Ausdauer  bei  meinen  Versuchen  assistierten,, 
den  Kollegen  von  der  Klinik,  Herren  Dr.  Goebel  und  AnschOtz,  und 
ganz  besonders  Herrn  Dr.  Harms  danke  ich  auch  hier.  Daß  ich  die 
Arbeit  ausschließlich  der  Anregung  des  Herrn  Geh.-Rat  v.  Mikulicz 
verdanke  und  sie  nur  durch  die  Liebenswürdigkeit  von  Herrn  Geh.-Rat 
FiLEHNE  zu  Ende  führen  konnte,  habe  ich  schon  in  meiner  vorläufigen 
Mitteilung  betont.  Auch  an  dieser  Stelle  danke  ich  den  Herren  dafür. 
Schließlich  möchte  ich  noch  die  Ausdauer  anerkennen,  mit  der  der  Me* 
chaniker  des  pharmakologischen  Institutes,  Herr  Klapper,  mich  während 
des  Winters  bei  dem  technischen  Teile  der  Arbeit  unterstützte. 


Literatur 

der  im  Texte  nicht  näher  angegebenen  Arbeiten. 

1)  Aron,  Experimentelle  Studien  über  den  Pneumothorax.  Virchow» 
ArcL,  Bd.  145. 

2)  Bardbkhbübr,  Verhandlungen  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte^ 
Hamburg  1901. 

3)  Bardbnheubb-Arnold,  Ein  Fall  von  Pneumothorax  wegen  Fremdkörper^ 
ehe  Eiterung  eingetreten.  Mitteil.  a.  d.  Orenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.^ 
Bd.  4,  1899,  8.  Heft. 

4)  Blümbnthal,  Experimentelle  Untersuchungen  über  den  Lungengas- 
Wechsel  bei  den  verschiedenen  Formen  des  Pneumothorax.  Oes.  Arb» 
a.  d.  med.  Klinik  zu  Dorpat,  Wiesbaden  1898. 

5)  Bodingbn,  Experimentelle  Untersuchungen  der  normalen  und  patho- 
logisch beeinflußten  Druckschwankungen  im  Brustkasten.  Arch.  f.  exp. 
Patholog.,  Bd.  39,  p.  245. 

6)  Endbrlbn,  Ein  Beitrag  zur  Chirurgie  des  hinteren  Mediastinums.  Dtsch» 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  61. 


Zur  Pathologie  des  offenen  Pneumothorax  etc.  481 

7)  Oarrä  u.  Sultan,  Kritischer  Bericht  über  20  Lungenoperationen  aus 
der  Rostocker  und  Königsberger  Klinik.  Beiträge  z.  klin.  Chirurgie, 
Bd.  32. 

8)  Gilbert  et  Eooer,  £tude  experimentale  sur  le  pneumothorax  et  sur 
les  röflexes  d'origine  pleurale.  Rev.  de  mM,,  No.  288,  Nov.  12, 
p.  122. 

9)  OuTTMANN,  Ein  Beitrag  zur  Physiologie  und  Pathologie  der  Respiration. 
ViRCHOws  Arch.,  Bd.  39,  p.  115  S. 

10)  Hermann,  Handbuch  der  Physiologie. 

11)  —  Lehrbuch  der  Physiologie, 

12)  Hnätek,  Untersuchungen  über  die  Störungen  des  Blutkreislaufes  und 
der  Atmung  beim  Pneumothorax.  Allg.  Wien.  med.  Ztg.,  1898,  p.  267, 
279,  301,  813. 

13)  KsLLiNG,  Zur  Technik  der  intrapleuralen  Oesophagusresektion.  Gentral- 
blatt  f.  Chir.,  1904,  No.  20. 

14)  KoENio,  Fr.,  Lungenchirurgie.  Handbuch  der  praktischen  Medizin, 
Bd,  1,  1898. 

16)  Kortewbo,  Fremdkörper  in  der  Lunge.  Weekblad  van  het  Neederl. 
Tydschr.  voor  Oeneeskunde,  No.  22,  ref.  Münch.  med.  Wochenschr., 
Bd.  4,  1902. 

16)  Krbhl,  Physiologische  Pathologie. 

17)  Kreps,  Ueber  die  Atmungsbewegungen  bei  den  verschiedenen  Formen 
des  Pneumothorax.  Oes.  Arb.  a.  d.  med.  Klinik  zu  Dorpat,  1898, 
p.  413. 

18)  Lbichtenstbrn,  Ueber  den  Pneumothorax.  Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  7, 
p.  197. 

19)  Libvsn,  Ueber  den  Blutdruck  bei  den  verschiedenen  Formen  des 
Pneumothorax.     Diss.  Dorpat  (Karow),  1898. 

20)  Lbnhartz,  Die  übrigen  Krankheiten  der  Lunge.  Handbuch  der  prak- 
tischen Medizin,  1898. 

21)  MOllbr,  W.,  Thorax  -  Lungenresektionen. .  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir., 
Bd.  37. 

22)  Matas,  R.,  On  the  management  of  acute  traumatic  pneumothorax. 
Ann.  of  surg.,  Vol.  29,  1894. 

28)  Quincke,  Ueber  die  Pneumotomie.  Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med., 
u.  Chir.,  1896. 

24)  Reclüs,  La  Chirurgie  du  poumon.     Bev.  de  chir.,  1895. 

25)  Rbinbboth,  Experimentelle  Studien  über  die  Wiederausdehnung  der 
Lunge  bei  offener  Brusthöhle.     Habilitationsschrift  Halle,  1897. 

26)  —  Experimentelle  Untersuchungen  über  den  Entstehungsmodus  der 
Sugillationen  der  Pleura  infolge  von  Abkühlung.  Dtsch.  Arch.  f.  klin. 
Med.,  Bd.  65,  p.  68. 

27)  Rodet  et  Poür&at,  Becherches  experimentales  sur  le  pneumothorax 
par  plaie  p6n6trante  de  la  poitrine.  Arch.  de  physiolog.  mouL  et 
patholog.,  1892. 

28)  Sackür,  Zur  Lehre  vom  Pneumothorax.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  29, 
I  u.  n. 

29)  —  Weiteres  zur  Lehre  vom  Pneumothorax.    Virchows  Arch.,  Bd.  150. 

30)  Sehrwald,  Zum  Atmungsmechanismus  beim  offenen  Pneumothorax. 
Dtsch.  med.  Wochenschr.,  Bd.  19,  1889. 

31)  Tautzk,  Ueber  den  Einfluß  der  Lungenvagusfasern  auf  die  künstliche 
Atmung.     Ung.  Arch.  f.  Med.,  Bd.  1.  p.  897—404. 

31* 


482     Sauerbruch,  Zur  Pathologie  des  oflPenen  Pneumothorax  etc. 

32)  TuFFiBR  et  Hallion,  Operations  intrathoraciques  avec  respiratoire 
arteficielle  par  insufSation.  Gompt.  rend.  Soc.  de  Biol.,  21.  Nov.  1896, 
p.  961. 

33)  —  Etüde  experimentale  sur  la  Chirurgie  du  poumon.  Sur  les  eflfets 
circulatoires  de  la  respiratoire  arteficielle  par  insufflation  et 
de  rinsuMation  maintenue  du  poumon.  Ebenda,  12.  Dez.  1896, 
p.  1047. 

34)  —  Sur  la  r^gulation  de  la  pression  intra-bronchique  et  de  la  narcose 
dans  la  respiratoire  arteficielle  par  Pinsufflation.  Ebenda,  19.  Dez. 
1896,  p.  1086. 

35)  Waldenbubg,  Die  pneumatische  Behandlung  der  Bespirations-  und 
Zirkulationsstörungen.     Berl.  klin.  Wochenschr.,  1873,   No.   46   u.  47. 

86)  Weil,  Zur  Lehre  vom  Pneumothorax.  Dtsch.  Arch.  f.  klin.  Med., 
Bd.  25. 


Aus  der  medizinischen  Klinik  zu  Heidelberg  (Direktor:  Geh.-Rat  Erb). 


Nachdruck  Terboten. 

XYIIL 

Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfolgen 

mit  Hilfe  des  UeberdruckverfahrensO» 

Von 

Dr.  li.  Brauer, 

a.  o.  Professor  in  Heidelberg. 
(Hierzu   2   Abbildungen   im   Texte.) 


Im  Centralblatt  für  Chirurgie,  1904,  Heft  6,  gab  Sauerbrugh 
ein  Verfahren  zur  Ausschaltung  der  schädlichen  Wirkungen  des  Pneumo- 
thorax bei  intrathorakalen  Operationen  bekannt  Der  Autor  bemühte 
sich,  da  die  bisher  üblichen  Methoden  der  künstlichen  Atmung  sich  als 
unzulänglich  erwiesen  hatten,  die  schädlichen  Folgen  des  atmosphä- 
rischen Druckes  auf  der  Lungenaußenfläche  dadurch  auszuschalten,  daß 
er  einen  entsprechenden  negativen  Druck  in  demjenigen  Teile  des  Ope- 
rationsraumes herstellte,  mit  welchem  die  zu  eröffnende  Pleurahöhle  in 
oflfene  Verbindung  zu  treten  hat.  Zunächst  konstruierte  Saüerbrügh, 
wie  er  berichtet,  einen  primitiven  Apparat,  welcher  diesen  Anforde- 
rungen gerecht  wurde.  Nach  günstigen  Erfahrungen  bei  diesem  Vor- 
gehen kam  der  Autor  dann  zur  Konstruktion  einer  größeren  Kammer, 
welche  einem  Operationstische  sowie  zwei  Operateuren  Platz  bot  Dieser 
Kammer  wurde  das  Tier  resp.  der  Mensch  so  eingedichtet,  daß  der 
Thorax  innerhalb,  der  Kopf  außerhalb  derselben  sich  befand. 

Die  Herstellung  einer  gewissen  Luftverdünnung  in  der  Kammer, 
welche  die  Insassen  in  keiner  Weise  belästigte,  ermöglichte  es,  die 


1)  In  meinem  Aufsätze  „Ueber  Operationen  in  der  Brusthöhle  mit  Hilfe 
der  SAUBRBRucHschen  Kammer"  in  No.  15  u.  16  der  Dtsch.  med.  Wochen- 
schrift 1904  habe  ich  der  Prioritätsfrage  Erwähnung  getan,  welche  zwischen 
Herrn  Dr.  Sauerbruch  und  Herrn  Prof.  Brauer  bezüglich  des  üeberdruck- 
yerfahrens,  d.  h.  der  Umkehrung  des  ursprünglich  SAUERBRUCHschen  Ver- 
fahrens, entstanden  ist.  Ich  benutze  gern  diese  Gelegenheit,  um  ausdrücklich 
hervorzuheben,  daß  durch  die  uns  gegebenen  Aufklärungen  einwandsfrei 
dargelegt  ist,  daß  Herr  Prof.  Brauer  ganz  unabhängig  und  ohne  von 
unseren  dahingehenden  Versuchen  Kenntnis  zu  haben,  auf  die  Idee  des 
Ueberdruckverfahrens  gekommen  ist  und  dieselbe  technisch  durchzuführen 
unternommen  hat.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß,  wenn  sich  das  üeberdruck- 
verfahren  nicht  nur  im  Tierexperiment,  sondern  auch  für  den  Menschen 
bewähren  sollte,  dies  eine  wesentliche  technische  Vereinfachung  der  ganzen 
Methode  bedeuten  würde.  v.  Mikulicz. 


484  L.  Brauer, 

Lungen,  auf  deren  Innenfläche  der  gewöhnliche  atmosphärische  Druck 
lastete,  gebläht  zu  erhalten. 

Die  Erfolge,  die  Sauerbruch  mit  diesem  Verfahren  erzielte,  mußten 
nicht  nur  den  Chirurgen,  der  von  dieser  Methode  eine  wesentliche  För- 
derung des  chirurgischen  Vorgehens  erhoffen  durfte,  aufs  äußerste  fesseln, 
sondern  auch  die  Aufmerksamkeit  des  internen  Mediziners  speziell  im 
Hinblick  auf  experimentell  pathologische  Untersuchungen  erregen. 

Die  Schwierigkeit  des  Verfahrens,  wie  Sauerbruch  es  in  seiner 
ursprünglichen  Publikation  angab,  lag  nun  in  der  Herstellung  der  ge- 
nannten Kammer,  welche  es  ermöglichte,  unter  Anwendung  eines  ge- 
wissen Unterdruckes  die  Lungen  gebläht  zu  erhalten,  ganz  abgesehen 
von  den  kleineren  Belästigungen,  über  die  Sauerbruch  selbst  be- 
richtete und  welche  selbstverständlich  als  sekundär  leicht  in  den  Kauf 
zu  nehmen  wären.  Die  Notwendigkeit  einer  solchen  Kammer  hätte  es 
wohl  den  meisten  Physiologen  unmöglich  gemacht,  das  an  sich  so  ein- 
leuchtende Verfahren  zur  Anwendung  zu  bringen.  So  suchte  ich  denn 
den  eigenartigen  Gedankengang  Sauerbrughs  in  veränderter  Weise  zu 
technischer  Ausführung  zu  bringen^). 

Das  prinzipiell  eigenartige  dessen,  was  Sauerbruch  in  der  oben- 
genannten Publikation  brachte,  lag  in  folgendem: 

Mit  Hilfe  der  Kammer  wurde  eine  konstante  Druckdififerenz  zwischen 
Außen-  und  Innenfläche  der  Lungen  hergestellt;  hierdurch  wurden  die 
Lungen  in  demjenigen  Dehnungszustande  erhalten,  welcher  ihnen  unter 
normalen  Verhältnissen  durch  die  Elastizität  der  Thoraxwand  aufge- 
zwungen wird.  Es  blieb  ferner  dem  Vermögen  des  Tieres  durchaus  an- 
heimgestellt, Modus  und  Schnelligkeit  der  Atmung  selbst  zu  regulieren. 

Diese  beiden  Bedingungen  glaubte  ich  nun  auch  dadurch  erfüllen 
zu  können,  daß  ich  die  konstante  Druckdifferenz  mittels  intrabronchialer 
Druckerhöhung*)  herstellte. 

Sauerbrugh^)  hatte,  wie  sich  später  herausstellte,  gleichfalls,  und 
zwar  vor  mir,  mit  Ueberdruck  Versuche  angestellt;  er  hatte  auch  im 
Verein  mit  Mikulicz  einen  weiteren  Ausbau  dieses  Vorgehens  in 
Ueberlegung  gezogen,  dieses  aber  im  wesentlichen  deswegen  nicht 
getan,  weil  er  nach  seinen  Studien  über  das  Verfahren  die  Anwendung 
des  Ueberdruckes  nicht  für  so  unbedenklich  hielt,  wie  das  Unterdruck- 
verfahren. „Es  kommt  —  so  heißt  es  in  der  Publikation  von  Mikulicz*) 
—  zwar  dabei  nicht  zu  den  hohen  Druckwerten,  wie  sie  bei  der  Ent- 


1)  Bbaubr  und  Petersen,  Ueber  eine  wesentliche  Vereinfachung  der 
künstlichen  Atmung  nach  Sauerbruch,  Hoppe-Seylers  Zeitschr.  f.  physiol. 
Chemie,  Bd.  41,  1904,  Heft  4. 

2)  Ueber  die  bisherigen  Versuche,  die  künstliche  Atmung  der  Physio- 
logen (rhythmische  Aufblähung  der  Lungen)  am  Menschen  zu  verwenden; 
siehe  bei  Garr^  und  Quimokb,  OrundriE  der  Luugenchirurgie,  p.  45  ff. 

3)  Centralbl.  f.  Chir.,  1904,  No.  14. 

4)  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1904,  No.  15,  p.  530. 


Die  Ausschaltimg  der  Pneumothoraxfolgen  etc. 


485 


-stehung  der  verschiedenen  Luftdruckerkrankungen  in  den  Caissons  beob- 
achtet werden.  Trotzdem  ist  es  denkbar,  daß  durch  einen  schon  ge- 
ringen Druck  in  den  Atemwegen,  zumal  bei  dem  tief  narkotisierten  Pa- 
tienten Zirkulationsstörungen  (namentlich  in  den  Lungen)  leichter  ent- 


Fig.  1. 


stehen  als  beim  Unterdruck  verfahren.  Sicher  folgt  ein  Sinken  des 
arteriellen  Blutdruckes  und  eine  Steigerung  des  Körpervenendruckes." 
{Siehe  hierzu  meine  Ausführungen  p.  488  ff.) 

Das  Verfahren,  welches  ich^)  bei  der  Anwendung  des  Ueberdruckes 
zunächst  einschlug  und  das  sich  zu  Zwecken  der  experimentellen  Patho- 
logie mir  und  anderen  vielfach  bewährt  hat,  war  das  folgende  (cf.  Fig.  1) : 

1)  In  der  Münch.  med.  Wochenschr.,  1904,  p.  1172,  £ndet  sich  eine 
Diskussionsbemerkung  von  Kbllinq,  in  welcher  dieser  Autor  sagt,  er 
habe  schon  vor  2  Jahren  Versuche  über  die  Chirurgie  der  Speiseröhre 
gemacht  und  ein  Verfahren  der  künstlichen  Atmung  ausgearbeitet,  welches 
im  Prinzip  dem  Verfahren  von  Braubb  und  Pbtbrsbn  gleicht. 

Die  diesbezügliche  Notiz  selbst  lautet:  Münch.  med.  Wochenschr., 
1903,  p.  310:  „Was  die  Frage  der  Zugänglichmachung  des  hinteren 
Mediastinums  anlange,  so  halte  er  (Kbllino)  nach  eigenen  Operationen 
am  Tiere  dieselbe  technisch  zwar  für  ausführbar,  günstige  Resultate  aber 
durch  die  stets  eintretenden  Infektionen  für  ausgeschlossen.  Infolge  der 
Ansaugung  des  Gewebes  während  der  Inspiration  ist  ein  Scheitern  des 
Erfolges  unausbleiblich.  Nur  zwei  Wege  gibt  es,  den  tödlichen  Ausgang 
durch  Infektion  zu  verhüten:  1)  durch  Einatmung  komprimierter  Luft  und 
Exspiration  gegen  Widerstand,  und  2)  durch  Aspirationsdrainage. 

Im  Centralbl.  f.  Chir.,  1904,  No.  20,  schreibt  Kbllino:  „  .  .  .  bei 
Operationen  im  Mediastinum  dürfe  kein  negativer  Druck  vorhanden  sein. 
Es  müsse  im  Gegenteil  Ueberdruck  vorhanden  sein,  damit  die  Lymphe 
von  den  Wundflächen,  anstatt  angesaugt  zu  werden,  abströmt.  Zu  diesem 
JZ wecke  müsse  die  künstliche  Atmung  so  eingerichtet  sein,  daß  bei  ihr 
gegenüber  der  gewöhnlichen  künstlichen  Atmung  der  Physiologen  nicht 
nur  komprimierte  Luft  eiugeblasen  wird,  sondern  auch  die  Exspiration 
^egen  Widerstand  erfolgt.  Ich  (Kblling)  hatte  zu  diesem  Zwecke  eine 
kleine  Kammer  benützt  mit  Ventil  und  Manometer,  welche  mit  der  Trachea 
durch   eine  Tamponkanüle  luftdicht  verbunden  wurde.     Es   ist  ganz   das- 


486  L.  Brauer, 

Eine  Sauerstoffbombe  mit  Reduktionsventil  liefert  in  bequemster 
Weise  die  nötige  Atemluft  und  den  erforderlichen  Druck;  daß  auch 
eine  Druckluftquelle,  z.  B.  ein  Wasserstrahlgebläse,  sich  verwenden 
läßt,  ist  selbstverständlich.  Die  Luftleitung  geht  von  hier  zunächst 
an  ein  Y-Rohr  und  von  diesem  entweder  direkt  an  ein  zweites  Y-Rohr 
oder  durch  eine  Aetherflasche  hindurch  und  erst  von  hier  aus  zu  dem 
zweiten  die  Leitungen  wieder  vereinenden  Y-Rohr.  Klemmen  gestatten 
es,  der  Atemluft  entweder  den  direkten  Weg  oder  den  Weg  durch 
die  Aetherflasche  vorzuschreiben.  Wir  haben  hier  also  den  bekannten 
Narkoseapparat  vor  uns.  Nach  Passage  dieser  Doppelleitung  tritt  die 
Luft  an  eine  T-förmige  Trachealkanüle.  Diese  Kanüle  ist  so  zu  ge- 
stalten, daß  die  senkrechte  Abzweigung,  welche  in  die  Trachea  einge- 
bunden wird,  möglichst  kurz  ist;  das  quer  verlaufende  Rohr  ist  der 
Weite  der  ganzen  Leitung  entsprechend  zu  wählen.  Es  ist  empfehlens- 
wert, sich  im  Laboratorium  eine  größere  Anzahl  derartiger  Kanülen 
bereit  zu  halten  mit  verschiedenem  Kaliber  des  Trachealteiles,  so  daß 
man,  je  nachdem  man  an  Hunden,  Katzen  oder  Kaninchen  arbeiten 
will,  stets  die  passende  Stärke  zur  Hand  hat.  Das  eigentliche  Tracheal- 
stück  ist  möglichst  kurz  zu  halten,  damit  das  Tier,  welches  bei  be- 
stimmten Experimenten,  speziell  bei  Ausschaltung  größerer  Brustwand- 
partien nur  ein  geringes  Atemvolumen  zur  Verfügung  hat,  dieses  nach 
Möglichkeit  ausnutzen  kann  und  nicht  eine  allzu  große  Luftmenge 
in  dem  Kanülenstück  nutzlos  hin-  und  herzuschieben  hat.  Das  Lumen 
der  ganzen  Luftleitung  ist  nicht  zu  eng  zu  nehmen;  bis  jetzt  hat  sich 
ein  Querschnitt  von  1  cm  als  brauchbar  erwiesen.  Unter  Umständen 
aber  dürfte  es  angezeigt  sein,  das  Leitungsrohr  noch  weiter  zu  wählen, 
damit  in  demselben  für  den  Luftstrom  keinerlei  Hindernis  gegeben  ist. 
Es  ist  dieses  wichtig  zwecks  Erhaltung  eines  möglichst  konstanten 
Druckes  in  der  Leitung.  Diesem  letztgenannten  Zwecke  dient  auch 
ein  hinter  die  Kanüle  geschalteter  Ballon.  Ich  wählte  hierzu  große 
Flaschen,  gelegentlich  z.  B.  einen  alten  Aetherballon.  Es  bestand 
hierbei  die  Absicht,  den  Kubikinhalt  des  ganzen  Systems  nach  Mög- 
lichkeit zu  vergrößern,  damit  die  Druckschwankungen,  welche  in  dem 
System  durch  die  Atembewegungen  des  Tieres  hervorgerufen  werden, 
einen  Ausgleich  erfahren.  Dem  Ballon  wurde  ein  Glashahn  aufge- 
setzt, der  es  ermöglichte,  interkurrent  nach  Belieben  den  Druck 
im  System  zum  Absinken   zu  bringen.    Es  hat  sich  dieses   Vorgehen 


selbe  Prinzip,    welches,   nur  im  Detail   verändert,  Brauer   und   Petsrsbn 
neuerdings  angegeben  haben/^ 

Es  dürfte  zur  Klärung  der  Sachlage  genagen,  die  Ausführungen 
Kellinos  in  dieser  einfachen  Weise  einander  gegenüber  zu  stellen ;  das 
Ziel,  welches  Herr  Kblling  verfolgte,  sowie  die  Art  seines  Vorgehens  — 
80  weit  dasselbe  nach  den  kurzen  Darlegungen  des  Autors  überhaupt  zu 
verstehen  ist  —  haben  gar  nichts  mit  dem  von  mir  beschriebenen  Ueber- 
druck  verfahren  zu  tun. 


Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfolgen  etc.  487 

mehrfach  als  nützlich  erwiesen.  Es  ist  möglich,  auf  diese  Weise 
temporären  Lungenkollaps  zu  erzielen  und  nun  an  den  Lungen  selber 
oder  an  der  Hinterfläche  derselben  gewisse  Eingriffe  vorzunehmen, 
z.  B.  das  Aufsuchen  der  im  Mediastinum  verlaufenden  Nerven  oder 
das  Abklemmen  einzelner  Lungenlappen  an  ihrer  Wurzel  etc.  Ein 
Schluß  des  Hahnes  setzt  das  System  rasch  wieder  unter  den  früheren 
Druck  und  bringt  die  Lunge  wieder  auf  das  gewünschte  Volumen. 
Die  Tiere  vertragen  einen  derartigen  passageren  Lungenkollaps  sehr 
gut,  vorausgesetzt,  daß  derselbe  nicht  allzulange  anhält. 

Neuerdings  habe  ich  an  Stelle  des  Ballons  mehrfach  folgende  Ein- 
richtung verwandt  ^).  In  die  Leitung  wird  ein  T-Rohr  eingeschaltet  und 
an  dem  freien  Schenkel  desselben  ein  sogenannter  Belastungscondom 
der  Gynäkologen  aufgebunden,  d.  h.  ein  starkwandiger,  ziemlich  großer 
Gummicondom.  Mit  Zunahme  des  Druckes  bläht  sich  der  Condom,  er 
folgt  sehr  gut  allen  Druckschwankungen  und  trägt  vermöge  seiner 
Elastizität  sehr  viel  dazu  bei,  den  Druck  im  System  konstant  zu  er- 
halten, wovon  man  sich  durch  Anschaltung  eines  Manometers  leicht 
überzeugen  kann.  Außerdem  ist  das  Verhalten  dieses  Condoms  insofern 
instruktiv,  als  man  an  den  Pulsationen  desselben  das  Einsetzen  einer 
Atembewegung  sieht  und  ein  Urteil  über  die  Größe  derselben  hat.  Es 
dürfte  somit  im  ganzen  zweckmäßiger  sein,  den  umständlichen  Ballon, 
wie  er  sich  noch  auf  der  Figur  findet,  durch  einen  derartigen  Condom 
zu  ersetzen;  es  ist  auch  sehr  wohl  möglich,  mit  Hilfe  desselben  Regis- 
trierungen der  Atem-  und  Herzbewegungen  vorzunehmen,  nur  muß 
man,  falls  man  dieses  zu  tun  beabsichtigt,  ein  Druckventil  verwenden, 
welches  der  Luft  einen  kontinuierlichen  Abstrom  gestattet.  Das 
Wasserdruckventil  läßt  die  Luft  in  Blasen  brodelnd  übertreten  und  die 
hierdurch  bedingten  geringen  Druckschwankungen  genügen  schon,  um 
den  Gummiballon  pulsieren  zu  lassen.  Darüber,  daß  ein  derartiger 
elastischer  Apparat  den  Druck  konstanter  erhält  als  die  größere  Luft- 
menge in  der  Flasche,  kann  wohl  kaum  ein  Zweifel  bestehen.  Von 
diesem  druckregulierenden  Apparat  tritt  dann  die  Leitung  zu  einem 
einfachen  Wassermanometer,  d.  h.  einem  Glasrohr,  das  in  einem  Stand- 
gefäß unter  Wasser  getaucht  ist  und  in  bestimmter  Lage  durch  ein 
Stativ  fixiert  wird.  Im  allgemeinen  habe  ich  mit  Hilfe  dieses  Wasser- 
manometers, das  zugleich  als  Druckventil  der  verbrauchten  Luft  den 
Austritt  gestattet,  den  Druck  im  System  auf  etwa  10  cm  Wasser  er- 
halten. In  dem  ganzen  System  Ventile  und  Klappen  anzubringen,  die 
dem  Luftstrom  einen  bestimmten  Weg  vorschreiben,  halte  ich  für  über- 
flüssig, wenn  nicht  gar  für  verkehrt.  Es  würde  hierdurch  1)  nur 
wenig  Nutzen  geschafl'en  werden  und  2)  gar  zu  leicht  bewirkt,  daß 
bei  extremen  In-  oder  Exspirationsbewegungen  Druckdifferenzen  im 
System  entständen,  die  dem   Grundprinzip,   der   konstanten   Drucker- 


1)  cf.  die  Nebenzeichnung  auf  Fig.  1. 


488  L.  Brauer, 

haltung,  entgegenwirken  würden,  üeberflüssig  ist  die  Einrichtung  des- 
wegen, weil  es  ja  so  wie  so  notwendig  ist,  daß  stets  neue  atembare 
Luft  zuströmt;  diese  schafft  dann  die  verbrauchte  Luft  fort.  Im  all- 
gemeinen genügt  es,  bei  Hunden  2—3  1  Sauerstoff  pro  Minute  durch- 
perlen zu  lassen,  vorausgesetzt,  daß  die  Tiere  Pneumothorax  haben. 
Legt  man  das  System  dem  Tiere  an,  bevor  ein  Pneumothorax  gesetzt 
wurde,  so  sieht  man,  speziell  wenn  die  Narkose  eine  schlechte  ist  und 
das  Tier  infolgedessen  sehr  erregte  Atembewegnngen  macht,  daß  die 
kleinere  Lnftmenge  im  Zustrom  nicht  genügt.  Das  Tier  saugt  unter 
diesen  Verhältnissen  dem  System  eine  viel  zu  große  Luftmenge  durch 
die  Inspiration  ab,  es  treten  sehr  ausgesprochene  Druckschwanknngen 
im  System  auf,  die  ihrerseits  wieder  Dyspnoe  bedingen  können.  Es  ist 
daher  alsdann  besser,  eine  größere  Menge  Sauerstoff  zutreten  zu  lassen. 

Im  allgemeinen  wird  es  sich  empfehlen,  alle  vorbereitenden  Maß- 
nahmen und  Operationen  an  den  Tieren  vor  Anlegung  des  Ueberdruck- 
systems  auszuführen  und  das  letztere  erst  dann  anzubringen,  wenn  der 
Pneumothorax  tatsächlich  droht.  Notwendig  ist  letzteres  Vorgehen 
aber  nicht. 

Die  Tracheotomie  ist  durch  Längsschnitt  in  die  Trachea  vorzunehmen, 
und  die  Kanüle,  welche  eine  Olive  trägt,  alsdann  mit  breiterem  Bande 
der  Trachea  einzubinden,  damit  eine  möglichst  geringe  Verletzung  der 
Trachea  stattfindet.  Je  passender  das  Trachealende  für  die  Trachea  ist, 
um  so  geringfügiger  sind  Schädigungen,  die  von  dem  eingelegten  Rohr 
abhängen.  Bei  vorsichtigem  Vorgehen  läßt  sich  nachher  die  Tracheal- 
wunde  wieder  nähen  und  bedingt  in  den  meisten  Fällen  für  das  Tier 
keine  Schädigung.  Bei  der  geschilderten  Anordnung  fallen  die  großen 
Druckschwankungen  im  Bronchialbaum,  wie  sie  bei  den  bisher  üb- 
lichen Methoden  der  künstlichen  Atmung  erzeugt  wurden,  fort  und  damit 
auch  die  Infektionsgefahr,  die  mit  letzterem  Vorgehen  verbunden  war. 
Die  geschilderte  Anordnung  hat  der  Anwendung  der  Kammer  gegen- 
über zunächst  den  Vorteil  großer  Einfachheit  und  Billigkeit;  sie  ge- 
stattet zudem,  das  Tier  im  ganzen  zu  übersehen,  die  Halsgefäße  zu 
entsprechenden  Versuchen  zu  verwenden  etc. 

Ich  glaube  wohl,  daß  diese  Versuchsanordnung  sich  zu  einem 
typischen  Laboratoriums  versuch  entwickeln  wird,  da  sie  es  er- 
möglicht, nicht  nur  bei  experimentellen  Arbeiten,  sondern  auch  bei  phy- 
siologischen Demonstrationen  die  verschiedenartigsten  Versuche  am  Zir- 
kulationsapparat und  Respirationsystem  auszuführen,  ohne  die  vielen 
Unbequemlichkeiten  der  künstlichen  Atmung  und  die  dabei  oft  nötige 
Kurarisierung. 

An  die  Frage,  wie  bei  diesem  Vorgehen  die  Ventilation  der  Lunge 
zu  Stande  kommt,  bin  ich  zunächst  nicht  herangetreten,  da  ich  die  an- 
gekündigten Untersuchungen  Sauerbruchs  über  diesen  Gegenstand 
abwarten  wollte.  An  dieser  Stelle  möchte  ich  mich  nur  darüber  äußern, 
ob  in  der  Wirkung  auf  den  Zirkulations-  und  Respirationsapparat  zwischen 


Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfblgen  etc.  489 

dem  Vorgehen,  wie  es  Sauerbruch  in  seiner  ursprünglichen  Publikation 
empfahl,  und  dem,  welches  ich  eben  schilderte,  ein  wesentlicher  Unter- 
schied besteht. 

Meines  Erachtens  nach  besteht  ein  solcher  Unterschied  nicht;  so- 
bald Pneumothorax  besteht,  sind  die  beiden  Verfahren  ceteris  paribus 
absolut  wesensgleich.  Es  liegt  alsdann  in  beiden  Fällen,  wenn  ich  so 
sagen  darf,  die  Lunge  auf  einem  Luftpolster  auf  und  wird  von  diesem 
gebläht  erhalten ;  es  ist  in  beiden  Fällen  die  Druckdifferenz  auf  Außen- 
und  Innenfläche  der  Lunge,  die  diesen  Effekt  hervorbringt,  und  es 
kommt  tatsächlich  auf  das  gleiche  heraus,  ob  diese  Druckdifferenz  er- 
zielt wird  durch  Steigerung  des  Innendruckes  oder  Verminderung  des 
Außendruckes  auf  den  Lungen.  In  beiden  Fällen  ist  es  ein  auf 
die  Innenfläche  der  Lungen  ausgeübter  Druck,  der  die- 
selbe gespannt  erhält.  Ganz  anders  liegen  naturgemäß  die  Dinge 
dann,  wenn  unter  normalen  Verhältnissen  der  Pleuraraum  beiderseits 
geschlossen  ist  (siehe  hierzu  die  gewichtigen  Ausführungen  Tendeloos). 

Der  sogenannte  negative  Druck  nach  Donders  stellt  keine  reale 
Saugwirkung  auf  die  Lungenoberfläche  dar,  wie  dieses  bei  Anwendung 
des  Unterdruckverfahrens  von  Sauerbrugh  der  Fall  ist;  unter  nor- 
malen Verhältnissen  klebt  vielmehr  die  Lunge  dem  Thoraxinnenraum 
an.  Es  ist  die  Adhäsion,  die  Kapillarität  des  Pleuraraumes,  die  die 
Lunge  an  ihrer  Stelle  erhält;  der  ^negative  Druck^  nach  Donders  ist 
ein  virtueller  Faktor,  der  erst  dann  real  zu  Tage  tritt,  wenn  zwischen 
die  beiden  Serosablätter  Luft  eintritt;  somit  wird  unter  normalen 
Verhältnissen  die  Lungenelastizität  nicht  durch  ein  Drücken  der  Luft 
auf  die  Innenfläche  der  Lungen  überwunden,  sondern  durch  die  Elas- 
tizität des  Thorax.  Es  sind  die  beiden  Größen:  Zug  der  Lunge  nach 
innen,  Zug  des  Thorax  nach  außen,  im  Gleichgewicht;  die  „Dehnungs- 
größen^  der  beiden  Faktoren  sind  einander  gleich,  nur  tragen  sie  um- 
gekehrte Vorzeichen.  Es  ist  somit  unter  normalen  Verhältnissen  nicht 
ein  Luftpolster  derjenige  Faktor,  welcher  die  Lunge  trägt,  sondern  es 
ist  eine  direkte  Spannung  des  Lungengewebes  durch  die  eben  genannte 
Adhäsion  dieser  dehnende  Faktor.  Diese  Verhältnisse  sind  wohl  zu 
merken,  denn  sie  sind  von  ausschlaggebender  prinzipieller  Bedeutung. 
Sobald  wir  einen  Pneumothorax  setzen,  durchbrechen  wir  diese  Relation 
der  Kräfte;  wir  schaffen  alsdann  —  mögen  wir  Unter-  oder  Ueber- 
druckverfahren  anwenden  —  beide  Male  einen  prinzipiell  anders 
gearteten  Zustand,  ein  durchaus  anders  geartetes  Moment  für  die 
Erhaltung  des  normalen  Lungenvolumens.  Bei  Ueberdruckverfahren, 
sowie  bei  Unterdruck  lastet  die  Lnngenelastizität  auf  der  Innenluft  in 
den  Bronchien,  welche  unter  höherer  Spannung  steht  als  die  Luft  auf 
der  Außenfläche  der  Lunge.  Ob  nun,  um  Beispiele  zu  wählen,  diese 
Druckdifferenz  760—768  oder  752—760  lautet,  ist  prinzipiell  und  prak- 
tisch vollkommen  gleichgültig. 

Der  Einfluß,  den  die  Saugung  im  normalen  Thorax  auf  die  Zirkulation 


490  L.  Brauer, 

ausübt,  fällt  bei  doppelseitigem  Pneumothorax  in  beiden  Fällen  gleich- 
mäßig aus.  Sauerbruch  hat  die  Angabe  gemacht,  daß  in  seiner  Kammer 
dieser  Ausfall  der  Thoraxsaugung  dadurch  paralysiert  werden  könne^ 
daß  man  auf  Bauch  und  Beine  des  zu  Operierenden  den  normalen 
Atmosphärendruck  lasten  läßt  und  nur  den  eigentlichen  Thoraxraum 
der  Druck  Verminderung  aussetzt.  Zweifellos  erfüllt  dieses  Vorgehen  die 
Voraussetzung  insofern,  als  dadurch  die  Körper-  und  Bauchvenen  unter 
einen  Druck  gesetzt  werden,  der  entsprechend  höher  ist  als  der  Druck, 
welcher  auf  den  intrathorakalen  Teilen  des  Zirkulationsapparates  lastet 
Sollte  die  Erhaltung  dieser  Druckdifferenz  sich  praktisch  als  notwendig 
erweisen  oder  bei  theoretischen  Versuchen  wünschenswert  sein,  so  ist 
dies  natürlich  in  durchaus  analoger  Weise  auch  bei  dem  Ueberdruck- 
verfahren  zu  erreichen;  man  braucht  nur  den  Bauch  und  die  Beine 
des  Patienten  unter  denselben  erhöhten  Druck  setzen,  den  man  auf 
der  Innenfläche  der  Lungen  zur  Anwendung  bringt.  Dann  haben  wir 
auch  in  diesem  Punkte  bei  beiden  Verfahren  die  gleichen  Verhältnisse. 

Das  Resultat  dieser  Ueberlegung  führt  also  dahin,  da£  sowohl  Unter- 
wie  Ueberdruckverfahren  für  die  Zirkulation  in  den  Lungen  nicht  mehr 
die  normalen  Verhältnisse  belassen,  daß  in  beiden  Fällen  Verhältnisse 
gesetzt  werden,  wie  wir  sie  bei  einer  leichten  Aufblähung  der  Lungen 
zu  erwarten  haben,  daß  daher  in  beiden  Fällen  das  Kapillarsystem  der 
Lungen  einer  geringen  Druckwirkung  ausgesetzt  wird,  die  diesem  Ka- 
pillarsystem bei  erhaltenem  Thorax  nicht  zugemutet  wird.  Beide  Ver- 
fahren stellen  somit  leicht  pathologische  Verhältnisse  her.  Unter  sich 
aber  sind   sie  bei  doppelseitigem  Pneumothorax  absolut  wesensgleich. 

Es  ist  aus  verschiedenen  Gründen  von  der  Hand  zu  weisen,  daß 
durch  die  leichte  Drucksteigerung,  welehe  bei  beiden  Verfahren  auf  der 
Innenfläche  der  Lungen  lastet,  eine  irgendwie  nennenswerte  Behinde- 
rung der  Zirkulation  eintritt.  Das  Zirkulationssystem  verfügt  über 
derartige  Ausgleichsvorrichtungen,  daß  ein  Einfluß  dieser  Spannungs- 
änderung auf  die  Zirkulation  und  den  Blutdruck  von  vornherein  aus- 
zuschließen ist.  Wie  aus  zahlreichen  bekannten  Tierexperimenten  her- 
vorgeht, sind  beide  Herz  Ventrikel  im  stände,  sich  einer  vermehrten 
Arbeitsleistung  ohne  weiteres  anzupassen;  der  linke  Ventrikel  hat 
außerdem,  wie  durch  die  Versuche  von  Goltz  und  Gaule*)  und 
vielen  anderen  außer  allem  Zweifel  sichergestellt  ist,  die  Fähigkeit 
einer  so  beträchtlichen  Ansaugung,  daß  derselbe  ohne  weiteres  im  stände 
ist,  den  Ausfall  derjenigen  Förderung,  die  der  Zirkulation  sonst  durch 
die  Spannungsverhältnisse  im  Thorax  zu  Teil  wurde,  auszugleichen. 
Immerhin  ist  die  geringfügige  Drucksteigerung  von  8 — 12  mm  Hg, 
welche  nötig  ist,  um  den  Lungenkollaps  bei  lieber-  oder  Unterdruck 
zu   verhüten,  für  den  rechten    Ventrikel  und   für   die   Zirkulation   in 


1)  Siehe  die  ausführliche  Bearbeitung  dieser  Fragen  durch  E.  Ebstein, 
Ueber  die  Diastole  des  Herzens,  Ergeb.  d.  Phys.,  1904. 


Die  Aasschaltung  der  Pneumothoraxfolgen  etc.  491 

den  Lungen  so  gut  wie  bedeutungslos.  Die  beste  Orientierung  in 
dieser  Frage  ist  einerseits  aus  der  zusammenfassenden  Arbeit  von 
DE  Jager  ^)  zu  entnehmen,  andererseits  aus  den  Arbeiten  von  Light- 
heim*) und  neuerdings  Tigbrstedt  *).  Die  Arbeit  de  Jagers  be- 
schäftigt sich  mit  der  Frage,  inwieweit  die  Durchströmungsmöglichkeit 
der  toten  Lunge  durch  Lungenkollaps  und  durch  verschiedene  Grade 
von  Lungenblähung  beeinflußt  wird.  Der  Autor  kommt  zu  dem  Be- 
sultate,  daß  bei  stärkerer  Lungen  blähung  (etwa  das  2— 4-fache  des 
Druckes,  den  wir  bei  unseren  Versuchen  benötigen)  die  Durchströmungs- 
geschwindigkeit in  den  Lungen  abnimmt,  daß  dagegen  geringere  Druck- 
werte dieselbe  eher  fördern  insofern,  als  die  total  kollabierte  Lunge 
dem  Blutstrom  nicht  unbeträchtliche  Widerstände  bietet.  Ist  diesen 
Untersuchungen  zweifellos  eine  gewisse  Bedeutung  für  die  uns  hier 
interessierende  Frage  beizumessen,  so  dürfen  dieselben  auf  der  anderen 
Seite  nicht  überschätzt  werden,  denn  die  Verhältnisse  sind  in  vivo 
doch  wohl  andere  als  in  diesen  toten  Lungen.  Daß  starke  Blähungs- 
grade  die  Zirkulation  in  den  Lungen  auf  das  Schwerste  schädigen, 
darüber  kann  natürlich  gar  kein  Zweifel  sein,  ist  es  doch  sogar  möglich, 
wie  aus  den  Untersuchungen  von  Tigerstedt  und  anderen  hervor- 
gehtr  auf  diese  Weise  eine  Zirkulationshemmung  zu  bewirken. 

Viel  bedeutungsvoller  sind  für  die  hier  obwaltenden  Verhältnisse 
die  bekannten  Untersuchungen  von  Lichtheim,  dessen  Ergebnisse  von 
Tigerstedt  bestätigt  wurden.  Aus  beiden  Untersuchungsreihen  geht  her- 
vor, daß  die  Strombahn  in  den  Lungen  beträchtlich  eingeengt  werden 
kann,  ohne  daß  dadurch  für  die  Zirkulation  nennenswerte  Hemmnisse 
entstehen;  selbst  die  Ausschaltung  einer  ganzen  Lunge  mutet  dem 
rechten  Ventrikel  gar  keine  oder  doch  nur  eine  minimale  Arbeitsver- 
mehrung zu  (Tigerstedt,  p.  273).  Auch  die  Einengung  der  Strom- 
bahn, welche  durch  Zusammenfallen  der  einen  (linken)  Lunge  hervor- 
gebracht wird,  verursacht  in  der  Regel  keine  wesentliche  Abnahme  oder 
Zunahme  des  Blutdruckes  in  den  großen  Gefäßen.  Die  weitgehende  An- 
passungsfähigkeit des  Kreislaufapparates  an  Hemmnisse,  welche  in  den 
kleinen  Kreislauf  eingeschaltet  werden,  ist  nach  den  genannten  Arbeiten 
eine  sehr  große,  und  dürften  diese  Resultate  wohl  auch  dem  Chirurgen, 
der  an  den  Lungen  zu  operieren  gedenkt,  der  z.  B.  ganze  Lungenlappen 
zu  resezieren  versucht,  von  größter  Wichtigkeit  sein.  Wie  leicht  we- 
nigstens im  Tierexperiment  die  Ausschaltung  einzelner  Lungenlappen 
vorzunehmen  ist,  davon  kann  man  sich  leicht  überzeugen;  man  kann  z.  B. 
bei  Anwendung  des  Ueberdruckverfahrens,  wie  schon  oben  erwähnt,  den 


1)  DE  Jaobr,  Ueber  den  Blutstrom  in  den  Lungen,    Pflüobrs  Arch., 
Bd.  20,  1879,  p.  426. 

2)  Lichtheim,  Die  Störungen   des  Lungenkreislaufes   und   ihr  Einfluß 
auf  den  Blutdruck,  Berlin,  1876. 

d)  TiGBBSTBDT,   Ueber   den    Lungenkreislauf,    Skand.  Arch.   f.  Phys., 
Bd.  14,  1903,  p.  259. 


492  L.  Brauer, 

Druck  im  ganzen  System  abfallen  lassen,  auf  diese  Weise  passageren 
Lungenkollaps  erzielen  und  den  einen  oder  anderen  kollabierten  Lungen- 
lappen an  der  Wurzel  abklemmen  (Petersen)  und  alsdann  durch  er- 
neute Druckerhdhung  die  übrigen  Lungenlappen  rasch  wieder  zur  Ent- 
faltung bringen. 

Eine  weitere  Frage  ist  die,  ob  bei  einseitigem  Pneumothorax 
zwischen  Ueber-  und  Unterdruckverfahren  ein  wesentlicher  Unterschied 
besteht.  Es  ist  von  Sauerbrüch  auf  dem  Chirurgenkongreß  dem 
Ueberdruckverfahren  entgegengehalten  worden,  daß  bei  einseitigem 
Pneumothorax  durch  den  Ueberdruck  die  nicht  freiliegende  Lunge  über- 
mäßig gebläht  werde  und  daß  durch  diesen  vermehrten  Druck  auf  der 
Innenfläche  eine  Behinderung  der  Zirkulation  bewirkt  werde. 

Zunächst  ist  demgegenüber  nochmals  auf  das  hinzuweisen,  was  so- 
eben als  Resultat  der  LiCHTHEiMschen  und  TiOERSTEDTschen  Unter- 
suchungen betont  worden  ist,  daß  selbst  Einengungen  des  kleinen 
Kreislaufes  —  die  weit  das  Maß  dessen  übertreffen,  was  durch  das 
Ueberdruckverfahren  bedingt  wird  —  ohne  Schwierigkeiten  überwunden 
werden,  so  daß  eine  derartige  Vermehrung  des  Druckes  von  8—12  mm 
Hg  auf  das  Kapillarsystem  einer  Lunge  bedeutungslos  ist;  tagtäglich 
haben  wir  beim  Singen,  Pressen,  Blasen  von  Instrumenten  u.  s.  w.  weit 
höhere  Druckwerte  der  Lungeninnenluft  zu  überwinden.  Das  wesent- 
lichste für  die  gegenseitige  Bewertung  von  Ueber-  und  Unterdruck- 
verfahren bei  einseitigem  Pneumothorax  liegt  aber  in  folgendem:  Es 
wurde  vorhin  schon  ausführlich  dargelegt,  und  es  sei  für  diejenigen, 
welche  sich  mit  diesen  Dingen  eingehender  beschäftigen  wollen,  zudem 
noch  auf  die  wichtigen  Ausführungen  Tendeloos^  verwiesen,  daß  wir 
zwischen  Lungen-  und  Thoraxelastizität  eine  Gleichgewichtslage  anzu- 
nehmen haben  und  daß  daher  die  Beeinflussung  einer  dieser  beiden 
Elastizitätsgrößen  auch  in  gleichem  Maße  die  andere  Größe  beeinflussen 
muß.  Wird  eine  Thoraxhälfte  unter  eine  Druckerniedrigung  von  10  cm 
H,0  gebracht,  so  wird  durch  diese  Druckerniedrigung  auf  diese  Thorax- 
hälfte eine  recht  beträchtliche  Zugwirkung  ausgeübt.  Nehmen  wir  z.  B. 
als  Höhe  der  Thorax^  30  cm  an  und  als  Umfang  der  einen  Thoraxhälfte 
50  cm,  so  hätten  wir,  da  auf  jedem  Quadratdecimeter  bei  10  cm  Wasser- 
druckerniedrigung ein  Kilo  zieht,  15  kg  Zug  auf  diese  betreffende 
Thoraxhälfte  ausgeübt.  Es  wird  somit  die  Dehnungsgröße  des  Thorax 
beträchtlich  vermindert,  der  Thorax  wird  sich  erweitern.  Bei  dem 
Ueberdruckverfahren  haben  wir  auf  der  Innenfläche  der  Lungen  eine 
entsprechende  Drucksteigerung,  durch  diese  Drucksteigerung  wird  die 
elastische  Kraft  der  Lunge  in  gewissen  Grenzen  paralysiert.  Dement- 
sprechend wird  hier  ein  Teil  desjenigen  Zuges  fortfaUen,  den  die  Lungen- 
elastizität sonst  auf  den  Thorax  ausübt.    Es  wird  daher  auch  in  diesem 


1)   Tend£loo,    Studien    über    die    Ursachen    der    Longenkrankheiten. 
Bergmann,  1902  u.  1903. 


Die  Ausschaltung  der  Pneiimothoraxgefahr  etc.  493 

Falle  die  Dehnungsgröße  des  Thorax  kleiner  werden,  d.  h.  die  betreffende 
Thoraxhälfte  erweitert  sich  um  ein  gewisses  Maß  und  zwar  so  lange, 
bis  diese  ThoraxhSlfte  wieder  ins  Gleichgewicht  kommt  zu  der  restieren- 
den Spannung  im  Lungengewebe.  Wir  sehen  also  auch  hier  Ueber- 
und  Unterdruckverfahren  nicht  wesentlich  von  einander  unterschieden. 
Endlich  sei  an  das  Folgende  erinnert.  Bei  doppelseitigem,  ziemlich 
ausgedehntem  Pneumothorax,  bei  welchem  bei  Unter-,  sowie  bei  Ueber- 
druck  das  Gesamtatemvolumen  beträchtlich  beschränkt  ist,  finden  wir 
trotzdem  noch  eine  zur  Erhaltung  des  Lebens  vollkommen  genügende 
Ventilation  der  Lungen.  Bei  einseitigem  Pneumothorax  liegen  die  Ver- 
hältnisse an  sich  aber  viel  günstiger,  insofern,  als  die  nicht  freigelegte 
Lunge  viel  ausgedehnter  ventiliert  werden  kann,  als  unter  obigen  Ver- 
hältnissen beide  Lungen  zusammengenommen.  Man  kann  sich  hiervon 
leicht  in  jedem  Experiment  überzeugen.  Wir  finden  eine  vollständig  ge- 
nügende Luftzirkulation  in  den  Lungen  schon  dann,  wenn  wir  durch  Unter- 
oder Ueberdruck  die  Verhältnisse  nur  so  gestalten,  daß  die  Atemfähigkeit 
der  nicht  freiliegenden  Lunge  in  möglichst  hohem  Grade  ausgenutzt 
werden  kann.  Um  dieses  zu  erreichen,  brauchen  wir  aber  nicht 
Druckwerte,  die  groß  genug  sind,  um  die  freigelegte  Lunge  auf  das 
volle  Normalmaß  zu  blähen,  sondern  es  genügen  weit  geringere  Druck- 
werte. Dieselben  müssen  nur  größer  sein,  als  der  In-  resp.  Exspi- 
rationsdruck,  den  das  Tier  anwendet.  Bei  guter  Narkose  sind  diese 
Druckwerte  gering,  und  wir  sehen  dann  ohne  weiteres  in  unseren 
Experimenten,  daß  die  nur  halbgeblähte  freiliegende  Lunge  durch  die 
Atembewegungen  der  nicht  freiliegenden  nur  sehr  wenig  beeinflußt 
wird.  Bei  vollkommenem  Lungenkollaps  ^  infolge  eines  einseitigen 
nicht  korrigierten  Pneumothorax  liegt  die  Schädigung  für  das  be- 
treffende Tier  zum  größten  Teil  nicht  darin,  daß  die  kollabierte 
Lunge  von  der  Atmung  ausgeschlossen  ist,  sondern  in  dem  Umstand, 
daß  bei  dem  einseitigen  Lungenkollaps  1)  das  Mediastinum  stark  ver- 
zogen und  verzerrt  wird  und  auf  diese  Weise  auch  die  nicht  affizierte 
Lunge  teilweise  zusammensinkt,  und  daß  2)  bei  der  Exspiration  die 
aus  der  gesunden  Lunge  ausgeatmete  Luft  in  die  kollabierte  Lunge 
eindringt,  diese  entsprechend  dem  Exspirationsdruck  bläht,  und  daß 
nun  bei  der  nächsten  Inspiration  die  verbrauchte,  in  die  Kollapslunge 
eingepreßte  Luft  wieder  herausgesaugt,  resp.  gepreßt  wird  und  an  erster 
Stelle  der  atmenden  Lunge  zugeführt  wird.  Es  findet  dann  ein  Hin- 
und  Herschieben  verbrauchter  Luft  aus  einer  Lunge  in  die  andere  statt, 
so  daß  dadurch  die  Erstickungsgefahr  beträchtlich  gesteigert  wird.  Um 
dieses  zu  verhüten,  bedarf  es  —  wie  aus  vielfachen,  bei  Garr£  und 
Quincke  größtenteils  referierten  Beobachtungen  sich  ableiten  läßt  — 
aber  nicht  der  vollen  Blähung  der  Lunge,  sondern  nur  einer  partiellen. 
Im  Experiment  sieht  man  bei  guter  Narkose  und  dadurch  bedingter 


1)  cf.  z.  B.  GarrA  u.  Quincke,  Gbnmdriß  der  Lungenchirurgie,  p.  40  fP. 


494  L.  Brauer, 

ruhiger  Atmung,  daß  eine  Drucksteigerung  genügt,  die  etwa  halb  so 
groß  ist,  als  wie  zur  vollen  Blähung  der  Lunge  nötig  wäre. 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  dann,  wenn  die  Narkose 
schlecht  ist  und  das  erregte  Tier  infolgedessen  gewaltsame,  krampf- 
hafte In-  und  Exspirationen  macht;  in  diesem  Falle  wird  sowohl 
bei  lieber-  als  auch  bei  Unterdruckverfahren  die  freiliegende  Lunge 
extrem  gebläht  resp.  in  unerwünschter  Weise  leer  gesaugt,  so  daß  sich 
dann  zum  Teil  Störungen  entwickeln,  wie  sie  soeben  für  den  Lungen- 
kollaps geschildert  wurden.  Man  kann  sich  durch  entsprechende  Ver- 
suche aber  leicht  davon  überzeugen,  daß  die  schädliche  Wirkung  der 
forcierten  Atembewegungen  bei  entfalteter  Pneumothoraxlunge  nie  so 
groß  ist,  als  wie  bei  Kollaps  dieser  Lunge.  Hierbei  ist  es  zudem  wichtig, 
daß  eine  Störung  in  der  Konstanz  der  lungenblähenden  Druckdifferenz 
vermieden  wird.  Beim  ünterdruckverfahren  ist  diese  Konstanz  unter 
allen  Umständen  erhalten;  bei  Ueberdruck  dagegen  könnte  die  Druck- 
differenz bei  ungeeignetem  Vorgehen  gestört  werden,  und  zwar  dann, 
wenn  das  Röhrensystem  zu  eng  gewählt  wurde  und  somit  nicht  den  so- 
fortigen Druckausgleich  gestattet.  Es  ist  hieraus  ersichtlich,  wie  wichtig 
es  ist,  die  Verbindungswege  des  Systems  möglichst  weit  zu  gestalten. 

Nachdem  wir  uns  somit  durch  den  praktischen  Versuch,  sowie  die 
theoretische  Ueberlegung  überzeugt  haben,  daß  ein  irgendwie 
nennenswerter  Unterschied  zwischen  dem  Unter-  und 
Ueberdruckverfahren  nicht  besteht,  sind  wir  berechtigt,  der 
Frage  näher  zu  treten,  in  welcher  Weise  man  das  bedeutend  einfachere, 
die  Kammer  entbehrlich  machende  Ueberdruckverfahren  für  den  Menschen 
praktisch  verwerten  kann. 

Das  Vorgehen,  wie  ich  es  vorhin  schilderte,  wird  bei  Operationen 
am  Menschen  wohl  nur  eine  beschränkte  Verwendung  finden,  und  zwar 
deswegen,  weil  dasselbe  unter  Anwendung  der  Tracheotomie  vor  sich 
geht.  Dennoch  aber  wird  es  auch  für  den  Menschen  Bedeutung  haben ; 
1)  kann  es  dort  zur  Anwendung  gelangen,  wo  so  wie  so  tracheotomiert 
werden  muß,  2)  wo  ein  Operieren  am  Halse  notwendig  ist,  3)  wird 
dieses  Vorgehen  mit  Tracheotomie  überall  da  sich  einen  Platz  erwerben, 
wo  man  intrathorakal  operieren  muß,  ohne  in  der  Lage  zu  sein,  die 
irgendwie  umständlicheren  Verfahren  heranzuziehen,  z.  B.  in  kleineren 
Spitälern,  die  der  SAUERBRUCHschen  Kammer  oder  meiner  weiter  unten 
zu  schildernden  Vorrichtungen  entbehren,  endlich  4)  in  allen  jenen  Fällen, 
die  der  Chirurgie  der  Notfälle  zuzurechnen  sind. 

Für  die  Anwendung  beim  Menschen  oder  bei  größeren  Säugetieren 
ist  aber  zu  bedenken,  daß  eine  Anordnung,  wie  die  eben  geschilderte, 
einer  gewissen  Modifikation  bedarf,  falls  dieselbe  dem  größeren  Atem- 
bedürfnis der  größeren  Tiere  genügen  soll;  eine  Luftzufuhr  von  5  1 
pro  Minute,  wie  sie  das  Reduktionsventil  liefert,  dürfte  nicht  genügen, 
auch  sind  bei  der  größeren  Menge  der  hin-  und  hergeschobenen  Luft 
weitere  Röhren  zur  Erhaltung  der  konstanten  Druckdifferenz  erforder- 


Die  AuBschaltiiBg  der  Pndumottioraxfolgen  etc.  496 

lieh.  Man  wird  daher  beim  Menschen  mehrere  Sauerstoffbomben  neben- 
einander schalten  müssen  oder  als  Kraft-  nnd  Atemluftqaelle  Gebläse 
verwenden  mflssen,  welche  größere  Quantitäten  Luft  liefern. 

Die  Tracheotomie  ist  kein  unbedingtes  Postulat,  um  das  lieber- 
druckverfahren  in  nahezu  gleicher  Anordnung,  wie  hier  skizziert,  beim 
Menschen  anwenden  zu  können;  es  ist  ein  leichtes,  mit  den  verschie- 
densten Maskenapparaten  (z.  B.  einer  gut  schließenden  Waldenburq- 
schen  Maske  oder  dem  Mundstück  des  ZxTNTz-GEPPERTSchen  Apparates 
bei  gleichzeitigem  Nasenabschluß)  einen  Menschen  unter  Ueberdruck 
ein-  und  ausatmen  zu  lassen.  Der  Apparat,  den  ich  mir  zu  diesem 
Zwecke  konstruierte,  lehnt  sich  an  den  WALDENBUROschen  Apparat  zur 
Einatmung  komprimierter  Luft  an.  Eine  einfache  Luftpumpe  mit  Hand- 
betrieb oder  ein  kräftiges  Wasserstrahlgebläse  liefert  die  notwendige 
Menge  Atemluft  Dieselbe  wird  in  einem  Gasometer  gefaßt,  welcher 
eine  beliebige  Belastung  gestattet  und  damit  —  dem  gewünschten  Druck 
entsprechend  —  die  Luft  unter  Kompression  hält.  Aus  diesem  Apparat 
führt  ein  Leitungsrohr  von  5  cm  Durchmesser,  in  welchem  ganz 
leicht  flottierende  Ventile  aus  Gondomhaut  eingeschaltet  sind,  dicht  an 
einer  WALDENBtJROschen  Maske  vorbei;  denn  auch  hier  ist,  wie  oben  bei 
der  Trachealkanüle,  darauf  zu  achten,  daß  dem  die  Maske  tragenden 
Menschen  stets  frische  Atemluft  verfügbar  ist.  Die  Ableitung  von  der 
Maske  geschieht  gleichfalls  durch  etwa  5  cm  weite  Rohrleitungen,  die 
zum  Teil  aus  Gummi  bestehen.  Den  Abschluß  bildet  wieder  ein  Wasser- 
druckventil. An  diesem  Apparat  haben  sowohl  ich  wie  andere  bei 
einer  Druckanwendung  bis  zu  15  cm  Wasser  lange  und  ruhig  atmen 
können.  Bei  Anwendung  geringerer  Druckhöhen  ist  von  einer  irgendwie 
bemerkbaren  Belästigung  des  Atmenden  gar  keine  Rede,  vorausgesetzt  nur, 
daß  stets  eine  genügende  Menge  Luft  die  Maske  durchströmt  und  somit 
ganz  frische  Luft  zur  Respiration  verfügbar  ist  Selbst  bei  sehr  forcierten 
Atembewegungen  genügt  dieser  Apparat  zur  Erhaltung  eines  nahezu 
konstanten  Druckes  im  System ;  die  von  dem  atmenden  Menschen  rasch 
abgesaugte  Druckluft  entströmt  sofort  durch  die  weiten*  Röhren  dem 
Gasometer,  während  durch  die  Exspiration  im  System  deswegen  eine 
nennenswerte  Steigerung  des  Druckes  nicht  entsteht,  weil  das  Druck- 
ventil dem  Ausströmen  der  Luft  keine  Hindernisse  entgegensetzt. 

Die  Beschaffung  eines  solchen  Apparates,  der  in  technischer  Hin- 
sicht zweifellos  noch  besser  auszugestalten  ist,  wird  sich  aus  mehrfachen 
Gründen  wünschenswert  erweisen;  bei  ungewollten  Pleuraverletzungen 
wird  man  mit  Hilfe  desselben  die  Lunge  so  lange  gebläht  erhalten 
können,  bis  der  Schaden  wieder  ausgeglichen  ist;  zur  Nachbehandlung 
von  Patienten  nach  Thoraxoperationen  wird  man  einen  solchen  Apparat 
nötig  haben,  um  Verbandwechsel  vorzunehmen,  auftretende  Nachblu- 
tungen zu  bekämpfen;  endlich  dürfte  sich  diese  Anordnung  speziell 
für  die  Ausgestaltung  und  Anwendung  des  Ueberdruckverfahrens  auf 
inneren  Kliniken,  wovon  später  noch  die  Rede  sein  soll,  empfehlen. 

MittBlL  «.  d.  Ot«Bifebi«ttti  d.  MedteiD  a.  Chinirfto.    Xm.  Bd.  Sg 


m 


L.  Örau6f, 


Ungeeignet  ist  ein  solcher  Maskenapparat  dann,  wenn  der  Ueber- 
druck  längere  Zeit  unter  gleichzeitiger  Anwendung  der  Narkose  ein- 
wirken soll,  wenn  somit  typische  SAUERBRUCHsche  Operationen  aus- 
geführt werden  sollen.  Sauerbruch  hat  auf  dem  Chirurgenkongreß 
berichtet,  daß  er  mit  Hilfe  seiner  Kammer  üeberdruck  zur  Anwendung 
brachte,  indem  er  den  Kopf  des  zu  operierenden  Tieres  in  den  Kasten 
nahm,  den  Körper  dagegen  draußen  beließ.    Zu  Demonstrationszwecken 

schien  ihm  dieses  geeignet, 
in  praktischer  Hinsicht  aber 
deswegen  nicht,  weil  der 
Narkotiseur,  der  sich  selbst- 
verständlich in  diesem 
Räume  aufhalten  mußte, 
durch  die  Narkosendämpfe 
in  hohem  Grade  belästigt 
wurde.  Wenn  es  vielleicht 
auch  möglich  sein  wird, 
diesen  letztgenannten  Fak- 
tor zu  umgehen,  so  er- 
scheint es  mir  doch  nicht 
von  praktischer  Bedeutung, 

und  hierin  stimme  ich 
Sauerbruch  vollkommen 
bei,  das  Ueberdruckver- 
fahren  mit  Hilfe  einer  sol- 
chen Kammer  anzuwenden. 
Doch  glaube  ich,  daß  in 
folgender  Weise  das  Ueber- 
druckverfahren  verwandt 
werden  sollte,  da  man  da- 
durch alle  Vorteile  der 
SAüERBRUCHschen  Idee 
auf  eine  billige  und  ein- 
fache Weise  mit  Hilfe  eines 
zudem  leicht  transportab- 
len Apparates  sich  schaffen 
kann.  Figur  2  zeigt  die  Abbildung  eines  Kastens,  welcher  ungefähr 
Vi  cbm  Inhalt  hat;  in  diesen  Kasten  ist  nach  der  Art,  wie  es  Saüer- 
BRUCH  angab,  der  Kopf  des  Patienten  unter  Verwendung  einer  Gummi- 
manschette einzudichten;  der  Körper  des  Patienten  bleibt  außerhalb 
des  Kastens.  Man  kann  den  Kranken  vorher  ruhig  narkotisieren  und 
die  Manschette  erst  dann  dem  Kasten  auffügen,  wenn  die  Pneumothorax- 
gefahr als  dicht  bevorstehend  zu  erwarten  ist.  Um  letzteres  zu  ermög- 
lichen, ist  die  Krawatte  mit  einem  Blechring  versehen,  der  rasch  an  den 
Kasten  angeschraubt  werden  kann.    Ueber  dem  Gesicht  des  Kranken  ist 


Fig.  2. 


Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfolgen  etc.  497 

ein  aufklappbarer  Glasdeckel  angebracht;  auch  dieser -Deckel  wird  erst 
dann  geschlossen,  wenn  man  die  Wirkung  des  Ueberdruckes  wQnscht. 
Auf  diese  Weise  ist  es  möglich,  alle  vorbereitenden  Maßnahmen  und 
Operationen  ohne  irgendwelche  Belästigung  des  Kranken  vorzunehmen; 
ebenso  kann  man,  wenn  die  Pneumothoraxgefahr  vorüber  ist,  den  Kasten 
wieder  entfernen. 

Die  Druckanwendung  und  die  Narkose  ~  beide  Maßnahmen 
sind  streng  gesondert  voneinander  zu  betrachten  —  geschehen  wie 
folgt:  Zur  Beschaffung  des  nötigen  Luftdruckes  und  einer  reich- 
lichen Durchlüftung  des  Kastens  ist  derselbe  mit  zwei  Hähnen  ver- 
sehen; durch  den  einen  dieser  Hähne  wird  die  Druckluft  zugeführt, 
der  andere  gestattet  derselben  den  Austritt  und  führt  sie  einem  Druck- 
ventil zu.  Je  nachdem  es  sich  notwendig  erweist,  kann  man  durch 
den  Kasten  verschieden  große  Luftmengen  hindurchführen,  so  daß 
der  Patient  in  dem  Kasten  nicht  nur  stets  eine  genügende  Menge 
Atemluft  verfügbar  hat,  sondern  auch  stets  eine  möglichst  reine 
Luft  atmet,  welche  frei  ist  von  allen  Narkosegasen.  Die  Narkose- 
dämpfe selbst  werden  durch  zwei  andere  Wege  zu-  resp.  abgeleitet. 
Ein  den  Verhältnissen  entsprechend  modifizierter  RoTH-DRÄOERscher 
Chloroformapparat  schafft  die  erwünschte  Narkosemischung;  diese 
Mischung  wird  unter  dem  nötigen  Druck,  den  die  Sauerstoffbombe 
leicht  liefert,  in  den  Kasten  eingeleitet  und  mit  Hilfe  eines  Schlauches 
direkt  in  die  Narkotisierungsmaske  verbracht.  Die  Maske  ist  besser- 
schließend zu  gestalten  als  jene  Masken,  die  gewöhnlich  dem  Roth- 
DRÄGERschen  Apparat  beigegeben  sind.  Sie  ist  zudem  mit  einem 
Ableitungsrohr  und  entsprechenden  Ventilen  zu  versehen.  Das  Ab- 
leitungsrohr tritt  durch  eine  besondere  Oeffnung  aus  dem  Kasten 
heraus  gleichfalls  an  ein  Druckventil.  Man  kann  mit  Hilfe  dieses 
Apparates  dem  Kranken  das  gewünschte  Chloroformgemisch  oder  nach 
Umständen  auch  reinen  Sauerstoff'  reichen.  Die  etwas  besser  schlie- 
ßende Maske  sowie  das  Ableitungsrohr  haben  dafür  zu  sorgen,  daß 
die  Luft  im  Kasten  selber  möglichst  wenig  tiiit  Chloroformgasen  in- 
fiziert wird;  es  läßt  sich  letzteres  außerdem  noch  dadurch  erreichen, 
daß  man  das  Druckventil,  durch  welches  die  Narkosedämpfe  abströmen, 
etwas  niedriger  stellt  als  jenes  Ventil,  durch  welches  die  Kastenluft 
aus  dem  System  heraustritt,  so  daß  sich  auf  diese  Weise  die  Luft  im 
Kasten  eher  unter  die  Maske  drängen  wird  und  die  Narkosedämpfe 
heraustreibt,  statt  sie  in  den  Kasten  herübertreten  zu  lassen. 

Um  die  Hantierungen,  welche  bei  der  Narkose  nötig  sind,  zu  er- 
möglichen, ist  der  Kasten  mit  seitlichen  Oeffiiungen  versehen,  denen 
Gummimanschetten  angedichtet  sind.  Durch  diese  Gummimanschetten 
führt  der  Assistent  beide  Arme  luftdicht  ein.  Bei  dem  Modell,  wie  es 
die  Figur  2  darbietet,  ist  es  leicht,  die  erforderlichen  Maßnahmen  an 
dem  Kopf  des  Patienten  vorzunehmen,  da  die  Manschetten  so  gestaltet 
sind,  daß  sie  ausgiebige  Armbewegungen  gestatten;  sollte  dennoch  be- 

S2* 


498  L.  Brauer, 

fGlrchtet  werdra,  daß  die  Narkose  unter  den  genannten  Verhältnissen  nicht 
mit  genügender  Sicherheit  geleitet  werden  könne,  so  wäre  es  zu  em- 
pfehlen, an  der  gegenüberliegenden  Seite  des  Kastens  zwei  weitere 
derartige  Armöffhungen  anzubringen  und  so  eine  Unterstützung  des 
Narkotiseurs  durch  einen  zweiten  Assistenten  zu  ermöglichen.  Der 
ganze  Kasten  ist  einem  Gestell  aufgesetzt  und  kann  in  verschiedene 
Höhen  und  Lagen  gebracht  werden.  Ein  Versuch  bat  mich  überzeugt, 
daß  es  sich  in  dem  beschriebenen  Kasten  sehr  wohl  aushalten  läßt. 
Die  nötige  Druckluft  liefert  eine  Luftpumpe  oder  ein  starkes  Wasser- 
strahlgebläse. 

Es  ist  von  Wichtigkeit,  darauf  hinzuweisen,  daß  es  mit  diesem  ein- 
fachen Apparat,  der  ja  sicherlich  noch  in  vielfacher  Hinsicht  zu  ver- 
bessern und  praktischer  zu  gestalten  ist,  möglich  ist,  das  Saübrbrügh- 
sche  Operationsverfahren  auch  denjenigen  zugänglich  zu  machen,  welche 
nicht  in  der  Lage  sein  werden,  sich  die  große  Kammer  zu  beschaffen. 
Ob  ein  solcher  Kasten  die  große  Kammer  vollkommen  ersetzt,  da- 
rüber kann  erst  die  praktische  Erfahrung  das  Urteil  fällen;  für  viele 
Operationen  aber  wird  der  Kasten  zweifellos  vollkommen  genügen.  Für 
manche  Fälle  dürfte  er  deswegen  wertvoller  sein,  weil  er  ungeheuer 
leicht  zu  transportieren  ist,  so  daß  vielleicht  gerade  der  Kriegschirurg 
bei  der  Behandlung  von  Brust-  und  Herzschüssen  sich  seiner  wird  be- 
dienen können. 

Das  von  Saüerbrugh  beschriebene  Vorgehen,  sowie  die  eben  ge- 
geschilderte Modifikation  dürften  nicht  nur  der  experimentellen  Patho- 
logie und  der  Chirurgie  f5rderlich  sein,  sondern  auch  die  innere  Medizin 
wird  daraus  Nutzen  ziehen  können. 

Der  Maskenapparat,  der  im  vorhergehenden  beschrieben  wurde, 
und  dessen  Verwendung  in  der  Chirurgie  wohl  nur  eine  beschränkte 
sein  kann,  wird  in  der  inneren  Medizin  Berücksichtigung  erwarten 
dürfen.  Zunächst  ist  in  Aussicht  genommen,  mit  Hilfe  desselben  den 
tuberkulösen  Pneumothorax  und  dessen  Dyspnoe,  sowie  den  Pneumo- 
thorax bei  Empyemoperation  in  Behandlung  zu  nehmen.  Da  ich  zur  Zeit 
mit  diesbezüglichen  Versuchen  beschäftigt  bin,  so  seien  an  dieser  Stelle 
nur  die  leitenden  Gesichtspunkte  kurz  skizziert  und  damit  die  Anregung 
gegeben,  auch  anderorts  derartige  Versuche  aufzunehmen. 

Es  ist  bekannt,  daß  eine  Reihe  sehr  wichtiger  Untersuchungen  sich 
mit  der  Frage  befaßt  haben,  auf  welche  Weise  die  Wiederausdehnung 
der  kollabierten  Lunge  nach  Empyemoperaüonen  zu  stände  komme  und 
wie  diese  Wiederausdehnung  möglichst  zu  fördern  sei.  Die  Arbeiten 
von  Schede,  Reinbboth  und  Perthes  sind  an  erster  SteUe  zu  nennen. 
Im  Hinblick  auf  die  die  Literatur  in  ausführlicher  Weise  wiedergebende 
Arbeit  Schedes  ^)  erscheint  es  überflüssig,  an  dieser  Stelle  die  nidbt  ganz 

1)  Siehe  Sghbdb,  bei  Pbntzoldt  u.  STiNTzmo,  Handbuch  der  speziellen 
Therapie,  Bd.  3.     Hierselbst  ausführliche  Literatm*angaben. 


Die  Ausschaltung  der  Pneumothoraxfolgen  etc.  499 

einfache  Frage  nochmals  eingehend  zur  Darstellung  zu  bringen.  Der 
wesentlichste  Faktor,  der  nach  den  genannten  Arbeiten  für  die  Wieder- 
ausdehnung der  kollabierten  Lunge  verantwortlich  zu  machen  ist,  liegt 
in  der  jeweiligen  Bl&hung  der  kollabierten  Lunge  bei  der  Exspiration 
und  speziell  während  stärkerer  Hustenstöße.  Diese  Kräfte  führen 
in  unkomplizierten  Fällen  mit  der  Zeit  meist  zu  tadeUoser  Wieder- 
ausdehnung der  kollabierten  Lunge  und  damit  zu  vollständiger  Aus- 
heilung des  Pneumothorax.  Nicht  selten  dagegen  gelingt  dies  nicht,  es 
treten  alsdann  jene  Schwierigkeiten  auf,  welche  Perthes  die  Veran- 
lassung gaben,  seine  Aspirationsmethode  auszuarbeiten.  Diesen  Fällen 
gegenüber  wird  das  üeberdruckverfahren  von  Nutzen  sein.  Schon 
Schede  hat  empfohlen,  zur  besseren  Blähung  der  kollabierten  Lunge 
die  Patienten  gegen  komprimierte  Luft  ausatmen  zu  lassen,  weil  hier- 
durch die  exspiratorische  Blähung  der  Lunge  gefördert  werde.  Es 
dürfte  nun  ratsam  sein,  dieses  Vorgehen  so  auszudehnen,  daß  nicht  nur 
gegen  komprimierte  Luft  ausgeatmet  wird,  sondern  daß  man  auch  die 
Inspiration  sich  unter  denselben  Druckverhältnissen  vollziehen  läßt,  daß 
mit  anderen  Worten  die  kranke  Lunge  durch  konstante  Druck- 
erhöhung möglichst  gebläht  erhalten  wird.  Diesem  Zwecke  aber 
vermag  der  oben  geschilderte  Maskenapparat  in  einfachster  Weise  zu 
genügen.  Bei  Anwendung  desselben  muß  vermieden  werden,  allzu 
hohe  Druckwerte  zu  erzeugen,  vielmehr  ist  es  ratsam,  mit  einer  Druck- 
steigerung von  wenigen  Zentimetern  Wasser  zu  beginnen;  schon  hier- 
durch wird,  wie  man  am  Tierexperiment  sehen  kann,  die  Lunge  ziemlich 
beträchtlich  gebläht.  Keinesfalls  dürfen  Druckwerte  in  Anwendung 
kommen,  die  höher  sind,  als  der  normalen  Druckdififerenz  entsprechend. 

So  ein&ch  wie  die  Indikationsbedingungen  für  die  Anwendung 
konstanten  Druckes  bei  Operationspneumothorax  liegen,  liegen  sie  bei 
der  Behandlung  des  „inneren"  Pneumothorax  nicht.  Dennoch  steht  es 
aber  wohl  außer  Zweifel,  daß  das  Üeberdruckverfahren  uns  die  Veran- 
lassung sein  muß,  auch  die  bisherigen  Behandlungsmethoden  dieses 
„inneren"  Pneumothorax  (speziell  bei  Lungentuberkulose)  zu  revidieren 
und  in  Anlehung  an  bereits  vorhandene  Untersuchungen  dasselbe  weiter 
auszubilden. 

Dem  vielfach  üblichen  exspektativen  Verhalten  bei  Pneumothorax 
der  Phthisiker  ist  schon  von  verschiedener  Seite  entgegengetreten 
worden,  besonders  die  Arbeiten  von  ünverricht^,  Aron*)  und 
Pichler^)  bringen  diesbezügliche  Angaben  und  verfechten  zum  Teil 
den  Standpunkt,  daß  bei  bestimmten  Formen  von  Pneumothorax  mit 
Anlegung  von  Thoraxfisteln  resp.  BÜLAUscher  Drainage  vorzugehen  ist. 

1)  Unvbrricht,  Handb.  d.  prakt  Medizin  (Ebstein  u.  Schwalbb), 
Bd.  1;  femer:  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1896,  p.  349. 

2)  Aron,  Zur  Behandlung  des  Pneumothorax.  Dtsch.  med.  Wochen- 
schrift, 1896,  p.  677;  femer:  Virchows  Arch.,  Bd.  126  u.  131. 

3)  PiCHLBR,  Dtsch.  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  59,  p.  490. 


500      L.  Brauer,  Die  Ausschal tuog  der  Pneumothoraxfolgen  etc. 

Dem  Ueberdruckverfahren  dfirfte  hier  zweifellos  die  Aufgabe  zufallen, 
diese  dort  geschilderten  Methoden  ausgestalten  zu  helfen  und  brauch- 
barer zu  machen.  Das  Ziel,  welches  wir  bei  unserem  Vorgehen  vor 
Augen  behalten  müssen,  ist  ein  mehrfaches.  In  erster  Linie  ist  zu  er- 
streben, den  verderblichen  Folgen  des  Lungenkollapses  und  der  Media- 
stinalverdrängung  vorzubeugen. 

Bei  „Pneumothorax  acutissimus''  empfahl  Unterricht  eine  Brust- 
wandfistel anzulegen  und  diese  alsdann  durch  entsprechende  Ein- 
richtungen dauernd  offen  zu  erhalten;  es  sollte  hierdurch  der  starken 
Drucksteigerung  im  Pneumothoraxraum  und  damit  der  Mediastinalver- 
drängung  entgegen  gearbeitet  werden.  Unterricht  ist  fernerhin  der 
Meinung,  daß  durch  dieses  Vorgehen  auch  eine  völlige  Ruhigstellung 
der  Lungenfistel  erzielt  werde  und  daß  diese  daher  rascher  zur  Aus- 
heilung gelangen  kann.  Mir  erscheint  es  zweifelhaft,  ob  man  mit  diesem 
Verfahren  in  der  Tat  diese  Ruhigstellung  der  Lungenfistel  erreicht. 
Schon  bei  normaler  Exspiration  bläht  die  gesunde  Lunge  die  kolla- 
bierte etwas  auf.  (Siehe  hierüber  die  oben  zitierten  Ausführungen 
Schedes  und  anderer.)  Speziell  bei  stärkeren  HustenstöBen  ist  eine 
derartige  vorübergehende  Aufblähung  der  Lunge  unvermeidlich.  Da 
nun  somit  eine  wirkliche  Ruhigstellung  der  Lunge  doch  nicht  durch 
dieses  Verfahren  erreicht  wird,  so  dürfte  es  empfehlenswert  sein,  das- 
selbe mit  vorsichtiger  Anwendung  des  Ueberdruckverfahrens  zu  kom- 
binieren und  so  die  Lunge  der  kranken  Seite  dauernd  in  einem 
leichten  Zustande  der  Blähung  zu  halten.  Das  wäre  jedenfalls  auch 
für  die  nachmalige  völlige  Wiederausdehnungsfähigkeit  der  Lunge  von 
Bedeutung.  Eine  mäßige  Blähung  der  kranken  Lunge  stellt  diese  ohne 
Zweifei  ruhiger  als  völliges  Kollabierenlassen  und  zwar  deswegen,  weil 
erstens  durch  die  mäßige  Anwendung  des  Ueberdruckes  der  gesunden 
Seite  ein  besseres  Atmen  ermöglicht  wird,  so  daß  die  forzierten  dyspno- 
ischen Atembewegungen  in  Fortfall  kommen  und  weil  zweitens  die  je- 
weilige Blähung  in  der  Exspirationsphase  und  der  Kollaps  in  der  Inspi- 
rationsphase bei  der  bereits  gespannten  Lunge  beträchtlich  geringer 
sind,  so  daß  dem  berechtigten  Postulate  Unverrichts  nach  Ruhig- 
stellung der  Lunge  in  höherem  Grade  Genüge  geleistet  wird.  Daß  bei 
bereits  geschlossener  Lungenfistel  eine  langsam  zunehmende  Blähung 
der  Peumothoraxlunge  mit  nachfolgendem  Verschluß  der  Thoraxfistel 
unter  Umständen  von  heilsamster  Wirkung  sein  kann,  darüber  dürften 
kaum  Zweifel  bestehen. 


FromnuuiBtche  Bochdrackn«!  (Hermanii  Fohle)  !■  Jena.  —  2674 


Nachdruck  verboten. 


XIX. 

lieber  die  diagnostische  und  therapeutische 
Bedeutung  der  Lumbalpunktion'). 

Von 

D.  Gerliardti 

a.  0.  Professor  in  Erlangen. 


Die  einfachste  Verwertung  der  Lumbalpunktion  zu  diagnostischen 
Zwecken  ist  die  Berücksichtigung  des  im  Rflckenmarkskanal  herrschenden 
Druckes. 

Einen  ungefähren  Maßstab  dafflr  gibt  die  Schnelligkeit,  mit  welcher 
die  Flüssigkeit  sich  durch  die  Hohlnadel  entleert.  Daß  sich  das  mit 
der  wirklichen  Drucksteigerung  nicht  absolut  deckt,  daß  insbesondere 
langsames  Abfließen  sehr  wohl  bei  meßbarer  Drucksteigerung  vorkommen 
kann,  sei  gern  zugegeben.  Indes  wird  der  Schluß,  daß  auffallend  rascher 
Abfluß  auf  vermehrten  Druck  hinweist,  in  der  Regel  zutreffen. 

Genaueren  Einblick  ergibt  die  Druckmessung.  Sie  wird  wohl 
von  den  meisten  Untersuchern  in  der  einfachen,  von  Quincke  vor- 
geschlagenen Weise  ausgeübt,  daß  man  die  Punktionsnadel  mit  einem 
Steigrohr  verbindet  und  mit  dem  Maßstabe  die  Druckhöhe  mißt.  Es 
ist  richtig,  daß  hierbei  ein  Fehler  unterläuft,  weil  das  Abfließen  der  ins 
Steigrohr  übertretenden  Flüssigkeit  natürlich  eine  Veränderung  des  ur- 
sprünglichen Druckes  zur  Folge  hat,  indes  hat  die  exaktere  Messungs- 
weise von  WiLMS  *)  doch  jenen  einfacheren  Modus  nicht  zu  verdrängen 
vermocht.  Beim  normalen  Erwachsenen  schwankt  die  Höhe  d^s  Druckes 
im  Arachnoidalraum  nach  Quincke  zwischen  4  und  13,  nach  Krönig 
zwischen  6  und  15  cm  Wasser  (5—12  mm  Hg.). 

Steigerung  des  Druckes  findet  sich  regelmäßig  während  forcierter 
Exspiration  (wohl  infolge  Anschwellung  der  periduralen  Venenplexus), 

1)  Referat,  erstattet  auf  der  29.  Versammlung  südwestdeutscher  Neuro- 
logen und  Irrenärzte  zu  Baden-Baden. 

2)  WiLMB,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1897. 

.  d.  OnnscBMfltan  d.  Madtxin  a.  Ohinirite.    ZIIL  Bd.  33 


502  D.  Gerhardt, 

deshalb  auch  während  aller  Krampfzustände,  so  bei  epileptischen,  ur- 
ämischen Krämpfen,  aber  auch  gelegentlich  bei  allgemeiner  Stauung 
infolge  von  Herzschwäche. 

Drucksteigerung  bei  Ausschaltung  dieser  Fehlerquellen  weist  auf 
abnorme  Flüssigkeitsmenge,  auf  entzündliche  Vorgänge  im  weitesten 
Sinn  oder  auf  raumbeengende  Prozesse  im  Zentralnervensystem  (Tu* 
moren,  Blutungen)  hin. 

Notwendige  Voraussetzung  hierbei  ist  die  freie  Kommunikation  von 
Hirn-  und  Rückenmarkshöhle  und  natürlich  eine  gewisse  Dünnflüssig* 
keit  des  Liquors,  sowie  Zugänglichkeit  des  Subarachnoidalraumes  für 
die  Kanüle.  Die  beiden  letzteren  Momente  können  bei  schwer  ent* 
zündlichen  Prozessen  im  Bereich  der  Pia  mater  spinalis,  das  erstge- 
nannte bei  Verklebung  von  Ependym  oder  Arachnoideamaschen  oder 
bei  Kompression  durch  Geschwülste,  zumal  Geschwülste  in  der  hinteren 
Schädelgrube,  vereitelt  werden  (Stadelmann).  Man  darf  deshalb  aus 
dem  Ausbleiben  der  Drucksteigerung  nicht  ohne  weiteres  auf  normale 
Druckverhältnisse  in  der  Schädelhöhle  schließen. 

Feinere  Beobachtung  des  Druckes  erlaubt  unter  Umständen,  noch 
weitere  diagnostische  Schlüsse  zu  ziehen.  Niederer  Druck  im  spinalen 
Liquor  neben  anderweitig  festgestellter  Drucksteigerung  im  Schädel 
(Hirndruckerscheinungen,  namentlich  StauungspapiUe)  macht  es  wahr- 
scheinlich, daß  die  Kommunikation  zwischen  Schädel-  und  Rückenmarks- 
höhle unterbrochen  ist,  und  spricht  nach  Quincke,  falls  das  ganze 
Krankheitsbild  auf  einen  Hirntumor  hinweist,  dafür,  daß  der  Tumor  im 
hinteren  Teil  des  Schädels  sitzt  Hoher  Druck  bei  Beginn  der  Punktion^ 
aber  auffallend  rascher  Abfall  nach  Abfluß  von  wenigen  Kubikcenti- 
metern  deutet  nach  Noelke  ^)  darauf  hin,  daß  die  vor  der  Punktion 
noch  bestehende  Kommunikation  beider  Höhlen  während  des  Ausfließen» 
verschlossen  wurde,  also  vorher  verengt  war.  Krönio^)  benutzt  zur 
Erkennung  der  offenen  Verbindung  beider  Höhlen  die  pulsatorischen 
Druckschwankungen  des  Liquors;  Fehlen  dieser  Schwankungen  soll 
auf  Störung  dieser  Verbindung  hinweisen.  Wilms^)  sah  bei  einer 
sehr  gefäßreichen,  in  den  Seitenventrikel  hineinragenden  Hirngeschwulst 
abnorm  große  Pulsschwankungen  des  Liquors. 

Hoher  Druck  mit  relativ  leichten  klinischen  Erscheinungen  spricht 
nach  Quincke  für  chronische,  mäßige  Druckhöhe  neben  beträchtlichen 
Hirndrucksymptomen  für  akute  Drucksteigerung. 

Nächst  der  Druckhöhe  und  der  Menge  der  entleerten  Flüssigkeit 
ist  ihr  Aussehen,  ob  klar  oder  trüb,  ob  bluthaltig  oder  sonstwie  ge- 
färbt, von  Bedeutung. 

Trübe  Beschaffenheit  des  Liquors  ist  ein  Zeichen  für  Entzün- 

1)  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1897. 

2)  Kongr.  f.  inn.  Med.,  1899. 

3)  Mtinch.  med.  Wochenschr.,  1897. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumpalpnnktion.    603 

dang,  und  zwar  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  für  eiterige  Entzündung  der 
Meningen.  Daß  derartige  Fälle  gelegentlich  günstig  verlaufen  können 
[Stadelmanks  Fall  13,  Ruprecht  O]«  ist  wohl  kaum  als  Gegenbeweis 
anzuführen. 

Dagegen  sind  neuerdings  aus  der  ScHWARTZEschen  Klinik  von 
Braunstein«)  und  Sohultze^  einige  Fälle  mitgeteilt  worden,  die 
zeigen,  daß  Trübung  des  Liquors  doch  nicht  eindeutig  ist.  2mal  soll 
trotz  der  Trübung  keine  Leukocytenvermehrung  bestanden  haben,  in 
2  anderen  Fällen  wurden  zwar  Leukocyten,  aber  keine  Bakterien  ge- 
funden, und  die  nachher  ausgeführte  Trepanation  ergab  nur  Vermehrung 
des  Liquors,  nichts  von  eiteriger  Meningitis. 

Ganz  feine,  wie  durch  Sonnenstäubchen  bedingte  Trübung  ist  nach 
Oroelmeister^)  charakteristisch  für  tuberkulöse  Meningitis. 

Bei  dieser  Affektion  sieht  man,  worauf  zuerst  Lichtheim  ^)  hinwies, 
noch  häufiger  den  anfänglich  klaren  Liquor  nach  ein  paar  Stunden  trüb 
werden  durch  Ausscheidung  eines  feinen  spinnwebartigen  Gerinnsels. 
Es  kommt  vorwiegend  bei  tuberkulöser  (widersprochen  von  Fried- 
jung^,  viel  seltener  bei  eiteriger  (Schiff^  oder  syphilitischer  Menin- 
gitis, Hirnabsceß  mit  meningaaler  Reizung,  Hirntumor  (Lightheim)  vor. 

Blutige  Farbe  des  Liquors  fand  man  bei  Blutungen  in  die 
Rückenmarkshäute®),  bei  Schädelbrüchen  mit  Blutinfiltration  der  Pia^), 
bei  Sinusthrombose  ^^),  am  häufigsten  bei  Durchbruch  von  Hirnblutungen 
in  die  Ventrikel  oder  (seltener)  in  die  weichen  Häute  der  Konvexität. 

Von  Blutbeimengong  infolge  von  Verletzung  der  subdoralen  Venen- 
plexus  beim  Einstechen  unterscheiden  sich  diese  Fälle  dadurch,  dal{  bei 
solcher  artifiziellen  Blutung  gewöhnlich  nur  die  ersten  Portionen  der  ab- 
gelassenen Flüssigkeit  stark  bluthaltig,  die  späteren  deutlich  heller  sind,  und 
daß  dieses  frische  Blut  bald  gerinnt,  während  nach  Beobachtungen  von 
Hbnnbbbbg  ^^),  Bard^^,  MATTmsu  Blut,  das  längere  Zeit  mit  dem  Liquor 
in  Berührung  war,  ungerinnbar  wird. 

1)  RüPRBCHT,  Arch.  f.  Ohrenheilkd.,  Bd.  60. 

2)  Braunstbin,  AroL  f.  Ohrenheilkd.,  Bd.  64. 

3)  ScHULTZB,  ebenda,  Bd.  58,  p.  18. 

4)  Orqblmbistbb,  D.  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  76. 

5)  LiCHTHBiM,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1893,  No.  47.  —  Froh- 
MAKN,  15.  Kongr.  f.  inn.  Med. 

6)  Fribdjuno,  Wien.  klin.  Wochenschr.,   1901,  No.  44. 

7)  Schiff,  ebenda,  1898. 

8)  Strauss,  Char.  Ann.,  1900.  —  Conobtti,  ref.  Neurol.  Centralbl., 
1899,  p.  1048.  —  Jakobt,  New  York  med.joum.,  1895  u.  1896.  —  Kiliani, 
ebenda,  1896. 

9)  FüRBRiNGBR,  KougT.  f.  inu.  Med.,  1896.  —  Cbouzon,  Sog.  Neur. 
Paris,  ref.  Neur.  Centralbl.,  1908,  p.  886.  —  Boutibr,  Th^se  de  Paris, 
1902.  —  GüÄGNBN,  dto.,  1902. 

10)  FiNKBLSTBiN,  ChaT.  Auu.,  1898. 

11)  Hbnnbbbrg,  NeuroL  Centralbl.,  1900,  p.  374. 

12)  Bard,  Sem.  m6d.,  1901,  p.  228. 

33* 


504  D.  Gerhardt, 

In  sweifelhaften  Pällen  wird  ein  Einstich  an  einer  anderen  Stelle  die 
Entscheidong  bringen. 

Noch  sicherer  als  Beimischung  frischen  Blutes  weist  die  Anwesen- 
heit von  verändertem  Blut  auf  hämorrhagische  Vorgänge  im  Bereich 
des  Arachnoidalraumes  (inkl.  Hirnventrikel)  hin.  Bald  findet  man  ge- 
löstes Hämoglobin  (Bard),  bald  theerfarbene  Massen  (Strauss,  Jakobt), 
bald  bräunlichgelbe  Flüssigkeit. 

Derartige  Färbung  sah  ich  in  einem  Fall  8  Tage  nach  einer  in  den 
Ventrikel  durchgebrochenen  Hirnblutung;  das  Spektroskop  zeigte  aufier 
den  beiden  Hämoglobin-  den  Hämatinstreifen,  das  Mikroskop  Zellen  mit 
zahlreichen  gelben  Schollen  und  Kugeln  im  Innern,  ähnlich  den  „Herz- 
fehlerzellen^  im  Sputum,  doch  ohne  Eisenreaktion. 

Andere  Male  zeigt  der  Liquor  nach  Hirnblutungen  andere  Färbungen 
von  noch  unbekanntem  Charakter.  Bard  ^),  Tuppibr  '),  Widal  *)  berichten 
überstimmend,  nach  Hirnblutungen  mit  Ventrikeldurchbruch  intensiv  gelbe 
oder  grünlich  gelbe  Farbe  des  Liquors  gesehen  zu  haben,  die  sich  weder 
chemisch  (Guajakprobe)  ncfch  spektroskopisch  als  Blutfarbe  verriet.  Sie 
soll  schon  am  2.  und  8.  Tag  nach  der  Blutung  zu  beobachten  sein  und 
etwa  bis  zum  18.  Tage  dauern.  Die  diagnostische  Bedeutung  dieses 
Momentes  wird  aber  vermindert  durch  die  Erfahrung,  daß  ganz  ähnliche 
Färbung  auch  bei  einzelnen  Fällen  eiteriger  [Nbttbr^)]  und  tuberkulöser 
Meningitis  [Widal  ^)]  und  bei  Bückermarksgesch Wülsten  [Bindfleisch  ^)] 
vorkommt  Daß  Gelbfärbung  des  Liquors  auch  in  seltenen  Fällen  von 
Ikterus  gesehen  wurde,  sei  hier  nur  nebenbei  erwähnt;  sie  soll  nach 
Widal,    Sicard   und  Bavaut^  nicht   immer  durch  Bilirubin  bedingt  sein. 

Vermehrung  des  Eiweißgehaltes  weist  immer  auf  patholo- 
gische Verhältnisse.  Der  normale  Liquor  enthält  nur  Spuren  von  Eiweiß, 
nach  Quincke  0,2—0,5  %o,  nach  Riecken  bis  zu  1,0  7oo;  unter  patholo- 
gischen Verhältnissen  kann  der  Eiweißgehalt  auf  das  4 — 5-fache,  ja  in 
extremen  Fällen  auf  das  10-fache  des  oberen  physiologischen  Grenz- 
wertes steigen.  Während  aber  Trübung  der  Flüssigkeit  regelmäßig  auf 
entzündliche  Prozesse  hindeutet,  findet  sich  Vermehrung  des  Eiweißes 
auch  bei  einer  Reihe  von  Zuständen,  die  unter  der  Schwelle  der  Ent- 
zündung liegen,  bei  Hydrocephalus,  Hirntumoren,  Hirnlues,  ja  nach 
den  Arbeiten  der  letzten  Jahre  ^)  auch  bei  Paralyse ;  und  die  eigentlich 
entzündlichen  Meningitiden,  die  tuberkulöse  und  die  eiterige,  zeichnen 
sich  von  den  oben  genannten  Krankheiten  nicht  einmal  durch  wesentlich 


1)  Bard,  Sem.  m6d.,  1901,  p.  228. 

2)  Tuppibr,  Soc.  Kop.,  12.  Juli  1901,  ref.  Sem.  möd.,  1901,  p.  328. 
8)  Widal,  Diskussion  ssu  Babds  Vortrag,  Sem.  m^d.,  1901,  p.  228. 
4)  Nbttbr,  ebenda. 

6)  Bindflbisoh,  W.,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenheilkd.,  Bd.  26. 

6)  Widal,   Sioard,   Ravaüt,  Soc.  Biol.,  3.  Nov.  1900,  ref.  Sem.  möd., 
1900,  p.  387;  1902,  p.  52. 

7)  SohAfbr,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  Bd.  59 ;  Nissl,  Centralbl. 
f.  Nervenheilk.  u.  Psych.,  1904. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     506 

höheren  Eiweißgehalt  des  Liquors  aus;  gelegentlich  war  er  bei  ausge- 
sprochener Meningitis  überhaupt  nicht  vermehrt. 

Man  darf  danach  sagen,  daß  geringer  Eiweißgehalt  nicht  gegen 
Meningitis  spricht;  daß  Vermehrung  des  Eiweißes  zwar  das  Bestehen 
eines  pathologischen  Zustandes  anzeigt,  für  dessen  nähere  Diagnose  da- 
gegen kaum  zu  brauchen  ist. 

Und  das  gibt,  wie  mir  scheint,  auch  die  Berechtigung,  auf  exakte 
Wägemethoden  des  Eiweißes  zu  verzichten  und  sich  mit  der  unsicheren 
aber  einfachen  EsBACH-Fällung  zu  begnügen ;  ja  für  die  rein  diagnosti- 
schen Zwecke  reicht  es  wohl  die  einfache  Eochprobe  mit  Zusatz  von 
ein  paar  Tropfen  verdünnter  Essigsäure  anzuwenden.  Eine  hierbei 
entstehende  diffuse  Trübung,  welche  auch  innerhalb  der  nächsten 
Minuten  diffus  bleibt,  wird  als  das  normale,  rasch  auftretende  Flocken- 
bildung, die  sich  bald  zu  deutlichem  Bodensatz  sammelt,  als  Zeichen 
vermehrten  Eiweißgehaltes  anzusehen  sein. 

Die  Versuche  französischer  Autoren  ^),  auch  die  Art  der  Eiwei£körper 
zur  Diagnose  zu  verwerten  —  normalerweise  soll  nur  Globulin,  bei 
Paralytikern  außerdem  Albumin  vorkommen  —  scheinen  mir  kaum  von 
Wert.  Wie  Nissl')  und  Sibmsrling^;  muß  ich  nach  eigenen  Untersuchungen 
das  alleinige  Vorkommen  von  Albumin  als  die  Regel  bezeichnen;  Nissl 
fand  nur  bei  wenigen  seiner  Paralytiker  Spuren  von  Globulin. 

Auch  die  Bestimmung  des  Zuckergehaltes,  so  interessant  sie 
(wegen  der  Beziehungen  zu  zuckerzerstörenden  Einflüssen)  vom  theo- 
retischen Standpunkt  aus  ist,  hat  für  die  Diagnostik  trotz  mancher  an- 
sprechenden Befunde  keine  Bedeutung  erlangt. 

Es  ist  zuzugeben,  daß  bei  tuberkulöser  und  eiteriger  Meningitis 
häufig  der  Zucker  fehlt,  aber  auch  bei  anderen  Zuständen,  Tumor 
(Lenhartz^),  Stadelmann),  Meningitis  serosa  (Quincke)  wurde  Ver- 
minderung des  Zuckergehaltes  doch  so  oft  beobachtet,  daß  der  Zucker- 
nachweis für  die  Diagnostik  nur  ein  recht  unsicheres  Hilfsmittel  dar- 
stellt. 

Gegenüber  der  verbreiteten  Auffassung,  daiS  Zucker  und  Eiweiß  im 
umgekehrten  Verhältnis  stünden,  kann  ich  einen  Fall  von  Meningitis  serosa 
eigener  Beobachtung  anfflhren,  wo  sowohl  EiweilS  wie  Zucker  nur  in 
Spuren  nachweisbar  waren.  Aehnliches  zeigten  Beobachtungen  von 
Brasoh  *). 

Zu  den  Untersuchungen  der  chemischen  Bestandteile  des  Liquors 
kommt  in  neuerer  Zeit  noch  die  Bestimmung  des  Chol  ins.  Sie  hat  als 
diagnostisches  Mittel  wohl  kaum  Anwendung  gefunden,  trotzdem  die 


1)  Guillain  et  Parant,  Eev.  Neurolog.  cit  b.  Nissl. 

2)  Nissl  loo.  cit 

3)  Sidmbbling,  Berl.  klin.  Wochenachr.,  1904,  No.  21. 

4)  Lbnhartz,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1896. 
6)  Brasgh,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  86. 


506  D.  Gerhardt, 

Angaben  von  Mott  und  Halliburton  ^),  daß  es  bei  solchen  AflFektionen, 
die  mit  Zerstörung  von  Nervensubstanz  einhergehen,  bei  Paralyse, 
Tabes,  kombinierter  Sklerose,  multipler  Sklerose,  im  Liquor  nach- 
gewiesen werden  könne,  zu  derartigen  Untersuchungen  auffordern. 

Allerdings  wurde  die  Aussicht,  durch  den  Nachweis  von  Cholin  im 
Pnnktat  des  Bestehen  einer  organischen  AfFektion  des  Zentralnerven- 
systems wahrscheinlich  zu  machen,  wesentlich  abgeschwächt  durch  die 
Mitteilung  von  Gumprbght  2),  daß  es  ein  normaler  Bestandteil  des  Liquors 
sei,  und  die  von  Donath  s),  wonach  es  regelmäßig  bei  Epilepsie,  deren 
noch  hypothetische,  anatomische  Grundlage  wir  doch  kaum  im  Untergang 
wägbarer  Teile  des  Gehirns  suchen  werden,  gefunden  werde. 

Noch  in  anderer  Weise  hat  man  die  chemische  Untersuchung  des 
Liquors  für  die  Diagnostik  heranzuziehen  gesucht:  durch  den  Nach- 
weis des  Uebertritts  von  künstlich  in  den  Säftestrom  eingeführten 
Substanzen.  A.  und  E.  Cavazzani^)  haben  zuerst  an  Tieren  gezeigt,  daß 
zwei  sonst  so  leicht  in  alle  Körpersäfte  übertretende  Salze,  wie  Jodkali 
und  Ferrocyankali  im  Liquor  cerebrospinalis  nicht  oder  nur  unter  ganz 
extremen  Umständen  erscheinen. 

Dasselbe  fand  Lbwandowski  ^)  für  Ferrocyannatrium  und  ftlr  Strychnin, 
und  analoge  Beobachtungen  aus  der  Pathologie  lieferten  Läri®)  für  Me- 
thylenblau, SiOARD  ^  für  das  Bilirubin  (das  allerdings  auch  in  Drüsen- 
sekrete nur  ausnahmsweise  übertritt),  Widal  und  Sicabd^)  und  Lbw- 
Kowicz^)  für  die  agglutinierende  Substanz  bei  Typhus,  Milian  und  Lbgbos^^) 
für  die  krampferzeugende  Eigenschaft  bei  Tetanus  (im  Gegensatz  zur  Lyssa, 
deren  Gift  nach  DBXiGäs  und  Sabraz&s  im  Liquor  enthalten  ist,  eine  für 
die  Theorie  des  Liquors  bemerkenswerte  Tatsache). 

Das  Fehlen  der  Jodreaktion  im  Liquor  trotz  großer  Jodkalidosen 
wurde  am  Krankenbett  vielfach  bestätigt  Nur  bei  eiteriger  und  tuber- 
kulöser Meningitis  wurde  mehreremale  Jod  in  der  Punktionsflüssigkeit 
nachgewiesen,  und  deshalb  schlugen  besonders  französische  Autoren 
[LoüQUEs^^),  LfiRi^*)]  vor,  das  Vorkommen  von  Jod  nach  Jodkalidar- 
reichung als  ein  diagnostisches  Mittel  zur  Erkennung  der  Meningitis 
zu  verwenden. 


1)  MoTT  und  Halliburton,    Lancet,    13.  April  1901 ;   Procced.  Roy. 
Soc,  Bd.  45,  1899. 

2)  GuMPBBCHT,  Kongr.  f.  innere  Med.,   1900. 

3)  Donath,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie.,  Bd.  39. 

4)  Gavazzani,  Gentralbl.  f.  Physiologie,  1892. 

6)  Lbwandowski,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  40. 

6)  LAbi,  Arch.  de  m6d.  ezper.,  1897. 

7)  SiCARD,  ref.  Sem.  m6d.,  1900,  p.  387. 

8)  Widal  et  Sicard,  Ann.  de  Tlnst.  Pasteur,  1897. 

9)  LbwkoWicz,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.,  Bd.  55. 

10)  Millan  et  Legros,  Sem.  m^d.,  1901. 

11)  SoüQUBS,  Sem.  m6d.,  1901,  p.  212. 

12)  Läri,  Arch.  möd.  Enf.,  1902. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     507 

Ich  kann  bestätigen,  daß  Jod  selbst  bei  Luetikern,  die  wochenlang 
Jodkali  bekommen  hatten,  im  Liquor  nicht  nachweisbar  ist,  während  es 
bei  einem  Falle  eiteriger  Meningitis  prompt  erschien.  Dieser  Uebertritt 
von  Jod  scheint  aber  bei  Entzündungen  doch  nicht  so  regelmäßig  vor- 
zukommen, daß  ihm  viel  Bedeutung  für  die  Diagnostik  zukäme. 

Nur  kurz  erwähnt  seien  die  Versuche,  die  Giftigkeit  der  Funktions- 
flüssigkeit für  Versuchstiere  diagnostisch  zu  verwenden,  wie  sie  Widal 
und  Dblillb-Achabd  ^)  für  den  Liquor  bei  tuberkulöser  Meningitis  (von 
81CARD  nicht  bestätigt),  PBLLEQaiNi ')  für  Epilepsie,  zumal  in  der  Zeit  un- 
mittelbar nach  den  Anfallen,  angaben.  Ebenso  brauche  ich  die  Ver- 
49uche  Cbisafbs^),  die  Oxydationskraft  des  Liquors  mit  Tetrapapier  zu  be- 
fitimmen,  nur  flüchtig  zu  erwähnen. 

Und  auch  die  Gefrierpunktbestimmungen  geben  unsichere 
Resultate.  Widal,  Sicard  und  Ravaüt  ^),  welche  zuerst  die  Cryoskopie 
des  Liquors  methodisch  verfolgten,  fanden  bei  8  von  10  Fällen  tuber- 
kulöser Meningitis  abnorm  geringe  Gefrierpunktserniedrigung  ( — 0,48 
bis  —0,45),  während  sie  beim  Normalen  und  bei  verschiedenen  ander- 
weiten Krankheiten  auffallend  hohe  Zahlen  (—0,6  bis  —0,75),  also 
stärkere  Molekularkonzentration  als  im  Blut,  erhielten.  Sie  glaubten 
deshalb  in  der  geringen  Gefrierpunktserniedrigung  ein  Charakteristikum 
der  tuberkulösen  Meningitis  gefunden  zu  haben.  Souqües  und  Achard 
machten  ähnliche  Angaben,  und  Bard  ^)  brachte  durch  die  Beobachtung, 
daß  der  Liquor  einiger  Fälle  von  tuberkulöser  Meningitis  leichter  als 
der  Liquor  anderer  Patienten  rote  Blutkörperchen  auflöse,  eine  Bestäti- 
gung; aber  andere  Autoren,  so  Läri,  erhielten  widersprechende  Re- 
sultate. 

Ich  selber  muß  den  Wert  dieses  diagnostischen  Mittels  bezweifeln. 
Von  12  Fällen,  in  denen  ich  die  Bestimmung  ausführen  konnte,  erhielt 
ich  in  8,  welche  verschiedene  chronische  Erkrankungen  betrafen,  den 
Gefrierwert  ebenso  wie  den  des  Blutes,  —0,56;  nur  2mal  wesentliche 
Erhöhung,  —0,66  und  — 0,62;  in  beiden  Fällen  war  die  Punktion  un- 
mittelbar nach  dem  Tode  ausgeführt  worden,  es  ließen  sich  zwar  post- 
mortale, aber  nicht  agonale  Einflüsse  als  Ursache  der  abnormen  Mole- 
kularkonzentration ausschließen ;  und  in  den  beiden  letzten  Fällen,  in  denen 
die  Molekularkonzentration  abnorm  gering  war,  A  =  — 0,51  und  —0,52, 
handelte  es  sich  nicht  um  tuberkulöse,  sondern  im  einen  Falle  um 
seröse,  im  anderen  um  eiterige  Meningitis  neben  Otitis  interna. 

Viel  sicherere  diagnostische  Handhaben,  als  diese  chemische  und 


1)  Dblillb,  Sem.  m^d.,  1902,  p.  236. 

2)  Pbllborini,  Rif.  med.,  1901,  ref.  Centralbl.  f.  Med.,    1901,   p.  984. 
8)  Cbisafb,  Riv.  Clin.  Ted.,  1903,  ref.  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  69, 

688. 

4)  Soc.  Biol.,  20.  Okt.  1900,  ref.  Sem.  möd.,  1900,  p.  872. 

5)  Bard,  Soc.  biol.,  9.  Febr.  1901,  ref.  Sem.  m6d,  1901,  p.  60. 


508  D.  Gerhardt, 

physikalische,  liefert  natürlich  die,  zuerst  von  Lightheim  erprobte, 
bakteriologische  Untersuchung  der  Punktionsflüssigkeit  Die  An- 
gaben, wie  oft  die  Krankheitserreger  bei  infektiösen  Meningealaffektionen 
im  Liquor  nachweisbar  sind,  gehen  zwar  auseinander,  aber  darin 
stimmen  doch  fast  alle  Untersucher  überein,  daß  die  Wahrscheinlichkeit, 
sie  zu  finden,  groß  genug  ist,  um  die  bakteriologische  Untersuchung 
der  Lumbalpunktionsflüssigkeit  als  ein  wichtiges  Mittel  zur  Diagnose  der 
Meningitis  erscheinen  zu  lassen. 

Das  gilt  sowohl  für  die  tuberkulöse  wie  für  die  eiterige  Form. 
Wenn  auch  nicht  alle  Forscher  so  glücklich  waren,  wie  Breuer  Oi 
Lichtheim  ')  und  Heubner  ^,  die  nach  sorgsamem  Suchen  in  jedem 
Fall  die  Tuberkelbacillen  auffinden  konnten,  so  berichten  doch  die 
meisten  über  positives  Ergebnis  in  Vi  bis  "/^  ihrer  Fälle. 

Der  Nachweis  der  Tuberkelbacillen  ist  um  so  leichter  zu  erbringen, 
in  je  vorgerückterem  Stadium  sich  die  Krankheit  befindet  Pfaundler  ^) 
gelang  er  bei  Meningitis  im  Stadium  der  Reizung  in  33,  des  Hirn- 
druckes in  50,  der  Hirnlähmung  in  75  und  bei  Punktion  unmittelbar 
nach  dem  Tode  in  100  Proz. 

Das  Auffinden  der  Bacillen  wird  erleichtert,  wenn  man  nach  Licht- 
heims  und  Langbss  ^)  "Vorgang  das  spinnwebartige  Oerinnsel,  das  sich  bei 
Meningealtuberkulose  gewöhnlich  nachträglich  abscheidet,  zur  Untersuchung 
verwendet 

Da  wo  die  einfache  mikroskopische  Untersuchung  im  Stich  ließ,  konnte 
durch  Züchtung  (Langbb),  durch  subkutane,  intraperitoneale  (Slawick  und 
Manicatidb)  oder,  nach  Hkllkndalls  ^  Vorschlag,  intraspinale  Injektion 
des  Punktats  bei  Meerschweinchen  noch  des  öfteren  der  Krankheitserreger 
nachgewiesen  werden,  allerdings  meist  erst  zu  einer  Zeit,  wo  die  Diagnose 
bereits  durch  die  Sektion  bestätigt  war. 

Besonderes  Interesse  verdienen  die  Fälle  geheilter  Meningitis,  in 
denen  die  Lumbalpunktion  Tuberkelbacillen  nachwies.  Wenn  ihre  Zahl 
auch  bisher,  meines  Wissens,  nur  4  beträgt^),  so  haben  sie  doch  den  Be- 
weis für  die  Möglichkeit  einer  wirklichen  Ausheilung  dieser  Krankheit  er- 
bracht, die  früher  doch  nur  bis  zu  gewissem  Grad  wahrscheinlich  gemacht 
werden  konnte. 

Regelmäßiger  noch,  als  bei  den  tuberkulösen,  gelang  der  Nachweis 
der  Krankheitserreger  bei  den  eiterigen  Meningitiden.  Der  alte  Streit^ 
ob  der  FRÄNKELsche  oder  der  WEiCHSELBAUMsche  Coccus  der  Erreger 


1)  BaBUER,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1901. 

2)  LiCHTHBiM,  D.  med.  Wochenschr.,  1896. 

3)  Hbubnbr-Slawice  u.   Manicatidb,    Berl.   klin.  Wochenschr.,  1898. 

4)  Pfaundler,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  49. 

5)  Langer,  Zeitschr.  f.  Heilkd.,  1899. 

6)  Hbllbndall,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1901. 

7)  Frbyhan,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1894,  p.  707.  —  Henkel, 
Münch.  med.  Wochenschr.,  1900,  p,  799.  —  Barth,  ebenda,  1902,  p.  877. 
—  Gross,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1902,  p.  776. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.    509 

der  epidemischen  Meningitis  sei,  ist  vorwiegend  durch  die  Ergebnisse 
der  Lumbalpunktion  geschlichtet  worden,  und  zwar  in  dem  Sinne,  daß 
beiden  diese  Rolle  zukommt,  daß  aber  bei  der  eigentlich  epidemischen 
Form  gewöhnlich  der  WEiCHSELBAUMsche  intracelluläre  Diplococcus  0« 
bei  den  sporadischen  Fällen  nicht  selten  der  Pneumococcus  gefunden 
wird. 

Interessant  and  noch  genauerer  Untersuchung  wert  ist  die  Beobach- 
tung von  HüKBBMAKN^),  daß  auch  der  Meningococcus  in  zweierlei,  durch 
F&rbungs-  und  Wachstumseigentümlichkeiten  charakterisierte  Formen  vor- 
kommt, deren  eine  der  ursprünglich  WBiCHSXLBAUMschen,  deren  andere 
der  JAoBR-HsuBNSRSchen  Beschreibung  entspricht 

Jedenfalls  kann  man  in  akuten  Fällen  mit  ziemlicher  Sicherheit 
darauf  rechnen,  die  Diagnose  der  epidemischen  Meningitis  durch  den 
Befund  der  intracellulären  Kokken  in  der  Punktionsflüssigkeit  zu  ent- 
scheiden. Das  gilt  allerdings  nur  für  die  ersten  Wochen.  Nach 
ca.  14  Tagen  sind  die  Kokken  nicht  mehr  nachweisbar,  und  auch  in 
den  chronischen  Fällen  sucht  man  meist  vergebens  [Wentworth  ^), 
CouNCiLMAKK,  Mallort  Und  Wrioht*)]. 

Eine  Erweiterung  der  Diagnostik  liefert  die  bakteriologische  Unter- 
suchung auch  für  jene  allerdings  seltenen  Fälle  von  Mischinfektion,  wo 
neben  dem  Meningococcus  der  Pneumococcus  (Hüxbbmann,  KrOnig),  der 
Staphylococcus  (Sjiönio),  Colibacillus  [Sacq^p^b  ^)]  oder  sogar  der  Tuberkel- 
bacillus  (Lbwcowicz)  gefunden  wurde. 

Auch  die  eigentlich  eiterige,  metastatische  Meningitis  hat  sich 
relativ  oft  durch  den  Nachweis  der  Erreger  diagnostizieren  lassen. 
Staphylo-  und  Streptokokken,  Influenza-^,  Typhus-,  Kolibacillen ^, 
Tetragenus,  Actinomyces  wurden  gefunden,  abgesehen  von  anderen, 
teilweise  noch  wenig  studierten  Formen  (Stadelmann). 

Für  die  wenigen  Fälle,  wo  trotz  Bakterienbefund  im  Liquor  durch 
die  Sektion  keine  Meningitis  nachgewiesen  wurde  [Lesni^b,  Finxblstbin  ®)], 
ist  wohl  Pfaundlbrs  Erklärung  anzunehmen,  da£  hier  die  Bakterien  nur 
firüher  als  die  anatomischen  Veränderungen  nachweisbar  wurden. 


1)  Vgl.  HsuBNER,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  43. 

2)  HüxBRMANN,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  85. 

3)  Wbntworth,  Lancet,  Oct  1898. 

4)  CouNCiLMANN,  Majjlory  uud  Wrioht,  Epidem.  cerebrosp.  meningitis, 
Boston  1898,  ref.  Centralbl.  f.  innere  Med.,  1898,  p.  1138. 

5)  Sacqüäpäb,  Soc.  höp.,  11.  Juli  1902,  ref.  Sem.  m^d.,  1902,  p.  236. 

6)  Mbunibb,  ref.  Sem.  m^d.,  1901,  p.  17.  —  Stbfanbscü,  citiert 
Schmidts  Jahrb.,  280,  185.  —  Trailescu,  cit.  ebenda,  275,  57.  — 
Lanobr,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  53.  —  Slawyck,  Zeitschr.  f.  Hyg., 
1899.  —  JuNDBLL,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  59,  T3L  6. 

7)  Achard,  Soc.  höp.,  15.  März  1903.  —  Simonis,  Soc.  höp.,  19.  Juli 
1901.  —  NoBficoüRT  et  du  Pasqubb,  ref.  Neurol.  Centralbl.  1903,  p.  132. 

8)  FiNKBLSTBiN,  Bori.  kliu.  Wochenschr.,  1897,  No.  44. 


510  D.  Gerhardt, 

Von  mehr  theoretischer  als  praktisch-diagnostischer  Wichtigkeit 
sind  die  Befunde  von  Eiterkokken  im  Liquor  bei  akuter  metastatischer 
Myelitis,  wie  sie  von  Strümpell  i),  und  von  Meningkokken  bei  Kinder- 
liüimung,  wie  sie  von  Fr.  Schültze*)  und  F.  Engel*)  erhoben 
werden  konnten. 

Ich  komme  zur  Besprechung  der  histologischen  Untersuchung 
des  Sedimentes,  desjenigen  Punktes,  welcher  in  den  letzten  Jahren  be- 
sonders eifrig  studiert  worden  ist,  und  welcher  der  Anwendung  und 
Verwertung  der  Lumbalpunktion  entschieden  neue  Bahnen  geöffnet  hat. 

Die  Cytologie  des  Liquors  cerebrospinalis  geht  aus  von  den 
Arbeiten  Widals,  der  seine  Studien  über  die  Zellbeschaffenheit  der 
Pleuraergüsse  bald  auf  die  Spinalflüssigkeit  übertrug  und  zuerst  im 
Herbst  1900*)  berichtete,  daß  er  bei  3  Fällen  tuberkulöser  Meningitis 
reine  Lymphocytose  beobachtet  habe. 

Weitere  Untersuchungen  von  Widal  selbst,  zum  Teil  in  Gemeinschaft 
mit  SiCARD  und  Ravaut,  bestätigten  die  damals  ausgesprochene  Ver- 
mutung, daß  ganz  ähnlich,  wie  in  den  serösen  Flüssigkeiten  der  Körper- 
höhlen, so  auch  im  Liquor  cerebrospinalis  bei  den  tuberkulösen  Ent- 
zündungen vorwiegend  Lymphocyten,  bei  den  eiterigen  (oder  den  akuten 
nicht  eiterigen)  vorwiegend  Leukocyten  im  Sediment  gefunden  werden  ^). 

Widal  war  nicht  der  erste,  welcher  der  Beschaffenheit  der  Zellen 
im  Sediment  seine  Aufmerksamkeit  zuwandte.  Vor  ihm  haben  Kor- 
czYNSKi  und  Wernicki^),  Bernheim  und  Moser  ^  und  besonders 
Pfaundler  ^)  dieselben  Beobachtungen  gemacht  und  auf  den  diagnosti- 
schen Wert  mit  aller  Bestimmtheit  hingewiesen.  Ich  führe  Pfaundlers 
Worte  an:  „Wichtig  ist  es  namentlich,  das  Zahlenverhältnis  der  ein- 
und  mehrkernigen  Leukocyten  zu  beachten;  erstere  werden  nur  bei 
tuberkulöser  Hirnhautentzündung  in  größerer  Menge  getroffen.^ 

Aber  diese  Angaben  fanden  in  Deutschland  wenig  Berücksichtigung, 
während  Widals  Mitteilungen  in  Paris  außerordentlich  anregend  wirkten 
und  bald  durch  eine  große  Zahl  von  Untersuchungsreihen  der  fran- 
zösischen Kliniker  bestätigt  wurden. 


1)  V.  Stbümpbll,  Kongr.  f.  inn.  Med.,  1901. 

2)  ScHULTZB,  Fr.,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1898,  p.  1197  u.  Rhein.- 
westf.  Ges.  f.  Med.  u.  Neurol.,  1904,  ref.  Münch.  med.  Wochenschr.,  1904, 
No.  23, 

3)  F.  Engel,  Prag.  med.  Wochenschr.,  1900,  No.  12. 

4)  Congr.  intemat.  zu  Paris,  ref.  Sem.  m^d.,  1900,  p.  298. 

5)  Ausffihrliche  Literaturgaben  s.  in  Brions  Sammelref.  im  Centralbl. 
f.  aUgem.  Pathol.,  Bd.  14,  1903. 

6)  KoRCziNSKi  u.  Wbrnicki,  cit.  b.  Lbwkowioz,  Jahrb.  f.  Kinderheilk., 
Bd.  65. 

7)  Bbrnhbim  u.  Mosbr,   Wien.  klin.  Wochenschr.,  1897. 

8)  Pfaundler,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.,  Bd.  49. 


Diagnostische  und  therapeutiscbe  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     511 

Die  Folgezeit  hat  zwar  gelehrt,  daß  diese  Regel  auch  Ausnahmen 
bat,  die  sich  nur  zum  Teil  durch  besonders  akuten  Verlauf  der  tuber- 
kulösen oder  abnorm  chronischen  Verlauf  der  eiterigen  Meningitis  er- 
klären ließen  ^),  sie  hat  aber  den  diagnostischen  Wert  der  WiDALschen 
Regel  nur  wenig  eingeschränkt.  Namentlich  aus  den  Pariser  Spit&lern 
kamen  viele  Berichte,  welche  Widals  Befunde  bestätigten ;  aus  Deutsch- 
land fließen  derartige  Mitteilungen  viel  spärlicher;  die  erste  stammt  von 
Bendix')  aus  Minkowskis  Abteilung. 

Außer  bei  eiteriger  und  tuberkulöser  Meningitis  fand  man  Ver- 
mehrung der  zelligen  Elemente  im  Liquor  bald  auch  bei  Zuständen, 
bei  welchen  es  sich  mehr  um  eine  Reizung  als  um  eigentliche  Ent- 
zündung der  Meningen  handelte,  so  bei  Herpes  zoster^,  bei  Hitz- 
schlag^), nach  Kokaineinspritzung  in  den  Arachnoidalsack  ^),  nach  Schädel- 
brüchen ^),  ja  nach  der  einfachen  Lumbalpunktien  selbst  ^). 

Bei  all  diesen  Zuständen  wurden  in  den  schweren  Fällen  anfangs 
überwiegend  polynukleäre,  späterhin  mononukleäre,  in  den  leichteren 
Fällen  gleich  von  Anfang  an  Ueberwiegen  der  mononukleären  Zellen 
gefunden,  ganz  entsprechend  der  WiDALschen  Regel  von  der  Bedeutung 
dieser  Zellen. 

Schon  in  den  ersten  Mitteilungen  über  die  Cytologie  der  Cerebro- 
spinalflüssigkeit  tritt  mehrfach  die  Angabe  auf,  daß  vorwiegende  Lym- 
phocytose  auch  bei  luetischen  Erkrankungen  des  Zentralnerven- 
systems vorkomme®),  und  zwar  sowohl  bei  chronischen  als  bei  akut  ein- 
setzenden Formen.  Späterhin  wurde  das  vielfach  bestätigt  und  in  der 
letzten  Zeit  in  geradezu  erstaunlicher  Weise  erweitert.  Nicht  nur  die 
Fälle  mit  ausgesprochenen  Symptomen  der  Lues  cerebrospinalis,  sondern 
auch  solche,  wo  außer  intensivem  Kopfweh  nichts  auf  eine  Ailektion  des 
Hirnes  hinweist^),  zeigten  diese  Lymphocytose ;  ja  nach  Untersuchungen 
von  Thibierge  und  Ravaut  ^^)  findet  man  bei  sekundärer  Lues  zu  der 
Zeit,  wo  sie  an  der  Haut  frische  Erscheinungen  macht,  fast  regelmäßig 

1)  Lit.,  8.  bei  Brion,  Loc.  cit  —  Lbwkowicz,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd., 
Bd.  55.  —  Orgblmeistbr,  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  76. 

2)  Bbndix,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1901,  und  LBYDBN-Festachr., 
1902. 

3)  Brissaud  et  Sicard,  Bull.  soc.  böp.,  1901,  p.  260.  —  Widal.  et 
LB  Sourd,  ebenda,  p.  997. — Brandbls,  Soc.  Biol.,  1904,  p.  234,  ref.  Sem. 
med.,  27  avril  1904.  —  Weitere  Citate  bei  Brion. 

4)  DoPTBR,  Gaz.  höp.,  1903,  p.  1410. 

6)  Ravaut  et  Aubourg,  Soc.  höp.,  15  juin  1901. 

6)  Rbndu,  Soc.  höp.,  5  juill.  1901,  ref.  Sem.  m6d.,  1901,  p.  227. 

7)  NissL,  CentralbL  f.  Nervenheilkd.  u.  Psych.,  1904,  No.  171. 

8)  Brissaud  et  Bräcy,  BulL  soc.  höp.,  1902.  —  Pbllbrin  et  TäMOiK, 
ebenda,  1901.  —  Widal,  ebenda,  1902. 

9)  Babinski  u.  Nagbottb,  ebenda,  1901,  p.  587.  —  Milian,  Sem.  m^d., 
1902,  p.  60. 

10)  Soc.  höp.,  1902;  Gaz.  höp.,  1903,  p.  1170. 


512  D.  Gerhardt, 

Lymphocytose  des  Liquors,  auch  wenn  kein  Symptom  auf  das  Zentral- 
nervensystem hinweist  (während  Gesunde,  sowie  Luetiker  des  II.  und 
III.  Stadiums  ohne  frische  Symptome  zellfreien  Liquor  haben). 

Danach  scheint  die  Cytodiagnose  des  Liquors  in  der  Tat  schon 
recht  geringfügige  Veränderungen  luetischer  Natur  im  Bereich  des 
Zentralnervensystems  aufzudecken. 

Noch  bedeutsamer  wurde  die  durch  diese  Befunde  veranlaSte  Aus* 
dehnung  der  Lumbalpunktion  auf  die  chronischen  Erkrankungen 
des  Hirnes  und  Rückenmarkes  und  auf  die  Psychiatrie. 

Bald  nach  der  Veröffentlichung  der  ersten  cytologischen  Studien 
teilten  Monod,  Widal,  Sicard^)  mit,  daß  sie  auch  bei  Tabes  und 
Paralyse  regelmäßig  Lymphocytose  im  Liquor  nachweisen  konnten,  wäh- 
rend die  meisten  anderen  chronischen  Rückenmarksleiden,  insbesondere 
Alkoholismus,  sowie  einfache  Atheromatose  der  Gefäße,  keine  Zell- 
vermehrung im  Liquor  liefern. 

Auch  diese  Angaben  wurden  an  den  Pariser  Spitälern  vielfach 
nachgeprüft  und  wurden  dabei  im  allgemeinen  bestätigt^.  Freilich 
sprachen  sich  nicht  alle  Untersucher  mit  derselben  Bestimmtheit  für 
die  Allgemeingültigkeit  jener  Regel  aus,  namentlich  Joffroy,  Abadie, 
Maillard  vermißten  die  Zellvermehrung  relativ  häufig  bei  Paralyse, 
Armand,  Delille  und  Camus  ^  bei  Tabes. 

Aber  das  Ergebnis  des  sehr  zahlreichen  Beobachtungsmaterials  aus 
den  französischen  Instituten,  das  hauptsächlich  von  Marie,  Ratmond, 
Brissaüd,  Devaüx,  Nageotte,  beigebracht  wurde,  war  doch  im  ganzen 
das,  daß  die  Lymphocytose  bei  Lues  cerebrospinalis,  Tabes  und  Para- 
lyse so  regelmäßig  beobachtet  wird,  daß  sie  sehr  wohl  diagnostische 
Bedeutung  beanspruchen  kann. 

Dieser  diagnostische  Wert  erscheint  um  so  größer,  als  sich  mehr- 
fach^) bei  Patienten,  die  lediglich  die  Pupillenphänomene  darboten, 
bereits  eine  deutliche  Lymphocytose  nachweisen  ließ.  Damit  scheint  sie 
tatsächlich  den  Wert  eines  Frühsymptoms  des  Tabes  zu  bekommen. 

Bei  anderen  chronischen  Hirn-  und  Rückenmarksleiden,  bei  Tumoren, 
Hydrocephalus,  arteriosklerotischen  Veränderungen,  Alkoholismus,  sogar 
dem  alkoholischen  Delirium,  Hemi-  und  Paraplegien,  funktionellen  Neu- 
rosen und  ebenso  bei  allen  übrigen  Formen  psychischer  Erkrankungen 
fehlte  die  Lymphocytose  in  der  Regel.    Ausnahmen  kommen  allerdings 


1)  Sem.  med.,  1901,  p.  27. 

2)  Lit.  bei  Brion  a.  a.  0.;  dann  bei  Schobnborn,  NeuroL  Central  bl., 
1903,  p.  610.  —  Dbvato,  Centralbl.  f.  Nervenheilkd.  u.  Psych.,  1903, 
No.  161.  —  SiBMBRLiNG,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1904,  No.  21. 

3)  Dblillb  et  Camus,  Rev.  neurol.,  1903,  ref.  Neurol.  Centralbl,  1903, 
p.  788. 

4)  DüPOUR,  See.  neurol.  de  Paris,  4  d^c.  1902.  —  Widal,  Sog.  höp., 
25  juill.  1902.  —  Naobottb,  ebenda. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutang  der  Lumbalpunktion.    513 

vor ;  am  zahlreichsten  scheinen  sie  zu  sein  bei  der  multiplen  Sklerose  ^) ; 
auch  in  1  von  3  Fällen  von  multipler  Sklerose  aus  der  Erlanger  Klinik 
üand  sich  recht  deutliche  Lymphocytose,  während  3  Fälle  von  Hirnlues 
und  3  Tabesfälle  ausgesprochene  Lymphocytose  aufwiesen. 

In  Deutschland  hat  zuerst  S.  Sghoenborn')  im  Frfihjahr  1903 
über  Resultate  der  Lumbalpunktion  bei  chronischen  Nervenkrankheiten 
berichtet;  seitdem  haben  Frenkel^),  Abraham  und  Ziegekhaoen ^), 
E.  Mater  ^),  Nissl^,  Siemerlino^  ihre  Erfahrungen  darüber  mit- 
geteilt, und  die  an  die  Vorträge  von  Frenkel  und  Siemerlikg  sich 
anknüpfenden  Diskussionen  zeigen  das  wachsende  allgemeine  Interesse. 
Am  meisten  Beachtung  unter  diesen  Arbeiten  verdient  die  Mitteilung 
von  NissL. 

Sie  zeichnet  sich  besonders  durch  die  Exaktheit  der  Technik  aus. 
Während  die  ersten  Untersucher  sich  auf  Sch&tzung  der  Leukocjtenzahlen 
verlassen  hatten,  hatte  Bavaut  zuerst  durch  möglichst  gleichmäßiges  Ar- 
beiten gesucht,  zu  bestimmten  Abgrenzungen  zu  kommen.  Nissl  ist  darin 
wesentlich  weiter  gegangen  und  hat  unbestritten  das  Verdienst,  so  gut 
es  möglich  ist,  Exaktheit  in  die  Cytologie  gebracht  zu  haben.  Er  zentri- 
fugiert  eine  natürlich  immer  gleich  große  Menge  des  Liquors  ^/^  Stunden 
in  einem  spitz  ausgezogenen  Glas,  gießt  dann  vorsichtig  die  Flüssigkeit 
ab,  führt  nun  in  das  unverändert  mit  dem  offenen  Ende  nach  unten  ge- 
gehaltene Olas  eine  sorgfältig  senkrecht  abgebrochene  Eapillarpipette  ein, 
welche  den  geringen  Bodensatz  selbsttätig  ansaugt,  sorgt  durch  wieder- 
holtes vorsichtiges  Zurückblasen  und  Wiederaufsaugenlassen  des  Sediments 
für  möglichst  vollständige  Mischung,  bringt  den  Inhalt  der  Pipette  dann 
als  kleine  Tropfen  auf  den  Objektträger,  fixiert  und  fkrbt.  Zentrifugier- 
glas  und  Kapillarpipette  werden  nur  einmal  benutzt 

Es  ist  klar,  daß  man  auf  diese  Weise  zu  sehr  scharfen  Besultaten 
kommt,  die  zumal  da,  wo  prinzipielle  Fragen  statistisch  entschieden 
werden  sollen,  sehr  begrüßenswert  sind.  loh  möchte  aber  doch  beifügen, 
daß  es  mir  für  die  rein  diagnostische  Anwendung  der  Cytologie  kaum 
notwendig  erscheint,  in  dieser  subtilen  Weise  zu  arbeiten;  denn  für  die 
Diagnostik  werden  doch  wohl  immer  nur  die  Fälle  mit  ganz  zweifellosem 
Befund  Verwertung  finden  können  (ähnlich  wie  etwa  bei  der  Leukämie 
die  Fälle,  wo  die  Leukocytenvermehrung  erst  gezählt  werden  muß,  dia- 
gnostisch doch  zweifelhaft  bleiben). 

NissL  stützt  sich  auf  166  Fälle  der  verschiedensten  psychischen 
Krankheiten,  darunter  28  sichere  und  9  zweifelhafte  Paralysen.  Er 
fand  bei  den  Paralysen  regelmäßig  (mit  einer  Ausnahme)  Lymphocytose, 
meist  recht   beträchtlichen  Grades.     Diejenigen   Fälle,   bei   denen   er 


1)  Carri&rb,  Soc.  Biol.,  23  mars  1901. 

2)  Neurol.  Centralbl.,  1908,  p.  610. 

8)  Frbnkbl,  Neurol.  Centralbl.,   1908,  p.  1135. 

4)  Abraham  u.  Zibgbnhagbn,  Psychiatr.  Ver.  zu  Berlin,  19.  März  1904. 

6)  E.  Matbr,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1904,  No.  5. 

6)  Nissl,  Centralbl.  f.  Neur.  u.  Psychiatr.,  1904,  No.  171. 

7)  SiBMBRLiNO,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1904,  No.  21. 


514  D.  Gerhardt, 

außerdem  noch  Lymphocytose  fand,  waren  teils  der  Paralyse  verdilchtig, 
teils  waren  es  anderweite  Psychosen,  bei  welchen  aber  das  Bestehen 
von  Lues  nicht  auszuschließen  war,  teils  ganz  unklare  Fälle.  Bei  senilen 
und  arteriosklerotischen  Himerkrankungen,  epileptischer  Geistesstörung, 
manisch  depressivem  Irresein,  Dementia  praecox,  Idiotie  und  bei  Ge- 
sunden fehlte  die  Lymphocytenvermehrung  regelmäßig. 

Ganz  ähnlich  lauten  die  Ergebnisse  von  Frenkel  und  Ernst 
Meter  und  Sibmerliho,  etwas  minder  sicher  die  von  Abraham  und 
ZiEOENHAOEN  aus  der  Dalldorfer  Anstalt,  welche  bei  nicht  ganz  Vs 
ihrer  Paralytiker  (14  von  25)  Lymphocytose  feststellen  konnten. 

Wenn  auch  fiberall  Ausnahmen  vorkommen,  so  darf  man  nunmehr 
als  genügend  sicher  annehmen,  daß  bei  der  Paralyse  tatsächlich  die 
Lymphocytose  eines  der  konstantesten  somatischen  Symptome  darstellt; 
und  damit  ist  der  Lumbalpunktion  ihre  Bedeutung  fQr  die  Psychiatrie 
gesichert. 

üeber  die  nähere  Ursache  der  Lymphocytose  bei  all  diesen  Zuständen 
gehen  die  Meinungen  noch  auseinander.  Das  häufige,  fast  regelmäßige  Vor- 
kommen der  Lymphocytose  bei  Hirnlues,  Tabes  und  Paralyse  legte  es 
nahe,  diese  Zellvermehrung  als  direkten  Effekt  luetischer  Prozesse  im 
Zentralnervensysteme  zu  deuten.  Widal  selbst  hat  dem  bei  jeder  Gelegen- 
heit widersprochen;  er  nimmt  einen  mehr  generellen  Standpunkt  ein  und 
faßt  die  Lymphocytose  als  Ausdruck  einer  mäßigen,  die  Leukocytose  als 
den  einer  intensiveren  meningealen  Reizung  auf,  und  zwar  einer  Reizung 
der  Meningen,  nicht  der  Nervensubstanz  selbst 

Seiner  Vorstellung  filgt  sich  gut  ein  die  von  Widal  selbst  herrührende 
Beobachtung,  daß  bei  Exacerbationen  jener  chronischen  Prozesse,  so  nach 
den  paralytischen  Anfällen,  vorübergehend  die  polynukleären  überwogen, 
sowie  die  von  D^j^rine,  Marie,  Naoeotte  und  Jamet  stammende  Beob- 
achtung, daß  bei  Remissionen  von  Paralyse  die  Zellen  allmählich  abnehmen, 
andererseits  die  Erfahrung,  daß  nach  leichten  Eingriffen,  nach  Einspritzung 
von  Kokain  und  anderen  Stoffen,  ja  nach  der  einfachen  Lumbalpunktion 
selbst  zunächst  die  vielkemigen,  mit  dem  Abklingen  der  Erscheinung  die 
einkernigen  Zellen  vermehrt  sind. 

Es  lassen  sich  aber  auch  leicht  Gründe  gegen  diese  Auffassung  von 
der  rein  entzündlichen  Natur  der  Lymphocytose  finden.  Dahin  ist  das 
Ausbleiben  der  Erscheinung  bei  Alkoholismus,  vor  allem  aber  bei  Kom- 
pressionsmyelitis, was  ich  in  2  Fällen  bestätigen  konnte,  zu  rechnen.  Und 
in  der  neueren  Zeit  scheint  sich  doch  wieder  die  Auffassung  von  der  spe- 
zifisch syphilitischen  Natur  der  Lymphocytose  Bahn  zu  brechen.  Von 
den  deutschen  Autoren  neigt  ihr  Schobnborn  zu,  während  Meter  und 
NissL  der  vorsichtigeren  WiDALSchen  Fassung  sich  anschließen« 

Daß  die  Natur  der  gemeinhin  als  Lymphocyten  bezeichneten  klein- 
kernigen  Zellen  des  Liquors  noch  keineswegs  klar  erkannt  ist,  geht  deutlich 
hervor  aus  den  Ausführungen  Nissls. 

Neben  dem  Studium  der  weißen  Blutzellen  tritt  die  Bedeutung  der 
übrigen  Formelemente  jetzt  entschieden  zurück;  trotzdom  können 
auch  sie  für  die  Diagnose  wichtig  werden.  Krönig  beobachtete  bei 
Erweichungen  Körnchenkugeln,  bei  Blutungen  mit  Ventrikeldurchbruch 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     51Ö 

Hämosiderin-  und  Hämotoidinkristalle,  bei  Durchbruch  von  Abscessen 
Myelintropfen. 

Bei  dem  erwähnten  Fall  von  Ventrikelapoplexie  fand  ich  in  der  rötlich- 
braunen Flüssigkeit  reichliche  große  Zellen  mit  scholligem  gelben  und 
braunen  Pigment,  ähnlich  etwa  den  sogenannten  Herzfehlerzellen  im 
Sputum,  doch  ohne  Eisenreaktion. 

Auffallend  selten  hat  man  in  der  Flüssigkeit  Zellen  beobachtet,  die 
mit  einiger  Sicherheit  als  Tumorzellen  zu  deuten  gewesen  wären.  Nur 
ein  Fall  aus  der  LiCHTHEiMSchen  Klinik^)  ist  hier  anzuführen. 

Nach  diesem  Ueberblick  über  den  Wert  der  einzelnen  Anomalien 
des  Liquors  möchte  ich  kurz  im  Zusammenhang  über  die  Bedeutung 
der  Lumbalpunktion  für  die  Diagnostik  sprechen. 

Sie  ist  fürs  erste  von  großem  Wert  für  die  Diagnose  der  tuber- 
kulösen und  eiterigen  Meningitiden,  wo  die  Kombination  von 
bakteriologischer  Untersuchung,  Cytologie  und  Eiweißbestimmung  in 
der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  nur  die  Frage,  ob  Meningitis  oder 
nicht,  sondern  auch  die  nach  der  Art  der  Meningitis  entscheiden  kann. 

Bei  akut  febrilen  Krankheiten,  namentlich  Pneumonie, 
Typhus,  Influenza,  hat  die  Lumbalpunktion  relativ  häufig  dazu  gedient, 
die  durch  den  Infekt  selbst  oder  durch  alkoholisches  Delirium  bewirkten 
schweren  cerebralen  Symptome  von  eiteriger  Meningitis  zu  unterscheiden. 
Sie  hat  bei  Rheumatismus^)  und  Typhus^)  häufiger  die  reine  Fieberwirkung, 
bei  croupöser  und  Bronchopneumonie  häufiger^)  die  komplizierende 
Meningitis  erkennen  lassen. 

Minder  bestimmt  ist  die  Antwort,  welche  die  Lumbalpunktion  auf 
die  Frage  nach  dem  Bestehen  einer  serösen  Meningitis  gibt,  der- 
jenigen Krankheit,  deren  Kenntnis  wir  überhaupt  erst  der  Lumbal- 
punktion verdanken.  Eiweiß-  und  Lymphocytengehalt  wurden  bald  ver- 
mehrt, bald  normal  gefunden;  das  einzige  konstante  war  die  Druck- 
steigerung. Der  Wert  der  Punktion  liegt  hier  mehr  auf  der  negativen 
Seite,  indem  sie  das  Bestehen  einer  eiterigen  Entzündung  ausschließen 
läßt  Für  die  Abgrenzung  gegen  Tumor,  Lues,  ja  gegen  tuberkulöse 
Meningitis  wird  sie  wenig  Anhaltspunkte  liefern ;  hier  muß  meist  erst 
der  Verlauf  der  Krankheit  entscheiden.  Und  auch  die  Abgrenzung 
gegen  einfachen  Hydrocephalus  ist  kaum  durchführbar;  ich  fand  bei 
einem  angeborenen  Hydrocephalus  Lyrophocytose  und  geringe  Eiweiß- 


1)  Rindfleisch,  Zeitschr.  f.  Nervenheilkd^  26. 

2)  Fbrrihr,    Soc.  höp.,    28  f6v.,    1902,    ref.  Sem.  m6d.  1902,    No.  76. 

3)  WiiiMS,  Mtinch.  med.  Wochenschr.,  1897,  p.  63.  —  Salomon,  Berl. 
klin.  Wochenschr.,  1900.  —  Dagegen  Jbimma,  ref.  Centralbl.  f.  innere  Med., 
1898,  p.  965. 

4)  Spitta,  Brit  med.  j.,  1902,  11,  p.  1679.  —  Nobäcourt  u.  Voirin, 
Rev.  mens.  mal.  Enf.,  April  1903,  ref.  Sem.  m6d.,  1903. 


616  D.  Gerhardt, 

Vermehrung,  bei  einem  Fall  seröser  Meningitis  bei  Ohreiterung  starke 
Drucksteigerung,  aber  sonst  normale  Verhältnisse. 

Besondere  praktische  Bedeutung  hat  die  spezielle  Frage:  Kann  die 
Lumbalpunktion  darüber  Auskunft  geben,  ob  neben  anderen  eiterigen 
Prozessen  im  Hirn  oder  im  Bereich  der  Dura  auch  eine  eiterige 
Meningitis  bestehe.    Sie  tritt  am  häufigsten  auf  in  der  Otologie. 

Gegenüber  dem  mehr  zurückhaltenden  Standpunkt  von  Stadel- 
mann, KÖRNER^),  Zeroni')  ist  die  ScHWARTZEsche  Schule^  immer 
wieder  lebhaft  ftir  die  große  Bedeutung  der  Lumbalpunktion  in  dieser 
wichtigen  Frage  eingetreten,  und  zwar  läßt  sich  nach  der  ScHWARTZEschen 
Lehre  nicht  nur  das  positive  Resultat,  Trübung,  Leukocytose,  Bakterien- 
gehalt für,  sondern  auch  umgekehrt  der  Nachweis  von  normaler  Be- 
schaffenheit des  Liquors  gegen  die  Meningitis  verwerten,  letzteres 
allerdings  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  durch  die  Menge  der  ab- 
gelassenen Flüssigkeit  deren  Herkunft  aus  der  Schädelhöhle  gesichert  ist. 

Unter  dieser  Bedingung  schreibt  Schwartze  dem  normalen  Ver- 
halten des  Liquors  bindende  Beweiskraft  gegen  die  diffuse  Meningitis 
zu;  etwas  skeptischer  steht  er  der  Deutung  des  entgegengesetzten  Be- 
fundes, der  Trübung  und  dem  Leukocytengehalt,  gegenüber,  denn  erstere 
kann  in  seltenen  Fällen  durch  andere  Dinge,  nicht  durch  Eiterkörper- 
chen,  bedingt  sein,  und  Leukocytose  fand  sich  einigemale  in  Fällen, 
wo  die  Operation  nur  seröse  Meningitis  aufwies;  sicheren  Beweis  des 
Bestehens  von  eiteriger  Meningitis  lieferte  deshalb  nur  der  Bacillen- 
nachweis. 

Ich  selbst  kann  nur  berichten,  daß  in  zwei  einschlägigen  Fällen  die 
auf  Ghmnd  normalen  Verhaltens  des  Liquors  gehegte  Erwartung,  daß 
keine  Meningitis  bestehe,  durch  den  Verlauf  der  Fälle  best&tigt  wurde, 
während  in  einem  dritten  die  Trübung  des  Liquors  leicht  die  Diagnose 
der  Meningitis  erlaubte. 

In  einer  weiteren  Gruppe  von  Fällen  gründet  sich  die  diagnostische 
Verwertbarkeit  der  Lumbalpunktion  auf  den  Blutgehalt  der  Flüssig- 
keit: Er  kann  zur  Diagnose  des  Durchbruches  eines  apoplektischen 
Herdes  in  die  Ventrikel,  oder  zu  der  einer  Hii-nläsion  bei  Schädelbruch, 
seltener  zur  Erkennung  einer  spinalen  Blutung  verwendet  werden. 

Besondere  Wichtigkeit  kommt  aber,  soweit  es  sich  heute  übersehen 
läßt,  der  Lymphocytose  zu  bei  den  luetischen  Affektionen  des  Zentral- 
nervensystems. Es  ist  als  entschiedener  diagnostischer  Fortschritt  zu 
bezeichnen,  daß  durch  die  Cytologie  in  Fällen,  wo  etwa  nur  Kopf- 
schmerz  oder  wo  überhaupt  nur  unsichere  Hirnsymptome  bestanden. 


1)  Körner,  Die  otit.  Erkrankungen  des  Hirns,  1902,  8.  Aufl. 

2)  Zbboni,  Aerztl.  Mitteil.  f.  Baden,  1902. 

3)  Lbütert,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1897  —  Braunstein,  Arch. 
f.  Ohrenheükd.,  Bd.  54.  —  Gbunert  und  Sghultzb,  ebenda,  Bd.  54.  — 
Orünbrt,  ebenda,  Bd.  55.  —  Schultzb,  ebenda,  Bd.  58. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     517 

der  Nachweis  von  dem  Bestehen  anatomischer  Veränderungen  (im 
weitesten  Sinne)  im  Hirn-Rückenmarksraum  erbracht  und  daß  damit 
die  syphilitische  Natur  dieser  Veränderungen  wenigstens  in  hohem 
Maße  wahrscheinlich  gemacht  werden  kann. 

Ob  es,  wie  Nissl  ho£Ft,  gelingen  wird,  durch  den  Nachweis  der 
Lymphocytose  die  entzündliche  von  der  nicht  entzündlichen  Form  der 
Himlues  zu  trennen,  bleibt  abzuwarten. 

Daß  die  Diagnostik  der  Tabes  aus  der  Cytologie  nennenswerten 
Nutzen  ziehe,  scheint  mir  dagegen  fraglich,  eben  weil  jede  Form  lueti- 
scher Veränderung  am  Rückenmark  ebensogut  wie  die  Tabes  Lympho- 
cytose bewirkt.  Dasselbe  gilt  für  die  Diagnose  der  Paralyse,  soweit 
es  sich  um  die  Untercheidung  von  Hirn-  oder  Rückenmarkslues  handelt. 
Wohl  aber  scheint  die  Cytologie  und  die  mit  ihr  gleichsinnige  Eiweiß- 
bestimmung berufen,  zur  Abgrenzung  der  Paralyse  von  anderen  Formen 
der  Demenz  sowohl  wie  von  Alkoholpsychosen  ganz  wesentlich  beizu- 
tragen. 

Als  weitere  Errungenschaft  der  Lumbalpunktion,  die  sich  allerdings 
weniger  auf  die  Diagnostik  als  auf  die  Pathologie  bezieht,  ist  zu  be- 
zeichnen, daß  sie  zur  Aufklärung  der  Entstehungsursache  einiger 
Affektionen  beigetragen  hat.  Das  gilt,  freilich  erst  an  wenigen  Fällen 
erprobt,  für  die  bakterielle  Natur  der  akuten  Myelitis  und  anscheinend 
auch  für  die  der  Einderlähmung. 

Auch  das  mehr  negative  Resultat,  daß  bei  Urämie  nicht  immer 
Drucksteigerung  des  Liquors  vorkommt  *),  ist  von  Wert  für  die  Theorie 
der  Urämie. 

Der  therapeutische  Wert  der  Lumbalpunktion  läßt  sich  wesent- 
lich kürzer  besprechen  als  der  diagnostische.  Handelt  es  sich  dort 
darum,  das  fast  überreiche  Material  kritisch  zu  sichten  und  zu  ordnen, 
so  muß  man,  wenn  von  therapeutischem  Effekt  gehandelt  werden  soll, 
geradezu  suchen,  ob  nicht  doch  —  entgegen  der  herrschenden  Meinung 
—  da  und  dort  den  Kranken  durch  den  Eingriff  wirklich  genützt 
worden  ist. 

Hier  ist  in  erster  Linie  die  seröse  Meningitis  zu  nennen. 
Quincke  und  seine  Schüler  2)  haben  eine  Reihe  von  Fällen  mitgeteilt, 
wo  an  dem  günstigen  Erfolg  der  Lumbalpunktion  auf  das  Befinden  des 
Patienten  nicht  gezweifelt  werden  kann,  auch  wenn  für  viele  seiner 
Fälle  der  Einwand  richtig  sein  mag,  daß  der  Eingriff  nicht  lebens- 
rettend gewesen   sei,    weil  die   Krankheit   an  sich   die  Tendenz  zum 


1)  Gbbhardt,  C,  Internat.  Kongr.  zu  Moskau.  —  Wilms,  Münch.  med. 
Wochenschr.,  1897. 

2)  h.  bes.  Quincke,  Zeitschr.  f.  Nervenheilkd.,  Bd.  9.  —  Ribkbn,  Arch. 
f.  kHn.  Med.,  56. 

Mitten,  a.  d.  Oronzgebieton  d.  Medizin  u.  Ohirargle.    zm.  Bd.  34 


518  D.  Gerhardt, 

Heilen  besitze.  Wenn  auch  in  FOrbrinoers ^),  Potts*),  Fleisch- 
manns ^)  Fällen  der  therapeutische  Effekt  der  Lumbalpunktion  ausblieb 
und  MÜNZER  ^)  die  Indikation  zur  Lumbalpunktion  bei  Meningitis 
serosa  sogar  nur  auf  die  ganz  hartnäckigen,  chronischen  Fälle  be- 
schränken wollte,  so  konnten  doch  späterhin  Lenhartz^),  Seiffer^)^ 
GoLDSCHEiDER  ^,  CoNCETTi^,  Zeroni^)  die  QuiNCKEscheu  Angaben 
bestätigen. 

Der  serösen  Meningitis  nahestehend,  ja  eigentlich  nur  dem  Grad  nach 
von  ihr  unterschieden,  sind  offenbar  die  Fälle  von  Chlorose,  die 
sich  durch  intensives  Kopfweh  auszeichnen,  und  bei  denen,  wie  Len- 
HARTZ  gezeigt  hat,  die  Lumbalpunktion  so  deutlichen  Nutzen  bringen 
kann. 

Quincke  selbst  meint,  daß  bei  akuteren  Prozessen  die  Aussichten 
von  vornherein  günstiger  seien  als  bei  chronischen.  Es  sind  aber  doch 
auch  chronische  Fälle  von  Hydrocephalus  bekannt  geworden,  wo 
durch  wiederholte  Punktionen  deutliche  Besserung  erzielt  wurde; 
Quincke  selbst,  dann  namentlich  Grober  *®)  und  Bokay  ^^)  haben  über 
solche  Fälle  berichtet  Einigemale  wurde  bei  cerebralen  und  spinalen 
Meningealappolexien  deutliche  Besserung  nach  Lumbalpunktion  ge- 
sehen "). 

Recht  wenig  scheint  die  Lumbalpunktion  therapeutisch  da  zu  leisten^ 
wo  man  wohl  am  ehesten  einen  Nutzen  erwartet  hatte,  bei  der  tuber- 
kulösen Meningitis  und  bei  Hirntumoren.  Selbst  vorübergehende 
Erleichterung  wird  hier  verhältnismäßig  selten  beobachtet  ^^),  wenn  auch 
gelegentlich  nicht  nur  subjektive  Besserung,  sondern  sogar  Wiederkehr 
der  Sehnenreflexe ^^),  Zurückgehen  der  Stauungspapille^^),  Steigen  der 
PulszahP^)  konstatiert  werden  konnte. 


1)  FOrbrinqbr,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1896. 

2)  PoTT,  67.  Naturf.-Ver8. 

3)  Flbischmakn,  Zeitschr.  f.  Nervenheilkd.,  Bd.  9. 

4)  MüNZBR,  Prag.  med.  Wochenschr.,  1899. 

5)  Lbnhartz,  Kongr.  f.  innere  Med.,  1896. 

6)  Seipfer,  Charit^-Annal.,  1899. 

7)  GoLDSCHBiDBR,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1895. 

8)  CoNCBTTi,  ref.  Neun  Centralbl.,  1900,  p.  322. 

9)  Zeroni,  Aerztl.  Mitteil.  f.  Baden,  1902. 

10)  Grober,  Münch.  med.  Wochenschr. 

11)  Bokay,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.,  Bd.  57. 

12)  Froik  und  Chaufpard,  Sog.  höp.,  Oct.  1903,  ref.  Dtsch.  med. 
Wochenschr.,  1903,  p.  388.  —  Jakoby,  New  York  med.  journ.,  1896.  — 
Kiliani,  ebenda,  1896  (cit.  bei  Braun). 

13)  So  WiDAL,  Soc.  höp.,  14.  fev.  1902,  bei  Tumor.  —  Frbthan,  1.  c 
u.  RocAZ,  ref.  Neurol.  Centralbl.,  1903,  p.  135,  bei  Meningitis  tub. 

14)  FiNKLENBUBG,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1902,  V.-B.,  p.  38. 

15)  Peters  (Goldschbider),  Dies.  Berlin,  1897. 

16)  Grunbrt  u.  Schultze,  Arch.  f.  Ohrenheilkd.,  Bd.  54. 


Diagnostische  and  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     519 

Bei  den  eiterigen  Entzündungen  sind  die  Chancen  natür- 
lich von  Haus  aus  gering.  Doch  haben  Wilms*),  Roths  2)  Koplik  5) 
bei  epidemischer  Meningitis  deutliche  Besserung  nach  der  Punktion  ge- 
sehen; ähnliches  berichten  Grunert  und  Schultze  von  otitischer, 
Mta^)  von  3  Fällen  eiteriger  Meningitis  mit  Influenzabacillen  im  Ex- 
sudat. Bertelsmann  ^)  brachte  eine  eiterige  Meningitis  nach  Ohreiterung 
durch  Lumbalpunktion  zur  Heilung. 

Bei  den  chronischen  Prozessen,  bei  Tabes,  Sklerose,  Para- 
lyse ist  nichts  von  therapeutischen  Erfolgen  zu  berichten.  Nur  eine 
AfFektion  macht  hier  eine  Ausnahme;  die  heftigen  Kopfschmerzen 
der  sekundären  und  tertiären  Lues  wurden  in  einer  ganzen  Reihe 
wesentlich  gebessert^,  und  ich  kann  den  bisher  veröffentlichten,  meist 
der  französischen  Literatur  entstammenden  Fällen  einen  aus  der  Er- 
langer Klinik  hinzufügen,  in  dem  Quecksilber,  Jod  und  alle  möglichen 
symptomatischen  Mittel  vorher  versagt  hatten. 

Ich  glaube  danach,  daß  man  mit  einiger  Aussicht  auf  Erfolg  zur 
Lumbalpunktion  schreiten  kann  bei  den  akuten  und  subakuten  Fällen 
von  seröser  Meningitis  der  Erwachsenen  und  bei  jenen  Fällen  alter 
Lues  mit  hartnäckigen  Kopfschmerzen.  Geringere  Aussicht  bietet  der 
chronische,  erworbene  und  angeborene  Hydrocephalus,  doch  ist  hier  der 
Versuch  entschieden  gerechtfertigt.  Und  dasselbe  gilt  von  den  akuten 
eiterigen  Entzündungen,  der  epidemischen,  der  Meningitis  nach  Pneu- 
monie, Typhus,  Influenza;  recht  gering  ist  die  Wahrscheinlichkeit  eines 
Nutzens  bei  der  tuberkulösen  Form  und  am  geringsten  ist  sie  bei 
Hirngeschwülsten. 

Da,  wo  vom  Nutzen  der  Lumbalpunktion  gehandelt  wird,  muß 
auch  von  der  Möglichkeit  des  Schadens  gesprochen  werden.  Gum- 
PRECHT^)  hat  vor  4  Jahren  aus  der  Literatur  15  Fälle  gesammelt  und 
ihnen  2  selbstbeobachtete  hinzugefügt,  wo  die  Kranken  rasch  nach  der 
Lumbalpunktion  starben:  Matstre^)  hat  6  weitere  zusammengestellt 
(2  davon  allerdings  nicht  nach  einfacher  Punktion,  sondern  nach  intra- 
spinaler Kokaininjektion)  und  einen  eigenen  beschrieben;  zu  ihnen 
kommen  noch  1  von  Friedjüng  ^),  2  von  Braunstein  ^®)  und  3  von 


1)  WiLMS,  a.  a.  0. 

2)  K0HT8,  Therap.  Monatsh.,  1900. 

3)  Koplik,  New  York  med.  News,  1901. 

4)  Mya,  Gaz.  osped.,  1903. 

6)  Bertblsmaütn,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1901,  p.  18. 

6)  MiiiiAN,    Marie  et  Guillain,   Soc.  höp.,  14  f(6v.  1902.  —  Bblätre, 
Thfese  Paris,   1902. 

7)  GuMPRECHT,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1900. 

8)  Maystre,  Thfese  Montpellier,  1903. 

9)  Friedjung,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1901. 

10)  Braunstein,  Arch.  f.  Ohrenheilkd.,  Bd.  54. 

34* 


520  D.  Gerhardt, 

Nonne  ^)  mitgeteilte.  Unter  diesen  30  Fällen  befinden  sich  einige,  wo 
der  Tod  erst  2 — 3  Tage  nach  dem  Eingriff  erfolgte,  andere,  wo  der 
plötzliche  Tod  wohl  mit  demselben  Recht  der  Krankheit  selbst,  wie  der 
Lumbalpunktion  zugeschrieben  werden  konnte.  Aber  es  bleiben  doch 
mindestens  12  Fälle  übrig,  wo  kaum  ein  Zweifel  an  dem  Zusammen- 
hang bestehen  kann.  FOrbringer  weist  darauf  hin,  daß  es  sich  zu- 
meist um  Fälle  von  Hirntumoren,  zumal  solchen  der  hinteren  Schädel- 
grube handelte.  Er  schließt  sich  Stadelmanns  Vermutung  an,  daß 
ein  Verschluß  des  Foramen  Monroi  bestanden  habe,  daß  deshalb  nach 
dem  Ablassen  der  Arachnoidalflüssigkeit  der  Druckausgleich  von  den 
Ventrikeln  her  erschwert  war  und  das  Hirn  deshalb  gleichsam  an  die 
Schädelkapsel  angesogen  wurde,  und  glaubt,  daß  zumal  die  gegen  die 
unnachgiebigen  Ränder  des  Hinterhauptloches  angepreßte  Hirnsubstanz 
nachhaltige  Ernährungsstörungen  erleide. 

Für  derartige  Schädigung  des  Hirns  spricht  die  von  Gumprecht 
betonte  Tatsache,  daß  bei  einer  auffallend  großen  Zahl  jener  Fälle  die 
Atmung  vor  dem  Herzschlag  erlosch,  ein  Verhalten,  das  sonst  vor- 
wiegend bei  Hirnkrankheiten  beobachtet  wurde. 

Wenn  diese  Deutung  richtig  ist,  dann  wird  man  voraussichtlich 
solche  ernsten  Folgen  der  Lumbalpunktion  verhindern  können  dadurch, 
daß  man  Fälle  mit  Verdacht  auf  Hirntumor,  zumal  auf  Kleinhirntumor, 
womöglich  von  der  Punktion  ausschließt  und  daß  man  als  Regel  nur 
wenige  Kubikzentimeter  Flüssigkeit  entnimmt  und  diese  recht  langsam 
ablaufen  läßt. 

Wenn  nun  auch  Todesfälle  im  Verhältnis  zu  der  großen  Zahl  von 
Lumbalpunktionen,  die  im  Laufe  des  letzten  Decenniums  ausgeführt 
wurden,  seltene  und  hoffentlich  in  Zukunft  vermeidbare  Vorkommnisse 
sind,  so  werden  doch  leichtere,  aber  für  den  Kranken  immerhin  zu- 
weilen recht  unangenehme  Folgeerscheinungen  relativ  häufig  mitgeteilt. 

Zwischenfälle  bei  der  Punktion  selbst,  Blutungen  oder  vorüber- 
gehende Erscheinungen,  die  offenbar  auf  Läsion  von  Nervenfasern  zu 
beziehen  sind,  plötzlicher  Schmerz,  Taubheitsgefühl,  Zucken  in  einem 
Bein  (FOrbringer,  Quincke,  Wilms)  kommen  selten  vor  und  haben 
praktisch  keine  große  Bedeutung.  Wesentlicher  ist  das  Kopfweh,  das 
seltener  während  der  Operation  selbst,  meist  erst  5—6  Stunden  danach 
beginnt  und  einige  Stunden,  manchmal  aber  Tage  lang  andauert;  nicht 
selten  kommen  Schwindel  und  Erbrechen  hinzu;  alle  Symptome  sind 
stärker  beim  Sitzen  und  Gehen  als  beim  Liegen.  Nissl  vergleicht  sie 
treffend  mit  der  Seekrankheit. 

Nissl  sah  solche  Erscheinungen  bei  V4  seiner  Punktionen,   merk- 


1)  Nonne  L  d.  Diskussion  zu  diesem  Vortrag  auf  der  Badener  Ver- 
sammlung. 2  seiner  Fälle  sind  mitgeteilt  von  Lbo  Müller  in  den  Mitteil, 
a.  d.  Hamb.  Staatskrankenanstalten. 


Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  der  Lumbalpunktion.     521 

i^ürdigerweise  sogar  nach  6  von  seinen  7  Punktionen  an  Gesunden^ 
Andere  Autoren  haben  sie  viel  seltener  erlebt.  Bei  22  Fällen  der 
Erlanger  Klinik^)  wurden  sie  4mal  beobachtet. 

Der  eine  dieser  4  Patienten  litt  an  multipler  Sklerose,  die  3  anderen 
bemerkenswerterweise  an  Hirntumor. 

Bei  einem  derselben,  bei  welchem  ein  außerordentlich  heftiger  Kopf- 
schmerz 8  Tage  lang  anhielt,  war  der  Eingriff  selbst  besonders  glatt  und 
rasch  verlaufen,  es  waren  nur  5  ccm  Liquor,  der  unter  hohem  Druck  stand, 
entleert  worden,  Pat.  hatte  während  und  unmittelbar  nach  der  Punktion 
keinerlei  Beschwerden,  bis  nach  6  Stunden  die  heftigen  Kopfschmerzen 
einsetzten. 

Ein  anderer  Fall  bettaf  ein  Mädchen  mit  Hirntumor,  bei  dem  nach 
einer  Palliativoperation  eine  faustgroße  Meningocele  über  dem  Scheitelbein 
bestand.  Punktion  dieser  Meningocele  mittels  Probepunktionsspritze  und 
Entleerung  von  ca.  10  ccm  Flüssigkeit  hatte  keinerlei  üble  Folge,  während 
8  Tage  später  auf  eine  Lumbalpunktion,  die  viel  weniger  Liquor  ent- 
leerte, heftige  Kopfschmerzen  folgten. 

Auch  aus  den  Mitteilungen  anderer  Autoren  (Stadelmann,  Für- 
bringer,  Lenhartz,  Jakobt)  geht  hervor,  daß  bei  Hirngeschwülsten 
derartige  unangenehme  Folgen  der  Punktion  am  häufigsten  eintreten, 
ein  neuer  Hinweis  darauf,  daß  bei  dieser  Krankheitsgruppe  Lumbal- 
punktionen besser  unterbleiben. 

Die  Ursache  dieser  merkwürdigen  nachhaltigen  Störungen,  die  im 
Anschluß  an  die  Lumbalpunktion  vorkommen,  ist  kaum  in  den  Druck- 
schwankungen des  Liquors  an  sich  zu  suchen:  hiegegen  spricht  1)  der 
Umstand,  daß  der  Kopfschmerz  zumeist  erst  5 — 6  Stunden  später  einsetzt, 
2)  die  mehrfach  ^)  erwiesene  rasche  und  fast  unbegrenzt  große  Regenerations- 
fähigkeit  des  Liquors.  Es  liegt  nahe,  an  Beizzustände  im  Bereich  der  Meningen 
zu  denken.  Dafür  spricht  die  von  mehreren  Beobachtern  gemachte  Beobach- 
tung, daß  in  den  der  Punktion  folgenden  Tagen  die  Zahl  der  Leukocyten 
im  Liquor  vermehrt  sein  kann;  femer  die  Angabe  von  Mujak^)  und 
ScHWARTZ*),  daß  eine  erneute  Punktion  die  Beschwerden  linderte. 

In  manchen  Fällen  mag  eine  Blutung  aus  einer  angestochenen  Vene 
zu  derartiger  E.eizung  beitragen;  nach  Maystrbs  Tierversuchen  können 
auch  ganz  geringfügige  Gefkßverletzungen  zu  immerhin  deutlichen  Nach- 
blutungen fahren. 

Daß  solche  Blutungen  gelegentlich  recht  erheblich  werden  können,  hat 
Hbnnbbbro^)  an  2  Fällen,  die  zur  Sektion  kamen,  demonstrieren  können. 

Ossipow^   sah   bei  Hunden   nach  allerdings  relativ  ergiebigen  Punk- 


1)  Für  die  freundliche  Erlaubnis,  diese  Fälle  mit  beobachten  und  in 
der  vorliegenden  Arbeit  verwerten  zu  dürfen,  bin  ich  Herrn  Prof.  Penzoldt 
zu  großem  Danke  verpflichtet. 

2)  Schilling,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1896.  —  Matthibu,  ref.  Sem. 
m6d.  1901,  p.  363.  —  Giss,  Mitt.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  8. 

3)  MiLiAN,  Sem.  m6d.,  1902,  p.  201. 

4)  ScHWARTZ,  Soc.  Chir.,  2.  Febr.  1902. 

5)  Heknbbbro,  Neurol.  Centralbl.,  1900,  p.  43. 

6)  Ossipow,  Zeitschr.  f  Nervenheilkd.,  1903. 


622    D.  Gerhardt,  Diagnostische  und  therapeutische  Bedeutung  etc. 

tjonen  regelmäßig  deutlich  Hyperämie  der  Meningen,  nach  wiederholten 
Punktionen  punktförmige  Blutungen  im  Grau  der  Lenden-  und  Gervical- 
anschweUung  und  Läsionen  der  Ganglienzellen. 

All  diese  Erfahrungen  mahnen  zur  Vorsicht.  Aber,  soweit  man  die 
Dinge  heute  überblicken  kann,  muß  man  doch  sagen,  daß  die  Lumbal- 
punktion, mit  gehöriger  Vorsicht  angewandt,  keine  ernsten  Folgezu- 
stände herbeifuhrt.  Jedenfalls  stehen  den  leichten  vorübergehenden 
Nachteilen  weit  größere  Vorteile  gegenüber,  welche  sie  für  die  Er- 
kennung von  Krankheiten  auf  dem  Gebiet  der  Neurologie  und,  wie 
wir  bestimmt  zufügen  können,  der  Psychiatrie,  gebracht  hat,  welche 
sie,  wenn  auch  nur  in  vereinzelten  Fällen,  auch  für  die  Behandlung 
der  Kranken  leistet,  und  welche  dem  Einblick  in  die  Entstehung  krank- 
hafter Prozesse  im  Bereich  des  ganzen  Zentralnervensystems  durch  sie 
erwachsen  sind. 


Literatur. 

Die  Literatur,  soweit  sie  nicht  im  Text  berücksichtigt,  findet  sich  zu- 
sammengestellt in  folgenden  Arbeiten: 

Stadblmann,  MitteiL  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Ohir.,  Bd.  2. 
Nburath,  Centralbl.   f.  d.  Grenzgeb.,  Bd.  1. 
Braun,  Arch.  f.  klin.  Ohir.,  Bd.  54. 
Quincke,  lieber  Lumbalpunktion  in  „Deutsche  Klinik^^,  Lfg.  54 — 56. 

Die  französische  Literatur  über  Cytologie  s.  bei  Brion,  Centralbl.  f. 
allg.  Path.  u.  path.  Anat.,  Bd.  14,  u.  bei  Sibmbrx.ing,  Berl.  klin.  Wochen- 
schrift, 1904,  No.  21. 


Aus  dem  Bürgerhospital  zu  Köln. 
Oberarzt:  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Bardenheüer. 


Nachdruck  verboten. 


XX. 

lieber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz. 


Von 
Dr.  Josef  Bayer. 


In  seiner  Abhandlung  ^Die  Krankheiten  der  Milz^  hat  Litten  den 
apodiktischen  Satz  ausgesprochen :  ^Die  Tuberkulose  der  Milz  als  solche 
kann  niemals  Gegenstand  der  Therapie  werden."  Diesen  Worten 
LiTTENs,  die  doch  gewiß  nichts  an  Deutlichkeit  zu  wünschen  übrig 
lassen,  glaubte  kürzlich  Laspetres  eine  gewisse  Einschränkung  geben 
zu  können,  indem  er  5  Beobachtungen  zusammenstellte,  in  welchen  die 
isolierte  Tuberkulose  der  Milz  durch  Exstirpation  dieses  Organs  geheilt 
und  die  Patienten  vor  der  drohenden  allgemeinen  Tuberkulose  oder 
anderen  Komplikationen  bewahrt  wurden.  Bardenheuer  hatte  vor 
kurzem  ebenfalls  Gelegenheit,  einen  Fall  von  primärer  Milztuberkulose 
durch  Splenektomie  zur  Heilung  zu  bringen,  und  wenn  ich  neben  dieser 
Beobachtung  Bardenheuers  noch  den  von  Laspetres  nicht  er- 
wähnten, ebenfalls  geheilten  Fall  von  Quänü  und  Baudet  hinzurechne, 
so  verfügen  wir  über  7  Beobachtungen,  die  vollauf  den  Beweis  er- 
bringen, daß  die  Tuberkulose  der  Milz  wohl  einer  Therapie  und  dazu 
noch  einer  erfolgreichen  zugänglich  ist  und  wäre  es  auch  eine  so  ein- 
greifende, wie  sie  die  Entfernung  des  ganzen  Organs  darstellt. 

In  der  deutschen  Fachliteratur  habe  ich  nun  eine  umfassende  Dar- 
stellung der  primären  Milztuberkulose  und  eine  Zusammenstellung  ihrer 
Kasuistik  nicht  gefunden,  und  schon  aus  diesem  Grunde  sei  mir  zu- 
nächst gestattet,  die  einzelnen  Fälle  im  Zusammenhang  mitzuteilen. 
Aber  auch  zur  Stütze  mehrerer  Behauptungen,  die  im  folgenden  ver- 
treten werden  sollen,  erscheint  mir  eine  gedrängte  üebersicht  der  Be- 
obachtungen unerläßlich. 


524  Josef  Bayer, 

A.  Operierte  Fälle  (9). 

1)  Marriot  (1897).  Es  handelte  sich  um  eine  d2-jähnge,  im  übrigen 
gesunde  Frau,  die  seit  2  Jahren  von  einer  stetig  wachsenden  Gheschwulst 
in  der  linken  Seite  gequält  wurde.  Syphilis,  Malaria  lagen  nicht  vor; 
Drüsenschwellungen  waren  nicht  vorhanden.  —  Bei  der  Laparotomie  zeigte 
sich,  daß  der  Tumor  der  Milz  angehörte,  die  deshalb  exstirpiert  wurde. 
Die  Milz,  die  bei  allgemeiner  Vergrößerung  multiple  Knoten  aufwies,  war 
20  cm  lang,  15  cm  breit  und  7,5  cm  dick.  Auf  dem  Durchschnitt  traten 
überall  kleine,  wenig  verkäste  Knötchen  hervor,  die  für  Tuberkel  gehalten 
wurden,  aber  ungewöhnlich  große  Zellen  um  die  zentralen  Riesenzellen 
herum  enthielten.  Die  spätere  Blutuntersuchung  ergab  nichts  Abnormes. 
Heilung. 

2)  Bland-Suttons  Fall,  der  wegen  seiner  Heilung  gelegentlich  er« 
wähnt  wird,  ist  nicht  ausftlhrlich  veröffentlicht  worden. 

3)  QuÄNü  und  Baudbt  (1898).  Eine  21-jährige  Frau  hatte  seit 
2  Jahren  in  der  linken  Bauchseite  eine  Anschwellung  bemerkt,  die  sich 
unter  Schmerzen  immer  mehr  vergrößerte.  Wegen  ihrer  starken  Be- 
schwerden wünschte  die  Frau  dringend  die  Operation.  Die  Zahl  der 
roten  Blutkörperchen  betrug  4495000.  —  Ein  Schnitt  auf  der  Höhe  des 
Tumors  in  der  Verlängerung  der  linken  Axillarlinie  offenbarte  eine  be- 
trächtliche Milzgeschwulst  von  grauweißer  Farbe  und  von  so  deutlicher 
Fluktuation,  daß  sie  eine  Echinococcuscyste  vortäuschte.  In  Wahrheit 
aber  war  nur  der  untere  Pol  von  dieser  Verfllrbung  ergriffen,  während 
gegen  die  Mitte  hin  die  natürliche  Farbe  wieder  vorherrschte.  An  der 
oberen  Hälfte  und  an  einer  kleinen  mit  der  Geschwulst  zusammenhängen- 
den Stelle  des  unteren  Pols  war  die  Milz  durch  zahlreiche  Adhäsionen 
mit  den  Nachbarorganen  verwachsen,  so  daß  an  eine  regelrechte  Exstirpa- 
tion  nicht  zu  denken  war.  Da  aber  der  untere  Pol  so  weit  beweglich  war^ 
wurde  dieser  in  den  Bereich  der  Peritonealöffnung  hereingezogen  und 
hier  durch  Nähte  fixiert.  Nach  Incision  des  extraperitoneal  gelagerten 
Teiles  entleerten  sich  zunächst  einige  Tropfen  einer  dünnen  gelben 
Flüssigkeit;  der  eingeführte  Finger  forderte  aber  fibrinöse  Gerinnsel  in 
großer  Menge  zu  Tage  und  konnte  eine  Tasche  bilden,  in  welche  zwei 
Drainröhrchon  eingelegt  wurden.  In  der  Folge  entleerten  sich  fötide 
Massen,  und  10  Tage  nach  Eröffnung  war  die  Wunde  mit  grünlich  ge- 
färbten Gewebsfetzen  angefüllt,  die  mit  der  Schere,  zum  Teil  mit  dem 
Thermokauter  abgetragen  wurden.  Die  Untersuchung  der  ausgeschiedenen 
Massen  ergab  die  Anwesenheit  von  Tuberkelbacillen.  Die  Abstoßung 
der  abgestorbenen  Milzteile  dauerte  4  Monate,  worauf  die  Wunde  sich 
schloß. 

4)  Lannblongub  und  Vitbac  (1898).  Eine  38-jährige  Frau  kam 
wegen  unbedeutender  Verdauungsstörungen  zur  Aufnahme.  Sie  hatte  in 
der  linken  Bauchseite  eine  faustgroße,  gut  von  vorn  nach  hinten  ver- 
schiebliche Geschwulst.  Keine  Malaria,  keine  Leukämie.  —  Wegen  der 
ungewissen  Diagnose  Laparotomie.  Längsschnitt  an  der  Außenseite  des 
M.  rectus.  Der  Tumor  gehörte  der  Milz  an,  die  sich  leicht  hervorwälzen 
ließ.  Die  Exstirpation  bot  keine  Schwierigkeiten.  10  Tage  lang  nach 
der  Operation  bestand  Fieber  (bis  39%  das  von  der  Wunde  jedoch  nicht 
ausging.  Die  Milz  wog  300  g,  war  von  normaler  Konsistenz  und  etwas 
blasser  Farbe.  Unmittelbar  unter  der  Kapsel  Tuberkel  in  großer  Anzahl, 
auch  auf  der  Schnittfläche  wurden  Biesenzellen    und  Tuberkelbacillen   ge- 


üeber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz,  525 

funden.     Ebenso   waren    die   Drüsen    am  Hilus    tuberkulös.     Fat   wurde 
in  guter  Ghesundbeit  entlassen. 

5)  Gablb  (1901)  exstirpierte  eine  stark  vergrößerte  Milz,  die  sich  als 
tuberkulös  herausstellte.  Die  Kranke  genau  vollkommen  und  machte  später 
noch  zwei  Entbindungen  durch. 

6)  Grillo  (1901).  Bei  einer  19-jährigen  Frau,  die  10  Monate  vor 
der  Aufnahme  ihr  erstes  Kind  geboren,  hatte  sich  schon  2  Monate  vor 
der  Niederkunft  unter  Schmerzen  und  einem  Geftihl  von  Schwere  eine 
Geschwulst  im  linken  Hypochondrium  entwickelt  Malaria  oder  Syphilis 
lagen  nicht  vor.  Die  Geschwulst  reichte  bei  der  Aufnahme  bis  1  Quer- 
iinger  breit  von  der  Mitte,  nach  unten  2  cm  unter  die  Nabelhöhe.  Das 
Verhältnis  der  weißen  und  roten  Blutkörperchen  war  1  :  592,  der  Hämo- 
globingehalt 80  Proz.  —  Von  einem  medialen  Bauchschnitt  aus  wurde  der 
Milztumor  exstirpiert.  Die  Leber  war  normal.  Nach  der  Operation 
Bronchopneumonie,  die  mehrere  Wochen  lang  Fieber  mit  abendlichen 
Steigerungen  bis  39,5  ^  zur  Folge  hatte.  Die  Milz  wog  1075  g,  war  glatt 
und  von  normaler  Konsistenz.  Sie  war  durchsetzt  von  zahlreichen  grauen 
Knötchen,  die  sich  mikroskopisch  als  typische  miliare  Tuberkel  erwiesen 
und  teils  in  den  Follikeln,  teils  in  der  Pulpa  gelegen  waren.  Die  Unter- 
suchung auf  Tuberkel  bacillen  war  negativ.  5  Wochen  nach  der  Operation 
zeigten  die  Blutkörperchen  das  Verhältnis  von  1:818;  der  Hämoglobin- 
gehalt betrug  65  Proz.  Die  Pat  blieb  2  Monate  in  Behandhing  und 
wurde  dann  geheilt  entlassen.  Ein  Jahr  später  fühlte  die  Frau  sich  recht 
wohl  und  ging  ihrer  zweiten  Entbindung  entgegen. 

7)  Eigene  Beobachtung. 

Karl  G.,  58  Jahre,  Fabrikarbeiter.  15.  Sept.  bis  8.  Nov.  1908. 
15.  Sept.  1903.  Eltern  an  Altersschwäche  gestorben.  Drei  Kinder  leben 
und  sind  gesund.  Früher  ist  Patient  niemals  krank  gewesen.  Seit 
6  Wochen  hat  er  Drücken  in  der  Magengegend  und  will  in  der  letzten 
Zeit  stark  abgemagert  sein. 

Ernährungszustand  ist  mittelmäßig.  Schleimhäute  etwas  blaß,  keine 
Pigmentablagerungen  in  der  Haut.  Lymphdrüsen  nirgends  geschwollen. 
Keine  Knochenerkrankungen. 

Herz  und  Lungen  gesund.  Leberdämpfung  schneidet  mit  dem  Rippen- 
bogen ab.  Unter  dem  linken  Rippenbogen  ein  harter,  rundlicher  Tumor 
fühlbar,  der  nach  der  Mitte  bis  zum  Nabel  und  nach  unten  bis  2  Quer- 
finger breit  über  das  Lig.  Poupartii  reicht  Man  kann  sich  die  Geschwulst 
leicht  von  vorne  nach  hinten  und  umgekehrt  entgegenschieben,  wobei  sich 
deutlich  der  stumpfe  Rand  fühlen  läßt,  an  dem  jede  scharfe  oder  derbe 
Lappenbildung  fehlt.  Das  aufgeblähte  Querkolon  verläuft  unmittelbar 
unter  der  Geschwulst. 

Urin  ohne  Eiweiß  und  Zucker,  ohne  morphologische  Bestandteile; 
auch  früher  ist  in  demselben  niemals  Blut  bemerkt  worden.  Auch  im 
Stuhl  kein  Blut,  ebenso  sind  niemals  Zahnfleisch-  oder  Nasenblutungen 
beobachtet  worden. 

Bei  der  Blutuntersuchung  zeigen  sich  die  weißen  Blutzellen  nicht  ver- 
mehrt, eher  vermindert,  in  jedem  Gesichtsfeld  (gefärbtes  Präparat)  höch- 
stens 2 — 3;  hauptsächlich  polynukleäre,  ganz  vereinzelte  kleine  Lympho- 
cyten,  keine  großen  mononukleären  Zellen.  Zahl  der  roten  Blutkörperchen 
etwa  6000000.    Verhältnis  annähernd  1:800.    Hämoglobingehalt  40  Proz. 

Wenn  auch  der  Urin  früher  und  jetzt  keine  pathologischen  Bestand- 
teile aufwies,  konnte  doch  ein  Hydronephrom  in  Präge  kommen,  zumal  die 


526  Josef  Bayer, 

Form  der  Geschwulst  von  der  Gestalt  der  gelappten  Milz  abwich.  Frei- 
lich sprach  gegen  einen  der  Niere  anhaftenden  Tamor  die  Lagerung  des 
Dickdarms.  Trotzdem  der  Blutbefund  ein  negativer  war,  mußte  doch  an 
einen  Milztumor  gedacht  werden.  Hierbei  kam  Amyloid  in  Betracht,  Lues 
war  auszuschließen.  Da  aber  ein  tuberkulöser  Herd  und  ebenso  alte 
Prozesse  in  den  Lungen  nicht  nachweisbar  waren,  außerdem  im  Urin 
weder  Eiweiß  noch  Cylinder  gefunden  wurden,  war  für  Amyloid  kein 
Anhaltspunkt  zu  gewinnen.  Abgesehen  davon,  daß  der  Tumor  fUr  Anaemia 
splenica  und  für  eine  Milzschwellung  bei  Girrhosis  hepatis  zu  groß  er- 
schien, fehlte  außer  einer  Veränderung  der  Leber  (Vergrößerung  oder 
Schrumpfung)  auch  der  Ascites.  Einen  Fingerzeig  für  die  Diagnose 
glaubten  wir  aber  in  der  schnellen  starken  Abmagerung  zu  sehen;  es 
wurde  deshalb  an  einen  malignen  Tumor  gedacht,  der,  da  ein  anderer 
primärer  Herd  sich  nicht  ermitteln  ließ,  in  der  Milz  primär  aufgetreten  war. 

24.  Sept.  Operation.  In  der  linken  Seite  extraperitonealer  Lumbai- 
schnitt, der  an  der  11.  Rippe  beginnt  und  in  senkrechtem  Verlaufe  an  der 
Crista  ilei  endigt  Bei  Spaltung  der  Fascia  transversa  zeigt  ein  Gri£f 
nach  der  linken  Niere,  daß  dieselbe  an  ihrem  Platze  liegt  und  unversehrt 
ist  Daß  der  Tumor  der  Milz  angehörte  und  der  Respiration  unterlag, 
ließ  sich  jetzt  durch  das  Peritoneum  hindurch  feststellen;  die  Milz  schim- 
merte bläulich  durch  und  schob  sich  auf-  und  abwärts.  Da  Pat.  in  der 
Narkose  kollabierte,  wurde  die  Operation  abgebrochen  und  in  einer  zweiten 
Sitzung  am  7.  Okt.  der  Lumbaischnitt  etwas  nach  oben  verlängert  und  in 
der  Mitte  desselben  ein  6  cm  langer  Querschnitt  nach  dem  Nabel  zu  hin- 
zugefügt. Nach  Eröffnung  des  Peritoneum  ließ  sich  die  Milz  leicht  aus 
ihrer  Nachbarschaft  herauswälzen.  Die  im  Pankreasschwanz  verlaufenden 
Gefäße  wurden,  nachdem  die  Milz  vorsichtig  vor  die  Bauchwunde  gelagert 
war,  zur  größeren  Sicherung  der  Blutstillung  durch  Fäden,  die  teils  durch 
die  Pankreassubstanz  verliefen,  teils  dieselbe  umfaßten,  abgebunden.  Der 
Pankreasstumpf  wurde,  nachdem  der  Peritonealraum  hinsichtlich  blutender 
Stellen  revidiert  und  völlig  geschlossen  war,  in  die  oben  und  unten  durch 
Oatgutnähte  verkleinerte  Bauchwunde  zwischen  die  Mm.  obliqui  eingenäht. 
Darüber  wurde,  unter  Drainage  auf  den  extraperitonealen  Stumpf,  die 
Haut  durch  Nähte  vereinigt. 

Die  ohne  jede  Zerreißung  exstirpierte  Milz  war  25  cm  lang,  12,5  cm 
breit  und  8  cm  dick;  sie  wog  1750  g. 

Die  Vergrößerung  derselben  ist  gleichmäßig,  die  Farbe  normalrot  und 
die  Konsistenz  mittelweich.  Die  Kapsel  ist  glatt,  nirgends  getrübt  und 
verdickt  und  läßt  an  drei  Stellen  stecknadelkopfgroße  Erweichungsherde 
durchschimmern. 

Das  Parenchym  ist  auf  dem  Durchschnitt  mit  zahlreichen  miliaren 
grauen,  etwas  prominenten  Knötchen  durchsetzt,  die  makroskopisch  den 
Eindruck  verdickter  Lymphknötchen  machen.  Die  Pulpa  ist  dunkelrot, 
etwas  abstreifbar.  Die  Septen  sind  undeutlich.  Kein  Amyloid  nach- 
weisbar. 

Mikroskopisch  zeigen  sich  die  Knötchen  als  miliare  Tuberkel,  zentral 
verkäst,  von  einer  epitheloiden  Zone  umgeben.  Viele  Riesenzellen.  Die 
Untersuchung  auf  Tuberkelbacillen  war  negativ. 

Einige  Tage  nach  der  Operation  trat  wieder  ein  leichter  Kollaps  ein, 
der  sich  in  Irregularität  und  Beschleunigung  des  Pulses  (bis  170  Schläge 
in  der  Minute)  äußerte.  Auf  den  Lungen  geringe  Hypostase ;  im  Auswurf 
keine  Tuberkelbacillen.     Urin  zeigt  vorübergehend  eine  Spur  Eiweiß. 

22.  Okt.     Die   Blutuntersuchung   ergab   einen   Hämoglobingehalt   von 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  527 

40  Proz. ;  Verhältnis  der  Blntkörpercben  1  :  320.  Drüsenschwellungen 
nirgends  festzustellen. 

Der  Wundverlauf  war  völlig  normal.  Pat.  konnte  am  30.  Okt.  das 
Bett  verlassen.  Sein  Appetit  hob  sich  und  sein  Aussehen  wurde  zusehends 
besser.     Am  8.  Nov.  fuhr  er  in  vollem  Wohlbefinden  nach  Hause. 

Auf  eine  Anfrage  gab  der  Pat.  am  3.  April  1904  den  Bescheid,  daß 
er  am  16.  Nov.  1903  seine  Arbeit  in  der  Fabrik  wieder  aufgenommen 
habe  und  sich  vollkommen  wohlfühle.  Sein  Körpergewicht  ist  das  gleiche 
geblieben. 

Diesen  7  glücklich  verlaufenen  Milzexstirpationen  füge  ich  noch 
2  Fälle  hinzu,  in  welchen  die  Operation  einen  ungünstigen  Ausgang 
nahm. 

8)  BuRKE  (1889).  Eine  27-jährige  Frau  hatte  5  Monate  nach  ihrer 
Niederkunft  eine  schmerzhafte  Geschwulst  in  der  linken  Leibeshälfte  be- 
merkt. Eine  gleichzeitig  bestehende  Anämie  wurde  durch  Eisen  und 
Chinin  günstig  beeinflußt.  Da  jedoch  die  Oeschwulst  zunahm  und  die 
heftigen  Schmerzen  anhielten,  entschloß  sie  sich  zur  Operation.  —  Die 
exstirpierte  Milz  war  höckerig  und  wog  1500  g;  sie  war  28  cm  lang  und 
6,5  cm  dick  und  erwies  sich  deutlich  als  tuberkulös.  Sofort  nach  der 
Operation  trat  eine  große  Pulsbeschleunigung  ein,  die  auch  am  folgenden 
Tage  anhielt.  Bei  hoher  Temperatur  und  frequenter  Respiration  erfolgte 
der  Tod  im  Kollaps. 

9)  CoMiNOTTi  (1900).  Eine  39-jährige  Frau,  die  schon  seit  langen 
Jahren  an  Menstrualbeschwerden  gelitten  hatte,  war  mit  einem  beträcht- 
lichen, bis  zur  linken  Leistenbeuge  reichenden  Milztumor  behaftet;  auch 
die  Leber  war  vergrößert.  Die  Zahl  der  roten  Blutkörperchen  betrug  bis 
7  500000,  die  der  weißen  schwankte  zwischen  6000  und  7200.  —  Die 
exstirpierte  Milz  wog  4200  g,  war  33  cm  lang  und  maß  40  cm  im  Um- 
fang. In  derselben  sehr  beträchtliche  Bindegewebswucherung  ohne  makro- 
skopisch sichtbare  Tuberkel;  die  mikroskopische  Untersuchung  wurde 
nicht  vorgenommen.  Die  Zahl  der  roten  Blutkörperchen  fiel  nach  der 
Splenektomie  auf  6Y2  Millionen.  —  52  Tage  nach  der  Operation  ging  die 
Pat.  an  Sepsis  zu  Grunde.  Die  Lungen  waren  normal;  in  der  Leber 
einige  kleine  Knötchen.     Caries  der  Wirbelsäule. 

B.  Obduzierte  Fälle  (19). 

1)  GoLBT  (1846).  Ein  einjähriges  Kind  wurde  mit  einer  beträcht- 
lichen Milzgeschwulst  aufgenommen.  Das  Kind  hatte  einen  wahren  Heiß- 
hunger und  wurde  von  seiner  skrofulösen  Mutter  genährt.  Später  traten 
Oedeme  und  Ascites,  sowie  Lebervergrößerung  hinzu.  Tod  nach  8  Mon. 
—  Die  tuberkulöse  Milz  wog  11  Unzen  und  war  mit  dem  Pankreas  ver- 
wachsen. Leber  sehr  groß.  Lungen  und  Darmkanal  frei  von  Tuber- 
kulose. 

2)  MoKNBBET  (1859).  Ein  67-jähriger  Mann  bemerkte  seit  8  Monaten 
Schmerzen  im  linken  Hypochondrium.  Gleichzeitig  Appetitlosigkeit  und 
Abmagerung.  Keine  Malaria,  keine  Leukämie.  Später  Koliken  und  Durch- 
filUe.  Tod  im  Coma  nach  4  Monaten.  —  Die  Milz  war  27  cm  lang,  8  cm 
dick  und  am  oberen  Pol  19  cm,  am  Hilus  16  cm  breit.  Auf  dem 
Durchschnitt  8 — 10  käsige  tuberkulöse  Herde.  In  den  übrigen  Organen 
keine  Metastasen. 


528  Josef  Bayer, 

3)  Brut^  (1881).  Ein  9-jähriger  Knabe  wird  in  schwachem,  kachekti- 
schem  Zustande  eingeliefert.  Es  besteht  Pieber,  Dyspnoe  und  Diarrhöe. 
Tod  an  Entkräftung.  —  Die  Langen  sind  gesnnd.  Die  Milz  ist  sehr 
groß  und  mit  zahlreichen  gelben  Massen  angeftQlt.  Auch  die  Leber  ver- 
größert. 

4)  ScHAROLDT  (1883).  Ein  25-jähriger  Maurer  wurde  mit  hohem 
Fieber  aufgenommen,  dem  Schtlttelfröste  mit  profusen  Schweißansbrüchen 
voraufgegangen  waren.  Abdomen  aufgetrieben.  Die  Leber  ist  normal, 
dio  Milz  stark  vergrößert  und  leicht  palpabel.  Starke  Cyanose ;  die  Haut- 
farbe wechselt  zwischen  rot  und  tiefblau.  Nasenbluten.  Urinverhaltung. 
Durchfälle.  Tod  nach  17  Tagen.  —  Die  Milz  ist  um  das  Dreifache  ver- 
größert. Auf  der  Oberfläche  und  im  Durchschnitt  zahlreiche  kleine 
Tuberkel.  Leber  normal.  Im  Unterlappen  der  rechten  Lunge  ein  kleiner 
Infarkt. 

5)  CoLLiBR  (1895).  Ein  G-jähriges  Kind  war  bis  zum  Alter  von  8  Mon. 
stets  gesund  gewesen.  Dann  kränkelte  es  und  nach  2  Jahren  bemerkte 
die  Mutter  eine  Anschwellung  des  Leibes.  Mit  Bronchopneumonie  ein- 
geliefert —  Sektion.  Lungen  frei  von  Tuberkulose.  Die  Milz  wog 
4  englische  Pfund  und  zeigte  die  Sjrmptome    einer  tuberkulösen  Eruption. 

6)  Haydbn  (1898).  Eine  24-jährige  Frau  litt  an  einer  schmerzhaften 
bis  zum  Nabel  reichenden  Milzgeschwulst.  Eine  Probelaparotomie  zeigte 
einen  weichen,  grau  gefärbten  Tumor,  bei  dessen  Incision  sich  Eiter  ent- 
leerte, in  dem  Tuberkelbacillen  gefunden  wurden.  Da  Hayden  sich  zur 
Splenektomie  nicht  entschließen  konnte,  begnügte  er  sich  mit  der  Aus- 
kratzung der  tuberkulösen  Massen.  Der  Tumor  wuchs  jedoch  weiter. 
Tod  durch  Haemoptoö  und  allgemeine  Tuberkulose.  —  Die  stark  vergrößerte 
Milz  war  mit  verkästen,  teilweise  vereiterten  Herden  durchsetzt  Zahl- 
reiche Tuberkel  im  Pankreas  und  in  der  Leber. 

7)  Rendu  und  Widal  (1899).  Zuerst  im  Alter  von  31  Jahren  be- 
merkte der  Kranke  Schmerzen  im  linken  Hypochondrium.  Hier  entwickelte 
sich  dann  eine  Geschwulst,  die  langsam  größer  wurde  und  nach  Verlauf 
von  8  Jahren  die  ganze  linke  Hälfte  des  Unterleibes  anfüllte  und  bis  zur 
Leistengegend  herabreichte.  Der  Tumor,  der  der  Milz  angehörte,  fühlte 
sich  hart  und  vielgelappt  an.  Während  der  6  Monate  vor  dem  Tode 
zeigten  sich  Ulcerationen  an  den  Kändern  und  auf  der  Hinterfläche  der 
Zunge,  sowie  auf  der  Innenseite  der  Oberlippe.  Gleichzeitig  bestand  aus- 
gesprochene Cyanose,  besonders  an  den  Extremitäten.  Die  Zahl  der  roten 
Blutkörperchen  war  auf  6200000  gestiegen,  die  der  weißen  betrug  6000. 
Keine  kernhaltigen  Blutkörperchen,  auch  keine  Aenderung  im  Verhältnis 
der  verschiedenen  Arten  von  Leukocyten.  Bis  zum  Tode  war  Ascites 
nicht  aufgetreten.  —  Die  Milz  wog  3780  g,  hatte  eine  Länge  von  30  cm, 
eine  Breite  von  18  cm  und  einen  größten  Umfang  von  47  cm.  Das  Milz- 
gewebe war  an  einzelnen  Stellen  fibrös  entartet  und  im  übrigen  von  mehr 
oder  weniger  großen  käsigen  Herden  durchsetzt.  Die  Untersuchung  auf 
Tuberkelbacillen  verlief  negativ.  —  Die  Leber  wog  2680  g  und  zeigte 
mikroskopisch  zahlreiche  tuberkulöse  Knötchen;  auch  im  Pankreas  und 
in  den  Nieren  einige  tuberkulöse  Narben. 

8)  Moutabd-Mabtin  und  Lefas  (1899).  Es  handelte  sich  um  eine 
49jährige  Frau.  Ihre  Mutter  war  an  Lungenphthise  gestorben,  sie  selbst 
war  im  Alter  von  7  Jahren  an  Typhus  erkrankt,  seitdem  immer  gesund 
gewesen.     8eit  einem  Jahre  hatte  sie  Schmerzen  im  linken  Hypochondrium, 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  529 

die  von  einem  langsam  wachsenden  Milztumor  ausgingen.  Die  Zahl  der 
roten  Blutkörperchen  betrug  8200000,  die  der  weißen  31428.  Keine 
Oyanose.  Im  weiteren  Verlauf  starkes  Erbrechen  und  etwas  Husten.  Der 
Tod  trat  plötzlich  ein,  als  sich  die  Frau  im  Bett  aufrichten  wollte.  — 
Die  Milz  war  1750  g  schwer,  32  cm  lang,  17  cm  dick  und  am  oberen 
Pol  14  cm  breit.  Sie  bot  deutlich  die  Anzeichen  einer  primären  chroni- 
schen Tuberkulose.  Spätere  Infektion  der  Leber,  die  2000  g  wog.  In 
beiden  Lungen  alte   tuberkulöse  Narben. 

9)  Achard  und  Castaignb  (1899).  Der  38-jährige  Fat.  war  gestorben 
infolge  Phlegmasia  alba  dolens  des  Oberschenkels.  Die  Blutuntersuchung 
während  des  Lebens  batte  3200000  rote  und  6200  weilte  Blutkörperchen 
ergeben.  —  Die  stark  vergröfierte,  höckerige,  1250  g  wiegende  Milz  war 
mit  kleinen  grauen  Knötchen  durchsetzt,  in  welchen  mikroskopisch  Riesen- 
zellen und  Tuberkelbacillen  festgestellt  wurden.  Die  Leber  wog  1800  g, 
auch  die  Nieren  waren  vergrößert,  doch  ließ  sich  in  keinem  anderen 
Organe  Tuberkulose  nachweisen. 

10)  E.BINHOLD  (1899).  Ein  61-jähriger  Arbeiter,  der  wegen  Appetit- 
losigkeit und  Abmagerung,  wegen  Husten  mit  Auswurf  die  Arbeit  auf- 
geben mußte,  starb  einige  Zeit  darauf  eines  plötzlichen  Todes.  —  Die 
Milz  war  15  cm  lang  und  11  cm  breit  und  bis  auf  einen  schmalen  Spalt 
mit  der  Umgebung  allenthalben  fest  verwachsen.  Auf  dem  Durchschnitt 
zeigten  sich  zwischen  sehr  spärlichem  dunkelroten  Milzgewebe  eine  große 
Anzahl  von  länglich-runden,  meist  mit  dickem  Eiter  gefüllte  Hohlräume, 
deren  Wand  käsig  infiltriert  war;  mikroskopisch  zahlreiche  Tuberkel, 
teils  sehr  kleine,  teils  größere,  in  starker  Verk&sung  begriffen.  In  der 
Umgebung  der  Käseherde  Anhäufungen  von  Leukooyten.  Teilweise  waren 
Biesenzellen  zu  sehen.  Auch  in  den  Lungen  primäre  Tuberkulose.  Doch 
trat  die  Tuberkulose  der  Milz  der  Erkrankung  der  Lungen  gegenüber 
ihrer  Stärke  nach  so  sehr  in  den  Vordergrund,  daß  die  Milztuberkulose 
als  das  Primäre   anzusehen  war. 

11)  CoLLET  und  Gallavbrdin  (1901).  Bei  einem  60- jährigen  Manne 
hatte  sich  seit  2  Jahren  ein  kaum  schmerzender,  bis  zur  Spina  ant.  sup. 
reichender  Milztumor  mit  buckliger  Oberfläche  entwickelt;  gleichzeitig  be- 
stand Hypertrophie  der  Leber.  Malaria  und  Syphilis  waren  ausgeschlossen. 
Die  Leukocyten  waren  nicht  vermehrt;  eine  Zählung  der  roten  Blut- 
körperchen unterblieb.  Es  bestand  Fieber.  Gesichtsfarbe  fhschrot  bei 
starker  allgemeiner  Abmagerung.  Erst  einen  Monat  nach  der  Aufnahme 
traten  Verdauungsstörungen  und  Zeichen  von  Anämie  hinzu.  Tod  an 
Entkräftung.  —  Die  Milz  war  2000  g  schwer,  hatte  am  unteren  Pol 
mehrere  große  Höcker  und  war  auf  dem  Durchschnitt  mit  großen,  derb- 
käsigen Tuberkelknoten  durchsetzt  Die  Leber  wog  3150  g;  entlang  den 
Pfortaderästen  Tuberkelaussaat.  Auch  in  den  Lungenspitzen  einige 
kleinere  fibröse  und  verkalkte  Knötchen. 

12)  AucHä  (1902).  Ein  38-jähriger  Kammerdiener  hatte  seit  8  Jahren 
Beschwerden  im  linken  Hypochondrium.  Vor  6  Jahren  wurde  daselbst 
eine  Anschwellung  bemerkt,  die  langsam  größer  wurde,  aber  kaum  ernst- 
liche Schmerzen  machte.  In  der  letzten  Zeit  gesellte  sich  Ascites  hinzu. 
Pat.,  der  seit  den  8  Jahren  seiner  Krankheit  in  jedem  V^inter  stark  ge- 
hustet, aber  niemals  Blut  ausgeworfen  hatte,  befand  sich  bei  der  Auf- 
nahme in  einem  sehr  schlechten  Gesundheitszustande.  Er  war  stark  ab- 
gemagert und  litt  sehr  unter  Atemnot.     Der  Ascites  nahm  schnell  zu  und 


530  Josef  Bayer, 

der  Tod  trat  bald  ein.  —  Im  Abdomen  8—10  Liter  klarer  Flüssigkeit. 
Das  Peritoneum  mit  zahlreichen  grau-weißen  Knötohen  besetzt  Die  Milz 
wog  1250  g,  war  22  cm  lang  und  17  cm  breit;  die  Oberfläche  kastanien- 
braun. Auf  dem  Durchschnitt  zahlreiche,  teilweise  zusammenfließende 
graue  Tuberkel  knötchen.  Tuberkelbacillen  und  Biesenzellen  wurden  nicht 
gefunden.  Neben  den  frischen  auch  alte,  fibrös  verhärtete  Herde.  —  Die 
Lungen  waren  vollständig  frei  von  Tuberkulose.  Die  Leber  hatte  ein 
Gewicht  von  2200  g  und  bot  das  Bild  einer  diffusen  interstitiellen  Hepatitis ; 
in  derselben  ebenfalls  tuberkulöse  Granulationen  mit  Tuberkelbacillen, 
aber  ohne  Riesenzellen. 

18)  BiG&s  (1902).  Bei  einem  9-jährigen  Kinde  i^nden  sich  in  der 
Milz  große  käsige  Herde,  die  als  tuberkulös  angesprochen  wurden.  In  den 
anderen  Organen  keine  Tuberkulose. 

14)  SiMONiN  und  DoPTBR  (1902).  Bei  einem  19-jährigen  Soldaten 
fand  man  eine  zweilappige  Milz  und  in  dem  unteren  Lappen  drei  große 
käsige  Herde,  in  denen  sich  Tuberkelbacillen  nachweisen  ließen.  Auch 
in  den  Nieren  und  in  der  Leber  an  den  Pfortaderästen  einige  miliare 
Knötchen. 

15)  Romanow  (1902).  Ein  80-jähriger  Mann,  der  mit  schweren  Er- 
scheinungen ins  Krankenhaus  kam,  starb  nach  4  Tagen.  —  Die  Milz  wog 
2085  g,  war  21  cm  lang,  15  cm  breit  und  10  cm  dick.  Zwei  Neben- 
milzen, von  denen  die  eine  kugelförmig  war  und  einen  Durchmesser  von 
1,8  cm  hatte,  die  andere  2,7  cm  lang  und  1,5  cm  breit  war.  In  der 
Milz  und  den  Nebenmilzen  fanden  sich  außer  zahlreichen  kleinen  Tuberkeln 
anscheinend  trocken-käsige  Herde  bis  1  cm  im  Durchmesser.  Mikroskopisch 
in  der  Milz  typische  Tuberkel,  Riesenzellen  und  Tuberkelbacillen.  —  Die 
Leber  war  normal  groß,  außen  und  auf  den  Schnittflächen  mit  Tuberkeln 
besät,  jedoch  offenbar  späteren  Ursprungs.  Die  anderen  Organe  waren 
frei  von  Tuberkulose. 

16)  ToLOT  (1902).  Bei  einer  66-jährigen  Frau  war  seit  4 — 5  Jahren 
Abmagerung  eingetreten.  Später  Verdauungsstörungen  und  Durchfälle. 
Tod  an  Entkräftung.  —  Die  Milz  wog  480  g  und  zeigte  auf  dem  Durch- 
schnitt einige  gelbe  Knötchen;  dieselbe  Erscheinung  in  der  1150  g  wiegen- 
den Leber. 

17)  Lorrain  (1903).  Ein  39-jähriger  Mann  kam  mit  einer  bedeuten- 
den Milz-  und  Lebervergrößerung  zur  Aufnahme.  Später  führte  eine 
tuberkulöse  Lungenaffektion  zum  Tode.  —  Die  Milz  wog  1650  g  und  war 
25  cm  lang  und  15  cm  breit  Das  Gewebe  ist  mit  käsigen  Herden  von 
Nuß-  bis  Eigröße  durchsetzt;  nach  dem  unteren  Pol  zu  fließen  die  käsigen 
Massen  zusammen.  Riesenzellen  selten,  Tuberkelbacillen  in  geringer  An- 
zahl vorhanden.  Auch  in  der  Leber  käsige  Herde,  doch  kleiner  und 
weniger  zahlreich  als  in  der  Milz,  frischere  Granulationen  mit  weniger 
Riesenzellen.  In  der  rechten  Lunge  eine  frische  tuberkulöse  Lifiltration, 
im  linken  Unterlappen  käsige  Pneumonie. 

18)  Fbrrand  und  Rathbry  (1903).  Eine  34-jährige  Frau  fühlte  sich 
seit  einem  Jahre  krank.  Sie  ist  stark  abgemagert  und  leidet  an  einer 
schmerzhaften  Leber-  und  Milzvergrößerung.  Die  Blutuntersuchung  wurde 
nicht  gemacht.    Cyanose  bestand  nicht.    Tod  an  Kachexie.  —  Die  Lungen 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  531 

gesund.  Die  Milz  wog  500  g  und  zeigte  auf  dem  Durchschnitt  zahlreiche 
käsige  Tuberkel.  Auch  auf  der  Mitralklappe  frische  tuberkulöse  Granu- 
lationen, in  welchen  sich  Tuberkelbacillen  nachweisen  ließen. 

19)  Lefas  (1903).  Ein  Mädchen  von  14^,  Jahren  kam  wegen  einer 
Lungen erkrankung  ins  Hospital.  Es  bestanden  Fieber,  Dyspnoe  und 
Durchfeile.  —  Bei  der  Obduktion  wurde  eine  käsige  Pneumonie  des 
rechten  Unterlappens  gefunden.  Die  Milz  wog  150  g  und  hatte  in  ihrer 
Mitte  einen  runden  tuberkulösen  Herd  von  mehreren  Centimeter  Durch- 
messer. Um  diesen  Herd  herum  lagen  noch  mehrere  andere  Tuberkelherde 
von  Erbsengröße.     In  den  anderen  Organen  keine  Tuberkulose. 

Das,  was  sich  aus  den  aufgeführten  Fällen  über  die  Entstehung 
der  Milztuberkulose  und  ihre  allgemeinen  Erscheinungen  im  Organis- 
mus ergiebt,  stimmt  mit  Litteks  Ansicht  durchaus  nicht  überein. 
Litten  (1.  c.)  sagt  ausdrücklich:  ^Die  Tuberkulose  der  Milz  kommt 
selbständig  nicht  vor,  bildet  vielmehr  stets  eine  Teilerscheinung  allge- 
meiner Tuberkulose.  .  .  .  Immer  tritt  dabei  die  tuberkulöse  Erkran- 
kung der  Milz  sehr  in  den  Hintergrund  im  Vergleich  zu  den  sonst 
vorliegenden  tuberkulösen  Organerkrankungen.**  Unsere  Fälle  lehren 
uns  aber  das  gerade  Gegenteil,  nämlich,  daß  fast  regelmäßig  die  Affek- 
tion der  Milz  vor  der  Erkrankung  der  anderen  etwa  befallenen  Organe 
in  auffallender  Weise  hervortritt  und  das  Hauptinteresse  in  Anspruch 
nimmt,  und  daß  es  tatsächlich  eine  primäre  isolierte  Tuberkulose  der 
Milz  gibt:  Ohne  daß  es  sich,  wie  Litten  fordert,  um  eine  allgemeine 
akute  Miliartuberkulose  oder  um  chronische  Tuberkulose  der  Lungen, 
des  Darmes  oder  der  Drüsen  handelte,  entwickelte  sich  bei  Leuten, 
die  sich  in  guter  Gesundheit  befanden  und  nach  keiner  Seite  hin  eine 
tuberkulöse  Beanlagung  boten,  die  Tuberkulose  der  Milz. 

Die  ersten  Zeichen  traten  im  linken  Hypochondrium  auf,  wo  lange 
Zeit  hindurch  in  immer  zunehmendem  Maße  und  mit  wechselnder 
Intensität  sich  stechende  und  ziehende  Schmerzen  zeigten  in  Verbin- 
dung mit  einem  Gefühl  von  Schwere  und  Druck.  Geraume  Zeit  treten 
keine  weiteren  Symptome  hinzu,  höchstens  zuweilen  dyspnoische  oder 
dyspeptische  Störungen  und  infolgedessen  Appetitlosigkeit  und  Abmage- 
rung. Im  Verlaufe  von  6 — 9 — 12  Monaten  wächst  dann  der  Milz- 
tumor, ohne  in  toto  herabzutreten ;  er  wird  im  Hypochondrium  für  die 
Hand  tastbar  und  bald  auch  für  das  Auge  sichtbar,  indem  er  in  der 
Gestalt  einer  derben,  eiförmigen,  länglichen  und  zuweilen  höckerigen 
Geschwulst  Hypochondrium  und  Lumbaigegend,  manchmal  auch  die 
ganze  linke  Hälfte  des  Unterleibes  bis  zum  Nabel  hin  vorwölbt.  Selbst 
wenn  die  Erkrankung  schon  in  dieses  Stadium  getreten  ist,  kann  sie 
ohne  oder  mit  Fieber  mit  abendlichen  Steigerungen  noch  jahrelang 
dauern  und  schließlich  durch  Entkräftung  oder  unter  terminaler  Tuberkel- 
aussaat in  andere  Organe  zum  Exitus  führen. 


532  Josef  Bayer, 

Diese  chronische  Entwickelung  der  primären  Milztuberkulose  dürfte 
nach  der  Kasuistik  wohl  als  die  Regel  anzusehen  sein;  einen  akuten 
Verlauf  beobachteten  nur  Scharoldt,  Marriot  und  Stewart  ^).  Der 
Patient  Sgharoldts  kam  mit  einer  akuten  fieberhaften  Erkrankung 
zur  Aufnahme  und  starb  nach  17  Tagen.  Auch  Marriot  bezeichnet 
seinen    Fall,    in    welchem    die    allmählich    wachsende    Milzgeschwulst 

2  Jahre  lang  beobachtet  worden  war,  als  akut,  vielleicht  deshalb,  weil 
zum  Schlüsse  eine  akute  Verschlimmerung  eintrat,  die  dann  zur  Ope- 
ration drängte.  In  unserem  Falle  hatte  der  Patient  erst  6  Wochen 
vor  der  Hospitalaufnahme  die  ersten  ernstlichen  Anzeichen  seiner  Er- 
krankung gespürt. 

Im  allgemeinen  beansprucht  die  chronische  Entwickelung  der  pri- 
mären Milztuberkulose  eine  längere  Zeitdauer.  In  10  Fällen,  in  welchen 
genauere  Angaben  vorliegen,  wurde  4mal  1  Jahr,  2mal  2  Jahre,  je  Imal 

3  bezw.  4 — ^5  Jahre  und  2mal  sogar  8  Jahre  vor  der  Aufnahme  die 
Milzgeschwulst  zuerst  bemerkt.  Teilweise  wurden  die  Patienten  selbst 
auf  den  Tumor  dadurch  aufmerksam,  daß  ihnen  beim  Zuziehen  des 
Leibgurtes  oder  beim  Binden  der  Rockschnur  die  Vergrößerung  des 
Leibesumfanges  auffiel. 

Die  beiden  Geschlechter  beteiligen  sich  fast  gleichmäßig  an  der 
Krankheit.  Neben  4  Kindern  im  Alter  von  1—9  Jahren  finden  wir 
11  Männer  und  12  Personen  weiblichen  Geschlechts. 

Wenn  wir  die  Fälle  der  Erwachsenen  —  bei  Carle  fand  ich  das 
Alter  der  Frau  nicht  angegeben  —  zusammenstellen,  so  entfallen  auf 
das  zweite  Jahrzehnt  3,  auf  das  dritte  4,  auf  das  vierte  8,  auf  das 
fünfte  1,  auf  das  sechste  2  und  auf  das  siebente  3  Erkrankungen;  dazu 
kommt  noch  ein  Mann  von  80  Jahren.  Es  scheint  demnach,  als  wenn 
das  Lebensalter  von  30 — 40  Jahren,  in  welchem  je  4  Männer  und 
Frauen  erkrankten,  für  die  Entwickelung  einer  primären  Milztuberkulose 
besonders  günstig  sei. 

Die  Gewichtsvermehrung  der  Milz  kann  eine  recht  beträchtliche 
sein.  Bei  Personen,  die  ohne  vorherige  Erkrankung  durch  einen  Un- 
glücksfall ums  Leben  kamen,  fand  Juncker*)  das  Milzgewicht  im  Durch- 
schnitt bei  Männern  159,8  g  und  bei  Weibern  155,7  g.  Nach  Orth 
schwankt  das  normale  Gewicht  der  Milz  zwischen  150  und  250  g. 
Henle  gibt  das  Durchschnittsgewicht  auf  225  g  an  und  Birch-Hirsgh- 
FELD  bezeichnet  als  Mittelgewicht  150  g  oder  0,26  Proz.  des  Körper- 
gewichtes. 


1)  Der  Fall  von  Stewabt  war  mir  in  der  Literatur  nicht  zugänglich ; 
er  ist  deshalb  auch  in  der  Kasuistik  nicht  erwähnt   worden. 

2)  Juncker,  Beitrag  zur  Lehre  von  den  Gewichten  der  menschlichen 
Organe,     Münch   med.  Wochenschr.,  1894,  No.  44,  p.  870. 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  633 

In  5  operierten  Fällen  finden  wir  das  Gewicht  der  Milz  angegeben  und 
zwar  von  300  g  bei  Lannelongüe  und  Vitrac,  von  1075  g  bei  Grillo, 
von  1500  g  bei  Burke,  von  1750  g  in  unserem  Falle  und  von  4200  g  bei 
CoMiNOTTi.  Die  Zahlen  bewegen  sich  also  in  großen  Abstanden,  zeigen 
uns  aber,  wie  beträchtlich  die  Gewichtsvermehrung  werden  kann. 

Nicht  minder  schwankend  sind  die  Gewichtsangaben  auch  in  den 
obduzierten  Fällen,  in  denen  ja  der  tuberkulöse  Prozeß  in  seiner  Aus- 
dehnung nicht  durch  einen  operativen  Eingriff  gehemmt  wurde,  sondern 
bis  zum  letalen  Ausgange  sich  ungehindert  entwickeln  konnte.  Das 
geringste  Milzgewicht  bot  ein  Mädchen  von  14^2  Jahren  (Lefas)  mit 
150  g;  bei  den  ausgewachsenen  Personen  zeigte  der  Fall  von  Tolot 
mit  480  g  das  niedrigste  und  der  von  Rendü  und  Widal  mit  3780  g 
das  höchste  Milzgewicht. 

Der  Gewichtszunahme  entsprechend  sind  natürlich  auch  die  Maße 
der  tuberkulösen  Milz  erheblich  gesteigert.  Naüwerck  gibt  die  Länge 
der  normalen  Milz  auf  12—14  cm  an,  die  Breite  auf  8—9  cm  und  die 
Dicke  auf  3—4  cm ;  Birch-Hirschfeld  ermittelte  ein  Durchnittsver- 
hältnis  von  13 : 8 : 3  cm.  Es  entspricht  den  Beschwerden ,  die  der 
tuberkulöse  Milztumor  hervorruft,  und  dem  Eindruck  vom  Umfange  des 
Organes,  den  uns  die  Palpation  und  Perkussion  verschafft,  wenn  wir 
Maße  wie  32:14:17  cm  (Moutard-Martin  und  Lefas),  von  27:16 
:  8  cm  (Monneret),  von  25 :  12,5 : 8  cm  (Bardenheuer),  von  21 :  15 
:  10  cm  (Romanow),  von  20 :  15 : 7,5  cm  (Marriot)  verzeichnet  finden. 
Die  von  Cominotti  exstirpierte  Milz  hatte  einen  größten  Umfang  von 
40  cm,  und  Rendü  und  Widal  fanden  bei  der  Obduktion  eine  tuber- 
kulöse Milz  von  47  cm  Umfang. 

Die  Tuberkulose  zeigt  sich  in  der  Milz  nun,  je  nachdem  sie  mehr 
akut  oder  in  chronischer  Entwickelung  auftritt,  teils  in  Form  von 
grauen  miliaren  Knötchen,  die  sowohl  unmittelbar  unter  der  Kapsel 
liegen  und  durch  diese  hindurchschimmern,  als  auch  durch  das  ganze 
Milzgewebe  verstreut  sein  können,  teils  unter  der  Form  von  gelben, 
käsig-eiterigen  Tuberkelkonglomeraten ;  die  letzteren ,  die  auch  als 
Solitärtuberkel  auftreten,  sind  entweder  in  die  Pulpa  eingebettet  oder 
sie  liegen  der  Milzoberfläche  an  und  rufen  dann  auf  dieser  prominierende 
Höcker  von  Kirschkern-  bis  Eigröße  hervor.  Auf  der  Schnittfläche 
findet  man  häufig  fibröses  Gewebe  mit  käsigen  Massen  durchsetzt  und 
bei  vorgeschrittenen  Prozessen  deutliche  Höhlenbildung.  Auch  die 
miliaren,  für  sich  abgrenzbaren  Tuberkelknötchen  zeigen  in  der  Regel 
eine  zentrale  Verkäsung.  Riesenzellen  wurden  sehr  häufig  gefunden, 
dagegen  gelang  der  Nachweis  von  Tuberkelbacillen  nur  in  8  Fällen. 
5mal  (Grillo,  Reinhold,  Rendü  und  Widal,  Bardenheuer,  Aüchä) 
war  die  Untersuchung  auf  den  KocHschen  Bacillus  von  entschieden 
negativem  Erfolg.  In  den  übrigen  Fällen  ist  die  Untersuchung  nicht 
gemacht  oder  das  Ergebnis  nicht  mitgeteilt  worden. 

MittaU.  SU  d.  (innzflrebictoD  d.  Medlxin  u.  Chirurfi«.    XUL  Bd.  35 


534  Josef  Bayer, 

Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Deutungen,  die  ein  solch  langsam  wach- 
sender Milztumor  zuläßt,  ist  die  Stellung  der  Diagnose  auf  Milztuber- 
kulose von  vornherein  eine  Unmöglichkeit.  Es  ist  demnach  nicht  zu 
verwundern,  daß  die  Zahl  der  ObduktionsfiQle  bedeutend  größer  ist, 
als  die  Zahl  der  Beobachtungen,  in  denen  bei  Eröffnung  der  Bauch- 
höhle infolge  einer  Fehldiagnose  oder  bei  einer  Probelaparotomie  aus 
diagnostischen  Gründen  die  tuberkulöse  Art  des  Milztumors  erkannt 
wurde;  hier,  wo  das  Organ  doch  auch  dem  Auge  und  der  Hand 
unmittelbar  zugänglich  war,  wurde  mehrmals  erst  nach  der  Exstir- 
pation  der  Milz  die  richtige  Diagnose  durch  die  mikroskopische  Unter- 
suchung gestellt. 

In  neuerer  Zeit  hat  man  deshalb,  um  eine  Diagnose  auch  ohne 
Probelaparotomie  zu  ermöglichen,  einige  Merkmale,  die  sich  in  einzelnen 
Fällen  von  primärer  Milztuberkulose  übereinstimmend  gezeigt  hatten, 
zu  Hilfe  genommen  und  sie  mit  dem  Krankheitsbild  in  Einklang  zu 
bringen  gesucht  Ehe  ich  jedoch  hierauf  näher  eingehe,  muß  ich  zuvor 
eine  Beobachtung  Rosknoarts  in  kurzem  Auszuge  wiedergeben. 

Ein  41-jähriger  Mann,  der  erblich  nicht  belastet  ist  und  vorher  nicht 
ernstlich  krank  gewesen  war,  war  37  Jahre  alt  an  Masern  erkrankt. 
Oegen  Ende  seiner  lange  dauernden  Krankheit  wurde  eine  Milzvergröße- 
rung festgestellt,  die  auch  noch  fortbestand,  als  er  von  den  Masern  ge- 
nesen war.  Er  litt  in  der  Folge  sehr  an  Magenbeschwerden,  anhaltendem 
Aufstoßen,  fast  täglichem  Erbrechen,  angehaltenem  Stuhl  und  häufigem 
Schwindelgefühl.  Pat.  ist  sehr  mager.  Gesichtahaut  rot  bis  bl&ulichrot 
mit  vielen  gelben  und  violetten  Tönen.  Mund-  und  Rachenschleimhaut 
von  exquisit  dunkel-kirschroter  Färbung.  Kurzatmig,  beim  Sprechen 
dyspnoisch,  Leber  reicht  in  der  Mamillarlinie  bis  4  Finger  breit  unter 
den  Rippenbogen.  Unter  dem  linken  Rippenbogen  tritt  eine  bis  zur 
linken  ParaSternallinie  reichende  glatte  Geschwulst  hervor,  an  welcher  eine 
Einkerbung  fühlbar  ist  und  die  sich  leicht  als  die  geschwollene  Milz  er- 
kennen läßt.  Projektionsmaße :  22 :  12  cm.  —  Das  Blut  ist  von  dunkel- 
kirschroter Farbe  und  dickflüssiger  Konsistenz.  Spez.  Gewicht:  1072, 
Hämoglobingehalt:  190 — 200  (Sahli).  Mikroskopisch  waren  die  roten 
Blutkörperchen  von  normaler  Beschaffenheit,  im  Kubikmillimeter  10  Mill. 
Femer  fand  sich  eine  mäßige  Vermehrung  der  polynukleären  neutrophilen 
Leukocyten,  wie  bei  der  gewöhnlichen  Leukocytose,  und  eine  entschiedene 
Verminderung  der  Blutplättchen.  Spätere  Untersuchungen  zeigten  die 
Zahl  der  roten  Blutkörperchen  in  derselben  Höbe  von  10  Mill.,  an  weißen 
1200  im  Kubikmillimeter.  —  Im  weiteren  Verlauf  blieben  die  Magen- 
erscheinungen die  Hauptbeschwerde.  Das  Herz  arbeitet  ständig  mit  ver- 
mehrter Pulsfrequenz  (88 — 96).  Im  Erbrechen  etwas  Blut.  Auf  beiden 
Lungenspitzen  sind  Katarrhe  aufgetreten;  im  Sputum  keine  Tuberkel- 
bacillen.  —  Nach  mehreren  Aderlässen,  unter  Darreichung  von  Jod  und 
bei  einer  möglichst  wenig  Eisen  enthaltenden  Diät  ist  die  Zahl  der  roten 
Blutkörperchen  auf  9  Mill.  herabgegangen  und  der  Hämoglobingehalt  auf 
150  gesunken.  Die  Beschwerden  sind  geringer  geworden,  dagegen  ist 
die  Milz  gewachsen  und  hat  die  Projektionsmaße  30:15  erreicht.  Das 
Köi'pergewicht  hat  zugenommen. 


lieber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  535 

Zu  dieser  Beobachtung  bemerkt  Rosengart,  der  die  Erkrankung 
der  Milz  als  das  Primäre  ansieht,  daß  er  das  ganze  Krankheitsbild  als 
eine  primäre  Tuberkulose  der  Milz  deuten  möchte. 

Rosengart  glaubt  sich  zu  dieser  Annahme  berechtigt,  weil  in 
seinem  Falle  drei  Hauptsjmptome  —  Milztumor,  Hyperglobulie  und 
Cyanose  —  vorlagen,  die  auch  in  früheren  Fällen,  die  bei  der  Obduktion 
sich  als  primäre  Milztuberkulose  herausstellten,  als  die  hervorstechend- 
sten Merkmale  im  Krankheitsbilde  hervorgetreten  waren.  Er  beruft 
sich  dabei  auf  den  Fall  von  Soharoldt  und  einige  andere,  hauptsäch- 
lich von  Franzosen  gemachte  Beobachtungen  (Rendü  und  Widal, 
Moütard-Martin  und  Lefas,  Collet  und  Gallaverdin,  Cominotti), 
in  welchen  neben  der  durch  die  Tuberkulose  hervorgerufenen  Milzver- 
größerung eine  hochgradige  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  und 
vereinzelt  eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  cyanotische  Ver- 
färbung der  Haut  festgestellt  worden  war^). 

Die  Schlußfolgerungen  Rosengarts  dürften  jedoch  nicht  ganz  ein- 
wandsfrei  sein.  Wir  wollen  zwar  nicht  die  Möglichkeit  leugnen,  daß 
Rosengart  sich  auf  dem  richtigen  Wege  befindet,  aber  bei  der  allge- 
meinen Unsicherheit,  die  heutzutage  noch  auf  dem  Gebiete  der  Milz- 
erkrankungen herrscht,  genügen  die  genannten  Symptome,  die  bei  ver- 
einzelten Fällen  von  Milztuberkulose  aufgefunden  wurden,  die  aber  auch 
in  dem  Symptomenkomplex  anderer  Milzaffektionen  sich  unterbringen 
lassen,  meines  Erachtens  durchaus  nicht,  um  daraufhin  eine  primäre 
Tuberkulose  der  Milz  zu  diagnostizieren. 

Von  dem  Milztumor  selbst  wollen  wir  dabei  vollkommen  absehen. 
Mag  seine  höckerige  Form  noch  so  deutlich  palpabel  sein,  gerade  des- 
wegen wird  es  sich  ebensogut  um  cystische  Ausbuchtungen  oder,  zumal 
wenn  Fieber  vorhanden  ist,  um  multiple  Abscesse  anderer  Art  handeln 
können.  Und  ist  die  Milz,  wie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  gleichmäßig 
geschwollen  und  vergrößert  und  fühlt  sich  der  Tumor  derb  und  glatt 
an,  so  bietet  er  erst  recht  nichts  Charakteristisches  für  Tuberkulose, 
da  auch  andere  Milztumoren  diese  Eigenschaften  besitzen. 

Auch  die  Hyperglobulie  können  wir  nicht  als  ein  untrügliches 
Merkmal  der  Milztuberkulose  betrachten. 

In  einzelnen  Fällen  von  nachgewiesener  primärer  Tuberkulose  der 
Milz,  z.  B.  bei  Achard  und  Castaigne,  finden  wir  die  Zahl  der  roten 
Blutkörperchen  sogar  unter  die  Normalzahl  von  5  Mill.  herabgesetzt. 
In  anderen  wieder  (QufiNU  und  Baxjdbt,  Bardenheüer,  Rendu  und 
Widal)  schwankt  die  Zahl  der  Erythrocyten  zwischen  den  physiologi- 
schen Grenzen   von  4—7  Mill.    Nur  wenige  zeigen   eine  hochgradige, 


1)  Neuerdings  wurden  auch  von  Osler,  Lefas,  TCrk  und  Preiss 
Beobachtungen  nichttuberkulöser  Natur  mitgeteilt,  die  fast  das  gleiche 
Krankheitsbild  zeigten. 

36* 


536  Josef  Bayer, 

auffallende  VermehruDg  der  roten  Blutkörperchen,  bis  7500000  bei 
CoMiNOTTi,  bis  8200000  bei  Moütard-Martin  und  Lefas.  In  seinem 
eigenen  Falle  konnte  Rosekoart  bis  10  Mill.  und  TOrk  zweimal  in 
fast  gleichen  Beobachtungen,  in  denen  jedoch  Tuberkulose  ausgeschlossen 
war,  über  10000000  Erythrocyten  nachweisen. 

Aber  wie  erklärt  Rosekoart  selbst  die  Entstehung  der  Hyper- 
globulie?  Nicht  etwa  als  einen  direkten  Reizungsvorgang  in  der  er- 
krankten Milz,  sondern  als  eine  gesteigerte  Aktivität  des  Knochen- 
markes, die  sekundär  deshalb  eintritt,  weil  die  Funktion  der  Milz  ganz 
oder  teilweise  ausgeschaltet  ist  Und  wie  Rosengart  dies  für  die 
tuberkulöse  AfFektion  der  Milz  annimmt,  so  können  wir  mit  demselben 
Rechte  überhaupt  für  jede  Affektion  der  Milz,  durch  welche  ihre 
Funktionstätigkeit  mehr  oder  weniger  lahmgelegt  wird,  eine  sekundäre 
Reizung  des  erythroblastischen  Apparates  annehmen  und  damit  eine 
erhöhte  Produktion  an  roten  Blutkörperchen  uns  erklären.  Und  solange 
uns  diese  Möglichkeit  der  Deutung  der  Polycythämie  bleibt,  sind  wir 
wohl  nicht  im  stände,  die  Hyperglobulie  gerade  auf  die  tuberkulöse 
Erkrankung  der  Milz  mit  zu  beziehen. 

Unsere  Ansicht  stimmt  übrigens  mit  der  von  Preiss  überein,  der 
sich  dahin  äußert,  daß  die  Hyperglobulie  bei  verschiedenen  Verände- 
rungen der  Milz,  nicht  etwa  nur  bei  Tuberkulose  derselben,  sich  findet 
und  ihr  Entstehen  von  noch  unbekannten  Faktoren  abhängt. 

Und  wie  verhält  es  sich  mit  der  Cyanose?  Bender  hat  schon  vor 
Rosekoart  betont,  daß  bei  den  an  primärer  Milztuberkulose  Ver- 
storbenen mehrmals  intra  vitam  eine  schmutziggelbe,  erdige  Hautfarbe 
beobachtet  worden  ist,  die  manchmal  ins  Bräunliche  überging  und  der 
Haut  ein  marmoriertes  Aussehen  verlieh.  Von  echter  Cyanose  (bis  zur 
tiefblauroten  Verfärbung)  finde  ich  nur  Angaben  bei  Scharoldt,  Rekdu 
und  WiDAL,  sowie  bei  Cominotti,  also  in  3  Fällen  von  28,  in  denen  Milz- 
tuberkulose nachweislich  vorhanden  war;  außerdem  bezeichnen  Collet 
und  Gallaverdin  bei  ihrem  stark  abgemagerten  und  hinfälligen 
Patienten  die  Gesichtsfarbe  als  frischrot  Nun  litt  aber  der  Patient 
RosENOARTs  an  einem  Herzfehler  und  zugleich  an  starker  Dyspnoö. 
und  hierin  ist  wohl  neben  der  ausgesprochenen  Polycythämie  der  Grund 
für  die  mehr  oder  weniger  deutliche  cyanotische  Färbung  der  Haut  zu 
erblicken.  Auch  TOrk  spricht  seine  Meinung  dahin  aus,  daß  die  Haut- 
verfärbung  keine  eigentliche,  wahre  Cyanose  sei  und  mehr  ein  acciden- 
telles,  auf  der  verschieden  großen  Weite  der  Hautgefäße  beruhendes 
Symptom  sei,  das  außer  durch  die  Polycythämie  durch  eine  wirkliche 
Vermehrung  der  Blutmasse  hervorgerufen  werde.  Preiss  glaubt,  daß 
in  dem  Falle  Rosengarts  und  in  seiner  eigenen  Beobachtung  die 
leichten  Kompensationsstörungen  (und  damit  auch  die  cyanotische  Haut- 
farbung)  wohl  als  unmittelbare  Folgen  der  Hyperglobulie  und  der  durch 
diese  gesetzten  Zirkulationshindernisse  aufzufassen  sind. 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  537 

Aber  weil  nun  auch  Fälle  beschrieben  sind,  in  welchen  alle  drei 
Symptome  zusammen  beobachtet  wurden,  ohne  daß  in  der  Milzgeschwulst 
sich  Tuberkulose  nachweisen  ließ,  können  wir  nicht  umhin,  uns  ebenfalls 
auf  den  ablehnenden  Standpunkt  Türks  zu  stellen.  Dieser  kam  zu  der 
Ansicht,  daß  eine  primäre  Tuberkulose  der  Milz  nicht  die  notwendige 
Vorbedingung  für  das  Entstehen  des  geschilderten  Symptomenbildes  — 
Milztumor,  Hyperglobulie,  Cyanose  —  darstelle.  Umgekehrt  ist  also 
auch  nicht  aus  diesen  drei  Merkmalen  die  Diagnose  auf  primäre  Milz- 
tuberkulose angängig. 

RosENGART  hat  aber  für  die  Diagnose  seines  Falles  ein  Hilfsmittel 
nicht  benutzt,  dessen  Anwendung  TtJrk  und  Preiss  die  Berechtigung 
gab,  für  ihre  Fälle,  die  ebenfalls  auf  eine  primäre  Affektion  der  Milz 
hindeuteten,  die  tuberkulöse  Erkrankung  dieses  Organs  mit  ziemlicher 
Sicherheit  auszuschließen:  ich  meine  die  probatorische  Tuberkulin- 
injektion.  TtjRK  sowohl  wie  Preiss  hatte  mit  derselben  ein  negatives 
Resultat,  und  hätte  Rosengart  ebenfalls  ein  solches  erhalten,  so  würde 
er,  wie  ich  glaube,  das  abschließende  Urteil,  das  er  freilich  einschrän- 
kend noch  weiteren  Erfahrungen  überläßt,  nicht  gefallt  haben.  Jeden- 
falls wäre  es  zu  bedauern  gewesen,  wenn  R.  seine  interessanten  Aus- 
führungen nicht  der  Oeffentlichkeit  übergeben  hätte. 

RosenGart  hat  nun  nicht,  wie  man  wohl  annehmen  könnte,  den 
Milztumor  und  die  angenommene  Milztuberkulose  als  die  Hauptsache  an- 
gesehen, sondern  die  Hyperglobulie  und  die  damit  verbundenen  Störungen 
der  Zirkulation,  die  ja  weiterhin  durch  besondere  Anforderungen  an 
den  Herzmuskel  auch  die  Ursache  für  die  Dilatation  und  Insuffizienz 
des  Herzens  bildeten.  Obschon  er  die  Milzaffektion  für  das  primäre 
hält,  ist  es  ihm  zweifelhaft,  ob  durch  die  Spleneictomie  die  Hyperglobulie 
günstig  beeinflußt  wird  ^).  Er  hat  es  deshalb  vorgezogen,  seinem  Pa- 
tienten fast  eisenfreie  Nahrung  zu  verordnen,  und  hat  durch  diese 
Eisenverarmung  des  Organismus  die  Zahl  der  roten  Blutkörperchen  in 
8  Monaten  tatsächlich  um  1000000  und  ebenso  den  Hämoglobingehalt 
herabgesetzt.  Es  hat  dadurch  die  subjektiven  Beschwerden  vermindert 
und  das  Körpergewicht  seines  Patienten  gehoben;  freilich  ist  die  Milz 
etwas  gewachsen.  TOrk  gab  hohe  Arsendosen,  steigend  bis  zu  30  Tropfen 
der  Solutio  Fowleri,  indem  er  von  der  Erwägung  ausging,  daß  „diese 
die  Proliferation  der  blutbereitenden  Gewebe  ohne  Zweifel  herabzu- 
drücken vermögen".  Auch  bei  ihm  sank  die  Erythrocytenzahl  um 
mindestens  1500000  unter  den  tiefsten  früher  erhobenen  Wert.  Die 
Purpurfärbung  der  Haut  verschwand  fast  ganz    und  die  Milz   wurde 


1)  CoMiNOTTi  sah  allerdings  nach  Entfernung  der  Milz  die  Erythro- 
cytenzahl von  71/2  auf  6^2  Millionen  herabgesetzt.  Auch  in  unserem  Falle 
gestaltete  sich  das  Verhältnis  der  weißen  und  roten  Blutkörperchen,  das 
vor  der  Splenektomie   1  :  800  .betrug,  nach  derselben  wie  1  :  320. 


538  Josef  Bayer, 

wesentlich  kleiner;  freilich  hatte  Türk  für  seinen  Fall  auch  keine  pri- 
märe Milztuberkulose  angenommen. 

Damit  sind  wir  schon  in  die  Erörterung  der  Therapie  eingetreten. 
Diese  darf  sich  aber  bei  einer  primären  Tuberkulose  der  Milz  keines- 
wegs auf  die  Bekämpfung  der  Hyperglobulie  beschränken,  da  diese  doch 
gewiß  immer  nur  eine  Sekundärerscheinung  bleibt.  Vielmehr  drohen 
den  Kranken  von  seiten  des  primären  Tuberkuloseherdes  ganz  andere, 
zum  langen  Siechtum  oder  zu  einem  schnellen  Tode  fahrende  Gefahren. 
Am  Schlüsse  werden  wir  noch  sehen,  in  wie  mannigfacher  Weise  von 
der  Milz  aus  die  Tuberkelsaat  in  die  anderen  Organe  verstreut  werden 
kann.  Vor  dieser  Gefahr  gilt  es  die  Patienten  zu  bewahren.  Anderer- 
seits darf  man  auch,  wie  Preiss  sich  ausdrückt,  erwarten,  daß  nach 
der  Entfernung  des  primären,  die  schädigenden  Stoffe  produzierenden 
Krankheitsherdes  das  sekundär  erkrankte  Knochenmark,  auf  dessen  ab- 
normer Tätigkeit  alle  anderen  Erscheinungen  beruhen,  wieder  zur  nor- 
malen Funktion  zurückkehrt. 

Gemäß  unseren  heutigen  Anschauungen  gilt  als  Grundsatz,  tuber- 
kulöse Herde  gewissermaßen  als  maligne  Geschwülste  zu  betrachten 
und  demgemäß  ihre  vollständige  Ausschaltung  aus  dem  Organismus  zur 
Hauptaufgabe  der  Therapie  zu  machen.  Nicht  anders  können  wir  uns 
der  primären  Milztuberkulose  gegenüber  verhalten.  Durch  eine  große 
Reihe  von  Beobachtungen  ist  die  Berechtigung  der  Milzexstirpation 
überhaupt  erwiesen,  und  wenn  wir  eine  traumatisch  zerrissene,  bis  dahin 
funktionell  unversehrte  Milz  ohne  nachteilige  Folgen  für  den  Organis- 
mus entfernen  können,  so  sind  wir  gewiß  befugt,  das  erkrankte,  in 
seiner  Funktion  gestörte  Organ  fortzunehmen.  In  vielen  Fällen,  in 
denen  die  Milz  noch  frei  beweglich  ist,  wird  die  Operation  trotz  enormer 
Vergrößerung  des  Organs  leicht  von  statten  gehen,  dagegen  können 
perisplenitische  Verwachsungen  schon  unangenehme  Schwierigkeiten 
machen  und  auch  die  Gefahr  einer  starken  Blutung  bieten.  Sind 
jedoch  die  Adhäsionen  so  ausgedehnt  und  fest,  daß  es  unmöglich 
erscheint,  die  Exstirpation  ohne  große  Verletzung  der  Milz  und  ihrer 
Nachbarschaft  auszuführen,  so  wird  man  versuchen  können,  extraperi- 
toneal die  Herde  anzugreifen  und  zur  Ausheilung  zu  bringen.  Der 
Fall  von  QufiNU  und  Baüdet  beweist,  daß  man  auch  auf  diesem 
Wege  einen  vollen  Erfolg  erzielen  kann.  Ist  der  Hauptherd  unschäd- 
lich gemacht,  so  bleiben  die  Patienten  nicht  allein  vor  der  sekun- 
dären Infektion  anderer  Organe  bewahrt,  sondern  es  kann  ihnen,  wie 
die  7  Beobachtungen  beweisen,  auch  die  volle  Gesundheit  wiederge- 
geben werden. 

Wird  hingegen  die  tuberkulöse  Milz  nicht  entfernt  und  bleibt  die 
Tuberkulose  ihrer  weiteren  Entwickelung  überlassen,  so  gehen  die 
Kranken  entweder  durch  langsamen  Kräfteverfall  zu  gründe  oder  es 


üeber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  539 

kommt  zu  einer  UeberschiKremmung  der  anderen  Organe  mit  Tuber- 
kulose und  damit  zum  beschleunigten  Exitus. 

Bei  dem  letzteren  Ausgange  wurde  am  häufigsten  (lOmal)  in  der 
fast  regelmäßig  stark  vergrößerten  Leber  Tuberkulose  nachgewiesen, 
und  zwar  in  verschiedener  Ausdehnung.  Gomikotti  fand  einige  Knötchen 
in  der  Leber,  andere  fanden  solche  in  größerer  Anzahl  unter  der  Kapsel 
oder  im  Lebergewebe,  Gollet  und  Gallaverdin  sahen  Tuberkelaus- 
saat entlang  den  Pfortaderästen.  Das  Pankreas  fanden  Hatden  sowie 
Rekdu  und  WiDAL  sekundär  befallen,  die  letzteren  sowie  Simonin  und 
DoPTER  ebenfalls  die  Nieren.  Avcut  sah  das  Peritoneum  mit  miliaren 
Knötchen  übersät  und  Ferrand  und  Rathert  die  Mitralklappe  mit 
frischen  tuberkulösen  Granulationen  besetzt.  Ebenso  auffallend  jedoch 
wie  das  konstante  Freibleiben  der  Yerdauungswege  ist  die  geringe 
Beteiligung  der  Lungen ;  mit  Ausnahme  von  4  Fällen  werden  dieselben 
durchweg  als  gesund  und  frei  von  Tuberkulose  bezeichnet.  Moutard- 
Martin  und  Lefas  fanden  in  beiden  Lungen  alte  Narben  und  Gollet 
und  Gallaverdin  entdeckten  in  den  Lungenspitzen  einige  kleine  fibröse 
und  verkalkte  Knötchen.  Gegenüber  diesen  ausgeheilten  Prozessen 
stellte  Lorrain  in  der  rechten  Lunge  eine  frische  tuberkulöse  Infil- 
tration fest  und  Reinhold  fand  auch  die  rechte  Lunge  mit  Tuber- 
kulose behaftet,  der  gegenüber  jedoch  die  Tuberkulose  der  Milz  ihrer 
Stärke  nach  so  sehr  in  den  Vordergrund  trat,  daß  diese  mit  Sicherheit 
als  das  Primäre  anzusehen  war. 

Ueberhaupt  wird  in  allen  Fällen  der  piimäre  Gharakter  der  tuber- 
kulösen Milzaffektion  und  das  Vorwiegen  ihrer  Erscheinungen  im  Ver- 
gleich zu  der  gleichzeitig  gefundenen  Tuberkulose  anderer  Organe  so 
sehr  betont,  daß  bei  der  Reichhaltigkeit  der  Beobachtungen  ein  Irrtum 
wohl  ausgeschlossen  erscheint. 

Wir  können  also  nicht  umhin,  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz 
als  zu  Recht  bestehend  anzuerkennen  und  können  mit  demselben  Rechte 
für  die  Therapie  den  Grundsatz  aufstellen,  bei  Verdacht  auf  primäre 
Milztuberkulose  durch  Tuberkulininjektion  oder  durch  eine  Probelapa- 
rotomie der  Diagnose  zu  Hilfe  zu  kommen  und  nach  ihrer  Bestätigung 
womöglich  durch  Entfernung  des  ganzen  Organs  den  Primärherd  aus 
dem  Organismus  auszuschalten. 


Literatur. 


Achard  u.  Castaionb,  Tuberculose  primitive  de  la  rate.  See.  m^d.  des 
höpit  de  Paris,  9  juin  1899;  Sem.  m^d.,  1899,  No.  25,  p.  198. 

AucHij,  Taberculose  primitive  de  la  rate.  Journ.  de  Medecine  de  Bordeaux, 
1901,  No.  22,  p.  381. 


540  Josef  Bayer, 

Bender,  La  tuberculose  de  la  rate.  Qaz.  des  höpit.,  1900,  No.  38,  p.  375 
u.  No.  41,  p.  407. 

Bioos,  Splenic  tuberculosis  of  uDusual  type.  Proc.  of  the  New  Yoik 
pathol.  soc,  1901,  p.  288;  Medical  record,  16.  Febr.  1901. 

Brühl,  De^la  Splenomegalie  primitive.     Arch.  gen^r.  de  Med.   1891. 

Brutä,  La  France  m^dic,  1881,  II,  p.  5. 

Burkb,  Splenectomy  in  a  case  of  tuberculosis  of  the  spieen.  Dublin 
journ.  of  med.  scienc,  Bd.  87,  1889,  p.  640. 

Carle,  Akad.  der  Medizin  zu  Turin,  12.  Juli  1901.  Münch.  med.  Wochen- 
schrift, 1901,  No.  50,  p.  2028, 

CoLBY,  Tubercles  in  the  spieen,  Transact  of  the  pathol.  soc.  of  London, 
1846,  I,  p.  276. 

CoLLBT  et  Gallayerdin,  Tuberculose  massive  primitive  de  la  rate.  Arch. 
de  m^d.  expörim.,   1901,  No.  2,  p.  191. 

Collier,  Transact.  of  the  pathol.  soc.  of  London,  1895,  p.  149. 

CoMiNOTTi,    Hyperglobulie    und   Splenomegalie.     Wien.    klin.    Wochenschr., 

1900,  No.  39,  p.  81. 

Ferrand  et  Rathery,  Tuberculose  primitive  de  Tendocarde  et  de  la  rate. 

Soc.  m6d.  des  höpit.  de  Paris,  13.  Febr.  1903;    Soc  m6d.,  1903,  No.  7, 

p.  58. 
Fevrier,  Les  spl^nomegalies  idiopathiques  et  la  tuberculose  de  la  rate  en- 

visag^es  au  point  de  vue  chirurgical.    Gaz.  hebdom.  de  m^d,  et  de  chir. 

1901,  No.  84,  p.  997, 

GrillO}  Sopra  un  caso  di  splenomegalia  tubercolare.    Gazz.  med.  di  Torino, 

1901,  No.  37,  p.  721. 
GuiLLANi,  Splenomegalie  tuberculeuse  primitive  avec  hyperglobulie.    Th^se 

de  Paris,  1899. 
Hayden,   A   case   of  tuberculosis  of  the   spieen,   with  surgical  treatment. 

Americ.  journ.  of  med.  scienc,  2.  April  1898. 
Lanmblongüe   et  Vitrac,   Tuberculose   primitive  de  la  rate,   splöneotomie, 

gu^rison.     Journ.  de  M^decine  de  Bordeaux,  1898,  No.  34. 
Laspeyrbs,  Die  Tuberkulose  der  Milz.     Centralbl.  f.  d.  Grenzgeb.  d.  Med. 

u.  Chir.,  1904,  No.  3,  p.  98. 
Lefas,    La    tuberculose    primitive    de    la   rate;    contribution   k  l'^tude  de 

Phyperglobulie.     These  de  Paris,  1903 ;  Rev.  fran9.  de  m6d.  et  de  chir., 

1904,  No.  5,  p.  107. 
Litten,  Die  Krankheiten  der  Milz.    Nothmaoels  „Spezielle  Pathologie  und 

Therapie",  Bd.  8,  1898. 
LoRRAiK,  Grosse  rate  tuberculeuse.    Bull,  de  la  soc.  anatom.,  13  f6vr.  1903, 

p.  150. 
Marriot,  Acute  tuberculosis  of  the  spieen,  splenectomy,  recovery,    Lancet, 

1897,  II,  p.  1293. 
Monnebet,  Arch.  g^ner.  de  Med.,  1859,  Ser.  5,  T.  14,  p.  513. 
Moutard-Martin   et  Lefas,    Tuberculose   primitive   et  massive  de  la  rate 

avec   hyperglobulie,   mais  sans  cyanose.     Soc.  m6d.  des  höpit.  de  Paris, 

9.  Juni  1899;  Sem.  m6d.,  1899,  No.  25,  p.  198. 
Osler,  Chronic  cyanosis  with  polycythaemia  and  enlarged  spieen.    Americ 

journ.  of  med.  scienc,  Bd.  126,  1903,  p.  187. 
Preiss,  lieber  Hyperglobulie.    Verein  f.  wissenschaftl.  Heilk.  in  Königsberg, 

30.  Nov.  1903;  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1904,  No.  6,  p.  230. 
—  Hyperglobulie  und  Milztumor.     Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir., 

Bd.  13,  1904,  p.  287. 


Ueber  die  primäre  Tuberkulose  der  Milz.  541 

QufiNU  et  Baüdbt,  La  tuberculose  primitive  de  la  rate.    Revue  de  gyn^col. 

et  de  chir.  abdom.,  T.  2,  1898,  p.  317. 
Bbinhold,  Ein  Fall  von  Milztuberkulose  mit  Verblutung  durch  den  Magen. 

Dissert.  Kiel,  1899.  > 

REia)U   et   WiDAL,    Splenomegalie    tuberculeuse    primitive    sans    leuc^mie, 

avec   hyperglobulie   et  cvanose.     Soc  m^d.  des  höpit.  de  Paris,  2.  Juni 

1899;  Sem.  m6d.,  1899,  No.  25,  p.  198. 
Romanow,   Primäre  Milztuberkulose.     Wratsch,    1902,    No.  11;    Centralbl. 

f.  Chir.,  1903,  No.  1,  p.  30. 
RossNQART,  Milztumor  und  Hyperglobulie.    Mitteil.  a.  d.  Grrenzgeb.  d.  Med. 

u.  Chir.,  Bd.  11,  1903,  p.  495. 
ScHABOLDT,  Ein  Fall   von  substantiver  akuter  Miliartuberkulose  der  Milz. 

Aerztl.  Intelligenzbl,  1883,  No.  32,  p.  252. 
Simonin  et  Doptbr,  Arch.  de  m6d.  ezp^rim.,  1902,  p.  629. 
Stewart,    Acute    splenic    miliary    tuberculosis.      Americ.   journ.    of    med. 

scienc,  Vol.  122,  1901,  No.  3;   Medic.  record,  11.  Mai  1901. 
ToLOT,  Un  cas  de  tuberculose  du  foie  et  de  la  rate.    Lyon  medical,  T,  99, 

1902,  No.  36,  p.  323. 
TüRK,    Beiträge    zur    Kenntnis    des    Symptomenbildes:    Polycythämie   mit 

Milztumor  und  „Zyanose^^    Wien.  klin.  Wochenschr.,  1904,  No.  6  u.  7. 
Vanvbbts,   De  la  spl6nectomie.     Thöse   de   Paris,   1897;   Gaz.   des   höpit., 

1898,  No.  27. 


Aus  der  chirurgischen  Klinik  und  dem  Privatlaboratorium 
von  Privatdozent  Dr.  Koeppe  in  Gießen. 


Nachdrack  veiiwten. 

XXL 

Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung 
der  Aethernarkose^. 

Von 

Dr.  G.  Bngelliardt, 

fr.  Assistenten  der  chirurgischen  Klinik. 


Wenn  auch  als  Angriffspunkt  der  Narkose  in  letzter  Linie  die  Zelle 
des  Zentralnervensystems  und  zwar  die  Ganglienzelle  des  Großhirns  zu 
betrachten  ist  und  die  narkotische  Wirkung  zweifellos  einer  Alteration  der 
Ganglienzelle  zugeschrieben  werden  muß,  so  werden  doch  auch  eine  ganze 
Reihe  anderer  Zellen  der  menschlichen  Organe,  sei  es  direkt  oder  indirekt, 
durch  das  Narcoticum  beeinflußt.  Einmal  die  Zellen,  die  dem  Narcoticum 
nur  als  Durchgangsstation  dienen  und  vermöge  ihrer  Stellung  im  Organ- 
system nicht  Träger  der  narkotischen  Wirkung  sein  können,  dann  aber  vor 
dlem  das  Blut,  welches,  wie  ja  jetzt  allgemein  angenommen,  gerade 
durch  seinen  Gehalt  an  fettähnlichen  Substanzen,  zu  der  Rolle  eines 
Trägers  der  narkotischen  Wirkung  wie  berufen  erscheint.  Sowohl  das 
Plasma  wie  besonders  die  zelligen  Bestandteile  des  Blutes,  die  roten 
Blutkörperchen,  sind  Träger  des  Narcoticums  und  vermitteln  während 
der  Narkose  immer  wieder  von  neuem  dem  Großhirn  die  schnell  ver- 
gängliche Rauschwirkung.  Auch  bei  gestörter  Narkose  treten  für  ge- 
wöhnlich schädliche  Einwirkungen  des  Narcoticums  auf  die  einzelnen 
Organzellen  nicht  sichtbar  zu  Tage.  Nur  ein  bisweilen,  aber  im  ganzen 
doch  äußerst  selten  auftretender  Ikterus  nach  der  Narkose  kann  ein 
sinnfälliges  Zeichen  sein,  daß  der  Körperhaushalt  durch  das  Narcoticum 
schwer  geschädigt  worden  ist.  Diese  Wirkung  im  Verein  mit  tief- 
greifenden Stoffwechselstörungen  tritt  besonders  beim  Chloroform  zu 
Tage.    Trotzdem  ist  das  Blut,  auf  dessen  Zerfall  die  erwähnte  Störung 


1)  Auszugsweise   vorgetragen    auf    der   Naturforscherversammlung   in 
Kassel,  1903. 


G.  Engelhardt,  Neue  Gesichtspunkte  etc.  543 

hinweisen  mußte  und  welches  einer  Untersuchung  besonders  zugänglich 
erscheint,  verhältnismäßig  wenig  zum  Gegenstand  einer  solchen  gemacht 
worden.  Die  vorgenommenen  Untersuchungen  beziehen  sich  vornehm- 
lich darauf,  festzustellen,  in  welcher  Weise  die,  Mengenverhältnisse  der 
roten  und  weißen  Blutzellen  durch  die  Narkose  geändert  werden,  und 
waren  dann  auf  Formänderungen  der  roten  Blutkörperchen  gerichtet, 
denen  mit  Becht  als  den  Sauerstoffträgern  eine  weit  wichtigere  Rolle 
für  etwa  im  Gefolge  der  Narkose  sich  einstellende  Störungen  vindiziert 
wurde,  als  den  ja  auch  an  Zahl  unendlich  zurücktretenden  weißen.  Man 
konstatierte  gewöhnlich  nach  längerer  Narkose  eine  Abnahme  der  Zahl 
der  roten  und  Zunahme  der  weißen,  ohne  die  vollkommene  Ver- 
schiebung zu  beachten,  die  die  Zahl  der  Blutzellen  im  Eubikmillimeter 
durch  die  veränderte  Flüssigkeitsabgabe  aus  dem  Blut  in  das  Gewebe 
erfahren  mußte,  ein  Faktor,  der  beim  Chloroform  vielleicht  weniger  wie 
beim  Aether  in  Betracht  kommt  Die  Formänderungen  der  roten  Blut- 
zellen im  zirkulierenden  Blut  wurden  als  Vorstufen  eines  Untergangs 
der  roten  Blutkörperchen  aufgefaßt,  bleiben  aber  in  ihrer  Deutung 
doch  dunkel.  Keinesfalls  konnten  sie  ihre  Erklärung  in  veränderten 
osmotischen  Verhältnissen  zwischen  Plasma  und  Blutkörperchen  finden. 
Von  sonstigen  Arbeiten,  die  sich  von  anderen  Gesichtspunkten  aus  mit 
dem  Blut  in  der  Narkose  beschäftigen,  ist  mir  nur  eine  neuere  italieni- 
sche bekannt,  die  von  Baccarani-Solimei  ^).  Seine  Untersuchungen 
beziehen  sich  außer  auf  Formveränderungen  und  Alteration  der  Zahl 
der  roten  Blutzellen  auf  Bestimmungen  der  Dichte  des  Blutes  in  der 
Narkose,  des  Alkaligehaltes  des  Blutes  und  der  Resistenz  der  roten 
Blutkörperchen  gegenüber  hypisotonischen  Lösungen.  Aber  noch  von 
anderen  Gesichtspunkten  aus  schien  das  Blut  in  der  Narkose  einer 
Prüfung  zugänglich.  Koppe  ^)  hat  nachgewiesen,  daß  bei  einer  Reihe 
verschiedener  Stoffe,  die  blutkörperchenschädigende  Einflüsse  entwickeln, 
eine  gewisse  Gesetzmäßigkeit  dieser  Schädigung  sich  feststellen  läßt, 
wenn  bestimmte  Faktoren:  Temperatur,  unter  der  das  schädigende 
Agens  wirkt,  Zeit  der  Einwirkung  neben  der  Konzentration  berück- 
sichtigt werden.  So  ließ  sich  vor  allem  für  bestimmte  fettlösliche  Stoffe, 
zu  denen  auch  Chloroform  und  Aether  gehören,  eine  Gesetzmäßigkeit 
in  ihrem  Verhalten  roten  Blutkörperchen  gegenüber  bei  Berücksichtigung 
der  Konzentration  des  schädigenden  Agens,  der  Temperatur,  und  der 
Zeit  feststellen.  Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  schien  eine  Prüfung 
des  Blutes  vor,  während  und  nach  der  Narkose  einen  Einblick  zu  ver- 
sprechen in  die  Bedingungen,  unter  denen  ein  Untergang  von  roten 
Blutzellen  in    der  Narkose  erfolgt.    Daß   Aether   und    Chloroform   bei 


1)  Bagcaraki-Solimei,  U.,  L'ematologia  della  Chloronarkosi.   La  clinica 
chirurgica,  1902.     Zitiert  nach  Hildbbrands  Jahresbericht,   1902. 

2)  KÖPPB,    Ueber    das    Lackfarbenwerden     der    roten    Blutscheiben. 
PflCqbbs  Arch.,  Bd.  99. 


544  G.  Engelhardt, 

direktem  Einleiten  in  das  Blut  blutkörperchenzerstörend  wirken,  war 
schon  seit  Hermanns  ^)  Untersuchungen  bekannt.  Unbekannt  war  aber, 
unter  welchen  Umständen  auch  geringere  Mengen  des  Narcoticunis 
Blutkörperchen  auflösen. 

Ich  habe  auf  Veranlassung  von  Dr.  Koppe  dieserhalb  eine  Reihe 
von  Versuchen  angestellt  und  will  ganz  kurz  darüber  berichten. 
Koppe  ^)  hatte  -zunächst  gefunden,  daß  in  indifferenten  Lösungen,  deren 
molekulare  Konzentration  der  des  Blutplasmas  entsprach,  bei  einer  be- 
stimmten höheren  Temperatur  (zwischen  62  und  68^),  die  im  Durch- 
schnitt weit  über  den  von  anderen  beobachteten  lag,  eine  Abgabe  des  Hä- 
moglobins an  das  Lösungsmittel  erfolgte.  Er  kommt  am  Schluß  seiner  zi- 
tierten Arbeit:  Ueber  das  Lackfarbenwerden  der  roten  Blutscheiben,  zu 
der  Folgerung,  daß  der  Austritt  des  Hämoglobins  in  die  Lösung  durch  eine 
Art  Schmelzung  der  das  Blutkörperchen  umgebenden  Hülle  bedingt  sein 
muß.  Daß  man  wirklich  berechtigt  ist,  sich  den  dabei  stattfindenden  Vor- 
gang in  dieser  Weise  vorzustellen,  beweisen  neuere  Arbeiten,  die  alle 
das  Vorkommen  von  Lipoiden  in  den  roten  Blutkörperchen  betonen. 
Daß  diese  Lipoide  nun  nicht  den  Inhalt,  sondern  gewissermaßen  die 
Hülle  der  roten  Blutkörperchen  bilden,  spricht  wohl  wieder  am  schärf- 
sten Albrecht *)  aus:  „Die  Erythrocyten  der  Kalt-  und  Warmblüter 
besitzen  eine  fettartige  (myelinogene)  Oberflächenschicht,  welche  für  die 
Form,  Funktion  und  die  Arten  pathologischer  Veränderung  der  roten 
Blutkörperchen  von  fundamentaler  Bedeutung  ist."  Der  Schmelzpunkt, 
wie  Koppe  die  Temperatur  nennt,  bei  der  durch  Lackfarben  werden  der 
Flüssigkeit  der  Austritt  des  Hämoglobins  gekennzeichnet  ist,  sinkt  nun, 
wenn  man  einer  solchen  indifferenten  Flüssigkeit  Aether  in  größeren 
oder  kleineren  Mengen  zusetzt  und  zwar  proportional  der  Menge  des 
zugesetzten  Aethers. 

Als  neuer  Faktor  tritt  aber  noch  die  Temperatur  hinzu,  unter  der 
die  Aethersalzlösung  gehalten  wird,  und  zwar  läßt  sich  da  nicht  nur 
für  den  Aether,  sondern  auch  für  Chloroform  und  alle  fettlöslichen 
Stoffe  folgender  Satz  formulieren :  In  einer  ätherhaltigen  Salzlösung  er- 
folgt die  Auflösung  eingebrachter  roter  Blutkörperchen  bei  um  so 
niederer  Temperatur,  je  höher  die  Konzentration  der  Lösung  an  dem 
Narcoticum  ist  und  umgekehrt.  Der  Faktor  Zeit  spielt,  wie  sich  in  der 
Folge  ergab,  nur  bei  Anwendung  einer  bestimmten  Salzlösung  und  zwar 
der  0,9-proz.  und  0,75-proz.  Kochsalzlösung  eine  Rolle.  Voraussetzung 
für  alle  diese  Versuche  war  die,  daß  auch  die  „tote"  Zelle  ihr  Hämo- 
globin nicht  an  die  umgebende  Flüssigkeit  abgibt.    Da  diese  Versuche 

1)  Hermann,  L.,  Ueber  die  Wirkungsweise  einer  Gruppe  von  Giften. 
Pflügbrs  Arch.,  1866. 

2)  1.  c. 

3)  Albrecht,  Die  physikalische  Organisation  der  Zelle.  Vortr.  auf  dem 
internat.  Kongr.  zu  Madrid,  1903. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       545 

die  Grundlage  unserer  weiteren  Untersuchungen  bilden,  seien  sie  aus- 
führlich hier  wiedergegeben. 

Die  Ausführung  der  Versuche  war  die  gleiche,  wie  sie  Koppe  in 
seiner  vorhin  zitierten  Arbeit  beschrieben  hat.  Die  Auflösung  der 
roten  Blutscheiben  wurde  wegen  der  Schwierigkeit  einer  exakten  Be- 
obachtung nicht  in  der  eigenen  Blutflüssigkeit  untersucht,  sondern  in 
verschiedenen  durch  ihren  Salzgehalt  mit  dem  Blutserum  isotonischen 
Salzlösungen;  in  je  5  ccm  Lösung,  die  einen  bestimmten  Prozentgehalt 
des  Narcoticums  enthielt,  wurden  2  Tropfen  Blut  gebracht  und  nun  die 
Temperatur  bestimmt,  bei  der  Hämolyse  erfolgte.  Die  mit  dem  Blut 
eingebrachte  Menge  Serum  kann,  wie  Koppe  hervorhebt,  gegenüber  der 
großen  Menge  des  Lösungsmittels  vernachlässigt  werden. 

Versuche  mit  Chloroform  wollen  wir  nur  kurz  berühren.  Genauere 
Tabellen  und  Zahlenreihen  finden  sich  in  der  Arbeit  von  Koppe.  Es 
wurden  gesättigte  Lösungen  von  Chloroform  in  dem  indifferenten  Lösungs- 
mittel hergestellt,  das  Verhalten  der  roten  Blutscheiben  in  der  Stamm- 
lösung und  in  Verdünnungen  beobachtet,  die  mit  verschiedenen  Mengen 
des  gleichen  indiflferenten  Lösungsmittels  hergestellt  waren.  Der  Ein- 
fluß des  Wassers  war  damit,  wie  in  den  Versuchen  von  Koppe,  aus- 
geschaltet, der  genaue  Prozentgehalt  der  einzelnen  Lösung  an  dem 
Narcoticum  ließ  sich  dagegen  nur  annähernd  bestimmen.  Es  sei  hier 
als  Beispiel  ein  Versuch  herausgegriffen. 

Chloroform  gelöet  in  1,42  Proz.  Natriumsiilfatlöeung.  Menschlichee  Blut.  Sätti- 
gung hei  11*^  Außentemperatur. 

Lösung  menechlischer  roter  Blutkör-  In  Verdünnung  5:1  5:2  5:3  5:4  5:5 
perchen   erfolgt  in  der  Stammlösung  bei  30«     36^°    37°     40"     41  • 

bei  15°. 

Genauer  beschäftigen  sollen  uns  dagegen  die  Versuche  mit  Aether. 
Das  Verhalten  des  Aethers  gegenüber  roten  Blutkörperchen  wurde 
zunächst  geprüft  in  bei  bestimmten  Temperaturen  äthergesättigten 
Lösungen  von  Kochsalz,  Bohrzucker,  Magnesiumsulfat,  Natriumsulfat 
und  in  entsprechenden  Verdünnungen,  die  mit  verschiedenen  Mengen 
der  jeweils  benutzten  indiflFerenten  Salzlösung  hergestellt  wurden.  Wenn 
nicht  besonders  angegeben,  wurde  die  Auflösung  der  roten  Blutscheiben 
sofort  geprüft,  öfter  auch  die  Aufschwemmung  in  einem  möglichst 
kühlen  Raum  stehen  gelassen,  später  durchgeschüttelt  und  dann  in  der 
gleichen  Weise  geprüft.  Die  Aetherlösungen  wurden  stets  frisch  be- 
reitet und  in  der  Regel  höchstens  3  Tage  alt  verwandt;  auch  für  die 
indifferenten  Lösungen  empfiehlt  es  sich,  stets  möglichst  frische  zu  ver- 
wenden, für  die  Rohrzuckerlösung  ist  es,  wie  wir  uns  später  überzeugten, 
absolut  notwendig,  wenn  sie  nicht  sofort  nach  der  Bereitung  durch 
äager  es  Kochen  sterilisiert  wurde. 

Versuche  mit  gesättigten  Lösungen  von  Aether  in  indiflFerenten 
Salzlösungen. 


546  O.  Engelhardt, 

Versuch  I.  Nentraie  LSdung:  0,9  Proz.  Kochsalzlöeung.  Sättigung  mit  Aethcr 
bei  10®  B  AußeDtemperatur.  VerdÜDDungen  mit  der  entsprecheDden  Menge  der 
Neutrallösnng.    Menectüiche  rote  Blutkörperchen. 

8tammJd6ung                         5          5           5           5  5           5 

NeutraUösung                       0          12           3  4           5 
Hiervon  je  5  ccm  beschickt  mit  2  Tropfen  Fingerblut 

Eprouvette                 No.       12           3           4  5           6 

Blut  wird  lackfarben  bei    14»      14,5«      23^»      29»  31^»      36» 

Versuch  II.  Neutrale  Lösung:  5^  Proz.  Mafnesiumsulfiitlösung.  Sättigung  mit 
Aether  bei  6,8*  B.    Menschliche  rote  Blutkörperchen. 

Stammlösung                    5            5            5          5  5  5 

Neutrallösung                  0            12          3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Fingerblut 

Eprouvette             No.      1            2            3          4  5  6 

Bfut  lackfarben  bei       13,5»      22,5»      23,5»  30»  32,5»  33p» 

Versuch  III.  Neutrale  Lösung:  5,5  Ptoz.  Magnesiumsulfatlösung.  Sättigung 
mit  Aetiier  bei  16»  B.    Kaninchenblutkörperchen. 

Stammlösung                 5           5           5           5  5  5 

Neutrallösung                0           12           3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Blut  aus  der  Ohrvene 

Eprouvette          No.      1           2           3           4  5  6 

Blut  hickfarben  bei    23,5»      29,5»      34»      35,5»  40,5  •  — 

Versuch  IV.  Neutrallösung:  9,4  Proz.  Bohrzuckerlösung.  Sättigung  mit  Aether 
bei  20»  B.    8  Tage  alte  Lösung.    Menschliche  rote  Blutkörpäx^hen. 

Stammlösung  5  5  5  5  5  5 

NeutraUösung  0  12  3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Fingerblut 

Eprouvette  No.      1         2  3  4  5  6 

Blut  lackfarben  bei      20»      24»       30,5*     33,5»      37,5»  38» 

Versuch  V.  Neutrale  Lösung:  0,75  Proz.  Kochsalzlösung.  Sättigung  mit  Aether 
bei  03*  I^*    Hundeblutkörperchen. 

Stammlösung                   5          5          5           5  5  5 

Neutrallösung                 0          12           3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Ohrvenenblut 

Eprouvette           No.      1         2         3           4  5  6 

Blut  lackfarben  bei       13»      16»      23»  28,5»  31»  33,5» 

Versuch  VI.  Neutrale  Lösung:  9,4  Proz.  Bohrzuckerlösung.  Sättigung  mit 
Aether  bei  7,5»  B.    Kaninchenblutkörperchen. 

Stammlösung       5  5  5  5  5  5 

Neutrallösung     0  12  3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Ohrvenenblut 

Eprouvette    No.  1  2  3  4  5  6 

Sämtl.  Böhrchen  bei  7,5 »  st^en  gelassen        — —  " 

Nach  18  Stunden     Lackfarben         Sedimentiert,  beim  Um- 
schütteln Deckfarben 

Versuch  VII.  Neutrale  Lösung :  5,5  Ptoz.  Magnesiumsulfatlösung.  Sättigung  mit 
Aether  bei  5»  B.    Hundeblutkörperchen. 

Stamm  lösung       5  5  5  5  5  5 

Neutrallösune      0  12  3  4  5 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Ohrvenenblut 

Eprouvette    No.  1  2  3  4  5  6 

Sämtl.  Böhrchen  bei  5 »  B.  stehen  gelassen  -  ' 

Nach  18  Stunden      Lackfarben  Deckfarben 

Da  die  Temperatur,  bei  der  in  äthergesättigten  und  entsprechend 
verdünnten  Lösungen  Hämolyse  erfolgt,  erheblichen  Schwankungen 
unterliegen  muß,  je  nach  der  Außentemperatur,  bei  welcher  die  Aether- 
salzlösung  hergestellt  wurde  (cf.  Versuch  II  u.  III),  indem  bei  tiefer 
Temperatur  mehr  Aether  aufgenommen  wird  als  bei  höherer,  gingen 
wir  nun  dazu   über,    mit  Lösungen  zu  arbeiten,    deren  Prozentgehalt 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       547 

genau  bekannt  ist.  Die  Herstellung  geschah  in  der  Weise,  daß  die  ge- 
wünschte Anzahl  Kubikzentimeter  Aether  abgemessen  und  mit  der 
Neutrallösung  auf  100  aufgefüllt  wurde;  die  gut  durchgeschüttelten 
Lösungen  wurden  nach  V4~"V2"Stündigem  Stehen  sofort  verwandt, 

Vereuch  VIII.    7  Proz.  Aether-MgSO.löBUDg.  Außentemperatur  ?•  R. 

StÄramlöeung  10        10        10  10  10  10 

NeutraUösuog  0         12  3  4  5 

Prozentgehalt  an  Aether        7         6,4       53         5,4        5  4,7   Proz. 

Eprouvette  No.        1         2         3  4  5  6 

Blut  lackfiirben  bei  28*»      31«      34,5«  38»       39,5«      42« 

VerBuch  IX.    6  Proz.  Aether-Bohrzuckerlöflung.    Außentemperatur  7«  R. 

8tammlöeuDg  10     10      10      10        10      10  10  10  10  10  10 

NeutrallÖ8ung  5       6        7        8         9      10  11  12  13  14  15 

Prozentgehaltan        4      3,7     3,5     3,3       3,2     3  2,9  2,73  2,7  2,5  2,4  Proz. 
Aether 

Hiervon  in  je  5  com  2  Tropfen  Fingerblut 

Eprouvette  No.  12       3        4         5        6  7  8         9  10  11 

Blut lackfarben  bei   40<>  37«  38»     40,5°  40«    45°  49»  54«  56«  54°  59« 

Versuch  X,     6  Proz.  Aether-Bohrzuckerlösung.    Außentemperatur  15«  R. 

Stammlööung                      10        10        10        10  10  10  10  10  10 

NeutrallöBung                       0         1         2         2,5  3       4  5  6  10 

Prozent^halt  an  Aether      6         5,5       5         43  4,6     4,3  4  3,6  3     Proz. 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Fingerblut 

Eprouvette                 No.      1         2         3         4  5        6         7  8       9 

Blut  lackfarben  bei            39,5«  45,5«  46,5«  48,5«  50«  50,5«  51,5«  52«  54« 

Versuch  XI.    6  Proz.  Aether-Eochsalzlösung.    Außentemperatur  15«  R. 
Staramlösung  10     10      10     10        10      10      10        10         10 

Neutrallösung  0       1        2      2,5       3       4        5         6         10 

Prozent^ehalt  an  Aether      6      5,5     5      43      4,6     4,3     4         3,7        3         Proz. 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Fingerblut 
Blut  lackfarben  bei  40«  44«    47«  47,5«  48«    49«    50,5«  61,75«  53,75« 

Versuch  XII.    6  Proz.  Aether-MgSOJösung.  Außentemperatur  15«  R 

Stammi5sung  10      10       10        10  10       10       10      10         10 

NeutraUösung  012  2,5  3456         10 

Prozent^ehalt  an  Aether       6       5,5      5  4,8  4,6      4,3      4       3,7        3     Proz. 

Hiervon  in  je  5  ccm  2  Tropfen  Fingerblut 

Blut  lackfarben  bei  36«    43«     44^«    46«  47«     49«     52«    53,5«    55« 

Versuch  XIII. 
Bei  einem  Aethergehalt  von  6,5         7         7,5         8    Proz. 

wird  Blut  lackfarben 
in  0,9  Proz.  Kochsalzlösung  bei 
„  5,5      „     MgSOJöeung       „ 
„  9,4      „     Rohrzuckerlöeung  bei    33« 

üeberschaut  man  die  angeführten  Versuche,  so  läßt  sich  die  früher 
hervorgehobene  Gesetzmäßigkeit  zwischen  Aetherkonzentration  und 
Temperatur  für  die  Auflösung  roter  Blutkörperchen  nicht  verkennen. 
Stimmen  auch  die  Anfangszahlen  in  den  verschiedenen  Lösungen  nicht 
vollkommen  überein,  wie  ja  auch  bei  derselben  Lösung  und  derselben 
Aetherkonzentration  der  Schmelzpunkt  nicht  immer  derselbe  ist  (wobei, 
wie  nochmals  zu  betonen,  besonders  auch  das  Alter  der  Lösung  eine 
Rolle  spielt),  so  entspricht  doch  von  der  jeweiligen  Lösung  immer  dem 
niederen  Konzentrationsgrad  die  höhere  Temperatur  und  umgekehrt. 
Vor  allem  ist,  wie  Kontrollversuche  immer  wieder  von  neuem  zeigten, 
der  Schmelzpunkt  für  die  jeweilige  Lösung  und  Zeit  der  Untersuchung 


36,5« 

32« 

30« 

27«    (Außentemp.  16«     R) 

32« 

28« 

26« 

23«    (Außentemp.  14«     R) 

33« 

30« 

27,5« 

26«    (Außentemp.  12,5«  R) 

548  G.  Engelhardt, 

immer  konstant.  Die  Zuführung  von  Wärme  geschah  genau  wie  in 
den  Versuchen  von  Koppe  durch  Eintauchen  der  Eprouvetten  in 
mehrere  nebeneinander  aufgestellte,  Wasser  verschiedener  Temperatur 
enthaltende  Gläser,  in  denen  aufsteigend  die  Eprouvetten  vorsichtig 
erwärmt  wurden.  Die  jeweilige  Temperatur,  bei  der  Lackfärbung  ein- 
trat, wurde  an  einem  in  die  Lösung  gehaltenen  Thermometer  abgelesen. 
Von  besonderem  Interesse  sind  die  Beziehungen  zwischen  Aether- 
konzentration  und  Wärme  in  der  Gegend  der  Körpertemperatur.  In 
den  der  Körpertemperatur  nahegelegenen  Wärmegraden  entspricht 
1  Grad  Temperaturdifferenz  Vio-proz.  Konzentrationsänderung,  wüirend 
nach  unten  und  nach  oben  die  Unterschiede  zwischen  Konzentrations- 
differenz und  zugeführter  Wärme  sich  mehr  ausgleichen,  indem  ent- 
sprechend einer  Verminderung  der  Konzentration  um  Vio-proz.  Aether 
die  Mehrzufuhr  an  Wärme  nur  Teile  eines  Grades  zu  betragen  braucht 
Suchen  wir  nach  einer  Erklärung  für  diese  merkwürdigen  Verhältnisse, 
so  kann  dieselbe  nicht  gefunden  werden  in  einer  Veränderung  des 
osmotischen  Druckes,  noch  in  einer  Abtötung  der  Zellen  durch  den 
Aether,  denn  der  Hämoglobinaustritt,  das  äußerlich  sichtbare  Zeichen 
des  Todes  der  Zelle,  tritt  bei  geringen  Aetherkonzentrationen  auch 
dann  ein,  wenn  die  zugeführte  Wärmemenge  die  mit  dem  Leben  der 
Zelle  vereinbare  nicht  übersteigt.  Das  wahrscheinlichste  ist  vielmehr, 
daß  in  den  ätherhaltigen  Salzlösungen  die  Blutkörperchen  entsprechend 
dem  Prozentgehalt  der  Lösung  Aether  aufnehmen  bezw.  Aether  in  den 
Lipoiden  gelöst  wird  und  daß,  je  mehr  Aether  die  roten  Blutzellen 
aufnehmen,  um  so  tiefer  sich  ihr  Schmelzpunkt  erniedrigt,  entsprechend 
einem  allgemeinen  physikalischen  Gesetz,  daß,  je  mehr  ein  Fett  von 
einer  fettlöslichen  Substanz  aufnimmt,  um  so  tiefer  der  Schmelzpunkt 
des  betreffendes  Fettes  sinkt.  Wahrscheinlich  beruht  auch  das  hie  und 
da  etwas  von  den  übrigen  abweichende  Verhalten  der  Rohrzuckerlösung 
darauf,  daß  in  älteren  Lösungen  aus  dem  Bohrzucker  Alkohol  abge- 
spalten, dieser  ebenfalls  in  den  Lipoiden  der  roten  Blutkörperchen  ge- 
löst wird  und  nun  die  Hämolyse  bei  geringeren  Mengen  Aether  bezw. 
bei  einer  niederen  Temperatur  erfolgt. 

Nachdem  nun  die  korrelativen  Beziehungen  zwischen  Aetherkon- 
zentration  und  Temperatur  für  die  Auflösung  menschlicher  und  tieri- 
scher roter  Blutkörperchen  in  vitro  festgestellt  waren,  war  die  nächste 
Frage,  können  sie  eventuell  Bedeutung  für  den  Untergang  der  roten 
Blutscheiben  im  kreisenden  Blut  während  der  Narkose  gewinnen?  Man 
wird  entgegenhalten,  einmal  lassen  sich  die  Verhältnisse  in  vitro  nicht 
mit  denen  des  Blutes  innerhalb  des  Gefäßsystems  vergleichen  und  dann 
ist  das  Plasma  keine  einfache  indifferente  Salzlösung,  wenn  auch  isosmo- 
tisch  mit  den  roten  Blutkörperchen.  Und  schließlich  kommen  im  Blut 
noch  eine  Reihe  anderer  Faktoren  in  Betracht,  die  wir  bei  unseren 
Reagensglas  versuch    ausschalten.      Der  wechselnde  Gehalt  an   0   und 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       549 

CO,,  an  Alkali  wird  für  die  Auflösung  roter  Blutkörperchen  bei  sonst 
gleichen  Bedingungen  nicht  gleichgültig  sein  können.  Doch  waren  das 
alles  Faktoren,  die  allerdings  zum  Teil  nur  in  ihrem  Einfluß  abge- 
wogen und  berücksichtigt  werden  konnten.  Das  wichtigste  war,  festzu- 
stellen: kann  die  Konzentration  des  Aethers  im  Blutplasma  unter 
normalen  oder  pathologischen  Verhältnissen  so  ansteigen,  daß  die  oben 
geschilderten  Wechselbeziehungen  überhaupt  Platz  greifen  können,  mit 
anderen  Worten :  wieviel  Prozent  Aether  nimmt  das  Blutplasma  während 
der  Narkose  auf?  Welche  Angaben  finden  sich  hierüber  in  der  Lite- 
ratur? Meistenteils  beziehen  sich  dieselben  nur  auf  die  Menge  Chloro- 
form oder  Aether,  die  das  eingeatmete  Luftgemisch  enthalten  muß,  da- 
mit eine  dauernde  gleichmäßige  Narkose  erzielt  wird.  Pohl  ^)  fand  die 
Gesamt-Chloroformmenge  im  Blut  zu  0,03—0,05  Proz.;  die  roten  Blut- 
körperchen enthielten  2,5— 4mal  so  viel  Chloroform  als  das  Serum. 
Spenzer  *)  bezieht  sich  auf  frühere  differierende  Angaben  von  Snow, 
Kronegker  und  Katimoff,  Eroneceer  und  Cushnt  und  kommt 
selbst  zu  dem  Resultat,  daß  bei  einem  Gehalt  von  3,5  Vol.-Proz.  an 
Aether  das  eingeatmete  Luftgemisch  stundenlange  Narkose  unterhalten 
kann,  während  bei  4,5  VoL-Proz.  nach  15  Minuten,  bei  6  Vol.-Proz. 
nach  8—10  Minuten  Respirationsstillstand  erfolgt,  lieber  die  Konzen- 
tration des  Aethers  im  Plasma  erfahren  wir  nichts.  Winterstbin  *) 
stellte  gelegentlich  seiner  Untersuchungen  über  Assimilation  und  Dissi- 
milation in  der  Narkose  fest,  daß  sich  bei  Fröschen  beim  Durchspülen 
mit  einer  Aether-Kochsalzlösung  1 :  300  eine  dauernde  Narkose  erzielen 
lasse.  Eine  exakte  Angabe  über  die  Konzentration  des  Aethers  im 
Blutplasma  haben  wir  nur  bei  Overton*)  gefunden.  Auf  Seite  51 
seiner  „Studien  über  die  Narkose^  sagt  er:  damit  z.  B.  eine  vollständige 
Aethernarkose  eintritt,  muß  die  Konzentration  des  Aethyläthers  im 
Blutplasma  fast  genau  Vi  Gewichts-Proz.  betragen,  und  zwar  tritt  die 
Narkose  augenblicklich  ein,  ohne  sich  in  der  Folge  wesentlich  zu  ver- 
tiefen. Gottlieb  äußert  sich  in  seinem  Referat  über  Narkose  in  den 
Ergebnissen  der  Physiologie  Bd.  I  nicht  über  die  Konzentration  des 
Aethers  im  Blutplasma,  spricht  aber  die  Vermutung  aus,  daß  eine 
bleibende  Schädigung  der  einzelnen  Organzellen  und  auch  der  roten 
Blutkörperchen  erst  bei  Konzentrationen  des  Narcoticums  eintritt,  die 
lange  vorher  vom  Nervensystem  aus  tödlich  wirken.    Die  Ausbeute  an 


1)  Pohl,  Ueber  Aufnahme  und  Verteilung  des  Chloroforms  im  tieri- 
schen Organismus,  Arch.  f.  exper.  Pathol.,  1890. 

2)  Spbnzsr,  Ueber  den  Grad  der  Aethernarkose  im  Verhältnis  zur 
Menge  des  eingeatmeten  Aetherdampfes,  Arch.  f.  exper.  PathoL,  Bd.  33, 
1894. 

3)  WiNTSRSTBiN,  Zur  Kenntnis  der  Narkose,  Zeitschr.  f.  allgem. 
PhysioL,  Bd.  1,   1902. 

4)  OvBRTON,  Studien  über  die  Narkose,  Jena,  1901. 

MitteU.  a.  d.  Onozfebietea  d.  Mcdixin  a.  Cblmrgie.    2in.  Bd.  36 


550  G.  Engelhardt, 

positiven  Angaben  ist  mithin  eine  recht  geringe ;  hielt  sich  wirklich  die 
Konzentration  des  Aethers  im  Blutplasma  in  den  von  Oyerton  ange- 
gegebenen Grenzen,  so  konnten  auch  Aenderungen  der  Temperatur 
des  menschlichen  Körpers,  die  sich  immerhin  nur  innerhalb  weniger 
Grade  bewegen,  für  akut  hämolytische  Vorgänge  kaum  von  Einfluß 
sein.    Ein  kurzer  orientierender  Versuch  sollte  uns   darüber  belehren. 

Tierversuch  I. 

Am  22.  Nov.  1902  wird  ein  8  Pfund  schwerer  Foxterrier  bei  1,8  <> 
Außentemperatur  25  Min.  mit  JüLLiARDScher  Maske  narkotisiert.  Aether- 
verbrauch  ca.  200  g.  Die  Narkose  verläuft  nach  kurzem  Excitations- 
stadium  sehr  ruhig.  Die  Körpertemperatur  sinkt  von  37,2  auf  35,8®,  die 
Einatmungsluft  innerhalb  der  Maske  von  12®  auf  4®.  Der  Hund  wird 
dann  sofort  in  ein  überhitztes  Zimmer  gebracht  und  direkt  vor  den  Ofen 
gelegt;  die  Temperatur  vor  dem  Ofen  beträgt  zwischen  30  und  35®  C. 
Hier  beschleunigte  Atmung,  ca.  40  Atemzüge  in  der  Minute ;  nach  20  Min. 
Erwachen  aus  der  Narkose.  Nach  weiteren  5  Minuten  heftige,  etwa 
^/^  Stunde  anhaltende  Hustenstöße.  Am  anderen  Tag  vollkommen  munter. 
Der  technisch,  wir  wir  uns  wohl  bewußt  waren,  noch  recht  unvollkommene 
Versuch  war  mithin  im  ganzen  ergebnislos  verlaufen.  3  Tage  später, 
nachdem  man  annehmen  konnte,  daß  aller  aufgenommene  Aether  ausge- 
schieden worden  war,  wurde  derselbe  Hund  einer  erneuten  Narkose  unter- 
worfen. 

Am  25.  Nov.  1902  zweite  Narkose  bei  7  ®  Außentemperatur  mit  durch 
Watte  so  viel  wie  möglich  abgeschlossener  Maske.  Nach  20  Min.  flache 
Atmung,  nach  25  Min.  Atmungsstillstand.  10  Min.  lange  künstliche 
Atmung  ohne  Erfolg,  Aetherverbrauch  130  g. 

Sektionsbefund :  Blut  in  der  Vena  jugularis  und  dem  Herzen  (1.  Ven- 
trikel) ganz  dunkel,  in  den  Lungen  hie  und  da  frische  Blutungen  von 
Kleinkirschengröße,  dazischen  kleine  prominierende  emphysematöse  Partien. 
Im  rechten  unteren  Lungenlappen  am  scharfen  Band  unregelmäßig  be- 
grenzte ca.  walnußgroße  Blutung  in  das  Lungenparenchym.  Bronchial- 
Schleimhaut  ohne  Veränderung.  Mikroskopischer  Lungen befund :  Keine  Pneu- 
monie. Ausgedehnte  Blutungen  in  die  Alveolen  hinein.  Die  spärlichen  im 
Lumen  liegenden  Alveolarepithelien  sind  vollgestopft  mit  Fettkömchen. 

Die  Blutungen  in  diesem  Fall  müssen  als  ganz  frische,  durch  die 
Einwirkung  der  zweiten  Narkose  entstanden,  betrachtet  werden.  Auf- 
fallend war  bei  diesem  Versuch  die  Intoleranz  gegen  Aether  in  der  zweiten 
Narkose,  obwohl  man,  wie  gesagt,  annehmen  mußte,  daß  aller  Aether,  der 
ja  bekanntlich  von  den  Geweben  außerordentlich  festgehalten  wird,  aus- 
geschieden war,  von  einer  Summierung  der  Wirkungen  also  nicht  wohl 
die  Bede  sein  konnte.  Auf  die  voraussichtliche  Bedeutung  der  Lungen- 
blutungen werden  wir  später  zusammen  mit  entsprechenden  klinischen 
Beobachtungen  kurz  einzugehen  haben. 

Tierversuch  IL 
Am  27,  Nov.  1902  wird  ein  3150  g  schweres  Kaninchen  40  Min. 
in  gleicher  Weise  narkotisiert  bei  3®  Außentemperatur.  Flache  Narkose, 
so  daß  der  Kornealreflex  dauernd  erhalten  war.  Dann  sofort  in  ein  über- 
hitztes Zimmer  gebracht  (vor  dem  Ofen  38  ®C!).  Nach  ^/j  Stunde  voll- 
kommen munter. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       551 

Tierversuch  III. 

Am  gleichen  Tag  wird  ein  anderes  2600  g  schweres  Kaninchen  bei 
S^  AulSentemperatur  40  Min.  lang  tief  narkotisiert.  Aetherverbrauch  bei 
nicht  durch  Watte  abgeschlossener  freier  Maske  150  g.  Die  Körper- 
temperatur sinkt  von  38,3  auf  36,7  ^,  Nach  20  Min.  Tracheairasseln,  nach 
40  Min.  Exitus.  Sogleich  in  5,6-proz.  MgSO^lösung  aufgefangenes  Blut  wird 
auch  nach  längerem  Stehen  nicht  lackfarben.  Die  Sektion  ergab:  Lungen 
ohne  wesentliche  Veränderung  von  blaß  rosaroter  Farbe,  mit  kleinen  um- 
schriebenen Blutaustritten.  Keine  Pletitablutungen.  Mikroskopisch  finden 
sich  hie  und  da  in  den  von  dicht  aneinander  gerückten  Septen  um- 
schlossenen Alveolen  einige  rote  Blutkörperchen.  Keine  abgestoßenen 
Alveolarepithelien. 

Waren  die  Experimente  nun  auch  nicht  vollkommen  negativ  aus- 
gefallen, so  konnte  doch  von  akut  hämolytischen  Vorgängen  im'  narkoti- 
sierten Tierkörper  durch  üeberführung  des  durch  die  Narkose  unter- 
kühlten Tieres  in  ein  überhitztes  Zimmer  anscheinend  keine  Rede  sein ; 
durchaus  zweifelhaft  muß  es  allerdings  bleiben,  ob  durch  diese  Art  der 
Wärmestauung  es  uns  überhaupt  gelungen  ist,  die  Körpertemperatur 
wesentlich  zu  erhöhen.  Bei  einer  späteren  Variation  der  Versuche 
haben  wir  es  deshalb  auch  vorgezogen,  die  Erhöhung  der  Körpertem- 
peratur in  rationellerer  Weise  (durch  den  sogenannten  Wärmestich)  her- 
beizuführen. 

Wurde  nun  wirklich  in  der  Narkose  durch  die  roten  Blutkörperchen 
Aether  in  nennenswerter  Menge  gebunden,  so  mußte  man  erwarten 
können,  daß  die  dem  Tierkörper  während  der  Narkose  entnommenen 
Blutscheiben  eine  Veränderung  ihres  Schmelzpunktes  erkennen  ließen. 
Durch  frühere  Untersuchungen  (z.  B.  die  oben  erwähnten  von  Pohl), 
ferner  durch  die  eingehenden  von  Overton*)  und  Meyer '0,  die  beide 
auf  Grund  derselben  unabhängig  voneinander  zu  einer  neuen  Theorie 
der  Narkose  gelangt  waren,  war  festgestellt  worden,  daß  Aether  und 
Chloroform  besonders  von  den  roten  Blutzellen  weniger  vom  Blut- 
plasma gebunden  werden,  durch  Overton  und  Meter  war  sogar  ein 
konstantes  Abhängigkeitsverhältnis  der  gelösten  Menge  des  Narcoticums 
im  Blutplasma  und  in  den  roten  Blutkörperchen  wahrscheinlich  ge- 
macht, ausgedrückt  durch  den  sogenannten  Teilungskoefüzienten.  Dazu 
war  es  aber  zunächst  notwendig,  den  Schmelzpunkt  normalen  Blutes, 
und  da  auch  dieser  Schwankungen  unterliegen  kann,  jedesmal  des  Blutes 
des  betreffenden  Versuchstieres  vor  der  Narkose  kennen  zu  lernen.  In 
Uebereinstimmung  mit  Koppe  ließ  sich  nun  zunächst  feststellen,   daß 


1)  Overton,  1.  c. 

2)  Meyer,  H.,  a)  Eine  Theorie  der  Alkoholnarkose.  Sitz.-Ber.  d.  Ges. 
z.  Bef.  d.  ges.  Naturw.  Marburg,  1899.  b)  Zur  Theorie  der  Alkohol- 
narkose. Welche  Eigenschaft  der  Anästhetica  bedingt  ihre  narkotische 
Wirkung?  Arch.  f.  exp.  Path.,  Bd.  42,  1899.  c)  Baum:  II.  Mitteilung.  Ein 
physikalisch-chemischer  Beitrag  zur  Theorie  der  Alkoholnarkose.    Ebenda. 

36* 


552  G.  Engelhardt, 

Auflösung  menschlicher  und  tierischer  roter  Blutkörperchen  in  den  ver- 
schiedenen isotonischen  Salzlösungen  bei  annähernd  gleichen  Temperatur- 
graden erfolgt.  Das  Lackfarbenwerden  der  roten  Blutscheiben  kann 
auch  hier  nach  Koppe  als  eine  Art  Schmelzung  bezeichnet  werden, 
indem  bei  bestimmten  Temperaturgraden  die  die  Oberflächenschicht 
bildenden  fettartigen  Substanzen  verflüssigt  werden  und  so  das  Hämo- 
globin austreten  lassen.  Die  Wärmegrade,  bei  denen  diese  Schmelzung 
der  roten  Blutzellen  eintritt,  sind  für  die  verschiedenen  Salzlösungen 
etwas  verschieden.  Als  Durchschnittswerte  (es  kommen  auch  geringe 
Abweichungen  vor)  haben  wir  gefunden:  Rote  Blutkörperchen  werden 
lackfarben  in 

9.4  Proz,  Rohrzuckerlösung  bei  67" 
0,9  „  Kochsalzlösung  „  66^ 
0,75      „      Kochsalzlösung        „      66® 

5.5  „  MgSOJösung  ^  68« 
1,42  „  NajSO^lösung  „  67 « 
1,3        „     K^SOJösung           „      67« 

Die  im  ganzen  durchaus  einheitlichen  Zahlen  gelten  sowohl  für 
menschliche  wie  für  tierische  rote  Blutkörperchen  (Kaninchen,  Hund, 
Schwein,  Katze).  Da  sich  nun  der  Schmelzpunkt  der  roten  Blutkörper- 
chen in  den  einzelnen  indifferenten  Lösungen  als  ein  konstanter  erwies, 
so  konnten  wir  nun  dazu  übergehen,  Bestimmungen  des  Schmelzpunktes 
narkotisierter  roter  Blutzellen  in  indifferenten  Lösungen  vorzunehmen. 
Je  nach  der  Menge  des  aufgenommenen  Narcoticums  war  eine  Herab- 
setzung des  normalen  Schmelzpunktes  nach  der  Narkose  wahrscheinlich, 
vorausgesetzt,  daß  eben  überhaupt  die  aufgenommenen  Mengen  erheb- 
lich genug  waren.  Voraussetzung  dabei  war  ferner,  daß  die  dem  Tier- 
körper entnommenen  roten  Blutscheiben  in  der  indifferenten  Lösung 
sofort  geprüft  wurden,  bevor  sie  den  aufgenommenen  Aether  an  die- 
selbe abgaben.  Es  hätte  auch  a  priori  richtiger  erscheinen  können,  im 
Serum  desselben  Tieres  oder  eines  Tieres  derselben  Art  die  Unter- 
suchung vorzunehmen,  aber  einesteils  wäre  dadurch  die  Ausführung 
außerordentlich  erschwert  und  dann  kann  das  abgepreßte  Serum  nicht 
mehr  die  Eigenschaften  der  Blutflüssigkeit  beanspruchen,  in  der  die 
roten  Blutkörper  zirkulierten ;  es  können  neue  unbekannte  Eigenschaften 
hinzugekommen  oder  ihm  andere  genommen  sein,  die  wiederum  Einfluß 
auf  die  Hämolyse  gewinnen  konnten.  Gleichzeitung  verbanden  wir  damit 
Versuche,  das  Verhalten  der  roten  Blutkörperchen  vor,  während  und 
nach  der  Narkose  in  ätherhaltigen  Salzlösungen  festzustellen.  Wir 
hofften,  indem  wir  diese  Versuchsanordnung  wählten,  den  tatsächlichen 
Verhältnissen  in  der  Narkose  wenigstens  näher  zu  kommen,  verhehlten 
uns  aber  nicht,  daß  ziemlich  sicher  die  gewählten  Aetherkonzentrationen 
weit  über  den  Prozentgehalt  des  Blutplasmas  an  Aether  hinausgingen. 
Auch   bei  Anwendung  niederer  Konzentrationen   würde  es,   abgesehen 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       553 

von  den  Eigenschaften  des  Blutplasmas,  nur  durch  Zufall  möglich  sein, 
annähernd  ähnliche  Verhältnisse  wie  im  zirkulierenden  Blut  herzustellen. 
Entsprechend  dem  konstanten  Teiiungsverhältnis  des  Aethers  zwischen 
Plasma  bezw.  Lösung  und  Blutkörperchen  werden  die  ätherisierten  roten 
Blutscheiben,  wenn  ihnen  genügend  Zeit  gewährt  wird,  entweder  Aether 
abgeben  oder  aufnehmen  und  je  nachdem  wird  sich  der  Schmelzpunkt 
verschieben.  Liegt  die  Aetherkonzentration  unter  dem  Gehalt  des  Blut- 
plasmas an  Aether  in  dem  jeweiligen  Zeitpunkt  der  Narkose,  so  war 
anzunehmen,  daß  sie  Aether  abgeben  würden,  liegt  sie  darüber,  so  war 
noch  eine  Aufnahme  von  Aether  zu  erwarten.  Wie  die  Aetherkon- 
zentration aber  auch  war,  so  hatten  gerade  Vergleichszahlen  der  Schmelz- 
punkte vor  und  in  der  Narkose  hohes  Interesse.  Wir  bringen  im  fol- 
genden die  Protokolle  unserer  weiteren  Versuche,  die  das  Verhalten 
der  dem  Tierkörper  vor,  während  und  nach  der  Narkose  entnommenen 
roten  Blutkörperchen  dartun.  Die  Versuchtechnik  war  die  gleiche  wie 
früher  beschrieben.  Soweit  nicht  ausdrücklich  anders  bemerkt,  wurden 
alle  Proben  ganz  kurze  Zeit  nach  der  Entnahme  untersucht.  Es  sei 
noch  erwähnt,  daß  wir  uns  von  jetzt  an  zum  Narkotisieren  keiner 
geschlossenen  Maske  bedienten,  «sondern  auf  Vorschlag  von  Herrn 
Prof.  Geppert  eine  offene  trichterförmige  Maske  aus  Stahldraht  be- 
nutzten, über  die  verschieden  weite  schmale  Binge  aus  Flanell  ge- 
zogen wurden,  die  direkt  über  die  Nase  zu  liegen  kamen.  Das  Ver- 
halten der  Reflexe  konnte  so  besser  beobachtet  werden,  andererseits 
war  die  Atmung  unbehindert.  Eine  Erstickungsnarkose  und  die  Ein- 
atmung stark  unterkühlter  Luft  (cf.  unsere  ersten  Versuche)  wurde 
vermieden. 


Tierversuch  IV. 

5.  Dez.    1902.     Kräftiges,   3000  g   schweres   Kaninchen.      1 -stündige 
Narkose.     Aetherverbrauch  80  g. 


£e  erfolgt  Hämoiyse  in 

Vorder 
Narkose 

Nach  Schluß  der  Narkose 

sofort 

IV,  Std. 

18  Std.  1  Tg. 

3  Tg, 

9,4-prQz.  BohrzuckerlöBung 
5,5-proz.  MagneBiumsulfat- 

löSUDg 

1,42-proz.  Natriumsulf at- 

löBung 
0,9-proz.  Kochsalzlösung 

Traubenzuckerlösung 

l,3*proz.    KaliumBulfat- 

lösung 
7-proz.  Aether-Magnesium- 

sulfatlöBung 
8-pTOz.  Aether-Bohrzucker- 

iösung 

bei  69« 

n     690 

"  ^' 

„    670 
„    650 

„    670 
,,    290 
„    370 

690 

690 

67-680 
350 

Bei  370 
sedimentiert 

670 

330 

390 

64,50 

650 

690 
170? 
Zimmer- 
temperatur 
feo 

690 
360 
400 

35^0 
430 

21« 

• 

690 
690 

680 

Bei  700 
koagu- 
liert 

260 
37i 

554 


O.  Engelhardt, 


Tierversuch  V. 

9.  Dez.  1902.      3300   g   schweres   Kaninchen.     IV^-stündige   Narkose 
bei  65  g  Aetherverbrauch.     Körpertemperatur  sinkt  auf  37,2  o. 


Vorder 
Narkoae 

Nach  der  Narkose 

£b  erfolgt  Hamolyse  in 

sofort 
entn.  Blut 

sof.  entn.  Blut 

nach  24  Std. 

untersucht 

nach     nach 
26  Std.  48  Std. 

9,4-proz.  Bohrzuckerlösunff 
5,5-proz.  MagDeeiumBulfatiöBUDg 
0,9-proz.  Kodisalzlöfiong 
0,75-proz.  KochsalzlöBUDg 
13-pn>z.  KaliumaulfatKysung 
7-proz.  Aether-MagneBiumsulfatlöeung 
8-proz.  Aether-RohrzuckerlöBung 

68«  (680) 
680  (680) 
670  (680) 
670  (680) 
690 

230  (240) 
390  (400) 

680 
680 
680 
620 

250 
420 

680 

680 

650 
lackfarben 

700 
lackfarben 

640 

690 

690 

650 

700 

25;5o 

37^0 

67« 
69« 
650 
650 
650 
260 
32,5«^ 

Tierversuch  VI. 

12.  Dez.  1902.    2700  g  schweres  Kaninchen. 
Aetherverbrauch  65  g. 


2  Stunden  narkotisiert 


Blut  wird  lackfarben  in 


Vor  der  Narkose 


^  'o  \  stehen  ge- 
S  g       hMS^, 
S  S  jnach  24  Std. 
§  I  untersudit 


In  der 
Narkose 

1  Std. 

nach 

Beginn 


Nach  Schluß  der  Narkose 


sofort 


IStd. 


17,  Std. 


l»/,8td 


'    18V,  Std. 

18V,  Std-'  °*^  '^^'^ 
bteoen 

untenadu 


.9,4-proz.  Eohrzucker- 
losung 

5,5-proz.  Magnesiumsul 
fatlOsung 

0^-proz.  Kochsalzlösung 

0,75-proz.  Kochsalzlösung 

1,42-proz.  Kaliumsulfat- 
lösung 

1^-proz.  Natriumsulfat- 
lösung 

7-proz.  Aether-Magnesi- 
umsulfatlösung 

8-proz.  Aether-Rohr- 
zuckerlösung 

7-proz.  Aether-Kochsalz- 
lösung 


670 

10 
650 
650 

65» 

650 

25,5< 

310 


660 

690 
650 
650 

bei  Zimmer- 
temperatur 
nicht  gelöst 


640 


62,50 


640 


650 


650 


650 


65« 


670 
660 


660 
650 


670 
64,50 


65» 


650 
600 


650 
650 


650 
650 


nach  24  Stunden  bei  Zimmertemperatur  nicht  gelöst 


260 
30« 
330 


270 

260 

25,50 

26« 

320 

310 

30,50 

310 

320 

31^0 

300 

29,50 

250 

300 
29^0 


25^0 

280 
300 


NB.  1  Stande  nach  Beginn  der  Narkose  deutlich  erhöhte  Gerinnbar- 
keit des  Blutes  bei  der  Abnahme. 

21  Stunden  nach  Schluß  der  Narkose  Tod.  Bei  der  22  Stunden  p.  m. 
vorgenommenen  Sektion  finden  sich  nur  einige  kleinlinsengroße  Pleura- 
blutungen  und  atelekta tische  Randpartien  in  beiden  Lungen.  Mikroskopisch 
findet  man  in  beiden  Lungen  hie  und  da,  in  der  Regel  nur  eine,  selten 
zwei  oder  mehrere  Alveolen  mit  verfetteten  Alveolarepithelien  vollgestopft, 
ohne  Beimischung  von  Leukocyten.     Bronchiolen  ohne  Exsudat. 


Tierversuch  VII. 

15.  Dez.  1902.   Kräftiges,  mittelschweres  Kaninchen.   2  Stunden  narkoti- 
siert;  Aetherverbrauch    70  g.     Die   Narkose   wird    mit    hängendem    Kopf 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       555 


vorgenommen,    um  das  Einfließen   von  Speichel   in   die  Luftröhre   zu   ver- 
meiden.    Körpertemperatur  am  Schluß  der  Narkose  35,2  ^ 


£b  trat  Hämoljse 
ein  in 


Vor 
der 
Nar- 
kose 


In  der 
Narkose 

IV*  8td. 

nach 

B^nn 


Nach  Schlud  der  Narkose 


sofort 


IStd. 


20Std. 


2mtd. 


458td. 


5  Tg. 


9,4-proz.  Bohrzucker- 

lösuDg  bei 

OyO-proz.  Kochsalzlösung 
0,75Kproz.  Kochsalzlösung 
1,42-proz.  Kaliumsulfat- 

lÖBung 
1,3-proz.  Natriumsulfiat- 

lösung 
7-proz.  Aether-Magnesium- 

sulfatlösung 
8-proz.  Aether-Bohr- 

zuckerlösuDg 
7-proz.  Aether-Kochsalz- 

lösung 


67« 
65« 


28« 
33,5° 


63° 
66° 
66° 


65° 
61° 
65° 


65° 


65° 
66° 
66° 


66° 
66° 

Ö5° 


65° 
65° 
65° 


65» 


bei  Zimmertemperatur  nach  24  Std.  nicht  gelöst 


29,5° 
32,5° 
35° 


32° 

32° 

— 

29° 

30° 

a5° 

35° 

36.5° 

36,5« 

37° 

34° 

34° 

36° 

34,5° 

38° 

33,5° 
33,5° 


Tierversuch  VIII. 
17.    Dez.    1902.     1800   g    schweres    Kaninchen.     1-stündige  Narkose. 
Aeth  erver  brauch  40  g. 


Es  erfolgt  Hämolyse  in 


Vor  der  Narkose 
mehrere 


Tage 

alte 

Lösung 


frische 
Lösung 


Nach  Schluß  der  Narkose 


sofort 


HStd. 


IfStd. 


2iStd. 


4i8td. 


47  Std. 


9,4-proz.  Bohrzucker- 
lösung 

0,9-proz.  Kochsalzlösung 

1,42-proz.  Kaliumsulfat- 
lösung 

Iß-proz.  Natriumsulf at- 
lösunR 

7-proz.  Aether-Magnesium- 
sul&tlösung 

8-proz.  Aether-Bohr- 
zuckerlösung 

7-proz.  Aether-Kochsalz- 
lösung 

(0,9-proz.) 


67° 
65° 


29,5" 


36° 


66° 
66° 


30,5° 

30° 

34° 


65° 
66° 


65° 
66° 


66° 
63° 


66° 
58° 


bei  Zimmertemperatur  nach  24  Std. 
nicht  gelöst 


30,5° 

30° 

34° 


31° 

31° 

30° 

34° 

30,5° 

30° 

32° 

32° 

33° 

30° 

34° 

34° 

34° 

36° 

33,5° 

Tierversuch  IX. 
20.  Dez.  1902.  800  g  schweres  Kaninchen  wird  ^/,  Stunde  bei  Zimmer- 
temperatur sehr  tief  narkotisiert;  Aetherverbrauch  30  g.  Nach  l-stündiger 
Pause  zweite  Narkose  wieder  von  ^/, -stündiger  Dauer;  Aetherverbrauch  25  g. 
Körpertemperatur  am  Schluß  der  2.  Narkose  36,6^.  16^/4  Stunden  später 
von  neuem  Narkose.  Keine  verminderte  WiderstandsfUiigkeit.  Schweres 
Einschlafen.  Nach  20  Min.  Aussetzen  der  Herztätigkeit  bei  unveränderter 
Atmung.  Die  Herztätigkeit  kommt  wieder  für  weitere  10  Min.  in  Gang, 
läßt  dann  wieder  nach  und  setzt  schließlich  aus,  während  die  Atmung 
bis  zum  Schluß  unverändert  bleibt.  Dauer  der  dritten  Narkose  40  Min., 
Aetherverbrauch  55  g. 


556 


G.  Eogelhardt, 


Blut  aus  dem  1.  Ventrikel  sofort  nach  dem  Tod  entnommen  wird  lackfarben  in : 


9,4-prpz.  Bohrzuckerlösiing 

0,9-proz.  Kochsalzlösung 

0,75-proz.  Kochsalzlösung 

7-proz.  Aether-MagnesiumsulfatlÖsung 

8-proz.  Aether-RohrzuckerlÖBung 

7-proz.  Aether-Kochsaklösnng  ^,9-proK.) 


bei    65° 
vollkommen  geronnen,  nicht  zu  prüfen. 

33,5  <> 
35« 


Die  Sektion  ergab:  An  der  vorderen  Seite  des  1.  unteren  Lungen- 
lappens  eine  etwa  2  mm  in  die  Tiefe  reichende  markstückgroße  dunkelrote 
Verfärbung  des  Lungenparenchyms.  An  der  vorderen  Seite  des  rechten 
Unterlappens  2  stecknadelkopfgroße  Blutungen.  Kein  Lungenödem.  Mikro- 
skopisch erweist  sich  die  im  1.  Unterlappen  gelegene  dunkelrote  Gewebs- 
partie  als  Atelektase  ohne  Blutungen;  hie  und  da  finden  sich  kleine  Blut- 
austritte in  mehreren  nebeneinander  gelegenen  Alveolen.  Nirgends  Ent- 
zündungsherdchen. 

Um  den  Einfluß  verschiedener  einseitiger  Ernährungsweisen,  durch 
die  bekanntlich  die  Beschaffenheit  des  Blutes  beeinflußt  wird,  des 
Hungerns  ^)  etc.  auf  den  Verlauf  der  Narkose  kennen  zu  lernen,  wurden 
verschiedene  Tiere  einer  bestimmten  Diät  längere  Zeit  unterworfen  und 
dann  zu  einem  oder  wiederholten  Malen  narkotisiert. 


Tierversuch  X. 
3600    g    schweres     weibliches    Kaninchen    wird    vom    10.    Jan.    his 
3,  Febr.  1903  ausschließlich  auf  Grünfutter  gesetzt.     Am  3.  Febr.  Nieder- 
kunft.    Von  da  bis  24.  Febr.  Grünfutter  und  Kleie.    Gewicht  am  10.  Jan. 
3600,  am  24.  Febr.  3100  g. 

Erste  Narkose  Ton  l^-Btündiger  Dauer.    Aetherverbrauch  80  g. 


Blut  wird  lackfarben  in 


Vor  der 

bei  ge- 
miBcnter 

Narkose 

am 

Schluß  d. 

Diätzeit 

In  der 

Narkose 

1  Std. 

nach 

Beginn 

Nach  Schluß  der 
Narkose 

Koet 

sofort 

24  Std. 

46  Std. 

66» 
66« 

66» 
66» 

— 





— 

29« 
29,5  0 

— 

— 

— 

— 

— 

34» 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

41,5» 
45.5» 

43» 
45» 

43» 
48» 

43» 
46,5» 

42,5  • 
47* 

— 

46» 

47» 

52» 

48,5» 

44,5  • 

— 

66» 

.     66» 

66» 

65» 

63» 

— 

66» 

66» 

67» 

66» 

66* 

— 

66» 

66» 

67» 

66* 

63,5  • 

0,9-proz.  Kochsalzlösung 
0,75-proz.  Kochsalzlösung 
7-Droz.  Aether-Magnesiumsulfat- 

lösune 
8-proz.  Aether-Bohrzuckerlösung 
7-proz.  Aether-Kochsalzlösnng 

(0,9-proz.) 
4-proz-  Aether-Magtaesiumsulfat- 

lösung 
4-proz.  Aether-Bohrzuckerlösung 
4-proz.  Aether-KochsaLzlösung 

(0,9.proz.) 
V4-proz.  Aether-Kochsalzlösung 

(0,9-proz.) 
V4-proz.  Aether-Kochsalzlösung 

(0,75-proz.) 
V4-proz-  Aether-Magnesium- 

Bulfatlösung 


1)  KiBSBRiTZKY,  G.,  Experiment.  Untersuchungen  übor  den  Einfluß  der 
Nahrungsentziehung  auf  das  Blut.    Dtsch.  Aerzte-Ztg.,  1902. 


Neue  Oesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       557 

46  Stunden  nach  Beendigung  der  ersten  Narkose  Einleiten  einer  zweiten 
von  1 -stund.  Dauer.  Aetherverbrauch  60  g.  Körpertemperatur  am  Schluß 
der  Narkose  36,8  ^.  Leichtes  Einschlafen.  Narkose  verläuft  ohne  Störung. 
Gewicht  des  Tieres  2800  g. 


Blut  wird  lackfarben  in 

Nach  Schluß  der  zweiten  Narkose 

sofort 

25Std. 

4  Tage 

4-proz.  Aether-Magneeiumsulfatlöeung 
4-proz.  Aether-Kohrzuckerlöeunff 
4-proz.  Aether-Kochfialzlösung  (ü,9-proz.) 
*  /  4 -proz.  Aether-Magnesiumsulf atlÖBung 
V 4-proz.  Aether-KochsalzlöBung  (0,9-proz.) 
V  4 -proz.  Aether-KochBalzlösuDg  (0,75-proz.) 

43» 
48,5» 
49,5» 

66» 
66,5» 

66» 

43» 

47» 
49,5» 
66» 
67» 
67» 

43» 
47» 
49» 
66» 
65» 
66» 

Tierversuch  XI. 

2100  g  schweres  Kaninchen  wird  vom  11.  Jan.  bis  5.  Febr.  1908 
ausschließlich  auf  Körnerfutter  gesetzt.  Gewicht  am  5.  Febr.  2570  g. 
An  diesem  Tage  2-stündige  Narkose  bei  Zimmertemperatur.  Körperwärme 
des  Tieres  nach  1^/^  Stunden  84,4®,  nach  der  zweiten  Stunde  88,8®. 
Aetherverbrauch  55  g. 


Vor  der  Narkose 

In  der 

Narkose 

Nach  Schluß  der  Narkose 

Blut  wird  lackfarben  in 

beige- 
miBcnter 
NahruDg 

am 

1  Std. 

8rhluß  d. 
Diätzeit 

nach 

Bofort 

2V,  Std. 

20V,  Std. 

0,9-proz.  EochBalzlöeung 

66» 

66» 









0,75-proz.  KochBalzlöBung 

66» 

66» 

— 

— 

— 



7-proz.  Aether-Magnesium- 

BUlfatJÖBUDg 

30,5» 

— 

— 



8-]>roz.  Aether-Bohrzucker- 
lÖBong 

30,5» 

— 

— 

— 

— 



7-proz.  Aether-Kochsalz- 

löBong  (0,9-proz.) 
4-proz.  Aether-MagDeeium- 

34» 

— 

— 

— 

— 



BulfaUöBung 

— 

42» 

43» 

44» 

43» 

43» 

4-proz.  Aether-EochBalz- 
lösune  (0,9-proz.) 

4-proz.  Aether-Kochsalz- 
lösung  (0,75-proz.) 

— 

44» 

45» 

46,5» 

46« 

45» 

— 

45  »^ 

45» 

46,5» 

45«' 

45» 

V4-proz.  Aether-Magne- 

siumBulfatlöeuDK 
V^-proz.  Aether-Kochsalz- 

löBung  r0,9-proz.) 
^/'  -proz.  Aether-Kochsalz- 

löBung  (0,75-proz.) 

— 

62» 

63» 

62» 

62« 

63» 

— 

60» 

63» 

62» 

63» 

63» 

— 

63» 

64» 

62» 

63« 

63» 

201/j  Stunden  nach  Schluß  der  ersten  Einleitung  einer  zweiten 
Narkose  von  2  Stimden  Dauer.  Das  Tier  verträgt  den  Aether  ent- 
schieden schlechter  als  das  erste  Mal;  Atmung  mühsam.  Aetherver- 
brauch 60  g.  Körperwärme  am  Schluß  der  Narkose  34,5®,  Gewicht  des 
Tieres  2500  g. 


558 


O.  Engelhardt, 


Blut  wird  lackfarben  in 

In  der  Narkose 

1  St  nach  2  St.  nach 
Beginn       Beginn 

4-proz.  Aether-Magnesiumsulfatlöfiung 
4-pToz.  Aether-Bofirzuckerlösang 
4-proz.  Aether-Kochflalzlööung  (0,9-proz.) 
Vi-proz.  Aether-MagneBiumsulfatlöeung 
V4-proz.  Aether-Kociß«lz8(5euDg  (0,9-proz.) 
V4-proz.  Aether-KochsalzlÖBaDg  (0J5-proz.) 

43« 
45« 
45* 
62« 
61« 
61« 

44« 
50« 
50« 

67« 
63« 

Tierversuch  XII. 
20.  Jan.  1903.     2000  g    schweres   Kaninchen    wird    nach    S-tägigem 
Hungern,  wobei  das  Körpergewicht  um  200  g  abnimmt,    ly^  Stunden  bei 
Zimmertemperatur  narkotisiert. 


ßlnt  wird  bickfarben  in 

Vor  der  Nar- 

In der  Nar- 
kose 
1  Std.  nach 
Beginn 

Nach  Schluß  der  Narkose 

kose 

sofort 

3  Std. 

26  Std. 

0,9-proz.  Kochsalzlösung 

66« 

66« 

nach  24  Std.  nicht 
gelöst 

63« 

nach  24  Std. 
nicht  gelöst 

0,75-proz.  Kochsaklösung 

66« 

66« 

nach  24  Std.  nicht  gelöst 

60« 

7-proz.  Aether-Magnesium- 

Bulfatlöeung 

29,5« 

29,5« 

30« 

28« 

28« 

28^" 

8-proz.  Aether-Bohrzucker- 

löBung 
7-proz.  Aethe^Koch8alzlÖ8ung 

28,5« 

29,5« 

29« 

30« 

29« 

29,5« 

(0,9  Proz.) 

33« 

34« 

32« 

33« 

33« 

34,5« 

9,4-proz.  Bohrzuckeriöeung 

— 

— 

nach  24  Std. 
nicht  gelöst 

— 

— 

— 

Vom  11.  Jan.  bis  17.  März  1903  ausschließlich  mit  Kartoffeln  ge- 
füttert.   Das  Körpergewicht  steigt  auf  2200  g. 

Am  17.  März  1-stündige  Narkose.  Aetherverbrauch :  40  g.  Körper- 
wärme am  Schluß  der  Narkose:  36 o. 


Blut  wird  lackfarben  in 

Vor  der 
Narkose 

Nach  Schluß  der 
Narkose 

sofort 

23Std.|47Std. 

4-proz.  Aether-Maffnesiumsulfatlösung   bei 
4-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung 
4-proz.  Aether-Kodisalzlösung  (0,9  Proz.) 
4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  (0,75  Proz.) 

45« 
48« 
49« 
47« 

44« 
48« 
49« 
47« 

45« 
49« 
50« 
48« 

45,5« 
47« 
49« 
48« 

47  Stunden  nach  Schluß  der  ersten  Narkose  Einleitung  einer  neuen 
von  2  Stunden  Dauer.  Körperwärme  nach  1  Stunde  35,1®,  nach 
IV2  Stunden  So« 


Blut  wird  lackfarben  in 


4-proz.  Aether-Ma^esiumsulfatiösung 
4-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung 
4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  (0,9  Proz.) 
4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  (0,75  Proz.) 


In  der  Nar- 
kose 

l*/4  Std.  nach 
Beginn 


46« 

48,5« 

49« 

48,5« 


Nach  Schluß 
der  Narkose 

22  Std. 


46« 
48« 
49« 
49« 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       559 

d  Stunden  nach  Beendigung  der  Narkose  tot  aufgeftinden.  Obduktions- 
befund negativ.  Lungen  blafi,  keine  Blutungen,  kein  Oedem.  Auch  mikro- 
skopisch keine  Blutaustritte  in  die  Alveolen  nachzuweisen;  in  den  Alveolen 
nur  hie  und  da  einige  spärliche  abgestoßene  Epithelien. 

Für  die  indifferenten  Salzlösungen  hat  sich  also  folgendes  ergeben. 
In  der  9,4-proz.  Rohrzuckerlösung  ist  bei  3  Versuchen  eine  Herab- 
setzung des  Schmelzpunktes  zu  konstatieren  gewesen,  2  Versuche  ver- 
liefen in  der  Hinsicht  negativ.  2mal  trat  diese  Herabsetzung  während 
der  Narkose  ein.  Im  3.  Fall  war  während  bezw,  direkt  nach  der  Nar- 
kose keine  Alteration  des  Schmelzpunktes  zu  konstatieren,  wohl  aber 
einen  Tag  später,  und  zwar  um  4^  Das  Maximum  der  Herabsetzung 
betrug  bei  Kaninchen  VII,  am  Schluß  der  2-stündigen  Narkose  5Vs^ 
In  der  Magnesiumsulfatlösung  war  in  3  Versuchen  keine  Herabsetzung 
festzustellen.  Da  die  Beobachtung  bei  dieser  Lösung  durch  die  dem 
Lackfarbenwerden  außerordentlich  schnell  folgende  bezw.  mit  ihr  zu- 
sammenfallende Koagulation  sehr  erschwert  ist,  haben  wir  in  der  Mehr- 
zahl der  Versuche  uns  darauf  beschränkt,  nur  das  Verhalten  der  äther- 
haltigen  MgS04-Lösungen  zu  prüfen,  in  denen  der  Umschlag  aus  Deck- 
in Lackfarben  wie  in  allen  ätherhaltigen  Lösungen  außerordentlich  scharf 
eintrat.  Für  die  0,9-proz.  Kochsalzlösung  gab  gleich  der  erste  Versuch 
(IV)  ein  außerordentlich  bemerkenswertes,  mehrfach  kontrolliertes  und 
über  allem  Zweifel  stehendes  Resultat,  indem  am  Schluß  der  1 -stündigen 
Narkose  der  Schmelzpunkt  auf  35^  herabsank,  Vs  Stunde  später  sich 
sogar  auf  17®  erniedrigte,  eine  Herabsetzung,  die  noch  24  Stunden 
später  zu  konstatieren  war.  Es  trat  also,  anders  ausgedrückt,  bei  ge- 
wöhnlicher Zimmertemperatur  in  der  indifferenten  Salzlösung 
eine  Auflösung  der  ätherisierten  roten  Blutscheiben  ein. 
Nach  3  Tagen  war  der  Schmelzpunkt  wieder  normal.  Während  in  der 
0,9-proz.  Kochsalzlösung  sich  dieses  merkwürdige  Verhalten  der  ätheri- 
sierten roten  Blutkörperchen  zeigte,  war  in  dem  gleichen  Versuch  in 
MgSO^-  und  Rohrzuckerlösung  keine  Abweichung  vom  Normalen  zu 
entdecken.  Die  Blutaufschwemmungen  blieben  deckfarben.  Hämolyse 
trat  erst  bei  Temperaturen  über  60®  ein.  In  der  0,9-proz.  Kochsalz- 
lösung war  in  allen  Versuchen  eine  Herabsetzung  des  Schmelzpunktes 
nach  der  Narkose  zu  erkennen,  doch  ist  abgesehen  eben  von  dem 
Versuch  IV  das  Maximum  nur  eine  Erniedrigung  um  4  bezw.  7®. 
Letztere  in  Versuch  VIII  ist  auffällig,  da  sie  erst  2  Tage  nach  der 
Narkose  festzustellen  war,  während  sie  1  Stunde  nach  der  Narkose 
nur  2®  in  dem  betreffenden  Versuch  betrug. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  dem  Verhalten  in  äthergesättigten  Salz- 
lösungen. Beginnen  wir  mit  der  Besprechung  der  niedrigstkonzentrierten, 
der  Vi-prozentigen.  Wenn  es  auch  aus  früher  erörterten  Gründen  nicht 
geboten  erscheint,  aus  dem  Verhalten  der  roten  Blutkörperchen  in  den 
Vi-proz.  Lösungen   Schlüsse   auf  das   Verhalten    der  Erythrocyten    im 


560  G.  Engelhardt, 

Plasma  zu  ziehen,  so  können  diese  Versuche  doch  vielleicht  ein  be- 
sonderes Interesse  beanspruchen,  da  sie  den  tatsächlichen  Verhältnissen 
eventuell  am  nächsten  kommen  und,  vorausgesetzt,  daß  wirklich  der 
Aethergehalt  des  Blutplasmas  in  der  Narkose  V4  Gewichtsprozent  be- 
trägt, eine  Aetherabgabe  oder  -aufiiahme  durch  die  roten  Blutscheiben 
in  der  ätherhaltigen  Salzlösung  nicht  erfolgen  würde.  Während  nun 
Versuch  VIII  keine  Beeinflussung  des  Schmelzpunktes  in  und  nach  der 
Narkose  erkennen  läßt,  ergibt  Versuch  VII  das  auffallende  Resultat, 
daß  Hämolyse  nicht,  wie  a  priori  zu  erwarten,  bei  niederer,  im  Gegen- 
teil bei  höherer  Temperatur  erfolgt.  Am  deutlichsten  ist  dies  in  der 
Aether-Eochsalzlösung,  in  der  die  Erhöhung  1  Stunde  nach  Beginn  der 
Narkose  3^  beträgt.  Genauer  wie  in  den  niederen  haben  wir  in  den 
höher  konzentrierten  Aethersalzgemischen  das  Verhalten  der  roten  Blut- 
scheiben in  und  nach  der  Narkose  verfolgt.  In  diesen  war  ebenfalls 
eine  Herabsetzung  des  Schmelzpunktes  der  Erythrocyten  zu  erwarten, 
da  ja  die  während  der  Narkose  mit  Aether  beladenen  Blutzellen  in  der 
Lösung  noch  mehr  Aether  aufnehmen  und  eigentlich  ihren  Schmelz- 
punkt erniedrigen  müßten;  aber  das  ist,  wie  die  Tabellen  erweisen, 
nicht  der  Fall,  im  Gegenteil,  der  Schmelzpunkt  ist  während  der  Nar- 
kose erhöht.  Betrachten  wir  zunächst  die  4-proz.  Aethersalzgemische. 
In  der  4-proz.  Aether-MgSO 4 -Lösung  ist  in  3  Versuchen,  jeder  mit 
2maliger  Narkose,  diese  Erhöhung  um  durchschnittlich  2  ^  nachzuweisen, 
am  deutlichsten  nach  Schluß  der  Narkose,  aber  auch  noch  1  Tag  später. 
In  der  4-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung  ist  in  denselben  Versuchen  in 
einem  untersuchten  Fall  (X)  die  Erhebung  nach  Schluß  der  zweiten 
Narkose  (um  3Vs  ^)  sehr  deutlich,  im  anderen  ist  keine  Abweichung 
zu  konstatieren.  In  den  4*proz.  Aether-Eochsalzlösungen  ist  in  der 
0,9-proz.  die  Erhebung  in  Versuch  X  und  XI  sehr  deutlich,  besonders 
in  letzterem,  wo  sie  am  Schluß  der  zweiten  Narkose  6*'  beträgt,  wäh- 
rend in  Versuch  XII  vor  und  nach  der  Narkose  kein  deutlicher  Unter- 
schied zu  bemerken  ist.  Gleich  deutlich  wie  für  die  0,9-proz.  Koch- 
salzlösung ist  die  Erhöhung  in  der  Narkose  in  Versuch  XI  für  die 
0,75-proz.  NaCl-Lösung.  In  der  7-proz.  Aether-Kochsalzlösung  (0,9  Proz.) 
ist  kein  Unterschied  vor  und  nach  der  Narkose  festzustellen,  mit  Aus- 
nahme von  Versuch  VII,  in  dem  2  Tage  nach  der  Narkose  eine  Er- 
höhung um  4®  eingetreten  ist.  Dagegen  war  in  5  Versuchen  in  der 
7-proz.  Aether-MgSO 4 -Lösung  eine  Erhöhung  des  Schmelzpunktes  direkt 
oder  kurz  nach  der  Narkose  bis  zu  7  ^  bemerkbar.  Der  eine  mit  der 
8-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung  angestellte  Versuch  XII  endlich  zeigte 
während  und  nach  der  Narkose  keine  Abweichung.  Zusammenfassend 
läßt  sich  mithin  sagen :  Der  Schmelzpunkt  der  roten  Blutzellen  ist  in 
und  nach  der  Narkose  in  indifferenten  Salzlösungen  herabgesetzt,  dabei 
gehen  aber  die  einzelnen  Lösungen  einander  nicht  parallel.  In  äther- 
haltigen Salzlösungen  ist  der  Schmelzpunkt  in  und  nach  der  Narkose 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       561 

nicht  erniedrigt,  im  Gegenteil  vielmehr  erhöht,  und  zwar  lassen  alle 
von  der  V4-  bis  zu  der  7-proz.  Lösung  diese  Gesetzmäßigkeit  erkennen« 
Auch  hier  stimmt  die  Erhebung  in  den  verschiedenen  Lösungen  mit- 
einander nicht  überein.  Eine  Erniedrigung  trat  nur  ein  nach  der  ersten 
Narkose  bei  Versuchstier  XI  nach  3-tägigem  Hungern  und  in  Versuch 
XI  in  den  7-  bezw.  8-proz.  Aethersalzlösungen.  Auffallend  ist,  daß 
gerade  dieses  Versuchstier  23  Stunden  nach  beendigter,  nicht  einmal 
besonders  tiefer  Narkose  zu  Grunde  ging.  Der  Obduktionsbefund  war 
bis  auf  einige  kleine  Pleurablutungen  negativ.  Die  Schmelzpunkte  der 
Erythrocyten  der  längere  Zeit  auf  einseitige  Ernährung  gesetzten  Tiere 
wichen  weder  vor  noch  nach  der  Narkose  von  den  übrigen  Ver- 
suchen ab. 

Nachdem  nun  die  Verhältnisse  beim  gesunden  Tier  in  der  Narkose 
genügend  untersucht  schienen,  stellte  sich  als  nächste  Aufgabe,  die 
Schmelzpunkte  der  roten  Blutzellen  bei  möglichst  verändertem  Blut  zu 
untersuchen.  Da  uns  kranke  Tiere  nicht  zur  Narkose  zu  Gebote  standen, 
suchten  wir  eine  veränderte  BlutbeschaflFenheit  durch  gewaltsamere  Ein- 
griffe, als  dies  Hungern  und  einseitige  Kost  bedeuten,  herzustellen, 
nämlich  einmal  durch  größere  wiederholte  Blutentziehungen  und  dann 
durch  reichliche  Infusionen,  teils  von  Kochsalzlösung,  teils  von  anderen 
auch  praktisch  in  Betracht  kommenden  Infusionsflüssigkeiten.  Zugleich 
nahmen  wir  unsere  früheren  Versuche,  die  durch  die  Narkose  ernie- 
drigte Körperwärme,  solange  der  Aether  noch  nicht  aus  dem  Körper  aus- 
geschieden war,  rasch  um  mehrere  Grade  in  die  Höhe  zu  treiben,  wieder 
auf,  diesmal  in  rationellerer  Weise,  indem  wir  den  Temperaturanstieg 
nicht  durch  Wärmestauung,  sondern  durch  den  sogenannten  Wärme- 
stich zu  erzielen  suchten.  Bei  gelungenem  Wärmestich  ähnelt  bekannt- 
lich der  Ablauf  der  Lebensprozesse  im  Organismus  vollkommen  dem 
bei  Fieber,  indem  erhöhte  Stickstoff-  und  Kohlensäureausscheidung  mit 
der  Erhöhung  der  Körpertemperatur  einhergehen.  Zu  den  Infusionsver- 
suchen verwandten  wir  einmal  die  0,75-proz.  Kochsalzlösung.  Es  schien 
von  Interesse,  das  Verhalten  des  Schmel^unktes  der  roten  Blut- 
körperchen ätherisierter  Tiere,  die  mit  reichlichen  Kochsalzinfusionen 
vorbehandelt  waren,  festzustellen,  da  nach  den  Untersuchungen  von 
BiERNATZKi^)  Kochsalzinfusionen  im  Stadium  der  sogenannten  Blut- 
verdichtung ausnahmslos  einen  Zerfall  von  roten  Blutzellen  zur  Folge 
haben.  Biernatzki  unterscheidet  nach  der  Kochsalzinfusion  3  Stadien 
der  Blutbeschaffenheit,  das  erste  2  Tage  währende  der  Blutverdünnung 
mit  gleichzeitig  vermehrter  Diurese,  das  zweite,  in  dem  es  zu  einer  An- 
häufung von  Salzen  im  Blut  bei  vermindertem  Wassergehalt  des  Blutes 


1)  BfBBNATZKi,  Ueber  den  Einfluß  der  subkutan  eingeführten  großen 
Mengen  von  0,7-proz.  Kochsalzlösung  auf  das  Blut  und  die  Harnsekretion. 
Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  1891,  Suppl. 


562  G.  Engelhardt, 

und  verminderter  Diurese  kommt,  dessen  Folge  wiederum  das  dritte 
Stadium  darstellt,  das  der  Blutkörperchenzerstörung  von  ungefähr  2  bis 
3  Tagen  Dauer.  Vielleicht  machte  sich  in  Stadium  III  Blutkörper- 
chenzerfall durch  Blutverdichtung  und  Aetherwirkung  in  besonders 
eklatanter  Weise  geltend.  Es  scheint  aber,  soviel  ich  aus  der  Literatur 
ersehe,  die  experimentelle  Arbeit  Biernatzkis  mit  ihrer  behaupteten 
Wirkung  auf  die  roten  Blutzellen  ziemlich  vereinzelt  zu  stehen.  Gleich- 
wohl war  eine  solche  Wirkung  wiederholter  Infusionen  sehr  wohl  denkbar, 
da  danach  tatsächlich  Fälle  von  Hämoglobinurie,  wenn  auch  äußerst 
selten,  beim  Menschen  beobachtet  sind.  Als  Infusionsflüssigkeit  ver- 
wandten wir  ferner  die  TAVELsche  Sodalösung,  deren  Gefährlichkeit  bei 
subkutaner  Infusion  von  Baisch^)  und  KOttner*)  besonders  hervor- 
gehoben ist.  Die  nekrotisierende  Wirkung  dieser  Lösung  auf  die  Zellen 
des  Gewebes,  speziell  des  subkutanen  Gewebes,  wurde  von  Baisgh  mit 
cytolytischen  Vorgängen  in  Zusammenhang  gebracht,  Auflösung  von  in 
die  TAVELsche  Lösung  eingebrachten  roten  Blutzellen  aber  nicht  beob- 
achtet. Tatsächlich  tritt  nun  Auflösung  menschlicher  roter  Blutkörper- 
chen schon  bei  Zimmertemperatur  ein,  wenn  man  die  Blutaufschwemmung 
(2  Tropfen  Fingerblut  in  5  ccm  TAVELscher  Lösung)  nur  genügend 
lange  (2—3  Stunden)  stehen  läßt  Die  Hämolyse  ist  zweifellos  eine 
Folge  des  Alkaligehaltes  der  Lösung,  durch  die  wahrscheinlich  die  lipoide 
Oberflächenschicht  der  roten  Blutzellen  gewissermaßen  verseift  wird,  so 
daß  das  Hämoglobin  zum  Austritt  gelangt  (cf.  über  den  Einfluß  alka- 
lischer Lösungen  auf  die  Lösung  roter  Blutzellen  die  Ausführungen 
KÖPPEs  in  seiner  erwähnten  Arbeit).  Eine  ähnliche,  wenn  auch  weniger 
intensive  Wirkung  wird  die  Lösung  auf  die  Gewebszellen  ausüben  können, 
wenn  sie  wie  bei  subkutaner  Infusion  längere  Zeit  an  Ort  und  Stelle 
liegen  bleibt.  Es  kommt  zu  einer  trockenen  Gewebsnekrose,  wie  wir 
uns  selbst  überzeugt  haben,  während,  wie  das  auch  von  Baisch  hervor- 
gehoben ist,  bei  intraperitonealer  und  intravenöser  Einverleibung  die 
Lösung  sich  so  schnell  in  den  Körpersäften  verteilt,  daß  sie  vollkommen 
unschädlich  gemacht  wird. 

Tierversuch  XIII. 

6.  Juli  1908.  Sehr  kräftiges,  3100  g  schweres  Kaninchen.  In  Nar- 
kose FreileguDg  der  rechten  Vena  jugularis  externa.  Langsame  Ent- 
ziehung von  30  ccm  sehr  rasch  gerinnenden  Blutes.  Dauer  der  Narkose 
1   Stunde.     Aetherverbrauch  50  g. 

7.  JulL  Freilegung  der  linken  Vena  jugularis  externa.  Langsame, 
nach  3  Min.  beendete  Infusion  von  55  ccm  TAVBLScher  Lösung.  Dauer 
der   Narkose,    die  ohne  Störung  verläuft,  40  Min.     Aetherverbrauch  45  g. 


1)  Baisch,   lieber   die  Gefährlichkeit  der  TAVELSchen  Kochsalz-Soda- 
lösung bei  subkutaner  Anwendung.     Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1902. 

2)  KüTTNER,  Ist  die  physiologische  Kochsalzlösung  durch  die  TAVBiiSche 
Salz-Sodalösung  zu  ersetzen?     Bruns'  Beiträge,  1902. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       563 

8.  Juli  1-Btünd.  Narkose.  Aetherverbrauch  55  g.  Infusion  von  45  ccm 
TAYELscher  Lösung  in  die  linke  Schenkelvene. 

9.  Juli.  Im  Beginn  der  1-stünd.  Narkose  (Aetherverbrauch  50  g) 
werden  dem  Tier  30  ccm  Blut  entzogen.  Keine  erhöhte  Gerinnbarkeit 
des  Blutes,  dann  langsame,  nach  5  Min.  beendete  Infusion  von  45  ccm 
TAVELscher  Lösung  in  die  rechte  Schenkelvene.  Blut  bei  Beginn  der 
Narkose  entnommen:  In  9,4-proz.  Bohrzuckerlösung  bei  Zimmertemperatur 
bleibt  deckfarben,  ebenso  in  5,5-proz.  MgSO ^-Lösung  und  0,9-proz.  Koch- 
salzlösung.    In  0,5-proz.  Kochsalzlösung  nach  2  Stunden  lackfarben. 

12.  Juli.  Blut  wird  lackfarben  in  5,5-proz.  MgSO^-Lösung  bei  67  •  und 
in  0,9-proz.  Kochsalzlösung  bei  67  ^.  Blut  dünnflüssig,  zeigt  keine  erhöhte 
Gerinnbarkeit. 

17.  Juli.  Körpertemperatur  morgens  40,1  ^.  Am  rechten  Oberschenkel, 
da  wo  bei  der  intravenösen  Infusion  etwas  Lösung  in  das  subkutane 
Gewebe  getreten  ist,  Haut  abgehoben,  unter  derselben  trockene  wenig  in 
die  Tiefe  reichende  Gewebsnekrose.     Gewicht  des  Tieres  2990  g. 

Tierversuch  XIV. 

10.  Juli  1903.  3050  g.  schweres  Kaninchen.  1-stünd.  Narkose  mit  einem 
Aetherverbrauch  von  55  g.  Im  Beginn  derselben  werden  dem  Tier  zuerst 
40  ccm  Blut  entzogen,  dann  50  ccm  0,75-proz.  Kochsalzlösung  in  die  Vene 
infundiert. 

12.  Juli.  In  1-stünd.  Narkose  (Aetherverbrauch  35  g)  intravenöse  In- 
fusion von  56  ccm  0,75-proz.  Kochsalzlösung  nach  Entziehung  von  30  ccm 
dünnflüssigen,  keine  Neigung  zu  Gerinnung  zeigenden  Blutes.  In  der  Nar- 
kose, die  sehr  geringe  Mengen  von  Aether  erfordert,  Zeichen  von  Asphyxie 
und  sehr  schwache  Herztätigkeit  Im  Beginn  der  Narkose  entnommenes 
Blut  wird  lackfarben  in  5,5-proz.  MgSO^-Lösung  bei  63^  und  in  0,9-proz. 
Kochsalzlösung  bei  63^. 

18.  Juli.  Im  Beginn  der  l^/^-stünd.  Narkose  (Aetherverbrauch  40  g) 
Entziehung  von  10  ccm  Blut,  dann  intravenöse  Infusion  von  6ü  ccm 
0,75-proz.  Kochsalzlösung.  Temperatur  am  Schluß  der  Narkose  36,5^; 
hierauf  Wärmestich.  Im  Beginn  der  Narkose  entnommenes  Blut  wird  lack- 
farben in  5,5-proz.  MgSO^-Lösung  bei  69  ®  und  in  0,9-proz.  Kochsalzlösung 
bei  68  0. 

14.  Juli.  1-stünd.  Narkose  (Aetherverbrauch  35  g).  Blut,  im  Beginn 
der  Narkose  entnommen,  wird  lackfarben  in  5,5-proz.  MgSO^-Lösung  bei 
69 0  und  in  0,9-proz.  Kochsalzlösung  bei  68^.  Da  die  Körperwärme 
morgens  nur  38,3  ^  beträgt,  wird  der  Wärmetisch  wiederholt,  darauf 
mittags  Temperatur  38,8,  abends  40,4  o. 

15.  Juli.  Morgens  Körpertemperatur  40  *.  Blut  wird  lackfarben  in 
5,5-proz.  MgSG^-Lösung  bei  67  ^  und  in  0,9-proz.  Kochsalzlöeung  bei  67  ^ 
Mittags  Körperwärme  39,4 «,  abends  39,6  <>. 

16..  Juli.  MitUgs  Temperatur  39,2  o.  Gewicht  2730  g,  vollkommenes 
Wohlbefinden. 

Tierversuch  XV. 

15.  Juli  1903.  2170  g  schweres  Kaninchen,  l-stünd.  tiefe  Narkose. 
Körperwärme  nach  ^j^  Stunden  36,3®,  gegen  Schluß  der  Narkose  Wärme- 
stich.    Körpertemperatur  mittags  39,7,  abends  39,9®. 

16.  Juli.  Morgens  Körperwärme  40®.  Ohrvenenblut  wird  lackfarben 
in  5,5-proz.  MgSO^ -Lösung  bei  65,5®  und  in  0,9-proz.  Kochsalzlösung  bei 
65,5  ®. 


564  G.  Engelhardt, 

17.  Juli.     Mittags  Körpertemperatur  39,6*^.     Blut  wird    lackfarben  in 
5,5-proz.  MgSO^-Lösung  bei  68®  und  in  0,9-proz.  Kochsalzlösung  bei  68  ^ 

Es  wurden  somit  in  Versuch  XIII  an  3  aufeinander  folgenden  Tagen 
im  ganzen  145  ccm,  also  V21  des  Körpergewichts  an  TAVELscher  Lösung 
injiziert,  außerdem  an  2  Tagen  zusammen  60  ccm  Blut  entzogen  und 
an  4  aufeinander  folgenden  Tagen  je  1  Stunde  narkotisiert,  ohne  daß 
dies  auf  den  Schmelzpunkt  der  roten  Blutkörperchen  auch  im  Stadium 
der  Blutverdichtung  einen  Einfluß  gehabt  hätte.  In  Versuch  XIV  da- 
gegen ergab  sich  in  der  zweiten  Narkose  eine  außerordentlich  große  Em- 
pfindlichkeit des  Tieres  gegen  Aether  mit  gleichzeitiger  Herabsetzung 
des  Schmelzpunktes  in  beiden  Lösungen  um  5^  In  diesem  Versuch 
wurden  im  ganzen  225  ccm  Kochsalzlösung  injiziert,  also  ^/u  des 
Körpergewichts,  80  ccm  Blut  an  3  aufeinander  folgenden  Tagen  ent- 
zogen und  in  kurzen  Zwischenräumen  zusammen  4^/4  Stunden  nar- 
kotisiert, ohne  daß  dies,  abgesehen  von  der  2.  Narkose,  den  Schmelz- 
punkt der  roten  Blutzellen  dauernd  beeinflußt  hätte.  Durch  den  zwei- 
mal ausgeführten  Wärmestich  war  außerdem .  die  Körpertemperatur 
innerhalb  kurzer  Zeit  um  4®  in  die  Höhe  geschnellt  worden.  Ver- 
such XV  beschränkte  sich  endlich  darauf,  die  Wirkung  des  Wärme- 
stichs auf  den  Schmelzpunkt  der  Erythrocyten  nach  tiefer  einmaliger 
Narkose  zu  untersuchen.  In  der  Tat  war  24  Stunden  nach  der  Nar- 
kose und  dem  Wärmestich,  also  zu  einer  Zeit,  wo  einerseits  der  Aether 
zum  großen  Teil  noch  nicht  ausgeschieden  war,  andererseits  die  Tempe- 
raturerhöhung ihr  Maximum  erreicht  hatte,  in  den  beiden  indifferenten 
Lösungen  eine  Herabsetzung  des  Schmelzpunktes  um  2Vi^  zu  konsta- 
tieren. 

Ueberblicken  wir  somit  nochmals  die  mit  wiederholter  Narkose  im 
ganzen  an  7  Versuchstieren  gemachten  Erfahrungen,  sowohl  in  ihrem 
Einfluß  auf  das  Befinden  und  Weiterleben  der  Tiere,  wie  in  ihrer 
Einwirkung  auf  den  Schmelzpunkt  der  roten  Blutzellen.  Eine  dauernde 
Erniedrigung  des  Schmelzpunktes  der  roten  Blutkörperchen  erfolgte  in 
keinem  der  Versuche  in  indifferenten  Lösungen  trotz  rascher  Auf- 
einanderfolge der  Narkosen  und  teilweiser  Summierung  ihrer  Wirkung. 
Eine  erhöhte  Empfindlichkeit  gegen  das  Narcoticum  war  nur  zweimal 
zu  konstatieren,  die  sich  aber  in  den  späteren  Narkosen  in  dem  einen 
Fall  wieder  vollkommen  verlor.  Bezüglich  des  ersten  Punktes  ist  zu 
bemerken,  daß  ein  Tier  (XII)  23  Stunden  nach  der  zweiten  Narkose  starb 
und  ohne  daß  die  Sektion  einen  genügenden  Aufschluß  gegeben  hätte. 
Ein  zweites,  mit  sehr  reduziertem  Körpergewicht,  welches  in  3  schnell 
aufeinander  folgenden  je  ^/j -stündigen  Narkosen  im  ganzen  70  g  Aether 
inhaliert  hatte,  ging  in  der  dritten  Narkose  unter  Zeichen  der  Herzin- 
suffizienz zu  Grunde.  Die  Einwirkung  einer  wiederholten  Narkose  ist 
experimentell  vorzüglich  für  das  Chloroform  geprüft,  ich  erinnere  nur  an 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       565 

die  Versuche  von  Ungar ^),  Strassmann*)  u.a.;  aber  auch  die  Einwir- 
kung einer  wiederholten  Aethernarkose  ist  von  verschiedenen  Gesichts- 
punkten aus  zum  Gegenstand  experimenteller  Untersuchungen  gemacht 
worden.  Lindemann  ^)  konnte  in  seinem  zweiten  Versuch  eine  augenblick- 
lich eintretende  und  rasch  zum  Atmungs-,  dann  Herzstillstand  führende 
Schädigung  durch  eine  24  Stunden  nach  der  ersten  eingeleitete  zweite 
Narkose  nachweisen,  während  in  seinem  Versuch  VII  eine  fünfmal 
hintereinander  ausgeführte  Narkose  ohne  jede  nachteilige  Einwirkung 
blieb.  Aehnliche  Erfahrungen  machte  Selbagh^)  bei  Hunden  und 
Katzen.  Bald  vertrugen  die  Tiere  die  wiederholte  Narkose  ohne  jeden 
Schaden,  dann  wieder  trat,  ohne  genügende  Erklärung  auch  durch 
den  Obduktionsbefund,  der  Exitus  ein.  Leppmann'^  suchte  durch 
Blutentziehung  und  Hungerkur  vor  der  Narkose  die  betreflFenden  Ver- 
suchstiere unter  vollkommen  veränderte  Bedingungen  zu  setzen.  Der 
Obduktionsbefund  seiner  spontan,  nach  wiederholter  Narkose  gestor- 
benen Tiere  war  einmal  derselbe  wie  bei  den  wiederholt  narkotisierten 
und  dann  getöteten  Tieren  (Verfettung  der  Epithelien  der  gewundenen 
Harnkanälchen),  zweimal  fand  er  „fleckweise  vermehrten  Blutgehalt  der 
Lungen^.  Alles  in  allem  geben  auch  diese  Versuche  keinen  Anhalt, 
warum  bei  in  derselben  Weise  durchgeführter  wiederholter  Narkose  die- 
selbe einmal  ohne  Störung  verläuft,  das  andere  Mal  rasch  tödlich  wirkt. 
Auf  Blutveränderungen  scheint  bei  allen  diesen  Versuchen  nicht  be- 
sonders geachtet  zu  sein,  wenigstens  finden  sich  keine  Bemerkungen 
darüber.  Auch  in  den  mit  Chloroform  angestellten  Versuchen  fand  ich 
nur  einmal  bei  Nothnagel^)  in  seinem  zweiten  Tierversuch  eine  auf- 
fallend dünne  kirschrote  Beschaffenheit  des  Blutes  nach  2V2-stündiger 
Narkose  notiert.  Nothnagel  sprach  schon  damals  (1866)  die  Ver- 
mutung aus,  daß  ein  an  sich  unbedeutender  Zerfall  von  roten  Blutzellen 
eine  schwere  Schädigung  des  Gesamtstoffwechsels  bedeute,  eine  An- 
nahme, die  später  durch  die  Untersuchungen  von  Käst  und  Mester  ^  ®) 

1)  Ungar,  Ueber  tödliche  Nachwirkung  der  Ghloroforminhalationen. 
Zeitschr.  f.  gerichtl.  Med.,  1887. 

2)  Strassmann,  Die  tödliche  Nachwirkung  des  Chloroforms.  Vibchows 
Arch.,  Bd.  115. 

3)  Lindemann,  Ueber  die  Wirkung  der  Aetherinhalation  auf  die 
Lungen.  Centralbl.  f.  allgem.  Path.,  1898. 

4)  Selbach,  Ist  nach  länger  daaemder  Aetherinhalation  eine  tödliche 
Nachwirkung  derselben  zu  befürchten?    Arch.  f.  experm.  Path.,  Bd.  84. 

6)  Lbppmann,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Wirkung  der 
Aethernarkose.   Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.,   Bd.  4,  Heft  1. 

6)  Nothnagel,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1866. 

7)  8)  BLast,  Ueber  Beziehungen  der  Chlorausscheidung  zum  Gesamt- 
stoffwechsel.  Zeitschr.  f.  phys.  Chemie,  1887.  —  Käst  und  Mester,  Ueber 
Stoffwechselstörungen  nach  länger  dauernder  Chloroformnarkose.  Zeitschr. 
f.  klin.  Med.,  Bd.  18,  1891. 

Mittet],  a.  d.  Orrnzfehfeten  d.  Medizin  n.  Chlnirfle.    XIH.  Bd.  37 


566  G.  Engelhardt, 

eine  wesentliche  Stütze  fand.  In  der  Folge  hat  diese  Anschauung  teils 
Zustimmung  [Grübe  ^)  u.  a.],  teils  Ablehnung  [Ungar  <)]  gefunden, 
wenigstens  soweit  dadurch  auch  die  fettige  Degeneration  innerer  Organe 
erklärt  werden  sollte.  Schließlich  haben  dann,  wie  schon  früher  er- 
wähnt, die  neuesten  experimentellen  Arbeiten  Zahl-  und  Formverände- 
rung der  roten  Blutscheiben,  die  aber  durchaus  keinen  Rückschluß  auf 
das  definitive  Zugrundegehen  der  betreffenden  Blutzellen  gestatten,  be- 
rücksichtigt. 

Auch  auf  die  Gerinnbarkeit  des  Blutes  hatte  die  wiederholte  Nar- 
kose in  unseren  Versuchen  keinen  Einfluß,  nur  zweimal  war  uns  eine 
Erhöhung  bei  der  Blutabnahme,  aber  gerade  bei  der  ersten  Narkose, 
aufgefallen,  während  bei  den  späteren  Narkosen,  auch  ohne  daß  eine 
Verwässerung  des  Blutes  durch  Eochsalzinfusionen  damit  in  Zusammen- 
hang zu  bringen  gewesen  wäre,  durchaus  keine  erhöhte  Gerinnungs- 
tendenz zu  beobachten  war.  Eine  länger  bestehende  erhöhte  Gerinnungs- 
fähigkeit des  Blutes  müßte  sich  besonders  bei  gestörter  Zirkulation 
äußern  in  Thrombenbildung.  Klinisch  ist  eine  solche  Thrombenbildung 
gerade  in  und  nach  der  Aethernarkose  anscheinend  sehr  selten  in  die 
Erscheinung  getreten.  Riedel^),  der  zunächst  an  ein  häufigeres  Ein- 
treten von  Thrombose  nach  der  Aethernarkose  glaubte,  ist  dann  doch 
von  dieser  Annahme  auf  Grund  weiterer  eigener  und  fremder  ErÜEih- 
rungen  zurückgekommen. 

Nachdem  nun  durch  das  Tierexperiment  der  Einfluß  einer  längeren 
Narkose  auf  den  Schmelzpunkt  der  roten  Blutkörperchen  festgestellt 
war,  mußte  die  nächste  Aufgabe  sein,  die  Verhältnisse  beim  Menschen 
in  gleicher  Versuchsanordnung  nachzuprüfen.  lieber  Versuche  mit 
reiner  Aethernarkose  kann  ich  nun  leider  nicht  berichten,  da  in  der 
Gießener  chirurgischen  Klinik  außer  der  Ghloroformtropfmethode  nur 
die  GEPPERTsche  Mischnarkose  zur  Anwendung  gelangt.  Die  im  fol- 
genden mitzuteilenden  Versuchsergebnisse  haben  also,  da  die  GEPPERT- 
sche Narkose  vorwiegend  eine  Chloroformnarkose  ist,  mehr  Gültigkeit 
für  die  Verhältnisse  beim  Chloroform  als  beim  Aether.  Auch  die  Be- 
rechnung der  Mengenverhältnisse  des  Chloroformäthergemisches  war, 
da  gewöhnlich  gleichzeitig  von  mehreren  Hähnen  aus  demselben  Apparat 
das  Narkosengemisch  entnommen  wurde,  sehr  erschwert.  Die  an  sich 
sehr  einfache  Berechnung  an  einem  Hahn  stieß  durch  die  öfter  wech- 
selnde Stellung  desselben  auf  einige  Schwierigkeit.  Jedenfalls  sind 
aber  die  Durchschnittsmengen  des  zugeführten  Chloroformäthergemisches 
weit  geringere,  als  sie  mit  der  Tropfmethode  überhaupt  erreicht  werden 


1)  Grube,  Zur  Lehre  von  der  Chloroformnarkose.   Arch.  f.  klin.  Chir., 
Bd.  66. 

2)  1.  c. 

3)  RiEDBL,  Die  Morphium- Aethernarkose.   Berl.  klin.  Wochenschr.,  1896. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       567 

können.  Wir  beschränken  uns  beim  Bericht  über  die  Versuche  auf 
die  Angabe:  Großer  Verbrauch  =  Groß.  V.;  mittlerer  Verbrauch  = 
MitÜ.  V.;  geringer  Verbrauch  =  gering.  V.  Die  hinter  der  Lösung 
angefahrten  Wärmegrade  beziehen  sich  auf  die  Temperatur,  bei  der 
Lösung  der  dem  Körper  entnommenen  und  sofort  oder  kurze  Zeit 
später  in  den  betreffenden  Salzlösungen  untersuchten  roten  Blutzellen 
erfolgte.  Die  Blutentnahme  geschah  aus  der  Fingerkuppe,  indem  der 
Einstich  genfigend  tief  gefflhrt  wurde,  um  das  Blut  frei  und  ohne 
Pressen  zu  gewinnen.  Wir  prüften  die  Schmelzpunkte  in  9,4-proz. 
Rohrzucker-,  0,9-proz.  Kochsalz-  und  5,5-proz.  MgSO^-Lösung  vor  und 
nach  der  Narkose  und  außerdem  in  einigen  wenigen  Fällen  in  äther- 
haltigen  Salzlösungen. 


1)  Vs'Stündige  Narkose. 
22-jälir.  Mädchen.     Exstirpation  tuberkulöser  Halsdrüsen.    Groß.  V. 


Vor  der  Narkoee 

Kochsalzlöeung  67  ^ 

BohizuckerlöBung       69  * 


Nach  der  Narkoee 

67^ 


20-jähr.  Mädchen.  Auskratzung  bei  Tuberkulose  der  Fußwurzeelknochen, 
MitÜ.  V. 

Vor  der  Narkoee 


Kochsalzlöeung 
MgSO^-Löeung 
BonrzuckerlöBUDg 


66,5° 

69° 

66,5° 


Nach  der  Narkose 
dieselben  Werte 


55-jähr.  Frau.     Probelaparotomie  bei  inoperabelem  Gallenblasen-  und 
Pyloruscarcinom.     Mittl.  V. 


Vor  der  Narkose 

Nach  der  Narkose 

Kochsalzlösung           67  ° 
MgSO.-Lösung           68,5° 
Rohrzuckerlösung      66° 

die  gleicJien  Zahlen 

.50-jähr.  Mann.     Verletzung.     Mittl.  V. 

Vor  der  Narkose 

Nach  der  Narkose 

Kochsalzlösung           67° 
MgSO^-Lösung           Ö8,5° 
Eoiuxuckerlöeung      67  ° 

die  gleichen  Zahlen 

2)  V4-stündige  Narkose. 

dö-jähr.  Prau.     Probelaparotomie  bei  Magencarcinom. 

Vor  der  Narkose 

Nach  der  Narkose 

Eohrzuckerlösung       66° 
MgS0,-Lö6ung           67° 
Kochsalzlösung          67  ° 

65° 
67° 
66,5" 

3)  1-stündige  Narkose. 

50-jähr.  Frau.     Drainage  der  Gallenblase.     Gering.  V. 

Vor  der  Narkose 

Nach  der  Narkose 

Rohrzuckerlösung      69  ° 
Mg80,-Lö8ung           69° 
Kochsalzlösung           67 ,5  ° 

63° 

68,5° 

66,5° 

Mittl.  V. 


37* 


568 


G.  Engelhardt, 


15-j&hr.  Junge.    Nabelhernie. 

Vor  der  Narkose 

Bohrznckerlösung      67  ^ 
MgS0,-Lö6iing  69  <" 

Kochsalzlösung  67® 

22-j&hr.  Mädchen.     Cholecystektomie.     MittL  V. 


Gering.  V. 

Nach  der  Narkose 

66* 
67« 
65« 


Vor  der  Narkose 


Bohrzuckerlösung 

MgSO.-Lösung 

Kochsalzlösung 


67« 
68« 
67« 


dO-jähr.  Frau.     Cholecystektomie. 

Vor  der  Narkose 

Eohrzuckerlösung      67 « 
MgÖO^-Lösung  69« 

Kochsalzlösung  67« 


Nach  der  Narkose 

65^« 

68« 

65« 

Mitti.  V. 

Nach  der  Narkose 

67« 

68^« 

67« 


4)  iVi-sttindige  Narkose. 

S5-jiLhr.  Frau.     Cholecystektomie.     Groß.  V. 

Vor  der  Narkose  !  Nach  der  Narkose 

Bohrzuckerlösung      67«       |  64« 

Kochsalzlösung  67«       |  64« 

Lange,  2  Tage  anhaltende  Nachwirkung  der  Narkose. 


75-jähr.  Mann. 


5)  iVs-stündige  Narkose. 
Peniscarcinom  mit  Drüsenmetastasen. 


Groß.  V. 


Vor  der  Narkose 


Kochsalzlösung 
Bohrzuckerlösung 


dO-jähr.  Mann. 


6  Std.  nach  der  Narkose 

67« 
64,5« 

Tuberkulöse  Halsdrüsen.     Groß.  V. 


.67« 

PRO 


Vor  der  Narkose 

Kochsalzlösung  67  <> 

MKÖ0,-LÖ8ung  68« 

B^irzuckerlösung      67  <» 


Nach  der  Narkose 

65« 
68« 
64,5« 


20-jähr.  Mann. 


6)  l»/4 -stündige  Narkose. 
Doppelseitige  Leistenhernie.     Mittl. 


Vor  der  Narkose 


Kochsalzlösung 
Bohrzuckerlösung 


67,5« 
67« 


Nach  der  Narkose 

64« 
64« 


57-j&hr.  Frau.     Sarkom  des  Oberkiefers.     Mittl.  V. 


Vor  der  Narkose 


Kochsalzlösung 
MgSO^-Lösung 
BonrzuckerlÖsuDg 


67,5« 

68« 

67« 


52-jähr.  Mann.     Coecumcarcinonu 

Vor  der  Narkose 

Kochsalzlösung  68« 

MeSü^-Lösung  68,5« 

Rohrzuckerlösung      67,5« 


Nach  der  Narkose 

67« 
68« 
66« 

Gering.  V. 

Nach  der  Narkose 

66,5« 
67,5« 
65,5« 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       569 

In  indifferenten  Lösungen  nnd  ätherhaltigen  Salzlösungen  wurde 
der  Schmelzpunkt  bestimmt  vor  und  nach  der  Narkose  in  folgenden 
Fällen. 

1-stündige  Narkose. 
37-jfthr.  Frau.     Cholecystektomie.     Groß.  V. 


Vor  der  Narkose 


KochsalzlösuDg  66" 

EohrzuckerlöBUDg  66^ " 
4-proz.  Aether-Koch- 

ealzlÖBUDe  49 " 
4-proz.  Aetner-Bohr- 

zuckerlöeuDg  49 " 


Nach  der  Narkoee 

66" 
65,5  • 

49" 

r)0« 


1^/2-stfindige  Narkose. 

58-jähr.  Mann.     Rectamcarcinom.     Groß.  V.  (schlechte  Narkose). 
Vor  der  Narkose  I  Nach  der  Narkose 


Kochsalzlösung  67»  66" 

BohrzuckerlösuDg  67" 
4-proz.  Aether-Koch- 

salzlöBUDff  50" 
4-proz.  Aether-Bohr- 

zuckerlösung  50"       |  51,5 


64" 
52" 


49-jähr.  Frau.     Empyem  der  Gallenblase.     Choledochusverschluß   (seit 
5  Monaten  hochgradiger  Ikterus).     Gering.  V. 


Vor  der  Narkose 

Kochsalzlösung  67" 

Bohrzuckerl  öBUDg  61 " 
4-proz.  Aether-Koch- 

salzlösuuR  50" 
4-proz.  Aether-Bohr- 

zuckerlösuDg  46 " 


Nach  der  Narkose 

56" 
50" 
48" 


Während  somit  der  Schmelzpunkt  nach  kurzer  Narkose  nicht  her- 
abgesetzt ist  (nur  einmal  zeigte  er  nach  V2~stündiger  eine  Erniedrigung 
um  3^),  ist  er  nach  längerer  gewöhnlich  erniedrigt,  wenn  auch  nicht 
entsprechend  der  Dauer  der  Narkose.  Nach  längerer  Narkose  geht  die 
Herabsetzung  in  den  verschiedenen  Salzlösungen  so  ziemlich  parallel, 
wenigstens  in  der  Kochsalz-  und  Rohrzuckerlösung,  während  in  der 
MgSO 4 -Lösung  nur  einmal  eine  deutliche  Herabsetzung  zu  beobachten  war. 

Andererseits  fand  sich  des  öfteren  nur  in  der  Rohrzuckerlösung 
der  Schmelzpunkt  auf  64"  auch  bei  kürzerer  Narkose  erniedrigt  oder 
wies  von  Anfang  an  allein  eine  derartige  Erniedrigung  auf,  welch  letztere 
nach  den  Untersuchungen  von  Koppe  0  noch  als  in  den  Bereich  des 
Normalen  fallend  betrachtet  werden  muß.  Bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  der  lackfarbenen  Flüssigkeit  waren  in  allen  Salzlösungen 
neben  zahlreichen  geschrumpften  und  zerstörten  roten  Blutkörperchen 
wenigstens  einige   der   Form   nach   erhaltene,   wenn   auch   etwas  ver- 

1)  1.  c. 


570  G.  Engelhardt, 

kleinerte,  Blutzellen  vorhanden.  Es  scheint  somit,  daß  sich  die  Erythro- 
cyten  gegen  die  Erhitzung  nicht  alle  gleich  widerstandsfähig  verhalten, 
einige  wenige  wenigstens  in  ihrer  Form  durch  Hitzegrade  nicht  beein- 
flußt werden,  denen  die  meisten  erliegen.  In  den  wenigen  mit  äther- 
haltigen  Salzlösungen  ausgeführten  Versuchen  ergab  sich  in  Analogie 
mit  unseren  Tierversuchen  keine  Herabsetzung,  eher  eine,  wenn  auch 
nur  sehr  geringe  Erhöhung  des  Schmelzpunktes  direkt  nach  der  Nar- 
kose. Wir  möchten  aber  auf  die  letzten  Befunde  hier  beim  Menschen, 
da  die  Versuche  wegen  der  Verwendung  des  Narkosengemisches  keine 
genügende  Beweiskraft  besitzen  können,  keinen  sehr  großen  Wert  legen. 
Gesunde,  mit  bösartigen  Geschwülsten  behaftete  und  schließlich  Gallen- 
blasenpatienten, zum  Teil  mit  Ikterus,  machen  bezüglich  des  Schmelz- 
punktes vor  wie  nach  der  Narkose  keinen  erheblichen  Unterschied.  Der 
vorletzte  Versuch  einer  49-jährigen  Frau  mit  schon  lange  bestehendem 
Ikterus  ergab  nun,  in  der  Rohrzuckerlösung  wenigstens,  schon  vor  der 
Narkose  einen  außergewöhnlich  tiefen  Schmelzpunkt  (61  ^).  Es  war 
naheliegend,  dies  nicht  als  bloßen  Zufall  zu  betrachten;  vielleicht  war 
durch  eine  vermehrte  Bindung  der  im  Blute  kreisenden  Gallen- 
säuren an  die  roten  Blutkörperchen,  die  sich  ja  auch  in  den  Lipo- 
iden dieser  Zellen  lösen  müssen,  wenn  die  zur  Narkose  nötige  Menge 
Aether  noch  dazu  aufgenommen  wurde,  eine  Auflösung  der  roten 
Blutzellen  schon  bei  niederer  Temperatur  herbeigeführt  worden.  Er- 
fahrungsgemäß brauchen  aber  nun  gerade  Patienten  mit  hochgra- 
digem Ikterus  für  gewöhnlich  auffallend  wenig  Chloroform  oder 
Aether;  es  wäre  daher  sehr  wohl  möglich,  daß  bei  derartigen  Kranken 
eine  geringere  Menge  des  Narcoticums  zur  Narkose  ausreichend  ist 
und  wirklich  aufgenommen  wird.  Hierdurch  würde  natürlich  einem 
ausgedehnteren  Untergang  der  roten  Blutkörperchen  auch  vorgebeugt 
werden  können. 

Wir  nahmen  nunmehr  bei  verschiedenen  Patienten  Untersuchungen 
vor,  um  zu  sehen,  ob  bei  bestimmten  Erkrankungen  schon  vor  der 
Narkose  ein  abnorm  tiefer  Schmelzpunkt  der  roten  Blutkörperchen  zu 
beobachten  sei. 

41 -jähr.  Frau.  Empyem  der  Gallenblase.  Rezidivierender  Ikterus, 
zur  Zeit  nicht  ausgeprägt. 

Kochsalzldsang  67®    |    Mg80«-Lö8ung  68* 

43-jähr.  Trau.     Choledochusverschluß.     Ikterus  seit  14  Tagen. 

EochsalzlÖBimg  66^    1    4-prQz.  Aether-EochBalzIöeung  51° 

BohrzuckerlÖeung  d6®    |    4-proz.  Aether-BohrzuckerlösuDg         51* 

58-jähr.  Frau.     Inoperables  Oberkiefersarkom. 

Kochsalzlösung  67°    1    4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  50* 

Bohrzuckerlösung  64 '^    {    4-proz.  Aether-BohrzuckerlÖsmig        50* 


Neue  Oesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethernarkose.       571 

1^/2-jähr.  Kind.     Myelogene  Leukämie. 

Kochsalzlöeung  66^        4-proz.  Aether-KocbsalzlöBUDg  46® 

RohrzuckerlÖBung  64°        4-proz.  Aether-BohrzuckerlÖBUDg 

(schon  bei  Zimmertemperatur) 
Mikr.  neben  zusammengeballten  Haufen  deformierter  roter  Blutkörperchen  zahl- 
reiche einzeln  liegende,  wohlerhaltene  weifie  filutzellen. 

23-jähr.  Mädchen.  Protrahierte  Sepsis.  Innerhalb  16  Tagen  20  Itr. 
Kochsalzlösung  (0,75-proz.).  Blutuntersuchung  1  Tag  nach  Beendigung 
der  Infusionen. 

Kochsalzlösung  66°    1    4-proz.  Aether-Eochsalzlöeung  51° 

Bohrzuckerlösung  66°    |    4-proz.  Aether-Bohrzockerlösung        49* 

10-jähr.  Junge.     Schwere,  aber  ausheilende  Osteomyelitis. 

Kochsalzlösung  65  ° 

Bohrzuckerlöeung  bei  48°  lackiges  Gerinnsel 

„  „  66°  Tollkommen  lackfarben 

4-proz.  Aether-Kochsalzlösung     49° 
4-proz.  Aether-Bohrzuckerlösung50° 

10-jähr.  Mädchen.     Schwere,  bald  darauf  letale  Osteomyelitis. 

Kochsalzlösung  66°    1     4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  46° 

Bohrzuckerlöeung  65°    |    4-proz.  Aether-Bohrzuckerlöeung        45° 

56-jähr.  Frau.  Inoperables  ulceriertes  Mammacarcinom  mit  Drüsen- 
metastasen. 

Kochsalzlösung  66°    I    4-proz.  Aether-KochsalzlöBung  50° 

Bohrzuckerlösung  66°    |    4-proz.  Aether-BohrzuckerlÖeung        49° 

39-jähr.  Frau.  Nephropexie.  Cholecystektomie.  17  Tage  nach  der 
l^js-stündigen,  durch  2  kurz  dauernde  Asphyxien  (bei  ungestörter  Herz- 
tätigkeit) unterbrochenen  Narkose  Blutuntersuchung. 

Kochsalzlösung  66°    |    4-proz.  Aether-Kochsalzlösung  50° 

Bohrzuckerlösung  67°    |    4-proz.  Aether-Bohrznckerlöeung        48* 

68-]&hr.  Frau.  Vor  8  Tagen  1 -stund.  Narkose  wegen  Empyem  der 
Gallenblase  (Cholecystostomie).  Tod  an  Lungenembolie.  3  Stunden  altes 
Leichenblut  (linker  Ventrikel). 

Kochsalzlösung  65  ° 

Bohrzuckerlösung  bei  Zimmertemperatur 

4-proz.  Aether-^xshsalzlöeung  46° 

Abnorm  tiefe  Schmelzpunkte  der  roten  Blutkörperchen  vor  der 
Narkose  haben  wir  bei  der  geringen  Zahl  der  untersuchten  Fälle  nur 
bei  dem  P/^-jährigen  Kinde  mit  myelogener  Leukämie  und  dem  Jungen 
mit  Osteomyelitis,  aber  hier  nur  f&r  die  Rohrzuckerlösung  gefunden, 
während  bei  den  Patienten  mit  Ikterus  keine  Herabsetzung  des  Schmelz- 
punktes zu  konstatieren  war.  Im  Gegenteil  war  wenigstens  in  den 
4-proz.  Aethersalzgemischen  der  Schmelzpunkt  hier  gegen  die  Norm 
etwas  erhöht.  Allerdings  standen  uns  Fälle  mit  chronischem  Ikterus, 
bei  denen  am  ehesten  Veränderungen  zu  erwarten  gewesen  wären, 
nicht  zur  Verfügung.  Bei  dem  Kinde  mit  Myelämie  war  die  Erniedri- 
gung sowohl  in  der  Rohrzuckerlösung  wie  in  der  4-proz.  Aether-Rohr- 
zuckerlösung  recht  eklatant,  wenn  auch  noch  für  die  indifferente  Lösung 


572  G.  Engelhardt, 

innerhalb  normaler  Grenzen.  Die  Widerstandsfähigkeit  der  weißen  Blut- 
zellen gegen  hohe  Temperaturen  trat  hier  unter  dem  Mikroskop  sehr 
deutlich  zu  Tage.    Während  die  deformierten  roten  Blutkörperchen  wie 
agglutiniert  in   einzelnen    Haufen  zusammen  lagen,    fanden    sich  die 
Markzellen  vollkommen  in  ihren  Konturen  erhalten  und  einzeln  liegend. 
Es  wäre   nun  des  weiteren  von  großer  Wichtigkeit  gewesen,  bei 
einer  Reihe  von  Krankheiten,  bei  denen  das  Blut,  sei  es  nach  Zahl 
und  Art  der  Blutzellen,  sei  es  nach  der  Beschaffenheit  des  Blutplasmas, 
in  tiefgreifender  Weise  verändert  ist,  systematische  Untersuchungen  be- 
züglich des  normalen  Schmelzpunktes  der  roten  Blutkörperchen  anzu- 
stellen. Leider  war  uns  dieses  aus  äußeren  Grtlnden  unmöglich.  Gerade 
auch  für  den  Diabetes,  bei  dem   des  öfteren  mit  der  Grundkrankheit 
zusammenhängende  Gangrän,  Phlegmonen  u.  s.  w.  Anlaß  zu  bisweilen 
wiederholter  Narkose  geben,  dürften  eingehendere  Untersuchungen  ein 
Resultat  versprechen.     Berücksichtigt  man,  daß  hier  unter  Umständen 
das  Blutplasma  abnorme  Mengen  von  Fett  führt,   so  daß  es  zu  einer 
Art  von   Lipämie   bezw.  Cholesterämie  kommt,  so   erscheint   es  sehr 
wohl  denkbar,  daß  in  der  Narkose  durch  Aufiiahme  abnormer  Mengen 
des  Narcoticums,  die  an  das  kreisende  Fett  gebunden  werden,  bei  vor- 
handener   anormaler   Blutbeschaffenheit   der   körperlichen   Bestandteile 
des   Blutes,    akut    hämolytische   Vorgänge   ausgelöst   werden   können. 
Auf  die  unberechenbare  Wirkung  der  Narkose,  sowohl  der  Chloroform- 
wie  der  Aethernarkose,  wies  Becker^)  hin  und  zwar  besonders  an  der 
Hand  eines  eigenen  Falles,  der  einmal  eine  zur  Untersuchung  vorge- 
nommene Aethernarkose  von  20  Minuten  glatt  überstand,  um  15  Tage 
später  einer  zweiten,  nur  10  Minuten  dauernden  unter  den  Erschei- 
nungen des  Lungenödems  zu  erliegen.    Zur  Erklärung  wird  der  beim 
Diabetes  erhöhte  Eiweißzerfall   und  die  erhöhte  Toxizität  des  Blutes 
bezw.  Urins  herangezogen.    Die  Operationsgefahr  für  den  Diabetiker 
besteht  nun  nicht  immer  in  der  Allgemeinnarkose,  wie  von  verschie- 
denen  Seiten   mit  Recht  hervorgehoben   wurde,   da   auch   bei  lokaler 
Anästhesie  dieselben  Zwischenfälle  beobachtet  werden  können  und  scheint 
überhaupt  übertrieben,  da  eben,  was  Körner^)  besonders  betont,   nur 
die  ungünstig  verlaufenen  Fälle  in  die  Statistik  übergehen,  während  die 
latenten  Diabetiker,  die  als  solche  nicht  erkannt   werden  und  Narkose 
und  Operation  glatt  überstehen,  der  Statistik   vollkommen   entgehen. 
KÖRNER  berechnet,   daß  von  39   wegen  akuter   Mastoiditis   operierten 
Diabetikern  nur  3  an  postoperativem  Koma  zu  Grunde  gegangen  sind. 
Immerhin  wäre  es  nicht  undenkbar,  daß  in  den  übrig  bleibenden  Fällen 

1)  Becker,  Die  Gefahr  der  Narkose  £üi  die  Diabetiker.  Dtsch.  med. 
Wochenschr.,  1894. 

2)  KöRNBB,  Untersuchungen  und  Erfahrungen  über  den  Einfluß  von 
Operationen  auf  den  Verlauf  und  Ausgang  des  Diabetes  melL,  Mitteil, 
a.  d.  Grenzgeb.,  XII,  5. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       573 

derartige  Faktoren  eine  Rolle  spielen.  Ein  schnell  eintretendes  Koma 
bildet  nicht  einmal  die  ausschließliche  Operationsfolge;  gerade  in  den 
von  Becker  zitierten  Fällen  wird  öfter  Lungenödem,  dessen  Zusammen- 
hang mit  der  Aetherwirkung  noch  plausibler  auf  der  Hand  läge,  als 
unmittelbare  Todesursache  genannt.  Das^)  nachträgliche  (aber  immer 
schnell  nach  der  Operation)  Eintreten  der  den  Exitus  veranlassenden 
Komplikation  würde  kein  Gegengrund  sein,  da  einmal  der  Aether  oft 
tagelang  im  Gewebe  festgehalten  wird  und  postoperative  Fiebersteige- 
rungen mit  Erhöhung  der  Körpertemperatur  um  mehrere  Grade  die 
Katastrophe  eintreten  lassen  könnten.  Wir  sind  aber  weit  davon  ent- 
fernt, hierin  mehr  als  eine  unter  Umständen  vielleicht  in  Betracht 
kommende  Möglichkeit  sehen  zu  wollen.  Des  weiteren  wären  bei  Alko- 
holisten  schon  vor  der  Narkose  beträchtliche  Alterationen  des  Schmelz- 
punktes der  roten  Blutzellen  zu  erwarten  gewesen,  da  der  Alkohol  zu 
einem  erheblichen  Prozentsatz  im  Blute  kreist  und  an  die  Erythrocyten 
gebunden  wird,  allerdings  auch  wohl  rasch  zur  Ausscheidung  gelangt. 
Nun  waren  allerdings  zum  Teil  unsere  untersuchten  Patienten  Alko- 
holiker mit  unruhiger  Narkose,  aber  immerhin  doch  mäßigen  Grades. 
Wieviel  von  dem  aufgenommenen  Chloroform  oder  Aetiier  in  der 
Narkose  bei  Alkoholikern  an  die  roten  Blutkörperchen  gebunden,  wie 
viel  in  dem  bei  ihnen  gewöhnlich  sehr  reich  entwickelten  Fettgewebe 
des  Körpers  aufgenommen  wird,  läßt  sich  auch  nicht  entscheiden.  Es 
ist  auch  hier  sehr  wohl  denkbar,  daß  bei  chronischen  Alkoholisten  in 
der  Narkose  von  den  roten  Blutzellen  entsprechend  weniger  von  dem 
Narcoticum  aufgenommen  wird.  Weiter  wären  Untersuchungen  an 
Patienten  mit  chronischem  Gebrauch  von  Arzneimitteln,  die  blut- 
körperchenzerstörend wirken  können  (Chloralhydrat,  Chinin,  Sulfonal), 
bei  Malariakranken  etc.  erwünscht  gewesen.  Schließlich  würden  aber 
auch  möglichst  ausgedehnte  Untersuchungen  bei  ganz  gesunden  Indi- 
viduen von  großem  Wert  sein.  Wie  oft  wird  wider  alles  Erwarten 
eine  Narkose  durch  schwere  Zufalle  gestört,  ohne  das  man  diese  auf 
Herzsynkope  beziehen  kann,  während  z.  B.  gerade  die  früher  gefürch- 
teten Narkosen  bei  Kranken  mit  Herzklappenfehlern  in  der  Regel  glatt 
verlaufen.  Daß  an  diesen  Komplikationen  des  öftern  ein  abnormes 
Verhalten  der  roten  Blutzellen  die  Schuld  sein  könne,  ist  schon  öfter 
vermutungsweise  geäußert,  man  redet  dann  von  einer  Idiosynkrasie  der 
betreffenden  Individuen  gegen  Chloroform  oder  Aether,  ohne  diese 
Zwischenfälle  mit  Rückwirkungen  auf  nervöse  Organe  in  Zusammenhang 
bringen  zu  können.  Oder  es  wird  ein  verschiedenes  Verhalten  der 
einzelnen  roten  Blutzellen  gegen  das  Narcoticum  angenommen  [Landow^)], 
indem  ein  Teil  zu  Grunde  geht,  andere  erhalten   bleiben.    Erinnert  sei 


1)  Landow,  Zur  Kasuistik  der  Magenblutung  nach  Bauchoperationen. 


Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  66. 


574  G.  Engelhardt, 

auch  an  das  von  Zöge  von  Manteüpfel^  beobachtete  Vorkommen 
von  schweren  Zufällen  nach  Gebrauch  einer  besimmten  Marke  besonders 
reinen  Chloroforms,  das  wieder  mit  einer  unter  besonderen  Umständen 
zu  Tage  tretenden  Giftwirkung  des  Narcoticums  auf  die  roten  Blut- 
zellen in  Zusammenhang  gebracht  werden  kann. 

Mußten  somit  eine  Reihe  von  Fragen  unerledigt  bleiben,  so  sind 
doch  die  Resultate  der  Experimente  interessant  genug.  Vor  allem  die 
Erhöhung  der  Resistenz  der  roten  Blutkörperchen  in  der  Narkose. 
Daß  wir  mit  der  von  uns  durch  die  Experimente  am  Tier  fast  aus- 
nahmslos festgestellten  Erhöhung  des  Schmelzpunktes  der  roten  Blut- 
zellen in  der  Narkose  es  mit  einem  an  sich  sehr  wunderbaren  und 
äußerst  interessanten  Vorgang  zu  tun  haben,  wurde  schon  erwähnt. 
Man  darf  sich  diesen  Vorgang  aber  nicht  als  eine  Art  von  vorüber- 
gehend erworbener  Immunität  der  Zellen  vorstellen,  denn  es  wäre 
schwer  einzusehen,  wie  eine  Zelle  gegen  ein  dem  Körper  einverleibtes 
Gift  für  die  Dauer  der  Narkose  bezw.  solange  als  dasselbe  in  den 
Körpergeweben  haften  bleibt,  immun  werden  könne,  diese  Eigenschaft 
aber  sofort  nach  dem  Verschwinden  des  Giftes  aus  dem  Körper  ver- 
lieren sollte,  ohne  daß  das  betreffende  Gift  chemisch  an  die  Zelle  des 
Körpers  gebunden  wird.  Schon  dieser  letztere  Umstand,  daß  eben 
keine  feste  chemische  Bindung  des  Narcoticums  an  die  roten  Blut- 
körperchen und  an  die  Ganglienzellen  des  Gehirns  stattfindet,  schließt 
es  vollkommen  aus,  an  eine  Immunisierung  im  Sinne  von  Ehrlich  u.  a. 
zu  denken.  Auch  mit  dem  von  Meyer-Ovbrton  ^)  aufgestellten  und 
wohlbegründeten  Gesetz  der  auswählenden  Löslichkeit,  d.  h.  einer  streng 
gesetzmäßigen  Verteilung  des  Narcoticums  zwischen  Blutplasma  und 
roten  Blutzellen  lassen  sich  diese  Befunde  etwas  schwer  in  Einklang 
bringen,  da  man  annehmen  müßte,  daß  die  narkotisierten  roten  Blut- 
scheiben in  der  Aethersalzlösung  gegenüber  den  nicht  narkotisierten 
wegen  ihres  Mehrgehalts  an  Aether  eine  Herabsetzung  ihres  Schmelz- 
punktes zeigen  würden.  Es  sei  aber  nochmals  die  Schwierigkeit  be- 
tont, unsere  Reagenzglasversuche  mit  den  Vorgängen  im  Körper 
während  der  Narkose  in  Vergleich  zu  setzen.  Daß  der  Schmelzpunkt 
in  vitro  ätherisierter  roter  Blutscheiben  in  indifferenten  Lösungen  er- 
niedrigt, in  ätherhaltigen  nicht  merklich  verändert  ist,  haben  uns  andere 
Versuche  ergeben,  von  denen  ein  Beispiel  hier  angeführt  sei. 

Schweineblutkörperchen  werden  bei  15<>  Zimmertemperatur  18  Stunden 
lang  in  l-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung  ätherisiert,  1  Tropfen  der  ätheri- 
sierten roten  Blutscheiben  in  5  com  der  folgenden  Lösungen  gebracht  und 
sofort  untersucht. 


1)  Zöge  von  Mantbuffel,  Ueber  Spättodesfälle  nach  Narkose.  St.  Peters- 
burg, med.  Wochenschr.,  1895. 

2)  1.  c. 


Neue  Gesichtspunkte  in  der  Beurteilung  der  Aethemarkose.       575 

£8  erfolgt  Hamolyse  der  nicht  ätherisierten  roteui  der  ätherisierten  Blutkörperchen 
in  Rohrzuckerlösung  bei  68  •  67  •* 

in  1-proz.  Aether-BohrzuckerlÖsung    63^  64^ 

2.  Frische  Katzenblutkörperchen  */,  Stunde  bei  15^  R  in  3-proz. 
Aether-Erohrzuckerlösung   ätherisiert,   dann  in   gleicher  Weise   untersucht 

Es  erfolgt  Auflösung  der  nicht  ätherisierteD,  der  ätherisierten  roten  Blutkörperchen 
in  Rohrzuckerlösung  bei  68  "*  66  <^ 

in  3-proz.  Aether-Rohrzuckerlösung    56^°  56,5® 

Wir  glauben,  in  dieser  Resistenzerhöhung  der  roten  Blutscheiben 
in  der  Narkose  um  so  eher  einen  zweckmäßigen,  wenn  uns  auch  vor* 
läufig  absolut  unerklärbaren  Vorgang  sehen  zu  dürfen,  als  wir  nach  Unter- 
suchungen von  Lang^)  vermuten  können,  daß  der  Körper  sich  auch 
gegen  andere  hämolytisch  wirkende  Gifte,  wie  die  Toxine  des  Carcinoms 
und  der  Sepsis,  in  eigentümlicher  Weise  schützt.  Beim  Carcinom  und 
bei  septischen  Zuständen  konnte  wenigstens  nachgewiesen  werden,  daß 
die  roten  Blutscheiben  insofern  an  Resistenz  zunehmen,  als  sie  gegen 
eine  Erniedrigung  des  osmotischen  Druckes  weniger  empfindlich  werden, 
d.  h.  weniger  leicht  aufquellen.  Ein  gleiches  wurde  nun  für  die  roten 
Blutkörperchen  in  der  Narkose,  wenigstens  nach  den  Untersuchungen 
von  Bacgarani-Solimei ')  nicht  nachgewiesen,  der  im  Gegenteil  bei 
langdauemder  Narkose  eine  Herabsetzung  des  ^Isotonismus*^  des  Blutes 
fand.  Beide  Vorgänge,  die  Erhöhung  der  Resistenz  gegen  Aetherwir- 
kung  und  gegen  die  Erniedrigung  des  osmotischen  Druckes,  haben 
nichts  miteinander  zu  tun,  da  ja  die  Aetherwirkung  auf  einer  direkten 
chemischen  Inangriffnahme  der  snpponierten  fettlöslichen  Oberflächen- 
scbicht  der  roten  Blutzellen  beruht,  also  die  semipermeable  Membran 
der  Erythrocjten  direkt  angreift  und  zum  „Schmelzen^  bringt,  aber 
ohne  daß  für  den  Hämoglobinaustritt  Druckunterschiede  zwischen  der 
Außen-  und  Innenflüssigkeit  verantwortlich  zu  machen  wären.  Auch 
ist  nicht  anzunehmen,  daß  ein  einmal  eingeleiteter  Zerfall  von  roten 
Blutzellen  die  molekulare  Konzentration  des  Blutplasmas  so  erhöht,  daß 
durch  Unterschiede  des  osmotischen  Druckes  zwischen  Blutplasma  und 
den  erhaltenen  roten  Blutzellen  ein  neuer  Untergang  von  Erythrocjten 
herbeigeführt  wird.  Dagegen  sind  auch  noch  in  anderer  Weise  schäd- 
liche Einwirkungen  auf  die  roten  Blutkörperchen  in  der  Narkose  denk- 
bar. KÖPPE  hat  nachgewiesen,  daß,  während  im  alkalischen  Serum 
die  roten  Blutscheiben  sich  unverändert  erhalten,  eine  Auflösung  er- 
folgt, wenn  in  dem  Serum  die  Zahl  der  hämolytisch  wirkenden  OH- 
lonen  eine  abnorm  hohe  wird.  Die  Zahl  der  OH-Ionen  im  Serum  wird 
aber  eine  abnorm  hohe  werden  bei  starker  Kohlensäureüberladung  des 
Blutes,  wie  sie  z.  B.  bei  der  sogenannten  Erstickungsmethode  der  Aether- 


1)  Lang,   Ueber   die  Resistenz   der  roten  Blutkörperchen  gegen  hyp- 
isotonische  Kochsalzlösungen  bei  Magenkrebs.     Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  1902. 

2)  1.  c. 


576  G.  Engelhardt, 

narkose  zu  stände  kommt.  Der  Vorgang  beruht  auf  der  Tatsache,  daß 
CO^haltige  Blutkörperchen  eine  kochsalzhaltige  Lösung,  wie  sie  das 
Blutserum  darstellt,  stark  alkalisch  machen.  Bezüglich  der  näheren  Er- 
klärung dieses  Vorganges  sei  auf  Köppes  Physikalische  Chemie,  p.  63 
verwiesen.  Also  auch  bei  CO^-Ueberladung  des  Blutes  könnte  ähnlich 
wie  in  der  alkalischen  TAVELschen  Lösung,  wobei  auch  wieder  Zeit  und 
Temperatur  eine  Rolle  spielen,  Auflösung  von  roten  Blutkörperchen  zu 
Stande  kommen.  In  der  Regel  scheint  dieser  Faktor  jedoch  bedeu- 
tungslos zu  sein,  da  Bacgarani-Solimei  in  der  Narkose  gerade  eine 
Abnahme  des  Alkaligehaltes  des  Blutes  fand. 

Alle  diese  schädigenden  Momente  kommen  aber  nun  in  der  Narkose 
nicht  nur  für  die  roten  Blutkörperchen,  an  denen  wir  sie  allein  prüfen 
können,  in  Betracht,  sondern  auch  für  die  übrigen  Organzellen  ^).  Es 
ist  wahrscheinlich,  daß  die  Zellen  der  großen  parenchymatösen  Organe, 
die  Leberzellen,  Nierenepithelien  etc.  in  ähnlicher  Weise,  wenn  auch 
für  das  Auge  des  Anatomen  nicht  immer  erkennbar,  geschädigt 
werden  können,  wie  die  roten  Blutkörperchen.  Allerdings  wird  für 
diese  das  Verhalten  ein  ganz  anderes  sein,  da  deren  Gehalt  an  Lipoiden 
ein  anderer,  in  der  Regel  geringerer  sein  wird.  Die  Leberzelle  wird 
daher,  wie  Gottlieb')  mit  Recht  sagt,  in  der  Regel  erst  geschädigt 
werden,  wenn  die  Narkose  vom  Gehirn  aus  schon  lange  tödlich  gewirkt 
hat.  Aber  noch  ein  Organ  kommt  in  Betracht,  welches  doch  als  Ein- 
gangspforte des  Aethers  betrachtet  werden  muß,  die  Lunge.  Hier  ist 
es  wieder  in  erster  Linie  die  Schleimhaut  der  gröberen,  das  Epithel 
der  feineren  Luftwege,  welches  als  Durchgangsstation  dient,  und  dann 
vor  allem  die  Endothelien  der  die  Alveolen  umspinnenden  Kapillaren. 
Die  sogenannte  Reizwirkung  des  Aethers  ist  bekannt;  bedeutungsvoll  er- 
scheint uns  ein  Befund,  der  sowohl  klinisch  von  Zöge  v.  Manteüffel^), 
wie  experimentell  an  in  der  Narkose  zu  Grunde  gegangenen  Tieren 
von  uns  und  anderen  erhoben  wurde,  Lungenödem  und  Lungenblutungen. 
Gerade  letztere  als  einziger  Obduktionsbefund  in  Fällen,  in  denen  nicht 
mehr  Aether  als  gewöhnlich  verbraucht  wurde,  wiesen  darauf  hin,  daß 
unter  Umständen  die  Kapillarendothelien  so  erheblich  geschädigt  werden 
können,  daß  sie  den  roten  Blutkörperchen  den  Durchtritt  gestatten. 
Auf  den  weiteren  Befund,  den  wir  nicht  selten  mikroskopisch  in  den 
Lungen  konstatierten,  den  einer  ganz  eng  begrenzten  desquamativen 
Pneumonie  (ein  Alveolarbezirk,  vollgestopft  mit  abgestoßenen,  stark 
verfetteten  Alveolarepithelien),  möchten  wir  kein  großes  Gewicht  legen. 


1)  Vergleiche  die  Versuche  von  Bunoe  (Dtsch.  med.  Wochenschrift 
1898,  Vereinsbeilage  S.  254),  der  die  Resistenz  der  gewöhnlichen  Ver- 
suchstiere gegenüber  Allgemeininjektionen  durch  die  Narkose  herabge- 
setzt fand. 

2)  1.  c. 

3)  1.  c. 


Neue  Oesichtspunkte  in  der  Bearteilnng  der  Aethemarkose.       577 

Aber  das  ganze  Lungengewebe  ist  unter  Umständen  dieser  Schädigung 
durch  die  Narkose  ausgesetzt,  ohne  daß  eine  Pneumonie  die  Folge 
wäre  oder  die  Schädigung  sonst  sichtbar  zu  Tage  träte.  Das  beweisen 
die  hochinteressanten  Experimente  von  Snel^),  der  in  der  Narkose  die 
baktericide  Kraft  der  Meerschweinchenlunge  beträchtlich  herabgesetzt 
fand,  so  daß  die  Tiere  bei  gleichzeitig  eingeleiteter  Narkose  Infektionen 
erlagen,  die  sie  sonst  überstanden,  soweit  diese  Narkose  durch  fettlös- 
liche Stoffe,  Aether,  Chloroform  und  Chloralhydrat  herbeigeführt  wurde, 
nicht  aber  bei  Verwendung  von  Morphin,  muriaticum.  Des  weiteren 
beweisen  dies  Befunde  von  „Aspirationspneumonie*^  beim  Menschen 
[Gbrulanos*)],  „bei  denen  von  Aspiration  gröberer  Massen  keine  Rede 
sein  konnte^.  Daß  auch  hier  unter  Umständen  Temperatureinflüsse  in 
dem  von  uns  entwickelten  Sinne  eine  Rolle  spielen  können,  beweist 
vielleicht  die  besondere  Widerstandslosigkeit  von  Tieren,  die  während 
der  Narkose  in  überhitzten  Räumen  gehalten  werden.  Kommt  es  auch 
hier  nicht  zur  Cytolyse,  so  tritt  doch  eine  so  intensive  Schädigung  der 
Gewebe  ein,  daß  als  Folge  der  Funktionsstörung  bei  negativem  Obduk- 
tionsbefunde der  Tod  erfolgt  Um  aber  Gesetzmäßigkeiten  bei  diesen 
Vorgängen  erkennen  zu  können,  wird  man  immer  wieder  die  roten  Blut- 
körperchen zum  Ausgangspunkte  der  Untersuchungen  machen  müssen, 
und  es  ist  hervorzuheben,  daß  bei  der  hohen  Empfindlichkeit  der  roteü 
Blutkörperchen  auch  geringe  Reaktionsunterschiede  von  Bedeutung  sind. 
Außerdem  lassen  sich  diese  Reaktionsunterschiede  noch  mehr  hervor- 
heben durch  weiteren  Ausbau  der  Methode,  indem  nicht  nur  der  Schmelz- 
punkt der  roten  Blutscheiben,  sondern  auch  die  Gerinnungstemperatur 
des  Eiweißes  der  roten  Blutscheiben  und  des  Plasmas  eventuell  noch 
in  verschiedenen  Neutrallösungen  bestimmt  wird. 

1)  Snbl,  Immunität  und  Narkose.     Berl.  klin.  Wochenschr.,  19ü3. 
1)  GBBULANOSy  Longenkomplikationen  nach  operativen  Eingriffen.  Dtsch. 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  67. 


Aus  der  chirurgischen  Klinik  des  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  v.  Mikulicz  und 
aus  dem  Diakonissenhospital  in  Alexandrien. 


Nachdruck  verboteD. 


XXIL 

Ueber  idiopathischen,  protrahierten 
Priapismus. 

Von 
Dr.  Carl  Goebel-Breslau. 


Im  Jahre  1900  konnte  ich  im  Diakonissenhospital  in  Alexandrien 
(Aegypten)  einen  Fall  von  Priapismus  beobachten,  der  bei  der  Selten- 
heit der  Affektion  eines  gewissen  allgemeinen  Interesses  nicht  ent- 
behrt. Eine  Durchsicht  der  Literatur  zeigte  mir,  daß  zumal  die  deutsche 
nur  sehr  wenige  Fälle  dieser  Erkrankung  aufzuweisen  hat.  Ob  dieselbe 
so  selten  vorkommt  oder  bei  ihrer  nicht  gerade  großen  Wichtigkeit 
einer  näheren  Beschreibung  nicht  fttr  wert  gehalten  wird,  wage  ich 
nicht  zu  entscheiden,  neige  mich  aber  der  ersteren  Annahme  zu,  da 
ich  selbst  bei  einer  über  10-jährigen  Erfahrung  an  großem  chirurgischen 
Materiale  nur  diesen  einen  Fall  registrieren  konnte. 

Die  Krankengeschichte  meines  Falles^)  ist  kurz  folgende: 

Pietro  M.,  Italiener,  Schuhmacher,  38  J.  alt.  Vater  mit  60  Jahren 
an  Pneumonie,  Mutter  im  selben  Alter  an  Paralyse  gestorben.  Ein  Bruder 
und  eine  Schwester  leben  in  guter  Gesundheit.  Der  Kranke  hatte  3  Kinder, 
von  denen  das  älteste  8  Jahre  alt  ist,  und  das  jüngste  im  Alter  von  18  Mo- 
naten an  Hydrocephalus  gestorben  ist.  Keine  vorhergehenden  Krankheiten 
oder  Verwundungen,  speziell  keine  Genitalinfektion,  aber  starker  Alkoho- 
lismus zugestanden.  Pat.  erinnert  sich  dunkel,  aber  ohne  Details  angeben 
zu  können,  im  Alter  von  8  Jahren  eine  Attacke  von  Priapismus  durch- 
gemacht zu  haben. 

Status:  Mittelgroßer,  sehr  muskulöser  Mann,  dessen  innere  Organe, 
besonders  auch  das  Nervensystem,  keine  Anomalie  darbieten.  Es  bestehen 
mäßige  äußere  Hämorrhoiden.  Kein  Fieber;  ruhiger,  regelmäßiger  Puls, 
Urin  (täglich  1000 — 1500  g)  ohne  pathologische  Bestandteile,  außer  einer 
ziemlich  großen  Menge  von  mikroskopischem  Harngrieß  (wie  er  in 
Alexandrien    sehr  oft  beobachtet  wird).     Der   Penis,   von   ziemlich   großer 

1)  Eine  kurze  Krankengeschichte  ist  von  mir  schon  publiziert  in: 
L^Egypte  m6d.,  1902,  Nov.,  p.  200. 


Carl  Goebel,  üeber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.     579 

Dimension,  ist  im  Zustande  permanenter  maximaler  Erektion,  auf  Berührung 
äußerst  schmerzhaft,  wie  auch  das  Urinieren  von  starken  Schmerzen  be* 
gleitet  ist.  Das  Praeputium  hinter  die  Olans  zurückgezogen.  Kein  Oedem. 
Kein  Urethralausfluß.  Prostata  nicht  vergrößert.  Appetit  gut,  trotzdem 
der  Kranke  der  Schmerzen  halber  kaum  schläft.     Es  besteht  Konstipation. 

Die  Therapie  bestand  zunächst  in  hohen  Dosen  Brom  (Kai.  brom.  2,0, 
Natr.  et  ammon.  brom.  ää  1,0)  bis  zu  8  g  pro  die,  protrahierten  lauwarmen 
Bädern,  Vichy-C61estin  und  Salol.  Dazu  lokale  feuchtwarme  Umschläge. 
Alles  ohne  Erfolg.  Nachdem  der  Zustand  ununterbrochen  vom  16.  Mai 
bis  10.  Juni  1900  bestanden  hatte,  machte  ich  die  Operation  der  Hämor- 
rhoiden nach  Langenbeck.  Selbst  in  der  tiefen  Chloroformnarkose  blieb 
die  Erektion  bestehen.  Das  legte  natürlich  die  Annahme  einer  Thrombose 
der  Corpora  cavernosa  nahe.  Aber,  da  der  Kranke  mir  nicht  die  Er- 
laubnis einer  Penisincision  gegeben  hatte,  wartete  ich  erst  das  Resultat 
der  Hämorrhoidaloperation  ab.  Sie  blieb  ohne  Erfolg  auf  die  Erektion. 
Ich  versuchte  daher  nach  einigen  Tagen  eine  Probepunktion  des  rechten 
Corpus  cavernosum,  etwa  in  der  Mitte  des  Penis.  Es  kam  kein  Tropfen 
Blut.  Die  Punktionsstelle  wurde  mit  einem  Stückchen  BsYERSDORFFschen 
Zinkpflasters  geschlossen.  Um  dieselbe  bildete  sich  in  einigen  Tagen  eine 
kleine  Anschwellung,  die  weder  fluktuierte,  noch  gerade  schmerzhafter  als 
die  Umgebung  war,  aber  doch  —  trotz  peinlicher  Asepsis  —  den  Gedanken 
an  eine  Absceßbildung  aufsteigen  ließ.  Ich  machte  daher  am  28.  Juni  in 
Chloroformnarkose  eine  etwa  1  cm  lange  Incision  in  die  kleine  Anschwellung. 
Es  kam  koaguliertes  Blut.  Unter  Irrigation  mit  steriler  Kochsalzlösung 
gingen  weiter  Blutkoagula  ab,  die  Trabekel  des  Corpus  cavernosum  wurden 
nach  und  nach  sichtbar  und  der  Penis  nahm  allmählich  seinen  Zustand 
der  Ruhe  ein.  Nur  geringe  Blutung.  Unter  Jodoformgazeverband  granu- 
lierte die  Wunde  allmählich  zu. 

Ich  sah  den  Kranken  zuletzt  1  Jahr  nach  der  Operation.  Der  Penis 
zeigte  an  der  Incisionsstelle  eine  kleine,  strahlige  Narbe.  Der  Coitus  war 
nach  Angabe  des  Kranken  normal  und  ohne  Schwierigkeit  ausführbar,  ein 
Zustand  von  Priapismus  nicht  wieder  eingetreten. 

Wir  haben  hier  also  einen  Fall  von  anscheinend  idiopathischem, 
d.  h.  ohne  Begleitung  resp.  nicht  infolge  einer  nachweisbaren  Krankheit 
entstandenen  protrahierten  (fast  8  Wochen  dauernden)  Priapismus  vor 
Augen,  dessen  direkt  nachweisbare  Veranlassung  anscheinend  eine 
Thrombose  der  Corpora  cavernosa  war.  Ob  nur  die  Corpora  cavernosa 
penis  oder  auch  die  der  Glans  und  der  Urethra  thrombosiert  waren, 
wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Ich  habe  keinen  Unterschied  in  der 
Erektion  der  einzelnen  Teile  des  Penis  bemerkt.  Da  die  Corpora  ca- 
vernosa der  einzelnen  Teile  nicht  direkt  miteinander  kommunizieren, 
so  ist  es  a  priori  nicht  anzunehmen,  daß  eine  Incision  und  Entleerung 
des  Corpus  cavernosum  penis  eine  Entleerung  auch  der  beiden  anderen 
Corpora  bewirkte.  Doch  müssen  wir  wohl  daran  denken,  daß  zunächst 
die  Corpora  cavernosa  penis  nicht  im  gewöhnlichen  Sinne  thrombosiert 
waren.  Dagegen  spricht  der  Befund  bei  der  Operation  und  die  voll- 
kommene Restitutio  ad  integrum.  Bei  der  Operation  gingen  dunkel- 
rote Blutkoagula  neben  flüssigem,   eingedicktem  Blute  ab.    Es  bestand 


580  Carl  Goebel, 

also  nicht  eine  wirkliche  Thrombose  im  geläufigen  pathologisch -ana- 
tomischen Sinne,  sondern  mehr  nur  eine  Verdickung,  Eindickung  des 
Blutes.  Jedenfalls  fehlte  die  mehr  blasse,  braunrote  oder  rostfarbene 
Beschaffenheit,  die  ein  fast  8  Wochen  bestehender  Thrombus  sicherlich 
schon  aufweisen  müßte.  Ein  wirklicher  Thrombus  würde  in  der  langen 
Zeit  des  Bestehens  des  Priapismus  schon  organisiert  worden  sein  und 
wäre  danach  durch  eine  kleine  Incisionsöffnung  nicht  herausgerieselt, 
wenn  ich  so  sagen  darf.  Eine  wirkliche  Thrombose  würde  auch  die 
Wandung  der  Schwellkörper  derart  verändert  haben,  daß  bindegewebige 
Obliterationen  und  Verödungen  der  Bluträume  nicht  ausgeblieben  wären, 
also  später  die  Erektion  behindert  oder  nur  partiell,  etwa  in  Form  der 
Chorda  penis,  möglich  gewesen  wäre.    (Näheres  siehe  weiter  unten.) 

Ich  stelle  mir  nun  vor,  daß  die  Thrombose  —  im  eben  eingeschränkten 
Sinne  des  Wortes  —  der  Penisschwellkörper  auch  zu  einer  Stase,  viel- 
leicht auch  Eindickung  des  Blutes  im  Corpus  cavernosum  urethrae  und 
der  Glans  geführt  habe,  indem  bei  Größenzunahme  der  Corpora  caver- 
nosa  penis  auch  die  der  Urethra  und  Glans  sich  vergrößern  und  mit 
Blut  füllen  müßten,  ein  Zustand,  der  auch  ohne  direkte  pathologische 
Veränderungen  in  diesen  Organen  zur  Blutstase  und  dauerndem  Be- 
stehen ihrer  Erektion  Veranlassung  gab. 

Wodurch  wurde  aber  nun  in  unserem  Falle  die  Thrombose  im 
Corpus  cavernosum  penis  veranlaßt?  Von  Symptomen  irgend  einer 
Allgemeinkrankheit  war  nichts  nachzuweisen,  höchstens  ein  starker 
Alkoholismus,  der  allerdings  verschiedentlich  als  Grund  von  persi- 
stierendem Priapismus  angenommen  wird.  Doch  scheint  mir  diese 
Aetiologie  als  einzige  für  die  vorliegende  Affektion  etwas  aus  der  Luft 
gegriffen  zu  sein. 

Wie  will  man  auf  dem  Wege  des  Alkoholismus  zu  Priapismus 
kommen?  Etwa  weil  Exzessen  in  Baccho  erfahrungsgemäß  solche  in 
Venere  oft  nachfolgen?  Höchstens  läßt  sich  hier  ein  ätiologisches 
Moment  in  nervösen  Erkrankungen  auf  alkoholischer  Basis  finden.  Doch 
diese  vermissen  wir  absolut  bei  unserem  Kranken. 

Der  einzige  anamnestische  Anhalt  für  die  Krankheit  dürfte  bei 
unserem  Falle  in  einer  geringen  inneren  Verletzung  beim  Coitus  zu 
suchen  sein.  Der  Kranke  gab  großen  Abusus  desselben  zu,  nnd  seit 
einem  Coitus  ist  der  Priapismus  bestehen  geblieben.  Es  deckt  sich 
mit  den  Erfahrungen  anderer,  wenn  wir  eine  Verletzung  eines  Penis- 
gefäßes  sub  coitu  annehmen.  Die  dadurch  verursachte  Hämorrhagie 
in  ein  Corpus  cavernosum  verhindert  den  Rückfluß  des  Blutes,  bringt 
dasselbe  zur  Stase  und  eventuellen  Koagulierung.  Daß  nach  Entleerung 
des  koagulierten  Blutes  der  Priapismus  nicht  rezidiviert,  erklärt  sich 
ungezwungen  entweder  aus  einem  Wiederdurchgängigwerden  der  zu- 
sammengepreßten Venen,  oder  aus  der  Etablierung  von  Kollateral- 
bahnen. 


Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  581 

Bevor  ich  noch  näher  auf  diese  Verhältnisse  eingehe,  möchte  ich 
eine  kurze  Uebersicht  über  die  Literatur  unserer  Erkrankung  geben, 
soweit  sie  mir  zugängig  war. 

Englisch  (1)  definiert  Priapismus  als  eine  Erektion  mit  mangelndem 
Wollustgefühl.  Der  Priapismus  ist  nach  ihm  entweder  ein  andauernder 
oder  ein  anfallsweise  auftretender  (Thaut).  Ersteren  bezeichnet  Dabwin 
als  chronicus  und  fügt  noch  den  amatorius  hinzu,  wie  er  nach  Exzessen 
im  Coitus  auftritt. 

Taylor  (2)  stellt  folgende  Ursachen  auf: 

1)  bei  Kindern:  Phimose,  Blasen-  und  Urethralsteine,  Mastdarm würmer, 

2)  bei  Erwachsenen:  Hamröhrenstrikturen ,  Cystitis  und  Hetentio 
urinae,  Blasensteine, 

3)  Gonorrhoe, 

4)  Intoxikation  mit  Kanthariden. 

6)  Verletzungen  des  Perineums  und  Rückenmarks,  Erkrankungen  des 
zentralen  Nervensystems,  alkoholische  und  sexuelle  Exzesse,  Leukämie. 

In  keine  von  diesen  Kategorien  können  wir  unseren  Pall  ohne  weiteres 
einreihen.  In  den  meisten  PäUen  handelt  es  sich  um  ßeizzustände,  bei 
denen  nervöse  Einflüsse,  auf  der  Bahn  der  Nervi  erigentes  verlaufend, 
angenommen  werden.  So  sagt  Erb  (3),  daß  die  Neuralgia  penis  et  glandis 
penis  manchmal  mit  Priapismus  und  frequenten  Ejakulationen  einhergeht; 
Lebbrt  (4),  daß  man  in  seltenen  Fällen  von  Cystitis  und  besonders  bei 
Blasenreizungen  durch  inneren  Gebrauch  von  Kanthariden  auch  Fortleitung 
der  Reizung  auf  die  äußeren  Genitalien,  welche  sich  bis  zum  Priapismus 
steigern  kann,  beobachtet  Endlich  erwähnt  Erb  (3)  Priapismus  bei  Rücken- 
marksblutungen, bei  mehr  oder  weniger  vollständiger  Unterbrechung  der 
Rückenmarksleitung   und   bei    akuten   traumatischen  Rückenmarksläsionen« 

Meist  ist  in  allen  diesen  Fällen  der  Priapismus  nur  ein  Symptom 
der  Allgemein-  oder  lokalen  Harn-Genitalerkrankung  und  auch  wohl  niemals 
80  andauernd,  daß  er  als  besondere  Krankheit  in  die  Augen  &llt.  Eine 
speziellere  Berücksichtigung  haben  dagegen  die  Fälle  gefunden,  welche 
auf  den  ersten  Blick  als  Priapismus  sui  generis  auffielen,  in  denen  die 
Kranken  gerade  speziell  oder  nur  dieses  Leidens  halber  den  Arzt  auf- 
suchten, und  in  denen  der  Priapismus  zugleich  von  besonders  langer 
Dauer,  besonderer  Intensität  und  Schmerzhaftigkeit  war,  in  denen  endlich 
gegen  ihn  besondere  Medikationen  sich  notwendig  erwiesen. 

Eine  allgemeinere  Beachtung  hat  von  je  der  leukämische  Priapismus 
gefunden.  Derselbe  scheint  gelegentlich  als  erstes  Symptom  der  Erkrankung, 
das  die  Pat.  zum  Arzte  treibt,  aufzutreten. 

LoNGUBT  (5)  beobachtete  einen  29-jähr.  Diener,  der  seit  einem  halben 
Jahre  häufig  an  dumpfen  Schmerzen  im  Leibe  und  seit  3  Monaten  an 
Verstopfung  litt.  Bereits  mehrmals  nachts  Erektionen  Ya — ^  Stunde  lang, 
ohne  Wollustgefühl;  jetzt  3  Wochen  lang  dieselbe  Erscheinung,  große 
Schmerzhaftigkeit.  Bei  der  Untersuchung  ergab  sich  bedeutende  Milzver- 
größerung, Axillar-  und  Cervikaldrüsenschwellung,  allgemeine  Anämie.  Ver- 
hältnis der  roten  und  weißen  Blutkörperchen  1 : 2.  Therapie :  Blutegel 
ad  anum,  Eisklystiere,  laue  Umschläge  von  Herba  Oicut.;  Kampferbromür. 
Allmählicher  Nachlaß  des  Priapismus  unter  Schwächezunahme  und  Blu- 
tungen aus  Nase  und  Rectum.     Der  Penis  blieb  voluminös  und  teigig. 

Der  erste  der  von  Vobstbr  (6)  publizierten  Fälle  betrifft  einen  23-jähr., 
«iner  Bluterfamilie   entstammenden  Aktuar,    der   seit   dem   4.  Lebensjahre 

MitMl.  a.  d.  Grenzgebieten  d.  Medizin  n.  Chinirgle.    Xm.  Bd.  38 


582  Carl  Goebel, 

an  heftigem  unstillbaren  Nasenbluten  litt.  Später  profuse  Blutungen  nach 
Zahnextraktionen.  Aufnahme  in  das  Krankenhaus  wegen  Epistaxis.  Be- 
drohliche Zeichen  akuter  Oehiman&mie :  Heftiger  Kopfschmerz,  Erbrechen^ 
hochgradige  Schwäche  im  rechten  Arm  und  Bein.  Milz  deutlich  fühlbar, 
den  vorderen  Costalrand  um  2  Querfinger  überragend.  Konvidsionen  im 
rechten  Arm  und  Bein.  Nach  18-tägigem  Krankenhausaufenthalte  zur 
Nachtzeit  bei  einer  etwas  beschwerlichen  Defäkation  plötzliche  Erektion. 
Corp.  cavem.  penis,  urethrae  et  glandis  gleichmäßig  hart  und  steif,  ad 
mazimum  vergröüert,  lebhafte  Schmerzen.  Einmal  Temperaturerhöhung 
auf  38,6  ^,  zugleich  heftige  Schmerzen  im  Hinterhaupte,  Nacken  und  Kreuz. 
2  Tage  lang  rechtsseitige  Abducenslähmuug  vom  6.  Tage  an.  Nach 
12-tägiger  Dauer  Bewußtseinsstörungen,  Toben  etc.  Allmählich  bildet  sich 
ein  Zustand  von  „atrophischer  Paraphimose^*  aus,  der  am  32.  Tage  operiert 
wird  durch  einfache  Längsincision  und  Vemähung.  Aus  den  Stichkanälen 
Blutungen.  Nach  4  Tagen  vollständige  Erschlaffung,  so  daß  also  der 
Priapismus  36  Tage  andauerte.  Die  Blutuntersuchung  war  negativ,  später 
aber  bildete  sich  Leukämie  aus. 

Aehnliche  Fälle  im  Beginn  der  Leukämie  haben  Adams  (7),  Wabd  (8), 
Salzeb  (9)  publiziert,  Klbmmb  (10),  Neidhabt  (11),  Matthias  (12)  solche 
im  Verlaufe  der  Erkrankung.  Adams',  Lokqubts  und  Klbmmes  Fall  weisen 
öfteres  und  sehr  heftiges  Nasenbluten  auf,  Salzeb  erwähnt  nach  Ver- 
schwinden des  Priapismus  wiederholte  Lungen  blutungen.  Nach  Klbioik 
„steht  die  Erektion  in  unzweifelhaftem  ZusammenhaDge  mit  den  BlutuDgen 
in  die  verschiedenen  OefUßprovinzen  und  ist  wahrscheinlich  von  einer  Blut- 
ergießung  in  die  Corpora  cavemosa  abhängig**. 

LoNOUBT,  dem  sich  Neidhart  anschließt,  nimmt  neben  der  Neigung 
zu  Hämorrhagien  eine  durch  die  VermehruDg  der  weißen  Blutkörperchen 
begünstigte  Zirkulationsstörung  und  Thrombose  in  den  Corpora  cavemosa 
und  den  Venae  afferentes  an.  Matthias  glaubt  von  einem  Bluterguß  in 
die  Corpora  cavemosa  absehen  und  lediglich  eine  Verlangsamung  und 
Hemmung  der  Zirkulation  beschuldigen  zu  müssen,  welche  durch  die  ab- 
norme Blutbeschaffenheit  (nach  Mosler)  hinlänglich  erklärt  würde.  Ward 
nimmt  ebenfalls  eine  durch  eine  Erektion  begünstigte  spontane  Thrombose 
auf  Grund  der  leukämischen  abnormen  Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes  an. 
Ebenso  erklärt  Adams  das  Entstehen  des  Priapismus  bei  seinem  Falle 
und  bezweifelt  auch  in  den  anderen  Fällen,  speziell  dem  Klbmmes,  das 
Bestehen  einer  Blutung,  da  keine  äußeren  Erscheinungen  von  solcher  be- 
schrieben werden,  und  in  Salzbrs,  Nbidharts  und  Matthias'  Fällen  einer- 
seits sonstige  Blutungen  nicht  beschrieben  werden,  andererseits  in  seinem 
eigenen  Falle,  sowie  den  von  Lonoubt  und  Salzer  beschriebenen  Erek- 
tionen von  ^/j — lYj-stündiger  Dauer  dem  persistierenden  Priapismus  vor- 
ausgingen, Erscheinungen,  welche  deshalb  nicht  auf  einen  Bluterguß  zurück- 
geführt werden  könnten,  da  letzterer  in  so  kurzer  Zeit  nicht  resorbierbar 
wäre.  Der  allmähliche  Rückgang  der  Erektion  —  der  in  allen  diesen 
Fällen  bis  zu  mehreren  Wochen  Dauer  beobachtet  ist  —  läßt  sich  nach 
Adams  vielleicht  durch  langsame  graue  Erweichung  der  Thromben  erklären. 

Einen  anatomischen  Anhalt  für  die  Bichtigkeit  der  von  Lonoubt  und 
besonders  von  Adams  betonten  Entstehungsursache  des  Priapismus  ergibt 
eine  Publikation  von  Käst  (13).  Dieser  Autor  beobachtete  einen  42  Jahre 
alten  Leukämiker,  der  2  Monate  an  allmählich  nachlassendem  Priapismus  litt. 
Er  fand  als  histologische  Veränderung  bei  der  Autopsie  ziemlich  starke 
Ausdehnung  sämtlicher  Gefäßräume  des  Corpus  cavem.  urethrae  und  An- 
füllung  dieses  Schwellkörpers  mit  Zellen,  welche  vorwiegend  den  Charakter 


Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  583 

der  mononukleären  Lenkocyten  zeigten  und  somit  der  Ausfüllungsmasse 
eine  Beschaffenheit  verliehen,  welche  an  den  Blutbefund  bei  den  leukä- 
mischen Kranken  erinnerte.  Das  Zwischengewebe  war  vollständig  unver- 
ändert. Der  Sohwellkörper  des  Penis  war  in  eine  derbe,  gleichmäßige  Binde- 
gewebsmasse  umgewandelt,  in  welcher  die  Bluträume  zu  schmalen,  spalt- 
förmigen  Kanälen  komprimiert  sind.  Nur  in  der  Peripherie  hatten  die 
Bluträume  noch  normalen  Umfang.  Die  Endothelien  der  kavernösen  Räume 
ließen  nirgends  gröbere  Läsionen  erkennen;  in  dem  gebildeten  Thrombus 
konnte  eine  auffallend  geringe  Menge  von  Fibrin  konstatiert  werden. 

Es  fanden  sich  also  als  Ursache  des  Priapismus  die 
Reste  einer  weißen  Thrombose  der  Schwellkörper  des 
Penis  und  der  Harnröhre  und  als  Erklärung  für  das  Zu- 
rückgehen des  Priapismus  sowohl  das  Unverletztbleiben 
der  Intima  als  die  mangelnde  Befestigung  des  Thrombus 
infolge  geringen  Fibringehaltes. 

Den  vorstehend  erwähnten  Fällen  leukämischen  Priapismus'  kann 
ich  einen  neuen  anreihen,  der  in  der  hiesigen  chirurgischen  Universitäts- 
klinik und  der  Privatklinik  des  Herrn  Geh.-Rat  v.  Mikulicz  in  letzter 
Zeit  zur  Behandlung  kam.  Herrn  Geh.-Rat  v.  Mikulicz  bin  ich  für 
die  freundliche  Ueberlassung  des  Falles  zu  großem  Danke  verpflichtet. 

Die  Krankengeschichte  des  Falles  ist  die  folgende: 

40-iähr.  lediger  Prokurist  aus  Breslau. 

Anamnese:  Vater  an  Kehlkopfschwindsucht,  Mutter  an  Herzschlag 
gestorben,  2  Schwestern  gesund.  Hat  als  junger  Mann  an  Diphtherie  und 
chronischem  Rachen-  und  Kehlkopfkatarrh,  im  Alter  von  24->27  Jahren 
an  Kopfschmerzen,  die  von  autoritativer  Seite  auf  Blutarmut  zurückgeführt 
wurden,  gelitten. 

Mit  28  Jahren  Lues,  die  zunächst  2  Monate  lang  mit  Injektionen  be- 
handelt wurde.  Schon  nach  wenigen  Monaten  Sekundär-  und  Tertiär- 
erscheinungen in  der  Nase  (Geschwüre),  die  jeder  lokalen  Therapie  trotzten. 
Auch  auf  Jod  und  Hg  anfangs  keine  Besserung,  eine  Heilung  trat  viel- 
mehr erst  nach  einer  Bade-  und  Diätkur  in  einer  Anstalt  ein.  Nochmals 
mehrere  Schmierkuren.  Im  Mai  1892  Entfernung  der  leicht  vergrößerten 
Leistendrüsen. 

Ende  1893  stellten  sich  beim  Gehen  auftretende,  leichte  Schmerzen 
in  den  Beinen  ein,  die  bis  vor  kurzem  anhielten.  Pat.  hielt  sich  deshalb 
eine  Zeit  lang  für  einen  Tabiker. 

Im  Jahre  1900  plötzlich  Doppelbilder,  Abweichen  des  linken  Auges 
nach  rechts,  stark  vergrößerte  Pupille  rechts.  Kur  in  Gräfenberg,  wonach 
sich  Pat.  wieder  ganz  wohl  fühlte.  März  1901  wiederum  Augensymptome: 
Differenz  der  Pupillen,  Accommodationslähmung,  Doppelbilder.  Diese  Sym- 
ptome besserten  sich  erst  Ende  1902. 

Ende  1901  starke,  plötzlich  auftretende  Schmerzen  im  rechten  Beine 
ohne  Ursache;  ob  Fieber  vorhanden,  weiß  Pat.  nicht  anzugeben.  Der 
Schmerz  hinderte  den  Kranken  am  Gehen;  ein  Arzt  verordnete  vergebens 
gegen  supponierte  Leisten drüsenansch wellung  Umschläge  und  Bettruhe 
3  Wochen  lang.  Ein  anderer  Arzt  sprach  von  Venenentzündung.  Seit 
1901  ist  auch  eine  Milzschwellung  beobachtet,  die  von  einigen  Aerzten 
auf  Malaria,  von  anderen  auf  Syphilis  zurückgeführt  wurde.  Da  auch  die 
Augensymptome  an  Lues  denken   ließen,   so   suchte  Pat.  im  Sommer  1902 

38* 


584  Carl  Goebel, 

Tölz  anf,  wo  diese  Leiden  als  auf  Lues  beruhend  angenommen  und  sogleich 
energisch  mit  Bädern  in  Angriff  genommen  wurden.  Aber  schon  nach 
mehreren  Tagen  war  der  Kranke  so  angegriffen,  dafi  er  die  Bäder  aus- 
setzen mufite;  trotzdem  setzte  er  Schmierkur  und  Jodgebrauch  noch  etwa 
2  Monate  fort,  ging  aber  elender  von  Tölz  fort,  als  er  gekommen  war. 

Januar  1904  konsultierte  der  Kranke  endlich  Herrn  Dr.  Kühnau  hier- 
sei bst,  der  eine  Leukämie  konstatierte:  Verhalten  der  weißen  zu  den 
roten  Blutkörperchen  angeblich  anfangs  1  : 3,  später  1:12.  Ln  Urin  sehr 
viel  Eiweiß,  das  nach  8-tägiger  Bettruhe  und  Milchdiät  rasch  zurückging. 
Nach  14  Tagen  Injektionen  von  Atoxyl,  etwa  alle  3  Tage. 

Schon  seit  1902  wachte  Pat.  meist  gegen  2  oder  3  Uhr  morgens  mit 
länger  andauernden  Erektionen  auf,  die  der  konsultierte  Arzt  für  physio- 
logisch hielt.  Dabei  weder  Schmerzen  noch  Wollustgefühle,  auch  keine 
erotische  Träume.  Ueberhaupt  hat  Pat.  die  letzten  Jahre  keinen  sexuellen 
Umgang  gepflogen.  Seit  März  1904  wurden  die  AnfUle  häufiger  und 
dauerten  länger.  Der  Pat.  schlief  nicht,  wie  früher,  wieder  ein  und  stand 
dann  morgens  ohne  Erektion  auf,  sondern  die  letztere  blieb  bestehen  und 
cessierte  erst  nach  2,  6 — 10  Stunden.  Es  wurden  zuerst  kalte,  dann  auf 
Anraten  des  Arztes  warme  Umschläge  und  Bäder  versucht.  Einmal  mußte 
der  Kranke  z.  B.  mit  erigiertem  Gliede  in  sein  Bureau  gehen.  Dortselbst 
erst  verschwand  der  Zustand,  während  Pat  etwa  eine  Stunde  lang  mit 
einem  Geschäftsfreunde  anregend  verhandelte.  Die  Anfalle  waren  von  zu- 
nehmender Dauer,  der  vorletzte  (am  3.  Mai  er.)  bestand  10  Stunden. 

Am  10.  Mai  früh  um  3  Uhr  wachte  Pat.  wieder  mit  erigiertem  Penis 
auf,  der  seitdem  nicht  abgeschwollen  ist  trotz  prolongierter  Bäder,  Elek- 
trisieren, Stuhlzäpfchen  mit  Opium,  Bromkalium  3  g  pro  die.  Am  12.  Mai 
suchte  der  Kranke  daher  die  Klinik  auf.  Der  Stuhl  war  immer  regel- 
mäßig, keine  Obstipation,  eher  das  Gegenteil.  Die  Miktion  war  nie  be- 
hindert, auch  nicht  während  der  Anfälle. 

Status  am  12.  Mai  1904:  Schwächlich  gebauter,  abgemagerter, 
blaß  und  leidend  aussehender,  kleiner  Mann.  In  den  Leistenbeugen  außer 
Narben  einige  kleine  derbe  Drüsen,  ebenso  einige  kleine  Drüsen  in  den 
Achselhöhlen.  Puls  108,  kräftig,  regelmäßig.  Temp.  39^,  Resp.  32,  Appetit 
gut.  Stuhl  jetzt  angehalten ;  Urin  hell,  sauer,  stark  getrübt,  enthält  keinen 
Zucker,  aber  Eiweiß,  mikroskopisch:  Harnsäurekrystalle,  amorphes  Sediment, 
keine  Cylinder  oder  Leukocyten.  Pupillen  gleich  weit,  reagieren  auf  Licht 
und  bei  Accommodation.  Das  linke  Auge  etwas  nach  außen  abweichend, 
der  Finger  wird  sowohl  in  der  Mittellinie  als  auch  bei  Bewegungen  nach 
beiden  Seiten  doppelt  gesehen,  jedoch  nicht  konstant.  Es  scheinen  bei 
Führung  des  Fingers  nach  links  Doppelbilder  leichter  aufzutreten.  Patellar- 
und Achillessehnenreflex  beiderseits  fehlend,  Plantarreflex  beiderseits  ge- 
steigert. Herz  und  Lungen  ohne  Besonderheit.  Leber  nicht  vergrößert. 
Die  Milz  reicht  bis  10  cm  nach  unten  und  bis  6  cm  nach  rechts  vom 
Nabel,  Länge  des  Milztumors  etwa  36  cm,  Breite  19  cm. 

Verhältnis  der  Erythrocyten  zu  den  weißen  Blutkörperchen  =  1820000 
zu  340000=  1 :  5^2-  Mikroskopisch  (Triacid)  finden  sich  neben  normalen 
neutrophilen  Polynukleären  sehr  zahlreiche  Myelocyten  von  wechselnder 
Größe,  teils  mit  großem  runden,  teils  mit  etwas  eingebuchtetem  Kern 
(Uebergangsformen)  und  spärlichen  Granulationen.  Die  Eosinophilen  scheinen 
nicht  vermehrt ;  vereinzelte  mononukleäre  Formen.  Von  Lymphocyten  finden 
sich  kleine  Formen  nur  vereinzelt,  dagegen  zahlreiche  große  Zellen  mit  großem, 
schwach  tingiertem  Kern.  Die  Erythrocyten  sind  ziemlich  gleich  groß,  keine 
Poikilocyten.     Zahlreiche  kernhaltige,   meist  von  normo blastischem  Typus. 


üeber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  585 

Der  Penis  ist  in  maximaler  Erektion,  aber  nach  Angabe  des  Kranken 
nicht  größer,  als  stets  in  diesem  Zustande,  von  12  cm  Umfang,  in  seinem 
vorderen  Teile  stark  ödematös,  rosarot  geiUrbt.  In  seiner  basalen  Hälfte 
besteht  eine  zirkuläre  derbe  Schwellung,  so  daß  der  Umfang  hier  16  cm 
beträgt.  Die  Farbe  ist  hier  dunkel  blaurot.  Keine  Schmerzen,  weder 
spontan  noch  auf  Druck. 

Die  Therapie  bestand  vorläufig  in  feuchten  Umschlägen  von  essig- 
saurer Tonerde.  13.  Mai.  Unter  wiederholten  Schüttelfrösten  Temperatur- 
anstieg auf  40  0.  2mal  galliges  Erbrechen.  Auf  Rizinusöl  Stuhl.  14.  Mai 
nachts  wiederholte  Schüttelfröste,  Temperatur  um  40^.  Allgemeinbefinden 
schlecht  Anschwellung  des  Scrotums,  blaue  Verfärbung  an  den  tiefsten 
Stellen  desselben.     Daher  mittags 

Operation  (Prof.  Kausch);  Bromäthyl- Aethernarkose.  2  ca.  5  cm 
lange  Incisionen  auf  der  Dorsalseite  des  basalen  Penisteiles  zu  beiden 
Seiten  der  Mittellinie.  Haut  ödematös,  blutig  suffundiert,  schwarz  ver- 
färbt Die  Corpora  cavernosa,  sehr  starr  und  derb,  werden  beiderseits 
geöffnet.  Es  entleert  sich  schwarzes,  sehr  übel  (nach  Bacterium  coli) 
riechendes  Blut,  ferner  feine  Luftbläschen.  Tamponade  mit  Jodoanisol- 
gaze,  feuchter  Verband  von  essigsaurer  Tonerde,  Suspension  des  Penis, 
der  bald  nach  der  Incision  weniger  rigide  wird  und  abschwillt. 

Die  bakteriologische  Untersuchung  des  entleerten  Blutes  ergab  eine 
Beinkultur  von  Bacterium  coli. 

Verlauf:  Nach  der  Operation  sofort  Temperaturabfall,  nachmittags 
38^.  Allgemeinbefinden  besser.  16.  Mai.  Nachts  0,01  Morph.  Verband- 
und  Tamponadewechsel.  Sehr  übelriechendes  Sekret.  Bei  leichtem  Druck 
auf  das  vordere  Ende  des  Penis  entleeren  sich  aus  beiden  Incisionsöff- 
nungen  Luftblasen.  Urinentleerung  ungehindert.  Aus  der  Urethra  ent- 
leert sich  ein  Tropfen  bräunliches  Sekret. 

18.  Mai.  Pat.  klagt  über  den  Erektionszustand  des  Penis.  Temperatur 
dauernd  zwischen  38®  und  38,8®.  Hochlagerung  des  Penis  durch  unter- 
geschobene Kissen  und  Umschläge  mit  essigsaurer  Tonerde.  19.  Mai. 
Penis  zeigt  in  seiner  proximalen  Hälfte  stärkere,  entzündliche  Schwellung, 
Sekretion  der  Wunde  trüb-serös,  etwas  übelriechend.  Klage  über  stärkeres 
Spannungsgefühl. 

20.  Mai.  Da  die  Rötung,  teigige  Schwellung  und  Schmerzhaftigkeit 
an  den  abhängigen  Partien  der  Peniswurzel  zugenommen  hat  (Temp.  38,5  % 
80  werden  zwei  weitere  Incisionen  unter  ScHiiBiCHscher  Anästhesie  hier- 
selbst  und  Entleerung  viel  stinkenden,  grünlichen  Eiters  vorgenommen. 
Jodoanisolgaze. 

21.  Mai.  Katheten  sierung  mit  N^laton  wegen  Unmöglichkeit  der  spon* 
tanen  Miktion.     Urin  klar,  sauer. 

23.  Mai.  Urinentleerung,  nachdem  sie  die  letzten  Tage  nur  im  Bade 
unter  Anstrengungen  möglich  war,  jetzt  ausschlieÜlich  durch  eine  der 
hinteren  Incisionen.  Starkes  Vorhautödem.  Temperatur  bisher  subfebril, 
heute  Temperaturanstieg. 

24.  Mai  Schüttelfrost,  39,3  <>.  Allgemeinbefinden  sehr  schlecht,  Schlaf- 
losigkeit. Penis  noch  immer  von  demselben  Umfange,  an  der  Basis  viel- 
leicht noch  stärker  durch  entzündliche  Schwellung.  Die  Corpora  cavernosa, 
die  in  den  dorsalen  Incisions wunden  schon  seit  6 — 6  Tagen  schwärzlich 
verfärbt  erscheinen,  bieten  heute  das  Bild  nekrotischer,  schwarzer,  stin- 
kender Pfropfe.  In  den  letzten  Tagen  hieraus  zweimal  starke  Blutung, 
die  durch  Ligatur  gestillt  wird.  29.  Mai.  In  den  letzten  Tagen  remittie- 
rende Temperaturen  (36,2 — 37,7^).    Gangränös  stinkende  Sekretion.    Penis 


686  Carl  Goebel, 

kleiner,  Oedem  geringer.  30.  Mai  Entfernung  der  nekrotischen  Pfropfe 
der  Corp.  cavern.  mit  der  Schere,  es  folgt  eine  reichliche  Eitermenge. 
8.  Juni.  Pat.  erheblich  besser,  geht  seit  1.  Juni  umher.  Temperatur 
normal. 

Bisher  ist  der  Milztumor  dmal  je  ^/^  Stunde  lang,  der  Penis  einmal 
1  Stunde  lang  den  BöNTOBN-Strahlen  ausgesetzt.  Der  Milztumor  scheint 
um  ly, — 2  cm  zurückgegangen.  Der  Hämoglobingehalt  des  Blutes  ist 
von  25  Proz.  auf  50  Proz.  gestiegen  und  das  Verhältnis  der  weißen  zu 
den  roten  Blutkörperchen  auf  141200:3264000,  d.  h.  1:23  herabge- 
gangen. 

Der  Penis  hat  in  den  letzten  Tagen  stark  an  Größe  abgenommen. 
Von  den  oberen  Wunden  aus  kommt  man  mit  der  Sonde  ca.  8  cm  in  die 
Tiefe  bis  gegen  das  zentrale  Ende  des  Bulbus  hin,  peripher  nach  der 
Glans  zu  etwa  4  cm  tief.  Die  Wunden  werden  drainiert  und  sezemieren 
noch  sehr  viel  Eiter. 

Bemerkenswert  ist  dieser  Fall  durch  die  Häufigkeit  der  Priapisinus- 
anfälle  und  den  lokalen  Befund  eines  Bacterium  coli  enthaltenden  zer- 
setzten Blutes.  Wir  können  uns  die  dem  letzten  Anfalle  vorhergehenden 
Erektionen  mit  Adams  etc.  wohl  durch  die  besondere  pathologische 
Beschaffenheit  des  leukämischen  Blutes  erklären.  Der  letzte  protra- 
hierte Anfall  aber  ist  wohl  durch  das  Hinzukommen  von  Komplikationen 
zu  erklären,  die  ich  in  einer  inneren  Verletzung  der  Corpora  cavernosa 
und  dadurch  bedingte  Undurchgängigkeit  der  abführenden  Venen  und 
in  der  Infektion  mit  Bacterium  coli  suche.  Auf  eine  besondere  lokale 
Veränderung  der  Basis  des  Penis  weist  die  beobachtete  zirkuläre,  derbe 
Schwellung  und  der  größere  Umfang  (16  cm)  hin.  Diese  Schwellung 
läßt  sich  wohl  kaum  anders  als  durch  eine  blutige  Infusion  dieser  Teile 
erklären.  In  diesem  Locus  minoris  xesistentiae  haben  sich  dann  die 
Bacillen  angesiedelt  und  die  Schwellung  wohl  noch  vermehrt.  Wie  die 
Bacillen  aber  dahin  gekommen  sind,  bleibt  bei  dem  Mangel  jeder 
äußeren  Verletzung  dunkel. 

Der  leukämischen  Thrombose  am  nächsten  steht  wohl  der  vielzitierte 
Fall  von  Rokitansky  (14).  Der  Priapismus  hielt  vom  15.  März  bis  zum 
26.  April  —  dem  Tode  des  42-jähr.  Mannes  —  an.  In  den  letzten  Tagen 
wurde  auf  einen  Druck  auf  die  an  ihrer  Wurzel  verhältnismäüig  weicher 
gewordenen  Corpora  cavernosa  ziemlich  viel  Eiter  aus  der  Harnröhre  ent- 
leert. 3  Tage  vor  dem  Tode  wurden  am  Perineum  beiderseits  neben  der 
ßaphe  fluktuierende  Abscesse  entdeckt  und  geöffnet.  Ursprünglich  bestand 
ein  subkutaner  Absceß  im  linken  H3rpogastrium,  später  Dysenterie  und  ein 
Absceß  unter  dem  Kinn.  Die  Sektion  ergab  Bronchitis,  Eiterherde  in  der 
auf  das  5 — 6-fache  vergrößerten  Milz,  dysenterieartige  Veränderungen  im 
Dickdarm,  Eiterherde  in  der  linken  Niere.  Corpora  cavernosa  geschwollen, 
fluktuierend,  das  schwammige  Gewebe  von  Eiter  strotzend,  in  ausgebrei- 
teten Strecken  matsch,  zu  einer  blaßrötlichen,  zerreißlichen  Pulpa  zerfallen. 
Nach  hinten  war  ihre  fibröse  Hülle  mehrfach  durchbrochen  und  hier  kom- 
munizierten ihre  Räume  mit  umfänglichen  vor  und  unter  der  Prostata  ge- 
legenen, sie,  die  Pars  membran.  und  den  Bulbus  ur.  umfassenden  und 
bloßlegenden  Eiterherden.     Die  CowPBRschen  Drüsen  vereitert,  die  Schleim- 


lieber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  Ö87 

haut  und  das  Corpus  cavem.  ur.  etwas  gewulstet,  erstere  etwas  mißfarben. 
Es  handelte  sich  hier  also  um  einen  Fall  von  pyämischer  Throm- 
bose der  Corpora  cavernosa  und  konsekutivem  Priapismus.  Es 
ist  allerdings  nach  dem  Krankheitsbilde  und  dem  Sektionsergebnis  nicht 
ausgeschlossen,    daß  ein  leukämischer  Prozeß  mit  Pyämie  kompliziert  war. 

Dem  Falle  Rokitanskys  analog  scheint  der  von  Dbmarquet  (15)  als 
Penitis  beschriebene,  von  Nbpvbu  genau  untersuchte  Fall  zu  sein:  Sämt- 
liche Schwellkörper  waren  mit  Eiter  durchsetzt.  Bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  fand  man  Zerstörung  der  zentralen  Trabekel  der  Corp.  cavem., 
eiterige  Infiltration  der  wandständigen  Trabekel  und  der  kavernösen  Räume, 
die  Arterien,  Muskel  und  elastischen  Fasern  erhalten.  Die  Cavernitis  war 
in  diesem  Falle  nach  Incision  eines  Abscesses  der  CowpsRscben  Drüsen 
entstanden.  Die  Haut  des  Penis  wurde  rot,  gespannt  und  im  unteren 
Teile  schmerzhaft,  dabei  die  Harnentleerung  mühsam  und  mit  Schmerzen 
verbunden.  Die  Schwellung  des  Penis  nahm  zu  bis  zu  Priapismus.  Zahl- 
reiche Schüttelfröste.  Die  Incision  eines  Abscesses  am  Penis  vermochte 
nichts  gegen  die  manifeste,  rasch  tödlich  endende  Pyämie. 

Für  gichtische  Thrombose  hält  Wbbbb  (16)  einen  von  ihm  bei  einem 
42-jährigen  Manne  beobachteten  Priapismus,  der  zur  Zeit  einer  Gicht- 
attacke 3  Wochen  lang  anhielt;  der  Mann  litt  außerdem  an  Bleiintoxi- 
kation.  Für  Thrombose  der  Corpora  cavernosa  penis  spricht  nach  Webbb, 
daß  das  Corpus  spongiosum  und  die  Glans  nicht  mitaf&ziert  waren.  Ich 
komme  auf  diesen  Punkt  noch  unten  zurück.  In  die  Kategorie  dieses 
Falles  gehört  vielleicht  auch  der  Weisbs  (21),  bei  dem  es  sich  um  einem 
45-jährigen  Mann  handelte,  der  mehrere  Jahre  durch  Arthritis  und  fort- 
währende schmerzhafte  Erektion  belästigt  wurde,  welche  nach  Heilung 
der  ersteren  Krankheit  ganz  verschwand.  Auch  Mainzers  Fall,  den  ich 
weiter  unten  ausführlich  referiere,  litt  an  Rheumatismus. 

Dem  pyämischen  Priapismus  Rokitanskys  andererseits  dürften  wieder 
Fälle  nahestehen,  die,  wie  der  von  Scholz  (18),  auf  Cavernitis  durch  Ent- 
zündung der  Lymphgeftlße  beruhen,  weiter  die  beiden  Fälle  Nbümanns  (19), 
von  denen  der  eine  neben  Tumor  (Krebs)  der  Blase  mit  konsekutiver 
Cystitis  und  eiteriger  Perforationsperitonitis  Jauchehöhlen  in  der  Pars 
membran.  urethrae  und  dem  Corpus  cavernosum  penis  aufwies,  welch 
letzterer  13  cm  in  der  Länge,  12  cm  in  der  Zirkumferenz  maß,  bläulich 
verfärbt,  ziemlich  hart  und  mit  einer  rötlichen,  dünnbreiigen  Flüssigkeit 
durchtränkt  war.  Vena  dors.  und  prof.  penis  waren  in  ihrer  ganzen  Länge 
von  ziemlich  derben,  rötlichen  Pfropfen  verstopft.  Der  zweite  Fall  Nbü- 
manns zeigte  bei  einem  58-jähr.  Individuum  im  Anschluß  an  ein  Geschwür 
Entzündung  und  Vereiterung  der  Schwellkörper. 

Dem  sicher  lokal  entzündlichen  Priapismus  dürfte  sich  auch  ein  Fall 
von  BooTH  (20)  unterordnen  lassen,  bei  dem  der  Autor  Entzündung  (rheu- 
matische?) in  der  „Umgebung  der  Erektionsmuskulatur ^'  annimmt.  Nach 
mannigfaltigen  vergeblichen  therapeutischen  Versuchen  und  5-wöchigem 
Bestehen  der  Steifigkeit  brachte  Jodkalium  dem  55-jährigen  Seemanne  in 
2  Wochen  Heilung.  Man  wird  hier  ex  juvantibus  an  eine  luetische  Ent- 
zündung denken  müssen. 

Nicht  als  Cavernitis,  also  Entzündung,  wie  Nbümann  will,  möchte  ich 
dagegen  den  Fall  von  Kaudbrs  (19)  aus  BAHSBRaBss  Klinik  auffassen. 
Der  Priapismus  war  plötzlich  entstanden,  sehr  schmerzhaft,  der  Penis 
stark  geschwollen  und  cyanotisch  verfärbt.  Die  Sektion  erwies  ausge- 
breitete Tuberkulose,  Morbus  Brightii,  Thrombose  der  Corpora  cavem. 
penis  et  urethrae  mit  Oedem  der  Haut   und   des  Präputiums   und  endlich 


588  Carl  Goebel, 

ausgedehnte  marantische  Thrombose  in  den  Venen  des  Plexus  pudendus 
und  vesicalis.  In  diesem  Falle  liegt  die  Ursache  des  Priapismus  als  Folge 
der  marantischen  Thrombose  klar  auf  der  Hand. 

Ebenso  klar  liegen  wohl  die  Verhältnisse  bei  traumatischer  Ent- 
stehung des  Leidens.  Ein  derartiger  Fall  infolge  Schußverletzung  ist  von 
Dbmarqüat  beschrieben.  In  einem  Falle  Johnson  Smiths  (22)  handelte  es 
sich  um  einen  46-jähr.  Fischer,  starken  Trinker,  der  19  Tage  vor  Auf- 
nahme ins  Hospital  auf  Damm  und  Penis  fiel  und  eine  kleine  Wunde  an 
der  Eichel  acquirierte,  die  bald  heilte.  Schon  am  nächsten  Tage  große 
Härte  und  Schwellung  des  Gliedes,  starker  Schmerz  und  Schlaflosigkeit. 
Bei  der  Aufnahme  war  der  Penis  gleichmäßig  hart,  wies  aber  an  der 
Wurzel  einen  prominenten  Knoten  auf.  Urin  normal.  Kein  Ausfluß  aus 
dem  Orif.  ext  urethrae.  Bromkali  bis  zu  10  g  pro  die  vergeblich.  Später 
Merkurialsalbeeinreibung  und  innerlich  Belladonna.  Dies  und  die  längere 
Ruhe  des  Kranken  scheinen  nach  6  Wochen  die  Genesung  herbeigeführt 
zu  haben.  Die  harte  Stelle  an  der  Wurzel  verschwand.  Eine  Verletzung 
des  Bückenmarks  war  ganz  ausgeschlossen. 

Weiterhin  gehört  Vorsters  zweiter  Fall  hierher:  Ein  19-jähr.  Mensch 
erlitt  einen  Hufschlag  gegen  das  Scrotum,  Blutung  aus  dem  Orif.  extern, 
urethrae,  Anschwellung  des  Penis.  Urinretention.  Bei  der  Urethrotomia 
externa  wurde  die  mit  Blut  gefüllte  Höhle  des  Corpus  cavern.  entleert^ 
so  daß  der  Priapismus  schwand.  Derselbe  war  also  nach  Vorstbr  ent- 
standen durch  Bluterguß  und  Druck  desselben  auf  die  Venen,  welche  dea 
venösen  Hückfiuß  aus  dem  Corpus  cavern.  verhinderte. 

In  allen  bisher  zitierten  Fällen  haben  wir  eine  greifbare  Ursache 
für  das  Entstehen  des  Priapismus  finden  können.  Wir  kommen  endlich 
zu  einer  Gruppe  von  Publikationen,  die  unserem  ersten  Falle  mehr 
oder  weniger  gleichen  durch  Fehlen  einer  ohne  weiteres  greifbaren 
Ursache  und,  wenigstens  teilweise,  erwiesener  Thrombosenbildung  in 
den  Schwellkörpern  des  Penis,  langer  Dauer  und  anscheinend  meist 
erhaltener  Erektionsfähigkeit  nach  Heilung.  In  einigen  von  diesen  Fällen» 
die  ich  im  folgenden  ausführlicher  referiere,  wird  von  den  Autoren  als 
einziges  ätiologisches  Moment  Alkoholismus,  in  anderen  besonders  Libido 
angeschuldigt,  ohne  daß  damit,  wie  wir  sehen  werden,  die  wirkliche 
Ursache  gefunden  sein  dürfte.  Auf  eine  erschöpfende  Literaturflbersicht 
kann  ich  keinen  Anspruch  machen;  es  sind  zweifelsohne  besonders  in 
der  älteren  englischen  Literatur  noch  mehr  derartige  Fälle  registriert. 
Soweit  mir  die  Literatur  zugänglich  war,  finde  ich  folgende  Fälle 
dieser  Art  sozusagen  idiopathischen  Priapismus: 

1.  V.  WiNDiSH  (23):  39-jähr.  erschöpfter  Kleidermacher.  Rute  wird 
aus  unbekannter  Ursache  plötzlich  abends  steif  und  nach  Anwendung 
kalter  Umschläge  bis  zur  Raserei  schmerzhaft.  2  Tage  darauf  beim  Ein- 
tritt ins  Hospital :  Rute  steif  wie  Eisen  aufgerichtet,  dünn  und  zu  einer 
ungemeinen  Länge  ausgedehnt,  schmerzhaft  und  hochgerötet;  der  Kranke 
ängstlich  atmend,  an  Kopf  und  Gesicht  stark  schwitzend  und  heftig  fiebernd. 
An  das  Perineum  gelegte  8  Blutegel,  Umschläge,  Oelklystiere  und  ähnliche 
Emulsionen  wirkten  höchstens  schmerzstillend ;  ebenso  verschafi'ten  Kalomel, 
Hyoscyamus,    Kampfer   in  Pulvern,    Ungt.  althaeae    mit  Opiumtinktur   nur 


Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  58& 

ruhigere  Nächte.  Der  Priapismus  bestand  unverändert  25  Tage  lang,  wa 
dann  ein  Pulver  von  Opium,  Kampfer  und  Sacch.  ää  1  gran  stündlich  und 
warme  Breiumschläge  mit  Kampfer  gemischt  um  das  Glied,  das  Leiden 
zum  Verschwinden  brachten,  so  daiS  Pat  nach  9  Tagen  völlig  geheilt  ent- 
lassen werden  konnte. 

2.  BiRKBTT  (24) :  44-jähr.  Arbeiter.  Ursache  des  Priapismus  war  der 
vor  10  Tagen  ausgeübte  Coitus.  Seitdem  war  der  Penis  in  erigiertem 
Zustande  und  höchst  schmerzhaft.  Nur  das  Corpus  cavernosum  war  ge- 
schwollen, nicht  Glans  und  Corp.  spongiosum.  Der  Kranke  sah  kachek- 
tisch  aus,  war  jedoch  im  übrigen  gesund.  Kaum  Beschwerden  beim  Harn- 
lassen. B.  machte  durch  die  fibröse  Hülle  in  die  Zellen  des  Corp.  cavern» 
auf  jeder  Seite  an  2  Stellen  Einschnitte,  welche  eine  schwarze,  dicke,  blut- 
ähnliche Flüssigkeit  entleerten.  Da  trotzdem  die  Schmerzen  und  die 
Schwellung  des  Penis  sich  nicht  vermindert  hatten,  so  wurden  einige  Tage 
darauf  die  Einstiche  wiederholt  und  warme  Umschläge  gemacht,  worauf 
die  Erscheinungen  nachließen.  Der  Penis  wurde  mit  Pflasterstreifen  um- 
wickelt. Einige  Wochen  darauf  bildete  sich  eine  Eiterung  im  linken 
Corp.  cavem.,  in  welches  ein  Einschnitt  gemacht  wurde.  Die  Eiterung 
dauerte  8  Monate,  erst  dann  erfolgte  vollständige  Heilung.  (B.  teilt  noch 
3  ähnliche  Fälle  in  Kürze  mit,  die  aber  in  dem  Referat  nicht  weiter  be- 
rücksichtigt werden.) 

3.  Smith  (25) :  28-jähr.  Mann,  der  Priapismus  entstand  bei  Ueberfüllung^ 
der  Harnblase,  dauerte  viele  Tage  trotz  Anwendung  der  heroischsten  Mittel 
(kalte  Begießung,  Brechmittel,  Aderlässe,  Chloroformnarkose,  Morphium,. 
Belladonna  bis  zur  Narkose  etc.),  schwand  endlich  von  selbst. 

4.  Hargis  (26):  28-jähr.  Mann.  Der  äußerst  schmerzhafte  Priapismus 
wurde  durch  einen  Coitus  eingeleitet,  alsbald  durch  einige  Gaben  Brom- 
kalium &  15  g  erleichtert,  und  endlich  durch  den  fortgesetzten  Gebrauch 
kleiner  Gaben  desselben  Mittels  ä  5  g  vollständig  beseitigt. 

5.  Mackib  (27):  70-jähr.,  in  baccho  et  venere  ausschweifender  Mann. 
Die  Erektionen  traten  in  den  ersten  2  Tagen  nur  in  Intervallen  auf,  dann 
permanent  während  21  Tagen  trotz  Mittel  (kalte  Umschläge  auf  den  Penis 
und  Wirbelsäule,  warme  Bäder,  Morphium,  Chloralhydrat,  Bromkali,  Blut« 
egel  an  die  Peniswurzel  etc.).  Große  Schmerzen  Tag  und  Nacht  und 
Schlaflosigkeit.  Vor  Eintritt  des  Priapismus  soll  ein  taubes,  ziehendes 
Gefühl  im  rechten  Arm  und  Fuß,  und  ein  heftiger  Schüttelfrost  vorhanden 
gewesen  sein,  sonst  weder  in  den  Harnorganen,  außer  unbedeutender  Striktur^ 
noch  Mastdarm,  noch  Rückenmark  etwas  Krankhaftes  nachweisbar.  Nach 
19  Tagen  zeigte  sich  besonders  im  rechten  Corpus  cavem.  penis  ein  ent- 
ztlndlicher,  pulsierender  Schmerz  mit  ödematöser  Anschwellung  des  Prä- 
putiums. Endlich  wurde  2  Tage  später,  als  sich  Paraphimose  und  Harn- 
verhaltung hinzugesellt  hatten,  ein  ergiebiger  Einschnitt  in  das  rechte 
Corp.  cavem.  penis  von  der  Corona  glandis  aus  in  einer  Länge  von  2  " 
gemacht,  worauf  sich  eine  große  Menge  schwarzen,  halb  geronnenen  Blutes 
ergoß,  der  Penis  zusammenflel  und  die  ausgedehnte  Blase  sich  entleerte. 
Nach  Applikation  von  warmen  Umschlägen  stießen  sich  Fetzen  abgestor- 
benen Zellgewebes  mit  koaguliertem  Blute  ab,  die  Wunde  verkleinerte 
sich  und  schloß  sich  bald.     Vollkommene  Genesung. 

6.  HiRD  (28) :  55-jähr.  notorischer  Säufer,  fast  die  halbe  Pharmakopoe^ 
auch  Chloral  und  Chloroformnarkose,  vergebens  versucht;  Genesung  eigent- 
lich spontan. 


590  Carl  Goebel 


7.  Walkbr  (29) :  26-jähr.  Neger.  Ohne  Ursache  und  ohne  wollüstige 
Empfindung  trat  über  Nacht  Steifigkeit  des  Gliedes,  mit  Ausnahme  der 
Glaus,  auf.  Chloroformnarkose,  Kälte,  Bromkali,  Belladonna  ohne  Wirkung. 
Urin  mußte  mit  weichem  Katheter  entleert  werden.  Nach  6  Tagen  be- 
trächtliche Erschöpfung,  über  Nacht  profuser  Schweiß.  Heiße  Bäder,  Brech- 
weinstein, Chloral  ohne  Erfolg.  Am  18.  Tage  Veratramtinktur  3-stündlich 
zu.  10  Tropfen  bis  die  Pulsfrequenz  auf  60  herabgegangen  war.  Nach 
3  Tagen  war  die  Belaxation  beträchtlich.  Bevor  sie  eintrat,  war  ein 
schmaler  harter  Ring  rings  um  die  Corp.  cavern.  2 "  unterhalb  der  Eichel 
fühlbar  gewesen.  Die  Rekonvaleszenz  machte  nur  sehr  langsame  Fort- 
schritte, und  sobald  man  das  Veratrin  aussetzte,  wurde  der  Penis  wieder 
hart  und  schmerzhaft.  Der  harte  Ring  war  verschwunden.  Nachdem  die 
Heilung  mehrere  Wochen  bestanden  hatte,  verspürte  Pat.  häufig  geschlecht- 
liche Neigung,  aber  ohne  daß  die  jetzt  erwünschte  Erektion  eintrat. 

8.  Weber  (16):  46-jähr.  Bäcker.  Priapismus  dauerte  4  Wochen,  ent- 
stand plötzlich  morgens  beim  Erwachen,  ohne  Libido  sexualis.  Der  Pat. 
hatte  in  den  letzten  2  Wochen  keine  sexuellen  Beziehungen  gehabt  Vor 
12  Jahren  Lues,  vor  vielen  Jahren  Gonorrhöe.  Jetzt  keine  Zeichen  davon, 
kein  Alkoholismas,  keine  anderen  Allgemein-  oder  Lokalleiden.  Bleiches 
Aussehen  und  untemormaler  Ernährungszustand.  Corpora  cavernosa  allein 
hart,  „wie  Gips",  Corpus  spongiosum.  Gl  ans  und  Vena  dorsalis  weich. 
Urin  normal,  1018  spez.  Gewicht  90  Proz.  Hämoglobin.  Behandlung 
mit  Bettruhe  unter  Vermeidung  des  Deckendruckes,  mit  Bleiwasserum- 
schlägen  und  Jodkalium,  Rizinusöl,  Eisen  und  Chinin  innerlich.  Daraufhin 
21  Tage  nach  Bestehen  des  Priapismus  Besserung,  die  proximalen  Teile 
der  Corp.  cavern.  wurden  weicher  und  etwas  biegsam.  Nach  30  Tagen 
war  der  Penis  viel  kleiner,  aber  noch  etwas  schmerzhaft,  nach  33  Tagen 
nahezu  im  Naturzustande.  Eine  gewisse  Häi-te  wurde  noch  nach  51  Tagen 
beobachtet  Keine  Knoten  (lokale  Sklerose  der  Corp.  cavern.)  zurück- 
geblieben. 

9.  Mainzbb  (19):  42-jähr.  Weber,  keine  Lokal-  oder  Allgemeinleiden, 
außer  Gelenkrheumatismus  vor  5  Jahren,  seitdem  öfters  leichte  rheuma- 
tische Beschwerden,  etwas  stärkere  Attacke  vor  8  Wochen.  Starker 
Alkoholismus.  Seit  4  Jahren  regelmäßig  gegen  Weihnachten  Anfälle  von 
Priapismus,  immer  nachts,  10 — 14  Nächte  durch.  Vor  2  Jahren  einmal 
2  Tage  und  2  Nächte  lang.  Diesmal  auch  zuerst  nächtliche  Priapismen, 
bei  Tage  anfangs  verschwindend.  Allmählich  nahm  die  Dauer  der  Erektion 
zu,  der  Kranke  konnte  vor  Schmerz  weder  sitzen  noch  stehen,  nachts 
Schlaflosigkeit,  da  dann  der  Schmerz  am  stärksten.  Der  Penis  maximal 
erigiert,  am  Dorsum  penis  an  zirkumskripter  Stelle  unter  der  Haut  Oedem. 
Corpus  cavernosum  urethrae  und  Glans  waren  nur  sehr  wenig  geschwellt 
Perinealmuskulatur,  zeitweise  auch  der  Sphincter  ani  ext.  hart  gespannt 
Geringer  Tremor  manus  und  früher  zeitweise  Parästhesien  der  Hände. 
Druckempfindlichkeit  des  Medianus  und  Radialis  beiderseits,  des  Ulnaris 
rechts  führt  M.  auf  den  Alkoholmißbrauch  zurück.  Auf  protrahierte,  warme 
Bäder,  Suppositorien  mit  Opium  und  Belladonna  verloren  sich  zuerst  die 
Schmerzen  und  nach  9  Tage  Bestehens  der  Priapismus. 

Bezüglich  der  Ursache  findet  M.  schließlich,  daß  dieselbe  lediglich  in 
sexueller  Ueberreizung  besteht  bei  Vermeidung  des  normalen  sexuellen 
Verkehrs  mit  der  Frau,  da  dieselbe  wegen  wiederholter  Aborte  nicht  mehr 
konzipieren  sollte.  Also:  Summation  der  Reize  bis  zum  Tonus,  Erregbar- 
keitsverlust, Erholung,  dann  Normalzustand. 


Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  591 

Die  vorstehend  kurz  referierten  Fälle  von  idiopathischem  Pria- 
pismus ließen  sich,  wie  schon  gesagt,  noch  vermehren.  So  hat  Ward  (8) 
12  Fälle  von  Priapismus  im  Alter  von  26 — 55  Jahren  zusammengestellt, 
unter  denen  wohl  auch  solche  von  idiopathischem  Priapismus  sein 
dürften.  Unter  den  12  Fällen  war  einer  mit  Leukämie,  einer  mit  ver- 
größerter Milz  nach  Malaria,  einer  mit  Gicht  kompliziert,  in  einem  Falle 
war  schon  vorher  eine,  in  einem  zweiten  Falle  waren  zwei  frühere 
Attacken  prolongierten  Priapismus  vorhanden  gewesen,  in  4  Fällen 
begann  der  Zustand  mit  dem  Coitus,  in  einem  beim  Drücken  zur  De- 
fäkation,  und  in  einem  war  ein  Trauma  die  Ursache.  In  3  Fällen 
folgte  dem  Priapismus  Impotenz. 

Peabody  (30)  hat  32  Fälle  von  Priapismus  zusammengestellt,  von 
denen  6  eine  vergrößerte  Milz  hatten. 


Welche  Schlüsse  können  wir  aus  unserem  Fall  und 
der  gegebenen  Literaturübersicht  ziehen? 

1)  Als  Ursache  für  protrahierten  Priapismus,  der  Tage  und  Wochen 
anhält,  unter  großer  Schmerzhaftigkeit,  Schlaflosigkeit  und  Prostration 
verläuft  ohne  wollüstige  Erregungen,  finden  wir  die  verschiedensten 
Krankheiten:  Leukämie,  Pyäraie,  Gicht,  Trauma  etc. 

2)  Es  gibt  außerdem  eine  Form  protrahierten  Pria- 
pismus, die  wir  als  idiopathische  bezeichnen  können,  in 
der  eine  Ursache  ohne  weiteres  nicht  anzunehmen  ist. 
Alkoholismus  und  Exzesse  in  venere  sind  angeschuldigt  bei  einigen 
Fällen,  einwandsfreier  Beweis  dafür  ist  aber  nicht  geführt  und  nach 
dem  oben  Gesagten  wohl  auch  nicht  zu  führen.  Nur  im  Falle  von 
Mainzer  ist  es  wohl  als  nachgewiesen  zu  betrachten,  daß  durch  abnorm 
gesteigerte  und  nicht  befriedigte  Libido  —  der  Mann  schlief  mit  seiner 
Frau  in  einem  Bette,  befriedigte  aber  die  sexuelle  Erregung  zur  Ver- 
meidung der  Konzeption  nicht  —  der  Reizzustand  so  allmählich  ge- 
steigert wurde,  daß  er  andauerte  und  zur  9  Tage  anhaltenden  Erektion 
führte. 

3)  Als  anatomisches  Substrat  der  Erektion  ist  in  allen 
zur  Autopsie  in  vivo  oder  mortuo  gekommenen  Fällen 
eine  abnorme  Füllung  der  Corpora  cavernosa  nachge- 
wiesen. Diese  Füllung  bestand  bei  Leukämie  (Fall  Käst)  in  einer 
weißen  Thrombose  der  Schwellkörper  oder  in  zersetztem  leukämischen 
Blut  (unser  zweiter  Fall),  in  den  pyämischen  Fällen  (Rokitansky, 
Demarquay)  in  Eitererfüllung  derselben,  und  endlich  in  anderen  (Fall 
Kauders,  Birkett,  Mackie,  Goebel  I)  in  einer  mehr  oder  weniger 
ausgesprochenen  Thrombose. 

4)  Wir  haben  wohl  die  Berechtigung,  auch  in  den 
nicht   zur   Autopsie    in    vivo    oder   mortuo   gekommenen 


592  Carl  Goebel, 

Fällen  eine  Thrombose  der  Corpora  cavernosa  anza- 
nehmen.  Am  nächsten  liegt  das  wohl  bei  dem  leukämischen  Pria- 
pismus. Sie  wird  ja  hier  auch  von  den  meisten  Autoren  (cf.  oben) 
zur  Erklärung  herangezogen  und  aus  der  bekannten  Blutbeschaffenheit 
derartiger  Kranken  hergeleitet.  Viele  Autoren  (z.  B.  Weber)  machen 
sich  die  Sache  aber  wohl  zu  leicht,  wenn  sie  als  Hauptgrund  für  eine 
Thrombose  die  isolierte  Erektion  der  Corpora  cavernosa  penis  angeben. 

Henle  (Handbuch  der  Anatomie)  hält  für  die  wesentliche  Ursache 
der  Erektion  einen  tonischen  Krampf  des  M.  transversus  perinei  prof. 
und  gründet  diese  Vermutung  auf  das  Verhältnis  des  genannten  Muskels 
zu  den  Venen  der  Corp.  cavernosa  penis  et  clitoridis. 

„Die  organischen  Muskelfasern  der  Gefäße  und  der  Balken  der 
kavernösen  Körper",  sagt  er  dortselbst  (Bd.  2,  p.  523),  „sind  bei  der 
Erektion  beteiligt,  aber  nicht  durch  Kontraktion.  Je  mehr  diese  Muskeln 
sich  zusammenziehen,  um  so  kleiner  und  fester  werden  die  kavernösen 
Körper;  die  Dehnung  und  Füllung  der  letzteren  ist  nur  möglich  durch 
Erschlaffung  sowohl  der  Gefäße  als  der  Muskelbalken  des  kavernösen 
Gewebes.  Diese  Erschlaffung  ist  die  nächste  Folge  der  geschlechtlichen 
Erregung  .  .  .  Dadurch  schwillt  der  Penis,  aber  er  bleibt  weich,  bis 
eine  Ursache  hinzukommt,  die  das  angehäufte  und  ferner  nachströmende 
Blut  in  den  Maschenräumen  zurückhält  und  so  die  Hüllen  der  kaver- 
nösen Körper  spannt.  Die  Erschlaffung  findet  in  allen  drei  kavernösen 
Körpern  des  Gliedes  gleichmäßig  statt;  die  den  Rückfluß  hemmende 
Ursache  aber  muß,  da  Glans  und  Corpus  cavernos.  urethrae  unter  allen 
Umständen  weich  bleiben,  ausschließlich  auf  die  Corp.  cavernos.  penis, 
oder  doch  in  viel  größerem  Maßstabe  auf  diese,  als  auf  das  Corpus 
cavernosum  urethrae  wirken." 

Aus  diesen  Worten  unseres  großen  Anatomen,  die,  soviel  ich  weiß, 
nicht  wiederlegt  sind,  folgt  ohne  weiteres,  daß  die  Tatsache,  daß  in  den 
meisten  Fällen  des  Priapismus  Glans  und  Corpus  cavernosum  urethrae 
weich  bleiben,  nur  eben  dem  physiologischen  Verhalten  entspricht,  und 
also  eher  für  einen  dem  physiologischen  Vorgange  der  Entstehung 
der  Erektion  analogen  Prozeß  bei  den  Priapismen  spricht,  als  für 
Thrombose ! 

Wir  müssen  also,  wenn  wir  uns  nicht  mit  einem  einfachen  Ana- 
logieschluß zufriedengeben  wollen,  nach  anderen  Gründen  für  die  An- 
nahme einer  Thrombose  umsehen.  Und  das  sind  meines  Erachtens  vor 
allem  die  enorme  Schmerzhaftigkeit  des  Prozesses,  die  bei  allen  Fällen 
mehr  oder  weniger  hervorgehoben  wird.  Verschiedentlich  oder  meistens 
sind  die  Kranken  auch  bei  idiopathischem  Priapismus  als  kachektisch 
oder  sonstwie  in  ihrer  Ernährung  herabgekommen  geschildert.  Wir 
müßten  in  diesen  Fällen  also  an  eine  marantische  Thrombose  denken. 
Am  ausgesprochensten  zeigt  dies  der  Fall  von  Kauders.  Unser  Fall 
allerdings  betrifft  einen  äußerst  gesunden,   blühenden  Mann,  aber  hier 


Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  593 

ist  ja  wiederum  die  Thrombose  durch  die  Operation  bewiesen!  Vor 
allem  scheint  mir  aber  für  eine  Thrombose  das  Bestehenbleiben  des 
Priapismus  trotz  Anwendung  der  verschiedensten  Narkotica,  selbst  der 
Narkose,  zu  sprechen.  Dies  ist  jedenfalls  der  Hauptgrund,  der  für  mich 
gegen  eine  einfache  Nervenreizung  oder  -Ueberreizung  als  alleinige  Ur- 
sache spricht. 

Henle  führt  seine  oben  zitierten  Darlegungen  folgendermaßen  weiter 
aus:  ^Es  folgt  daraus,  daß  wir  sie  (d.  h.  die  den  Rückfluß  des  Blutes 
hemmende  Ursache)  nicht  zu  suchen  haben  an  der  Vena  dorsalis  penis, 
die  vorzugsweise  Blut  aus  der  Glans  und  den  übrigen  Abteilungen  des 
Corp,  cav.  urethrae  zurückführt,  sondern  an  den  Venen,  die  direkt  aus 
den  Corpora  cavemosa  penis  stammen.  Die  Hauptabzugsquellen  des 
Blutes  der  Corp.  cav.  penis  aber  sind  die  Venae  profundae,  die  aus  der 
Wurzel  des  Corp.  cav.  hervorkommen,  sich  seitlich  von  der  Vena  dor- 
salis unter  den  Schambogen  begeben  und  innerhalb  des  Diaphragma, 
zwischen  den  Bündeln  des  M.  transversus  perinei  hindurch  zur  Vena 
pudenda  verlaufen.  Dieser  Muskel  kann  sich  nicht  kontrahieren,  ohne 
die  durch  denselben  rückwärts  ziehenden  Venen  zu  pressen  .  .  .  Der 
M.  transv.  perinei  prof.  ist  also  dazu  geeignet,  durch  tonischen  Krampf 
den  Rückfluß  des  Venenblutes  aus  den  kavernösen  Körpern  zu  unter- 
brechen und  dadurch  die  unvollkommene  Erektion,  die  in  einer  bloßen 
Anschwellung  ohne  Erhärtung  besteht,  zu  einer  vollkommenen  zu 
machen.  Er  wird  dies  auch  vermögen,  wenn  nicht  alles  Blut  der  kaver- 
nösen Körper  durch  den  M.  transv.  perinei  prof.  fließt,  sondern  ein  Teil 
desselben  durch  die  V.  dorsalis  abgeleitet  wird.  Denn  es  kommt,  um 
die  Erektion  zu  stände  zu  bringen,  nicht  auf  absolute  Hemmung  des 
Rückflusses,  sondern  nur  darauf  an,  daß  die  Bahnen,  durch  die  das  Blut 
zu  den  Venenstämmen  zurückkehrt,  im  Verhältnis  zu  den  zuführenden 
Gefäßen  erheblich  beschränkt  werden.  Ja,  es  ist  kaum  denkbar,  daß  die 
Hemmung  des  Rückflusses,  wenn  sie  eine  totale  wäre,  ohne  Nachteil  für 
die  Ernährung  der  Gewebe  so  lange  Zeit  bestehen  könnte,  wie  die 
Erektion,  z.  B.  bei  Paraplegischen,  sich  erhält." 

Wenn  wir  von  den  anderen  Ursachen  der  Erektion  absehen  — 
Landois  (Lehrbuch)  erwähnt  z.  B.  noch  den  M.  ischio-  und  bulbo- 
cavernosus,  die  Zusammenpressung  des  Ursprungs  der  Penisvenen,  der 
in  den  Schwellkörpern  selbst  liegt,  durch  die  Härtung  der  letzteren,  und 
die  Muskelbälkchen  des  SANTORiNischen  Geflechts,  die  die  Venenlumina 
zum  Teil  versperren  —  so  müßte  sich  also  beim  protrahierten  Priapis- 
mus eine  fortdauernde  Kontraktur  des  M.  transv.  perinei  prof.  finden. 
Diese  aber  sollte  wohl  kaum  einer  tiefen  Chloroformnarkose  widerstehen ! 
Es  spricht  aber  noch  ein  anderes  Moment  gegen  nervöse  Kontraktur 
des  M.  transv.  perinei  prof.,  das  ist  die  —  wenigstens  meistenteils  — 
beobachtete  Nichtbehinderung  der  Urinentleerung  bei  unseren  Kranken. 
Denn,  so  sagt  wiederum  Henle,  „der  M.  transv.  perinei  prof.  ist  nicht 


594  Carl  Ooebel, 

eigentlich  Sphinkter  der  Urethra ;  wohl  aber  erklärt  sich  aus  dem,  wenn 
man  so  sagen  darf,  zufälligen  Verhältnis  desselben  zur  Urethra,  warum 
während  der  Erektion  die  Harnentleerung  unmöglich  isf  Zieht  doch 
^nebst  den  tiefen  Venen  der  kavernösen  Körper  bei  dem  Manne  die 
Pars  membranacea  urethrae  durch  den  M.  transv.  perinei  prof.  und  wird 
von  den  Bündeln  desselben  in  einer  Weise  umfaßt,  daß  seine  Kontraktion 
nicht  verfehlen  kann,  die  Urethra  zu  verschließen^. 

Auf  andere  Gründe,  die  eine  lediglich  nervöse  Ursache  ausschließen, 
will  ich  hier  nicht  eingehen.  Adams  weist  in  seiner  Dissertation  die 
von  Salzer  angenommene  Hypothese  einer  Alteration  des  Nervensystems 
durch  das  leukämische  Blut  mit  guten  Gründen  zurück,  auch  unser  Fall 
von  leukämischem  Priapismus  hat  nach  Anamnese  und  klinisch-ana- 
tomischem Befund  mit  vervösen  Einflüssen  nachweisbar  nichts  zu  tun. 

Von  den  Fällen  von  idiopathischem  Priapismus  müssen  meiner  An- 
sicht nach  nur  die  von  Hargis  und  Mainzer  zu  einigem  Bedenken 
Anlaß  geben.  Der  erstere  ist  zu  kurz  referiert,  als  daß  ich  auf  ihn  näher 
eingehen  könnte,  und  ich  muß  zugeben,  daß  hier  eine  lediglich  nervöse 
Ueberreizung  ohne  das  anatomische  Substrat  der  Thrombose  möglich 
wäre.  Ebenso  scheint  es  im  Fall  Mainzer  zu  sein.  Der  Autor  selbst 
scheint  nicht  an  eine  Thrombose  gedacht  zu  haben.  Für  einen  tonischen. 
Krampf  des  M.  transv.  perinei  prof.  spricht  entschieden  die  konstatierte 
Spannung  der  Perinealmuskulatur  und  des  Sphincter  ani ;  für  eine  ledig- 
lich nervöse  Ursache  die  Anamnese  des  Kranken.  Und  doch  möchte 
ich  bei  der  starken  Schmerzhaftigkeit  der  Affektion  und  dem  zirkum- 
skripten Oedem  der  Haut  des  Dorsum  penis  die  Möglichkeit  einer 
Thrombose  nicht  ausschließen. 

Ich  will  natürlich,  auch  bei  den  anderen  Fällen,  nicht  so  verstanden 
sein,  als  ob  ich  eine  nervöse  Ursache  des  Priapismus  absolut  negieren 
wolle,  auch  wo  er  als  „idiopathischer''  imponiert.  Aber  es  scheinen  mir 
doch  in  fast  allen  Fällen  auch  andere  Momente  (cf.  No.  5)  speziell  als 
Ursache  der  langen  Dauer  mitzusprechen. 

Als  weiteren  Grund  für  das  Bestehen  einer  Thrombose  gibt 
Weber  die  Tatsache  an,  daß  „in  injuries  and  diseases  of  the  central 
nervous  System,  when  priapism  forms  a  clinical  feature  ot  the  case» 
the  erection  of  the  penis  is  often  only  intermittent.  In  nervous  casea 
an  intermittent  priapism  may  be  excited  by  the  least  recurrent  Irritation^ 
such  as  movements  of  the  bedclothes,  the  passage  of  a  catheter,  or 
any  friction  to  the  skin  of  the  thigh.  In  certain  cases  it  is  recorded 
that  a  so-called  priapism  has  lasted  for  very  long  periods,  even  years,. 
but  probably  not  without  temporary  intermittence  and  remittance 
(abatement  in  degree)  from  time  to  time."  Nun  haben  wir  allerdings 
—  abgesehen  von  den  anderen  Arten  des  Priapismus,  wo  z.  B.  im  Falle 
Neidhart  der  leukämische  Priapismus  2mal  im  Verlaufe  der  Krankheit 
2—3  Wochen  lang  auftrat,  wo  in  Salzers  Fall  auch  mehrere  schmerz- 


Ueber  idiopathischeD,  protrahierten  Priapismus.  595 

hafte  Erektionen  dem  Hauptanfall  voraufgingen,  und  endlich  in  unserem 
zweiten  Falle  ein  chronischer  intermittierender  Priapismus  vorlag  — 
unter  den  10  Fällen  von  idiopathischem  Priapismus  einige,  in  denen 
der  Priapismus  intermittierend  resp.  rezidivierend  ist.  So  in  unserem 
eigenen  Falle.  Aber  gerade  hier  —  wenn  wir  wirklich  auf  die  Anamnese 
Wert  legen  wollen  —  ist  gerade  die  Thrombose  als  Ursache  des  be- 
obachteten Priapismus  nachgewiesen.  Weiter  im  Falle  Mackie,  aber 
auch  hier  wies  die  Operation  Thrombose  im  oben  angedeuteten  Sinne 
nach.  Endlich  in  Mainzers  Fall.  Betreffs  dieses  muß  ich  auf  das 
oben  Gesagte  verweisen. 

5)  Worin  besteht  aber  nun  das  die  Thrombose  ver- 
anlassende Moment? 

Nach  ZiEOLER  (p.  147  seiner  allgem.  Pathologie)  kommt  die 
Thrombusbildung  zu  stände  durch  Verlangsamung  des  Blut- 
stromes oder  andere  Zirkulationsstörungen,  durch  lokale  Ver- 
änderungen der  Gefäßwände  und  wahrscheinlich  auch  durch 
pathologische  Veränderungen  des  Blutes.  ^Nach  der  Ver- 
schiedenart der  Bedingungen,  unter  denen  Thrombose  beim  Menschen 
vorkommt,  müssen  wir  annehmen,  daß  bald  das  eine,  bald  das  andere 
Moment  vornehmlich  die  Entstehung  der  Thrombose  bedingt,  oder  daß 
alle  drei  gleichmäßig  zu  ihrer  Bildung  beitragen  können,  daß  dagegen 
ein  Moment  allein  zu  dem  Zustandekommen  der  Thrombose  gewöhnlich 
nicht  genügt.** 

Da  wir  in  allen  Fällen  von  Erektion  eine  Verlangsamung  des 
Blutstromes  ohne  weiteres  gegeben  haben,  so  ist  ein  Moment  für  die 
Entstehung  einer  Thrombose  also  stets  von  vornherein  vorhanden. 

In  den  Fällen  von  Leukämie  haben  wir  auch  gleich  ein  zweites 
Moment  in  der  pathologischen  Beschaffenheit  des  Blutes.  Wir  müssen 
also  sehr  wohl  zugeben,  daß  das  dritte  Moment  Zieqlers  hier  nicht 
nötig  ist.  Und  doch  scheint  mir  gerade  hier  auch  manches  auf  lokale 
Veränderungen  der  Gefäßwände,  d.  h.  eine  Verletzung  oder  Bluterguß, 
wenigstens  in  einigen  Fällen,  hinzudeuten.  Ich  erwähne  außer  unserem 
Fall  II  nur  den  Fall  Klemme:  der  Patient  wurde  nachts  durch  hef- 
tigen Schmerz  in  der  Urethra  geweckt,  die  Erektion  des  Penis  war  da ; 
am  folgenden  Morgen  Nasenbluten,  Stuhl  mit  schwarzroten,  teerartigen 
Blutgerinnseln.  Muß  man  da  nicht  ohne  weiteres  auf  die  Annahme 
einer  Hämorrhagie  in  den  durch  irgend  eine  Ursache  während  de^ 
Schlafs  in  Erektion  befindlichen  Schwellkörper  kommen?  In  den  aus- 
gesprochen traumatischen  Fällen  liegt  die  Ursache  ohne  weiteres  klar, 
wie  z.  B.  im  zweiten  Falle  Vorsters,  wo  die  Operation  den  die  Ent- 
leerung des  Blutes  aus  dem  Corpus  cavernosum  hindernden  Bluterguß 
entfernte,  ebenso  bei  Johnson  Smiths  Fall.  In  diesen  Fällen  ist 
aber  wiederum  von  einer  Thrombose  nicht  ohne  weiteres  gesprochen! 
In  einigen  Fällen  ist  erschwerte  Defäkation  angeschuldigt,  in  einigen 


596  Carl  Goebel, 

wenigen  schließt  sich  der  Priapismus  direkt  an  den  Coitus  an.  Wer 
sollte  da  nicht  an  kleine  Läsionen  innerhalb  der  Schwellkörper  denken  ? 
Es  liegt  doch  nahe,  aus  den  klarliegenden  Fällen  auf  die  weniger  klaren 
zu  schließen.  Und  da  finden  wir  doch  recht  oft  einen  Bluterguß  und 
<iie  durch  ihn  behinderte  Entleerung  der  Schwellkörper  als  unmittelbare 
Ursache.  Wenn  Adams  gegen  die  Annahme  eines  Blutergusses  als 
Mologisches  Moment  des  leukämischen  Priapismus  den  Mangel  äußerer 
Erscheinungen  eines  solchen  geltend  macht,  so  können  wir  dem,  abge- 
sehen davon,  daß  in  unserem  Fall  II  Andeutungen  davon  vorhanden 
waren,  nicht  ohne  weiteres  beipflichten,  denn  innerhalb  der  Corpora 
cavernosa  kann  sehr  wohl  ein  Bluterguß  auftreten,  ohne  daß  die  äußere 
Haut  affiziert  ist.  Hämorrhagische  Diathese  haben  ja  die  meisten 
Leukämiker.  Daß  —  ich  sehe  von  unserem  Falle  II  hier  ab  —  im  Falle 
LoNGüET,  Salzer  und  Adams  Erektionen  von  V2~lV2Stündiger  Dauer 
der  länger  dauernden  Hauptattacke  vorausgingen,  spricht  wohl  weder 
gegen  einen  Bluterguß,  noch  gegen  weiße  Thrombose.  Adams  meint, 
daß  ein  Bluterguß  in  so  kurzer  Zeit  nicht  wieder  aufgesaugt  werden 
könne.  Aber  könnte  denn  eine  weiße  Thrombose  in  so  kurzer  Zeit  in 
graue  Erweichung  übergehen?  Ich  glaube,  daß  diese  vorhergehenden 
Erektionen  weder  durch  Bluterguß,  noch  durch  Thrombose  bedingt  sind, 
sondern  daß  diese  Erektionen  eher  physiologisch  waren,  vielleicht  aller- 
dings schon  protrahiert  infolge  der  Klebrigkeit  etc.  des  leukämischen 
Blutes;  daß  nun  der  erigierte  Penis  eine  Läsion  erlitt,  die  einen  sich 
allmählich  vergrößernden  und  abfahrende  Gefäße  komprimierenden  Blut- 
erguß —  mag  er  auch  noch  so  klein  sein  und  noch  so  gering  die 
Ursache  —  verursachte,  der  dann  wieder  das  zur  Thrombose  neigende 
Blut  zur  Stase  und  konsekutiven  Thrombose  brachte.  Sehr  instruktiv 
ist  die  Angabe  Walkers,  der  einen  schmalen  harten  Ring  rings  um 
die  Corp.  cavern.  2"  unterhalb  der  Eichel  kurz  vor  Eintreten  der  Relaxation 
fühlte.  Man  wird  hier  wohl,  wie  in  unserem  Falle  II,  an  einen  Blut- 
Verguß  denken  dürfen. 

Müssen  wir  nun  auch  in  Fällen  von  marantischer  Thrombose  zu 
-einem  Bluterguß  als  Ursache  derselben  unsere  Zuflucht  nehmen? 
A  priori  gewiß  nicht.  Die  Erektion  bedingt  immer  eine  Stase.  Und 
•eine  Stase  allein  kann  bei  kachektischen  Individuen  wiederum  Throm- 
bose bedingen.  So  ließe  sich  denn  bei  wirklich  marantischen  Individuen 
^hne  weiteres  ein  idiopathischer  Priapismus  erklären.  Aber  zunächst 
war  bei  manchen  dieser  Kranken  der  Marasmus  recht  wenig  aus- 
gesprochen und  andererseits:  weshalb  haben  wir  nicht  mehr  Fälle  von 
Priapismus  bei  marantischen  Individuen,  die  in  der  Befriedigung  der 
Libido  sexualis,  ich  erinnere  nur  an  Phthisiker,  selbst  im  letzten 
Stadium,  oft  noch  Erkleckliches  leisten? 

In  einigen  wenigen  Fällen  liegt  endlich  der  Verdacht  nahe,  daß 
Arteriosklerose  in  ursächlichem  Zusammenhang  mit  einem  Bluterguß 


üeber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus.  597 

oder  Thrombose  der  Schwellkörper,  resp.  Alterationen  ihrer  Gefäßwände 
zu  setzen  ist.  In  dieser  Beziehung  könnte  man  dem  Alkoholismus 
gewiß  eine  ätiologische  Wichtigkeit  vindizieren.  Mit  Ausnahme  von 
drei  sind  alle  referierten  Fälle  von  idiopathischem  Priapismus  im  Alter, 
wo  Arteriosklerose  schon  in  Frage  kommt.  Dieselbe  wird  allerdings 
nie  besonders  angegeben.  Nur  im  Falle  Machie  ließe  sich  das  ^taube, 
ziehende  Gefühl  im  rechten  Arm  und  Fuß^  auf  Arterienerkrankung 
beziehen. 

Kurzum:  Das  Vorkommen  des  Priapismus  bei  Blutern, 
bei  Leuten  mit  hämorrhagischer  Diathese,  die  Beob- 
achtungen der  Krankheit  nach  Trauma,  zu  gleicher  Zeit 
mit  Hämorrhagien  in  anderen  Organen,  das  Entstehen 
bei  erschwerter  Defäkation,  nach  Coitus  bei  sexuell 
erregten  Menschen  legt  den  Gedanken  eines  ursächlichen 
Blutergusses  und  konsekutiver  Thrombose  nach  Behin- 
derung des  Blutabflusses  sehr  nahe. 

Die  Fälle  von  spontan  oder  so  gut  wie  spontan  nach  Anwendung 
verschiedener  Medikamente  zurückgehendem  Priapismus  sprechen  ent- 
schieden auch  für  einen  Bluterguß  als  Ursache.  Im  Fall  Windish 
verschwand  die  Erektion  nach  25  Tagen,  im  Fall  Weber  nach  4  Wochen, 
im  Fall  Walker  nach  21  Tagen.  In  dieser  Zeit  kann  ein  Bluterguß 
gerade  resorbiert  oder  bei  Obliteration  eines  Gefäßes  die  Bildung  von 
Kollateralbahnen  eingeleitet  sein.  Wenn  wir  freilich  in  der  Anamnese 
meist  nähere  Daten,  die  auf  Entstehen  eines  Blutergusses  hinweisen, 
vermissen,  so  ist  das  bei  einem  so  heiklen  Leiden  nicht  wunderbar. 
Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  der  Fall  Mainzers,  bei  dem 
erst  nach  langem  Bemühen  des  Arztes  mit  der  wahren  Ursache  heraus- 
gerückt wurde. 

Endlich  möchte  ich  noch  einem  Einwand  begegnen,  der  dahin  ge- 
macht werden  könnte,  daß  die  Gründe,  die  ich  für  eine  Thrombose  als 
anatomisches  Substrat  des  Priapismus,  auch  des  idiopathischen,  ange- 
führt habe,  ebensogut  nur  für  das  Bestehen  einer  inneren  Verletzung 
der  Schwellkörper  oder  eines  Blutergusses  sprechen.  Das  muß  ich  zu- 
geben. Man  könnte  sogar  sagen,  daß  die  Fälle  idiopathischen  Priapis- 
mus, die  auf  Medikamente,  d.  h.  wohl  spontan  zurückgingen,  auf  Blut- 
erguß ohne  Thrombose,  die  erst  operativ  beseitigten  oder,  wie  der  Fall 
Walker,  mit  Erektionsverlust  einhergehenden  auf  Bluterguß  mit  kon- 
sekutiver Thrombose  beruhten.  Aber  wie  soll  bei  einem  Bluterguß 
eine  wirkliche  Thrombose  ausbleiben?  Schon  oben  bei  der  Epikrise 
meines  Falles  habe  ich  allerdings  darauf  hingewiesen,  daß  manches 
dafür  spricht,  daß  die  Thrombose  der  Corpora  cavernosa  nicht  dem 
gewöhnlichen  pathologisch-anatomischen  Bilde  einer  solchen  entspricht. 
Dieselbe  Erscheinung  haben  Birkett  und  Mackie  bei  ihren  Incisionen 
erlebt.    Birkett  spricht  nur  von  einer  schwarzen,  dicken,  blutähnlichen 

Mtttdl.  a.  d.  Gronzffebietea  d.  Medizin  a.  Chinufie.   ZIII.  Bd.  39 


598 


Carl  Goebel, 


Flüssigkeit,  der  Priapismus  bestand  hier  aber  noch  nicht  lange  Zeit; 
Mackie  von  einer  großen  Menge  schwarzen,  halbgeronnenen  Blutes. 
Wir  müßten  demnach  dem  Endothel  der  kavernösen  Räume  die  Fähig- 
keit zutrauen,  eine  feste  Thrombose  des  Blutes  lange  verhindern  zu 
können,  eine  Eigenschaft,  die  möglicherweise  auch  bei  der  physio- 
logischen Erektion  eine  Rolle  spielt. 

Jedenfalls  aber  folgt  aus  diesen  Erwägungen,  daß  nicht,  wie  die 
meisten  Autoren  annehmen,  die  Thrombose,  sondern  die  Verletzung, 
wahrscheinlich  ein  Bluterguß  in  die  Corpora  cavernosa 
die  primäre  Ursache  des  idiopathischen,  protrahierten 
Priapismus  zu  sein  scheint,  und  zwar  stets,  wie  ich  das  voraus- 
gesetzt habe,  eine  Verletzung  während  der  Erektion,  die  dann  wohl, 
das  kann  man  zugeben,  bei  Alkoholikern  und  sexuell  erregten  Indivi- 
duen leichter  erfolgen  mag. 

Zum  Schluß  habe  ich  die  10  Fälle  protrahierten  idiopathischen 
Priapismus  in  einer  kurzen  Tabelle  zusammengestellt  Auf  die  näheren 
Ersdieinungen  lohnt  es  sich  nicht  einzugehen.  Nur  wäre  die  Berech- 
tigung einer  Incision  wohl  noch  nachzuweisen.  Dieselbe  ist  dreimal 
gemacht    In  Birketts   Fall   läßt  sich   die  Berechtigung  nicht   ohne 

Fälle  idiopathischen. 


Na 

Autor 

Alter  des 
Kranken 

(Jahre) 

Beruf 

Dauer 
des 
Pria- 
pismus 

Ursache 

Therapie 

1. 

V.  WlUDISH 

39 

Eldder- 
macher 

25  Tage 

unbekannt 

Medikamente  (Blutegel, 
Um8chlä«;e  etc.,  schließL 
Opium,  Kampfer  u.  warme 
Umschläge) 

2. 

BntKETT 

44 

Arbeiter 

Ungefähr 
14  Tage 

Ck)itus 

Incision  auf  jeder  Seite  des 
Corp.  cavem.,  nach  einig. 
Tagen  wiederholt 

3. 

Smith 

28 

? 

VieleTage 

UeberfüUung 
d.  Harnblase 

(Narkose,  Aderläsae,  Mor- 
phium etc.)  spont  Heiig. 

4. 

Hakgis 

28 

? 

? 

? 

Bromkalium 

5. 

Mackie 

70 

? 

21  Tage 

? 

Ergiebiger  Eioechnitt  in 
das  rechte  Corp.  cavcm., 
2  "  lang 

6. 

HlKD 

55 

? 

6  Wochen 

? 

(Chloral  und  Chloroform- 
narkose) spontane  HeiJg. 

7. 

Walker 

26 

Neger 

21  Tage 

Nachts,  ohne 
Ursache 

Chloroformnarkose,  Kälte, 
Brom ,  Belladonna  etc. 
Veratrumtinkturl 

8. 

Weber 

46 

Bäcker 

4  Wochen 

Morgens  beim 

Erwachen, 

spontan 

Bleiwasserumschläge,  Jod- 
kalium, Chinin  und  Eisen 
etc. 

9. 

Mainzer 

42 

Weber 

9  Tage 

Sexuelle 
üeberreizung 

Warme    Bäder ,     Opium 
Belladonna 

10. 

Goebel 

38 

Schuh- 
macher 

Fast 
8  Wochen 

Coitus 

Incision 

Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus. 


599 


weiteres  zugeben,  da  der  Fall  wohl  noch  expektativ  hätte  behandelt 
werden  können.  Doch  scheint,  da  vollständige  Genesung  eintrat^  ein 
Schaden  nicht  eingetreten  zu  sein.  Ob  der  „ergiebige'^  Einschnitt,  den 
Mackie  ausführte,  nötig  war,  scheint  mir  nach  meiner  Erfahrung  auch 
zweifelhaft,  zumal  sich  dort,  doch  wohl  infolge  der  Operation,  noch 
Fetzen  abgestorbenen  Zellgewebes  abstießen. 

Jedenfalls  kommt  man  mit  einer  kleinen  Incision,  wie  mein  Fall 
beweist,  aus,  und  schadet  dem  Patienten  sicher  nichts.  Die  gefflrchtete 
Folge,  eine  tiefe  Narbenbildung  und  dadurch  bedingte  mangelhafte 
Erektion,  blieb  ganz  aus,  wohl,  weil  der  Schnitt  ganz  oberflächlicht 
eben  durch  die  Albuginea  hindurch  gemacht  war,  ohne  Septen  der 
kavernösen  Räume  zu  verletzen.  Bei  vollkommener  Asepsis  bleibt 
denn  auch  konsekutive  Eiterung,  die  das  Endresultat  sicher  sehr  modi- 
fiziert, nicht  zu  fürchten. 

Wann  soll  man  nun  incidieren  ?  Die  Betrachtung  der  Fälle,  welche 
nach  medikamentöser  Behandlung  heilten,  ergibt,  allerdings  mit  Aus- 
nahme von  HiRDs  Fall,  als  Zeitraum  der  spontanen  Relaxation  die 
3.-4.  Woche  nach  Bestehen  des  Priapismus.  Wir  werden  also  so 
lange,  wenn  nicht  andere  Ursachen  uns  dazu  zwingen,  mit  einer  In- 
protrahierten PriapismuB. 


Befand  bei  Incision 


Bemerkungen 


Schwarze ,  dicke, 
blutahnl.  Flüssig- 
keit 


Mense     schwarzen, 
halbgeronn.  Blutes 


Völlig  geheilt 


Vollständige  Heilg. 


Eoagoliertes  Blut 


Vollkommene     Ge- 
nesung 

Recovery 

Erektionsverlust 


Keine  Knoten  (Skle- 
rose) zurückgeblie- 
ben 

Anscheinend  Erek- 
tionsfähigkeit 

Völlige  Heilg.  Erek- 
tionsfähigkeit 


Kachektisch  aussäend 


Kachektisch.  Kaum  Beschwerden  beim  Harn- 
lassen 


In  baccho  et  venere  ausschweifend.  Para- 
phimose  und  Harnverhaltung  am  Ende 

Notorischer  Säufer 

Schmaler  Bing  um  die  Corp.  cavem.  vor  der 
KelaxatioD.  Urin  mußte  mit  weichem  Ka- 
theter entleert  werden 

Bleiches  Aussehen.  Früher  Lues  und  Go- 
norrhöe 

Alkoholismus  und  Rheumatismus 

Alkoholismus.   Hämorrhoiden.    Nierengries 

39* 


600     Carl  Goebel,  Ueber  idiopathischen,  protrahierten  Priapismus. 

cision  zurückhalten.    Nach  dieser  Zeit  ist  eine  solche  wohl  sicher  an- 
gebracht. 

Unser  Fall  von  leukämischem  Priapismus  ist  wohl  der  erste  derart, 
der  operativ  behandelt  ist,  wenn  wir  von  dem  in  dieser  Richtung 
zweifelhaften  Fall  Rokitanskys  absehen.  Die  Berechtigung  des  Ein- 
griffs ist  ohne  weiteres  klar.  Der  Effekt  wird  ja  leider  hier  eine  voll- 
kommene Erektionsunmöglichkeit  sein.  Doch  liegt  die  Ursache  hierzu 
ja  nicht  an  der  Operation,  sondern  an  der  Krankheit.  Auch  die  anderen 
an  Leukämie  leidenden  Kranken  haben  trotz  scheinbaren  Intaktbleibens 
des  Gliedes,  soweit  das  von  den  Autoren  erwähnt  ist,  die  Erektions- 
möglichkeit verloren. 


Literatur. 

1)  Englisch,  Artikel  Penis  in  Eulbnbubgs  Beal-Encyklopädie.  — 
2)  Taylor,  Gauses  of  priapisme.  Med.  Bec,  Jan.  7.,  1899.  Zit.  nach 
ViRCHOw-HiBSGHS  Jahresbor.,  Bd.  34.  —  3)  Erb,  ELrankheiten  des  Nerven- 
systems und  des  Btickenmarks.  v.  Zibmssbns  Handbuch.  —  4)  Lebert, 
Krankheiten  der  Blase,  v.  Zibmssens  Handbuch.  —  5)  Lonqübt,  Progr^s 
m6d.  1876.  —  6)  Vorstbr,  Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  27,  p.  173.  — 
7)  Adams,  Diss.  inaug.  Bonn,  1894.  —  8)  Ward,  A  case  of  persistent 
priapism.  Lancet,  24.  April  1897.  Bef.  im  Centralbl.  f.  inn.  Med.,  1897, 
No.  50,  p.  1288.  —  9)  Salzbr,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1876,  No.  11  u. 
46.  —  10)  Elemmb,  Inaug.-Diss.  Marburg-Cassel,  1863.  —  11)  Nbidhabt, 
Allgem.  med.  Centralztg.,  1876.  —  12)  MATrmAS,  Allgem.  med.  Centralztg., 
1876,  beide  zitiert  nach  Adams.  —  13)  Kast,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  Bd.  28, 
1895.  —  14)  BoKiTANSKT,  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie,  Bd.  3, 
p.  407.  —  15)  Kaufmann,  Dtsch.  Chir.,  Bd.  50.  —  16)  Wbbbr,  Persistent 
priapism,  from  thrombosis  of  the  Corpora  cavernosa.  Edinb.  med.  Joum., 
Sept.  1898.  —  17)  Mainzer,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1903,  p.  805.  — 
18)  Scholz,  Wien.  med.  Wochenschr.,  1858,  zit.  nach  Nbümann.  —  19)  Nbü- 
mann,  Ueber  Priapismus  und  Cavernitis.  Wien.  med.  Jahrb.,  1882,  p.  143. 
Bef.  in  Schmidts  Jahrb.,  Bd.  200.  —  20)  Booth,  A  case  of  persistent 
priapism.  Lancet,  März  1887,  p.  978.  Bef.  in  Virchow-Hirschs  Jahres- 
bericht, 1887.  —  21)  Weise,  Wien.  med.  Jahrb.,  Supl.,  1840,  p.  74,  zit 
nach  Nbümann.  —  22)  Johnson  Smith,  A  case  of  priapism  lasting  more 
than  four  weeks;  recovery.  Lancet,  7.  Juni  1873.  —  23)  v.  Windish, 
Schmidts  Jahrb.,  Bd.  9,  1836,  p.  214.  —  24)  Birkbtt,  Case  in  which  per- 
sistent priapism  was  caused  by  extravasation  of  blood  into  the  corpora 
cavernosa  of  the  penis.  Lancet,  16.  Febr.  1867.  —  25)  Jos.  B.  Smith, 
Idiopathic  priapism  with  a  case.  New  Orleans  Joum.  of  med.,  Jan.  1869. 
Bef.  in  Virchow-Hirschs  Jahresber.,  1869.  —  26)  Hargis,  ebenda,  April 
1869.  —  27)  Mackib,  Edinb.  med.  Joum.,  Nov.  1872,  p.  418.  Bef.  Virchow- 
Hirschs  Jahresber.,  Bd.  7,  1872.  —  28)  Hird,  Lancet,  1873,  7.  Juni.  Ref. 
in  Virchow-Hirschs  Jahresber.,  1873.  —  29)  Walker,  Americ.  Joum., 
N.  S.  146,  April  1877,  p.  565.  Ref.  Schmidts  Jahrb.,  Bd.  175.  —  30)  Pbabody, 
On  persistent  Priapism,  not  connected  with  Lesion  of  the  Central  Nervous 
System.     New  York  med.  Journ.,  Vol.  31,  1880,  p.  463,  zit  nach  Wbbbr. 


AÜt,^d.(hwnxffMetmd.Af0acütt^CAirt^  JOT. 


(Aus  dem  Auguste- Viktoria-Krankenhaus  vom  roten  Kreuz 
Neu  Weißensee-Berlin.) 


Nachdruck  verboten. 


XXIIL 

Lymphogene  und  hämatogene  Eiterungen 

bei  Pneumonie. 


Von 

Dr.  Artliiir  Bloch, 

Assistenzarzt  des  Krankenhauses. 
(Hierzu  1  Kurvenbeilage.) 


Als  die  durch  den  Diplococcus  lanceolatus  (Pneumococcus  FrInkel- 
Weichselbaum)  verursachten  metastatischen  Eiterungen  bekanntwurden, 
hielt  man  sie  anfangs  alle  für  hämatogene.  Weichselbaum  (1)  hat 
zuerst  darauf  hingewiesen,  daß  die  eiterige  Meningitiden  erzeugenden 
Pneumokokken  nicht  immer  auf  dem  Blutwege  eingeschleppt  werden, 
sondern  er  teilt  einige  eklatante  Fälle  mit,  wo  Pneumokokken  auf  dem 
Ljmphwege  in  die  Meningen  eingewandert  waren.  Seine  Ansicht  stützten 
Ortmann  und  Samter  (2)  durch  nicht  minder  beweiskräftige  Be- 
funde. Netter  (3)  bewies  das  Weiterwandern  der  Pneumokokken 
auf  dem  Lymphwege  von  ihrem  ursprünglichen  Lokalisationsherd,  den 
Lungen,  aus,  ohne  daß  sie  Eiterungen  verursachten.  Pfisterer  (4) 
erkannte  zum  erstenmal,  daß  metastatische  Gelenk-  und  Knochen- 
eiterungen bei  Pneumonie  wohl  auch  durch  auf  dem  Lymphwege  ein- 
gewanderte Pneumokokken  verursacht  werden  könnten,  und  führt  zum 
Beweis  sowohl  eigene  Befunde  als  auch  solche  obiger  Autoren  an.  In 
meiner  Inauguraldissert.  (5)  betonte  ich,  daß  von  Bronchien  und  Lungen 
ausgehende  eiterige  Metastasen  nicht  immer  auf  dem  Blutwege  zu  ent- 
stehen brauchen,  sondern  daß  sehr  wohl  eine  mechanische  Einschleppung 
von  Kokken,  z.  B.  durch  die  Speichelgänge  in  die  Parotis,  oder  eine 
lymphogene  Entstehung  möglich  sei.  Im  hiesigen  Krankenhause  kam 
nun  ein  Fall  zur  Beobachtung,  der  die  Möglichkeit  auch  multipler 
eiteriger  Metastasen  auf  dem  Lymphwege  bei  Pneumonie  sehr  wohl 
illustrieren  kann.  7, 

Der  18-jähr.  Pat.  M.  wurde  am  \8.  Febr.  1904  in  die  med.  Station 
des  Krankenhauses  (dirig.  Arzt  Prof.  Dr.  H.  Wbbbr)  eingeliefert. 


602  Arthur  Bloch, 

Anamnese:  Fat.  gibt  an,  daß  er  tags  zujiror  bei  der  Arbeit  plötzlich 
mit  heftigem  Schüttelfrost  und  Stichen  in  der  rechten  Brustseite  erkrankt 
sei,  so  daß  er  die  Arbeit  niederlegen  mußte.  Er  legte  sich  zu  Bett,  ver- 
suchte jedoch  am  nächsten  Morgen  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen.  Die 
Beschwerden  waren  aber  so  stark,  daß  er  um  Aufnahme  ins  Ki-ankennaus 
ersuchen  mußte. 

Fat.  will  früher  immer  gesund  gewesen  sein  und  gibt  als  Ursache 
seiner  jetzigen  Erkrankung  Erkältung  an.  Der  Vater  starb  —  nach  des 
Fat.  und  dessen  Mutter  übereinstimmender  Angabe  —  an  rechtsseitiger 
Lungenentzündung  mit  folgender  rechtsseitiger  Eückeneiterung. 

Status:  Sehr  kräftig  gebauter  junger  Mann  in  gutem  Ernährungs- 
zustand; es  besteht  geringere  subjektive,  stärkere  objektive  Dyspnoe. 
Bespirationsfrequenz  40.  Der  Fat.  gibt  prompte,  ausführliche  Antworten, 
es  fkllt  jedoch  eine  besondere  Unruhe  auf:  die  Hände  fahren  ohne  Ursache 
über  die  Bettdecke,  die  Bewegungen  sind  etwas  zitternd. 

Der  Thorax  ist,  entsprechend  dem  übrigen  Körperbefund,  kräftig 
gebaut.  Ferkussion  ergibi  r.  h.  u.  eine  etwa  4  fingerbreite  absolute 
Dämpfung;  oberhalb  der  Dämpfung  ist  der  Schall  leicht  tympanitisch ; 
nach  rechts  reicht  die  Dämpfung  bis  zur  vorderen  Axillarlinie.  In  ihrem 
Bereich  ist  das  Atemgeräusch  rein  bronchial,  der  Stimmfremitus  verstärkt. 
Nur  zwischen  hinterer  und  vorderer  Axillarlinie  hört  man  leises  krepi- 
tierendes  Bassein.  Der  Fat.  expektoriert  nicht  ganz  leicht,  aber  ziemlich 
reichlich  schleimig-eiteriges  Sputum  mit  einzelnen  rostfarbenen  oder  rein 
blutigen  Streifen. 

Die  Untersuchung  des  Herzens  ergibt  sowohl  in  Bezug  auf  Grenzen 
wie  Töne  vollkommen  normalen  Befund.  Der  Fuls  ist  mäßig  kräftig,  gleich- 
mäßig; Frequenz:  110,  Temperatur  40,5.  Die  Zunge  ist  mäßig  belegt 
Abdomen  ist  weich,  nirgends  schmerzhaft,  Leber  nicht  vergrößert,  Milz 
nicht  fühlbar,  aber  perkutorisch  wenig  vergrößert.  Stuhlgang  und  Urin  ohne 
Besonderheiten. 

Klinische  Diagnose:  E^rupöse  Fneumonie  des  rechten  Unterlappens. 
Beginnende  Fneumonie  des  rechten  Mittellappens. 

Ordination:  Mixtura  solv.  stibiat,  Fbibssnitz scher  Umschlag;  trockne 
Schröpfköpfe  im  Bereich  der  Dämpfung. 

9.  Febr.  Die  Dämpfung  ist  um  einen  Querfinger  gestiegen.  Tempe- 
ratur 39,6.  Fat.  klagt  über  Schmerzen  im  Kreuz;  beim  Aufsitzen  zeigt 
sich  eine  solche  Schmerzhaftigkeit  und  Steifigkeit  in  der  rechten  Kreus- 
seite,  daß  die  Untersuchung  an  dem  auf  der  linken  Seite  liegenden  Fat. 
vorgenommen  werden  muß.  Objektiv  ist  keine  Ursache  für  die  Schmerz- 
haftigkeit nachzuweisen.  Wegen  Verdachts  auf  Influenzapneumonie  wird 
im  Sputum  auf  Influenzabazillen  gefahndet,  sowie  Armvenenblut  bakterio- 
logisch untersucht.  Doch  werden  im  Sputum  nur  Diplokokken  mit  deut- 
licher Kapsel  nachgewiesen,  während  die  Untersuchung  des  Blutes  negativ 
ausfallt. 

11.  Febr.  Auf  der  rechten  Halsseite  ist  über  Nacht  eine  ca.  klein- 
apfelgroße  Anschwellung  aufgetreten,  die  sich  von  der  Umgebung  nicht 
scharf  abhebt;  Haut  ist  etwas  glänzend,  nicht  gerötet.  Der  Tumor  gibt 
Zeichen  deutlicher  Fluktuation.  Diagnose:  metastatischer  Halsabsceß; 
Fat.  wird  auf  die  chirurgische  Abteilung  des  E^rankenhauses  (dirig.  Arzt 
Dr.  Bode)  verlegt. 

Bei  der  von  Herrn  Dr.  Bode  am  12.  Febr.  ausgeführten  Operation  in 
Aethemarkose  werden  3  Incisionen  gelegt;  es  entleeren  sich  etwa  100  com 
hellgelben  rahmigen  Eiters;    die  Abceßhöhle  erstreckt  sich  vor  und  unter 


Lymphogene  und  hämatogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  603 

dem  M.  sternocloidomastoideus  bis  zur  Clavicula,  ist  aber  ohne  Verbindung 
mit  dem  Mediastinum.     Jodoformgazetamponade,  Verband. 

13.  Febr.  Die  Schmerzen  im  Kreuz  bleiben  dieselben,  ohne  daß  außer 
der  abendlichen  Temperatursteigerung  von  40,0®  eine  Ursache  ersichtlich 
ist.  Die  Dämpfung  hat  sich  in  den  abhängigen  Lungenpartien  etwas  auf- 
gehellt; ebenso  ist  hier  wenig  Knisterrasseln  und  vesikuläres  Atmen  mit 
bronchialem  Beiklang  hörbar. 

15.  Eebr.  Die  Halswunden  sezemieren  reichlich.  Bückenschmerzen 
sind  bei  Lageveränderung  besonders  quälend.  Knisterrasseln  ist  nunmehr 
reichlich  im  Bereich  der  früheren  Dämpfung  hörbar,  die  sich  jetzt  aufge- 
hellt hat.  Auswurf  ist  reichlich  eitrig.  Husten  ist  mäßig  reichlich;  trotz- 
dem bietet  der  Fat.  in  seiner  passiven  Bückenlage,  dem  fieberhaft  ge- 
röteten Gesicht,  den  etwas  zitternden  Bewegungen  das  Bild  eines 
Schwerkranken  dar.  Herztöne  sind  andauernd  rein.  Bakteriologische  Blut- 
untersuch ong  wiederholt  negativ. 

19.  Feb.  Die  schmerzhafte  rechte  Bückenseite  ist  jetzt  deutlich  ge- 
schwollen. Die  Stelle  stärkster  Schwellung  gibt  undeutliche  Zeichen  von 
Tiefenfluktuation.  Es  besteht  weder  Hautödem  nach  Hautrötung.  Diagnose: 
Paranephritischer  Absoeß. 

20.  Febr.  Operation  in  Aethernarkose.  Ca.  12  cm  langer  Schnitt, 
parallel  der  Wirbelsäule;  ünterhautbindegewebe  ist  unverändert.  Die  ober- 
flächliche Eückenmuskulatur  ist  ödematös  inflltriert;  nach  ihrer  Durch- 
schneidung ergießen  sich  in  großem  Strom  ca.  400  cm  hellgelben  Eiters. 
Von  der  großen  Absceßhöhle  zweigt  sich  ein  etwa  fingerdicker  Gang  nach 
oben  ab ;  der  hindurch  geführte  kleine  Finger  stößt  mit  der  Kuppe  an  eine 
rauhe  Knochenfläche,  die  als  Querfortsatz  eines  Lendenwirbels  angesprochen 
wird.  Es  folgt  die  Einführung  eines  dicken  Drainrohres  in  den  Fistel- 
gang, Jodoformgazetamponade  der  Absceßhöhle  und  Verband.  Bakteriolo- 
gische Blutuntersuchung  verläuft  negativ. 

26.  Febr.  In  den  nächsten  Tagen  bietet  Fat.  dasselbe  Bild  dar. 
B^ichliche  Sekretion  aller  Wunden,  die  einen  täglichen  Verbandwechsel 
notwendig  machen  und  abendliche  Temperatursteigerung  von  39,2 — 39,8  ^ 
Fat.  ist  zeitweise  etwas  benommen,  jedoch  ist  das  subjektive  Befinden  in 
der  übrigen  Zeit  ein  ganz  gutes. 

Am  27.  Febr.  stellen  sich  nachts  Schmerzen  auf  der  Brust  ein,  nament- 
lich in  der  Stemalgegend,  und  Fat.  meint,  auf  das  Sternum  deutend,  „daß 
dieser  Knochen  ihn  schmerze".  Es  besteht  aber  weder  irgend  welche 
Schwellung  oder  Bötung  noch  eine  besonders  druckemfindliche  Stelle 
dieser  Gegend. 

Am  29.  Febr.  entwickelt  sich  im  obersten  Drittel  des  Stemums  eine 
etwa  lO-Ffg.-Stück  große,  nicht  eindrückbare  Anschwellung;  die  Haut  ist 
darüber  weder  gerötet  noch  ödematös,  dagegen  ist  diese  Stelle  sehr  druck- 
empfindlich. 

Operation  am  1.  März  in  Aethernarkose:  Nach  Durchtrennung  der 
Haut  sieht  man  das  Periost  durch  die  Anschwellung  von  der  Unterlage 
abgehoben;  es  wird  völlig  abgelöst,  und  man  trifft  auf  eine  Erweichung 
im  Sternum  die  aus  grau-rötlichen  und  gelblich-eiterigen  bröckeligen  Gra- 
nulationen besteht.  Es  erfolgt  eine  partielle  Besektion  des  Sternums  an 
dieser  Stelle,  wobei  das  Mediastinum  in  einer  Ausdehnung  von  1 — 2  cm 
freigelegt  wird,  da  der  Herd  das  Sternum  in  seiner  ganzen  Dicke  durch- 
setzt; aus  dem  Mediastinum  entleert  sich 'kein  Eiter.  —  Jodoformgaze- 
tamponade, Verband. 

Vom  weiteren  Krankheitslauf  w*äre  hinzuzufügen,  daß  die  Halswunden 


604  Arthur  Bloch, 

tmd  der  Stemalherd  sich  langsam  reinigen  und  ausgranulieren,  während 
die  Bückenwunde  reichlich  Eiter  entleert,  der  aus  der  Fistel  stammt. 
Daher  am  17.  März  Spaltung  dieses  Fistelganges.  Allmählich  tritt  in  der 
linken  Bauchseite  eine  sehr  druckempfindliche  Resistenz  auf,  deren  Pal- 
pation eine  starke  Eitersekretion  in  den  unteren  Wundpol  der  Bückenwunde 
bewirkt. 

Am  25.  März  wird  der  bei  Streckung  des  linken  Beines  sich  stark 
vorwölbende  Absceß  im  linken  H3rpochondrium  eröffnet,  worauf  sich  in 
hohem  Strahl  eine  überaus  reichliche  Menge  Eiter  entleert.  —  Tamponade 
der  sehr  großen  Absceßhöhle  und  Einführung  eines  dicken  Drainrohrs. 

Der  Eiter  der  beiden  Herde  wie  auch  die  Granulationen  des  Sternal- 
herdes  enthielten  mikroskopisch  nach  Gram  ^rbbare  lanzettförmige  Diplo- 
kokken mit  deutlicher  nicht  fkrbbarer  Kapsel;  diese  läßt  sich  jedoch  mit 
verdünnter  Essigsäure  darstellen  und  wird  besonders  deutlich  nach  Färbung 
des  Präparates  mit  Gentianaviolettlösung,  Entfärbung  der  Eiterkörperchen 
durch  absoluten  Alkohol  und  Gegenftrbung  mit  Fuchsinlösung  (A.  FrInkel). 

Impfung  auf  Fleischwassergelatine  bei  Zimmertemperatur  und  22  ^ 
ergab  in  den  ersten  Tagen  negatives  Eesultat;  nach  10 — 12  Tagen  ent- 
wickelten sich  feine,  perlschnurartig  aneinandergereihte  Kolonien  längs  des 
Impfstiches  ohne  besonders  charakteristischen  Nagelkopf.  Bei  37®  ge- 
züchtete Glycerin-Agarplattenkultur  zeigt  ganz  feine  tautröpfchenähnliche 
Kolonien,  die  bei  Iteagenzglasstrichkultur  dieselbe  Wachstumsform  zeigen. 
Eine  in  Milch  gebrachte  Kultur  verursacht  Gerinnung. 

Mikroskopisch  sind  immer  Diplokokken  mit  nicht  färbbarer  Kapsel 
nachzuweisen.  Nur  aus  dem  Eiter  des  Bückenabscesses  wurde  neben  dem 
Diplococcus  auch  noch  der  Staphylococcus  albus  gezüchtet. 

Tierversuche:  Maus  I  wird  mit  2  stecknadelkopfgroßen  Kolonien  (bei 
88  ®  gezüchtet)  subkutan  in  der  Gegend  der  Schwanzwurzel  geimpft.  Tod 
nach  36  Stunden:  Milz  geschwollen,  Augen  verklebt,  im  Pleurasack  ge- 
ringes Exsudat,  ebenso  geringer  Ascites;  in  der  Impfstelle  geringe  Infil- 
tration. Aus  dem  Blut  und  Exsudat  werden  Pneumokokken  in. Beinkultur 
gezüchtet. 

Maus  n  mit  ca.  3  stecknadelkopfgroßen  (bei  37®  gezüchteten)  Ko- 
lonien intraabdomineU  geimpfl.  Tod  nach  12  Stunden.  Im  Abdomen  eite- 
riges Exsudat,  Därme  verklebt;  aus  Blut  und  Exsudat  Pneumokokken  in 
Beinkultur. 

Maus  m  intrapleural  mit  ca.  3  stecknadelkopfgroßen  Kolonien  (bei 
37  •  gezüchtet  und  2  Tage  bei  40  ®  belassen)  geimpft.  Tod  nach  4  Tagen. 
Lunge  der  Einstichseite  infiltriert,  sinkt  im  Wasser  unter;  mikroskopisch 
ist  Pneumonie  mit  kleinzelliger  Infiltration  nachweisbar,  daneben  aber 
erhebliche  Blutung  des  Lungengewebes  (wohl  durch  Einstich  bewirkt), 
außerdem  pleuritischer  Erguß,  Verklebungen  und  beginnende  Strangbildung. 
Mikroskopisch  im  pleurit.  Exsudat  und  Blut  massenhaft  Diplokokken  mit 
deutlicher  Kapsel  nachweisbar.     Kultur  ergibt  dasselbe  Besultat. 

Maus  IV  geimpft  mit  3  stecknadelkopfgroßen  Kolonien  (bei  37®  ge- 
züchtet). Tod  nach  48  Stunden.  Pleuritischer  Erguß  und  Verklebungen 
auf  der  Einstichseite;  Pneumonie  dieser  Seite;  Milz  geschwollen.  Aus 
Erguß  und  Herzblut  Pneumokokken  in  Beinkultup. 

Kaninchen  I  subkutan  geimpft  mit  5  stecknadelkopfgroßen  bei  38^ 
gezüchteten  Kulturen.  Tod  nach  6  Tagen  nach  vorübergehender  Tempe- 
ratursteigerung.  In  beiden  Pleurahöhlen  reichliches  seröses  Exsudat:  Milz 


Lymphogene  und  b&matogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  605 

weich  und  geschwollen :  Eeinkultur  von  Pneumokokken  aus  Blut  und  Pleura- 
exsudat. 

Kaninchen  11  mit  ca.  3  stecknadelkopfgroßen,  bei  37^  gezüchteten 
Kolonien  intrapleural  geimpft.  Tod  nach  4  Tagen;  Pleuritis  mit  Exsudat 
und  Verklebungen,  sowie  rechtsseitige  Pneumonie  des  ünterlappens,  die 
makroskopisch  und  mikroskopisch  nachweisbar  ist;  dann  Milztumor,  ge- 
ringer Ascites;  Beinkultur  von  Pneumokokken  aus  Lunge,  Pleuraexsudat 
und  Herzblut. 

Kaninchen  in  mit  5  stecknadelkopfgroßen  Kolonien,  die  bei  37  ^  ge- 
züchtet und  bei  40®  6  Tage  belassen  waren,  interpleural  geimpft.  Tod 
nach  10  Tagen ;  geringes  pleui-itisches  Exsudat  auf  der  Einstichseite,  starke 
Yerklebungen  und  beginnende  Verwachsungen ;  Pneumokokken  sind  mikro- 
skopisch nicht  nachweisbar,  dagegen  ergibt  Impfung  aus  Exsudat  und  Blut 
anf  Glycerinagar  positives  Resultat.  Meerschweinchen  verhalten  sich  re- 
fraktär gegen  die  Infektion. 

Wie  aus  den  Kultur-  und  Tierversuchen  zur  Genüge  hervorgeht, 
handelte  es  sich  bei  dem  Erreger  der  Eiterungen  und  des  Erweichungs- 
herdes im  Sternura  um  den  Diplococcus  lanceolatus  (Pneumo- 
coccus  FrInkel- Weichselbaum). 

Werfen  wir  einen  kurzen  Rückblick  auf  den  Erankheitsverlauf,  so 
handelt  es  sich  um  einen  jungen  kräftigen  Mann,  der  an  einer  echten 
rechtsseitigen  krupösen  Pneumonie  erkrankt,  am  4.  Tage  seiner  Er- 
krankung einen  metastatischen  Absceß  in  den  Weichteilen  der  rechten 
Halsseite  erfährt,  dem  sich  nach  einigen  Tagen  eine  Periostitis  oder 
Osteomyelitis  eines  Lendenwirbels  mit  rasch  sich  entwickelndem  Senkungs- 
absceß  in  die  Rückenmuskulatur  sich  anschließt;  die  Erkrankung  setzt 
sich  fort  in  einen  vom  Mediastinum  ausgehenden  Erweichungsherd  im 
Stemum  und  schließt  mit  dem  von  dem  Knochenherd  im  Lendenwirbel 
aus  entstandenen  nach  vorn  gesenkten  Psoasabsceß. 

Beurteilt  man  den  Fall  mit  Berücksichtigung  der  klinischen  Er- 
scheinungen, der  multiplen  Eiterherde  und  der  Fieberkurve,  so  wird  man 
anfangs  geneigt  sein,  die  Erkrankung  für  eine  an  die  Pneumonie  sich 
anschließende  Pyämie  zu  halten.  Doch  bestehen  verschiedene  Momente, 
die  es  als  sicher  annehmen  lassen,  daß  es  sich  um  multiple  Eiterungen 
handelte,  die  sich  von  der  rechten  erkrankten  Lunge  aus  auf  dem 
Lymphwege  entwickelten. 

Daß  eine  solche  Unterscheidung  wegen  der  prognostischen  Bedeu- 
tung von  großer  Wichtigkeit  ist,  bleibt  später  auszuführen. 

Gehen  wir  auf  die  Gründe  ein,  die  uns  zu  der  seltenen  Diagnose: 
„Multiple  lymphogene  Eiterungen''  berechtigen,  so  ist  es  auf- 
fallend, 

1)  daß  alle  eiterigen  Herde  die  von  der  Pneumonie  befallene 
Seite  betrafen  und  in  nächster  Umgebung  der  rechten  Lunge  sich  aus- 
breiteten: Der  Halsabsceß  reichte  sogar  bis  zum  Mediastinum  und  der 
Senkungsabsceß  der  Rückenmuskulatur  nahm  von  einem  Herd  unterhalb 


606  Arthur  Bloch, 

des  Zwerchfells  seinen  Ursprung  und  saß  ebenfalls  auf  derselben  Seite, 
die  die  Pneumonie  einnahm. 

2)  Es  ist  zweifellos,  daß  der  Sternalherd  vom  Mediastinum  aus 
seinen  Ursprung  nahm,  d.  h.  daß  die  Pneumokokken  vom  Medias- 
tinum aus  in  Periost  und  Spongiosa  einwanderten;  daher  verspürte 
der  Patient  auch  schon  Schmerzen,  bevor  irgend  welche  objektive  Sym- 
ptome vorhanden  waren;  erst  als  der  Prozeß  das  Sternum  seiner  ganzen 
Dicke  nach  durchsetzt  hatte  und  bis  unter  die  Haut  fortgeschritten  war, 
wurde  eine  Anschwellung  sichtbar. 

3)  Im  Blute  wurden  trotz  mehrmaliger  genauer  bakteriologischer 
Untersuchung,  im  Widerspruch  zu  der  schweren  Erkrankungsform,  nar 
einmal  Pneumokokken  nachgewiesen  und  zwar  zu  einer  Zeit,  als  der 
metastatische  Halsabsceß  und  der  periostitische  Herd  im  Lendenwirbel 
schon  bestanden. 

4)  Während  der  ganzen  Dauer  der  Erkrankung  bestanden  keine 
endocarditische  Symptomen. 

5)  Der  Umstand,  daß  —  nach  übereinstimmender  Angabe  des  Pat. 
und  dessen  Mutter  —  der  Vater  ebenfalls  an  rechtsseitiger  Lungenent> 
Zündung  mit  folgender  rechtsseitiger  Rückeneiterung  erkrankt  war  und 
daran  zu  Grunde  ging,  ist  wohl  auch  mehr  als  ein  zufälliges  anam- 
nestisches Zusammentreffen,  sondern  es  dürfte  wohl  bei  unserem  Pat. 
eine  ererbte  Disposition  zur  Ausbreitung  eitererregender  Pneumokokken 
auf  dem  Lymphwege  vorhanden  sein. 

Vergleichen  wir  unsere  Beweispunkte  mit  dem  Befunde  anderer 
Autoren,  so  betont  schon  Pfisterer  (4)  bei  den  von  ihm  angeführten 
Fällen  die  auffallende  Tatsache,  daß  in  10  Proz.  der  Gelenkeiterangen 
das  Sternoklavikulargelenk  befallen  war,  welches  sonst  äußerst  selten 
eiterig  erkrankt,  daß  ferner  von  7  einseitigen  Lungen-  und  Schulter- 
gelenksa£fektionen  ömal  die  Lunge  und  das  Schultergelenk  der  gleichen 
Seite  erkrankten.  Es  ist  einleuchtend,  daß  diese  auffallende  Tatsache 
nicht  als  zufällige  zu  betrachten  ist,  sondern  daß  vielmehr  hier  höchst- 
wahrscheinlich nicht  der  Blut  weg  der  von  den  Pneumokokken  gewählte 
war,  sondern  daß  ein  Weiterwandern  in  der  Lymphbahn  bis  in  die 
gleichseitigen  Sternoklavikular-  und  Schultergelenke  eiterige  Entzündung 
dort  verursachte.  Betreffs  des  Rückenherdes  der  gleichen  Seite  wissen 
wir  aber  auch  aus  den  alten  klassischen  Untersuchungen  Recklino- 
HAUSENs  und  neuerer  von  KOttner  (Brüns'  Beitr.  z.  klin.  Chir., 
Bd.  40),  daß  die  perforierenden  Lymphbahnen  des  Zwerchfells  jeder  Seite 
ein  für  sich  abgeschlossenes  Lymphsystem  bilden;  also  läßt  sich  eine 
Weiterwanderung  der  Kokken  in  diesen  Bahnen  auch  sehr  wohl  denken. 

Für  die  Möglichkeit  der  Pneumokokkenwanderung  durch  die  Lymph- 
spalten des  Mediastinalgewebes  in  die  Weichteile  des  Halses  und  ins 
Sternum  gibt  es  mannigfache  Belege:  Netter  (3)  behauptete,  bei  jeder 
Pneumoniesektion  Pneumokokken  im  Peritonealraume  und  Mediastinal- 


Lymphogene  und  bämatogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  607 

gewebe  gefunden  zu  haben,  ohne  daß  eine  Erkrankung  dieser  Teile 
vorlag.  Ferner  entstehen  Empyeme  ja  auch  durch  Weiterverbreitung 
per  continuitatem ;  Weichselbaüm  (1)  hat  bei  Pneumonie  oft  entzünd- 
liches Oedem  des  Bindegewebes  im  Mediastinum,  in  den  Jugular-  und 
Klavikulargruben  gesehen  und  Pneumokokken  darin  gefunden. 

Netter,  Buschke  (7),  Gabbi  und  Uckmar  (8)  sahen  Tonsillen 
und  Mundschleimhaut  als  Eingangspforten  der  Pneumokokken  an;  es 
würde  dann  ein  Zusammenhang  zwischen  ihrem  Ansiedelungsort,  den 
Langen,  und  dieser  Eingangspforte  in  dem  Lymphwege  zu  suchen  sein, 
wie  auch  aus  den  überzeugenden  Versuchen  Zaüfals  (9)  hervorgeht 
Ebenso  spricht  für  einen  solchen  Zusammenhang  der  von  Uckmar  (8) 
beschriebene  Fall,  dessen  Verlauf  dem  unserigen  ähnelt: 

Bei  einem  jungen  Manne,  der  an  Pneumonie  leidet,  tritt  5  Tage  nach 
der  Krise  eine  schmerzhafte  Schwellung  der  Mundschleimhaut  auf  mit 
zahlreichen  kleinen  Abscessen,  auch  in  den  Tonsillen,  in  welchen  Pneumo- 
kokken nachgewiesen  werden  konnten ;  nach  Heilung  der  Stomatitis  begann 
eine  purulente  Arthritis  der  Schulter.     Der  Pall  verlief  günstig. 

Auch  Weichselbaum  (1)  fand  in  einigen  Fällen  untrügliche  Beweise 
für  die  Weiterwanderung  der  Pneumokokken  auf  dem  Lymphwege  und 
sah  besonders  viele  sogenannte  genuine  Pneumokokkenmeningitiden 
als  auf  diesem  Wege  entstanden  an.  So  fand  er  einerseits  bei  Pneu- 
monien, die  ohne  Komplikation  verliefen,  Pneumokokken  in  den  nor- 
malen oder  entzündeten  Oberkiefer-,  Siebbein-,  Keilbein-,  Pauken-  und 
Stirnhöhlen,  andererseits  fand  er  dasselbe  bei  den  genuinen  Pneumo- 
kokkenmeningitiden. Ortmann  und  Samter  (2)  schlössen  sich  seiner 
Ansicht  an,  auf  folgende  Befunde  gestützt: 

Eine  Frau  mit  Sarkom  und  eiterigem  Ausfluß  der  Nase,  welcher 
Pneumokokken  enthielt,  ging  plötzlich  an  Meningitis  zu  Grunde.  Der  In- 
fektionsweg der  Meningen  war  durch  eine  Eiterung  gekennzeichnet,  die, 
vom  linken  Nervus  olfactorius  ausgehend,  der  Lamina  cribrosa  entlang 
nach  der  orbitalen  Fläche  des  Stimhirnes  weiterging  und  seitlich  weiter- 
kriechend über  die  Konvexität  des  Scheitelhirnes  sich  ausbreitete. 

Bekanntlich  ziehen  aber  die  Lymphbahnen  der  oberen  Nasenhöhle 
mit  der  Olfactoriusausbreitung  zur  Lamina  cribrosa  und  kommunizieren 
hier  mit  den  Subdural-  und  Arachnoidalräumen. 

Ein  zweiter  Fall  betriflft  ein  13j ähriges. Mädchen,  welches  an  einer 
Pneumokokkeneiterung  der  Gesichtshöhlen  litt  und  an  Meningitis  zu 
Grunde  ging. 

BoüLAY  (10),  Netter  (11),  Zaufal  (9),  Ppisterer  (4)  und  Blecher 
(12)  fassen  manche  Meningitiden  und  Pneumokokkeneiterungen  als 
Metastasen  von  Otitiden  auf;  die  Einwanderung  der  Pneumokokken 
vom  Mittelohr  in  die  Meningen  wird  denn  auch  mehrfach  als  auf  dem 
Lymphwege  geschehend  gedacht. 

Die  Möglichkeit  einer  Knochenerkrankung  vom  Periost  aus,   d.  h. 


608  Arthur  Bloch, 

nach  Einwanderung  der  Pneumokokken  durch  das  zerstörte  Periost  in 
die  Spongiosa,  illustrieren  die  primären  Osteoperiostitiden,  die  von 
Blecher  (12),  Lannelongue  undÄCHARD  (13),  Ortmakn  (2),  Fischer 
und  Levt  (4)  und  E.  Mt^LLER  beschrieben  wurden.  Ferner  verdient 
besonders  der  von  Lexer  (15)  beschriebene  Fall  erwähnt  zu  werden: 
Ein  9  Monate  alter  Knabe  litt  an  einem  Absceß  des  Fußes  ohne 
Enochenerkrankung;  der  Absceß  wurde  eröffnet,  es  kam  jedoch  zur 
osteomyelitischen  Erkrankung  der  Tibia  und  nach  Suspension  des 
Beines  sogar  zur  Anschwellung  und  Eiterung  des  Kniegelenks.  Im 
Eiter  und  später  im  Blut  wurden  Pneumokokken  nachgewiesen.  Es 
fand  sich  dabei  ein  großes  Loch  im  Periost,  durch  das  die  Pneumo- 
kokken offenbar  in  die  Spongiosa  eingewandert  waren,  um  sich  von  da 
aus  weiterzuverbreiten. « 

Der  bakteriologische  Blutbefund  war  in  unserem  Falle  mehrere 
Male  negativ,  dagegen  fanden  sich  für  kurze  Zeit  Pneumokokken,  als 
schon  zwei  metastatische  Herde  bestanden.  Bekanntlich  treten  in  vielen 
schweren  Fällen  von  Pneumonie  die  Pneumokokken  ins  Blut  über, 
daher  ist  bei  der  Schwere  der  von  uns  besprochenen  Erkrankung  der 
negative  Ausfall  der  Blutuntersuchung  auffallend  und  wohl  durch  die 
bevorzugte  Ausbreitung  auf  dem  Lymphwege  zu  erklären.  Denn  nach 
CoHN  und  A.  Fränkel  (16)  müßte  ein  Uebergang  immer  dann  er- 
folgen, wenn  Metastasen  entstehen  oder  Exitus  letalis  erfolgt ;  v.  Le yden 
(16)  hält  ebenfalls  den  parasitären  Blutbefund  bei  schweren  Erkran- 
kungen dieser  Art  für  gegeben;  Sello  (17)  fand  sogar  bei  48  Blut- 
untersuchungen von  Pneumonikern  (ohne  Komplikationen  oder  letalen 
Ausgang)  12mal  positives  Resultat,  Casati  (18)  schließlich  behauptet, 
daß  vom  2.  Tag  an  bei  jeder  Pneumonie  Kokken  im  Blut  zirkulieren. 

Jedenfalls  kreisen  in  vielen  Fällen  die  Pneumokokken  im  Blut, 
ohne  Komplikationen  zu  schaffen;  es  muß  also  eine  prädisponierende 
Ursache  entweder  im  Gesamtorganismus  oder  in  den  einzelnen  Organen 
—  namentlich  in  den  Knochen  und  Gelenken  —  vorhanden  sein,  die 
die  Kokken  veranlassen,  ihre  eitererregende  Wirksamkeit  auszuüben. 
Das  erstere  Moment  betont  Pio  FoX  (19)  bei  Individuen,  die  kurz 
vorher  eine  andere  Infektionskrankheit  überstanden  haben  oder  von 
einer  solchen  noch  nicht  ganz  geheilt  sind:  es  gibt  sich  dann  die 
Schwäche  des  Organismus  durch  schnellere  Verbreitung  der  Pneumo- 
kokken im  Blut  kund,  und  es  entstehen  infolgedessen  die  sekundär 
nach  der  Pneumonie  oder  mit  dieser  kompliziert  auftretenden  Lokali- 
sationen,  unter  denen  die  hauptsächlichste  Cerebrospinalmeningitis  ist. 

Nach  Lexer  (15),  Pfisterer  (4)  bietet  ferner  der  jugendliche  Or- 
ganismus in  den  Bezirken  der  Wachstumszonen  bevorzugte  Stellen  zur 
Ablagerung  der  Pneumokokken  dar,  ebenso  wie  Jordan  (20)  die  Prä- 
disposition des  wachsenden  Knochens  zur  Lokalisierung  des  im  Blut 
kreisenden  Mikroorganismus  betont  und  Kraske  ja  schon  vor  17  Jahren 


Lymphogene  und  hämatogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  609 

auf  dem  Chinirgenkongreß  die  Ueberzeugung  aussprach,  daß  sich  bei 
späteren  Untersuchungen  überhaupt  jeder  Mikroorganismus,  der  pyogene 
Eigenschaft  besitze,  als  fähig  erweisen  würde,  für  sich  allein  im  jugend- 
lichen Organismus  eine  Osteomyelitisform  herbeizuführen.  Daher  be- 
ziehen sich  auch  Lannelongues  (13)  Fälle  auf  ein  Alter  von  47^,  17 
und  21  Monaten,  die  von  Fischer  und  Levt  (19)  auf  ein  solches  von 
7  und  15  Monaten,  der  Fall  von  Lexer  auf  ein  9  Monate  altes  Kind. 
Perutz  (21)  betont,  daß  außer  den  von  Ullmann,  Hauser  und  Letden 
erwähnten  Fällen  keiner  das  2.  Jahr  überschritten  hätte. 

Es  kann  ferner  die  Disposition  angeboren  oder  ererbt  sein. 
Nicht  anders  ist  der  von  Delestig  (29)  beschriebene  Fall  zu  deuten: 

Eine  Schwangere  im  7.  Monat  erkrankt  an  Hemiplegie  und  stirbt 
kurz  darauf  nach  eingetretener  Frühgeburt.  Die  Autopsie  ergibt  doppelt- 
seitige  Pleuropneumonie  und  Meningitis  purulenta.  Das  Kind  stirbt  am 
3.  Tage. 

Autopsie:  Pneumonie  des  linken  Unterlappens,  Meningitis;  —  aus 
dem  Herzblut,  den  Lungen,  dem  Meningealeiter  der  Mutter  und  des 
Kindes  werden  Pneumokokken  gezüchtet. 

Einen  ähnlichen  Fall  schildert  Levt. 

Ferner  spricht  für  eine  angeborene  Disposition  das  häufige  Vor- 
kommen wiederholter  Pneumonien  im  Kindesalter,  Aufrecht  (23); 
ebenso  hat  Billaud  (24)  unter  17  Kindern,  welche  im  Zustand  von 
Schwäche  und  Abmagerung  zur  Welt  kamen,  6mal  Pneumonie  gefunden. 

Außer  diesen  vom  Gesamtorganismus  geschaffenen  Dispositionen 
können  nun  auch  lokale  Verhältnisse  vorliegen  —  besonders  in  den 
Knochen  und  Gelenken  -—  die  die  Pneumokokken  zu  einer  eiter- 
erregenden Wirksamkeit  veranlassen.  Die  Hauptrolle  spielt  hier,  be- 
sonders bei  Erwachsenen,  das  Trauma.  Unter  4  Fällen  von  Knochen- 
erkrankung bei  Pneumonie  bezeichnet  Pfisterer  3mal  Trauma  als 
Gelegenheitsursache.  Interessant  ist  in  dieser  Beziehung  ein  von 
Netter  (9)  geschilderter  Fall:  Ein  Alkoholiker  stürzt  die  Treppe 
herunter  und  erleidet  eine  subkutane  Splitterfraktur  der  linken  Darm- 
beinschaufel und  der  9.  Rippe  links;  nach  6  Tagen  entsteht  eine 
schwere  Pneumonie  und  starke  Eiterung  der  Frakturstelle ;  nach  weiteren 
5  Tagen  erfolgt  Exitus  letalis.  Bei  der  Autopsie  fand  man  graue 
Hepatisation  des  Unterlappens  und  subkutane  Eiterung  des  frakturier- 
ten  Knochens,  aus  dessen  Eiter  sich,  ebenso  wie  aus  der  erkrankten 
Lunge,  Pneumokokken  züchten  ließen. 

Einen  ähnlichen  Fall  veröflFentlichten  Fischer  und  Levy  (14) ;  hier 
entstand  nach  Fall  auf  die  rechte  Schulter  bei  Pneumonie  eine  Osteo- 
periostitis der  rechten  Scapula  mit  Pneumokokkenbefund.  Daß  selbst 
kleinste  Traumen  zu  Eiterungen  führen  können,  beweist  Zuber,  der  bei 
subkutanen  KoflFeininjektionen  bei  Pneumonie  an  den  Einstichstellen 
kleine  Abscesse  sah,  aus  denen  sich  Pneumokokken  züchten  ließen. 


610  Arthur  Bloch 


Außer  Trauma  disponiert  jede  vorausgegangene  oder  momentane 
Veränderung  (Ppisterer)  —  besonders  Gelenkrheumatismus 
und  Gicht  —  zur  eiterigen  Diplokokkenerkrankung  des  Gelenks. 
Pfisterer  (4)  wies  auch  6mai  Gicht  oder  Gelenkrheumatismus  als 
Gelegenheitsursache  späterer  eiteriger  Pneumokokkenarthritiden  nach.  — 
WiDAL  (25)  fand  bei  einem  Fall  von  Pneumokokkenpericarditis  im 
GroBzehengelenke  neben  eiteriger  Erkrankung  Uratablagerungen. 

Haben  die  Pneumokokken  ihre  Fähigkeit,  Eiterung  zu  erregen, 
einmal  im  Körper  betätigt,  so  behalten  sie  diese  ihre  Wirksamkeit  bei ; 
es  kommt  dann  zu  den  die  einfachen  eiterigen  Pneumokokkenerkrankungen 
so  schwer  komplizierenden  Meningitiden,  Endokarditiden,  Perikarditiden 
etc.  Dann  entsteht  also  die  echte  Form  der  Pneumokokken  py  am  ie, 
sei  es  daß  die  Kokken  auf  dem  Blutwege,  dem  Lymphwege  oder 
auch  nach  mechanischer  Einwanderung  durch  eine  Hautwunde  zor 
pyogenen  Wirksamkeit  in  ein  Organ  gelangt  waren.  So  zu  erklären  ist 
auch  seiner  Entwickelung  nach  der  von  Netter  (26)  beschriebene  FaU : 

Ein  junger  Mann,  Radfahrer,  erkrankt  nach  einer  großen  Anstren- 
gung an  Pneumonie;  zu  gleicher  Zeit  entstand  ein  Pneumokokkenabsceß 
an  einer  Stelle  des  Unterschenkels,  an  der  ein  kleines  Angiom  bestand, 
welches  durch  den  Beruf  des  Patienten  mancherlei  Schädlichkeiten  aus- 
gesetzt war;  einige  Tage  darauf  entwickelte  sich  eine  Endocarditis.  — 
Weichselbaum  (1)  sah  unter  7  Pneumokokkenendokarditiden  4  mit 
Meningitis  kompliziert;  zweimal  konnte  er  als  primären  Herd  die  Menin- 
gitis nachweisen,  die  auf  dem  Lymphwege  entstanden  war;  in  den  2 
übrigen  Fällen  ließ  sich  nicht  entscheiden,  welches  der  primäre  Herd 
war.  Bei  den  3  Endokarditiden  ohne  Meningitis  schließlich  ließ  sich 
die  Eingangspforte*  für  die  Pneumokokken  nicht  eruieren. 

Wie  bei  jeder  anderen  septischen  Infektion,  so  kann  auch  bei  einer 
Pneumokokkenpyämie  sich  eine  pyämische  Pneumonie  entwickeln.  So 
berichtet  Hentschel  (27)  über  einen  Fall  von  tödlich  verlaufener  Pneu- 
monie im  Anschluß  an  eine  durch  Pneumokokken  entstandene  Pseudovagi- 
nitis  des  Zeigefingers,  Heddäus  (28)  über  einen  Fall  von  metastatischer 
Pneumonie  nach  Pneumokokkenstrumitis,  Bouloche  (29)  schließlich 
über  eine  Pneumonie  durch  Gelenk-  und  Muskelabscesse,  in  denen  sich 
Pneumokokken  fanden.  Doch  ist  diese  Form  der  Pneumonie  ihrer 
Entstehungsweise  dem  klinischen  Verlauf  und  der  Prognose  nach  wohl 
zu  unterscheiden  von  der  ebenfalls  durch  die  Pneumokokken  erzeugten 
primären  Pneumonie;  es  ist  daher  nicht  angängig,  die  Ent- 
stehungsweise jener  sekundären  Pneumonie  als  Beweis 
anzuführen,  für  die  in  neuerer  Zeit  vielfach  aufgestellte 
Behauptung,  daß  im  Blut  kreisende  Pneumokokken  durch 
ihr  Eindringen  in  die  Lungen  die  echte  kmpOse  Pneumonie 
erzeugten. 

Es  bleibt  noch  übrig,  die  Prognose  der  Pneumokokkenerkrankungen 


Lymphogene  und  hämatogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  611 

zu  besprechen.  Die  lymphogenen  Metastasen  bei  Pneumonie  sind,  so- 
lange sie  nicht  lebenswichtige  Organe  betreffen  und  sofern  sie  einer  so- 
fortigen operativen  Behandlung  zugängig  sind,  prognostisch  gün- 
stig; bei  den  hämatogenen  Metastasen  ist  die  Prognose  eine  zwei- 
felhafte, weil  hier  die  Gefahr  einer  sekundären  Pyämie  größer  ist, 
und  diese  selbst  eine  durchaus  ungünstige  Prognose  bietet.  In  un- 
serem Fall  sind  trotz  der  Multiplizität  der  Eiterungen  die  Halsabscesse 
und  der  Sternalherd  ausgeheilt;  die  Prognose  ist  nur  durch  den  Umstand 
getrübt,  daß  dem  Wirbelherd  bisher  operativ  nicht  beizukommen  war. 
Pfisterbrs  Gesamtstatistik  bietet  wegen  der  Ueberzahl  hämato- 
gener  Metastasen  eine  nicht  günstige  Prognose: 

Von  31  Arthritiden  erfolgte  Exitus  17mal, 
„    13  Ostitiden  „  „         6  ^ 

Doch  fanden  sich  bei  diesen  23  Todesfällen 
4mal  schwere  Pneumonie, 
4  „     Empyem, 
6  „     Meningitis, 
3  ,,     Endocarditis. 
Also,  es  muß  wiederholt  werden,  daß  die  lymphogenen  Metastasen 
wegen  der  geringeren  Gefahr  einer  allgemeinen  Pyämie  noch  die  besten 
Prognosen  aller  metastatischen  Pneumokokkenerkrankungen  liefern. 
Resümieren  wir  daher  zum  Schluß: 
Bei  Pneumonie  können  Pneumokokkenmetastasen  zustande  kommen 

A.  auf  dem  Lymphwege:  Eine  besondere  Disposition  dazu 
braucht  nicht  vorzuliegen,  und  es  kann  sogar  zu  multiplen,  lympho- 
genen Eiterungen  kommen. 

Die  Prognose  ist  günstig,  sobald 

1)  die  Erkrankung  keine  lebenswichtigen  Organe  betrifft, 

2)  eine  sofortige  radikale  operative  Behandlung  möglich  ist, 

3)  keine  echte  Pneumokokkenpyämie  sich  anschließt  (deren  Gefahr 
aber  hier  gering  ist), 

B.  auf  dem  Blutwege:  Zu  ihrem  Zustandekommen  muß  vor- 
liegen : 

1)  eine  allgemeine  Disposition,  die  geschaffen  sein  kann  durch 
a)  die  Regionen  der  Wachstumszonen  im  jugendlichen  Körper, 

ß)  eine  überstandene  Infektionskrankheit, 
y)  angeborene  Disposition, 

2)  eine  lokale  Disposition  (namentlich  der  Knochen  und  Ge- 
lenke), die  geschaffen  sein  kann  durch 

a)  Trauma, 

ß)  Gelenkrheumatismus, 
y)  Gicht. 

Die  Prognose  ist  wegen  der  großen  Gefahr  eintretender  sekundärer 
Pyämie  zweifelhaft. 


612  Arthur  Bloch, 


Nachtrag. 

Die  zum  Zwecke  der  VeröflFentlichung  vorher  abgeschlossene  Kran- 
kengeschichte zeigte  noch  die  Rückenwunden  und  die  Fistel  des  Psoas- 
abscesses  in  reichlicher  Sekretion,  den  Patienten  stark  abgemagert  und 
sehr  elend. 

Es  ist  nunmehr  zur  Krankengeschichte  noch  nachzutragen,  daß 
mittlerweile  der  Herd  im  Sternum  völlig  ausgeheilt  ist.  Ferner  gelang 
es  schließlich,  durch  ausgiebige  Tamponade  der  Rückenwunde  dem  osteo- 
myelitischen Herde  des  Lendenwirbels  beizukommen  und  die  schmutzigen 
Granulationen  des  rauhen  Knochens  mit  dem  scharfen  Lö£fel  auszu- 
kratzen. Die  Sekretion  nahm  hierauf  rasch  ab,  die  weite  Fistel  ver- 
kleinerte sich  allmählich  und  der  Patient  erholte  sich  sichtlich. 

Vor  3  Tagen,  am  27.  Juli,  konnte  M.  in  vorzüglichem  Ernährungs- 
zustande nahezu  geheilt  entlassen  werden.  An  der  Stelle  der  früheren 
Rückenwunde  bestand  nur  noch  eine  etwa  2  cm  tiefe  Fistel,  die  gut 
granulierte,  ferner  im  linken  Hypochondrium  eine  etwas  tiefergehende 
Fistel,  die  ebenfalls  sehr  wenig  sezernierte. 

Der  trotz  der  langdauernden  schweren  multiplen  Eiterungen  so 
günstige  Verlauf  der  Erkrankung  stützt  die  von  mir  behauptete  gün- 
stige Prognose  derartiger  —  wenn  auch  multipler  —  lympho- 
geuer  Pneumokokkenmetastasen. 

Es  bleibt  mir  noch  die  angenehme  Pflicht,  meinen  hochverehrten 
Chefs,  Herrn  Prof.  Dr.  Weber  und  Herrn  Dr.  Bode  für  die  Anregung 
zu  dieser  Arbeit  und  das  Interesse  zu  danken,  das  sie  ihr  entgegen- 
brachten. 


Literatur. 

1)  Wbichselbaum,   Ueber   seltene  Lokalisation  des  pneumonischen  Virus. 
Wien.  klin.  Wochenschr.,  1888. 

2)  Obtmann   u.   Samter,   Beiträge  zur  Lokalisation  des  Diploc.  pneumon. 
ViRCHOws  Arch.,  Bd.  120. 

3)  Netter,   Fröqaence  relative   des   aflFections  k  pneumococques.     Compt 
rend.  de  1a  soc.  de  Biolog.,  1890. 

4)  Pfisterbr,  Ueber  Pneumokokken-Gelenk-  und  Knocheneiterungen.  Jahrb. 
f.  Kinderheilkd.,  N.  F.,  Bd.  55,  1902,  p.  417. 

5)  Bloch,  Metastatische  Eiterungen  als  Folge  von  Bronchialerkrankungen. 
Inaug.-Diss.  München,  1903. 

6)  Netter,   Un   cas   d'infection   pneumoc.   g6n6ralis6e    avec   endocardite. 
Extr.  des  Bull.,  1894. 

7)  BuscHKB,    Tonsillen    als   Eingangspforten    eitereixegender    Mikroorga- 
nismen.    Dtsch.  Zeitschr.  f.  Chir.,  1894. 

8)  UcKMAR,  Sur  une  forme  special  de  stomatite  etc.     Sem.  m^d.,  1891. 

9)  Zaufal,  zit.  nach  Pfistbrer  (4). 
10)  BouLAY,  zit.  nach  Pfisterer  (4). 


Lymphogene  und  hämatogene  Eiterungen  bei  Pneumonie.  613 

11)  Nbttas  et  Mariaob,  Notes  sur  deux  cas  de  suppurations  osseuses  k  la 
suite  de  fractures  non  compliqu^s.     Compt.  rend.,  1890. 

12)  Blbchbr,  Zur  Kasuistik  der  Pneumococcusosteomyelitis.  Zeitschr.  f. 
Chir.,  1890. 

13)  Lannblongue  u.  Achard,  zit.  nach  Pfistbrbb  (4). 

14)  FiscHBR  u.  Lbyy,  Bakteriologische  Befunde  bei  Osteomyelitis  und 
Periostitis.     Zeitechr.  f.  Chir.,  1893. 

15)  Lbxbr,  Aetiologie  und  Mikroorganismen  der  akuten  Osteomyelitis. 
Samml.  kHn.  Vortr.,  N.  F.  Bd.  173,  1897. 

16)  CoHN,  Bakteriologische  Blutuntersuchung,  insbesondere  bei  Pneu- 
monie.    Berl.  klin.  Wochenschr.,  1896,  No.  50,  p.  1124. 

17)  Sbllo,  sit.  nach  Pfistbrer  (4). 

18)  Casati,  Sulla  presenza  dei  Diplococchi  etc.  Zit  nach  Baumgabtbn  u. 
EoLOFF,  Jahresber.  v.  1893,  p.  48. 

19)  Pio  FoA,  lieber  die  Infektion  durch  den  Diplococcus  lanceolatus. 
Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  15,  p.  369.  —  üeber  Bakterienbefunde  bei 
Meningitis  cerebrospinalis  und  ihre  Beziehungen  zur  Pneumonie. 
Ebenda,  1886,  No.  75,  p.  249. 

20)  Jordan,  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  Bd.  10,  Heft  3. 

21)  Pbrutz,  Zur  Kasuistik  der  durch  Pneumokokken  bedingten  akut-eite- 
rigen Osteomyelitis.     Münch.  med.  Wochenschr.,  1898. 

22)  DäLäSTRE,  Infect  intrauterine  par  le  pneumococque.  B.ef.  Sem.  m6d., 
1898. 

23)  Aufrecht,  Die  LungenentztLndungen,  p.  54. 

24)  BiLLAUD,  Malad,   des   noaveaux-n^s.     Zit   nach  Aufrecht  (23),  p.  54. 

25)  WiDAL,  Arthrite  tarso-phalang.  k  pneumoc.  et  p^ricardite  de  m^me 
nature.     Gaz.  hebd.  de  m6d.,  1896. 

26)  Nbttbe,  zit  nach  Pfistbrer  (4). 

27)  Hbntschel,  Festschr.  f.  Benno  Schmidt,  Leipzig  1896.  Zit.  nach 
Lbxer  (15). 

28)  Hbddäus,  Manch,  med.  Wochenschr.,  1896,  No.  21.   Zit.  nach  Lexbr  (15). 

29)  BouLocHB,  Arch.  de  m^d.  expörim.     Zit  nach  Lbxer  (15). 


Glitten.  ».  d.  OnmiceMetaD  d.  Mediito  u.  Chirarcia.    XIll^  Bd.  40 


Aus  der  chirnrgischen  Abteilnng 

des  Krankenhauses  Moabit -Berlin  (6eh.-Rat  Prof.  Dr.  SoKKfiNBüRa). 

Diphtheriestation:  Oberarzt  Dr.  Hermeb. 


Nachdruck  Terboteii. 


XXIV. 

Erfahrimgen  über  Serumbehandlung 
der  Diphtherie. 

Von 

Dr.  Max  Gohn, 

Assistenzarzt. 

(Hierzu  5  Kurven  im  Texte.) 


Zehn  Jahre  sind  ins  Land  gegangen,  seitdem  das  Diphtherieheflserum 
der  Oeffentlichkeit  übergeben  worden  ist.  Seine  Anwendung  ist  nicht 
wie  die  anderer  Sera  auf  vereinzelte  klinische  Institute  beschränkt  ge- 
blieben ;  das  Diphtherieserum  hat  eine  allgemeine  Verbreitung  und  fast 
auch  allgemeine  Anerkennung  gefunden.  Eine  gewisse  Opposition  ist 
indes  nie  verstummt.  Zuerst  wandten  sich  die  Skeptiker  gegen  den 
schrankenlosen  Enthusiasmus,  der  sich  in  den  Berichten  der  ersten 
Monate  und  Jahre  kundgab  und  in  einem  schier  endlosen  Strom  von 
Veröffentlichungen  die  medizinische  Literatur  bereicherte.  Darauf  be- 
schäftigte sich  die  Kritik  ebenso  eingehend  wie  einseitig  mit  dem  neuen 
Gebiete  der  Heilkunde,  der  praktischen  Serumanwendung.  Hatten  doch 
die  Gegner  ein  leichtes  Spiel;  denn  alle  neuen  Sera,  so  schön  sie  sich 
in  der  Theorie  auch  ausnahmen,  gingen  den  Weg  des  schon  vor  dem 
Diphtherieheilserum  so  enthusiastisch  begrtlßten  und  später  so  viel  ge- 
schmähten Tuberkulins.  Bei  diesem  Widerstreit  der  Meinungen  müssen 
wir  uns  fragen:  Wie  kommt  es,  daß  die  medizinische  Welt  sich  über 
den  Wert  eines  Mittels  in  zehn  Jahren  nicht  völlig  klar  geworden  ist, 
das  fast  allgemein  angewendet  wird  und  dem  Volke  und  dem  Gemein- 
wesen große  Kosten  auferlegt  hat?  Die  Diphtherie  ist  als  Volksseuche 
eine  sehr  schwer  zu  beurteilende  Krankheit;  ihr  Auftreten,  ihr  Verlauf, 
ihre  Häufigkeit,  ihre  Bösartigkeit  ist  stets  so  ungleichmäßig  gewesen, 
daß  die  gewonnenen  statistischen  Resultate  oft  sehr  variiert  haben.  Dazu 
kommt,  daß  seit  Einführung  der  Serumtherapie  der  bakteriologischen 
Untersuchung  der  Diphtherie  ein  viel  größeres  Feld  zugewiesen  wurde 
als  früher.  Es  war  klar,  daß  die  Wirkung  des  Heilserums  an  das 
Vorhandensein  von  Toxinen  gebunden  war,   die  von  den  Diphtherie- 


Max  Cohn,  Erfahrungen  üW  Semmbeliandiung  der  l)iphtlierie.     6l5 

badllen  und  nnr  von  diesen  produziert  wurden.  Nun  war  man  sich 
schon  vor  Behrings  Entdeckung  darüber  einig,  daß  das  vielgestaltige 
Krankheitsbild  der  Diphtherie  durch  den  LöFFLERschen  Bacillus  her- 
vorgerufen wurde.  Es  fehlte  aber  fOr  den  Praktiker  sowie  die  meisten 
Krankenanstalten  das  innere  Bedflrfois,  immer  und  immer  wieder,  von 
Fall  zu  Fall,  die  Spezifität  der  Diphtherie  nachzuweisen.  Mit  der  Ein- 
führung des  Serums  war  dieses  Moment  gegeben,  wollte  man  streng 
sachlich  in  der  Wertung  des  Heilerfolges  vorgehen.  Darum  können 
nur  Zahlen  statistischen  Wert  beanspruchen,  die  unter  demselben  ein- 
heitlichen Gesichtspunkt  gewonnen  wurden.  Auch  jetzt  noch  gibt  es 
zahlreiche  Diphtheriestationen,  wo  der  klinische  Befund  ohne  bakterio- 
logische Untersuchung  die  Norm  fflr  die  Diagnose  abgibt;  die  dadurch 
erhaltenen  Zahlen  können  weder  mit  den  früher  gewonnenen  verglichen 
werden  —  denn  der  Serumtherapeut  wird  auch  zweifelhafte  Fftlle 
spritzen  und  seinen  DiphtheriefUlen  zuzahlen  —  noch  können  sie  Re- 
sultaten gegenübergestellt  werden,  die  auf  Grund  der  bakteriologischen 
Untersuchung  gewonnen  wurden.  Aber  auch  ein  Drittes  ist  nicht  mög- 
lich: Die  Resultate  beider  Kategorien  von  Anstalten  können  als  Sammel- 
statistik nicht  den  Verhältnissen  der  Vorserumzeit  entgegengehalten 
werden.  So  sind  zwar  dem  medizinischen  Forum  von  Behring, 
SiEOERT  u.  a.  sehr  große  Zahlenreihen  vor  Augen  geführt  worden,  die 
fOr  die  Beurteilung  der  Diphtheriefrage  sicherlich  von  Wert  gewesen 
sind.  Allein  sie  sind  von  den  verschiedensten  Bedingungen  und  aus 
den  verschiedensten  Orten  gesammelt.  Die  Resultate  haben  nur  als 
Zahlen  Beweiskraft;  es  geht  ihnen  der  innere  Wert  ab,  den  einheitliche, 
jahrelange  Beobachtungen  eines  großen  Krankenmaterials  gewinnen.  Aus 
diesem  Grunde  flbergebe  ich  die  vorliegende  Arbeit  der  Oeffentlichkeit 
auf  die  Gefahr  hin,  daß  ich  die  vielen  als  gelöst  geltende  Diphtherie- 
frage von  neuem  aufrolle  und  vielleicht  vielen  nichts  Neues  sagen  werde. 
Im  Krankenhause  Moabit  ist  das  BBHRiKOsche  Serum  bereits  im 
Jahre  1893/94  sporadisch  angewendet  worden.  Seit  dem  1.  Nov.  1894 
ist  jeder  auf  die  Diphtherieabteilung  aufgenommene  Fall  mit  Heilserum 
gespritzt  worden.  Wir  besitzen  keine  Aufinahmestation  f&r  Infektions- 
krankheiten; daher  kommen  viele  zweifelhafte  DiphtherieflQle  auf  die  Ab- 
teilung, die  sich  bei  klinischer  Beobachtung  und  bakteriologischer  Unter- 
suchung als  Nichtdiphtherien  herausstellten.  Ich  habe  meiner  Zusammen- 
stellung, sicher  zu  Ungunsten  der  Mortalitfitsstatistik ,  nur  die  bak- 
teriologisch sicheren  Fälle  supponiert,  da  nur  diese  Aber  den  Wert 
des  Serums  entscheiden  können.  Ich  will  nicht  verschweigen,  daß  die 
Zahl  der  Aufiiahme-Fehldiagnosen,  die  sich  feist  nur  auf  den  lokalen 
Befund  oder  das  Zeugnis  des  ins  Krankenhaus  schickenden  Arztes 
gründeten,  eine  ziemlich  große  war  und  sein  mußte;  denn,  wie  die 
klinische  Beobachtung  der  Diphtherie  zeigt,  läßt  sich  die  spezifische 
Erkrankung  in  den  ersten  Tagen  häufig  nicht  von  der  nichtspezifischen 

40* 


616  Max  Cohn, 

unterscheiden.  Zwei  Anginen  können  sich  bei  der  ersten  klinischen  Unter- 
suchung vollständig  gleichen,  und  trotzdem  zeigt  die  eine  eine  Rein- 
kultur von  Diphtheriebacillen,  die  andere  nur  Saprophyten.  Ich  will 
nicht  auf  die  hieraus  resultierende  Streitfrage,  die  Spezifität  der  Diph- 
therie, näher  eingehen,  denn  sie  hat  fQr  diese  Arbeit  keine  größere  Be- 
deutung. Jedenfalls  kann  ich  die  Bemerkung  Baginskis  in  seiner  Mono- 
graphie, daß  in  seinem  Krankenhaus  so  gut  wie  keine  Fehldiagnosen 
vorkamen,  nur  so  auffassen,  daß  die  Kranken  zur  Feststellung  der 
sicheren  Diagnose  erst  einer  Untersuchungsstation  überwiesen  und,  je 
nach  dem  Ausfalle  der  bakteriologischen  Untersuchung,  der  Diphtherie- 
baracke zugeführt  wurden.  Ich  habe  meiner  Arbeit  die  ersten  1000 
klinisch-bakteriologischen  Diphtherien  zu  Grunde  gelegt;  diese  wurden 
zwischen  1.  Nov.  1894  und  23.  August  1900  auf  dem  Pavillon  beobachtet. 
Eine  strenge  Einteilung  bei  der  Aufnahme  nach  leichten,  schweren  und 
schwersten  Fällen,  wie  sie  von  vielen  Autoren  beliebt  wurde,  ist  außer 
Acht  gelassen  worden,  da  diese  Registrierung  meines  Erachtens  eine 
ziemlich  willkürliche  ist.  Die  Diphtherie  ist  eine  zu  wechselvolle  und 
prognostisch  unsichere  Krankheit,  als  daß  der  Maßstab  der  Prognose 
für  die  Beurteilung  des  Serums  von  einschneidender  Bedeutung  sein 
könnte.  Außerdem  ist  der  Vorhersage  schon  Rechnung  getragen  durch 
die  Dosierung  des  Heilserums,  die  zwischen  weiten  Grenzen  schwankte. 
In  den  ersten  Jahren  überwogen  die  kleinen  Dosen,  in  den  folgenden 
wurden  die  vorher  großen  Dosen  zu  den  Normalwerten.  Im  allgemeinen 
kann  man  sagen,  daß  die  leichten  Fälle  mit  1000  I.E.,  die  mittleren 
mit  2000,  die  schweren  mit  3000 — 5000  I.E.  gespritzt  wurden. 

Seit  der  Einführung  des  Diphtherieserums  ist  eine  geraume  Spanne 
Zeit  verflossen :  Wir  hatten  reichlich  Gelegenheit,  das  klinische  Bild  der 
Diphtherie  zu  studieren  und  glauben  nun  auf  Grund  dieser  Beobach- 
tungen berechtigt  zu  sein,  ein  Urteil  zu  fällen,  wie  sich  die  Verhältnisse 
während  der  Serumzeit  gestaltet  und  worin  sie  sich  gegen  früher  ver- 
ändert haben.  Daraufhin  werden  wir  uns  schlüssig  werden  können,  ob 
dieser  Wechsel  auf  unsere  Behandlung  oder  andere  Faktoren  zurück- 
zuführen ist  Gehen  wir  von  der  Beobachtung  aus,  daß  sich  uns  die 
Fälle  bei  der  Aufnahme  als  leichte,  mittelschwere  und  schwere  Typen 
repräsentieren,  so  ist  es  bemerkenswert,  daß  sich  aus  einem  leichten 
Fall  nur  sehr  selten  ein  schwerer  entwickelt  hat.  Um  so  öfter  sahen 
wir  es,  daß  ein  schwerkrank  aussehendes  Kind  in  kaum  einem  Tage  sich 
zu  einem  Wesen  veränderte,  von  dem  man  kaum  glaubte,  daß  es  krank 
gewesen  sei.  Wenn  Rose  aus  den  Schreckenszeiten  von  Bethanien 
schreibt :  ^Ich  habe  Croupkinder  mit  höchster  Laryngostenose  so  munter 
spielen  sehen,  daß  sich  erfahrene  Aerzte  in  der  Diagnose  dadurch  haben 
täuschen  lassen.  Trotz  glatter  Operation  waren  sie  24  Stunden  später 
schon  tot  an  Group  descendant!^,  so  kann  ich  nur  sagen,  daß  zur  Zeit 
der  Serumperiode  solche  Fälle  nicht  zur  Beobachtung  gelangt  sind. 


Erfahrungen  über  Serumbehandlung  der  Diphtherie.  617 

Wenn  ich  .die  Aufzeichnungen  über,  das  reiche  Material  uoßeres 
Krankenhauses  durchmustere,  so  erscheint  mir  zunächst  der  Einwand, 
daß  das  Krankheitsbild  „Diphtherie**  eine  solche  Verschiebung  vor  und 
während  der  Serumperiode  durchgemacht  habe,  daß  von  einem  Ver- 
gleich nicht  die  Rede  sein  könne,  verfehlt.  Die  Krankheit  ist  dieselbe 
geblieben;  aber  die  Gruppierung  der  Fälle  ist  eine  andere  geworden. 
Früher  kamen  nur  immer  wieder  die  schweren  Fälle  zur  Beobachtung, 
die  in  wenigen  Tagen  letal  verliefen.  Jetzt  sehen  wir,  wenn  wir 
die  Befunde  bei  der  Aufnahme  ins  Auge  fassen,  sämtliche 
Stadien  der  Diphtherie,  wie  sie  vor  Einführung  der  spezifischen  Therapie 
bei  demselben  Kinde  während  des  Spitalaufenthaltes  zu  beobachten 
waren.  Jetzt  ist  der  Verlauf  der  Krankheit  im  Krankenhause  ein  an- 
derer geworden,  und  das  ist  das  entscheidende  Merkmal,  weshalb  wir 
nicht  schlechtweg  von  einem  leichteren  Charakter  der  Epidemie  reden 
können.  Es  ist  in  höchstem  Grade  auffallend,  daß  wir  in  vielen  Hun- 
derten von  Fällen  auf  der  Abteilung  keine  akuten  Verschlimmerungen 
—  ich  zähle  dazu  nicht  die  Späterscheinungen  der  Diphtherie  — 
gesehen  haben.  Die  Prognose,  die  wir  bei  der  Aufoahme  günstig' 
stellten,  änderte  sich  nicht  zum  Schlechten;  oft  genasen  anfangs  fast 
hoffnungslose  Patienten.  Kurz,  wir  konnten  nicht  mehr  den  „tückischen" 
Verlauf  von  früher  beobachten,  wo  ein  Kind  als  leichtkrank  auf  die  Ab- 
teilung kam  und  binnen  wenigen  Tagen  den  toxischen  Allgemeinerschei- 
nungen oder  dem  Fortschreiten  des  lokalen  Prozesses  erlag.  Diesem  Ver- 
halten entsprechend,  war  es  möglich,  Typen  der  Krankheit  gesondert 
aufzustellen.  Bei  der  allgemeinen  Betrachtung  des  Krankheitsverlaufes 
schienen  uns  zwei  Punkte  hervorragende  Wichtigkeit  zu  haben: 

1)  die  Beurteilung,  ob  die  diphtherische  Infektion 
bis  zur  Aufnahme  ins  Krankenhaus  schon  zu  einer  All- 
gemeinvergiftung   des    Organismus    geführt   hatte,    und 

2)  ob  der  lokale  Krankheitsprozeß  das  Bestreben 
hatte,  rasch  zu  descendieren. 

Ich  kann  mich  kaum  zu  dem  Glauben  entschließen,  daß  die  Eltern 
ihre  Kinder  jetzt  lieber  und  früher  ins  Krankenhaus*  brächten  als  ehe- 
dem, und  meine,  daß  die  Heilwirkung  des  Diphtherieserums  während 
der  Beobachtungszeit  von  den  beiden  genannten  Faktoren  abhängig 
war  und  bei  Aenderungen  im  Charakter  der  Epidemie  auch  abhängig 
bleiben  wird. 

Behring  sagt  in  seiner  „Geschichte  der  Diphtherie",  daß  ihm  die 
individuelle  Statistik  die  beste  scheine.  Der  eine  ordnet  sein  Material 
nach  diesen,  der  andere  nach  jenen  Gesichtspunkten.  Der  Kritiker 
wird  stets  Mängel  entdecken.  Willkürliche  Zusammenstellungen  von 
Zahlen  aus  Arbeiten  anderer  haben  wenig  Nutzen  für  die  Klärung  der 
Diphtherieserumfrage  gebracht.  Ich  habe  das  Material  des  Kranken- 
hauses Moabit   nach   den   verschiedensten  Richtungen   untersucht,   um 


o 

( 

»8 

«n                S 

5 

Max 

Gohn, 

g[            8            fS 

S          £^ 

i" 

-^_       »    _ 

X[I     "^-L,       ^^ 

: , ^^3 

H"1"t    _Lji-  "i 

P-' 

! 

s 

( 

ki 

tr 

■  .  Nv'k 

iCi   ^^  '^    1 

' 

^ 

■  ^Ji*'— --^*  -1 

^  ^M  mm 

^« 

-^                1 

» 

». 

SS 

lb: 

^r!i-;-^.<i 

^^ 

1. 

p4 

^'-^^      . 

^  ^ 

1«  ■ 

^J* 

^  ' 

h< 

j  Lm  ■ 

^ ! 

^'^^1    _||_^ 

s 

^ 

t:  ^^^-: 

*  f^M 

->*^ 

7 

1 

& 

o 

;     ^' 

*  >__1_           _       L— - 

»rf* 

> 

1 

-  ^  r  _L 

S-'     ■  ^         - 

^  2t  — p^^ 

j 

8 

J  ^  IZ  ZL4 *  1  -  ► 

L-" 

^ 

■j 

*.  ; 

^^^^T^^  1 

0 

-    G^li 

*4j  1      1  j 

& 

^" 

üZfi 

1 

'"  m  3¥*  ^ 

i        \        i 

rt  -.  ü«, ,,,,    ' 

11 

1 

1          *1 

.+::■{.-."- v.l.-- i 

T^^   X 

-^            ^               fln 

NJ 

■|--r-|*j.".r  ::=.»> 

s 

g> 

■'"4*' 

-^ 

P 

'  "-L,  -j'-  -"" 

^    ^ 

1             s 

"3'    ^ 

,     ^_J^t           i 

-^     ' 

j 

^* 

, 

k- 

l:|- 

1  '^  1 

, 

f 

5  !"""•"'"': 

-.1- 

>■ 

-  S<  1    ' 

1      ^„^^£l! 

-*--i 

^- 

< 

hl 

V  \ 

'."Z^^ 

_    3^^-: 

•■  -<>•  !>■_.._  ., 

Ä  ■*  L4 

T    _  ^ 

^ 

^- 

,4  - 

H.--. 

JL,, -t,>-ü..u> 

ä=.L^^y^:=! g 

ST 

-^ 

— 

-  J*5Bi*-.^ 

J    -1      l-           -    '       - 

^                           ^ 

ft 

,,<rT 

.    _J_        ^,     ^-.- 

S 

n 

-       '     -^i"- 

-^ '         u 

>- 

-^^^L 

■-.wf  ■ 

0 

1 

K     > 

>t 

f , 

-— 33l4 

n    ^ 

1          ^               ' 

M 

r'i 

'Ti 

:  X^--H 

TT : 

J            J 

1 

_tTjs£S 

ix 

J     1     1 

,_±:;^-^ 

3^   ^^^ 

g  , 

*^ 

hj; 

■: -L 

ijii^ 

'1 

a 

II 

■KE-r^r: 

■••:; 

", 

:;|m  MMk 

1                                                                   N- 

1        1    W'^ 

,,  .,:ip!'»>"^«j; 

:^"  [ 

s 

s 

■     1» 

1»'^  1 

Ä 

Cm 

-^    ^ 

■■-.  i     .        '' 

~r          1   '               j 

— l                              ^ 

B 

I^-'"^' 

F* 

'    ][H  S^  "  ' 

■ '   ~l 

i(^  T__; 

::: 

*^  — '   ,    — ^^ 

♦j^^rr, 

^-,  -..^L-i  1     j        ■- 

l 

jo^-Hj     . 

^"^**t^-*fe-:fc'-' 

3T^^^-- 

^     ..  '  M      J 

1^ 

1 

i       -      r 

1*1 

^: 

:,i; 

^±3"! 

fc                  i 

i  ^ 

•i.^T^'"'  """^L 

._i  i      .  . 

0 

'*^*       ^       ifc 

S 

! 

IM  fc  ^  ^         i 

s 

O 

'  ^^    1 

~i  ^  ^r   p^  ■  ■* 

^- 

s 

^HpBQE 

'7 

'^           • 

s 

s 

"'■    T           '  ~ 

'«^-.rij^  ^, 

*~  "  *'    ^m  «  i 

,      0 

5" 

*  "M^ 

■^  '^U  A 

:^ 

•t  ■  ^^^M S  ' 

' 

r^C 

:ir 

"-J'      1 

1  »»i'rrj^i 

i  1      '   1  !   1   1  1   M  1 

" 

1    .            L 

^*T7j_|^ 

^4      '      ,    i 

i  m^ts:--zl 

-  '''3l1      • 

1    '                  1           I 

1       .1             :                   i      I      «      1      j 

ep 

■l-M-  i-      -1 

*  ^n*  f  ^ "  ^  '^' 

'  rT-W'r-  ■     1 

s 

r.:^  L  1 

■¥frt''i-' 

_lI           f-        '"    "■■   ■ 

'S 

^ 

d. 

11 

r  1    '^T 

^        —   j  ^ 

c 


I 


B 

§ 

o 

< 

5 

r 


^    8 


c 


f 


Erfahrungen  über  Serumbehandlung  der  Diphtherie. 


619 


mich  nicht  dem  Fehler  der  Einseitigkeit  auszusetzen.  In  Kurve  I 
gebe  ich  eine  Uebersicht  über  die  Krankenbewegung  unserer  Diphtherie- 
baracke vom  November  1894  bis  August  1900:  die  Beobachtung  um- 
faßt, wie  eingangs  erwähnt,  1000  Patienten. 


Tabelle  L 


1894/95 

1895/96 

Nov. 

Dez. 

Jan. 

Febr. 

MSn 

April 

Mai 

Juni 

Davon  starben: 

2l{ii 
3 

21{}? 
3 

13{S 
0 

f 

f 

14{I 
0 

..(! 

13{S 

Tracheotomiert  wurden: 

8 

6 

1 

2 

4 

2 

3 

1 

Davon  starben: 

3 

1 

0 

0 

3 

0 

0 

0 

Erwachsene: 

1 

0 

2 

1 

0 

0 

0 

0 

In  Behandlung  traten 
am  1.  Tage: 
»   2.     „ 
»   3.     „ 

w    ^      » 

n    5.       „ 

1,   6.     » 

2 
6tl 
8tl 

2 

Itl 

2 
7 
5 
3t2 
3 

0 
9 

2 

0 

6 

2 
3  +  1 
1  +  1 

1 

Itl 

1 

4tl 
1 

0 
5 
5 

4 

1 

6tl 
1 
2 

1 

5 

1  +  1 

5 
2 

Q 

spater  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welchem  Tage: 

2 
0 

Itl 
0 

1 
1 

0 

1 
1+1 

Itl 
0 

0 

0 

Verhältnis  zwischen  Auf-  } 

nahmen  und  Todesfällen   \ 

Verhältnis  der  Frühbehan-  / 

delten  zu  d.  Spätbehandelten\ 

42T6 
143  Proz. 

30:12 

1( 

36:6 
5,7  Pro 

17:10 

z. 

38:2 
5,3  Pro2 

29:7 

■• 

iB9üm 

Juli  j  Aug.    Sept.     Okt^ 

Nov.  1  Dez.      Jim. 

Febr. 

März 

Davon  starben: 
Tirach  eotomiert  wurden : 
Davon  starben: 
Erwachfiene : 

In  Behandlung  traten 
am  ].  Tage: 

"    t        " 
J*    ^       ti 

"  k  " 

Bpät^  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg,\ 

14{S 
0 
2 
0 
0 

1 

7 
6 

0 

n{t 

0 

1 

0 
0 

1 

8 

1 
1 

0 

23{{S 
3 
8 
2 
0 

5 
lOfl 

4tl 

3tl 

0      ' 

2l['l 
2 
4 
1 
0 

1 

8  +  1 

e 

3 

i  +  i 

2 

0 

f 

3 
2 
0 

1 

3tl 

1 
Itl 

Ifl 
1 

0 

1» 

8 
4 
0 

2 
6  +  1 

4  +  1 
4+3 
1  +  1 

0 

f 

2 

1 
0 

1 

5tl 

2 
Ifl 

0 

14^ 
0 
5 
0 
0 

2 
9 
2 

1 

1 
0 

8{l 
1 
1 
0 
0 

2 
5 

1+1 
0 

Verhältnis  zwischen  / 
Aufnahmen  u.  Todesf.  i 
Verhältn.  d.  Frühbeh./ 
zu  d.  8pfttbehandelten\ 

6 

48:3 
,2  Pros 

43:5 

'• 

25 

ItTTT 

5,4  Pro 
32:15 

l. 

9 

,4  Proz 

28:4 

• 

620 


Max  Cohn, 


Tabelle  I  (Fortsetzung). 


1896/97 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Sept 

Okt 

Nov. 

Dez. 

FäUe(:SES^ 

7ß 

15{J 

9{J 

3{S 

ii{S 

3Ü 

'lir? 

14{? 

15{S 

Davon  starben: 

1 

2 

1 

1 

i 

1 

2 

1 

1 

Tracheotomiert  wurden : 

3 

4 

2 

0 

1 

3 

3 

4 

4 

Davon  starben: 

0 

2 

1 

0 

0 

1 

0 

0 

l 

Erwachsene: 

0 

1 

2 

0 

0 

0 

1 

2 

1 

In  Behandlung  traten 

am  1.  Tage: 

1 

1 

3 

1 

1 

»  ^«     » 

8t2 

5tl 

Ifl 

3 

1 

5tl 

ö 

5 

»  *»•     » 

4 

1 

2 

iti 

1 

6 

5 

„  4.     „ 

3 

1 

2tl 

2 

1 

W      ö»          »f 

1 

1 

1 

1 

»  6«     » 

1 

1 

Itl 

»   ••     i> 

1 

2 

•»  ö.     «f 

ifi 

spater  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg.: 

Itl 

Itl 

0 

0 

0 

0 

0 

9 

0 

0 

0 

Verhältnis  zwischen  f 

31:4 

17:3 

40:4 

Aufiiahmen  u.  Todesf.1 

1 

2,9  Pro 

z. 

17,6  Proz. 

10  Pro». 

Verhaltn.  d.  Frühbeh./ 
zu  d.  8patbeh4ndelten\ 

22:9 

12:5 

29:11 

1896/97 

1897/98 

Jan.    Febr.  |  März 

April 

Mai 

Juni  1  JuU 

Aug. 

Sept. 

Davon  starben: 
Tracheotomiert  wurden : 
Davon  starben: 
Erwachsene: 

In  Bdiandlung  traten 
am  1.  Tage: 

"1  ■■ 

»9     4.         ff 

n    5.       „ 

9f     ö«          »> 

^a  : 

spater  als  am  a  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg. : 

13ß 

4 
1 
2 

8tl 
4 

1 

0 

0 
0 
2 

3 

4 

0 

'1 

2 

0 
2 

1 

2 

1 

2 
1 
0 

126 
3 
2 

1 
2 

4tl 
7tl 

Itl 
0 

"/ 

6 
1 

1 

1 

3tl 
4 

Itl 

1 

1 
0 

88 

? 

0 

1 

1 

3 

1 

1 

1 
1 
0 

1 

0 

1 

3 

2tl 

1 

1 
1 

f 

2 

1 
1 

2t2 

2 

1 
Itl 

1 
0 

6{! 

1 

2 
1 
1 

1 
1 

2 
Itl 

1 
0 

Verhältnis  zwischen  i 
Aufnahmen  u.  Todesf.l 
Verhaltn.  d.  Frühbeh.) 
zu  d.  Spätbehandelten\ 

4 

27:1 
1,0  Pros 

22:5 

^ 

1 

31:5 
B,l  Pro 

24:7 

z. 

2< 

20:4 
[),OPro 

13:7 

c 

Es  zeigt  sich  zunächst,  daß  im  allgemeinen  wie  in  der  Vorserum- 
periode  der  Höhepunkt  der  Aufnahmen  in  die  Monate  Oktober  bis 
Januar,  der  Tiefpunkt  in  den  Hochsommer  fällt.  Die  wenigsten  Auf- 
nahmen brachte  der  Juli  und  September  1896  (je  3),   die  meisten  der 


Erfahrungen  über  Serumbehandlung  der  Diphtherie. 


621 


Tabelle  I  (FortBetzang). 


1897/98 


1898-99 


Okt.  I  Nov.     Dez.  1  Jan.  '  Febr.  1  März  |  April  |   Mai   I  Juni 


ITSUa  /männlich 

Davon  starben : 
Iracheotomiert  wurden : 
Davon  starben: 
Erwachsene: 

In  Behandlung  traten 
am  1.  Tage: 
»  ^«     >» 

17      ^»  7t 

n    4.      ., 

77      ö.  „ 

77       *•  1t 

I»    8.       „ 

später  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg. : 

Verhaltois  zwischen  ( 
Aufnahmen  u.  Todesf.) 
Verhältn.  d.  Frühbeh.  I 
zu  d.  Spatbehandelten  \ 


15{f 

15{3 

2 

2 

2 

9 

1 

1 

2 

2 

1 

3 

4 

3 

3tl 

6tl 

2 

3tl 

1 

Itl 

1 

2 

0 

0 

15{| 

6 
1 
3 


6 

1 
2 
0 


45:5 
11,1  Proz. 

25:20 


13(1 
1 
3 
1 
3 


1 

4 

6tl 


13{J 
1 
4 
1 
2 


4 
9tl 


11{I 
1 

4 
1 
1 


37:3 
8,1  Proz. 

30:7 


11{I  !  8{? 

0  I  1 

1  i  2 
0  i  0 
3  1 


I 


2 
1 
2 
2tl 
1 


0 


16(5 
2 
4 
1 
0 


4 

Hfl 
3 
2 


3 
Itl 


35:3 
8,6  Proz. 

23 :  12 


1893/99 

Jan. 

Juli 

Aug. 

Sept. 

Okt. 

Nov. 

Dez. 

Febr. 

März 

Fälle  CSÄ" 

16{J 

11{? 

2l[t2 

19^? 

19{,f 

36{^ 

24{U 

15{iS 

12(1 

Davon  starben: 

0 

3 

2 

2 

2 

6 

3 

2 

4 

Tracheotomiert  wurden : 

5 

1 

5 

5 

2 

13 

5 

1 

4 

Davon  starben: 

0 

1 

1 

0 

1 

4 

1 

1 

2 

Erwachsene: 

3 

3 

1 

3 

4 

4    ;    5 

2 

0 

In  Behandlung  traten 

am  1.  Tage: 

1 

1 

1 

1 

3 

3 

3 

17    2.       „ 

3 

3tl 

6 

6 

10t2 

14tl 

3 

8 

6tl 

tt  *'•     » 

6 

4tl 

8 

8 

4 

lOfl 

10 

3tl 

ati 

11  ^'     11 

3 

2 

1 

4tl 

2tl 

Itl 

3tl 

11  5.     , 

1 

2 

2 

2tl 

11  Ö«     11 

Ifl 

Ifl 

11    '•     11 

Ifl 

Ifl 

2 

1 

11  8.     „ 

3 

Ifl 

Ifl 

1 

4t2 

3tl 

Itl 

später  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg. : 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Verhältnis  zwischen  | 
Aufnahmen  u.  Todesf.\ 

48:5 

74:10 

51:9 

H 

0,4  Pro 

z. 

1 

3,5  Proz. 

1 

f,8  Proz. 

Verhältn.  d.  Frühbeh.  1 
zu  d.  Spätbehandelten 

32:16 

57:17 

38:13 

Dezember  1898  (36)  und  der  Oktober  1899  (35).  Die  Zahl  der  Auf- 
nahmen hielt  sich  in  den  Jahren  1894—1898  etwa  in  derselben  Höhe, 
um  dann  in  den  nächsten  Jahren  rapide  emporzuschnellen.  Die  Mor- 
talität war  sehr  schwankend,  sie  variierte  zwischen  0  Proz.  und  42  Proz. 


622 


Max  Cohn, 


Tabelle  I  (Fortsetzung). 


1899/1900 


April 

Mai 

Juni 

Juli   1  Aug. 

Sept 

Okt 

Nov. 

Dez. 

F»Ue{-iSS'                1  12{? 
Davon  starben:             \     2 

9{J 

1 

1* 

isr, 

2 

3 

21{}J 
3 

35(},« 
ö 

16{i5 
3 

29{S 
4 

Tracheotomiert  wurden : 

3 

2 

3 

4 

ö 

7 

9 

4 

9 

Davon  starben: 

1 

1 

0 

2 

3 

1 

1 

1 

2 

Erwachsene: 

1 

2T1 

0 

0 

1 

2 

2 

1 

3 

In  Behandlung  traten 
am  1.  Tage: 

"  l-  " 
"i  " 

II   0«      II 

5tl 

4tl 
2 

1 

1 

2 

1 
Ifl 

2 

\ 

1 

2 

2 

9t2 

3 

1 

8tl 
5tl 

2 

2 

1 
Ifl 

0 

1 

9tl 

5 

2tl 
2 

2tl 
10  tl 
llt2 

3 

3 

1 
7tl 
2tl 

3 
2tl 

4 
12  tl 
6tl 
3tl 
Itl 

II    "•      i> 

;;  \   ;; 

spater  als  am  a  Tage: 
fraglich  an  welch.  Tg.: 

0 

2 

0 

1 
1 

1 
0 

1 
Ifl 

2 

4tl 

0 

1 
0 

2 
1 

Verhältnis  zwischen  f 
Aufnahmen  u.  Todesf. 
Verhaltn.  d.  Frühbeh. 

1( 

soTT 

}|OPro 
19:11 

z. 

58:8 
133  PMfc 

42:16 

80:12 
15  Pros. 

66:25 

1899/1900 

April 

1900/01 

Jan. 

Febr. 

März 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Fälle  (Alf 

30{ig 

17{S 

21  {IS 

14(1 

u{? 

12{5 

lefj 

9{I 

Davon  starben: 

8 

4 

3 

3 

1 

3 

2 

1 

Tracheotomiert  wurden: 

5 

6 

7 

3 

4 

1 

4 

2 

Davon  starben: 

4 

4 

2 

1 

1 

0 

1 

1 

Erwachsene: 

5 

JTl 

1 

1 

5 

1 

1 

0 

In  Behandlung  traten 

am  1.  Tage: 

3 

1 

1 

II  ^»     II 

12  t  2 

2 

7tl 

5tl 

7 

1 

5tl 

4tl 

II    3.      II 

10 1 5 

»tl 

9 

5t2 

3 

7t3 

6 

2 

II    ^«      II 

2 

2tl 

3tl 

1 

2 

1 

II   "•      II 

1         Itl 

1 

1 

II  6-     II 

1 

Itl 

1 

1 

1 

7 
II    ••       II 

1 

2 

II    8.       n 

Ifl 

1 

1 

Ifl 

2 

spater  als  am  8.  Tage: 
fraglich  an  welchem  Tage: 

Itl 

2tl 

0 

0 

0 

0 

0 

3 

0 

Verhältnis  zwischen  Auf-  / 

08:15 

'üTt" 

25:3 

22,2  Proz. 

1' 

7i5  Pro 

z. 

12  Proz. 

Verhältnis  der  Frühbehan- 

E t     -     -1  rt 

29:11 

10  ■  " 

delten  zu  d.  8patbehaDdelten\ 

Ol :  n 

18: 

t 

in  den  einzelnen  Monaten;  es  folgt  daraus  der  wichtige  Satz:  Die 
Mortalität  der  Diphtherie  ist  auch  bei  der  Serumtherapie 
großen  Schwankungen  ausgesetzt.  Wenn  wir  zum  Vergleiche 
die  große  HAOEN-RosEsche  Statistik  heranziehen,  so  zeigt  sich,  daß  die 


ESrfahrungen  über  Serumbehandlang  der  Diphtherie.  623 

Mortalitätsschwankungen  vor  der  Serumanwendung  etwa  die  gleiche 
Amplitude  aufweisen.  In  Bethanien  betrug  die  geringste  Monats- 
mortalit&t  25  Proz.,  die  größte  75,6  Proz.  aller  Aufnahmen. 

Wie  verhalten  sich  aber  die  Au&ahmen  zu  dem  Verhältnis  zwischen 
Aufgenommenen  und  Gestorbenen.  Rose  sagt  in  seiner  Monographie: 
Je  voller  die  Baracke,  desto  größer  die  Mortalität,  je  leerer,  desto 
mehr  kommen  durch."  Dieser  Erfahrungssatz  des  alten  Klinikers  ist 
fDr  unsere  Kurve  direkt  ins  Gegenteil  verwandelt  Die  Prozent- 
zahl der  Mortalität  geht  nicht  mit  der  Aufnahmezahl  mit. 
Nur  einmal,  im  Januar  1900,  erreicht  bei  einer  Monatsaufoahme  von 
30  Patienten  die  Sterblichkeit  das  Doppelte  der  Durchschnittsmortalität 
Dagegen  weist  die  Mortalitätskurve  bei  Monaten  mit  wenig  Auf- 
nahmen häufig  steile  Zacken  auf  (z.  B.  März  1895,  November  1895, 
Juli  1896,  September  1896,  August  1897).  Das  Resultat  scheint  mir 
beachtenswert.  Der  Schluß,  den  Robb  aus  seinen  großen  Zahlenreihen 
zieht,  ist  der  sinnfälligste  für  den  Verlauf  jeder  Epidemie.  Ist  die 
Seuche  auf  ihrem  Höhepunkt  angelangt,  so  entspricht  der  hohen 
Krankenzahl  ein  gleich  hoher  Sterblichkeitsquotient.  So  ist  es  auch 
allerorten  bei  der  Diphtherie  gewesen,  bevor  eine  spezifische  Behand- 
lung in  ihre  Rechte  trat  Jetzt  ist  es  anders  geworden:  Die  Todes- 
fälle treten  sporadisch  auf.  Die  Mortalität  ist  nicht  eine  Mortalität  der 
Diphtherie,  sondern  ihrer  Komplikationen  und  der  in  aussichtslosem 
Zustand  in  Behandlung  Gekommenen.  Da  ereignet  es  sich,  daß  auch 
zu  einer  Zeit,  wo  wenig  Patienten  aufgenommen  werden,  der  Sterb- 
lichkeitsprozentsatz hoch  ist:  Der  Ausschlag  ist  dann  ein  ganz  beson- 
ders evidenter.  Das  heißt  aber  nichts  anderes,  als  daß  jetzt  bei  um- 
fangreichen Epidemien  durch  die  Behandlung  viele  Kinder  vor  einem 
üblen  Ausgang  bewahrt  bleiben.  Noch  ein  anderes  Moment,  das  gerade 
iQr  die  Serumbehandlung  in  die  Wagschale  fällt,  mag  in  Betracht 
kommen.  Wenn  die  Eltern  armer  Kinder  von  ihren  Nachbarn  oder 
sonstwoher  Kunde  bekommen,  daß  eine  Diphtherieepidemie  herrscht, 
so  werden  sie  eher  Krankenhausau&ahme  nachsuchen  und  auch  jeder 
beginnenden  Erkrankung  eine  sorgsamere  Beobachtung  schenken. 

Es  war  natOrlich,  daß  man  bei  Einführung  des  Diphtherieserums 
in  die  Therapie  das  Augenmerk  auf  den  Zeitraum  richten  würde,  der 
verflossen  ist  vom  Krankheitsbeginn  bis  zur  Anwendung  des  Mittels, 
um  zu  sehen,  ob  die  Frühbehandlung  evidente  Vorteile  vor  der  Spät- 
behandlung hat  Alle  Statistiken  der  ersten  Jahre  haben  sich  eingehend 
mit  dieser  Frage  beschäftigt.  Auch  wir  haben  gleich  bei  der  Ein- 
lieferung  der  Patienten  die  Eltern  genau  ins  Verhör  genommen,  um 
möglichst  sichere  Resultate  zu  erhalten.  Und  doch  hat  das  System 
seine  großen  Schwächen.  Bei  der  Diphtherie,  die  unter  dem  Bilde  der 
lokalen  Halserkrankung  verläuft,  läßt  sich  der  Beginn  der  Erkrankung 
bei  einiger  Aufmerksamkeit  ziemlich  sicher  eruieren.    Anders  bei  den 


624  Max  Cohn, 

Fällen,  die  wir  als  sogenannte  „septische  Formen**  in  Behandlung  be- 
kommen. Hier  ist  der  Beginn  ein  larvierter.  Wie  oft  hören  wir  doch 
von  den  Eltern,  daß  ein  Arzt  bislang  nicht  zugezogen  worden  ist,  weil 
nur  ein  einfacher  Schnupfen  vorlag.  „Erst  das  Schnarchen  in  der 
letzten  Nacht**  und  die  Benommenheit  hätten  den  Gedanken  an  ein 
ernsteres  Leiden  aufkommen  lassen.  Nach  meinen  Erfahrungen  tritt 
der  schwer  septische  Zustand  nur  selten  vor  dem  3.-4  Tage  und 
dann  ziemlich  unvermittelt  auf. 

In  der  ausführlichen  Tabelle  I  habe  ich  unser  Krankenmaterial 
nach  Fällen,  Totalmortalität,  Tracheotomien,  Tracheotomiemortalität 
und  Erwachsenen  geordnet  und  darunter  das  gesamte  vorliegende 
Material  nach  Krankheitstagen  rubriziert. 

Zunächst  ergab  sich,  daß  von  1000  Diphtheriepatienten  136  ge- 
storben sind,  was  einer  Mortalität  von  13,6  Proz.  entspricht.  261 
Patienten  wurden  tracheotomiert ;  das  sind  26  Proz.  aller  Aufnahmen. 
Unter  1000  Patienten  befanden  sich  93  Erwachsene  =  9,3  Proz. 
(Männliche  Erwachsene  werden  nicht  auf  die  Diphtheriestation  auf- 
genommen.) Von  diesen  sind  3  gestorben;  bei  2  Erwachsenen  wurde 
der  Luftröhrenschnitt  ausgeführt.  Da  das  Verhältnis  zwischen  Kindern 
und  Erwachsenen  ein  sehr  verschiedenes  ist,  so  ergeben  sich  nach  Ab- 
zug der  letzteren  folgende  Zahlen: 

von  907  Kindern  starben  134  =  14,8  Proz.; 
von  907  Kindern  wurden  259  tracheotomiert  =  28,6  Proz.; 
von  259  operierten  Larynxstenosen  bei  Kindern  starben  67  =  25,9 
Prozent. 

Trat  in  Kurve  I  hervor,  daß  mit  dem  Maximum  der  Aufnahmen 
nicht  ein  Maximum  an  Todesfällen  einhergehe,  so  ergibt  sich  aus 
Tabelle  I,  daß 

1)  von  allen  Diphtheriekindern  nur  28,6  Proz.  zur 
Tracheotomie  kamen  (gegen  60  Proz.  früher),  und  daß 

2)  von  den  Tracheotomierten  nur  25,9  Proz.  starben. 
Rose   dagegen    schreibt:    „Die   Verhältnisse    in    unserer   Baracke 

(Bethanien)  sind  in  keiner  Beziehung  besonders  günstige,  sondern  ent- 
sprechen dem  Durchschnitt,  wie  er  sich  im  Leben  gestaltet.  Für  diese 
Durchschnittsverhältnisse,  bei  unseren  Grundsätzen  und  für  die  Tracheo- 
tomia  inferior  ergaben  nun  also  größere  Zahlen  als  Resultat  des  Krup- 
schnittes  28,8  Proz.  Rettung.  Diese  Zahl  kann  man  nun  wohl  als 
Normalzahl  ansehen,  wenn  man  bei  der  Anzeige  des  Krupschnittes 
von  allen  taktischen  Einschränkungen  absieht." 

Jetzt  sterben  von  100  Operierten  25,9;  früher  gesundeten 
von  100  Operierten  28,8. 

Aber  noch  ein  anderes  fällt  in  unserer  Zusammenstellung  auf:  Die 


Erfahrungen  über  Serumbehandlong  der  Diphtherie.  625 

Schwankungen  der  Mortalität  bei  den  Tracheotomierten  sind  in  den 
einzelnen  Monaten  sehr  große.  Auf  ein  Maximum  von  Tracheotomien 
fällt  nicht  ein  Maximum  von  Todesfällen.  Es  ist  das  ein  Ergebnis, 
das  eine  Analogie  zu  der  These  darstellt,  die  ich  bei  Erläuterung  der 
Kurve  I  im  allgemeinen  aufgestellt  habe. 

Nach  Tagen  geordnet,  ergibt  sich  folgendes  Resultat: 

Von  am  1.  Tage  in  Behandlung  getretenen    78  Patienten  starb        1  =   1,3  Proz. 

.»      M    2.     „  „  „  „  361         „         starben  40«  11,1      „ 

>»      »>    ♦'•     »  M  >i  tt  284         „  „        30  =  10p      „ 

»       I»    4.      „  „  „  „  101  „  „        ^0  e=»  ä4,7      „ 

,,    später  oder 

ungewiß  „  „  „  176         „  „        40  =  22,7      „ 

Schließt  man  sich  Behring  an,  der  meint,  daß  auf  einen  annähernd 
sicheren  Erfolg  der  spezifischen  Behandlung  bis  zum  3.  Tage  zu  rechnen 
sei,  so  heißt  das,  auf  unsere  Tabelle  übertragen:  Von  den  inner- 
halb der  ersten  drei  Krankheitstage  Gespritzten  sind 
9,8Proz.  gestorben,  von  den  später  Behandelten  dagegen 
23,5  Proz. 

Ist  nun  aber  der  Krankheitstag  ein  Gradmesser  für  die  pro- 
gnostische Beurteilung  der  Wirksamkeit  des  BEHRiNOschen  Serums? 
Ich  möchte  das  nur  cum  grano  salis  zugeben.  Zur  Erörterung  dieser 
Frage  habe  ich  am  Fuße  der  Tabelle  I  von  drei  zu  drei  Monaten  eine 
Zusammenstellung  gemacht,  die  in  der  ersten  Reihe  angibt  das  Ver- 
hältnis zwischen  Aufgenommenen  und  Gestorbenen,  in  der  zweiten 
Reihe  dieses  Verhältnis  in  Mortalitätsprozenten  ausdrückt,  und  drittens 
die  Proportion  zwischen  Früh-  und  Spätbehandelten.  Da  sehen  wir 
nun,  daß  sicher  in  den  meisten  Quartalen  ein  Zusammenhang  zwischen 
den  zu  vergleichenden  Größen  besteht;  aber  nicht  immer:  das  liegt 
nun  erstens  daran,  daß  bei  dem  Vergleich  die  Anzahl  der  Tracheo- 
tomierten unter  der  Gesamtzahl  der  Fälle  nicht  zum  Ausdruck  kommt, 
andererseits  ergibt  sich,  daß  die  Prognose  nicht  lediglich  aus  dem 
Krankheitstag  herauszulesen  ist.  Bei  unseren  statistischen  Erhebungen 
fallen  ja  eigentlich  auch  drei  Arten  von  Erfolgen  auf,  die  vorzüglichen 
des  1.  Tages,  die  guten  des  2.  und  3.  Tages  und  die  mäßigen  der 
Spätbehandelten.  Das  ist  aber  gar  kein  Wunder:  Am  1.  Tage  handelt 
es  sich  bei  der  Diphtherie  wohl  immer  nur  um  einen  rein  lokalen 
Prozeß.  Die  Antitoxininjektion  ist  gewissermaßen  eine  prophylaktische. 
Die  Resultate  des  2.  und  3.  Tages  werden  ungünstig  beeinflußt  durch 
die  große  Zahl  der  Tracheotomien,  die  auf  diese  Tage  fällt  und  den 
Kindern  durch  die  Komplikationen  verderblich  wird,  und  schließlich 
liefern  die  Fälle  der  Spätgespritzten  wieder  relativ  günstige  Erfolge, 
da  die  Giftwirkung  der  protrahiert-  verlaufenden  Erkrankungen  oft  eine 
geringe  ist.  Kurz,  es  gibt  Diphtheriefälle,  bei  denen  eine  allgemeine 
Vergiftung  des  Organismus  erst  spät  einzutreten  pflegt  und  solche,  bei 


626 


Max  Cohn, 


denen  diese  schon  bei  der  Aufnahme  besteht  Diese  scheinen  mir  für 
die  spezifische  Heilwirkung  nicht  mehr  in  Frage  zu  kommen,  auch 
wenn  es  sich  manchmal  erst  um  den  2.  oder  3.  Tag  (meist  ffilschlich!) 
handelt.  Dagegen  liefern  die  Krupfälle,  bei  denen  eine  allmähliche 
Verschlimmerung  eintritt,  bis  es  zum  Larynxverschluß  kommt,  auch 
noch  relativ  spät  eine  gute  Heilchance.  Gerade  bei  den  Tracheo- 
tomiefällen,  bei  denen  Sepsis  (Allgemeinvergiftung)  und  fortschrei- 
tender lokaler  Prozeß  in  den  verschiedensten  Graden  variieren  und 
sich  kombinieren,  wird  die  Beweiskraft  der  Tagestatistik  zweifelhaft. 
Diese  Frage  ist  in  früheren  Arbeiten  nur  selten  gestreift  oder  wegen 
Versagens  der  Beweisführung  ohne  jeden  Kommentar  gelassen  worden. 


Tabelle 

II: 

Die  Trac 

heoto] 

miefSlle. 

94/95 

95/96 

96/97 

97/98 

98/99 

99/00 

00/01 

2 

1 

1. 

5 

? 

i 

M-5 
1 

d 

1 

"  1 

1 

ä 

ä 

^^ 

d 
^ 

^R 

^ 

X 

1 

fc 

^ 

1   1 

1 

1— ( 

> 

1-4 

i 

^ 

1 

1-^ 

l-H. 

> 

1-i 

^1 

X 

1 

^ 

g 

± 

i 

£• 

_£ 

Tracbeoto- 

1 

f 

-~ 

miob        i 

14 

7 

6 

n 

15 

8 

9 

4 

n 

6 

9 

€ 

17 

U 

7 

11 

20 

10 

8 

16 

22 

19 

s 

'' 

OmpnMsm 

LTftg^ 

l 

1 

:i 

1 

2,      „ 

4tl 

2tl 

2 

6tl 

5t3 

5 

öfS 

ifi 

4 

3tl 

1 

4 

0t2 

5tl 

1 

1 

4t3 

4tl 

4tS 

l 

2f, 

3,     ,. 

5+1 

2 

3tl 

8tl 

1 

i 

2 

4 

1 

öfl 

8t2 

2tl 

4 

7tl 

bf2 

3tl 

6tl 

7 

9ri;3tl 

1 

4.     M 

\^^ 

2 

1 

2t2 

2tl 

1 

1 

1 

Itl 

ati 

2tl 

1 

1 

2tl 

Itl 

3tl, 

2tl, 

3t2 

1 

5.           M 

2 

Ifl 

1 

I 

1 

in 

2 

1 

1 

2 

1 

2 

1 

2tl 

1 

1 

a    ,, 

Itl 

2tl 

1 

i 

1 

1 

1 

Itl 

l 

7.      p. 

l 

1 

m 

Itl 

2 

8.      . 

2tl 

l 

l 

1 

2tl 

2 

gfl 

l 

3tl 

3t2 

l 

1 

Btl 

2t  11 

dwa    „ 

1 

Ifl 

1 

t 

2 

1 

j' 

1 

1 

1     1 

1 

1 

Wenn  wir  nun  das  Facit  aus  der  in  vierteljährlichen  Intervallen 
geordneten  Tracheotomietabelle  ziehen,  so  ergeben  sich  für  die  Tage- 
statistik ganz  willkürliche  Zahlen: 

Von  am  1.  Tage  in  Bd 

»»  ^»    »»     »» 

>»  •*•    »»     »> 

II  ^    II     »I 

fi  *^'    I»      II 

II  '^^    II      II 

7 
»I    •  •     II      II 

II  ö-  II  II 
,  noch  spfiter  „ 
,  ungewiß       „ 

Gewiß,  die  Zahlen  dieser  Reihe  sind  untereinander  zu  verschieden 
und  zu  klein,  als  daß  ihr  bedingungsloser  Vergleich  großen  Werth 
hätte;  immerhin  sind  die  meisten  Tracheotomien  am  2.  und  3.  Krank- 
heitstage aufgenommen  worden,  und  auch  hier  schlägt  der  Vergleich 
kraß  zu  Ungunsten  der  Frühbehandlung  (d.  h.  scheinbar)  aus. 


4  Tracheotomien  starb 

0«  0    PrwL 

67 

,            starben 

22  =  323     „ 

83 

1                II 

15-18        „ 

31 

1                II 

13  —  41,9     ., 

21 

1                II 

3-143     II 

10 

1                II 

3-30,0     „ 

6 

ri                        II 

2-333     II 

28 

»1                        II 

8-283     II 

8 

Starb 

1  =  12,2     „ 

3 

1              II 

0-0 

£rfahraag6n  ttber  Sermnbeliandlang  der  Diphtherie. 


627 


Xabelle 

III:  Alte 

^rs 

abersicht, 

.• 

94/95XI.-ni. 

95/96 

96/97 

97/98 

98/99 

99/00 

00/01  IV.-VIII. 

Falle        ^ 

w 

78!} 

165  S 

iisa 

133  S 

208  iS 

236  ISi 

65  g 

Alter  in 
Jahren 

unter  1 

m  0 

3+2X2 

1-lXl 

0 

3+2X1 

4+4X3 
1  ■ 

2+2X2 

1+1 

w   1 

0 

21 

1-1X2 

3-2X1 

0 

1 

m  3+2X2 
w  3    1X2 

4       X3 

8+3X6 
5-1X2 

71 

1-4X6 

2  +  2X2 

151 

1-3X7 

5t5X4 

8t5X3 

6- 

■3X2 

9tlX4 

10- 

-5X8 

2 

2 

m  3  +  1X1 

9       X3 

8-1X3 

10--2X7 

7       X2 

12- 

■3X3 

7  +  1X3 

w   5t3X3 

10t2X3 

4-1X2 

2 

13t3X8 

13-2X7 

3       XI 

3 

m  8       X4 

13       X4 

7      X3 

6      XI 

16--4X9 

11-3X5 

4tlXl 

w   7+1X2 

7- 

2X2 

8-1X4 
8--1X1 

7       X3 

7  -IXl 

13--3X8 

1      XI 

4 

m  2       X2 

11' 

2X4 

10      X4 

17  +  1X7 
9tlXl 

15t3X3 

5  +  1 

m  9       X| 

17- 

■1X6 

4       X2 

llt2X6 

141 

h3X4 

4       XI 

5 

10- 

•2X2 

7-  1X1 

7       X4 

9-2X4 

7       13 

3      XI 

w   1           ^ 

9       X4 

5"  1X1 

2 

10-3X1 
13-1 

9 '1X3 

1       XI 

6 

m  4  +  lXi 
wllt2Xi 
mix? 
w  3          ^ 

9      XI 

7       XI 

5       XI 

10  •1X2 

6      XI 

3 

8 

7       X2 

3 

11 

1 

7 

1 

2 

4       XI 

7       X3 

lltlX2 

0 

11 

3      XI 

8- 

•1X2 

14tl 

9      XI 

0 

8 

m  0 

5 

1 

2- 

•2 

5 

1 

2 

w  0 

7 

2      XI 

3- 

■1X2 

SflXl 

6       XI 

2  +  1 

9 

m  0 

2       XI 

3       XI 

2 

2 

7  ■2X1 

0 

w  3 

2 

1 

0 

6trri 

10-1 

0 

10 

m   1 

5  +  1 

1 

2 

4 

1 

2 

w  0 

0 

0 

1 

3 

3 

2 

11 

in  0 

4 

3 

1 

2 

3 

0 

w  0 

2       XI 

2 

4 

3 

5 

1 

12 

m  2 

3  +  1 

1 

0 

0 

2 

1 

w    1 

4 

0 

0 

3 

3  +  1 

1 

13 

m   1 

2 

4  +  2 

0 

1 

3 

2 

w  0 

1 

0 

0 

2 

4 

0 

14 

m  0 

0 

0 

0 

0 

1 

0 

w  0             12 

0 

1 

2 

3  +  1 

1 

Aber  14 

w   4 

|o 

13 

20 

29tl 

19  +  1X3 

8 

ü.l  l  L»   3    4    5   6   7   8  9  10  11  12 13 14 


'"" 

140 

M 

130 
120 
110 
100 

90 

80 

70 

60 

50 

40 

30 

20 

10 

Km 

L-J 

^ 

u.  1  1  2   3   4    5    6    7   8   9  10  11  12  13 14Ü.14 

^ 

\ 

100 
90 
80 
70 
60 
50 
40 
30 

■■■" 

/ 

\ 

~ 

J 

-- 

V 

A 

•— 

— 

"~ 

— 

l 

w 

l- 

"" 

1 

- 

-- 

\ 

V 

" 

■~ 

] 

L 

^ 

X 

L 

— } 

r 

~ 

~ 

J 

5 

-Ä— 

20 

10 

0 

~ 

V 

~ 

^ 

^ 

^ 

-- 

d 

^ 

^ 

p 

"^ 

w- 

V 

^ 

^K 

^ 

^ 

rye 

II 

Ue 

bet 

Sic 

htB 

ka 

rve 

fi] 

MF 

ds 

la  ^ 

ilt 

er. 

Kurve  111.    Mortautfitskonre  nacü  dem  Alter 
geordnet 

628 


Max  Cohn, 


Kurve  IV.  ProzentualeB  Verh&ltnis  zwischen 
Aufnahmen  und  Tracheotomien,  nach  dem  Alter 
geordnet. 


u.  1123456789  1011 1213 14Ü.14  Aus  den  Kurven  II,  III, 

IV,  die  ich  aus  einer  Alters- 
übersicht des  Materials  (Ta- 
belle III)  zusammengestellt 
habe,  ergibt  sich  wenig  Be- 
langvolles. Bis  zum  4.  Jahre 
steigt  die  Häufigkeit  der  Diph- 
therie steil  an,  erreicht  in 
diesem  ihr  Maximum,  um 
dann  bis  zum  8.  Lebensjahr 
wieder  steil,  vom  8. — 14.  lang- 
sam zu  sinken.  Die  Morta- 
lität ist  im  1.  Lebensjahre 
eine  hohe  (71,4  Proz.),  aber 
immerhin  gering  im  Vergleich  zur  Vorserumzeit,  wo  wenig  Diphtherie- 
kinder unter  einem  Jahre  mit  dem  Leben  davon  kamen.  Die  Sterblich- 
keitskurve sinkt  vom  1. — 3.  Jahre  steil  ab,  um  sich  von  da  an  etwa  in 
gleicher  Höhe  zu  halten.  Das  Verhältnis  zwischen  Aufgenommenen  und 
Tracheotomierten  ist  im  1.  und  2.  Lebensjahre  etwa  gleich  hoch,  sinkt 
dann  langsam  bis  zum  7.  Lebensjahre  und  hält  sich  bis  zum  10.  Lebens- 
jahre in  etwa  gleicher  Höhe.  Bei  Patienten,  die  älter  als  10  Jahre 
waren,  zählten  Tracheotomieen  zu  den  Seltenheiten.  Der  jüngste  Patient, 
der  durch  den  Luftröhrenschnitt  gerettet  wurde,  war  6  Wochen  alt 
Man  sieht  daraus,  —  ein  wichtiger  Faktor  für  die  Beurteilung,  ob  die 
Diphtherie  eine  andere  geworden  sei  —  daß  die  Häufigkeit,  in  der  die 
einzelnen  Lebensjahre  von  der  Seuche  befallen  werden,  sich  gegen  die 
Vorserumszeit  kaum  wesentlich  geändert  hat ;  auch  die  Mortalitäts-  und 
Tracheotomiekurve  weist  denselben  Typus  auf.  Dahingegen  hat  sich 
das  Niveau  der  beiden  letzteren  sehr  zu  Gunsten  der  Serumperiode 
verschoben. 


Tabelle  IV: 

Lokalisation 

des  Krankheil 

^sprozesses. 

1894/95 

1895/96  1896/97  1 1897/98 

1898/99 

1899/00 

1900/01 

a)  Obere  Luftwege: 

ToDsUleD 

18 

62t  1        33 

45tl 

76 

83t  11       21 

BacheD 

15 

18--  4     20t2 

10t2 

37- •  6 

38t  3 

13t2 

Rachen,  Nase                        14  t  2 

23  ■  2 

2lt4 

20  t  6 

38-  8 

32t  13 

10  t  4 

b)  Mitbeteil.d.unt  Luftw. : 

Larynx 

lOfl 

30t   1 

26 

23t  1 

3üt  2 

42t  7 

11 

Descend.  Krup 

21t9 

32  tu 

15t6 

26  t  8 

27  tu 

41t  14 

lots 

Was  die  Lokalisation  anbetrifft,  so  waren  338  mal  nur  die  Tonsillen 
betroffen;  zu  diesen  Fällen  gehören  fast  alle  Erwachsenen.  Von 
338  Patienten  mit  Tonsillarbelag  starben  drei.  Bei  151  Patienten 
handelte  es  sich  um  eine  diphtheritische  Affektion,  die  zwar  die  Ton- 
sillen  überschritten   hatte,   doch  auf  den  Rachen  lokalisiert  war.    Von 


II      ** 

>f                         ii 

.,      20 

)»                         >l 

„      16 

71                   n 

„        1 

ti                   }i 

■1       3 

n                   n 

,1        1 

f>                   » 

1,        1 

n                  « 

.1        1 

fi                      »: 

„      1» 

„           ist 

Erfahrungen  über  Serombehandlnng  der  Diphtherie.  629 

ihnen  starben  19.  Rachen  und  Nase  waren  in  167  Fällen  befallen;  es 
starben  davon  38  Patienten.  Zu  den  ausgesprochenen  Sepsisfällen 
stellten  die  Nasenrachendiphtherien  das  Hauptkontingent.  In  344  Fällen, 
also  bei  etwas  mehr  als  einem  Drittel  aller  Aufgenommenen,  war  eine 
Mitbeteiligung  der  unteren  Luftwege  zu  konstatieren.  172 mal  warder 
Prozeß  auf  den  Kehlkopf  beschränkt,  davon  starben  12.  Gleichfalls 
172 mal  handelte  es  sich  um  einen  deszendierenden  Prozeß;  es  starben  64. 
Bei  der  ersteren  Kategorie,  den  Laryngostenosen  im  engeren  Sinne, 
wurde  häufig  die  Tracheotomie  vermieden,  da  die  Einziehungen  wieder 
zurückgingen. 

Im  allgemeinen  aber  kam  der  größte  Teil  der  Fälle  von  Larynx- 
krup  in  dem  Zustand  von  Atemnot  in  Behandlung,  daß  die  Tracheo- 
tomie sofort  ausgeführt  werden  mußte.  Eine  genaue  Uebersicht  mag 
folgen : 

Bei  156  Patienten  wurde  die  Tracheotomie  sofort  ausgeführt 

,.  „  0—10  Btd.  nach  der  Aufnahme  ausgefiihrt 

i>  i>  lo     ä4     ,,  „         ff  „  „ 

!•  II  ^        I«  »I  »I  »I  f» 

II  f»  ^        I»  »I  II  II  I» 

II  11  •*  Aage  ti       M  n  II 

»I  II  ^     II      11       »I  I»  II 

,       n  >i  vor  der  Aufnahme  aasgeführt 

ist  kein  genauer  Zeitpunkt  verzeichnet 

Die  Bedenken  der  Serum  gegner,  ob  bei  einem  Patienten,  der  später 
als  24  Stunden  nach  der  Injektion  zur  Operation  kam,  noch  von  dem 
Erfolge  der  Serumtherapie  gesprochen  werden  könne,  sind  hinfällig. 
Denn  die  diphtheritische  Membran  vermag  nicht  nur  in  statu  nascendi 
zu  einem  Verschluß  der  Atemwege  zu  führen,  sondern  auch  die  in 
Lockerung  befindliche  des  abheilenden  Falles.  Ich  lasse  es  dahinge- 
stellt, ob  die  Ansicht  der  Autoren  die  richtige  sei,  die  meinen,  daß  ge- 
rade jetzt,  unter  dem  Einfluß  der  Serumtherapie,  die  Membranen  sich 
schnell  lockerten  und,  anstatt  sich  zu  lösen,  flottierend  den  Kehlkopf 
verschlössen ;  immerhin  fand  ich  einige  Male  bei  den  Spättracheotomieen 
verzeichnet,  daß  der  Verschluß  plötzlich  zu  stände  gekommen  sei, 
woraus  gewissermaßen  die  Glaubhaftigkeit  vorerwähnter  Meinung  erhellt. 

Wenn  ich  den  Beginn  der  Erkrankung  zu  Grunde  lege,  so  wurde 
im  Durchschnitt  die  Operation  bei  den  geheilten  Fällen  4,04  Tage  nach 
Beobachtung  der  ersten  Krankheitssymptome  notwendig,  während  bei 
den  Verstorbenen  dieser  Termin  schon  nach  3,96  Tagen  eintrat.  Also 
auch  hierin  tritt  das  Phänomen  in  Erscheinung,  daß  bei  den  Larynx- 
stenosen  (gleichbedeutend  mit  den  schweren  Fällen)  die  Dauer  der 
Krankheit  nicht  gleichzusetzen  ist  der  Schwere  der  Krankheit  und  dem- 
nach kein  Kriterium  abgibt,  ob  die  Serumtherapie  von  Erfolg  begleitet 
sein  wird.  Während  der  ganzen  Beobachtungszeit  waren  durchschnittlich 
bei  dem  einzelnen  Kranken  3,94  Tage  verstrichen,  bis  der  Luftröhren- 
schnitt bei  Larynxkrup  ausgeführt  werden  mußte. 

Uttua.  a.  d.  OrenHeWeten  d.  MmlUln  u.  Chinuvie.    Xm.  Bd.  41 


630 


Max  Cohn, 


Tabelle  V:  Die  Et 

ssultate 

der  hohen  Serum 

dosen. 

1894/95 

xr-iii 

1895/96 

1896/97 

1897/98 

1808/99 

1899/00 

1900/01 

Anzahl  der 
FäUe 

' 

7 

13 

15 

26 

17 

5 

Tag  1. 
„    2. 

„    3. 

„    4. 
„     5. 
„    6. 

„     7. 

»     8- 
übera 
? 

I2200tl 

1    8000 

2100 
2100 

2500 
|2600 

1 

14000  t  1 

„4  4  8000 

2600 

1  8000 

18000 

14700  fl 

12500 
18000  tl 
13200  tl 

8000 

8000 

„4000 
34000 
5000 
«4000 

34000t  1 
4000 

14000  t  1 

1  4000 

1  4000 

SiMOO 

^    t2 

10  7  »^8000 

5    t3 

2soootl 

3jirt2 

1  4000 

tg  5«8000 

5  t3 

^6*8000 

72500 

'     t4 

n8000 

^8000 

2|Sgti 
tsooot  1 

2|!!Sti 

1  1000 
ISOOD 

IJOOOtl 

Mortalität  des 
ganzen  Jahres 

15,4  0/^ 

»Uv. 

10,4  0/, 

13,5  7. 

13,1  •/. 

16.1  7. 

14,97. 

In  Tabelle  V  habe  ich  die  Resultate  der  hohen  Serumdosen  zu- 
sammengestellt Mit  Injektionen  über  2000  I.E.  als  erste  Gabe  wurden 
84  Patienten  behandelt. 

Die  Ziffern  für  die  einzelnen  Krankheitstage  sind  zu  klein,  als  daS 
sie  für  sich  statistischen  Wert  hätten.  Immerhin  hat  es  den  Anschein, 
als  ob  hohe  Serumgaben,  in  den  ersten  Tagen  angewendet,  mehr  Aus- 
sicht auf  Erfolg  haben  als  spätere.  Von  50  Patienten,  die  während  der 
ersten  drei  Tage  mit  hohen  Dosen  injiziert  wurden,  starben  14  =  28  Proz. ; 
von  34  Patienten,  die  später  in  Behandlung  traten,  starben  16  «=»  44,4  Proz. 
Interessant  erscheint  es  mir  noch,  daß  in  den  Jahren,  in  denen  relativ 
die  meisten  Fälle  mit  hohen  Serumdosen  behandelt  wurden,  auch  die 
günstigste  Jahresmortalitätzu  verzeichnen  war,  während  im  umgekehrten 
Falle  das  Gegenteil  statthatte. 

Tabelle  VI  kann  ich  gewissermaßen  der  vorhergehenden  Zusammen- 
stellung als  Pendant  gegenüberstellen.  Es  sind  die  Fälle,  die  mit  dem 
Symptomenkomplex  der  ausgesprochenen  Sepsis  aufgenommen  und  an 
ihr  zu  Grunde  gegangen  sind.  (Die  kleinen  Zahlen  bedeuten  die 
Immunisierungseinheiten,  welche  die  Patienten  bei  der  Aufnahme  in- 
jiziert bekamen.)  Die  Reihe  umfaßt  66  Patienten :  34  Fälle,  die  während 
der  ersten  3  Tage  in  Behandlung  kamen,  stehen  32  Fällen  gegenüber, 
die  später  Krankenhaushilfe  in  Anspruch  nahmen.  Es  starben  fast 
genau  soviel  Frühbehandelte  als  Spätbehandelte.  Die  Serumdosen,  die 
zur  Verwendung  kamen,  sind  im  Durchschnitt  bei  den  Frühinjizierten 
etwa  die  gleichen  gewesen  wie  bei  den  Spätgespritzten.   Man  kann  dem- 


£rfahningen  über  Serambehandlang  der  Diphtherie. 
Tabelle  VI:  Die  eeptischen  Diphtheriefälle. 


631 


An  SepeiB  Ge- 
Btorbene 


!sri 


"X 


i 


9 


1 1 1 

i>  00 

s    ,  i 


8    I  15 


8 


19 


1^ 


6 


^ 


66 


Tag    1 

»      2 

»      3 


»  5 
,,  6 
„  7 
„  8 
über  8 
? 


21600 
2000 

1  1600 


^  1500 
9000 


O  1600 
^1500 

9  1600 
-^1500 


9  1000 
^2000 


l2aoo 


1I6OO 


1  1600 


1  9000 

1  1000 


1000 
£2000 

4 1000 

9000 

21000 
2000 

1  4000 
1  4000 


4000 
/9000 
4  9000 

2000 

1  4000 

9000 

9000 

59000 

•^2000 

1000 

1  9000 
1  2000 

I2OOO 

94000 
^^2000 


I2OOO 

1000 
/2000 
^9000 

3000 

^6i2000 
81000 
9000 


99000 
-^2000 

I2OOO 


1  1000 

12000 

t  2000 


1  1000 

2000 
/2000 
^  1000 

9000 


1  9000 


1  2000 

IS  ^^00 

15  31000 

\]   24000 

7  16700 
24000 
I2OOO 
613000 

Seooo 

2 


ä2000 
ä  2250 

ä2067 

ä2182 

ä  2386 
ä2000 
ä2000 
ä2l67 
ä2000 


nach  ohne  Zaudern  behaupten,  dafi  bei  Diphtheriefällen,  die  mit  den 
Erscheinungen  der  Allgemeinvergiftung  aufgenommen  wurden,  die  Serum- 
therapie im  Stich  gelassen  hat.  Vereinzelte  Heilungen  kommen  jetzt 
wie  früher  vor,  wie  auch  bei  verwandten  Allgeraeininfektionen  durch 
andere  Keime;  darum  kann  man  aber  noch  nicht  von  einer  Heilung 
durch  die  spezifische  Therapie  sprechen. 

Aus  den  letzterwähnten  Tabellen  ergeben  sich  dem  Serumtherapeuten 
wichtige  Schlüsse  für  die  Dosierung  des  BEHRiNGschen  Heilmittels.  Wir 
haben  zu  trennen  1)  Fälle  rein  lokaler  Erkrankung  von  Fällen  allge- 
meiner Giftwirkung  und  2)  Fälle,  die  frühzeitig  in  Behandlung  kommen, 
von  Spätfällen.  Beide  Kategorien  können  sich  decken,  brauchen  es  aber 
nicht.  Es  mag  wohl  eine  spezifische  Eigenschaft  verschiedener  Arten 
von  Diphtheriebacillen,  d.  h.  ihrer  Virulenz  sein,  daß  das  eine  Mal  der 
diphtherische  Prozeß  auf  die  Rachengebilde  beschränkt  bleibt,  das 
andere  Mal  rasch  deszendiert;  darauf  aber  kommt  es  für  die  Therapie 
allein  an,  vor  der  Wirkung  des  Giftes  auf  den  Gesamt- 
organismus dem  Patienten  Schutzstoffe  einzuverleiben, 
die  ihn  gegen  den  drohenden  Feind  immun  machen.  Im 
großen  und  ganzen  wird  die  Seruminjektion  immer  zur  rechten  Zeit 
kommen,  wenn  sie,  während  der  diphtherische  Prozeß  ein  lokaler  ist, 
gewissermaßen  prophylaktisch  angewendet  wird.  Leichte  Fälle,  d.  h. 
früh  in  Behandlung  gekommene,  mit  lokalen  Erscheinungen  ohne 
Störung    des     Allgemeinbefindens,    werden    mit    1000  I.E.   gespritzt. 

41* 


Max  Cohn, 

Fälle,  die  mit  Erscheinungen  des  Fortschreitens  des  lokalen  Prozesses 
(bellender  Husten,  leichte  Einziehungen)  aufgenommen  werden,  be- 
kommen 1500—2000  I.E.  Schreitet  der  lokale  Prozeß  sehr  rasch  fort, 
so  sind  auch  bei  früh  in  Behandlung  tretenden  Patienten  hohe  Dosen 
zu  bevorzugen,  da  naturgemäß  auch  hier  die  Giftwirkung  unvermutet 
und  schnell  eintreten  kann.  Bei  den  Fällen  aber,  wo  die  Störungen  des 
Allgemeinbefindens  irgendwie  mehr  in  den  Vordergrund  treten,  nehme 
man  von  vornherein  seine  Zuflucht  zu  den  höchsten  Dosen.  Hält  man 
sich  an  diese  durch  die  Erfahrung  gewonnenen  Regeln,  so  wird  man  bald 
die  Erfahrung  machen,  daß  Fälle  von  fortschreitender  Diphtherie,  die 
schon  auf  den  Larynx  übergriffen,  auch  noch  an  späteren  Tagen  für  die 
Serumtherapie  eine  günstige  Prognose  abgeben,  während  septische  Fälle, 
auch  wenn  sie  schon  am  2.  oder  3.  Tage  in  Behandlung  kommen,  letal 
verlaufen.  Allerdings  ist  es  fraglich,  ob  bei  diesen  letzteren  nicht  die 
Diagnose  lange  hinter  dem  Ausbruch  der  Erkrankung  einherhinkte. 

Man  hat  der  Serumtherapie  zur  Last  gelegt,  daß  seit  ihrer  Ein- 
führung die  Neben-  und  Nachkrankheiten  der  Diphtherie  sich  in  be- 
ängstigender Weise  gemehrt  hätten,  und  bedeutende  Mediziner  haben 
es  über  sich  gebracht,  schwere  Folgezustände,  die  sie  besonders  auf 
dem  Sektionstisch  zu  sehen  bekamen,  der  Seruminjektion  in  die  Schuhe 
zu  schieben.  Dabei  ist  es  eine  große  Frage,  ob  solche  Folgezustände 
früher  nicht  ebenso  häufig  gewesen  sind,  ganz  abgesehen  von  anderen 
Erklärungen,  auf  die  ich  erst  später,  im  anatomischen  Teile  dieser 
Arbeit,  zurückkommen  möchte.  Kliniker  wie  Heubner  haben  sogar 
gefunden,  daß  die  die  Diphtherie  oft  begleitende  Albuminurie  während 
der  Serumperiode  abgenommen  habe.  Ich  habe  von  unseren  Fällen 
eine  kleine  Tabelle  der  Komplikationen,  Neben-  und  Nachkrankheiten 
angefertigt,  die  einesteils  ein  beredtes  Bild  für  die  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  liefert,  andererseits  aber  noch  keinen  Anspruch  auf 
Vollständigkeit  machen  kann;  denn  oft  genug  werden  geringe  Be- 
schwerden nicht  genügend  gebucht;  so  manchmal  auch  gelingt  es  dem 
Untersucher  nicht,  für  jede  Fiebersteigerung  der  kleinen  Patienten  die 
richtige  Lösung  zu  finden.  Das  aber  geht  aus  der  Zusammenstellung 
hervor,  daß  die  Zahl  der  Nephritiden  vor  und  während  der  spezifischen 
Therapie  sich  auf  gleicher  Höhe  gehalten,  die  der  Pneumonien  aber 
gegen  früher  sehr  abgenommen  hat. 

Nun  aber  sind  auch  Affektionen  zur  Beobachtung  gekommen,  die 
der  Serumtherapie  zur  Last  fallen:  das  sind  die  verschiedenen  Ex- 
antheme und  Arthritiden  sowie  Infiltrate  und  Abscesse  an  der  In- 
jektionsstelle. Letztere  können  freilich  vermieden  werden;  aber  was 
läßt  sich  nicht  alles  in  der  Medizin  vermeiden  und  wird  doch  zum 
Ereignis!  Man  muß  also  damit  rechnen.  Wir  haben  zuerst  am  Ober- 
schenkel die  Injektion  gemacht  und  später  (seit  1900)  die  Punktions- 


Erfahrangen  über  Semmbehandlaiig  der  Diphtherie. 


633 


Tabelle  VII:  Komplikationen,  Kombinationen,  Nachkrankheiten. 


i. 

1 

^ 

1 

i. 

t 

«s 

1 

1-H 

^     1 

1-H 

tH 

1 

Oü 

Diphtherie  d&c  Conjonctiva 

2 

2 

Wimddiphtherie 

1 

1 

Diphtherie  des  Oehörganges 

1 

1 

Acoommodationslähmang 

4 

1 

1 

1 

7 

Pares.  vel.  palatin. 

1 

5 

1 

4 

2 

13 

Pares.  musc.  extr.  inf. 

1 

2 

1 

2 

1 

7 

Wanderlahmnng 

1 

1 

Drfiflenfieber 

1 

5 

3 

1 

10 

DrOsenabsceß 

3 

1 

1 

1 

3 

:       9 

Phlegmone  colli 

1 

1        1 

Betropharyngealabeoeß 

^     1        1 

Keratitis  suppurat. 

1 

1        1 

Meninffitie 
Granmationsetenose 

1 

1 

Urticaria  an  d.  InjektionBstelle 

1 

1 

Allgemeine  Urticaria 

5 

1 

6 

Serumezanthem 

12 

16 

8 

3 

3 

6 

1 

49 

Fieberhafte  Arthritis 

4 

4 

2 

1 

1 

12 

Abec.  an  der  Injektionsstdie 

1 

2 

1 

1 

3 

1 

9 

Bronchopneumonie 

12 

24 

15 

22 

23 

30 

8 

134 

Pertussis 

2 

1 

2 

Nephritis 

11 

10 

16 

25 

16 

19 

4 

101 

Phthisis  pulmonum 

1 

Pleuraempyem 

1 

Furunkulose 

1 

Padatrophie,  Gastroenteritis 

1 

Tetanie 

1 

Lnngengangrfin 

1 

Otit  med.  purulenta 

2 

3 

9 

2 

6 

1 

23 

Scarlatina  als  Vorkrankheit 

1 

1 

1 

l 

5 

9 

als  Nachkiankheit 

2 

1 

3 

MorbiUi  als  Vorkrankheit 

2 

1 

3 

ft       als  Nachkiankheit 

1 

2 

3 

2 

8 

Varicellen 

2 

1 

3 

Hämorrhagische  Diathese 

1 

1 

1 

firysipelas 

1 

1 

2 

2 

£ndocarditi8 

1   1 

i 

1 

3 

Pericarditis  exsudativa 

1 

1 

Ikterus 

1 

1 

Hautemphysem 

2 

2 

1 

5 

stelle  an  die  Linea  alba  unterhalb  des  Nabels  verlegt.  Ob  es  nur 
ein  Zufall  ist,  oder  in  der  verschiedenen  Spannung  der  Gewebe  seine 
Begründung  findet:  wir  haben  seitdem  keine  Injektionsabsesse  mehr 
gesehen.  Bei  sehr  großen  Dosen  dürfte  es  sich  empfehlen,  an  meh- 
reren Stellen  zu  injizieren.  Was  nun  die  spezifischen  Serumerkran- 
kungen im  engeren  Sinne,  die  Exantheme,  anlangt,  so  ist  längst  er- 
wiesen, daß  ihr  Auftreten  nicht  an  die  Antitoxine,  sondern  an  die 
Giftwirkung  des  Pferdeserums  gebunden  ist.  Man  wird  sie  also  um 
so  eher  vermeiden  können,  je  hochwertiger  das  Serum  ist.  Das 
zeigte  sich  auch  bei  uns  im  Laufe  der  Zeiten  mit  der  Verbesserung 
der  Gewinnung,  was  aus  folgender  Zusammenstellung  erhellt: 


634                                                 Max 

Co 

hn, 

1894/95  wurde  bei   78  FäUeo  (5  Mon.)  12  V 

Ber.  Exantheme 

,  5  V  6er.  Urticaria  beobachtet. 

1895/96      „      „    165      „                   169 

ti 

1) 

*X-  »»       »»           «» 

1896/97      „      „    115      „                    89 

ft 

V 

beobachtet, 

1897/98      „      „    133      „                    39 

$1 

n 

»» 

1898/99      „      „   208      „                    39 

>i 

>i 

}} 

1899/1900  „      „   236      „                    69 

»1 

tt 

ft 

1900/01      „      „     65      „     (4  Mon.)   IX 

>» 

»» 

tt 

Das  Serumexanthem  trat  gewöhnlich  am  Ende  der  ersten  Woche 
nach  der  Einspritzung  auf;  doch  gab  es  auch  Fälle,  wo  erst  in  der 
dritten  Woche  ein  solcher  Ausschlag  zum  Ausbruch  kam,  der  von 
hohem  Fieber,  Gelenkschmerzen  und  -Schwellungen  begleitet  war.  Die 
Kinder  waren  auffallend  matt  und  erholten  sich  je  nach  dem  Umfang 
der  Afifektion  langsamer  und  schneller.  Die  Dififerentialdiagnose  gegen 
Scharlach  gleich  am  Beginn  der  Erkrankung  zu  stellen,  ist  häufig  recht 
schwer.  Oft  läßt  erst  der  Verlauf  den  sicheren  Unterschied  von  Scar- 
latina  erkennen.  Wenig  Schwierigkeiten  bieten  die  excessiven  Fälle, 
da  bei  ihnen  das  Exanthem  größere  oder  kleinere  Inseln  frei  läßt,  die 
geröteten  Partien  über  die  Oberfläche  prominieren,  und  die  Gelenk- 
schmerzen schnell  zu  Klagen  von  Seiten  der  Patienten  führen.  Weit 
unangenehmer  steht  es  mit  den  abortiven  Formen,  wo  die  allgemeine 
Rötung  und  die  Temperatursteigerung  im  Vordergrund  stehen.  Ich  will 
nicht  verschweigen,  daß  wir  Scarlatina  als  Nachkrankheit  der  Diphtherie 
zu  sehen  bekamen,  diese  für  ein  sicheres  Serumexanthem  hielten  und 
so  nicht  rechtzeitig  die  Isolierung  erwirkten.  Wo  es  sich  ermöglichen 
läßt,  ist  es  immerhin  empfehlenswert,  jedes  zweifelhafte  Exanthem  für 
einige  Tage  zu  isolieren.  Im  großen  Ganzen  sind  die  Serumexantheme 
leichte  Affektionen,  deren  Folgen  früher  in  allzuschwarzem  Lichte  gemalt 
wurden.  Man  kann  sagen :  Wenn  erst  die  Gewinnung  hochwertiger  Sera 
mit  geringeren  Kosten  verknüpft  sein  wird,  so  werden  die  Serumexan- 
theme wohl  überhaupt  nicht  mehr  beobachtet  werden. 

Als  besonders  seltene  Komplikation  möchte  ich  einen  Fall  von 
Diphtherie  des  Gehörgangs  erwähnen,  wie  ein  solcher  nur  noch  einmal 
in  der  Literatur  von  Kutscher  genauer  beschrieben  worden  ist. 

Eine  schwere  Frage  ist  es,  zu  entscheiden,  wie  die  Heftigkeit  der 
Epidemie  während  unserer  Beobachtungszeit  gewesen  ist.  Aus  zwei 
Gründen:  Es  ist  erstens  eingewendet  worden,  daß  seit  Einführung  der 
Serumtherapie  eine  völlig  andere  Diagnosenstellung  Platz  gegriffen  hat, 
und  daher  Vergleiche  der  Heilungsprozente  von  jetzt  zu  früher  gar 
nicht  statthaft  wären,  und  zweitens  fragt  es  sich,  ob  der  leichte  Verlauf 
der  Diphtherie,  wie  wir  ihn  jetzt  so  oft  sehen,  durch  die  spezifische 
Therapie  diesen  benignen  Charakter  bekommen  hat,  oder  ob  der  Cha- 
rakter der  Seuche  an  sich  ein  so  günstiger  geworden  ist. 

Selbstverständlich  ist  die  bakteriologische  Untersuchung  für  eine  ge- 
naue Bewertung  der  Erfolge  des  Diphtherieheilserums  eine  conditio  sine 
qua  non ;  sie  ist  bei  uns  stets,  in  vielen  Fällen  sogar  wiederholt,  zu  Rate 


Erfahrungen  über  Serumbehandlnng  der  Diphtherie.  636 

gezogen  worden.  In  den  ersten  Jahren  ist  auch  mit  Tierversuchen  nicht 
gekargt  worden,  um  die  Virulenz  zu  erweisen,  und  jeder  Fall,  wo  das 
Kulturverfahren  wiederholt  versagt  hat,  wurde  aus  dieser  Statistik  —  sicher 
nicht  zum  Vorteile  einer  günstigen  Mortalitätsprozentzahl  —  ausgeschaltet 
Die  Scharlachdiphtherie  als  genuine  Erkrankung  habe  ich  unserem  Ma- 
terial nicht  angegliedert,  da  der  Diphtheriebacillus  als  ätiologischer  Faktor 
fehlt,  und  somit  auch  das  Diphtherieserum  keine  Wirksamkeit  auf  die 
Krankheit  haben  kann.  Fälle,  wo  im  Anschluß  einer  Scarlatina-Diph- 
therie  oder  im  Anschluß  an  Diphtherie  Scharlach  aufgetreten  war,  sind, 
wie  Tabelle  VII  ergibt,  in  die  Statistik  aufgenommen. 

Der  erste  Einwand  erscheint  mir  aus  dem  Grunde  nicht  stich- 
haltig, weil  andere  Statistiken,  die  nur  auf  klinischer  Beobachtung 
aufgebaut  sind,  fast  dieselben  Resultate  ergeben  haben,  als  solche, 
die  auf  dem  bakteriologischen  Nachweis  basieren.  Wer  viel  Diph- 
therien klinisch  untersucht  hat  und  dann  selbst  die  bakteriologische 
Prüfung  angeschlossen  hat,  wird  zu  dem  Eindruck  gelangt  sein,  daß 
sich  im  großen  ganzen  die  klinische  Diagnose  mit  dem  bakteriologischen 
Befunde  deckte.  Selbst  bei  den  septischen  Diphtherien,  bei  denen 
die  Bakteriologen  auf  Grund  des  Ergebnisses,  daß  der  spezifische 
Bacillus  häufig  von  einer  Unzahl  von  Kokken  fast  ganz  verdeckt 
wird,  angenommen  haben,  daß  die  Schwere  der  klinischen  Krankheits- 
bilder einer  Mischinfektion  zuzuschreiben  sei,  gelingt  es  oft,  schon  beim 
ersten  Impfversuche  fast  Reinkulturen  von  Diphtheriebacillen  zu  er- 
halten. Das  hat  freilich  manchmal  seine  Schwierigkeiten.  Die  sep- 
tischen Diphtheriefälle  kommen  sehr  häufig  in  schwer  benommenem 
Zustande  ins  Krankenhaus:  Mit  größter  Mühe,  durch  Zuhalten  der 
Nase  und  mit  Gewalt  ist  es  nur  möglich,  die  Zahnreihen  auseinander- 
zupressen. Das  Spatel  berührt  den  Gaumen,  der  Würgreflex  wird 
ausgelöst,  und  ist  dann  endlich  die  Platinöse  an  der  richtigen  Stelle, 
so  ist  sie  schon  mit  Schleim,  Speisebrei  etc.  benäßt  Ich  glaube,  daß 
man  viele  der  sogenannten  Mischinfektionen  durch  die  Schwierigkeit 
des  Abimpfens  erklären  kann. 

Ist  nun  die  Epidemie  im  ganzen  leichter  geworden  ?  Die  Diphtherie- 
mortalität ist  stets  in  verschiedenen  Ländern  sehr  verschieden  gewesen. 
Man  kann  daher  Resultate  solcher  nicht  leicht  miteinander  in  Vergleich 
stellen.  In  Berlin  haben  sich  oft  schon  die  verschiedenen  Stadtteile 
verschieden  verhalten ;  in  dem  einen  mußten  die  Schulen  wegen  schwerer 
Epidemieen  geschlossen  werden,  während  andere  zur  selben  Zeit  von 
der  Seuche  ganz  verschont  blieben.  Doch  betrug  seit  Jahrzehnten  die 
mittlere  Mortalität  nicht  unter  40  Proz.  Haben  wir  aber  in  dem 
BEHRiKOschen  Serum  ein  Mittel  gewonnen,  das,  möglichst  frühzeitig 
angewandt,  zur  Verhütung  der  schweren  toxischen  Erscheinungen  führt, 
so  ist  es  sehr  schwer,  den  Charakter  der  Epidemie  zu  beurteilen. 
Gegner  der  Serumtherapie  waren  freilich  schnell  mit  ihrem  Urteil  fertig; 


636  Max  Cohn, 

8ie  8ahen  viele  Fälle  angemein  leicht  verlaufen  und  sagten  aneingedenk 
dessen,  daß  man  ja  nicht  wissen  kann,  wie  sie  ohne  Seruminjektion 
verlaufen  w&ren:  Jetzt  g&be  es  keine  Diphtherie  mehr  wie  anno  dazu- 
malsi  Daß  wir  immer  und  immer  wieder  Fälle  zu  sehen  bekommen, 
die  sich  durch  nichts  von  der  Vorserumzeit  unterscheiden,  daß  wir 
selbst  schwerkranke  Kinder,  die  schon  benommra,  komatös  daliegen, 
unter  der  Anwendung  des  Mittels  überraschend  schnell  gesunden  sehen, 
daß  besonders  auch  die  Tracheotomiefälle  eine  glänzende  Verbesserung 
der  Resultate  erreicht  haben,  und  vor  allem,  daß  es  zu  den  Selten- 
heiten gehört,  daß  sich  im  Krankenhaus  leichte  und  mittelschwere 
Fälle  bei  rechtzeitiger  Anwendung  des  Serums  akut  verschlimmem: 
das  alles  spricht  für  die  Wirksamkeit  des  Serum!  Daß  sich  die 
Zahl  der  Aufnahmen  mit  Einfahrung  der  spezifischen  Therapie  sehr 
gesteigert  hätte,  konnten  wir  ans  unseren  Zahlen  nicht  ersehen. 
Den  Genius  epidemicus,  der  durch  dieses  Moment  besonders  charak- 
terisiert sein  soll,  konnten  wir  während  unserer  Beobachtungszeit 
nur  ahnen.  Im  Jahre  1898/99  und  1899/1900  ist  die  Zahl  der  Krank- 
heitsfälle gestiegen  und  zwar  so,  daß  die  Aufnahmen  der  letzten 
Jahre  die  von  1896/97  um  etwa  das  Doppelte  überschreiten.  Die 
Jahresmortalität  von  1896/97  betrug  10,4  Proz.  und  war  die  nie- 
drigste, die  von  1899/19U0  betrug  16,1  Proz.  und  war  die  höchste, 
und  das,  trotzdem  in  den  letzten  Jahren  der  Beobachtung  die  Zahl 
der  Immunisierungseinheiten,  die  auf  jeden  Fall  kamen,  größer  waren 
als  in  den  ersten  Jahren,  wo  die  geringe  Erfahrung  Vorsicht  gebot. 
Der  Unterschied  der  Zuführung  von  I£.  war  ein  recht  bedeutender. 
Vom  November  1894  bis  März  1896  inkl.  wurden  243  Patienten  mit 
270000  I.E.  gespritzt.  Pro  Kopf  wurden  mithin  1110  I.E.  verwendet 
bei  einer  Sterblichkeit  von  12,7  Proz.  Vom  April  1899  bis  März  1900 
inkl.  wurden  236  Patienten  409000  I.E.  injiziert.  Pro  Kopf  ergibt 
das  1733  I.E.  bei  einer  Sterblichkeit  von  16,1  Proz.  Wenn  wir  nun 
als  ein  Hauptkriterium  von  früher  die  Häufung  der  Erkrankungen  mit 
ins  Auge  fassen,  so  ist  der  Schluß  naheliegend,  daß  die  Epidemie  im 
Jahre  1899/1900  heftiger  als  vorher  gewesen  ist.  Und  trotzdem  ist 
uns  das  kaum  zum  Bewußtsein  gekommen;  denn  die  Jahresmortalitit 
hat  sich  im  Vergleich  zu  früher  nur  ganz  unwesentlich  geändert.  Idi 
verhehle  mir  nicht,  daß  Zweifler  das  G^enteil  herausdemonstrierea 
werden,  indem  sie  sagen,  daß  trotz  höherer  Serumdosen  im  Jahre 
1899/1900  mehr  gestorben  sind  als  von  November  1894  bis  April  1896. 
Denen  sei  aber  eine  viel  eklatantere  Beweisführung  aus  der  Geschichte 
der  Diphtherie  vor  Augen  geführt.  Im  Kaiser  Friedrichs-  und  Kaiserin 
Friedrich  -  Kinderkrankenhaus  zu  Berlin  reduzierte  sich  bei  Einführung 
des  Diphtherieserums  die  Sterblichkeit  von  ca.  40  Proz.  auf  15  Proz.; 
im  Monat  August  und  September  1894,  den  Monaten  mit  der  günstigsten 
Mortalität,  war  kein  Serum  zu  erhalten,  und  sofort  stieg  die  Sterblich- 


Erfahrungen  über  Serombehandlung  der  Diphtherie.  637 

keit  auf  die  gleiche  Höhe  wie  früher.  Ein  weiteres:  In  Bethanien 
wurde  das  Diphtherieserum  erst  1896  eingeführt:  die  Mortalität  blieb 
bis  dahin  gleich  hoch,  die  Sterblichkeit  der  Tracheotomierten  war  so 
hoch  wie  in  den  schlechtesten  Zeiten :  aber  auch  hier  trat  mit  der  Ein- 
führung des  BEHRiNOschen  Mittels  ein  völliger  Umschwung  zum 
Besseren  ein ;  die  Mortalität  reduzierte  sich  auf  die  an  anderen  An- 
stalten übliche,  die  Zahl  der  Luftröhrenschnitte  sank  beträchtlich.  Wenn 
wir  alles  das  kombinieren,  besonders  die  Koinzidenz  des  Umschwunges 
'^  an  verschiedenen  Anstalten  zu  verschiedenen  Zeiten  mit  dem  Beginn  der 

^  neuen  Therapie  berücksichtigen,  sollen  wir  dann  nicht  glauben,  daß  die 

Diphtherie  ihren  Typus  nur  unwesentlich  geändert  hat,  und  daß  der 
Charakter  der  Epidemie  während  unserer  Beobachtung  wahrscheinlich 
durch  die  frühzeitige  spezifische  Therapie  verschleiert  worden  istl 
i.  Aber  auch  unsere  Zahlenreihen  liefern  zur  Erklärung  dieser  strittigen 

•Ä  Momente  wichtige  Belege.    Ich  greife  zu  diesem  Zwecke  auf  die  An- 

fänge der  Serumtherapie  zurück.    Uns  wurden  damals  größere  Serum- 
i:  Quantitäten  zu^  experimentellen  Injektionen  an  Diphtheriekranken  zur 

i  Verfügung   gestellt.     Die   Zahl   der   Aufnahmen   betrug   im   Jahrgang 

>  1893/94   166,   die   der  Tracheotomierten    78.    56   Kinder   wurden   als 

^geeignet^  für  die  Serumtherapie  erachtet,  und  obwohl  in  ganz  Berlin 
damals  die  Mortalität  höher  als  40  Proz.  war,  starben  nur  50  Patienten, 
g  das  sind  30  Proz.    Die  Zahl  der  Tracheotomierten  betrug  etwas  unter 

f.  50  Proz.  wie  überall;  denn  nur  sehr  wenige  von  den  Fällen,  die  tracheo- 

p  tomiert  wurden,  wurden  injiziert;  aber  dennoch  machte  sich  ein  Unter- 

,  schied    in    der   Mortalität    recht    deutlich   bemerkbar.     Ganz   ähnliche 

^  Zahlenverhältnisse  ergeben  sich  für  den  Zeitraum  von  April  bis  No- 

f  vember  1894,  der  gleichfalls  unter  dem  Zeichen  der  bedingten  Serum- 

,  anwendung  stand.    Die  einschlägigen  Daten  lauten :  Auf  99  Patienten, 

von  denen   genau  ein  Drittel  injiziert  wurden,  kommen  29  Todesfälle; 
das  entspricht  wieder  fast  genau  einer  Mortalität  von  30  Proz. 
f  Nun  sagt  aber  Kassowitz,  die  ganze  Diphtheriestatistik  während 

der  Seruroperiode  sei  wegen  der  Verschiebung  der  Diagnostik  wertlos, 
wenn  man  nicht  berücksichtige,  wie  sich  die  absolute  Mortalität  bei  einem 
Vergleich  mit  früher  verhalte.  Ich  verfüge  nur  über  ein  Material, 
das  cum  grano  salis  beweiskräftig  ist.  Dieses  aber  spricht  sehr  zu 
Gunsten  einer  Verbesserung  der  absoluten  Mortalität,  wenn  man  gar 
noch  in  Betracht  zieht,  daß  nach  wie  vor  viele  Fälle  zum  Sterben 
ins  Spital  geschickt  werden. 

1803/94     Btarben  bei  bedingter      Serumthen^ie  50  Patienten   (166  Aufnahmen) 

(99  „         ) 

(  78  „         ) 

(165  „         ) 

(115  „         ) 

US  "         ) 

(208  „         ) 

(ii36  „         ) 

(65  „         ) 


1894/95| 

» 

1           >» 

„     unbedingter 

11 

t2    « 

1895/96 

tf                      it 

19 

1896/97 

J                      |t 

12 

1897/98 

>                       »> 

18 

1898/99 

f                      }} 

27 

1899/00 

t                     ti 

38 

1900/01 

j                     11 

10 

638  Max  Cohn, 

Es  ergibt  sich  demnach,  daß  die  absolute  Mortalität 
nach  allgemeiner  Einführung  der  Serumtherapie  niemals 
so  groß  gewesen  ist,  als  in  den  beiden  letzten  Jahren 
vorher,  und  daß  die  Jahresmortalität  während  unserer 
Beobachtungszeit  in  der  Serumperiode  im  fast  gleich- 
bleibenden Verhältnis  zur  Zahl  der  Aufnahmen  steht 

Ich  komme  zur  Betrachtung  der  Mißerfolge  unserer  Behandlung, 
zu  den  Erfahrungen,  die  wir  im  Laufe  der  Jahre  auf  dem  Sektionstische 
gewonnen  haben.  So  viele  Fortschritte  die  Medizin  der  pathologischen 
Anatomie  zu  verdanken  hat,  so  wenig  hat  diese  Wissenschaft  mit  der 
modernen  Forschung  Schritt  gehalten.  Das  gilt  wie  für  wenige  Krank- 
heiten für  die  Diphtherie.  Es  wäre  endlich  gegeben,  mit  Anschauungen 
zu  brechen,  die  der  andringenden  Zeit  nicht  mehr  stand  halten  können. 
Und  der  Vorwurf  einer  Reihe  von  Anatomen,  daß  sich  die  Serumthera- 
peuten infolge  der  negativen  Resultate  der  Diphtheriesektionen  aus 
Verlegenheit  neue  Normen  konstruieren  wollten,  ist  nichts  weniger  als 
berechtigt.  Schon  Henoch  schreibt  in  seinen  ^Vorlesungen  über  Kinder- 
krankheiten^ 1892,  also  vor  der  Serumepoche:  „Nachdem  Bretonneau 
unter  dem  Namen  „Diphtherie'^  ein  fast  erschöpfend  klares  Bild  dieser 
spezifischen  Infektionskrankheit  aufgestellt  hatte,  brachte  die  patho- 
logische Anatomie  dadurch  Verwirrung  hervor,  daß  sie  diesen  klinischen 
Begriff  in  einen  anatomischen  umsetzte  und  mit  dem  Namen  „diphthe- 
ritisch^  alle  Prozesse  bezeichnete,  welche  sich  durch  Einlagerung  fibri- 
nöser Exsudate  in  die  Schleimhäute  oder  auch  in  die  äußere  Haut  mit 
nachfolgender  Nekrose  charakterisieren.  So  kam  es,  daß  die  Aerzte, 
welche  bereitwillig  dieser  Lehre  folgten,  bei  den  verschiedensten  Krank- 
heiten, in  welchen  sich  die  obenerwähnten  Prozesse  vorfanden,  eine  Kom- 
plikation mit  „Diphtherie^  annahmen,  und  daß  diese  Verwirrung  auch 
auf  das  Publikum  übergriif.^  Man  wird  jetzt  aber  nicht  mehr  umhin 
können,  den  pathologisch-anatomischen  Begriff  „Diphtherie^  auf  Grund 
klinischer  Erfahrung  umzuformen,  d.  h.  die  Veränderungen  gesondert 
zu  studieren,  welche  die  klinisch-bakteriologischen  Diphtheriefälle  auf 
dem  Sektionstisch  geboten  haben.  Und  daß  nicht  der  negative  Befund 
der  diphtherischen  Schleimhautzerstörung  maßgebend  ist,  ob  ein  Indi- 
viduum Diphtherie  durchgemacht  hat,  das  haben  im  Grunde  vor  der 
Serumperiode  auch  schon  namhafte  Pathologen  zugegeben.  Orth  wie 
Ziegler  sagen  in  ihren  Lehrbüchern,  daß  die  Diphtherie  abheilen  kann, 
ohne  irgendwelche  anatomische  Veränderungen  zurückzulassen.  Und 
was  gibt  es  eigentlich  Einseitigeres,  als,  da  die  Veränderungen  der 
Schleimhaut  bei  diphtherischer  Infektion  den  Produkten  einer  Salz- 
säurevergiftung oder  einer  eiterigen  Cystitis  anatomisch-histologisch 
gleichen  können,  zu  glauben,  daß  sie  auf  derselben  Basis  entstanden  sind. 

Aber  selbst   bei  engerer  Betrachtung  zeigt  sich,  daß  der  diphthe- 
rische Lokalprozeß  auf  dem  Sektionstisch  ein  vielgestaltiger  sein  kann. 


Erfahrungen  über  Serambehandlung  der  Diphtherie.  639 

Schon  Bretonneau  hat  eindringlich  auf  die  Mannigfaltigkeit  des  ana- 
tomischen Befundes  hingewiesen.  Es  braucht  außer  einer  Rötung  der 
Rachenorgane  keine  tiefergreifende  LSsion  vorhanden  sein,  während  es 
andererseits  nicht  zu  den  Seltenheiten  gehört,  daß  noch  nach  Wochen, 
wenn  der  Tod  an  einer  Komplikation  erfolgt  ist,  Zerstörungen  aller  Art, 
oberflächliche  und  in  die  Tiefe  gehende,  gefunden  werden.  Die  Pathö*- 
logen  haben  nun  die  Erfahrung  machen  müssen,  daß  sich  die  ana- 
tomischen Ergebnisse  bei  den  Sektionen,  deren  klinische  Diagnose 
„Diphtherie''  lautete,  wesentlich  verändert  haben.  Es  gehört  nicht  mehr 
zu  den  Alltäglichkeiten,  eine  tiefgreifende  Schleimhautzerstörung,  durch 
echte  Diphtherie  hervorgerufen,  zu  sehen,  da  nur  wenige  Patienten  an 
der  akuten  Infektion  zu  Grunde  gehen.  Die  Fälle  aber,  die  in  den 
ersten  Tagen  nach  der  Aufnahme  starben,  boten  das  Bild,  wie  es  die 
Pathologen  von  früher  her  in  guter  Erinnerung  hatten.  Welcher  Schluß 
lag  da  näher,  als  anzunehmen,  daß  diese  letzteren  Patienten  durch  unsere 
spezifische  Therapie  nicht  beeinflußt  wurden,  die  ersteren  aber  gar  keine 
Diphtherie  gehabt  haben !  Die  wesentlichsten  Veränderungen  bei  diesen 
bestanden  in  mehr  weniger  hochgradigen  Krankheiten  der  parenchjnma- 
tosen  Organe.  Und  schon  fanden  sich  Forscher,  welche  die  Diphtherie« 
nieren  als  eine  Folge  der  giftigen  Serumtherapie  hinstellten.  Ich 
zweifle  an  sich  gar  nicht,  daß  man  jetzt  mehr  Spätnephritiden  zu  sehen 
bekommt  als  früher.  Liegt  nicht  aber  die  Erklärung  näher,  daß  dieses 
Faktum  in  Erscheinung  trat,  weil  ehedem  die  Kinder  starben,  bevor  es 
zu  hochgradigen  Veränderungen  an  den  Nieren  kam.  Vielleicht  findet 
sich  in  späteren  Jahrzehnten  sogar  ein  Statistiker,  der  ausrechnet,  daß 
zur  Zeit  viel  mehr  Menschen  an  chronischer  Nephritis  sterben  als  früher, 
und  der  diese  Erscheinung  der  ^giftigen  Serumtherapie^  in  die  Schuhe 
schiebt.  Auch  er  befände  sich  im  Irrtum;  denn  man  weiß  längst,  daß 
sporadische  Entzündungen  des  Nierenparenchyms  von  chronischen  Nephri- 
tiden  gefolgt  sein  können,  die  vielleicht  erst  nach  vielen  Jahren  zur 
chronischen  Schrumpfhiere  führen. 

Ich  habe  die  Sektionen,  die  vom  November  1894  bis  August  1900 
ausgeführt  wurden,  einer  Durchsicht  unterzogen  und  nach  bestimmten 
Gesichtspunkten  geordnet  Ich  verfüge  über  eine  Reihe  von  71  Proto- 
kollen. Ich  habe  es  versucht,  diese  71  Fälle,  in  Gruppen  gesondert, 
zu  betrachten.  Leitend  war  für  mich  der  Gedanke,  nicht  nur  zu 
scheiden  nach  den  objektiven  Sektionsergebnissen,  sondern  in  Erwägung 
zu  ziehen  den  Zeitraum,  der  verflossen  ist  zwischen  Aufnahme 
resp.  Beginn  der  spezifischen  Behandlung  und  Exitus,  das  Alter  der 
Patienten,  den  Krankheitstag,  an  dem  die  Individuen  starben,  alles 
Faktoren,  die  bei  einer  genügend  großen  Beobachtung  Aufschluß  bringen 
mußten,  zu  wieviel  Teilen  gerechterweise  von  einem  Versagen  der 
Therapie  die  Rede  sein  könne.  An  die  Spitze  glaubte  ich  die  Fälle 
stellen  zu  müssen,  die  zu  kurze  Zeit  im  Krankenhause  waren,  als  daß 


640 


Max  Oohn, 


die  Therapie  noch  hätte  zur  Geltung  kommen  können.  Mit  Rosenbach 
meine  ich,  daß  ^der  binnen  der  ersten  2X^4  Stunden  erfolgte  Tod 
weder  zu  Gunsten  noch  zu  Ungunsten  einer  klinischen  Behandlung  ver- 
wertet werden  kann^.  Gleichzeitig  werden  diese  Fälle  am  besten  Auf- 
schluß geben,  welche  Veränderungen  bei  der  unbeeinflußten  Diphtherie 
der  Serumepoche  beobachtet  werden.  Dieser  Reihe  schließe  ich  an  die 
Sektionsprotokolle  der  Kinder  zwischen  0  und  2  Jahren.  Hier  walten 
Verhältnisse  ob,  die  mit  denen  von  früher  nicht  gut  zu  vergleichen  sind. 
Früher  wurden  solch'  kleine  Wesen  fast  nie  trachetomiert;  sie  starben 
fast  ausnahmslos,  während  jetzt,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  28,6  Proz. 
(im  ersten  Lebensjahr),  resp.  59,8  Proz.  (im  zweiten  Lebensjahr)  ge- 
rettet werden.  Der  Tod  kann  hier  füglich  wegen  des  Vorwaltens  der 
Erscheinungen  der  unteren  Luftwege  nur  bedingt  der  Diphtherie  zuge- 
schrieben werden.  Die  dritte  Gruppe  bringt  zahlreiche  Fälle  von  Sepsis, 
von  denen  wir  schon  im  klinischen  Teil  sagen  konnten,  daß  von  einer 
großen  Heilwirkung  des  Serums  keine  Rede  gewesen  ist  Gruppe  IV 
umfaßt  Patienten,  die  sekundären  Veränderungen  der  Diphtherie  zum 
Opfer  gefallen  sind,  und  bei  denen  die  primäre  Erkrankung  schon  in 
den  Hintergrund  des  Obduktionsbefundes  getreten  war.  Ihnen  schließe 
ich  Fälle  an,  wo  es  sich  trotz  anscheinend  frühzeitiger  Seruminjektion 
um  einen  fortschreitenden  diphtherischen  Prozeß  handelte.  Zum  Schlüsse 
seien  dann  einige  Fälle  erwähnt,  die  an  offenbaren  Komplikationen  zu 
Grunde  gegangen  sind. 

Die  erste  Gruppe  von  Sektionen  umfaßt  21  FSlle ;  bei  13  Individuen 
war  während  der  Krankheit  die  Tracheotomie  ausgeführt  worden.  Inner- 
halb aller  Gruppen  habe  ich  die  Fälle  nach  dem  Krankheitstag  ge- 
ordnet. Da  der  Beginn  der  Erkrankung  nicht  immer  genau  eruierbar 
ist,  so  ist  selbstverständlich  nur  mit  einem  gewissen  Grade  von  Widir- 
scheinlichkeit  festzustellen,  am  wievielten  Tage  das  betreifende  Individuum 
gestorben  ist.  Es  ergibt  sich  demnach,  daß  von  den  binnen  48  Stunden 
nach  der  Aufnahme  Gestorbenen 

2  Patienten  am  3.  Tage  nach  Ausbruch  der  ersten  Krankheitssymptome 


3        „ 

„    4. 

n 

»» 

n              ii         » 

7         „ 

,.   5. 

» 

»              »          }> 

2        , 

.,    6. 

}f 

»»              »          «> 

1  Patieat 

,.    7. 

M 

»y               n          ii 

1        « 

..   8. 

t> 

)f               n          fi 

2  Patieoten 

„    9. 

M 

1)               11          1 

2        „ 

„10. 

ti 

t) 

11               11          n 

1  Patient 

„  ? 

if 

>» 

11               11          11 

starben.  Es  läßt  sich  demnach  der  Schluß  ziehen,  daß  von 
den  tödlich  verlaufenden  Diphtherien,  bei  denen  von 
einör  Beeinflussung  durch  ein  spezifisches  Heilmittel 
keine  Rede  sein  konnte,  über  die  Hälfte  am  4.-6.  Tage, 
vom  Beginn  der  Erkrankung  an  gerechnet,  zu  Grunde 
gehen.    In  20  von  21  Sektionen  wurden  im  Pharynx  resp.  den  oberen 


ErfahruDgen  über  Serombehandlung  der  Diphtherie.  64t 

Luftwegen  membranartige,  fibrinöse,  der  Diphtherie  eigentfimliche  Auf- 
lagerungen gefunden.  In  dem  einen  Ausnahmefalle  hafteten  an  den 
Tonsillen  „kleine,  trübe  Punkte,  die  sich  nicht  abwischen  ließen ;  Um- 
gebung stark  gerötet".  Außer  einem  trüben  Herzen  und  schlaffer 
Pneumonie  wurde  nichts  gefunden.  Das  3-jährige  Kind  wurde  am 
8.  Krankheitstage  rezipiert  und  starb  am  9.  Krankheitstage,  nachdem 
es  bei  der  Aufnahme  1500  I.E.  injiziert  bekommen  hatte.  Es  dürfte 
sich  hier  um  einen  Fall  von  Sepsis  handeln,  wo  neben  einem  geringen 
Lokalbefund  die  Toxinwirkung  schon  bei  der  Aufnahme  im  Vordergrund 
der  Erscheinungen  stand.  In  12  Protokollen  ist  es  besonders  vermerkt, 
daß  die  Auflagerungen  auf  der  Unterlage  so  fest  hafteten,  daß  sie  sich 
nicht  abheben  ließen.  Meistenteils  handelte  es  sich  um  schwere  ulceröse 
Prozesse  der  Schleimhaut.  Von  13  Patienten,  bei  denen  der  Luft- 
röhrenschnitt ausgeführt  worden  war,  litten  11,  von  8  Nichttracheo- 
tomierten  litt  einer  an  descendierendem  Krup.  Die  lokalen  Erschei- 
nungen sind  in  Bezug  auf  den  Krankheitstag,  an  dem  die  Individuen 
zu  Grunde  gingen,  recht  verschiedene :  wir  sehen  daraus,  daß  im  großen 
ganzen  der  schlimme  Ausgang  abhängig  ist  nicht  sowohl  von  dem  Um- 
fang der  fortschreitenden  Rachenaffektion,  als  besonders  von  der  Virulenz 
des  Giftstoffes,  resp.  seiner  Toxinwirkung.  Dieselbe  Wahrnehmung 
habe  ich  schon  auf  Grund  klinischer  Studien  machen  müssen,  als  ich 
feststellte,  an  welchem  Krankheitstag  durchschnittlich  die  Tracheotomie 
notwendig  wurde,  und  dabei  eruierte,  daß  dieser  Termin  bei  den  Ge- 
heilten später  eintrat  als  bei  den  Gestorbenen,  obwohl  bei  allen  die 
spezifische  Behandlung  sofort  bei  der  Aufiiahme,  d.  h.  zur  Zeit  der 
Notwendigkeit  der  Tracheotomie,  eingesetzt  hatte.  Auf  derselben,  an- 
scheinend paradoxen,  Tatsache  beruht  es  auch,  daß,  wie  wir  oben  ge- 
sehen haben,  und  wie  es  auch  von  fast  allen  Autoren  berichtet  wird, 
die  fleiluugsprozente  bei  den  Tracheotomiefällen  für  die  einzelnen 
Krankheitstage  so  äußerst  schwankende  sind. 

Wenn  ich  die  Kinder  unter  und  von  1  Jahre  in  eine  besondere 
Klasse  gestellt  habe,  soweit  sie  nicht  schon  zur  I.  Gruppe  gerechnet 
worden,  so  ist  das  in  der  Erwägung  geschehen,  daß  es  unbillig  wäre, 
bei  solch  kleinen  Wesen,  bei  denen  sdlein  die  Tracheotomie  ein  bedeut- 
samer und  schwerer  Eingriff  ist,  kurzweg  von  einem  Versagen  der 
spezifischen  Therapie  zu  reden.  Ein  Kind,  das  noch  hilflos  in  seinen 
Bewegungen  ist,  befindet  sich  unbedingt  schon  in  Gefahr,  wenn  es 
längere  Zeit  in  ruhiger  Rückenlage  zubringen  muß.  Wieviel  Säuglinge 
und  wieviel  Kinder,  die  der  Säuglingszeit  eben  erst  entwachsen  sind, 
sehen  wir  doch  jahraus  jahrein  auf  der  Kinderabteilung  an  Broncho- 
pneumonien, Katarrhen  der  Verdauungswege  und  anderen  interkurrenten 
Erkrankungen  zu  Grunde  gehen,  ohne  daß  ihr  Grnndleiden,  um  dessent- 
willen  sie  zu  uns  kamen,  mit  der  Krankheit,  die  zum  Tode  führte,  in 
näherer  Beziehung  steht!    Diese  Klasse  umfaßt  16  Sektionsfälle. 


11 

11               1 

»* 

1*               1 

>f 

11             t 

11 

11               1 

1t 

11             1i 

11 

11             ti 

11 

11            11 

11 

11           II 

642  Max  Cohn, 

4  Patienten  starlien  am  6.  Tage  nach  B^nn  der  Erkrankung, 
1  Patient  starb  „  10. 

3  Patienten  starben    ,,  12. 

^  n  n  11  13. 

1  Patient  starb  „  14. 

2  Patienten  starben  ,,  19. 
1  Patient  starb  „  26. 
1  I»  11  11  ^•« 
1        I»          11  11  *^'' 

Die  Uebersicht  über  die  kleine  Tabelle  zeigt,  daß  die  fiberwiegende 
Mehrzahl  der  Kinder  am  Ende  der  ersten  Woche  und  in  der  zweiten 
Woche  gestorben  sind,  und  das  ist  für  die  kleinen  Patienten  gerade 
die  gefährliche  Zeit  der  Erkrankungen  der  unteren  Luftwege,  sei  es 
daß  die  Fiebersteigerung  mit  der  folgenden  Pneumonie  im  Anschluß  an 
das  Herausnehmen  der  Kanüle  eintritt,  sei  es  daß  zu  dieser  Zeit  die 
Kanüle  noch  in  der  Trachea  gelegen  hat.  In  ersterem  Falle  muß  man 
wohl  annehmen,  daß  die  reichlichen  Sekrete,  nur  ungenügend  heraus- 
befördert, in  die  Bronchien  herunterfließen,  und  durch  die  Stagnation 
bei  ruhiger  Rückenlage  der  tödliche  Prozeß  angefacht  wird.  Darauf 
deutet  das  häufige  Befallensein  der  hinteren  Lungenpartien,  wie  wir  sie 
oft  bei  den  Obduktionen  zu  Gesicht  bekommen  haben.  Andererseits 
ist  das  lange  Tragen  der  Kanüle  bei  kleinen  Kindern  von  dem  gleichen 
Uebel  gefolgt.  Hier  spielen  die  anatomischen  Verhältnisse  gewiß  eine 
Rolle;  der  Weg  vom  Kanülenlumen  bis  zu  den  Bronchien  ist  ein  sehr 
kleiner.  Ist  es  da  nicht  wahrscheinlich,  daß  zahlreiche  Keime  der 
Krankenstube  durch  häufiges  Husten  gewissermaßen  angesaugt  werden 
und  bei  der  schon  vorhandenen  Reizung  der  unteren  Luftwege  auf  einen 
guten  Boden  fallen!  Viele  der  Spätpneumonien  werden  wir  auf  diese 
Verhältnisse  zurückführen  müssen,  wo  von  einem  descendierenden 
Krup  füglich  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann.  Nun  könnte  ja  aber 
jemand  einwenden:  in  Gruppe  I  sind  auch  schon  Kinder  von  0  bis 
2  Jahren  untergebracht,  die  frühzeitig  gestorben  sind.  Aendert  das 
nichts  an  dem  aufgestellten  Satze,  daß  der  größte  Teil  der  Einjährigen 
an  Pneumonien  am  Ende  der  ersten  Woche  und  in  der  zweiten  Woche 
zu  Grunde  gehen  ?  Nein !  Selbst  wenn  ich  diese  Kinder  der  IL  Gruppe 
zurechne,  bleibt  dasselbe  Bild  erhalten:  denn  (aus  Gruppe  I  die  ein- 
jährigen und  jüngeren  Kinder  übertragen)  es  starben  zwei  am  4.,  zwei 
am  5.,  eins  am  6.  und  eins  am  10.  Krankheitstage. 

Von  16  Kindern  der  IL  Gruppe  wurden  12  tracheotomiert.  Wie  ver- 
halten sich  bei  allen  die  lokalen  Erscheinungen  zu  der  Lungenaffektion? 
Bei  15  Fällen  wurden  Pneumonien  verschiedener  Art  gefunden;  nur 
ein  Kind,  bei  dem  die  Hauptdiagnose  „Atrophia  universalis"  lautet,  litt 
lediglich  an  Atelektase  der  Lunge.  Dreimal  finden  sich  die  Lungen* 
afifektion  und  die  lokale  Halserkrankung  als  Hauptkrankheit  gemeinsam 
genannt,  8mal  stand  bei  der  Sektion  die  Lungenerkrankung  im  Vorder^ 


Erfahrungen  über  Seriimbehandlung  der  Diphtherie.  643 

gruod  der  Beobachtung,  Imal  war,  wie  bereits  erwähnt,  Atrophia 
universalis,  Imal  neben  der  Pneumonie  multiple  eiterige  Osteomyelitis 
der  Rippen  als  Hauptkrankheit  angegeben.  Also  nur  in  3  Fällen  waren 
Kinder  zwischen  0  und  2  Jahren,  die  nicht  in  extremis  eingeliefert 
worden  waren,  an  den  Folgen  der  lokalen  Affektion  gestorben.  Aber 
auch  der  lokale  Befund  an  sich  war  bei  fast  allen  diesen  Fällen  ein 
anderer  als  bei  der  vorigen  Gruppe.  Neben  oberflächlichen  Ulcerationen 
mit  schmierigen  stinkenden  Auflagerungen  finden  wir  oft  die  ver- 
wunderte Bemerkung  des  Anatomen:  „Keine  Spur  von  Diphtherie!'' 
Das  Erstaunen  wird  aber  geklärt,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß 
bei  den  meisten  Fällen  in  Uebereinstimmung  mit  der  Krankheitsdauer 
naturgemäß  eine  Abheilung  des  lokalen  Befundes  schon  stattgehabt 
haben  mußte.  Und  daß  die  Patienten  nicht  etwa  wegen  einer  nicht 
spezifischen  Pneumonie  tracheotomiert  worden  sind,  dafür  bürgt  uns 
unsere  bakteriologische  Diagnose  bei  der  Aufnahme,  von  deren  posi- 
tivem Ausfall  ja  die  Einreihung  in  diese  Beobachtungen  abhing. 

Die  Gruppe  III  umfaßt  15  Sektionen;  sie  schließt  ein  die  Fälle 
von  Diphtherie,  welche  klinisch  das  Bild  der  Sepsis  dargeboten  haben. 
Der  Tod  erfolgte  zumeist  am  Ende  der  ersten  und  in  der  zweiten 
Woche;  nach  dieser  Zeit  Gestorbene  gehören  zu  den  Seltenheiten.  Elf 
Patienten  boten  schon  bei  der  Aufnahme  Zeichen  der  Allgemein- 
infektion, die  sich  kundgaben  in  profusen  Schleimhautblutungen,  Pe- 
techien, septischer  Purpura,  schwerer  Nephritis  und  hochgradiger  Pro- 
trastion.  Der  Sektionsbefund  war  ein  sehr  variabler;  doch  sind  alle 
diese  Fälle  dadurch  ausgezeichnet,  daß  der  Lokalbefund  zur  Zeit  der 
Obduktion  noch  bestand.  Von  häutchenförmigen  Auflagerungen  bis 
zur  schwersten  gangränösen  Zerstörung  wurden  alle  möglichen  Ueber- 
gänge  gefunden.  An  den  Organen  ergaben  sich  sehr  verschiedene 
Veränderungen;  neben  der  toxischen  Myocarditis,  die  sich  dokumen- 
tierte durch  Schlaflfheit,  Brüchigkeit  und  parenchymatöse  Trübung  des 
Herzmuskels,  fand  sich  eine  geringe  Dilatation  der  Ventrikel.  Bei  an- 
deren Fällen  stand  eine  schwere  Nephritis  im  Vordergrunde  des  Ob- 
duktionsergebnisses. Die  Milz,  die  bei  der  akuten  Sepsis  der  Er- 
wachsenen als  der  bekannte  frische,  weiche  Milztumer  imponiert,  war 
wie  bei  allen  Infektionskrankheiten  der  Kinder  äußerlich  wenig  ver- 
ändert. Wenn  wir  in  Betracht  ziehen,  daß  im  allgemeinen  bei  diesen 
Patienten  hohe  Serumdosen  zur  Anwendung  kamen,  ja  bisweilen  früh- 
zeitige Injektionen  von  4000  I.E.  gemacht  wurden,  so  stehen  wir  vor 
der  unabweislichen  Tatsache,  daß  in  allen  Fällen  vorgeschrittener 
toxischer  Allgemeinerscheinungen  die  Serumtherapie  im  Stich  gelassen 
hat.  Haben  wir  auch  bisweilen  septische  Fälle  gesunden  sehen,  so  ist 
das  vor  der  Serumepoche  auch  schon  vorgekommen,  und  es  wäre  ein 
Zeichen  allzu  optimistischer  Denkweise,   auf  Grund  seltener  Ereignisse 


644  Max  Gohn, 

von  Erfolgen  zu  sprechen,  denen  gegenüber  eine  Reihe  von  Mißerfolgen 
steht,  die  durch  nichts  anderes  als  ein  Versagen  der  spezifischen  Therapie 
erklärt  werden  können. 

Die  nächste  Gruppe  bietet  zum  Unterschiede  von  der  vorigen 
einen  negativen  Halsbefand.  Es  handelt  sich  hier  um  eine  Art  von 
langsamer  Giftwirkung,  die  gerade  der  Diphtherie  eigentümlich  ist,  und 
die  sich  dokumentiert  entweder  durch  ein  langsames  Verglimmen  der 
Lebensenergie  des  gesamten  Organismus  oder  durch  das  Versagen 
eines  lebenswichtigen  Organs,  das  sekundär  zu  Störungen  im  Lebens- 
mechanismus führt.  Zwei  Patienten  starben  am  IL,  je  einer  am  13., 
14.,  15.,  18.,  20.,  21.,  39.,  48.  Tage.  Der  lokale  diphtherische  ProzeB 
im  Rachen  war  bereits  abgeheilt  und  zwar,  ohne  wesentliche  Ueber- 
reste  aufier  Rötung  und  Schwellung  zurückzulassen.  Die  Serumdosen, 
die  nur  einmal  unter  2000  I.E.  herunterreichten,  zeigen,  daß  die  Mehr- 
zahl der  Fälle  schon  bei  der  Aufnahme  ein  schweres  Krankheitsbild 
boten.  Der  Verlauf  war  zunächst  ein  ganz  befriedigender,  bis  sich 
ziemlich  plötzlich  Stauungen  im  großen  und  kleinen  Kreislauf  ein- 
stellten und  zum  Ende  führten.  Auch  hier  wurden  starke  Nieren-  und 
Leberschwellungen,  bisweilen  exzessive  Dilatation  der  Ventrikel  des 
Herzens  beobachtet,  oder  der  Herzmuskel  selbst  war  der  Ausgangs- 
punkt der  Erscheinungen,  und  schwere  Stauungen  bildeten  die  Folge 
dieser  toxisch-muskulären  Erkrankung.  Zum  Teil  auch  war  der  Ob- 
duktionsbefund ein  recht  dürftiger:  außer  einer  Trübung  der  Niere 
oder  einer  beginnenden  Pneumonie  fand  sich  so  gut  wie  gar  nichts. 
Diese  Fälle  bilden  einen  Uebergang  zu  einer  Beobachtung,  deren 
Klärung  auf  dem  Sektionstisch  völlig  im  Stich  ließ.  Der  2-jährige 
Knabe  wurde  am  4.  Krankheitstag  aufgenommen,  wurde  tracheotomiert, 
bekam  eine  Serumdosis  von  2000  I.E.  und  starb  am  31.  Tage  ganz 
plötzlich  aus  dem  besten  Wohlsein  heraus.  Der  Sektionsbefund  war, 
ich  möchte  sagen,  ein  absolut  negativer.  Es  ist  wohl  eine  Verlegen- 
heitsdiagnose, wenn  der  Pathologe  die  Verdickung  der  Tonsillen  und 
die  Follikelschwellung  im  Halse  als  charakteristisch  voranstellte.  In 
der  Tat  müssen  wir  hier  eine  toxische  Degeneration  der  Herzganglien, 
über  deren  krankhafte  Veränderungen  zur  Zeit  noch  so  wenig  bekannt  ist 
als  Todesursache  annehmen. 

Besonders  rubriziert  habe  ich  Fälle,  die  relativ  frühzeitig  in  Be- 
handlung traten  und,  unserer  Prognose  entgegen,  einen  tödlichen  Ver- 
lauf nahmen.  Drei  Kinder  kamen  am  2.,  die  Erwachsene  kam  am 
4.  Tag  in  Behandlung:  es  handelte  sich  bei  diesen  Patienten  um 
descendierende  Diphtherie,  welche  die  Tracheotomie  notwendig  machte. 
Trotz  der  sofortigen  Seruminjektion  —  einmal  wurden  1000  I.E., 
einmal  läOO  I.E.,  zweimal  2000  I.E.  eingespritzt  —  kam  das  Leiden 
nicht  zum  Stillstand;  es  kam  zur  Kruppneumonie,  die  am  10.,  11., 
13.,   18.  Tage  zum  Tode  führte.    Ich  habe  diese  Fälle  deshalb  in  eine 


Erfahrungen  über  Serumbehandlung  der  Diphtherie.  645 

besondere  Gruppe  gestellt,  da  der  Mißerfolg  schwer  zu  deuten  ist, 
Einesteils  konnte  es  sich  darum  handeln,  daß  die  Schwere  des  Krank- 
heitsbildes bei  der  Aufnahme  falsch  gedeutet  und  zu  wenig  Serum  ein- 
spritzt wurde.  Das  würde  ja  auf  jeden  Fall  für  die  Erwachsene  zu- 
treffen, da  man  hier  verhältnismäßig  ungemein  viel  kleinere  Dosen  zur 
Anwendung  bringt  als  bei  Kindern.  Oder  aber  es  waren  Fälle,  bei 
denen  der  im  Vordergrund  der  Erscheinungen  stehende  lokale  Krank- 
heitsbefund die  schon  erfolgte  Allgemeinvergiftung  verschleierte.  Gleich- 
viel, es  liegen  hier  Sektionsergebnisse  vor,  die,  wenn  wir  von  Hypo- 
thesen absehen,  darauf  hindeuten,  daß  außer  den  Sepsisfällen  noch 
solche  übrig  bleiben,  bei  denen  die  Serumtherapie  im  Stiche  läßt. 

Schließlich  sei  einiger  Sektionsbefunde  gedacht,  wo  neben  der 
Diphtherie  eine  schwere  Krankheit  bestand,  die  in  Gemeinschaft,  mit 
der  ersteren  oder  für  sich  allein  den  unglücklichen  Ausgang  verschuldete. 
Fall  68  wurde  durch  eine  Scarlatina  kompliziert,  die  5  Tage  nach 
der  Aufnahme  zum  Ausbruch  kam.  Es  handelte  sich  hier  nicht  um 
einen  Fall  sogenannter  Scharlachdiphtherie,  die  ja  bakteriologisch  gar 
nicht  der  Diphtherie  zugerechnet  werden  darf,  sondern,  nachdem  im 
Anfang  eine  wahre  bakteriologisch-klinische  Diphtherie  bestanden  hatte, 
gesellte  sich  das  verderbenbringende  Scharlach  erst  später  hinzu,  das 
durch  eine  erneute  nicht  spezifische  Angina  eingeleitet  wurde.  Ferner 
ist  da  ein  Fall  (69)  zu  nennen,  der,  während  die  Diphtherie  im  Abheilen 
begriffen  war,  durch  ein  Kopferysipel  verschlimmert  wurde.  Es  handelte 
sich  um  einen  mittelschweren,  auf  den  Rachen  lokalisierten  Fall,  der 
einen  glatten  Verlauf  nahm,  bis  am  10.  Tage  die  Gesichtsrose 
dem  Krankheitsbild  eine  üble  Wendung  gab.  Auch  Fall  70  kann  nicht 
bedingungslos  als  Diphtherietodesfall  gerechnet  werden,  da  der  am 
2.  Tage  in  Spitalbehandlung  getretene  Knabe  nach  anfänglich  glattem 
Verlaufe  eine  Halsphlegmone  bekam,  die  sicher  bei  ihrem  infiltrieren- 
den, septischen  Charakter  die  Hauptschuld  an  dem  letalen  Ende  trug. 
Endlich  wurde  der  2-jährige  Knabe,  No.  71,  nicht  durch  seine  Diph- 
therie hingerafft,  sondern  durch  eine  Lungengangrän,  die  wohl  mehr 
mit  den  vor  seiner  Verlegung  von  der  Masemstation  überstandenen 
Morbilli  zusammenhing  als  mit  der  leichten  diphtherischen  Angina,  die 
ihn  zu  uns  geführt  hatte.  Streng  genommen,  gehörten  auch  manche 
vorher  behandelte  Fällen  in  diese  Abteilung,  so  besonders  die  Fälle 
von  ausgebreitetem  Emphysema  cutaneum  corporis ;  denn  diese  Patienten 
sind  nicht  an  Diphtherie,  sondern  an  dem  allgemeinen  Hautemphysem 
zu  Grunde  gegangen,  das  auch  auf  das  mediastinale  Gewebe  über- 
gegriffen hatte  und  so  ein  bedeutendes  Herz-  und  Atmungshindernis 
abgab.  Ich  habe  diese  und  ähnliche  Fälle  darum  schon  oben  erwähnt, 
weil  sie  gleich  nach  der  Aufnahme  ad  exitum  gekommen  waren  und 
schon  deswegen  nicht  zu  Ungunsten  der  spezifischen  Therapie  gedeutet 
werden  konnten. 

Mttteil.  a.  d.  Grenzgebieten  d.  Medtxin  a.  Chirargie.    Xm.  Bd.  42 


€46  Max  Cohn, 

Ich  habe  dem   anatomischen  Teile  meiner  Arbeit  einen  größeren 
Baum  eingeräumt,  als  es  vielleicht  manchem  nützlich  scheint  Es  haben 
mich   dabei  verschiedene  Gesichtspunkte   geleitet    Man   ist  allgemein 
bestrebt  gewesen,  ffir  die  Beweiskraft  der  Diphtherieseramtherapie  nur 
eine   Statistik  großer   Zahlenreihen   gelten   zu   lassen.     Und   das   mit 
vollem   Becht!    Ich  glaube  dieser  Forderung  nachgekommen  zu  sein. 
Bei  einer  solch  großen  Statistik  muß  natürlicherweise  das  Gewicht  des 
einzelnen  Falles  in  den  Hintergrund  treten;  nun  hat  sich  aber  mit  der 
Zeit  der  Glaube   eingeschlichen,   als  ob  das  pathologisch-anatomische 
Bild  der  Diphtherie  von  jetzt  berechtigte  Zweifel  an  der  Wirksamkeit 
des  Diphtherieserums  aufkommen  lasse.    Die  Pathologen,  die  von  An- 
fang an  der  neuen  Therapie  skeptisch  gegenüberstanden,  haben  zum 
Teil  dieselbe  Meinung  vertreten,  obwohl  sie  wohl  nicht  die  zahlreichen 
Momente  in   Betracht   zogen,   die   einen   Mißerfolg   erklären   konnten. 
Auch  schien  es  mir  lehrreich  zu  sein,  einmal  eine  größere  Beihe  von 
Sektionen  zusammenzustellen  und  nach  Gesichtspunkten  zu  ordnen,  die 
den  Statistiker  vom  klinisch-therapeutischen  Standpunkte  aus  besonders 
interessieren  mußten.    Und  was  ergibt  sich  bei  näherem  Zusehen  aus 
dieser   Uebersicht?    21    Patienten,    fast   ein    Drittel,    sind   gestorben, 
bevor  von  einer  Heilwirkung  noch  die  Bede  sein  konnte,   wenn   ich 
in   der  Begründung  hierzu  einem   so  kritischen  Beurteiler  wie  Bosbn- 
BACH   folgen    darf,    der    in    seiner   Abhandlung   über   „den   Opportu- 
nismus in  der  medizinischen  Statistik^   sagt:   „Man  sollte  gerade  als 
Krankenhausarzt  alle  diejenigen,  die  innerhalb  24—48  Stunden  sterben, 
ohne  daß  ein   therapeutischer  Eingriff  im   eben  definierten  Sinne  mit 
einiger  Aussicht  auf  Erfolg  möglich  erschien,  nicht  für  die  Statistik 
der  Behandlung  verwerten.^    Andererseits  geben  gerade  diese  Beob- 
achtungen  auf  dem  Sektionstische  einen  wertvollen  Fingerzeig  ab,   wie 
die  nicht  behandelte  Diphtherie  im  Vergleich  zu  der  behandelten  aus- 
sieht und  wie  vielgestaltig  pathologisch-anatomisch  die  Diphtherie  der 
Serumepoche  verlaufen  ist    Wir   sehen   da  vor  allem,   daß   der  ana- 
tomische Befund  gar  oft  keinen  Aufschluß  gibt,  weshalb  ein  bestimmter 
Fall  bösartig  geendet  hat.    Es  müssen  dem  ungünstigen  Ausgang  Ver- 
änderungen in  den  Zellen  vorausgegangen  sein,  deren  Erkenntnis  uns 
unser  menschliches  Auge   weder   an  der  Leiche  noch   am   Mikroskop 
gestattet.    Wenn  auch  bei  Patienten,  die  frühzeitig  ins  Krankenhaus 
gekommen  waren  und  nur  ganz  kurze  Zeit  bei  uns  in  Beobachtung 
standen,  so  wenig  schwere  Veränderungen  an  den  zunächst  erkrankten 
Teilen  (den  Halsorganen)  zu  finden  waren,  müssen  wir  da  nicht  zu  der 
Annahme    gelangen,    daß   schwere   Giftstoffe   in    den   Körper   gelangt 
waren   und  zu  einer  Allgemeinintoxikation  geführt  hatten,  bevor  noch 
die  durch  Injektion  zugeführten  Gegenstoffe  zur  Wirksamkeit  gelangen 
konnten.  Es  liegen  hier  ganz  ähnliche  Prozesse  vor  wie  bei  den  glück- 
licherweise seltenen  Fällen  von  Operationsperitonitiden,  wo  wenige  Stunden 


Erf'ahrmigen  über  Serumbehandlmig  der  Diphtherie.  647 

nach  der  Infektion,  ohne  daß  sich  Eiter  gebildet  hatte,  der  Tod  eintritt. 
Andererseits  ist  aber  auch  nicht  anzunehmen,  daß,  wenn  die  Reaktions- 
kraft des  Körpers  bereits  erlahmt  ist,  selbst  noch  ein  spezifisches 
Mittel  imstande  sein  sollte,  Hilfe  zu  bringen.  Jeder  Mensch  würde  es 
für  lächerlich  halten,  bei  einem  Patienten  von  der  Salicylsäure  noch 
eine  spezifische  Wirkung  gegen  den  Gelenkrheumatismus  zu  erwarten, 
wenn  derselbe  zur  Allgemeininfektion  geführt  hatte.  Daher  scheint  es 
mir  selbstverständlich,  wenn  die  Fälle  von  Sepsis,  die  zum  großen  Teil 
schon  als  solche  in  das  Krankenhans  kamen,  nicht  mehr  durch  das 
Diphtherieserum  geheilt  werden  konnten.  Eine  strittige  Frage  ist  es 
mir  dabei  immer  noch,  ob  die  von  den  Bakteriologen  ins  Feld  geführte 
Mischinfektion  eine  so  große  Rolle  spielt;  denn  erstens  konnte  ich  bei 
einer  großen  Anzahl  solcher  Fälle  Diphtheriebacillen  in  Reinkultur 
züchten  und  zweitens  ist  es  sehr  wohl  denkbar,  daß  das  nekrotisch- 
gangränöse,  allen  Schmarotzern  durch  die  Mundhöhle  frei  zugängliche 
Gewebe  allen  möglichen  Kokken  eine  gute  Ansiedelungsstätte  gewährt, 
ohne  daß  diese  für  den  bösen  Ausgang  irgend  ein  integrierendes 
Moment  abgeben.  Auch  ist  es  immerhin  seltsam,  daß  sich  bei  so  vielen 
Fällen  von  protrahiertem  Charakter  nicht  metastatische  Erscheinungen 
ausbilden,  wie  sie  gerade  für  Infektion  mit  den  verschiedenen  Species 
von  Kokken  so  oft  zur  Beobachtung  gelangen.  Denken  wir  nur  an  das 
häufige  Befallensein  der  Unterkieferlymphdrüsen,  deren  sekundäre  Ver- 
eiterung gerade  bei  der  Diphtherie  zu  den  Seltenheiten  gehört.  Ich 
glaube  vielmehr,  daß  von  der  Wirkung  des  Heilserums  keine  Rede  mehr 
sein  kann,  wenn  der  Gesamtorganismus  so  daniederliegt,  daß  nicht 
mehr  die  örtliche  Erkrankung,  sondern  das  allgemeine  Krankheitsbild 
im  Vordergrunde  der  Erscheinungen  steht. 

Wie  durch  die  Vergiftung  mit  Bakterientoxinen  das  allgemeine 
Krankheitsbild  bei  der  diphtherischen  Sepsis  beherrscht  wird,  so  ist  das 
in  gleicher  Weise  bei  den  kleinen  Kindern  durch  die  Bronchopneumonie 
der  Fall.  Gegen  früher  lassen  sich  hier  schwer  Vergleiche  ziehen,  da 
die  kleinen  Wesen  zumeist  ohne  Luftröhrenschnitt  starben.  Es  ist  da- 
her nicht  nur  der  deszendierende  Krup,  die  diphtherische  Infektion 
allein,  welcher  diese  Patienten  zum  Opfer  fallen.  Die  Bronchien  sind 
mit  Fibrin  verstopft;  es  entsteht  ein  bronchopneumonischer  Herd  neben 
dem  anderen,  und  diese  tückische  Kinderkrankheit  ist  es  dann,  die  das 
allgemeine  Bild  beherrscht  und  das  tödliche  Ende  herbeiführt.  Es  ist 
von  Autoren  die  Meinung  vertreten  worden,  daß  die  Diphtherie  von 
heute  eine  viel  leichtere  geworden  sei  als  die  von  ehedem;  denn  es 
fehlten  die  früher  so  charakteristischen  „Krupbäume".  Wenn  wir  uns 
aber  unsere  Sektionsbefunde  ansehen,  so  kommen  wir  zu  einer  ganz 
anderen  Erklärung.  Früher  starb  das  Gros  der  Patienten  in  der 
ersten  Woche.  (Rose  erzählt  ja  selbst:  Wenn  ein  Kind  die  erste 
Woche  übersteht,  so  hat  es  gewöhnlich  die  Diphtherie  überstanden.) 

42* 


648  Max  Cohn, 

Kein  Wunder,  daß  bei  den  Spättodesfällen,  die  jetzt  die  Mehrzahl 
ausmachen,  die  Krupbäume  fehlen:  sie  sind  durch  das  fibrinlösende 
Ferment  längst  wieder  aufgelöst  worden. 

Trotz  alledem  bleiben  noch  Fälle  übrig,  bei  denen  sich  nichts 
anderes  sagen  läßt,  als  daß  die  spezifische  Therapie  versagt  hat.  Aber 
diese  sind  nur  die  Ausnahmen,  und  ich  kann  nicht  umhin,  die  Ansicht 
auszusprechen,  daß  die  Betrachtungen  der  Mißerfolge  unserer  Therapie 
weit  mehr  zu  Gunsten  als  zu  Ungunsten  der  BEHRiNGschen  Diphtherie- 
serumbehandlung sprechen.  Selbst  wenn  man  sehr  streng  ins  Gericht 
geht,  wird  man  nur  in  sehr  wenigen  Fällen  von  einer  beweiskräftigen 
Erfolglosigkeit  des  Spritzens  reden  können.  Unwirksam  zeigte  es  sich 
sicher  bei  Fällen,  die  kurz  vor  dem  Tode  ins  Krankenhaus  kamen,  und 
bei  solchen,  wo  eine  Allgemeinvergiftung  bereits  bei  der  Aufnahme  zu 
konstatieren  war.  Und  da  konnte  man  billigerweise  auch  keine  anderen 
Resultate  verlangen.  Das  steht  jedenfalls  fest,  daß  die  Patho- 
logen nichts  Stichhaltiges  gegen  die  Serumtherapie  vor- 
zubringen vermögen,  und  zweitens,  daß  der  lokale  Be- 
fund an  der  Leiche  nicht  imstande  ist,  die  Bösartigkeit 
der  Erkrankung  zu  entscheiden. 

Ich  habe  in  dem  statistischen  Teile  dieser  Arbeit  ein  umfangreiches 
Material  der  Beurteilung  unterbreitet.  Bisher  habe  ich,  wie  ich  glaube, 
in  objektiver  Beleuchtung  die  Verhältnisse  geschildert,  wie  sie  sich  dar- 
boten. Zum  Schlüsse  sei  es  mir  gestattet,  noch  einiges  beizubringen, 
das  mir  persönlich  geeignet  erscheint,  die  Klärung  der  Frage  von  der 
Wirksamkeit  oder  Unwirksamkeit  des  BEHRiNo'schen  Diphtherieheil- 
serums näher  zu  kommen.  Ich  habe  früher  schon  beiläufig  erwähnt, 
eine  wie  seltsame  Koinzidenz  mit  der  Einführung  des  Diphtherieserums 
zu  Tage  trat,  daß  nämlich  wie  mit  einem  Schlage  die  Zahl  der  schweren 
Fälle  abnahm,  während  sich  die  der  abortiven  Diphtherie  in  demselben 
Maße  mehrten.  Dieselbe  Beobachtung  gewährte  mir  die  Betrachtung 
unserer  Tracheotomiepatienten,  nur  daß  hier  eine  weit  größere  Beweis- 
kraft zu  Gunsten  der  Serumtherapie  zu  liegen  scheint.  Die  Zahl  der 
Tracheotomien  nach  Anwendung  des  Serums  ist  eine  verschwindend 
kleine;  die  Zahl  der  Stenosen,  die  unter  seiner  Applikation  noch 
zurückgehen,  ist  dagegen  eine  sehr  große.  Auf  261  Stenosen,  die  zur 
Tracheotoraie  führten,  kommen  59  Stenosen,  die  ohne  operativen  Ein- 
griff zur  Heilung  kamen.  Schon  Heübner  hatte  früher  auf  dieses  Ver- 
halten hingewiesen,  obwohl  seine  Zahlen  lange  nicht  so  krasse  sind  wie 
die  unserigen.  Er  schreibt:  „Ein  solches  Stehenbleiben  der  Larynx- 
erkrankung  auf  niedrigerer  Stufe  des  diphtherischen  Krups  (im  Gegen- 
satz zum  deszendierenden  Bronchialkrup) ,  habe  ich  allerdings  auch 
früher  nicht  beobachtet;  unter  141  Fällen  kam  es  23 mal  vor,  also  in 
16  Proz.    Dagegen  habe  ich  früher  nur  einen  Fall  von  141  ohne  Ope- 


Erfahrungen  über  Serambehandlung  der  Diphtherie.  649 

ration  zurückgehen  sehen,  der  schon  stenotische  Erscheinungen  zeigte, 
dagegen  bei  unserer  jetzigen  Erfahrung  von  181  Fällen  neun." 

Nun  ist  aber  der  Einwand  erhoben  worden,  daß  sich  der  Genius 
epidemicus  geändert  habe,  daß  die  Diphtherie  von  heute  leichter  sei  als 
früher.  Und  dieser  Einwand  ist  nicht  so  leicht  zu  entkräften,  nament- 
lich, wenn  man  den  Zeitpunkt  unserer  der  Statistik  zu  Grunde  liegenden 
Beobachtungen  überschreitet  und  der  Jahre  1902  und  1903  gedenkt. 
Die  Zahl  der  Aufnahmen  ist  in  letzter  Zeit  sehr  zurückgegangen;  es 
vergehen  manchmal  Wochen,  ehe  ein  Diphtheriefall  zur  Aufnahme 
kommt  Darüber  kann  uns  auch  nicht  die  Erscheinung  hinwegtäuschen, 
daß  wir  nach  wie  vor  schwere  und  schwerste  Fälle  zu  sehen  bekommen. 
Die  Diphtherie  ist  eben  eine  für  unsere  Landstriche  endemische  Krank- 
heit, die  nur  zeitweise  epidemisch  auftritt.  Ich  habe  aber  versucht,  mir 
auch  in  diesem  Punkte  Aufklärung  zu  verschaffen  und  gewissermaßen 
auf  dem  Boden  meines  statistischen  Materials  den  Genius  epidemicus 
auszuschalten.  Unter  den  1000  Diphtheriefällen,  die  ich  zusammen- 
gestellt habe,  befinden  sich  137  Geschwister.  Ich  habe  sie  nach 
Familien  zu  zweien,  dreien  und  vieren  geordnet.  Früher  gehörte  es 
zu  den  häufigen  Vorkommnissen,  daß,  wenn  die  Diphtherie  eine  kinder- 
reiche Familie  befiel,  diese  wie  ein  Würgengel  hauste,  und  daß  ganze 
Familien  ihrer  Sprößlinge  beraubt  wurden.  Die  Diphtherie,  die  zwei 
Geschwister  befajlt,  kann  nicht  gut  eine  verschiedene  sein,  sofern  wir 
überhaupt  den  LÖFFLER-Bacillus  als  ätiologisches  Moment  annehmen. 
Ich  ging  zudem  von  dem  Gedanken  aus,  daß  wenn  zwei  Kinder  nicht 
gerade  zugleich  erkranken,  das  zuletzt  erkrankte  besser  beobachtet  wird 
als  das  erste  und  eher  der  spezifischen  Therapie  zugeführt  wird.  So 
gewinnen  wir  einen  Anhalt  dafür,  ob  die  Frühbehandelten  wirklich  eine 
bessere  Heilchance  haben  als  die  Spätbehandelten. 

Die  Beobachtungsreihe  umfaßt  63  Familien ;  darunter  befinden  sich 
54  Geschwisterpaare.  Von  7  Familien  waren  zugleich  je  3  Kinder, 
von  2  Familien  je  4  Kinder  in  Krankenhausbehandlung.  Von  allen 
diesen  starben  11  Kinder  «=  8  Proz.  Die  Mortalität  bei  den  Kindern 
unserer  Gesamtstatistik  war  eine  ungleich  höhere  und  betrug  14,8  Proz., 
also  fast  das  Doppelte.  Daraus  ergeben  sich  zwei  Möglichkeiten:  Ent- 
weder ist  die  Sterblichkeit  durch  eine  frühzeitige  Behandlung  der  später 
erkrankten  Kinder  herabgesetzt,  oder  aber  es  kamen  viele  leichte  Fälle 
von  Familienerkrankungen  ins  Krankenhaus.  Da  aber  die  bakterio- 
logische Untersuchung  feststellte,  daß  es  sich  bei  den  sogenannten  leichten 
Fällen  um  echte  Diphtherie  handelte,  so  hat  die  erste  Eventualität 
größere  Wahrscheinlichkeit  für  sich. 

Eine  Reihe  von  Klinikern,  so  besonders  Escherich,  meinten,  daß 
der  lokale  Prozeß  besonders  günstig  von  der  Serumanwendung  beein- 
flußt werde,  ja  daß  der  Schwerpunkt  der  Heilkraft  darin  beruhe,  daß 
das  Serum  die  rasche  Abstoßung  der  Beläge  herbeiführe  und  die  Aus- 


650  Max  Cohn, 

breitung  der  fibrinösen  Ausschwitzung  verhindere.  Darüber  mußte  die 
Geschwistertabelle  besonders  guten  Aufschluß  geben.  Bei  der  Aufnahme 
waren  ja  die  Eltern  möglichst  genau  inquiriert  worden,  wie  lange  ihre 
Kinder  schon  krank  seien.  Zählte  ich  zu  den  Tagen,  die  bereits  bis 
zur  Aufnahme  verflossen  waren,  die  Anzahl  von  Tagen  hinzu,  wo  in 
der  Anstalt  noch  Belag  konstatiert  wurde,  so  erhalte  ich  eine  Zahl,  die 
die  ganze  Dauer  der  Lokalerkrankung  angibt.  Da  stellte  sich  nun  heraus, 
daß  bei  den  später  ins  Krankenhaus  Gekommenen  die  Abheilung  im 
Rachen  nach  9,68  Tagen  vollendet  war,  während  dieser  Termin  bei  den 
früher  Behandelten  schon  nach  6,95  Tagen  erreicht  war.  Wenn  diese 
Zahlen  auch  keine  strenge  Beweiskraft  haben,  so  erscheinen  sie  mir 
doch  der  Beachtung  wert  Obwohl  ich  persönlich  die  Ausdehnung  des 
lokalen  Befundes  ebensowenig  für  ausschlaggebend  halte,  als  sich  nach 
meiner  Ueberzeugung  die  Prognose  bei  der  Serumtherapie  unbedingt 
sicher  nach  dem  Krankheitstage  bestimmen  läßt,  so  habe  ich  doch  in 
einer  aufiällig  großen  Reihe  von  Fällen  die  Beobachtung  gemacht,  daß 
mit  dem  Tage  der  Injektion  auch  der  Halsprozeß  zum  Stillstand  kommt, 
daß  gewissermaßen  den  Bakterien  der  Boden  für  das  Wachstum  ent- 
zogen wird.  .  Von  eminenter  Wichtigkeit  scheint  mir  dieses  Verhalten 
nicht  zu  sein ;  denn  die  Schwere  der  Erkrankung  hängt  ja  nicht  so  sehr 
von  der  Ausdehnung  der  Lokalerkrankung  als  von  den  Toxinen  ab,  die 
in  den  Körper  aufgenommen  werden,  und  diese  sind  in  erster  Linie 
abhängig  von  der  Virulenz  der  Bakterien. 

Um  nun  wieder  auf  meine  Geschwisterbeobachtung  an  Diphtherie- 
kranketa zurückzukommen,  so  sei  hervorgehoben,  daß  nur  einmal  aus 
einer  Familie  zwei  Kinder  gestorben  sind.  £]s  handelte  sich  um  eine 
besonders  bösartige  Infektion.  Beide  Kinder  kamen  am  2.  Tage 
der  Erkrankung  in  Behandlung  und  starben  am  4.  resp.  5.  Tage  nach 
der  Aufnahme.  Von  drei  Geschwistern  starb  eins,  das  am  3.  Tage  in 
Behandlung  kam.  Es  wurde  mit  3000  I.E.  gespritzt.  Bei  der  Aufnahme 
bot  es  den  Befund  der  Sepsis.  Seine  beiden  Geschwister  kamen  nach 
Injektion  von  1500  bezw.  1000  I.E.  mit  dem  Leben  davon;  sie  kamen 
am  1.  resp.  2.  Krankheitstage  ins  Spital.  Das  erste  bot  einen  leichten 
Befund,  das  zweite  einen  schweren:  es  mußte  sogleich  nach  der  Auf- 
nahme tracheotomiert  werden.  Von  zwei  anderen  Kindern  war  das  er- 
liegende erst  8  Monate  alt.  Der  Krankheitstag  war,  wie  bei  solch' 
kleinen  Patienten  nicht  zu  verwundern,  nicht  zu  eruieren.  Es  erlag 
einem  deszendierenden  Krup,  der  schon  bei  der  Aufnahme  bestand. 
Die  13jähr.  Schwester,  die  das  kleine  Kind  gepflegt  hatte  und  also 
später  erkrankt  ist,  kam  am  2.  Tage  ins  Krankenhaus.  Eine  einmalige 
Dosis  von  1000  I.E.  brachte  einen  glatten  Verlauf.  Bei  zwei  Geschwistern 
P.  dagegen  ist  das  Resultat  ein  ziemlich  negatives.  Der  6-jähr.  Stephan 
P.,  der  bei  seiner  Aufnahme  einen  septischen  Eindruck  machte  und 
schon  8  Tage  krank  war,  erhielt  zwei  Injektionen  k  2000  I.E.    Er  ge- 


ErfahruDgen  über  Serumbehandlang  der  Diphtherie.  6öt 

8undete  nach  einem  langwierigen  Krankenlager,  das  durch  Nephritis 
und  Gaumensegellähmung  kompliziert  war.  Die  4-jähr.  Regina  P.  kam 
schon  am  3.  Tage,  allerdings  auch  unter  septischen  Erscheinungen  ins 
Krankenhaus,  erhielt  3000  I.E.  in  zwei  Injektionen  und  starb  8  Tage 
nach  der  Aufnahme  an  Nierentod.  Eine  Erklärung  für  das  eigenartige 
Verhalten  mag  ich  nicht  anzugeben.  Ein  anderes  Geschwisterpaar  läßt 
gleichfalls  nichts  Beweisendes  für  oder  gegen  die  Serumtherapie  er- 
kennen. Beide  Kinder  kamen  in  schwerem  Allgemeinzustand  am 
4.  Tage  in  Behandlung  und  erhielten  eine  Injektion  von  4000  I.E.  Das 
jüngere  Kind  genas  nach  59-tägigem  Krankenlager,  das  noch  einmal  so 
alte  starb  nach  8  Tagen  an  septischer  Nephritis  und  Enteritis.  Ob  die 
Heilung  des  ersteren  durch  die  gleiche  Dosis  bei  erheblich  geringerem 
KöFpervolumen  der  Serumtherapie  zuzuschreiben  ist,  bleibe  dahingestellt. 
Ganz  dasselbe  Ergebnis  gibt  eine  dritte  Beobachtung.  Von  einer  Fa- 
milie, die  zu  gleicher  Zeit  4  Kinder  im  Krankenhaus  hatte,  starb  die 
9-jähr.  Erna  Seh.,  welche  schon  4  Tage  krank  war,  innerhalb  24  Stunden 
nach  der  Aufnahme  trotz  einer  Dosis  von  3000  I.E.  Die  Geschwister, 
die  erst  kürzere  Zeit  krank  waren,  genasen.  Eigenartig  wieder  war  der 
Verlauf  einer  anderen  Beobachtung.  Die  zuerst  erkrankte  Emilie  T., 
die  am  4.  Tage  gespritzt  wurde,  genas,  während  der  am  2.  Tage  auf- 
genommene Gustav  T.  einer  Sepsis  erlag.  Es  wäre  vielleicht  durch 
eine  höhere  Dosis  am  Anfang  der  Behandlung  Rettung  möglich  gewesen. 
Von  den  Kindern  einer  anderen  Familie  starb  die  am  8.  Tage  gespritzte 
12-jähr.  Martha,  während  ihre  jüngeren  Geschwister,  die  früher  in 
unsere  Behandlung  kamen,  gesundeten. 

Ein  Teil  dieser  Beobachtungen  spricht  für,  eine  Beobachtung  gegen 
die  Serumtherapie,  mehrere  Fälle  verhielten  sich  neutral.  Auffällig 
aber  ist  es  mir  gewesen,  daß  bei  den  Geschwistern,  die  gleich  hohe 
Serumgaben  bekamen,  durchgehends  die  älteren  starben.  Das  könnte 
immerhin  bei  dem  geringen  Umfang  der  Erhebungen  auf  Zufall  be- 
ruhen ;  andererseits  mahnt  es  uns,  bei  größeren  Kindern  von  vornherein 
trotz  leichter  Erscheinungen  möglichst  hohe  Dosen  zu  verwenden. 

Nun  lag  es  auch  nahe  zu  untersuchen,  ob  die  früh  in  Behandlung 
gekommenen  Geschwister  früher  gesund  geworden  sind  als  die,  welche 
später  injiziert  wurden.  Natürlich  kann  auch  hier  nur  ein  Vergleich 
cum  grano  salis  angestellt  werden;  denn,  wenn  auch  die  gleiche  In- 
fektion statt  hat,  so  wird  doch  das  eine  Individuum  mehr  als  das 
andere  von  der  Krankheit  mitgenommen.  Andererseits  kommt  es  auch 
sehr  häufig  vor,  daß  Eltern  Kinder,  die  schon  gesund  sind  oder  sich 
doch  in  voller  Rekonvaleszenz  befinden,  im  Spital  lassen,  da  sie  noch 
ein  anderes  Kind  dort  haben.  Die  Krankheitstage  vor  der  Serum- 
injektion habe  ich  außer  acht  gelassen.  Desgleichen  habe  ich  nicht 
berücksichtigen  können  Familien,  von  denen  ein  Kind  gestorben  ist, 
da  hier  ein  Tertium  comparationis  fehlt.    Es  ergab  sich  bei  dieser  Be- 


652  Max  Cohn, 

rechnung,  daß  die  früh  injizierten  Fälle  nach  15,0  Tagen,  die  spät  in- 
jizierten nach  18,8  Tagen  entlassen  werden  konnten.  Bei  dieser  Rech- 
nung habe  ich  aber  auch  alle  Kinder  derselben  Familie  mitgezählt,  die 
am  gleichen  Tage  entlassen  wurden.  Das  sind  aber  Vs  &Uei*  Fälle. 
Diese  Gruppierung  wäre  aber  ungerecht,  da,  wie  schon  oben  gesagt, 
zumeist  äußere  Gründe  die  Veranlassung  boten,  Kinder  länger  als  nötig 
hier  zu  behalten.  Bringe  ich  diese  in  Abzug,  so  war  die  Heilung  bei 
den  Frühfällen  nach  13,8  Tagen,  bei  den  Spätfällen  aber  erst  nach 
20,7  Tagen  ToUendet.  Ferner  ist  es  im  höchsten  Grade  auffiUlig,  daß 
bei  den  Frühinjizierten  viel  weniger  Komplikationen,  die  zu  der  Grund- 
krankheit in  Beziehung  standen,  zur  Beobachtung  kamen  als  bei  den 
Spätgespritzten. 

Es  liegt  natürlich  nahe,  wenn  man  nach  den  Ursachen  der  Ver- 
änderung in  der  Sterblichkeit  bei  einer  Krankheit  sucht,  nachzuforschen, 
ob  überhaupt  Analoga  in  der  Geschichte  der  Medizin  vorliegen,  die 
etwas  Aehnliches  darbieten.  Ich  habe  eine  solche  vergleichende  Statistik 
gefunden.  Das  III.  Vierteljahrsheft  zur  deutschen  Reichsstatistik  vom 
Jahre  1903  enthält  einen  vergleichenden  Bericht  über  die  Todes- 
ursachen der  Jahrfünfte  1877/81  und  gerade  unserer  Beobachtungszeit 
1897/1901,  der  in  seinen  Einzelheiten  außerordentlich  bemerkenswert 
ist.  Die  statistische  Erhebung  erstreckt  sich  über  alle  Städte  mit  mehr 
als  15000  Einwohnern.  In  diesen  deutschen  Städten  starben  auf 
100000  Seelen  jährlich 

Im  Jahrfünft  ^™  ereteren  Jahr- 

1877/1881         1897/1901      ^^^  I^^  ^'^^ 

überhaupt  26,73  20,46  1,3  mal 

darunter 
an  Pocken  1,5  0,04  37,5   „ 

„   Flecktyphus  2,6  0,06  433   „ 

„   an  Kindbettfieber  14,4  5,1  2,8  „ 

„   Masern  und  Bötein  27,6  21,3  13   « 

„   Diphtherien.  Bräune    993  31,1  3,2   „ 

„    Lungenschwindsucht         357,7  218,7  1,6   t» 

als  in  dem  letzten 
Jahrfünft  1897/1901 

Der  Statistiker  schließt  diesen  Erhebungen  einen  Lobeshymnus  auf 
unsere  moderne  Medizin  an:  „Diese  Sterblichkeitsherabminderung  ist 
ein  Ergebnis  des  Fortschrittes  auf  vielen  Kulturgebieten.  Sie  ist  ein 
Ruhmesblatt  in  der  Geschichte  der  deutschen  Städte  und  der  der 
Medizin,  aber  auch  die  Gesetzgebung  darf  einen  breiten  Teil  des  Er- 
folges für  sich  beanspruchen.  Haben  die  Städte  durch  Kanalisation« 
Wasserleitung,  Straßenbesprengung,  Besserung  in  den  Abortverhält- 
nissen und  in  der  Beseitigung  der  Abfallstoffe,  Schaffung  von  Licht  und 
Luft  durch  breite  Straßen  und  grüne  Plätze,  Anlage  von  Bädern  und 
Spielplätzen,  bessere  hygienische  Bedingungen,  so  haben  die  Fortschritte 
der  Medizin  und  Chemie,   die  antiseptische  und  aseptische  Behandlung 


Erfahrungen  über  Senimbehandlung  der  Diphtherie.  663 

der  Wanden  und  die  Bekämpfung  der  Ausbreitung  der  Infektions- 
krankheiten mittels  der  Desinfektion,  das  Behring  sehe  Serum,  die 
vermehrte  Zahl  der  Aerzte  und  des  Heilpersonals,  der  Heilanstalten 
und  Genesungsheime  für  die  Erkrankten  bessere  Aussichten  auf  Heilung 
und  für  die  Umgebung  der  Kranken  besseren  Schutz  gegen  die  An- 
steckung geschaffen/'  Es  handelt  sich  in  dieser  Zusammenstellung  um 
Infektionskrankheiten.  Aus  der  Reihe  springt  eine  Krankheit  bei  den 
absoluten  Zahlenangaben  am  häufigsten  hervor:  die  Diphtherie.  Und 
bei  den  Verhältniswerten  ist  sie  es  wieder,  die  neben  den  Pocken  und 
dem  Flecktyphus  zu  den  Krankheiten  gehört,  die  am  wesentlichsten  in 
der  Mortalität  zurückgegangen  sind.  Der  Typhus  exanthematodes  scheidet 
aus  der  Betrachtung  aus,  weil  wir  wissen,  daß  sein  Auftreten  an  be- 
stimmte soziale  Mißstände  geknüpft  ist.  Da  ist  es  doch  sehr  eigentüm- 
lich, daß  die  Pocken  und  die  Diphtherie  als  besondere  Merksteine  stehen 
bleiben.  Die  Pocken  verdanken  ihren  Rückgang  dem  Impfzwang.  Sollte 
da  nicht  auch  die  Diphtherie  durch  das  BEHRiNGsche  Serum  so  günstig 
beeinflußt  sein,  da  hier  ganz  ähnliche  Bedingungen  für  die  Verbesserung 
der  Statistik  vorliegen? 

Aber  wie  wir  eben  gesehen  haben,  daß  die  Todesfälle  nur  zum 
geringen  Teil  auf  ein  Versagen  der  spezifischen  Therapie  schließen 
lassen,  so  dürfen  wir  andererseits  nicht  glauben,  daß  nun  jeder  Fall 
von  Diphtherie  einzig  und  allein  seine  Heilung  dem  Serum  verdankt 
Und  hierfür  glaube  ich  auch  in  meinen  statistischen  Erhebungen  An- 
haltspunkte gefunden  zu  haben.  Ich  ging  bei  meinen  Untersuchungen 
von  der  Temperaturkurve  aus,  obwohl  ich  mir  bewußt  war,  daß  ich 
wegen  ihres  schwankenden  Charakters  auf  Schwierigkeiten  stoßen  würde. 
Bis  jetzt  hat  sich  der  Glaube  aufrecht  erhalten,  daß  nicht  nur  die 
Temperaturkurve  der  Diphtherie  nichts  Charakteristisches  aufweist, 
sondern  daß  die  Krankheit  fieberfrei  verlaufen  könne.  Baginsky  schreibt: 
„Das  Fieber  ist  überaus  schwankend  im  diphtherischen  Prozeß.  Ja,  es 
hat  die  Temperaturkurve  eigentlich  nirgend  etwas  Charakteristisches.  Es 
wird  wichtig  sein,  dessen  bei  der  Beurteilung  therapeutischer  Einwirkung 
eingedenk  zu  bleiben.'*  Böse  dagegen  ist  Optimist  genug  anzunehmen, 
daß  in  dem  Umstand,  daß  bei  der  Mehrzahl  seiner  Fälle  die  Temperatur 
am  Tage  nach  der  Aufnahme  zur  Norm  zurückkehrte,  eine  Heilwirkung 
des  Serums  zu  sehen  sei.  Er  bedenkt  dabei  nicht,  daß  die  Kinder  vor 
der  Aufnahme  schon  krank  waren,  und  daß  anerkanntermaßen  die 
Fieberkurve  bei  der  Diphtherie  nur  kurze  Zeit  hoch  bleibt.  Noch  ge- 
suchter scheint  mir  der  Schluß  Wenners,  der  zu  dem  Resultat  kommt, 
daß  die  innerhalb  3,6  Tagen  erfolgte  Temperaturherabsetzung  unter 
37,5  ®,  die  bei  allen  Fällen  eintrete,  als  Serumwirkung  aufzufassen  sei.  Ist 
es  an  sich  schon  sehr  merkwürdig,  daß  die  Anwendung  eines  spezifischen 
Heilmittels  —  man  denke  an  die  anderen  Sera  —  keine  Temperatur- 
steigerung hervorruft,  so  ist  es  andererseits  nicht  angängig,  den  Schlüssen 


654 


Max  C  o  h  11 , 


BosEs  und  Wenners  zu  folgen.  Ich  für  meinen  Teil  meine,  daß 
bei  jeder  diphtherischen  Erkrankung,  ebenso  wie  bei  jeder  anderen 
Infektion  der  Organismus  mit  einer  Temperaturerhöhung  reagiert. 
Diese  kann  yerschieden  lange  dauern,  meist  ist  sie  auf  1—2  Tage 
beschränkt. 


40,0 

1 

2 

i 

4 

5 

( 

t) 

7 

8 

9 

10 

39,5 

39,0 

A 

/ 

^> 

38,5 

^ 

V 

V 

-% 

38,0 

\ 

k 

V 

'\^ 

37,5 

\ 

A 

V 

L 

^ 

Ä 

A. 

J\ 

^ 

37,0 
36,5 
aß  n  ' 

V 

^N 

^^^ 

^\ 

^    Ä 

r  > 

^    i 

f  ^ 

V 

k 

^ 

* 

V 

V 

V 

Kurve  V.    Nonnal-Fieberkurye  der  unkomplizierten  Diphthoie.    Durchschnitt 
von  50,  Tom  1.  Tage  an  beobachteten  Fällen. 


Ich  habe  mir  eine  Normalfieberkurve  der  unkomplizierten  Diphtherie 
hergestellt,  die  gewonnen  wurde  von  50  Fällen,  welche  am  ersten  Tage 
in  i|  unsere  Behandlung  traten.  Die  Temperaturen  sind  im  Rectum  ge- 
messen. Daß  es  sich  nicht  um  eine  willkürliche  Kurve  handelt,  sondern 
daß  sie  den  wirklichen  Verhältnissen  entspricht,  beweist  mir  der  Um- 
stand, daß  sie  der  von  Heubner  veröflFentlichten  in  der  Hauptsache 
gleicht.  Unter  all  den  50  Kindern  hatten  nur  drei  am  ersten  Tage 
keine  Temperaturerhöhung  auf  38^.  Mir  scheint  demnach  der  Schluß 
berechtigt,  daß  diese  Patienten  schon  länger  als  einen  Tag  krank  waren, 
und  den  Eltern  nur  die  Unpäßlichkeit  entgangen  war.  Als  ich  weiter- 
hin die  Temperaturkurve  meiner  sämtlichen  1000  Fälle  studierte,  machte 
ich  die  Wahrnehmung,  daß  146  Patienten  überhaupt  während  ihres 
Krankenhausaufenthaltes  kein  Fieber  hatten.  Am  wievielten  Tage  aber 
kamen  diese  ins  Krankenhaus? 

Am   1.  Tage  kamen  II  Fälle  in  unsere  Behandlung 


1» 

2.      , 

>          II 

43 

» 

»»               II 

(davon  starben  2) 

» 

3.      , 

49 

11 

»               11 

n 

4.  , 

5.  , 

15 
8 

1» 

1               II 

ti 

i> 

1               11 

II 

6.  , 

7.  , 

2 

8 

II 

1               1» 

»» 

M 

»                     n 

n 

8.      , 

9 

1» 

1                          n 

(davon 

starb  1) 

später 

kam 

1 

Fall 

>                         >> 

Erfahrungen  über  Serambehandlung  der  Diphtherie.  655 

Die  Zahl  elf  von  den  am  ersten  Tage  Eingetretenen  unter  146  Fällen 
entspricht  der  Zahl  drei  unter  50  Fällen:  sie  verhalten  sich  prozen- 
tualiter  fast  gleich  und  fallen  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  einem 
Mangel  der  Beobachtung  zur  Last.  Bei  den  anderen  Patienten  dagegen, 
deren  Gros  am  2^  3.  und  4.  Tage  injiziert  wurden,  stehe  ich  nicht  an 
zu  glauben,  daß  das  Serum  auf  ihre  Heilung  nicht  mehr  von  Einfluß 
gewesen  ist. 

Das  ändert  aber  nichts  an  der  Tatsache,  daß  auch  die  Fälle,  die 
von  vornherein  zu  den  schweren  und  früher  zu  den  unheilvollsten 
rechneten,  eine  weit  günstigere  Statistik  geliefert  haben  als  je  zuvor: 
die  Laryngostenosen.  Hier  sehen  wir,  wenn  die  Prognose  nicht  von 
Anfang  an  wegen  bestehender  Komplikationen  als  ungünstig  zu  be- 
zeichnen war,  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  frappierende  Erfolge. 
Emder,  die  eben  noch  mit  dem  Tode  in  der  entsetzlichsten  Weise 
rangen,  saßen  wenige  Stunden  später  spielend  in  ihrem  Bettchen.  Alle 
Einwände  der  unbedingten  Serumgegner  fallen  da  in  ein  Nichts  zu- 
sammen. Früher  wurden  diese  Kinder  ins  Spital  gebracht,  wenn  sie 
dem  Ersticken  nahe  waren;  jetzt  ist  es  nicht  anders.  Von  261  Tracheo- 
tomierten  wurde  156mal  der  Luftröhrenschnitt  sofort  ausgeführt,  und 
von  diesen  starben  38.  Das  gibt  dasselbe  Resultat  wie  bei  den  Fällen, 
die  erst  kürzere  oder  spätere  Zeit  nach  der  Aufnahme  tracheotomiert 
werden. 

Als  ein  gleichwichtiges  Moment  für  die  günstige  Beeinflussung  der 
Krankheit  durch  das  Diphtherieserum  sehe  ich  die  Koinzidenz  des  Um- 
schwunges der  Resultate  mit  der  Einführung  der  neuen  Behandlung  an. 
Nicht  nur  die  Ueberlieferung  aus  der  BAOiNSKTschen  Anstalt,  das 
eigenartige  Verhalten  im  Krankenhause  Bethanien  sind  es  allein,  die 
hier  die  Beweisführung  zur  Gewißheit  erheben.  Auch  bei  uns,  wo 
neben  wenigen  anderen  Anstalten  die  ersten  Versuche  mit  der 
Diphtherieserumtherapie  gemacht  wurden,  trat  mit  dem  Augenblick  der 
fakultativen  Anwendung  sofort  ein  Umschwung  ein,  wie  er  an  den 
anderen  Berliner  Krankenhäusern  nicht  zu  konstatieren  war. 

Schwer  fällt  es,  sich  über  die  Dosierung  des  Mittels  schlüssig  zu 
werden.  In  den  ersten  Jahren  der  Serumtherapie  waren  die  Resultate 
bei  wesentlich  niedrigeren  Dosen  gleichgute  als  jetzt  bei  Injektion  von 
ungleich  mehr  Immunisierungseinheiten.  Trotzdem  sind  wir  auf  Grund 
der  Einzelbeobachtung,  der  in  dieser  Abhandlung  kein  Recht  werden 
konnte,  und  der  Geschwistertabelle  zu  der  Ansicht  gelangt,  daß  große 
Dosen,  frühzeitig  angewandt,  eine  größere  Chance  auf  Erfolg  haben. 
Zweifelhaft  kann  man  sein,  wie  man  sich  bei  den  Erwachsenen  verhalten 
soll.  Die  Mortalität  ist  etwa  die  gleiche  geblieben,  wie  in  der  Vor- 
serumperiode.  Wenn  man  sich  bei  der  Injektion,  wie  es  im  Wesen 
unserer  jetzigen  Diphtherieimmunisierung  liegt,  nach  dem  Körpervolumen 
der  Individuen  richten  sollte,  so  wären  natürlich  allergrößte  Dosen  am 


«56  Max  Cohn, 

Platze.  Das  wird  sich  in  praxi  schwer  rechtfertigen  lassen,  zumal 
viele  Erwachsene,  die  auf  Grund  einer  Vermutung  auf  die  Abteilung 
kamen,  nur  an  Angina  litten.  Es  dürfte  sich  empfehlen,  bei  dieser 
mehr  der  Prophylaxe  als  der  Heilung  wegen  eine  einmalige  Dosis  von 
1000  I.E.  zu  verwenden. 

Damit  komme  ich  auf  ein  neues  Gebiet:  die  Anwendung 
des  Diphtherieserums  zu  Immunisierungszwecken.  Wir  haben  im 
Krankenhaus  Moabit  keine  Isolierstation,  auf  die  alle  Infektionskranke 
zuerst  aufgenommen  werden,  die  Patienten  kommen  auf  eine  Station, 
auf  der  sie  auch  weiterhin  verbleiben.  So  werden  natürlich  viele 
Fälle  von  Angina,  die  bei  genauer  Beobachtung  der  zuerst  in  Be- 
tracht gezogenen  Diagnose  „Diphtherie''  nicht  stand  halten,  auf  die 
Diphtheriestation  aufgenommen.  Nun  ist  ja  allerdings  die  Diphtherie 
nicht  eine  von  den  exzessiv  ansteckenden  Krankheiten;  immerhin  ist 
es  erwähnenswert,  daß  so  gut  wie  gar  keine  üebertragungen  auf  der 
Station  erfolgten,  da  alle  Patienten  ohne  Rücksicht  auf  die  bakterio- 
logische Untersuchung,  die  erst  später  Diphtherie  von  Nichtdiphtherie 
trennte,  sogleich  injiziert  wurden.  Andererseits  kamen  auch  sicher 
Reinfektionen  vor  und  zwar  nicht  sehr  lange  nach  der  ersten  Injektion. 
Ich  selbst  konnte  erst  vor  kurzem  einen  Fall  beobachten,  wo  ein  Kind 
14  Tage  nach  überstandener  Diphtherie,  die  klinisch  und  bakterio- 
logisch sichergestellt  war,  von  neuem  an  Diphtherie  erkrankte.  Die 
typischen  Stäbchen  wuchsen  in  Reinkultur;  1  ccm  einer  Aufschwemmung 
oiner  Oese,  die  einen  Tag  im  Brutschrank  gestanden  hatte,  führte  bei 
einem  Meerschweinchen  den  Tod  in  20  Stunden  in  charakteristischer 
Weise  herbei.  Ein  anderes  Mal  entwickelte  sich  an  dem  Granulations- 
spalt der  Tracheotomiewunde  eine  echte  Wunddiphtherie.  Ein  solches 
Vorkommnis  will  aber  wenig  sagen  gegenüber  der  Tatsache,  daß  früher 
solche  Ereignisse  zu  den  Alltäglichkeiten  gehörten.  Andere  Autoren 
haben  Gleiches  beobachtet,  so  besonders  Rose,  obwohl  aus  seinen  Ver- 
öffentlichungen nicht  hervorgeht,  ob  bei  seinen  Fällen  die  bakterio- 
logische Untersuchung  mitgesprochen  hat.  Desgleichen  berichtet  Kraus, 
daß  von  122  injizierten  Kindern,  die  der  Ansteckung  mit  Diphtherie 
ausgesetzt  waren,  119  verschont  blieben,  3  dagegen  erkrankten. 
ScHABAD  ging  von  der  Wahrnehmung  aus,  daß  öfters  einmal  eine 
Scharlacherkrankung  von  einer  Diphtherie  gefolgt  wird.  Er  machte 
deswegen  den  Scharlachkranken  alle  2—3  Wochen  antidiphtherische 
Seruminjektionen;  doch  erkrankten  5  Proz.  aller  Fälle  trotz  der  Ein- 
impfung der  Antitoxine  an  Diphtherie,  was  durch  die  genaue  Unter- 
suchung von  7  solchen  Kranken  bewiesen  wurde.  Trotz  der  vor- 
genommenen 3  Seruminjektionen,  trat  in  einem  Falle  am  38.  Tage  der 
Krankheit  Krup  auf,  und  zwar  einen  Tag  nach  der  3.  Einspritzung. 
In  allen  7  Fällen  erwiesen  sich  die  angesetzten  Kulturen  nach  ihrer 
morphologischen    Beschaffenheit,    ihrer    Färbung    nach  Neisser,    der 


Erfahrungen  ttber  Serumbehandlnng  der  Diphtherie.  6Ö7 

Säurebildang  in  der  Bouillon  als  echte  LÖFFLER-Bacillen.  Die  patho- 
logische Wirkung  auf  Tiere  wurde  6mal  untersucht:  Alle  6  Meer- 
schweinchen gingen  nach  24—36  Stunden  an  den  charakteristischen 
Erscheinungen  einer  akuten  Diphtherieinfektion  zu  Grunde.  Wenn 
schon  die  vor  10  Jahren  geäußerte  Meinung  Behrings,  daß  in  der 
Literatur  kein  nennenswerter  Autor  zu  finden  wäre,  der  meint,  daß 
Diphtherie  bei  demselben  Individuum  öfter  vorkomme,  nicht  den  Tat- 
sachen entspricht,  so  kann  ich  mich  nicht  einmal  denen  anschließen, 
die  annehmen,  daß  das  BEHRiNosche  Serum  in  jedem  Falle  gegen 
Diphtherie  immun  mache.  Wenn  Wieland  kurzweg  behauptet,  der 
Impfschutz  dauere  3  Wochen,  so  entspricht  das  nicht  unseren  Beob- 
achtungen und  nicht  denen  anderer.  Es  ist  aber  nichts  besonders 
Aufifälliges,  daß  die  Immunität  anscheinend  nur  von  ganz  kurzer  Dauer 
ist  und  zwar  gerade  aus  dem  Grunde,  den  Behring  negiert.  Es 
müssen  sich  ja  bei  jedem  Patienten,  der  eine  Diphtherie  durchmacht, 
Antitoxine  gebildet  haben,  und  trotzdem  kann  dasselbe  Individuum 
schon  nach  kurzer  Zeit  wieder  erkranken.  Warum  sollten  die  Anti- 
toxine des  Pferdeserums  mehr  leisten  als  die  vom  eigenen  Körper  pro- 
duzierten! Danach  ist  es  in  gewissem  Grade  wahrscheinlich,  daß  das 
Diphtherieserum  für  ganz  kurze  Zeit  gegen  Diphtherie  immun  macht; 
die  Sicherheit  der  WiELANDschen  These  besteht  aber  nicht  zu  Recht. 
Man  halte  sich  immer  vor  Augen,  daß  ein  negativer  Fall  mehr  Be- 
weisendes gegen  die  Immunisierungstheorie  als  hundert  für  dieselbe  hat. 


Literatur. 


Baginsky,  Die  Serumtherapie  der  Diphtherie.     Berlin  1895. 

V.  Behring,  Die  Geschichte  der  Diphtherie,  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  Immunitätslehre.     Leipzig  1893. 

—  Das  neue  Diphtheriemittel.     Berlin  1894. 

Boss,  Das  Behringsche  Diphtherieheilserum  und  die  Erfolge,  welche  mit 
demselben  in  der  chirurgischen  Klinik  in  Gießen  erzielt  worden  sind. 
Gießen  1896. 

Deutsche  Beichsstatistik  1903,  3.  Vierteljahrsheft. 

Escherich,  Diphtherie,  Krup,  Serumtherapie.     Leipzig  1895. 

Henoch,  Vorlesungen  über  Kinderkrankheiten,  1892. 

Hbubnbb,  Klinische  Studien  über  die  Behandlung  der  Diphtherie  mit  dem 
Behringschen  Heilserum.     Leipzig  1895. 

Kassowitz,  Audiatur  et  altera  pars.  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde,  N.  F. 
Bd.  52. 

Orth,  Pathologisch-anatomische  Diagnostik,  1894. 

BosB  und  Hagbn,  Die  ersten  zwölf  Jahre  der  Diphtheriebaracke  in  Be- 
thanien.    Dtsch.  Ztschr.  f.  Chir.,  Bd.  39,  1894. 


658    Max.Cohn,  Erfahrungen  über  Senunbehandlong  der  Diphtherie. 

—  Die  Erfahrungen  der  Heilsermntherapie  in  Bethanien.  Dtsch.  Ztsch.  f. 
Chir.,  Bd.  4ß,  1897. 

RosBNBACH,  Arzt  contra  Bakteriologie,  1903. 

SiBQBRT,  Vier  Jahre  vor  and  nach  der  Einf&hrong  des  Diphtherieserums. 
Jahrb.  f.  Kinderheilk.,  N.  F.  Bd.  52. 

ScHABAD,  Diphtherie  und  Diphtheriebacillen  bei  Scharlach.  Basski  Wratsch, 
1902. 

Wenner,  Die  Besaltate  der  Diphtheriebehandlang  seit  Einführang  des 
Diphtherieheilseroms  am  Kinderspital  Zürich.  Inaag.-Diss.,  Stattgart  1899. 

WiBLAND,  Das  Diphtherieheilseram,  seine  Wirkungsweise  und  seine  Leistungs- 
grenzen bei  operativen  Larynxstenosen.  Habilit.-Schrift.  Jahrb.  £ 
Banderheilk.,  N.  F.  Bd.  57. 

ZiBOLBR,  Pathologie  und  Anatomie,  1895. 


Aus  dem  Rudolfinerhause  in  Wien-Döbling  (Reg.-Rat  Gersuny)  und 
dem   Institut  für  allgem.  und  experiment.  Pathologie  (Prof.  Paltaup). 


Nachdruck  verboten. 


Totale  Ausschaltung  des  Dickdarmes 
bei  Colitis  ulcerosa. 

Von 

Dr.  liiid-arig  Moszko'orioz, 

Sekundararzt  des  Bndolfinerhauses. 


Die  Zahl  der  chirurgisch  behandelten  Fälle  von  Colitis  ulcerosa  ist 
nicht  groß.  Nehrkorn  berichtet  in  seiner  Arbeit  (Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb. 
d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  12,  p.  372)  über  35  Fälle. 

Um  so  auffallender  ist,  daß  die  Operateure  in  recht  verschiedener 
Weise  vorgingen,  ein  Beweis  dafür,  daß  sich  jeder  von  anderen  Ge- 
sichtspunkten leiten  ließ. 

Nehrkorn  hat  das  Verdienst,  diese  verschiedenen  Operations- 
methoden auf  ihren  Wert  geprüft  zu  haben.  Auf  seine  Ausführungen 
muß  ich  zurückgreifen,  wenn  ich  im  folgenden  eine  neue  Methode  vor- 
schlage. Es  geschieht  in  der  Hoffnung,  daß  damit  auch  gewisse 
schwerste  Fälle  dieses  schrecklichen  Leidens  der  operativen  Therapie 
zugänglich  gemacht  werden  könnten. 

Ich  will  zunächst  die  einzelnen  bisher  angewendeten  Operations- 
methoden einander  gegenüberstellen: 

1)  Enteroanastomose,  Ileosigmoidostomie ,  Ileorektostomie  (noch 
nicht  ausgeführt),  eventuell  gleichzeitig  totale  Ausschaltung  des  ober- 
halb der  Anastomose  gelegenen  Colonabschnittes  (Wiesinger), 

2)  Anus  am  Ileum, 

3)  Anus  am  Coecum  oder  Colon  ascendens, 

4)  Anus  an  Colon  descendens  oder  sigmoideum, 

5)  Ventilfistelbildung  am  Coecum. 

Als  Zweck  der  Operation  bezeichnet  Nehrkorn: 

1)  den  erkrankten  Darmteil  ruhigzustellen  und  von  Kot  freizu- 
halten ; 

2)  durch  lokale  Behandlung  die  ulceröse  Entzündung  der  Darm- 
schleimhaut zur  HeiluDg  zu  bringen. 


660  Ludwig  Moszkowicz, 

Von  diesen  beiden  Gesichtspunkten  ausgehend,  verwirft  Nehrkorx, 
wie  ich  glaube,  mit  Recht  jede  Art  von  Anastomosenoperation,  weil 
damit  den  stark  geschwächten  Patienten  ein  schwerer  Eingriff  zugemutet 
wird  und  keine  Möglichkeit  lokaler  Behandlung  besteht. 

Er  spricht  sich  daher  mehr  für  die  Methoden  aus,  welche  in  An- 
legung von  Fisteln  am  Darm  bestehen  und  eine  lokale  Behandlung 
erlauben. 

Wird  diese  Oefifnung  am  Ileum  oder  einem  hochgelegenen  Ab- 
schnitt des  Colons  angelegt,  dann  ist  der  erkrankte  Darm  auch  vor  der 
Bertlhrung  mit  Kot  bewahrt.  Ein  Nachteil  dieser  Methoden  ist,  daß 
die  Patienten  unter  der  Beschmutzung  durch  die  an  so  hoch  gelegenen 
Darmabschnitten  dünnflüssigen  und  allzu  häufigen  Entleerungen  sehr 
zu  leiden  haben.  Dies  wird  vermieden  bei  der  Anlegung  einer  Ventil- 
fistel (nach  Witzel-Kader)  am  Coecum.  Dadurch  wird  zwar  der 
Stuhl  von  der  entzündeten  Darmpartie  nicht  vollständig  abgeleitet,  aber 
eine  Durchspülung  des  ganzen  Colons  ermöglicht  Nehrkorn  empfiehlt 
namentlich  die  an  der  Heidelberger  Klinik  geübte  Methode,  die 
Anlegung  eines  Kunstafters  an  einem  tiefgelegenen  Darmabschnitt, 
Colon  descendens  oder  sigmoideum.  Dabei  ist  auch  nur  ein  kleiner 
Teil  des  erkrankten  Darmes  ausgeschaltet,  aber  eine  lokale  Behandlung 
durchführbar.  Die  schon  konsistenteren  Kotmassen  belästigen  er- 
fahrungsgemäß bei  so  tief  angelegtem  Kunstafter  den  Patienten  viel 
weniger. 

Ich  möchte  nun  in  Kürze  über  eine  eigene  Beobachtung  Mitteilung 
machen,  aus  der  hervorgeht,  daß  man  mit  diesen  Eingriffen  manchmal 
doch  nicht  sein  Auskommen  findet 

Die  27-jähr.  Tapezierersgattin  Th.  M.  (Pr.  No.  17/1903)  gab  an,  schon 
längere  Zeit  an  Stuhlverstopfung  gelitten  za  haben,  wobei  dann  öftei*, 
wenn  doch  durch  Abführmittel  oder  Klysmen  Stuhl  erzielt  wm*de,  Blut 
dem  Stuhl  beigemengt  war.  Seit  6  Monaten  leidet  sie  an  starken  Durch- 
fällen, namentlich  in  letzter  Zeit  ist  sehr  viel  Eiter  und  Blut  dem  Stuhl 
beigemengt.  Die  Fat.  hat  10  Entleerungen  im  Laufe  des  Tages,  ebenso- 
viele  Nachts.  Sie  ist  hochgradig  abgemagert,  ist  außerordentlich  blau  and 
schwach.     Sonstige  Beschwerden,  Erbrechen,  Meteorismus  fehlen. 

Die  Aerzte  diagnostizierten  ein  Rectumcarcinom.  Bei  der  rektalen 
Untersuchung  fühlte  man  die  Schleimhaut  von  Geschwüren  eingenommen, 
so  daß  die  Diagnose  erklärlich  erscheint.  Aber  die  Weichheit  des  Ge- 
flchwürbodens  ließ  mich  doch  annehmen,  daß  es  sich  um  einen  ulcerativen 
Prozeß  ausgedehnterer  Partien  des  Colons  und  nicht  um  Carcinome  handle. 
Ich  empfahl  die  Anlegung  eines  Kunstafters. 

Die  Entleerungen  bestanden  aus  Blut  und  Eiter.  Außer  der  hoch- 
gradigen Anämie  war  nichts  Abnormes  nachweisbar. 

Am  16.  Dez.  1902  wurde  die  Pat.  im  Aetherrausch  operiert.  Ich 
schwankte  bezüglich  der  Stelle  des  Colons,  an  der  ich  den  Kunstafter  an- 
legen sollte.  Wie  Nehbkorn,  sagte  ich  mir,  daß  die  Beschwerden  des 
Kunstafters  um  so  größer  werden  müßten,  je  höher  ich  die  Stelle  wählte. 
Ich   fand  die  Flexura  sigmoidea  starr   infiltriert   und  hatte  den  Eindruck, 


Totale  Ausschaltung  des  Dickdarmes  bei  Colitis  ulcerosa.         661 

daß  die  Infiltration  gegen  das  Colon  transversum  hin  abnehme.  Ich  nähte 
also  eine  Schlinge  des  Colon  transversum  in  den  Medianschnitt,  der  im 
übrigen  verschlossen  wurde. 

Am  3.  Tage  wurde  die  vorgelegte  Darmschlinge  mit  dem  Thermo- 
kauter  eröffnet  und  in  den  nächsten  Tagen  die  Oeffnung  erweitert,  so  daß 
zuletzt  zwei  Lumina  vorlagen. 

Decursus:  Schon  nach  kurzer  Zeit  nahm  die  Zahl  der  analen  Ent- 
leerungen ab.  Sie  erfolgten  3 — 4mal  am  Tage,  gar  nicht  mehr  in  der 
Nacht,  und  bestanden  hauptsächlich  aus  Schleim,  dem  Blut  in  Form  von 
Fasern  beigemengt  war.  Aus  dem  Kunstafter  entleerte  sich  2 — 3mal 
täglich  breiiger  Stuhl.  Zum  Verschlul!  des  Anus  bekam  Fat.  eine  Felotte 
mit  Stöpsel. 

Sehr  früh  wurde  mit  medikamentösen  Spülungen  der  ausgeschalteten 
Darmteile  begonnen.  Die  Medikamente  wurden  mehrmals  gewechselt.  Eine 
Zeitlang  wurde  nach  gründlicher  Durchspülung  mit  lauem  Wasser  eine 
Aufschwemmung  von  Dermatol  eingegossen,  später  von  Bismutum  subnitri- 
cum.  1-proz.  Lapislösung  erzeugte  heftige  Schmerzen.  Später  wurden 
Stärkeklysmen  mit  Lapiszusatz  etwa  1 :  1000  verabreicht. 

Der  nicht  ausgeschaltete  Teil  des  Colons  wurde  zeitweilig  durch  eine 
Wasserirrigation  vollständig  entleert. 

Am  5.  Jan.  1903  konnte  Fat  zum  erstenmal  zur  Wage  gebracht 
werden.  Sie  wog  39,5  kg,  während  sie  ein  Jahr  zuvor  ein  Gewicht  von 
60  kg  gehabt  hatte.  Von  da  ab  nahm  das  Gewicht  stetig  zu.  Die  Fat. 
wog  am  7.  März  44,6  kg,  am  24.  April  48,8  kg,  am  23.  Mai  49,0  kg,  am 
12.  Juni  49,6  kg.  Sie  ging  auch  vom  Januar  ab  umher,  konnte  gemischte 
Kost  vertragen.  Die  Blutuntersuchung  ergab  freilich  noch  am  31.  März 
einen  Hämoglobingehalt  von  36  Froz.,  mit  dem  FLSiscHLSchen  Hämometer 
gemessen,  und  es  stieg  auch  späterhin  der  Hämoglobingehalt  nicht  über 
diese  Zahl  hinaus. 

In  ihrer  Bekonvaleszenz  wurde  Fat.  zweimal  gestört  durch  Venen- 
thrombosen an  beiden  Beinen,  die  mit  hohen  Temperaturen  einhergingen 
und  sie  zeitweilig  ans  Bett  fesselten.  Hie  und  da  nahm  auch  in  der 
analen  Absonderung  der  ^l^tgehalt  wieder  zu. 

Ende  April  wurde  ein  mit  Quecksilber  gefüllter  Kondomfingerling  an 
einen  Seidenfaden  gebunden  in  das  periphere  Lumen  des  Kunstafters  ein- 
geführt, erschien  sehr  bald  im  Rectum  und  wurde  per  anum  heraus- 
gezogen. Mit  Hilfe  des  Seideufadens  wurde  nun  ein  Drain  durch  den 
ausgeschalteten  Darm  gezogen.  Die  Entfernung  vom  Kunstafter  zum 
natürlichen  After  wurde  mit  47  cm  bestimmt.  Täglich  wurde  nun  das 
zum  Teil  vorgezogene  Drain  mit  Lapissalbe  bestrichen  und  dann  in  den 
erkrankten  Darm  eingeschoben,  so  daß  die  Ulcera  des  Darmes  wie  ein 
granulierendes  Ulcus  der  Haut  behandelt  werden  konnten.  Später  zeigte 
es  sich,  daß  die  Heilung  des  ulcerösen  Frozesses  auch  wirklich  weit  vor- 
geschritten war. 

Ende  Juni  erklärte  die  Fat.,  dalS  sie  den  Kunstafter  nicht  länger  be- 
halten möchte,  sie  wolle,  wenn  es  nicht  anders  gehe,  sich  jeder  noch  so 
geftlhrlichen  Operation  unterziehen. 

Dem  fortwährenden  Drängen  der  Fat.  nachgebend,  faßte  ich  den  Flan, 
den  ganzen  ausgeschalteten  Darm  abschnitt,  der  noch  immer  Blut  absonderte, 
zu  exstirpieren  und  womöglich  das  Ende  des  Colon  transversum  in  den 
Anus  einzupflanzen. 

Am  29.  Juni  wurde  das  Colon  vom  Kunstafter  ab,  also  das  halbe 
Colon  transversum,  Colon  descendens  und  sigmoideum  exstirpiert,  was  ver- 

Mitteil.  a.  d.  OnnifeUeten  d.  Medlxln  a.  Chirurgie.    Zm.  Bd.  43 


662  Ludwig  Moszkowicz, 

h&ltnismäßig  leicht  gelang.  Wegen  der  Schwäche  der  Fat.  konnte  aber 
nicht  fortgefahren  werden.  Es  wurde  der  Reotumstumpf  übemäht,  der 
Anus  praeternaturalis  belassen. 

Die  Fat.  starb  2  Tage  nach  dem  Eingriff. 

Die  Untersuchung  des  resezierten  Darmstückes  durch  Herrn  Professor 
Albrscht  ergab: 

Etwa  40  cm  langes  (nach  FormaHnhärtung)  ziemlich  stark  kontra- 
hiertes (etwas  verengtes?)  Dickdarmstück  mit  reichlichen  Appendices  epi- 
ploicae.  An  dem  einen  Ende  zeigt  die  Schleimhaut  das  weiße  Aussehen 
von  Flattenepithel  [Anus  praeternaturalis].  Die  ganze  Darmwand  ist 
überall  beträchtlich  hypertrophisch  und  zwar  in  allen  ihren  Schichten,  so 
daß  man  deutlich  die  graugelbliche,  bis  3  mm  dicke  Muscularis  von  der  ver- 
breiterten Submucosa  bis  auf  1  mm  und  diese  von  der  wulstigen,  bis  3  mm 
dicken  Schleimhaut  abgrenzen  kann.  Letztere  ist  in  dichtstehenden  Hirn- 
gyris  ähnlichen  Zügen  und  Windungen  angeordnet,  graurot  und  vielfach 
mit  blutigem  trüben  Schleim  oder  zartesten  Fibrinauflagerungen  bedeckt. 
Zwischen  den  wulstig  prominierenden  Schleimhautzügen  erscheint  dieselbe 
außerordentlich  dünn  von  zartem  Narbengewebe  durchsetzt,  welches  in  die 
Submucosa  einstrahlt.  Diese  den  Sulci  der  Hirnrinde  vergleichbaren 
Narbenzüge  sind  sehr  schmal,  so  daß  man  sie  erst  beim  Auseinander- 
ziehen der  Schleimhaut  deutlich  sieht  und  teils  in  der  Längsrichtung,  teils 
unregelmäßig  quer  angeordnet.  Die  längsverlaufenden  sind  beträchtlich 
länger  als  die  queren.  Am  reichlichsten  finden  sie  sich  in  dem  der  Flexara 
sigmoidea  entsprechenden  Anteile.  Alte  oder  tiefgehende  ülcerationen 
sind  nicht  nachweisbar. 

Histologisch  zeigt  sich  eine  geradezu  polypöse  Wucherung  der 
Schleimhaut.  Die  so  entstandenen  Zotten  sind  alle  mit  schönem  Cylinder- 
epithel  bedeckt,  dieses  fehlt  nur  stellenweise,  namentlich  zwischen  den 
Zotten,  wo  die  Schleimhaut  von  einer  frischen  Fibrinscbicht  bedeckt  ist, 
welche  Leukocyten,  rote  Blutkörperchen  und  die  abgestoßenen  Epithelien 
einschließt.  Die  Schleimhaut  selbst  sowie  die  Submucosa  sind  außer- 
ordentlich reichlich  und  dicht  von  Bindegewebszügen  durchzogen,  die 
Muscularis  sehr  stark  hypertrophisch.  Im  Bereich  derselben  zahlreich« 
große  Lymphgefäße,  die  mit  sehr  großen  Endothelien  voUgeftillt  sind. 
Ausgedehnte  Narbenbildung  ohne  Schleimhautüberzug  oder  alte  Geschwürs- 
bildung fehlt. 

Die  am  2.  Juli  1903  von  Herrn  Frof.  Albrecht  ausgeführte  Ob- 
duktion ergab:  Anaemia  gravis  universalis.  Feritonitis  diffusa  (etwas 
Eiter  in  der  linken  Lende,  von  da  aus  erfolgte  offenbar  die  Infektion) 
Degeneratio  adiposa  et  infiltratio  cordis,  hepatis  et  renum.  Colitis 
ulcerosa  coeci,  coli  ascendentis  et  transversi.  (Der  ganze  zurück- 
gebliebene Teil  des  Dickdarms  war  von  Geschwüren  bedeckt,  nur  spär- 
liche Schleimhautinseln  sind  stehen  geblieben.  Das  Eectum  (etwa  15  cm 
lang),  zeigt  ebenso  wie  das  bei  der  Operation  excidierte  Stück  den  ge- 
schwürigen Frozeß  in  Heilung  begriffen. 

Die  Anlegung  des  Anus  praeternaturalis  hatte  bei  meiner  Fatientin 
ohne  Zweifel  Erfolg  gehabt.  Schon  die  oberflächliche  Betrachtung  des 
ausgeschalteten  Darmstückes,  noch  mehr  die  histologische  Untersuchung 
legten  dar,  daß  der  ulceröse  Frozeß  hier  der  Heilung  sehr  nahe  war. 
Nirgends  fand  sich  eine  größere  Geschwürsfläche,  nur  einzelne  epithel- 
freie Stellen   waren  von  Fibringerinnseln  bedeckt.    Im  übrigen  fanden 


Totale  Ausschaltung  des  Dickdarmes  bei  Colitis  ulcerosa.         663 

sich  zwischen  den  erhalten  gebliebenen  Schleimhautinseln  Narbenzüge 
als  Reste  der  ehemaligen  Geschwüre.  Dagegen  mußte  in  den  Partien 
des  Colons  von  dem  am  Colon  transversum  angelegten  Kunstafter  auf- 
wärts der  Geschwtirsprozeß  noch  weiter  vorgeschritten  sein.  Es  fanden 
sich  bei  der  Obduktion  nur  Spuren  von  Schleimhaut  Von  der  Kot- 
fistel bis  an  die  Ileocökalklappe  erstreckte  sich  eine  kolossale  Oeschwürs- 
fläche.  Die  Patientin  wäre  diesem  Leiden  wahrscheinlich  auch  ohne 
die  zweite  Operation  bald  erlegen,  da  sie  die  anhaltenden  Blut-  und 
Säfteverluste  an  der  großen  Geschwürsfläche  nicht  aushalten  konnte. 
Die  Anlegung  eines  Anus  praeternaturalis  am  Colon  transversum 
war  also  ungenügend.  Nur  eine  vollständige  Ableitung  des  Kotes 
durch  einen  Kunstafter  am  Coecum  oder  Ileum  hätte  den  ulcerativen 
Prozeß  zur  Heilung  kommen  lassen. 

Dieser  Fall  lehrt  also,  daß  der  Kunstafter  an  einer  tiefen  Stelle 
des  Colons  (Colon  descendens  oder  sigmoideum)  wie  ihn  Nehrkorn 
empfiehlt,  in  einer  Reihe  von  Fällen  sich  als  ungenügend  erweisen  wird. 

Es  ist  unsere  Aufgabe,  den  Anus  praeternaturalis  am  Coecum  oder 
noch  besser  am  Ileum  anzulegen  und  ihn  ofifenzuhalten,  solange  noch 
Blutabgang  per  anum  darauf  hindeutet,  daß  der  ulcerative  Prozeß  noch 
nicht  vollständig  geheilt  ist. 

Damit  geraten  wir  aber  in  einen  Konflikt  mit  den  Patienten,  die, 
meist  sind  es  ja  Menschen  im  mittleren  Alter,  durch  ihren  Kunstafter 
von  jeder  Gesellschaft,  von  jeder  Arbeitsgelegenheit  ausgeschlossen  sind. 
Sie  verlangen  stürmisch  den  Wieder  Verschluß  der  Fistel.  So  ging  es 
mir,  so  auch  anderen  Operateuren.  Es  ist  über  mehrere  Fälle  be- 
richtet, in  denen  der  Operateur,  gegen  seine  bessere  Einsicht  handelnd, 
auf  Wunsch  des  Patienten  die  Fistel  schließen  mußte.  Wiederholt  hatte 
dies  auch  ein  Wiederaufflackern  der  Colitis  zur  Folge. 

Wir  dürfen  mit  Nehrkorn  annehmen,  daß  dies  öfter  geschehen 
ist,  als  mitgeteilt  wurde.  Es  zeigt  sich  also,  daß  wir  über  die  Dauer- 
erfolge der  chirurgischen  Behandlung  der  Colitis  nichts  Bestimmtes 
wissen.  Und  ich  möchte  noch  besonders  darauf  aufmerksam  machen, 
daß,  wenn  auch  die  Heilung  des  Geschwürsprozesses  eine  vollständige 
war,  doch  wahrscheinlich  einzelne  der  Patienten  später  an  narbiger 
Stenose  des  Colons  zu  leiden  haben  werden,  die  namentlich  nach  tiefer- 
greifenden ülcerationen  sich  entwickeln  dürften. 

In  dieser  Hinsicht  ist  das  Präparat  des  von  mir  excidierten  Darm- 
teiles recht  instruktiv.  Unterhalb  des  Kunstafters  war  die  Schleimhaut 
ja  nahezu  geheilt,  aber  alle  Schichten  des  Darmes  waren  kleinzellig 
infiltriert.  Die  Schleimhaut  selbst  zeigte  ein  Gitterwerk  von  Narben- 
strängen, durch  die  das  Lumen  gleichmäßig  verengt  war.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, daß  diese  Narben  späterhin  noch  weiter  geschrumpft  wären. 

Ich   legte   mir   die  Frage  vor,  ob  es  für  diese  Fälle  keine  Hülfe 

43* 


664  Ludwig  Moszkowicz, 

gebe,  ob   es  nicht  möglich  wäre,  bei  so  vorgeschrittenen  Stadien  der 
Krankheit  auf  den  erkrankten  Darm  für  immer  zu  verzichten. 

Unsere  Aufgabe  ist,  durch  einen  möglichst  einfachen 
Eingriff,  den  die  geschwächten  Patienten  eben  nochaus- 
halten,  den  gesamten  Dickdarm  auszuschalten  und  eine 
Entleerung  des  Stuhles  an  normaler  Stelle  zu  ermög- 
lichen. Dies  scheint  mir  durchführbar  durch  Einpflan- 
zung des  Ileum  in  den  Anus. 

Die  Operationsmethode  ist  analog  jener,  die  mein  Chef  Regierungs- 
rat Gersuny  vor  Jahren  zur  Bildung  einer  künstlichen  Blase  bei  Ec- 
topia vesicae  angegeben  hat^). 

Es  werden  die  Ureteren  ins  Rectum  implantiert  und  oberhalb  der 
Implantationsstelle  der  Darm  quer  durchschnitten.  Dadurch  wird  das 
Rectum  (dessen  Querschnitt  vernäht  wird)  ausschließlich  Harnreservoir. 
Das  abgeschnittene  Ende  des  S  romanum  wird  (nach  genügender 
Mobilisierung  des  Mesosigma)  unmittelbar  vor  dem  Anus  innerhalb  des 
Sphincter  ani,  dessen  Innervation  dabei  nicht  leidet,  nach  außen  geleitet 

Die  Patientin  war  an  den  schweren  Veränderungen  der  Nieren, 
die  schon  vor  der  Operation  bestanden,  zu  Grunde  gegangen,  immer- 
hin hatte  sich  die  Idee  als  operativ  durchführbar  erwiesen. 

Ich  beabsichtigte  nun,  in  gleicher  Weise  das  unterste  Ileum  in  den 
Sphinkter  einzupflanzen.  Dadurch'Väre  der  Dickdarm  total  ausgeschaltet, 
eine  Entleerung  an  normaler  Stelle  und  Kontinenz  gewährleistet  Im 
nachfolgenden  möchte  ich  über  einige  Tierversuche  berichten,  die  ich 
mit  gütiger  Erlaubnis  des  Herrn  Prof.  Paltaüp  in  dessen  Institut 
für  allgemeine  und  experimentelle  Pathologie  anstellen  konnte. 

Es  wurde  Imal  an  einer  Katze,  4mal  an  Hunden  in  Aethernarkose 
operiert  Zunächst  wurde  an  der  vorderen  Umrahmung  des  Anus  knapp 
am  Uebergang  der  Haut  in  die  Schleimhaut  diese  eingeschnitten  und 
die  Rektalschleimhaut  stumpf  vom  Sphinkter  abgelöst,  so  daß  zwischen 
beiden  eine  Tasche  entstand,  die  nun  mit  Gaze  locker  ausgestopft  wurde. 
Hierauf  wurde  durch  Medianschnitt  unterhalb  des  Nabels  die  Bauch- 
höhle eröffnet  und  das  Goecum  aufgesucht  Es  gelingt  dies,  wenn  der 
Bauchschnitt  nicht  sehr  groß  gemacht  wird,  beim  Hunde  nicht  leicht 
Ich  verfolgte  meist  das  Colon  vom  Rectum  aufwärts  bis  ans  Coecum. 
Nun  wird  das  Ileum  knapp  vor  seiner  Einmündung  ins  Coecum  quer 
durchschnitten,  das  periphere  Lumen  übernäht,  das  zentrale  Ende  mit 
einem  Faden  umschnürt  und  die  Fadenenden  lang  gelassen. 

Während  nun  2  Finger  dieses  lange  Fadenende  einführen,  wird 
vom  Anus   her   eine  Kornzange  in   die  vorher  präparierte  Tasche  bis 


1)  Demonstration  in  der  Wiener  gynäkologischen  Gesellschaft,  29.  Nov. 
1898.  Ref.  im  Centralbl.  f.  GynäkoL,  1899,  p.  207  u.  208.  Fogbs,  ein 
Fall  von  Blasenektopie  und  Spaltbecken.    Zeitschr.  f.  Heilkd.,  1899,  S.  245. 


Totale  Aussobaltung  des  Dickdarmes  bei  Colitis  ulcerosa.         665 

ans  Peritoneum  geführt  und  durch  dieses  durchgestoßen.  Durch  OeflFnen 
der  Kornzange  wird  der  Peritonealschlitz  im  tiefsten  Punkt  des  Douglas 
noch  erweitert,  dann  faßt  die  Kornzange  die  von  oben  entgegen- 
gehaltenen Fadenenden  und  zieht  den  Faden  und  damit  den  Dünn- 
darm bis  vor  den  Anus.  Es  gelang  dies  ganz  leicht,  trotzdem  diese 
Operation  an  Tieren  eigentlich  im  Dunkeln  ausgeführt  wird.  Bei  den 
größeren  Raumverhältnissen  des  Menschen  muß  die  Eröffnung  des 
tiefsten  Punktes  des  Bauchfelles  und  die  Durchziehung  des  Dünndarms 
noch  leichter,  weil  unter  Leitung  des  Auges,  zu  bewerkstelligen  sein. 

Das  Mesenterium  des  Dünndarms  mußte  meist  an  einer  Stelle  ein- 
gekerbt werden  unter  Schonung  der  sichtbaren  großen  Gefäße.  Dann 
war  es  lang  genug,  um  ein  Durchziehen  des  Dünndarms  durch  den 
Anus  zu  gestatten. 

Das  Lumen  des  Dünndarms  wurde  nun  sorgfältig  im  Schlitz  der 
Analschleimhaut  eingesäumt,  so  daß  schließlich  innerhalb  des  Sphinkters 
zwei  Lumina  zu  sehen  waren,  jenes  des  Rectums  und  des  vor  diesem 
herausgeleiteten  Ileums.  Nachfolgend  gebe  ich  die  Protokolle  der  Ver- 
suche wieder. 

I.  Katze  2800  g,  Männchen. 

Operiert,  wie  oben  beschrieben,  am  27.  Aug.  1903. 

29.  März.  Sehr  schwach.  Phlegmone  am  Perineum,  das  von  dünn- 
flüssigem Dünndarminhalt  durchnäßt  ist.  Wunde  wimmelnd  von  Fliegen- 
maden. 

1.  April.     Exitus. 

Obduktion :  Fliegenmaden  an  Bauchdecken  und  Perineal  wunde.  Keine 
Peritonitis.  Dünndarmschlinge  fix  am  Beckenboden.  Mesenterium  etwas 
straff  gespannt.     Dünndarminhalt  dünnflüssig. 

IL  Braune  Hündin,  5  kg,  operiert  2.  Sept.  1903.  10.  Sept  erste 
Nahrungsaufnahme.  Bis  dahin  war  das  Tier  apathisch.  Die  Wunde  am 
Anus  wird  wiederholt  abgeleckt.  Tägliche  Bäder  taten  dem  Tiere  sicht- 
lich wohl.     Es  begann  von  da  ab  begierig  zu  fressen. 

14.  Sept.  Vollkommen  munter,  3  800  g,  frißt  viel.  Aus  dem  Dtinn- 
darmanus  entleeren  sich  nahezu  ununterbrochen  braune  breiartige 
stuhlähnliche  Massen. 

16.  Sept.     Plötzliche  Schwäche.     Exitus. 

Obduktion:  Hämon-agisches  Exsudat  in  der  Bauchhöhle.  An  der 
Uebernähung  des  peripheren  Dünndarmstumpfes  nahe  am  Coecum  ist  das 
Netz  adhärent.  Bei  der  Ablösung  quillt  gelber  Eiter  hervor.  Das  Ileum 
haftet  im  Anus  fest  und  ist  strotzend  gefüllt.  Die  Füllung  nimmt 
nach  oben  ab.  Der  Darminbalt  ist  in  den  unteren  Partien  dickflüssig 
und  braun,  gegen  den  Magen  zu  dünnflüssig  und  weißlich-gelb. 

III.  Hund,  9400  g,  operiert  22.  Sept.  1903. 

Es  wurde  wie  sonst  operiert.  Ueberdies  wurde  10  cm  oberhalb  des 
analen  Endes  des  Dünndarms  durch  eine  fortlaufende  ringförmige  Naht 
eine  leichte  Invagination  des  Dünndarms  als  Ersatz  für  die  Ileocökal- 
klappe  erzeugt. 

28.  Sept.     Der  Hund  frißt,  aber  nur  bestimmte  Speisen. 


666  Ludwig  Moszkowicz, 

dO.  Sept.  65  50  g.  Der  Stuhl  wird  viel  seltener  und  kompakter 
abgesetzt  als  bei  dem  ersten  Hunde. 

3.  Okt.  6100  g.  Der  Hund  ist  munter.  Während  einer  ^/^-8ti\n6igen 
Beobachtung  kein  Stuhlabgang.     Sphinkter  gut  kontrahiert. 

14.  Okt.  Stark  abgemagert,  5200  g,  entleert  dttnnfiassigen  Stuhl, 
frißt  ungern. 

16.  Okt.     Exitus. 

Obduktion:  Der  Dünndarm  liegt  vor  der  Blase,  nicht  zwischen  ihr 
und  Rectum.  Er  ist  oberhalb  der  Invaginationsstelle  auch  etwas  torquiert, 
oberhalb  erweitert.  Unterhalb  der  Invaginationsstelle,  oberhalb  des  Sphink- 
ters, findet  sich  ein  haselnußgroßer  derber  Knäuel,  aus  geschluckten  Haaren 
bestehend,  der  also  durch  den  Sphinkter  zurückgehalten  wurde. 

IV.  Rattler,  7800  g.,  operiert  16.  Okt.  1903. 

Es  wurde  wie  beim  vorigen  Hund  20  cm  oberhalb  des  analen  Dünn- 
darmendes eine  Invagination  erzeugt,  überdies  wurde  oberhalb  der  Inva- 
gination  der  Dünndarm  viermal  zickzackförmig  abgeknickt,  wobei  die 
Knickungen    durch  Aneinandemähen   der   Darmschlingen    fixiert    wurden. 

Der  Dünndarm  wurde  irrtümlicherweise  nicht  in  den  Anus,  sondern 
etwas  höher  oben  im  Rectum  durchgezogen. 

Exitus  21.  Okt.     Stuhlgang  war  selten  und  breiartig. 

Obduktion:  Phlegmone  an  der  Einpflanzungsstelle  des  Dünndarms  ins 
Rectum. 

Die  Invagination  und  die  Schlingenbildung  hatten  nicht  als  absolute 
Stenose  gewirkt,  der  Darminhalt  ist  unterhalb  derselben  wesentlich  mehr 
eingedickt. 

V.  Rattler,  10  600  g,  28.  Okt.  operiert. 
Invagination  10  cm  oberhalb  des  Anus. 

2.  Nov.  8400  g,  frißt,  ist  trocken,  setzt  den  Stuhl  in  größeren 
Intervallen  ab. 

5.  Nov.     7300  g,  krank,  Rhinitis,  vielleicht  Pneumonie. 

8.  Nov.     Exitus; 

Obduktion:  Bauchdeckenabsceß.  Absceß  am  Coecum.  Unterhalb  der 
Invagination  kein  Stuhl,  oberhalb  dünnflüssiger  Darminhalt. 

Das  Resultat  der  Versuche  ist  scheinbar  ungünstig,  da  es  mir  nur 
einmal  gelang  (Versuch  III),  ein  Tier  25  Tage  am  Leben  zu  erhalten,  das 
stark  abgemagert  zu  Grunde  ging,  während  alle  übrigen  früher  meist 
an  Infektionen  eingingen. 

Doch  ist  zu  bedenken,  daß  die  Hunde  für  diesen  Versuch  minder 
geeignet  sind,  da  sie  einen  sehr  kurzen  Dünndarm  haben,  daher  der 
Ausfall  der  Dickdarmresorption  nicht  gut  vertragen  wird. 

Für  den  Menschen  dagegen  ist  erwiesen,  daß  eine  Fistel  am  un- 
tersten Ileum  sehr  gut  vertragen  wird.  Vor  kurzem  konnte  ich  mich 
sogar  überzeugen,  daß  sogar  der  Mitte  des  Dünndarms  entsprechend 
eine  Fistel  angelegt  werden  darf.  (Siehe  meine  Arbeit  „Die  erhöhte 
Resistenz  des  Peritoneums  bei  der  akuten  Perityphlitis,  Fall  909,  1903. 
(Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  72,  Heft  4.)  Es  wurde  die  Verkleinerung  der 
Resorptionsfläche    durch    gesteigerte  Nahrungsaufnahme    wettgemacht. 


Totale  Ausschaltung  des  Dickdarmes  bei  Colitis  ulcerosa.         667 

Daß  eine  sorgsame  Pflege  dabei  auch  sehr   wichtig  ist,   ist   selbstver- 
ständlich, doch  ist  sie  bei  Tieren  schwer  durchzuführen. 

Mbtschnikofp  zitiert  in  seinem  jetzt  viel  gelesenen  Buche  „Studien 
über  die  Natur  des  Menschen*^  einige  hieher  gehörige  Fälle  von  Aus- 
schaltung des  Dickdarms,  um  zu  zeigen,  daß  dieser  ein  überflüssiges, 
vielleicht  sogar  schädliches  Organ  in  unserem  Organismus  darstellt. 

Besonders  beweisend  ist  der  Fall  von  Cibghomski  und  M.  Jakowski 
(Arch.  f.  klin.  Chir.,  Bd.  48,  p.  136.). 

Die  59  Jahre  alte  Frau  hatte  seit  35  Jahren  eine  Kotfistel,  die,  wie 
eine  Operation  später  zeigte,  eine  Fistel  des  untersten  Ileum  war.  Sie 
war  verheiratet,  hatte  dreimal  entbunden  und  war  arbeitsfähig. 

Durch  das  Experiment  war  zu  erweisen,  ob  der  Eingriff  an  sich 
überstanden  werden  kann  und  ob  Kontinenz  zu  erzielen  ist. 

Die  Versuche  ergaben,  daß  in  allen  Fällen  der  Dünndarm  gut 
fixiert  vor  dem  Rectum  anheilte.  Nur  einmal  kam  es  zu  einer  Infek- 
tion in  der  Umgebung  des  durchgezogenen  Dünndarmteiles.  Es  war 
aber  hierbei  irrtümlicherweise  der  Dünndarm  nicht  in  den  Anus,  son- 
dern ins  Rectum  eingepflanzt  worden.  Jede  Anastomose  mit  dem 
Rectum,  und  das  gilt  namentlich  für  die  Colitis  ulcerosa,  bringt  die 
Gefahr  einer  Infektion  der  Anastomosenstelle  mit  sich.  Es  ist  also 
wichtig,  daß  der  Anus  selbst  das  Ende  des  Dünndarms  aufnimmt 

Daß  die  Kontinenz  auf  diese  Welse  erzielbar  ist,  scheint  mir  durch 
die  Versuche  erwiesen.  Der  Sphinkter  zog  sich  so  fest  zusammen,  daß 
man  erst  durch  Auseinanderziehen  konstatieren  konnte,  daß  er  zwei 
Lumina  umschloß.  Einmal  fand  sich  ein  Knäuel  geschluckter  Haare 
oberhalb  des  Sphinkters  (Versuch  III),  ein  Beweis,  daß  der  Verschluß 
genügte. 

Dagegen  schienen  die  Tiere  unter  den  häufigen  Entleerungen  dünn- 
flüssigen Stuhles  zu  leiden,  da  die  Haut  maceriert  wurde. 

Ich  verfiel  auf  die  Idee,  einen  Ersatz  für  die  verlorene  Ileocökal- 
klappe  zu  schaffen,  indem  ich  10—20  cm  oberhalb  des  analen  Dünn- 
darmafters, am  Dünndarm,  eine  Art  Klappe  erzeugte.  Ich  nähte  durch 
eine  zirkuläre  fortlaufende  Naht  eine  Falte,  die  eine  leichte  Invagination 
und  einen  im  Inneren  des  Schleimhautrohres  vorragenden  ringförmigen 
Wulst  von  Schleimhaut  hervorbrachte.  Der  Erfolg  war  ausgezeichnet, 
es  lastete  nun  nicht  mehr  der  ganze  Flüssigkeitsstrom  auf  dem  Sphink- 
ter, sondern  war  höher  oben,  wenn  auch  nur  unvollständig,  unter- 
brochen. Es  fand  sich  regelmäßig  unterhalb  der  künstlichen  Klappe 
Darminhalt  von  dicklicherer  Konsistenz  als  oberhalb.  Die  Stuhl- 
entleerungen erfolgten  viel  seltener  und  waren  mehr  breiartig,  so  daß 
die  Tiere  nun  nicht  mehr  konstant  von  Stuhl  naß  waren. 

Einmal  fixierte  ich  den  Darm  überdies  mehrmals  in  zickzackartigen 
Windungen,  was  eine  ähnliche  Wirkung  gehabt  zu  haben  scheint,  was 
die  Unterbrechung  des  Flüssigkeitsstromes  betrifft. 


668  Ludwig  Moszkowicz, 

Es  scheinen  mir  diese  Versuche  interessant,  weil  sie  vielleicht  auch 
über  die  Bedeutung  der  Ileocökalklappe  Aufschluß  geben.  Ich  glaube, 
daß  auch  diese  nicht  bloß  als  Ventil  gegen  das  Rückströmen  des  Dick- 
darminhaltes  in  den  Dünndarm,  sondern  ebenfalls  als  eine  Art  Sphink- 
ter wirkt.  Sie  wird  wohl  erst  überwunden,  wenn  eine  gewisse  Spannung 
im  Dünndarm  erreicht  ist.  So  erfolgt  der  Uebergang  von  Dünndarm- 
inhalt in  den  Dickdarm   nicht   kontinuierlich,   sondern   in  Intervallen. 

Ich  glaube,  daß  auch  beim  Menschen  in  geeigneten  Fällen,  bei 
Anlegung  von  Ileumfisteln,  durch  eine  höher  oben  am  Dünndarm  er- 
zeugte ringförmige  Falte  dem  Patienten  viel  Belästigung  erspart  werden 
könnte. 

Die  technischen  Details  der  Operation  habe  ich  an  der  Leiche 
studiert. 

Auch  beim  Menschen  beginnt  man  (in  Steinschnittlage)  mit  der  Bloß- 
legung des  tiefsten  Punktes  des  DouoLASschen  Raumes  vom  Damme 
her.  Diese  Voroperation  wäre  in  Gummihandschuhen,  oder  von  einem 
anderen  Operateur  als  jenem,  der  die  Laparotomie  ausführen  soll,  vor- 
zunehmen. 

Ein  4—6  cm  langer  querer  Schnitt  knapp  vor  dem  Anus  dürfte 
genügen.  Nach  Durchtrennung  der  Muskelbündel,  die  vom  Sphinkter 
aus  zum  Musculus  bulbo-cavernosus  ziehen,  dringt  man  stumpf  bis  an 
die  Prostata.  Hier  in  der  Höhe  des  Knickungswinkels  der  Pars  peri- 
nealis  recti  gegen  die  Pars  pelvina  recti  ist  eine  etwas  derbere  Ver- 
bindung zwischen  Rectum  und  Pars  membranacea  urethrae  oder  Prostata 
zu  durchtrennen.  Man  muß  sich  vor  der  Verletzung  des  Rectums  dabei 
in  acht  nehmen.  Dann  gelangt  man  leicht  an  den  oberen  Rand  der 
Prostata  und  sieht  nun  den  Fundus  der  Blase  mit  den  Samenbläschen. 
Dahinter  sieht  man    die  Peritonealfalte   der  Excavatio   recto-vesicalis. 

Bei  Frauen  gelingt  die  Ablösung  der  Vagina  vom  Rectum  sehr 
leicht,  worauf  die  Peritonealfalte  der  Excavatio  rectouterina,  die  über- 
dies tiefer  als  beim  Manne  gelegen  ist,  incidiert  wird. 

Frank  ^)  hat  auf  dem  vorletzten  Kongresse  der  deutschen  Gesell- 
schaft für  Chirurgie  (1903)  eine  neue  Methode  der  Blasenöffnung  auf 
diesem  Wege  empfohlen.     Dabei  wird   die  DouoLASsche  Falte   bloßgelegt 

Der  tiefste  Punkt  der  Excavatio  rectovesicalis  (rectouterina)  des  Bauch- 
fells liegt  nach  Jobssel-Waldbybrs  Lehrbuch  der  topographisch-chirur- 
gischen Anatomie  häufig  in  der  Höhe  des  ersten  SteüSwirbels,  beim  Weibe 
etwas  tiefer  als  beim  Mann,  etwa  5 — 6  cm  über  dem  Anus.  Bei  Füllung 
von  Blase  und  Rectum  rückt  er  hinauf.  Diese  sind  also  vor  der  Operation 
zu  entleeren. 


1)  Frank,    Ein   neuer   Blasenschnitt  (Cystotomia  perinealis).     Arch.  f. 
klin.  Chir.,  Bd.  71,  p.  448. 


Totale  Ausschaltung  des  Dünndarmes  bei  Colitis  ulcerosa.         669 

Ist  die  DoüGLASsche  Falte  bloßgelegt,  dann  wird  die  Wunde  mit 
Jodoformgaze  ausgelegt  und  der  Patient  für  Laparotomie  in  Trende- 
len BUROsche  Beckenhochlagerung  gebracht.  Medianschnitt.  Vorziehen 
des  Coecuras.  Man  sucht  nun  das  unterste  Ileum  auf  und  durchtrennt 
es.  Es  wird  vorteilhaft  sein,  nicht  allzu  knapp  am  Coecum  die  Durch- 
schneidung vorzunehmen,  weil  dieser  Teil  des  Ileums  mitunter  schon 
ein  kürzeres  Mesenterium  hat  und  nicht  genügend  mobil  für  die  Ver- 
pflanzung in  den  Anus  ist.  Man  wird  also  etwa  20  cm  oberhalb  der 
Ileocökalklappe  das  Ileum  durchschneiden.  Eine  vorher  angelegte 
zirkuläre  Naht  wird  den  sofortigen  Verschluß  des  peripheren  Stumpfes 
erleichtern.    Eine  zweite  Tabaksbeutelnaht  sichert  ihn  noch. 

Das  zentrale  Ende  wird  durch  einen  Gazeschleier  gedeckt  und  mit 
Seide  ligiert,  die  Enden  des  Fadens  lang  gelassen.  Da  normalerweise 
die  Dünndarmschlingen  bis  ins  kleine  Becken  hinein  reichen,  bedarf  es 
nur  einer  kleinen  Verlängerung  des  Mesenteriums,  um  den  Dünndarm 
bis  zum  Perineum  vorziehen  zu  können.  Durch  eine  leichte  Einkerbung 
des  Mesenteriums  wird  es  um  etwa  10  cm  verlängert  und  gestattet 
nun  die  Dislokation  des  Dünndarms  ohne  Spannung.  Bei  der  Incision 
des  Mesenteriums  schont  man  natürlich  dessen  Gefäße  am  besten,  in- 
dem man  sich  nahe  an  den  Ursprung  des  Gekröses  hält. 

Mit  langen  Spateln  wird  nun  der  DouGLASsche  Raum  bequem 
sichtbar  gemacht.  Man  sieht  den  Jodoformgazetampon  durchschimmern, 
incidiert  das  Biauchfell  und  schiebt  den  zentralen  Dünndarmstumpf 
in  die  Oefifnung,  eine  Kornzange  zieht  ihn  an  seiner  Ligatur  bis  ans 
Perineum. 

Dann  wird  die  Bauchwunde  geschlossen,  der  Patient  wieder  in 
Steinschnittlage  gebracht.  Nun  erst,  und  darin  weicht  die  Operation 
aus  Gründen  der  Asepsis  vom  Tierexperiment  ab,  wird  der  Sphinkter 
ani  externus  stumpf  vorne  von  der  Rektalschleimhaut  abgelöst  und  das 
vorgelagerte  Dünndarmende  innerhalb  des  Sphinkters  durchgezogen. 
Die  Gazeumhüllung  wird  abgenommen  und  in  exaktester  Weise  die 
Dünndarmschleimhaut  mit  den  Rändern  der  Hautwunde  vereinigt. 

Die  Operation  dürfte  nicht  schwieriger  sein  und  auch  nicht  viel 
länger  dauern  als  eine  gewöhnliche  Colostomie. 

Nach  vollkommener  Heilung  der  Colitis  könnte  die  Ampulle  des 
Rectums  für  den  Patienten  wieder  nutzbar  gemacht  werden,  indem  das 
Septum  zwischen  den  beiden  innerhalb  des  Sphinkters  gelegenen  Lumina 
mit  DüPüYTRENscher  Klemme  durchtrennt  würde.  Wie  schon  mehr- 
mals hervorgehoben,  scheinen  mir  nur  die  schwersten  Fälle  von  Colitis 
ulcerosa  für  das  von  mir  vorgeschlagene  Verfahren  geeignet 

Es  ist  also  noch  zu  erörtern,  wie  die  Indikation  für  die  Operation 
zu  stellen  ist    Ich   glaube,   daß   sich   folgender  Vorgang   nützlich   er- 


670    Ludwig  Moszkowicz,  Totale  Ausschaltung  des  Dtumdarmes  etc. 

weisen  könnte.  Es  müßte  in  jedem  Falle  von  Colitis  ulcerosa,  der  zur 
Operation  bestimmt  ist,  zunächst  eine  WiTZELSche  Fistel  am  Coecum 
angelegt  werden.  Hierbei  kann  man  konstatieren,  ob  der  ulceröse  Prozeß 
vom  Anus  bis  zum  Coecum  reicht  oder  nicht.  Durch  diese  Fistel  wären 
nun  durch  längere  Zeit  medikamentöse  Durchspfilungen  des  ganzen 
Darmes  vorzunehmen.  Leichtere  Fälle  von  Colitis  werden  auf  diese 
Weise  vermutlich  zu  heilen  sein.  Halten  aber  Blut-  und  Schleim- 
abgänge trotz  der  lokalen  Behandlung  an,  dann  wäre  der  Fall  als  vor- 
geschrittener zu  erklären  und  die  totale  Dickdarmausschaltung  nach 
dem  oben  beschriebenen  Verfahren  indiciert. 


Aus  der  Königl.  Universitätsklinik  für  Hautkrankheiten  in  Breslau 
(Direktor:  Geh.-Rat  Neisser). 


Nachdruck  verboten. 


XXVL 

lieber  „Tuberkulide"  und  disseminierte 
Hauttuberkulosen. 

Von 

Dr.  Fritz  Juliusberg,  Frankfurt  a.  M., 
früher  Assistent  der  Klinik. 


Wenn  ich  in  folgendem  einiges  Material  über  Krankheiten  der 
Haut,  die  mit  der  Tuberkulose  in  Zusammenhang  stehen,  aber  sich 
doch  in  mancher  Beziehung  von  den  bekannten  Tuberkulosen  in  der 
Haut  unterscheiden,  mit  Berücksichtigung  der  umfangreichen  Literatur 
zusammenstelle,  so  geschieht  es,  um  auf  diese  —  übrigens  durchaus 
nicht  seltenen  —  Krankheitsbilder  deswegen  hinzuweisen,  weil  diesen 
in  ihrer  Pathogenese  außerordentlich  verschiedenen  Formen  doch  eine 
gemeinsame  Eigenschaft  zukommt,  die  weit  über  das  derma- 
tologische Interesse  hinausgeht,  nämlich  ihre  diagnostische  Be- 
deutung. Denn  diese  Formen  —  und  darauf  werde  ich  bei  den 
einzelnen  Krankheitsbildern  näher  einzugehen  haben  —  kommen  aus- 
nahmslos durch  eine  Verbreitung  des  krankmachenden 
Agens  auf  dem  Zirkulationswege  zu  stände,  und  ihre  Fest- 
stellung berechtigt,  auf  eine  anderweitige  tuberkulöse 
Erkrankung  im  Innern  des  Körpers  Schlüsse  zu  ziehen, 
auch  wenn  letztere  sich  durch  die  klinische  Diagnose  nicht  ohne  weiteres 
feststellen  läßt.  Neben  diesem  Punkte,  auf  den  ich  bei  Abfassung 
dieser  Arbeit  den  meisten  Wert  legte,  war  es  noch  das  Bestreben,  zu 
dem  teils  sicheren,  teils  aber  noch  nicht  genügend  aufgeklärten  Zu- 
sammenhange dieser  Formen  mit  der  Tuberkulose  das  kasuistische 
Material,  welches  mir  größtenteils  aus  der  Breslauer  Klinik  zu 
Gebote  stand,  kurz  zusammenzustellen. 

Veranlassung  hierzu  gaben  klinische  und  mikroskopische  Unter- 
suchungen über  eine  Reihe  von  Fällen,  die  gewöhnlich  unter  der  Be- 
zeichnung „Tuberkulide''  in  den  letzten  Jahren  beschrieben  worden 
sind.    Diese  „Tuberkulide",   die   von   fast  allen  Autoren  heute  in  Zu- 


672  Fritz  Juliusberg, 

sammenhang  mit  Tuberkulose  gebracht  werden,  stellen  nun  allerdings 
eine  Gruppe  von  Krankheitsformen  dar,  die  sich  in  außerordentlich 
stark  schwankenden  Grenzen  bewegt.  Das  Leitmotiv,  welches  eine 
Reihe  von  Autoren,  speziell  Hallopeaü,  Darier,  Boegk,  Johnston, 
bewog,  diese  Formen  bald  als  „T o x i t u b e r k u  1  i d e",  bald  als  „Tuber- 
kulide" schlechthin,  bald  als  „Exantheme  der  Tuberkulose", 
bald  als  „paratuberkulöse  Affektionen"  zusammenzufassen,  und 
sie  den  altbekannten  Formen  der  echten  Hauttuberkulosen 
gegenüberzustellen,  war  die  Annahme,  daß  diese  Formen  nicht  zu 
Stande  kämen  durch  die  Tuberkelbacillen  selbst,  sondern 
durch  deren  Toxine,  die  einem  sonst  irgendwo  im  Körper  lokali- 
sierten tuberkulösen  Herde  entstammen.  Die  Annahme  der  toxi- 
tuberkulösen  Natur  der  Erkrankung  basierte  wesentlich  auf  der 
positiv  nachweisbaren  Tatsache  von  dem  häufigen  Zu- 
sammentreffen dieser  Hauterkrankungen  mit  ander- 
weitigen, meist  chronisch  verlaufenden  Tuberkulosen  im  Innern 
des  Körpers,  besonders  der  Lymphdrüsen.  Viel  weniger  ins  Gewicht 
als  dieser  Punkt  fiel  der  gelegentliche  mikroskopische  Be- 
fund von  anscheinend  tuberkulösem  Gewebe  bei  diesen 
Hauteruptionen,  ein  Befund,  welcher  aber  durchaus  nicht  immer  mit 
Sicherheit  festgestellt  werden  konnte.  Andererseits  kam  für  die  Deutung 
in  Betracht,  daß  es  im  Anfange  weder  mikroskopisch  noch  in  Impfungen 
die  Anwesenheit  von  Tuberkelbacillen  festzustellen  gelang,  und  so 
kamen  die  Autoren  zu  der  Annahme,  daß  Tuberkelbacillen  selbst 
in  diesen  Eruptionen  überhaupt  nicht  vorhanden  und  nur  deren  Toxine 
als  das  krankmachende  Agens  aufzufassen  seien. 

Eine  gewisse  Bresche  in  diese  AuflFassung  der  „Tuberkulide"  als 
Toxituberkulosen  schienen  die  Befunde  von  Tuberkelbacillen  und  auch 
einige  gelungene  Tierimpfungen  zu  legen.  Vor  allem  schien  das  fast 
regelmäßige  lokale  Reagieren  des  sogenannten  Liehen  scrofu- 
losorum,  das  häufige  Reagieren  anderer  Tuberkulidformen  auf  Alt- 
tuberkulin  sehr  gegen  die  Annahme  einer  bloß  toxisch-tuber- 
kulösen Natur  dieser  Eruptionen  zu  sprechen.  Demgegenüber  ist  durch 
neuere  Arbeiten  auß  der  Breslauer  Klinik  darauf  hingewiesen 
worden,  daß  diese  früher  für  ba  ciliare  Tuberkulosen  sprechenden 
Beobachtungen  nicht  mehr  so  einfach  gedeutet  werden  dürfen,  sondern 
daß  sich  diese  Beobachtungen  auch  mit  einer  toxisch  -  tuberkulösen 
Natur  der  Tuberkulide  gut  vereinigen  lassen  (Klingmüller). 

Die  Grenzen  dieser  Tuberkulidgruppen  waren,  wie  ich 
oben  betonte,  von  Anfang  an  keine  sehr  scharfen.  Denn  da  im 
wesentlichen  die  Koexistenz  der  Hauterkrankung  mit  inneren  Tuber- 
kulosen die  Einreihung  in  die  Tuberkulidgruppe  veranlaßte,  waren  es 
vielfach  reine  Zufälligkeiten  des  Materials,  die  manche  Form  in  diese 
Gruppe  verwies.    Auf  der  anderen  Seite  konnte  wieder  eine  verfeinerte 


üeber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         673 

Diagnostik  (Tuberkulinanwendung)  in  vielen  Fällen  die  regelmäßige 
Koexistenz  einer  inneren  Tuberkulose,  resp.  den  tuberkulösen  Charakter 
der  Hauterkrankung  sicherstellen.  Hervorheben  möchte  ich  aber,  daß 
die  vorhergenannten  Autoren  in  der  Regel  ohne  Anwendung  des  Tuber- 
kulins eine  tuberkulöse  Erkrankung  des  Trägers  feststellen  konnten; 
nur  vereinzelt  sind  die  Fälle  aus  der  Literatur,  in  denen  der  Autor 
keine  Tuberkulose  nachzuweisen  vermochte.  Nach  den  Erfahrungen  an 
der  Breslauer  Klinik  wissen  wir  aber,  daß  zahlreiche  sichere  Tuber- 
kulosen ohne  Anwendung  des  KocHschen  Tuberkulins  einer  Feststellung 
überhaupt  entgehen  und  daß  auf  diesem  Wege  vielfach  auch  dort,  wo 
man  überhaupt  nicht  an  eine  innere  Tuberkulose  denkt,  die  positive 
Reaktion  dieselbe  mit  Leichtigkeit  feststellen  läßt  (Neisser;.  Um  so 
auffälliger  und  bedeutungsvoller  ist  also  die  bei  diesen  Erkrankungen 
fast  regelmäßig  rein  klinisch  feststellbare  innere  Tuberkulose. 

Aus  den  Dermatosen,  die  ich  bei  meiner  Arbeit  in  Betracht  ziehen 
will,  schalte  ich  diejenigen  Afifektionen  aus,  deren  Zusammenhang  mit 
Tuberkulose  mir  wie  so  vielen  anderen  noch  vollkommen  unsicher  er- 
scheint, so  das  Angiokeratoma  Mi  belli,  dessen  tuberkulöse  Natur 
im  wesentlichen  nur  in  den  Arbeiten  Lereddes  (cf.  auch  Pautrier)  be- 
hauptet wird  und  den  viel  umstrittenen  Lupus  erythematosus  in 
seiner  gewöhnlichen  Form.  Bezüglich  dieser  Erkrankung  verweise 
ich  auf  die  Arbeit  Walther  Picks  aus  der  Breslauer  Klinik, 
dessen  Ausführungen  ich  mich  in  allen  wesentlichen  Punkten  anschließe. 
Auch  gewisse  eigenartige  „Tuberkulidformen''  die  als  Unica  mitgeteilt 
sind  und  bei  denen  eine  sichere  Klassifizierung  noch  nicht  möglich  ist, 
so  einige  von  Hallopeau  beschriebene  und  einen  jüngst  von  W.  Pick 
aus  der  Prager  Klinik  mitgeteilten  Fall,  habe  ich  nicht  berück- 
sichtigt, weil  ich  in  folgendem  mich  nur  auf  klinisch  feststehende 
Krankheitsformen  beschränken  wollte. 

Meine  Ausführungen  erstrecken  sich  erstlich  auf  den  Liehen  scro- 
falosorum,  an  den  sich  zwanglos  die  Acne  scrofalosorum  der  eng- 
lischen Autoren  anreihen  läßt,  in  zweiter  Linie  auf  die  nekrotisieren- 
den Tuberkulidformeu,  von  denen  mir  einige,  längere  Zeit  beob- 
achtete Fälle  auch  zur  mikroskopischen  Untersuchung  zur  Verfügung 
standen. 

I.  Liehen  scrofalosoram. 

Die  klinisch  am  längsten  bekannte  Form  der  sogenannten  Tuber- 
kulide stellt  der  Liehen  scrofulosorum  dar,  dessen  klinisches  Bild 
schon  von  Hebra  in  den  meisten  Einzelheiten  klar  gezeichnet  und 
dessen  Zusammenhang  mit  Tuberkulose  auch  schon  von  Hebra  in  un- 
zweideutigster Weise  charakterisiert  worden  ist  Hebra  weist  aller- 
dings nur  auf  das  regelmäßige  Zusammentreffen  mit  „Skrofulöse''  hin. 
Aber  die  einzelnen  Formen  der  Skrofulöse,   die   er  als   mit  der   uns 


674  Fritz  Juliusberg, 

beschäftigenden  Eruption  in  der  Regel  vergesellschaftet  beschreibt, 
stellen  zum  großen  Teile  solche  Erkrankungen  dar,  die  wir  heute 
sicher  als  tuberkulös  erkennen.  In  Uebereinstimmung  mit  den 
auch  neuerdings  hierüber  gemachten  Beobachtungen  betont  auch  schon 
Hebra,  daß  der  Liehen  scrofulosorum  auffallend  selten  mit  akuten 
tuberkulösen  Erkrankungen,  speziell  mit  der  akuten  Lungentuberkulose 
vereinigt  vorkomme,  daß  er  dagegen  sehr  häufig  chronisch  verlaufende 
Tuberkulose  begleite  —  und  das  war  die  alte  Skrofulöse,  wie  das  auch 
Elinomüller  jüngst  besprochen  hat. 

Was  das  klinische  Bild  betrifift,  so  ist  darüber  folgendes  zu 
bemerken : 

Der  Liehen  scrofulosorum  stellt  sich  in  seiner  typischen  Form 
als  ein  aus  kleinen  Stecknadelkopf-  bis  hanfkomgroßen  flachen  Papeln 
zusammengesetztes  Exanthem  dar,  das  häufig  gruppiert,  bei  geringer  Aus- 
dehnung den  unteren  Teil  der  Brust,  die  Bauchgegend  und  den  Bücken 
befUlt,  bei  stärkerem  Auftreten  auch  auf  die  Extremitäten,  speziell  auf 
die  Oberarme  und  Oberschenkel  übergreift.  Die  Farbe  der  Papel,  beim 
frischen  Ausbruch  der  Erkrankung  braunrot,  sehr  ähnlich  der  Farbe  des 
Lupusknötchens,  wird  bei  längerem  Bestände  blaß-gelb  bräunlich,  manchmal 
kaum  von  der  übrigen  Haut  sich  abhebend ;  auch  wird  in  diesem  Stadium 
die  Papel  noch  viel  weniger  prominent,  so  daß  dann  das  Exanthem  selbst 
einem  nicht  geübten  Auge  leicht  entgehen  kann.  Sehr  häufig  tragen 
einige  der  Papeln  an  ihrer  Spitze  eine  kleine  Pustel,  und  gerade  solche 
Pusteln  tragende  Effloreszenzen  sind  differentialdiagnostisch  von  einiger 
Bedeutung,  weil  diese  eine  eventuell  in  Frage  kommende  DifPerential- 
diagnose  gegenüber  dem  Liehen  ruber  zu  Gunsten  des  Liehen  scrofulo- 
sorum gut  entscheiden  lassen.  Denn  der  Liehen  ruber  hat  nichts  mit 
Pustelbildung  zu  tun  und,  wo  Pusteln  bei  dieser  Erkrankung  vorkommen, 
sind  es  sekundäre,  durch  Kratzen  verursachte  Infektionen  von  akut  ent- 
zündlichem Charakter.  Uebrigens  kommt  es  selten  zu  derartigen  dia- 
gnostischen Zweifeln,  denn  wenn  auch  manchmal  dicht  gedrängte  Papeln 
beim  Liehen  scrofulosorum  eine  chagrinleder-ähnliche  grobe  Hautfelderung, 
die  sogenannte  Lichenifikation  zeigen,  so  wird  der  aufmerksame  Beob- 
achter das  Charakteristische  des  Liehen  ruber,  die  wachsartige,  gedellte, 
polygonale  Papel  natürlich  beim  Liehen  scrofulosorum  stets  vermissen. 
Denn  trotz  der  Uebereinstimmung  im  Namen  hat  der  Liehen  scrofulosorum 
absolut  nichts  mit  dem  Liehen  ruber  gemein,  und  im  Gegensätze  zu  dieser 
Erkrankung  ist  das  Exanthem,  welches  wir  als  Liehen  scrofulosorum  be- 
zeichnen, kaum  jemals  von  irgendwelchem  Juckreiz  begleitet,  während 
der  Liehen  ruber,  abgesehen  von  seltenen  Ausnahmen,  wo  er  keine  sub- 
jektive Empfindung  hervorruft,  stets  intensives  Jucken  verursacht.  Ich 
führe  diese  differentialdiagnostische  Bemerkung  deshalb  an,  weil  sie  für 
die  Prognose  und  Therapie  von  ausschlaggebender  Bedeutung  ist,  und 
füge  an  dieser  Stelle  nur  hinzu,  daß  schon  vor  mehreren  Jahren,  als  die 
tuberkulöse  Natur  des  Liehen  scrofulosorum  sichergestellt  schien,  Neissbr 
um  die  zu  Verwechslung  Anlaß  gebende  Bezeichnung  „Liehen"  durch  eine 
bessere  zu  ersetzen,  den  Namen  Tuberculosis  miliaris  aggregata  vor- 
geschlagen hat 


Ueber  „Tuberkulide'*  uud  disseminierte  Hauttuberkulosen.         675 


n 


Zu  dieser,  die  typischen  Fälle  charakterisierenden  Beschreibung 
möchte  ich  hinzufügen,  daß  die  Form  des  Knötchenausschlages  nicht 
immer  rein  erhalten  bleibt,  sondern  daß  entweder  von  vorneherein  oder 
erst  im  Stadium  der  Abheilung  das  Bild  eindifus-verwaschenes  wird 
und  sich  mehr  einer  ekzematösen  Erkrankung  nähert.  Auch  darauf 
ist  in  der  Literatur,  speziell  von  Jadassohn,  mehrfach  aufmerksam  ge- 
macht worden.  Auf  der  anderen  Seite  zeigen  die  distinkt  erscheinenden, 
normal  höchstens  klein  hirsekorngroßen,  Lichenknötchen  bis- 
weilen eine  außerordentliche  Größe  und  werden  bis  erbsengroß, 
besonders  an  den  Extremitäten  (cf.  den  später  beschriebenen  Fall  9). 
Auch  können  die  Knötchen  des  Liehen  scrofulosorum  bei  Vor- 
handensein einer  stärkeren  Hyperkeratose  der  Haut  einem  hochgradigen 
Liehen  pilaris  gleichen  und  nichts  von  dem  darunter  befindlichen 
Liehen  scrofulosorum  vermuten  lassen.  Besonders  eklatant  war  in 
dieser  Hinsicht  ein  in  der  Breslauer  Klinik  beobachtetes  Kind  mit 
einem  außerordentlich  hochgradigen  Liehen  pilaris  am  Stamm,  bei  dem 
nur  die  mikroskopische  Untersuchung  die  Diagnose  eines  Liehen  scrofu- 
losorum ermöglichte. 

Als  meiner  Kenntnis  nach  nirgends  betonte  Loka- 
lisation des  Liehen  scrofulosorum  möchte  ich  die  Fuß- 
sohlen anführen,  wo  die  einzelnen  Infiltrate  gewöhnlich  nicht  zu 
knötchenartigen  Verwölbungen  führen,  sondern  die  Herde,  Sagokörnern 
ähnlich  durch  die  Haut  hindurchschimmern  und  bei  Glasdruck  sich  in 
gelbbraunem  Kolorit  von  der  anämisch  gemachten  Haut  gut  abheben. 
Bei  den  weiter  unten  beschriebenen  Fällen  5  und  9  fand  sich  diese 
Lokalisation;  bei  Fall  5  konnte  eine  deutliche  Reaktion  durch  Alt- 
tuberkulin  hervorgerufen  werden.  Das  gleichzeitige  Auftreten  der 
Effloreszenzen  mit  dem  Liehen  scrofulosorum  am  übrigen  Körper,  das 
gleichzeitige  Abheilen,  das  Verschwinden  ohne  Narben,  wie  es  beim 
Liehen  scrofulosorum  die  Regel  ist,  spricht  dafür,  daß  diese  Effloreszenzen 
in  der  Tat  zum  Liehen  scrofulosorum  gehören  und  nicht  irgend  eine 
andere  Form  der  Tuberkulide  darstellen.  Isoliert  habe  ich  diese  Lo- 
kalisation nie  beobachtet  Differentialdiagnostische  Schwierigkeiten  dürfte 
sie  nur  dem  „Strophulus"  (Liehen  urticatus  s.  Urticaria  papulosa) 
gegenüber  machen ;  es  genügt  aber  im  allgemeinen  das  Zusammenfallen 
mit  dem  Liehen  scrofulosorum  am  übrigen  Körper,  um  die  diagnostischen 
Schwierigkeiten  zu  lösen.  Anderenfalls  läßt  sich  durch  eine  diagno- 
stische Tuberkulininjektion  die  Frage  jederzeit  mit  Leichtigkeit  ent- 
scheiden. 

Während  die  klinische  Diagnose  des  Liehen  scrofulosorum,  speziell 
seine  Diflferentialdiagnose  gegenüber  Liehen  ruber  und  gewissen  syphi- 
litischen Exanthemen,  besonders  raikropapulösen,  kaum  auf  Schwierig- 
keiten stoßen  dürfte,  hat  die  Frage,  ob  ein  dem  Liehen  scrofulosorum 


676  Fritz  Juliuaberg, 

durchaus  gleichartiges  Exanthem,  wie  es  öfters  nach  Injektionen 
von  Alttuberkulin  beobachtet  wird,  ein  reines  Tuberkulin -(Arznei-) 
Exanthem  oder  einen  erst  durch  Tuberkulin  sichtbar  gewordenen 
Liehen  scrofulosorum  darstellt,  zu  Erwägungen  Anlaß  gegeben.  Es  ist 
dieser  Beobachtung  sogar  eine  gewisse  Bedeutung  insofern  zuzuschreiben, 
als  der  (tatsächlich  oder  angeblich)  nach  Alttuberkulin  entstandene 
Liehen  scrofulosorum  als  rein  toxisches  Exanthem  quasi  ein  Paradigma 
für  die  Möglichkeit  eines  toxischen  Ursprunges  der  Tuberkulide  dar- 
stellen solle.  In  der  Tat  ist  das  Auftreten  von  dem  Liehen  scrofulo- 
sorum durchaus  ähnlichen  Exanthemen  nach  Ii\jektionen  von  Tuber- 
kulin —  auf  welches  zuerst  Schweninger  und  Buzzi  aufmerksam 
machten  —  ein  keineswegs  besonderes  Vorkommnis  und  wiederholt 
dahin  gedeutet  worden  (Neisser,  Jadassohn),  daß  diese  Exantheme 
nur  die  Reaktion  eines  schon  vorher  vorhandenen,  klinisch-makro- 
skopisch nur  nicht  erkennbaren  Liehen  scrofulosorum  darstellten.  Nach 
einer  neueren  Arbeit  von  KlingmI^ller  aus  der  Breslau  er  Klinik 
scheint  jedoch  tatsächlich  die  Möglichkeit  zu  bestehen,  daß  auch 
das  Tuberkulin  als  solches  derartige  Exantheme  durch 
toxische  Stoffe  hervorbringen  kann.  Vielleicht  sind  beide  An- 
schauungen berechtigt:  in  einer  Reihe  von  Fällen  sind  es  die  toxischen 
Stoflfe  der  Tuberkelbacillen  resp.  solche  im  Tuberkulin,  welche  das 
Exanthem  hervorrufen;  daneben  kommen  aber  Fälle  vor,  in  denen  die 
Bacillen  selbst,  mögen  sie  nachweisbar  sein  oder  nicht  —  wahrschein- 
lich aber  in  nicht  mehr  vermehrungsfähigem  Zustande  —  die  Efflores- 
zenzen  verursachen.  Ich  komme  auf  diesen  Punkt  noch  weiter  unten 
zu  sprechen. 

Was  die  Histologie  des  Liehen  scrofulosorum  betriflft,  so  steht 
so  viel  jedenfalls  fest,  daß  man  im  einzelnen  Knötchen,  wenn  auch  nicht 
mit  Regelmäßigkeit,  so  doch  meist  bei  genügendem  Nachsuchen  neben 
atypischem  Granulationsgewebe  tuberkulöse  Infiltrate  mit  mehr  oder 
weniger  großer  Vollständigkeit  der  einzelnen  zelligen  Elemente  nach- 
weisen kann.  Was  den  Befund  von  Riesenzellen  anbetrifft,  der 
heute  nur  noch  als  ein  wichtiges  Verdachtsmoment  für  die 
histologische  Diagnose  Tuberkulose  verwandt  werden  kann,  so  habe 
ich  sie  stets  in  allen  von  mir  untersuchten  Fällen,  bald  häufiger,  bald 
nur  vereinzelt,  finden  können.  Wenn  viele  Autoren  solche  in  ihren 
Präparaten  vermißt  haben,  so  ist  wohl  zu  betonen,  daß  vielleicht  die 
Spärlichkeit  des  gegebenen  Materials  die  Schuld  getragen  haben  mag. 
Auch  bei  den  altbekannten  Hauttuberkulosen,  z.  B.  beim  Lupus,  kann 
man  gar  nicht  so  selten  mehrere  Schnitte  untersuchen,  ohne  eine  Riesen- 
zelle zu  finden,  und  auch  bei  dieser  Affektion  finden  sich  neben 
typischem  tuberkulösen  Granulationsgewebe  sehr  reichlich  atypische 
Zellanhäufungen,  die  nach  keiner  Richtung  etwas  für  Tuberkulose 
Charakteristisches  haben.    Ja,  gar  nicht  selten  nimmt  das  histologisch 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         677 

uncharakteristische ,  „perituberkulöse"  Gewebe  quantitativ  einen  viel 
größeren  Raum  ein,  als  die  tuberkulösen  Veränderungen  selbst 
(Jadassohn). 

Tuberkuloseverdächtige  Veränderungen  in  der  Tiefe 
der  Haut  beim  Liehen  scrofulosorum,  wie  sie  Poroes  beschreibt, 
konnte  ich  nur  in  einem  Falle,  aber  in  sehr  deutlicher 
Weise  konstatieren.  Neben  den  Infiltraten  in  den  obersten  Corium- 
schichten  fand  sich  in  der  Subcutis  eine  große  Arterie  vor,  deren  Wand 
fast  in  ihrer  ganzen  Zirkumferenz  von  einem  riesenzellenhaltigen  tuber- 
kulösen Granulationsgewebe  durchsetzt  war  und  dadurch  erheblich  ver- 
dickt erschien.  Vielleicht  aber  werden  die  Veränderungen  in  der  Tiefe 
der  Haut  deswegen  so  selten  konstatiert,  weil  man  bei  AflFektionen,  wo 
man  die  Veränderungen  nur  sehr  oberflächlich  erwartet,  keine  tiefen 
Excisionen  vornimmt. 

Das  fast  stete  Beagieren  des  Liehen  scrofulosorum  auf 
Tuberkulin,  auf  das  Neisser  und  Jadassohn  ja  seit  jeher  aufmerksam 
gemacht  haben,  und  das  auch  in  den  letzten  Jahren  in  der  Breslau  er 
Klinik  immer  wieder  konstatiert  werden  konnte  (Klingmüller),  dürfte, 
als  diagnostisch  von  Bedeutung,  hier  kurz  erwähnt  werden. 

Da  das  Liehen  scrofulosorum-Material  der  Klinik  soeben  in  aus- 
führlicher Weise  von  Klingmüller  besprochen  worden  ist,  will  ich 
hier  die  einzelnen  Momente,  welche  für  und  wider  die  Auffassung: 
rein  bacilläre  oder  toxische  Tuberkulose?  sprechen,  nicht 
noch  einmal  in  längerer  Weise  behandeln.  Ich  selbst  habe  mir 
folgende  Auffassung  gebildet:  Die  positiven  Bacillenbefunde  Jagobis, 
Wulffs,  Pellizaris  und  Bettmanns,  die  positiven  Tierimpfungen 
Jagobis  und  Haushalters,  das  Entstehen  lupusähnlicher  Gebilde  aus 
Liehen  scrofulosorum-Knötchen,  wie  dies  Hallopeau,  Jadassohn  und 
BoEGK  betonen,  scheinen  dafür  zu  sprechen,  daß,  wenn  auch  für  einen 
Teil  der  Fälle  die  Ansicht  Klingmüllers  Geltung  hat,  daß  auch  reine 
Toxine  der  Tuberkelbacillen  das  Lichen-Exanthem  erzeugen  können, 
doch  andere  Fälle  vorkommen,  bei  denen  die  Bacillen  selbst  als  Erreger 
des  Exanthems  aufgefaßt  werden  müssen.  Die  positiven  Bacillenbefunde 
der  Autoren,  welche  die  Tuberkelbacillen  nicht  im  tuberkulösen  Granu- 
lationsgewebe selbst,  sondern  nur  in  den  daraus  entstandenen  Pusteln 
nachweisen  konnten,  scheinen  mir  dadurch  nicht  an  Bedeutung  zu  ver- 
lieren; denn  es  dürfte  kaum  zu  bezweifeln  sein,  daß  diese  Tuberkel- 
bacillen vorher  im  Granulationsgewebe  selbst  vorhanden  gewesen  sind. 
—  Eine  vermittelnde  Stellung  zwischen  denen,  welche  den  Liehen 
scrofulosorum  als  eine  bacilläre  Dermatose  und  denen,  welche  sie 
immer  als  toxische  Dermatose  auffassen,  nimmt  Boeok  ein,  der  bei 
Besprechung  der  Pathogenese  des  Liehen  scrofulosorum  wie  der  Tuber- 
kulide überhaupt  das  Vorhandensein  einzelner  Bacillen  in  derartigen 
Effloreszenzen  durchaus  nicht  in  Abrede  stellt,  aber  der  Ansicht  ist, 

Mitteit.  a.  d.  GrODZ^ebieten  d.  Medizin  u.  Chirurgie.    XIII.  Bd.  44 


678  Fritz  Juliusberg, 

daß  nicht  auf  diesen  Bacillenbefund  der  Hauptwert  zu  legen  sei,  da  der 
Charakter  dieser  Eruptionen  durch  das  disseminierte  akute,  schub- 
weise Auftreten  und  durch  die  benigne  Natur  bestimmt  werde.  Für 
die  klinische  Diagnose  des  Liehen  scrofulosorum,  seine  diagnostische 
Verwertung,  für  die  Gesauitdiaguose  bei  einem  Kranken  ist  es  freilich 
ganz  gleichgültig,  welcher  Auffassung  man  sich  anschließt,  ob  man  die 
Toxine  oder  die  Bacillen  selbst  für  die  Entstehung  der  Effloreszenzen 
verantwortlich  machen  will.  Wichtig  bleibt  nur,  daß  man  den 
Liehen  scrofulosorum  als  ein  tuberkulöses  Exanthem 
auffaßt,  d.  h.  als  eine  von  einem  anderen  primären 
Tuberkuloseherd  in  die  Haut  disseminierte  spezifische 
Eruption^). 

Widerspruch,  findet  diese  Annahme  nur  von  wenigen  Seiten,  vor 
allem  von  Riehl.  Wir  können  hier  nicht  auf  alle  Punkte  eingehen^ 
welche  Riehl  zur  Stütze  seiner  Behauptung,  daß  der  Liehen  scrofulo- 
sorum gar  nichts  Direktes  mit  der  Tuberkulose  zu  tun  habe,  ausführlich 
eingehen.  Nur  einen  Punkt,  den  Riehl  als  besonders  ausschlaggebend 
hinstellt,  will  ich  hier  besprechen.  Riehl  faßt  den  Liehen  scrofu- 
losorum als  eine  Erkrankung  schlecht  genährter  Indi- 
viduen auf  und  behauptet,  daß  das  Auftreten  eines  Liehen  scrofulosorum 
nach  Tuberkulininjektionen  mit  der  Tatsache  zusammenfalle,  daß  die 
Tuberkulininjektion  und  -Reaktion  das  Allgemeinbefinden  verschlechtert 
und  so  einen  günstigen  Boden  für  die  Licheneruption  schaffe.     Mir  ist 

1)  Mir  scheint,  daß  mau  über  die  Auffassung  des  Verfassers,  man 
könne  für  die  Pathogenese  der  einzelnen  Fälle  von  Liehen  scrofulosorum 
verschiedene  Erklärungen  annehmen,  noch  hinausgehen  muß.  Ich  meine^ 
nicht  die  Fälle  sind  verschieden  zu  beurteilen,  sondern  innerhalb 
jedes  einzelnen  Falles  resp.  innerhalb  jeder  einzelnen 
Eruption  sind  für  die  einzelnen  Effloreszenzen  verschiedene 
Erklärungsmöglichkeiten  anzunehmen,  und  zwar  in  folgender 
Weise:  Das  Oros  der  Knötchen  entsteht  durch  Einwirkung  toxischer 
Bubstanzen,  welche  vielleicht  durch  die  Talgdrüsen  zur  Ausscheidung  ge- 
langen, jedenfalls  mit  dem  Follikelapparat  in  nähere  Verbindung  treten. 
Hin  und  wieder  aber  werden  von  dem  in  allen  Fällen  vorhandenen,  gleich- 
sam  pi-imären  tuberkulösen  Herd,  der  irgendwo  im  Körper  sitzt,  auch 
Tuberkelbacillen  verschleppt;  daher  die  von  einzelnen  Autoren  ge- 
machten Bacillenbefunde.  Gewöhnlich  sind  diese  Bacillen  nicht  mehr 
lebend  und  vermehrungsfähig.  Nur  höchst  selten  und  vereinzelt  kommen 
lebende  Bacillen  in  die  Haut,  und  daher  erklärt  sich  der  ungemein  benigne 
und  therapeutisch  verhältnismäßig  leicht  beeinflußbare  Verlauf  der  Haut- 
eruption. Gelangen  aber  lebende  Tuberkelbacillen  gleichsam  als  Embolien 
in  die  Haut,  so  kommt  es  zu  richtiger  örtlicher,  bacillärer  Tuberkulose^ 
ein,  wie  gesagt,  zwar  seltener,  aber  doch  festgestellter  Befund.  Acceptiert 
man  diese  Hypothese,  so  verschwinden  die  Widersprüche,  welche  zwischen 
den  einzelnen  in  der  Literatur  niedergelegten  Beobachtungen  bestehen 
und  klären  sich  auf  als  nebeneinander  hergehende,  sehr  wohl  mit- 
einander vereinbare  Tatsachen.  A.  Neissbr. 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         679 

es  nicht  verständlich,  wie  Riehl  die  Verschlechterung  des  Allgemein- 
befindens mit  dem  mehrere  Stunden  nach  der  Injektion  des  Alt- 
tuberkulins  auftretendem  Liehen  scrofulosorum  in  Einklang  bringen 
will.  Wären  tatsächlich  die  nach  Alttuberkulininjektion  auftretende 
Liehen  scrofulosorum-Eruptionen  auf  eine  durch  das  Tuberkulin  herbei- 
geführte Verschlechterung  des  Allgemeinbefindens  zurückzuführen,  so 
müßte  man  doch  zum  mindesten  erwarten,  daß  in  der  Regel  nach  Alt- 
tuberkulin  eine  Verschlechterung  des  Allgemeinbefindens  eintrete,  und 
das  ist  durchaus  nicht  der  Fall.  Zweitens  müßte  man  erwarten,  da  ja 
nach  RiBHLs  Ansicht  der  Liehen  scrofulosorum  keine  direkte  Reaktion 
auf  diese  Alttuberkulininjektion  darstellt,  daß  das  Aufschießen  des 
Liehen  scrofulosorum  sich  nicht  so  streng  an  die  Reaktionszeit  der  Tu- 
berkulininjektion  knüpfen  werde.  Aber  dies  ist  tatsächlich  in  so  deut- 
licher Weise  und  mit  solcher  Regelmäßigkeit  der  Fall,  daß  schon  damit 
diese  Stütze  der  RiEHLschen  Anschauung  fallen  muß.  Wir  müssen 
ferner  hinzufügen,  daß  wir  bei  unseren  Liehen  scrofulosorum-Kranken 
zwar  regelmäßig  eine  Tuberkulose,  aber  nur  in  relativ  seltenen  Fällen, 
nämlich  wo  eben  die  Tuberkulose  eine  hochgradige  war,  ein  wirklieh 
verschlechtertes  Allgemeinbefinden  beobachtet  haben. 

Als  interessante  Analogie  mit  einer  ganzen  Reihe  von  Beobach- 
tungen die  den  Lupus  vulgaris  disseminatus  betreffen,  ist  von  einigen 
Autoren  das  Auftreten  des  Liehen  scrofulosorum  im  Anschluß  an 
Masern  besehrieben  worden  (Combt,  Haushalter,  Hudelo  und 
Herenschmidt). 

II.  Acne  scrofalosorum. 

Weniger  bekannt  als  der  Lichenscrofulosorumistdie  vor  allem 
von  englischen  Autoren  als  Acne  scroflilosoiiim  beschriebene  Affektion. 
Eingeführt  wurde  diese  Bezeichnung  von  Radcliff  Crogker,  der  auf 
dem  IL  internationalen  Dermatologenkongresse  in  Wien  1893  drei  Fälle 
dieser  Art  besehrieb.  In  ausführlicher  Weise  berichtete  3  Jahre  später 
CoLCOTT  Fox  über  diese  Affektion : 

„Es  handelt  sich  um  eine  der  Kindheit  eigene  Erkrankung,  bestehend 
aus  nicht  gruppierten,  spärlich  disseminierten  papulo-pustulösen  oder  aknei- 
formen  Effloreszenzen.  Diese  entstehen  auf  den  Extremitäten,  speziell  deren 
Außenseiten,  vor  allem  anf  den  Beinen.  Hauptsächlich  und  besonders 
reichlich  sind  sie  lokalisiert  auf  der  Haut  der  GesäBgegend  und  der  sich 
an  diese  nach  unten  anschließenden  Partien.  Die  Effloreszenzen  erscheinen 
chronisch  oder  subakut.  Sie  beginnen  als  anfänglich  zugespitzte,  um  einen 
Haarfollikel  gruppierte,  von  einem  entzündlichen  Hof  umgebene  Papeln. 
Diese  werden  sehr  bald  flacher  und  unregelmäßig  begrenzt;  in  diesem 
Stadium  zeigen  sie  eine  große  Aehnlichkeit  mit  den  Lichen-Ruber-Knötchen. 
Bald  tritt  eine  kleine  zentrale  Pustel  auf,  die  zu  einer  Borke  eintrocknet. 
Nach  dem  Abfallen  dieser  Borke  heilen  sie  mit  einem  ^igmentrest  oder 
einer  flachen  Narbe  ab/^ 

44* 


682  Fritz  Juliusberg, 

zahlreiche  rotbraune,  hanfkorn-  bis  linsengrofie  Papeln,  die  an  ihrer 
Spitze  eine  dellige  Narbe  zeigen.  Daneben  finden  sich  speziell  auf 
den  Labien  auch  größere,  bis  erbsengroße,  scharf  umschriebene,  leicht 
deprimierte  Narben,  die  teilweise  ein  mattbrauner  Pigmentsaum  umgibt. 
Am  ganzen  Bücken  und  am  Bauche  findet  sich  ein  größtenteils  aggregiertes 
Exanthem,  bestehend  aus  Stecknadelkopf-  bis  linsengroßen  rotbraunen 
Papeln.  Nach  2  Wochen  sind  auch  die  Beste  der  Pusteb  mit  Narben 
geheilt,  und  das  Exanthem  am  Stamme  beginnt  etwas  undeutlicher  zu 
werden. 

Das  klinische  Bild  unserer  Fälle  zeigt  sowohl  in  der  Lokali- 
sation wie  in  der  Entwickelung  der  Einzelelemente  eine  so  weitgehende 
Uebereinstimmung  mit  den  oben  angefahrten  Fällen  der  englischen 
Autoren,  daß  wir  in  beiden  Fällen  wohl  mit  Sicherheit  annehmen  dürfen, 
es  mit  typischen  Beispielen  der  sogenannten  „Acne  scrofulosorum" 
zu  tun  haben. 

Es  liegt  nahe,  besonders  mit  Bttcksicht,  daß  ein  sicherer  Liehen 
scrofulosorum  teilweise  bei  den  früher  beschriebenen  Fällen  und  auch 
bei  unseren  beiden  das  Krankh(^itsbild  komplizierte,  anzunehmen,  daß 
die  Acne  scrofulosorum  nur  einen  durch  irgend  welche 
sekundäre  Ursachen  variierten  Liehen  scrofulosorum 
darstellt,  zumal  da  bei  dieser  Affektion  auch  vereinzelte  Effiore- 
szenzen  besonders  an  den  unteren  Körperpartien  sich  mit  einem  Ent- 
zündungshof umgeben  können  und  auch  narbige  Abheilung  nach  vor- 
hergehender Pustulation  vorkommen  kann.  Auch  das  mikroskopische 
Bild  zeigt  speziell  in  den  Coriumveränderungen  keine  Differenzen  gegen 
die  beim  Liehen  scrofulosorum  erhobenen  Befunde,  nur  die  Verände- 
rungen im  Epithel  komplizieren  scheinbar  als  etwas  Sekundäres,  Acciden- 
telles,  das  reine  Bild  des  Liehen  scrofulosorum. 

Eigentümlich  unseren  beiden  Fällen,  wie  einer  Beihe  der  eng- 
lischen, die  kein  Liehen  scrofulosorum  komplizierte,  ist  einerseits 
die  Lokalisation  der  Affektion,  andererseits  die  Be gel m  äßig- 
keit,  mit  der  die  Einzeleffloreszenz  ihre  Entwickelung 
zur  Pustulation  und  zur  narbigen  Abheilung  durchmacht. 
Sicherlich  liegen  darin  gewisse  Differenzen  gegenüber  dem  Liehen 
scrofulosorum,  aber  sie  genügen  wohl  kaum,  hieraus  ein  Krankheits- 
bild sui  generis  zu  machen;  vielmehr  sehen  wir  die  Acne  scrofu- 
losorum als  eine  Abart  des  Liehen  scrofulosorum  an,  die 
allerdings  auch  isoliert  nicht  kompliziert  mit  dem  Liehen 
scrofulosorum  in  seiner  gewöhnlichen  Form  vorkom- 
men kann  und  nur  in  dieser  Auffassung  acceptieren  wir 
die  Bezeichnung  der  Acne  scrofulosorum. 

Worauf  die  Tendenz  der  Einzeleffloreszenz  zur  regelmäßigen  Pustu- 
lation beruht,  ist  schwer  zu  beweisen.  In  erster  Linie  ist  natürlich 
daran  zu  denken,  daß  Bakterien  dabei  eine  Bolle  spielen  können.  Ich 
konnte  allerdings  in   meinen  mikroskopischen  Präparaten  keine  Mikro- 


Ueber  ,, Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         683 

Organismen  finden,  aber  Bettmann,  der  in  pustulierenden  Efflore- 
szenzen  des  Liehen  scrofulosorum  Kokken  im  Eiterinhalt  nachwies, 
glaubt,  daß  diese  die  Ursache  der  Vereiterung  seien.  In  der  Tat  scheint 
mir  diese  Auffassung  am  naheliegendsten  zu  sein,  besonders  bei  der 
Acne  scrofulosorum ,  wo  die  Vereiterung  der  Effloreszenzen  sich  ja 
immer  auf  einem  umschriebenen,  offenbar  gerade  durch  Kokken  in- 
fiziertem Terrain  abspielt. 

Einen  prinzipiellen  Gegensatz  können  wir  also  in  klinischer 
Beziehung  zwischen  dem  Liehen  und  der  Acne  scrofu- 
losorum nicht  finden;  wir  geben  demnach  der  Zusammen- 
gehörigkeit dieser  beiden  Formen  auch  in  ätiologischer  Beziehung  in- 
sofern Ausdruck,  als  wir  beide  als  Tuberkulosen  benigner 
Natur  auffassen  müssen,  wobei  wir  entsprechend  den  Experimenten 
Klingmüllers  die  Frage  offen  lassen,  in  welchem  Prozentsatz  der 
Fälle  die  Tuberkelbacillen  selbst,  in  welchem  deren  Toxine  die  Einzel- 
effloreszenzen  hervorrufen.  So  bedeutungsvoll  diese  letzte 
Frage  in  wissenschaftlicher  Beziehung  ist,  so  ist  doch  die 
Frage  der  klinischen  Bedeutung  dieser  Feststellung  natür- 
lich dieselbe,  denn  wenn  auch  beide  Affektionen  relativ  harm- 
lose Prozesse  darstellen,  so  verdienen  sie  doch  als  leicht  fest- 
stellbare wertvolle  Hinweise  auf  ein  inneres  tuberku- 
löses Leiden,  wohl  stets  chronischer  Natur,  die  größte 
Aufmerksamkeit. 

IIL  Tuberkulide  mit  zentraler  Nekrose. 

Lupus  erythematosus  disseminatus  Boeck  »»  Folliclis 

Barth^lemy. 

Wenn  auch  die  einzelnen  Effloreszenzen  der  Acne  scrofulosorum 
in  einem  gewissen  Stadium  —  wo  das  tuberkulöse  Infiltrat  im  Zentrum 
von  einer  kleinen  Pustel  gekrönt  wird  —  sehr  an  ein  gewisses  Stadium 
der  in  diesem  Abschnitt  zu  behandelnden  Form  erinnern,  so  unter- 
scheidet sich  doch  diese  Gruppe  in  vieler  Beziehung,  sowohl  im 
äußeren  Aussehen  wie  im  histologischen  Bilde  ganz  wesent- 
lich von  der  vorigen  Gruppe  und  das,  wie  ich  eben  andeutete, 
in  einem  gewissen  Stadium  klinisch  etwas  ähnliche  Bild 
erweist  sich  doch  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung 
als  in  jeder  Beziehung  different 

Den  Typus  dieser  Gruppe  stellt  der  Lupus  erythematosus 
Boecks  dar,  der  klinisch  in  folgender  Weise  sich  entwickelt  und  dar- 
stellt : 

In  der  Begel  mit  Beginn  in  der  kalten  Jahreszeit  treten  auf  den 
Streckseiten  der  Extremitäten,  besonders  am  Ellbogen,  am  Ulnarrande  der 
Unterarme,  auf  dem  Bücken  der  Finger  und  am  Bande  der  Ohrmuscheln 
teils   subkutan ,    teils    intrakutan   gelegene   Knötchen    auf,   die  unter   all- 


684  Fritz  Juliusberg, 

mählicher  Größenzunahme  allmählich  an  die  Oberfläche  rücken;  dort  be- 
ginnt das  Zentrum  des  Knötchens,  eine  kleine  grau  durchschimmernde 
Verfärbung  anzunehmen,  so  daß  es  den  Anschein  hat,  als  ob  ganz  ober- 
flächlich unter  dem  Epithel  eine  Pustel  oder  ein  Bläschen  bestände.  Doch 
ist  dies  nicht  der  Fall,  denn  beim  Anstechen  entleert  sich  weder  Eiter 
noch  eine  Flüssigkeit,  sondern  eine  etwas  kleberige  Masse.  Allmählich 
trocknet  diese  Masse  zu  einer  Kruste  ein,  diese  fUlt  ab  und  das  kleine, 
scharf  umschriebene,  tiefe  Geschwür  heilt  zu  einer  deprimierten,  von  einem 
Pigmentsaum  umgebenen  Narbe  ab.  Das  ist  der  typische  Gang  der  Einzel- 
effloreszenz,  der  sich  besonders  deutlich  an  den  Stellen  mit  verschieblicher 
Haut,  also  am  Unterarme  verfolgen  läßt.  Die  Entwicklung  der  Einzel- 
e^oreszenz  nimmt  14  Tage  bis  6  Wochen  in  Anspruch.  Die  Efflore- 
szenzen  treten  schubweise,  oft  in  großer  Anzahl  auf  und  wiederholen 
sich  gewöhnlich  mehrere  Jahre  durch  in  gleicher  Weise. 

Wir  sehen  also,  daß  im  wesentlichen  zwei  Charakteristika 
dem  Krankheitsbilde  zukommen:  1)  Die  Lokalisation  an  den 
Streckseiten  der  Extremitäten  und  am  Rande  der  Ohr- 
muschel. 2)  Der  klinische  Verlauf  der  Einzelefflore- 
szenzen,  die  nur  selten  ehe  es  zur  Ulceration  kommt^ 
resorbiert  werden,  in  der  Regel  aber  mit  Hinterlassung 
einer  kleinen  runden,  scharf  umschriebenen,  leicht 
deprimierten  Narbe  abheilen.  Fälle  dieser  Art  sind  in  größter 
Anzahl  von  Boeck  und  Barthelmt,  vereinzelt  in  einer  ganzen  An- 
zahl von  Publikationen,  bald  unter  der  Bezeichnung  Boecks,  bald 
unter  der  Bezeichnung  Folliclis  (Barth£lmy),  bald  unter  einer 
anderen,  meist  lediglich  deskriptiven  Bezeichnung  (eine  große  Anzahl 
Fälle  aus  der  französischen  Literatur)  veröflFentlicht  worden.  Ich  ver- 
zichte darauf,  die  sehr  reiche  Nomenklatur  für  die  AfFektion,  die  speziell 
durch  BoEGK  und  Toüton  gesichtet  worden  ist,  hier  noch  einmal  zu 
wiederholen  und  verweise  auf  das  am  Schlüsse  der  Arbeit  angefügte 
Literaturverzeichnis.  Indem  ich  mich  bei  der  Beurteilung  unserer 
eigenen  Fälle  an  die  oben  erwähnten  Charakteristika  des  Krankheits- 
bildes hielt,  bin  ich  in  der  Lage,  aus  eigener  Beobachtung  (aus  der 
Breslauer  Klinik)  folgende  Fälle  als  hierher  gehörig  anzuführen  (nur 
der  Fall  9  entstammt  meiner  Privatpraxis). 

Fall  3:  Vorgestellt  auf  dem  dermatologischen  Kongreß  der  Deutschen 
Gesellschaft  Die  zur  Zeit  26-jährige  Verkäuferin  Seh.  stammt  aus  be- 
züglich Tuberkulose  nicht  belasteter  Familie ;  sie  selbst  war  angeblich 
stets  gesund.  Mit  18  Jahren  hat  sie  sich  beide  Hände  er- 
froren; seitdem  zeigen  die  Hände  im  Winter  eine  bläuliche  Ver- 
f^bung  und  deutliche  Schwellung.  Im  Jahre  189  7  trat  eine  große 
multiple  Drüsen  Schwellung  links  am  Halse,  zwischen  Hals  und  Schulter 
auf.  Diese  Anschwellung  ist  angeblich  nach  Gebrauch  einer  inneren 
Medizin  bedeutend  zurückgegangen.  Die  Größe  der  Halsdrüse  wechselte 
seit  dieser  Zeit.  Anfang  August  1900  konnten  wir  neben  mehreren 
kleineren  beiderseitigen  Cervikaldrüsen  rechts  eine  haselnußgroße,  links 
eine  walnußgroße  Drüse    deutlich    fühlen.     Irgend    welche    spontane    oder 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         685 

Dmckempfindlichkeit  weisen  diese  Drüsen  nicht  auf.  Im  Laufe  des 
Monats  nahm  die  Größe  der  Drüsen  bedeutend  ab,  so  daß  Ende  August 
die  größte,  links  gelegene  Drüse  halb  baselnußgroß,  die  kleinste,  rechts 
gelegene  doppolt  erbsengroß  erschien. 

Die  Hauterkrankung  begann  im  August  1897,  also  kurz  nach  dem 
Auftreten  der  Drüsenschwellung  am  Halse.  Es  traten  auf 
beiden  Händen  und  Ellenbogen  Knötchen  auf,  die  bald  zurückgingen; 
nach  einiger  Zeit  vermehrten  sich  dieselben  wieder. 

Am  10.  Jan.  189  8  wurde  von  dem  damaligen  Assistenzarzt  Dr.  F. 
PiNKUs  folgender  Befund  erhoben: 

Großes,  gut  genährtes,  kräftig  gebautes  Fräulein  von  etwas  anämischem 
Aussehen. 

Auf  der  Stirn  vereinzelte  rötliche  Flecken.  Bindehaut  sehr  blcdS. 
Die  Lidränder  etwas  (skrofulös)  verdickt  und  gerötet.  An  der  Oberlippe 
zwei  kleine  weiche  Warzen.  Schleimhäute  des  Mundes  blaß,  Tonsillen 
etwas  hypertrophisch. 

Auf  dem  Halse,  besonders  an  den  Nacken partien,  mehrere  diffus  zer- 
streute erythematöse  Flecken.  An  den  Ohren,  deren  Muscheln  an- 
geblich im  Winter  vor  3  Jahren  erfroren  waren,  finden  sich  am 
Ohrrande  beiderseits  mehrere  leicht  squamöse  und  einige  krustöse  Belege, 
darunter  einige  gelb- bräunliche,  ziemlich  derb  infiltrierte  Knötchen.  Auf 
den  Ellenbogen  finden  sich  beiderseits,  links  deutlicher  als  rechts,  5 — 10 
leicht  gerötete,  teilweise  gelb-bräunlich  verfllrbte,  mit  der  Cutis  verschieb- 
liche, erbsengroße  Infiltrate,  oberflächlich  leicht  desquamiert.  Die  Hand- 
rücken zeigen  beiderseits  dasselbe  Aussehen:  über  dem  Metakarpopha- 
langealgelenk  und  den  Gelenken  über  der  Basis  und  der  zweiten  Phalange 
ziemlich  derbe,  erhabene,  knötchenartige  Effloreszenzen,  von  denen  einige 
zentral  etwas  vertieft  und  mit  leichten  Krusten  bedeckt  sind.  (Patientin 
hatte  die  Knoten  angestochen,  worauf  sich  etwas  Flüssigkeit?  entleerte.) 
Die  größten,  meist  länglich-ovalen  Stellen  haben  ein  gelb-weißes  Zentrum 
mit  einer  leicht  rötlichen  Peripherie,  die  gleichfalls  etwas  infiltriert  ist 
und  sich  allmählich  in  die  Umgebung  verliert.  Neben  den  Knötchen  über 
dem  Gelenk  finden  sich  noch  einige  wenige  knötchenfbrmige  Effloreszenzen 
auf  der  Dorsalseite  der  Metacarpi  und  Phalangen  beiderseits,  an  der 
Grundphalange ;  an  der  Außenseite  beider  kleiner  Finger  je  ein  längliches, 
fibromartiges  Wärzchen.  (Patientin  gibt  an,  sie  sei  mit  6  Fingern  beider- 
seits geboren  und  dies  die  Reste  einer  im  ersten  Lebensjahre  vorge- 
nommenen Operation.)  —  Ueber  dem  linken  Knie  mehrere  erbsengroße 
Knötchen  von  ähnlichem  Aussehen  wie  an  der  Hand;  auf  dem  rechten 
Knie  nur  einzelne  rötliche  Flecken. 

19.  Jan.  Es  sind  auf  dem  Handrücken  8  neue  Knötchen  vor- 
gekommen; die  einzelnen  früheren  Knötchen  sind  etwas  größer  ge- 
worden —  an  einer  ganzen  Anzahl  derselben  ist  eine  zentrale  Delle  ent- 
standen. 

1.  Febr.  Die  meisten  Knötchen  an  der  Hand  haben  eine  krusten- 
tragende Delle  in  ihrer  Mitte;  an  3  Knoten  an  den  Ellenbogen  große 
zentrale  Kerbkrusten. 

13.  Febr.  Aus  allen  Knötchen  der  Hände  hat  sich  unter  Bedeckung 
mit  Kollodium  Eiter  gezeigt. 

7.  März.  Alle  Knoten  haben  sich  abgeflacht.  Auf  der  Basalphalange 
des  linken  Ringfingers  deutliche  Narben  in  gesunder  Haut;  überall  an 
den  Knötchenresten  tiefe  Defekte. 

Mitte  April  bis  Anfang  August:    nur  vereinzelte  neue  Effloreszenzen. 


686  Fritz  Juliu8berg, 

Vom  August  ab  bedeutende  Verschlimmerung  der  Aifektion  durch  Auf- 
treten zahlreicher  neuer  Knötchen. 

Status  vom  21.  Okt.  1898:  Bei  der  heutigen  kühlen  Witte- 
rung beide  Hände  im  ganzen  geschwellter  und  bläulich- 
röter  als  sonst.  Die  allerfeinsten  und  frischesten  Effloreszenzen  stellen 
stecknadelkopfgroße  Erhebungen  dar,  bläulich-rot,  beim  Tasten  derb 
elastisch  und  überall  sieht  man  in  der  Mitte  eine  weißliche  Verfärbung, 
als  wenn  in  der  Tiefe  ein  kleines  Bläschen  säße.  Bisweilen  erkennt  man 
noch  außerdem  einen  dunkleren,  schwärzlich-blauen  Herd  in  der  Tiefe, 
mitten  in  dem  blassen,  weißlichen,  bläschenartigen  Bezirk.  Bei  Olasdmck 
markiert  sich  diese  dunklere  Verfärbung  als  ein  aus  rötlichen  Pünktchen 
zusammengesetzter  Fleck,  während  an  den  übrigen  Stellen  bei  Glasdruck 
eine  ganz  gleichmäßige  weißliche  Verfärbung  eintritt.  An  einigen  älteren 
Knötchen  ist  diese  zentrale  dunkle  Partie  zu  einer  ganz  kleinen,  krasten- 
artigen,  eingezogenen  Masse  eingetrocknet.  Die  Qröße  der  Einzelherde 
schwankt  von  Stecknadelkopf-  bis  Linsengröße;  manche  stehen  dicht  bei- 
einander, aber  doch  so,  daß  man  die  Einzeleffloreszenzen  erkennen  kann. 
Nur  an  der  ersten  Phalanx  des  linken  Zeigefingers  findet  sich  ein  etwa 
nadelkopfgroßer ,  blauverf&rbter ,  erhabener  Fleck.  Auch  dieser  scheint 
aus  einzelnen,  ursprünglich  isolierten  Stellen  zusammengesetzt  zu  sein. 
Auf  der  linken  Hand  ist  außer  der  Streckseite  der  ersten  Phalanx  nur 
die  Gegend  der  Gelenke  befallen.  Auf  der  rechten  Hand  ist  die  Affektion 
reichlicher  und  auch  auf  der  zweiten  Phalanx  finden  sich  einzelne  Knötchen. 

Viel  spärlichere  Eruption  an  den  Streckseiten  beider  Kniee,  beiden 
Ellenbogen  und  an  beiden  Ohrrändem. 

Im  Winter  1898/99  und  im  Winter  1899/1900  hatte  die 
Patientin  zahlreiche  neue  Schübe.  Sie  stellte  sich  erst  im  Oktober  1900 
wieder  vor  und  wies,  nachdem  sie  einige  Zeit  Buhe  gehabt  hatte,  wieder 
einige  neue  Effloreszenzen  auf.  Am  Halse  konnte  man  links  eine  über 
haselnußgroße,  rechts  eine  haselnußgroße  Drüse  fahlen.  Es  wurde  ihr  eine 
reichliche  Milchdiät  verordnet  und  Schmierseifeeinreibungen  am  Rücken 
(zweimal  wöchentlich).  —  Im  Januar  1901  waren  am  Halse  links  zwei 
kleine  erbsengroße  Drüsen  zu  fühlen;  auf  der  rechten  Seite  war  überhaupt 
nichts  von  Drüsen  zu  palpieren. 

Fall  4.  24-jähr.  Dienstmädchen  W.  Beide  Eltern  an  Schwind- 
sucht gestorben,  ebenso  zwei  Geschwister  der  Patientin. 
Patientin  hat  im  6.  Jahre  einen  krustösen  Ausschlag  am  Körper  gehabt, 
der  nach  6- wöchentlicher  Krankenhausbehandlung  heilte.  Im  Alter 
von  10  Jahren  stellte  sich  linkerseits  eine  Kornealtr Übung  ein, 
die  durch  lokale  Kalomelbehandlung  gebessert  wurde.  Mit  17  Jahren 
bekam  Patientin  Husten  und  Seitenstechen  und  mußte  14  Tage 
wegen  einer  rechtsseitigen  Brustfellentzündung  zu  Bett  bleiben. 
Vor  3  Wochen  traten  wieder  Husten  und  Seitenstechen  links  auf,  worauf 
Patientin  die  medizinische  Klinik  aufsuchte.  Dort  wurde  die  Diagnose 
auf  SpitzenkatArrh  und  Pleuritis  gestellt. 

Die  bestehende  Hautaffektion  begann  vor  4  Jahren,  zuerst  an  den 
Händen,  in  Form  bis  erbsengroßer,  rotbläulicher,  zunächst  tiefgelegener 
Knoten.  Die  Knoten  nekrotisierten  dann  im  Zentrum,  nachdem  eine  kleine 
Pustel  aufgetreten  war,  welche  sich  in  ein  kleines  Krüstchen  umwandelte. 
Im  Anschluß  daran  heilte  die  Effioreszenz  unter  Bildung  bläulich-rötlicher 
Narben  resp.  Atrophien  ab.  Im  Laufe  der  nächsten  Jahre  traten  neue 
Knoten  an  den  Rändern  der  Ohrmuschel,  auf  der  Streckseite  der  Vorder- 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         68T 

arme,  den  Ellenbogen  und  Knieen  auf.  An  den  Händen  beschränkte  sich 
die  Affektion  auf  die  Streckseite.  Die  Knoten  an  denH&nden  und 
an  den  Ohren  traten  vornehmlich  in  der  kälteren  Jahres- 
zeit auf. 

Status  vom  7.  Juni  1899:  Ziemlich  kräftige,  wohlgenährte,  gesund 
aussehende  Patientin  von  normalem  Knochenbau  und  mäßig  entwickeltem 
Fettpolster. 

Am  Halse  vereinzelte,  bis  walnußgroße,  indolente  Drüsenpakete. 

Ueber  beiden  Lungenspitzen  etwas  trockenes  Rasseln, 
sonst  überall  vesikuläres  Atmen;  sonstige  Organe  normal. 

Haut:  Beide  Handiücken,  besonders  der  rechte,  im  ganzen  bläulich- 
rötlich verfärbt;  ziemlich  reichlich  auf  dem  Rücken  der  Finger  und  Hände, 
nur  vereinzelt  auf  den  Daumenballen,  stecknadelkopfgroße,  bläulich- 
rötliche Knoten.  Dieselben  lassen  sich  gut  abgrenzen,  sind  von  derber 
Konsistenz  und  liegen  teils  in  der  Cutis,  teils  im  subkutanen  Fettgewebe. 
Ein  Teil  der  größeren  Knötchen  ist  in  der  Mitte  mit  kleineren  Schüpp- 
chen bedeckt,  oder  trägt  im  Zentrum  eine  kleine,  trockene  Nekrose  in 
Gestalt  kleiner,  ziemlich  in  die  Tiefe  reichender  Pfröpfchen,  oder  eine 
ganz  kleine  Pustel.  Dazwischen  finden  sich  scharf  umschriebene,  weißlich- 
gräuliche bis  bläuliche  Närbchen  von  Stecknadel kopfgröße,  umgeben  von 
einem  leicht  infiltrierten,  rotblauen  Wall. 

Ganz  ähnliche  Knoten  finden  sich  an  beiden  Unterarmen,  sowohl 
frische  wie  narbg  verheilte;  hier  sitzen  sie  vor  allem  am  (Jlnarrande, 
wo  sie,  streifenförmig  angeordnet,  sich  von  der  Handwurzel  bis  zum  Ellen- 
bogen hinziehen.  Auf  beiden  Ellenbogen  und  über  beiden  Knieen  je  eine 
Gruppe  teils  frischer,  teils  abgeheilter  Effioreszenzen.  Die  Ohrmuscheln 
sind  im  ganzen  bläulich-rot  verfärbt  und  teilweise  mit  kleinen  weißlichen, 
fest  anhaftenden  Schüppchen  bedeckt.  Der  Rand  sieht  durch  eine  Anzahl 
tiefer,  narbiger  Einziehungen  wie  zerfressen  aus.  Diese  Einziehungen 
erweisen  sich  als  tiefe,  eingekerbte  Narben;  dazwischen  findet  sich  eine 
ganze  Reihe  frischer  Knötchen.  Auf  den  Wangen  beiderseits  eine  etwa 
talergroße,  diffus  bläulich-rötlich  verfärbte,  leicht  infiltrierte  Partie,  in 
deren  Bereich  sich  Knötchen  wie  an  den  Händen  finden. 

24.  Aug.  Auf  dem  linken  Ellenbogen  sind  4,  auf  dem  rechten  eine 
neue  Effioreszeuz  aufgetreten.  Dieselben  haben  Fünfpfennigstückgröfie  und 
stellen  derbe,  in  die  Haut  eingebettete  Infiltrate  dar,  über  denen  die  Haut- 
felderung  besonders  deutlich  hervortritt.  Die  alten  Infiltrate  sind  etwas 
abgefiacht. 

10.  Nov.  Die  früher  befallenen  Stellen  sind  im  ganzen  wenig  ver- 
ändert, einzelne  Infiltrate  an  der  rechten  Hand  haben  sich  abgeflacht.  Am 
linken  Ohrmuschelrande  sind  drei  neue  Ulcerationen  aufgetreten;  neue 
Knötchen,  gleich  den  früher  beobachteten  derb  infiltriert,  bläulich  ver- 
ftrbt,  am  Zeigefinger  der  rechten  und  am  4.  Finger  der  linken  Hand; 
sie  sind  an  der  Oberfläche  leicht  erodiert.  Ebenso  am  Knie,  unter- 
halb der  Patella ,  3  neue  Knötchen ;  an  den  Unterarmen  pind  teils 
neue,  frische  Effloreszenzen,  teils  eine  Vermehrung  der  Narben  zu  kon- 
statieren. 

20.  Febr.  1900.  Am  Ulnarrande  beiderseits  einige  neue,  teils  kutane, 
teils  subkutane  und  unter  der  Haut  gut  verschiebliche,  scharf  abgegrenzte, 
hanfkorn-  bis  linsengroße  Knötchen.  Ueber  einzelnen  der  in  der  Cutis 
gelegenen  Tumoren  ist  die  Haut  leicht  gerötet  und  diese  letzteren  kann 
man  schon  mit  dem  Auge  als  flache  Papeln  erkennen.  Auf  dem  rechten 
Unterarm  am  Ulnarrande  zwei  kraterförmige,  tiefe,  im  Zentrum  ulcerierte 


688  Fritz  Juliusberg, 

Knötchen.     Eine  Anzahl   frischer  Knötchen    auf  dem  Hucken    der   Hände 
und  Finger. 

Fall  5:  ly^-jähr.  Mädchen,  Vater  an  Lungentuberkulose 
gestorben;  sonstige  anamnestische  Daten  können  nicht  angegeben  werden. 

Status  vom  22.  März  1901 :  Lunge  normal,  Milz  und  Leber  etwas 
vergröüert;  am  rechten  Auge  eine  in  Abheilung  begriffene  Conjunc- 
tivitis phlyctaenularis,  daneben  leichte  Injektion. 

Haut :  Auf  der  rechten  Wange  eine  linsengroße  und  eine  erbsengroße, 
leicht  gerötete,  kreisrunde,  etwas  deprimierte  Narbe ;  einige  hanfkorngroße, 
leicht  atrophische  Hautstellen;  eine  leicht  gerötete,  strichfbrmige  Atrophie 
am  Rande  der  rechten  Ohrmuschel. 

Eeohter  Arm:  Auf  der  Beugeseite  des  Oberarmes,  etwa  2  cm  über 
dem  Ellenbogen,  eine  ovaläre,  Y,  ^^  ^A^g^»  etwa  8  mm  breite,  sehr  fiache 
Narbe  von  rosaroter  Farbe,  die  Umgebung  leicht  braun  pigmentiert  Auf 
dem  Unterai-m,  etwa  1  cm  unter  der  Ellenbeuge,  eine  etwas  größere  Narbe 
von  gleicher  Beschaffenheit;  in  der  Nähe  derselben  eine  kleinere  Narbe; 
eine  größere  Narbe  findet  sich  in  der  Mitte  der  Beugeseite  des  Unter- 
armes, durch  ihre  straffe  Beschaffenheit  deutlich  palpabel.  Ueber  dem 
Ellenbogen  und  an  der  Radialseite  des  Unterarmes  mehrere  über  erbsen- 
große Narben  mit  eleviertem  Rande ;  unter  diesen  Narben  läßt  sich  überall 
ein  über  erbsengroßer  Tumor  bis  in  das  subkutane  Gewebe  abtasten.  Mehrere 
kleinere,  knapp  linsengroße  Narben  am  Ulnarrande. 

Linker  Arm:  Besonders  am  Ulnarrande  einige  hanfkom-  bis  knapp 
linsengroße,  leicht  deprimierte  Narben,  die  einen  hellbraunroten  Farben  ton 
aufweisen. 

Am  Stamme,  besonders  an  den  Seitenteilen  des  Bauches,  findet  sich 
ein  Exanthem,  zusammengesetzt  aus  Gruppen  braunroter,  etwa  stecknadel- 
kopfgroßer und  noch  kleinerer  Knötchen.  Um  den  Nabel  etwa  15  depri- 
mierte, meist  kreisrunde  und  völlig  pigmentfreie  Narben;  nur  eine,  über 
erbsengroße  Narbe  zeigt  härtere,  etwas  keloidartige  Konsistenz  des  Narben- 
gewebes; auf  dem  Rücken  (ebenso  wie  auf  der  Streckseite  der  Oberarme) 
aaffallend  reichliches  Lanugohaar.  Auf  der  Glutäalhaut  beiderseits  einige 
leicht  atrophische,  runde,  fast  pigmentlose  Hautstellen. 

Rechtes  Bein:  Auf  dem  rechten  Oberschenkel  regellos  disseminierte, 
hanfkorn-  bis  linsengi'oße,  deprimierte  Narben.  Die  Umgebung  der  Narben 
ist  leicht  hy perpigmentiert.  Die  Narben  selbst  sind  mattrosa  ver&rbt 
Ueber  dem  rechten  Knie  eine  ovaläre,  etwa  ^/i  ^^  lang©?  V«  ^™  breite 
Hautstelle  von  glatter  Oberfläche  und  rosarotem  Farbenton,  scharf  gegen 
die  gesunde  Haut  abgegrenzt;  letztere  zeigt  in  der  Umgebung  eine  be- 
sonders deutliche  Hautfelderung  und  leicht  bräunliche  Ueberpigmentierung. 

Am  Unterschenkel  und  am  Fuß,  besonders  auf  der  Planta  pedis, 
Gruppen  kleinster,  brauner  Knötchen.  Auf  der  Planta  pedis  scheinen 
diese  kleinen,  stecknadelkopfgroßen  Knötchen  ziemlich  tief  eingebettet  zu 
sitzen;  sie  sind  von  kleinen  Hornfransen  umgeben. 

Linkes  Bein:  Ebenfalls  einige  narbige  Bildungen  wie  rechts,  nur  an 
Zahl  viel  geringer,  am  Unterschenkel  und  der  Fußsohle  dieselben  Knötchen- 
gruppen  wie  rechts. 

22.  März.  Injektion  von  Y^q^  mg  Alttuberkulin;  darauf 
weder  lokale  noch  allgemeine  Reaktion. 

26.  März.  7  Uhr  abends  Injektion  von  Y^q  ™g  Alttuber- 
kulin. 

27.  März.      Mittags     12     Uhr     beginnt     eine     allgemeine 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         689 

Reaktion.  Die  Temperatnr  erhebt  sich,  von  12  Uhr  schnell 
ansteigend,  bis  auf  38,2  um  2  Uhr,  um  dann  wieder  zu 
sinken.  Mit  dem  Einsetzen  der  allgemeinen  Beaktion  be- 
gann auch  die  lokale:  es  reagierten  sämtliche  erkrankte 
Partien,  auch  die  alten  Narben  zeigten  eine  schwache  Bö- 
tung. Besonders  deutlich  reagierte  eine  Stelle  am  rechten 
Unterarm:  um  die  gerötete  Narbe  zeigt  sich  ein  gegen  die 
gesunde  Haut  scharf  abgegrenzter,  entzündlicher  Hof. 
Ein  eigenartiges  Bild  bot  die  Beaktion  an  den  Fußsohlen: 
die  kleineren,  braunen,  durch  das  Epithel  durchschim- 
mernden Knötchen  wurden  glänzend,  zeigten  einen  frisch- 
roten, entzündlichen  Farbenton  und  schienen  besonders 
deutlichüber  die  im  allgemeinen  jetzt  rötlich  schimmernde 
Haut  hervorzuragen. 

Die  Oberlippe  war  in  toto  geschwollen.  Das  kleine 
papulöse  Exanthem  am  Körper  reagierte  in  deutlichster 
Weise;  beide  Ohrränder  zeigten  eine  deutliche  Bötung. 

Die  lokale  Reaktion  verlief  ebenso  rasch  wie  die  allgemeine;  schon 
um  3  Uhr  war  keine  Beaktion  mehr  zu  konstatieren. 

31.  März.  Injektion  von  V2  ing  Alttuberkulin;  leichte, 
allgemeine  Reaktion  bis  38^;  keine  deutliche  lokale 
Beaktion. 

5.  April.  Injektion  von  1  mg  Alttuberkulin:  allgemeine 
Beaiktion  bis  38,7;  keine  sichere  lokale  Beaktion. 

Fall  61).  Die  zur  Zeit  21-jähr.  Näherin  W.  stammt  aus  bezüg- 
lich Tuberkulose  nicht  belasteter  Familie.  Sie  selbst  gibt  an, 
als  Kind  an  „Skrofulöse"  gelitten  zu  haben  und  vor  einigen  Jahren 
blutarm  gewesen  zu  sein.  Die  bestehende  Affektion  begann  vor  etwa 
3  Wochen.  Es  traten  an  den  Armen  und  Händen  unter  der  Haut  ver- 
schiebliche kleine  Knötchen  auf;  diese  rückten  allmählich  an  die  Ober- 
fläche, so  daß  Erhebungen  sichtbar  wurden;  diese  Erhebungen  zeigten  im 
Zentrum  ein  kleines  Bläschen,  welches  sich  in  ein  Geschwür  verwandelte. 
Schließlich  heilte  das  Bläschen  mit  einer  deprimierten  Narbe. 

Status  vom  26.  Sept.  1901:  Das  kräftig  aussehende  junge  Mädchen 
zeigt  bis  auf  eine  leichte  Vergrößerung  der  Lymphdrüsen 
des  Halses  keine  auf  Tuberkulose  verdächtigen  Symptome. 

Am  Bande  der  rechten  Ohrmuschel  zwei  linsengroße,  deprimierte, 
leicht  bräunlich  pigmentierte  Narben.  Auf  der  Ulnarseite  des  rechten 
Unterarmes,  etwa  3  cm  unter  der  Ellen  beuge,  eine  braun  pigmentierte, 
etwas  deprimierte,  hanfkomgroße  Narbe,  scharf  umschrieben,  von  runder 
Form ;  daneben  eine  pigmentlose  Narbe  von  gleicher  Beschaffenheit.  Eben- 
falls auf  der  Ulnarseite,  etwa  der  Mitte  seiner  Länge  entsprechend,  fühlt 
man  unter  der  Haut  ein  leicht  verschiebliches,  etwa  hanfkorngroßes 
Knötchen  von  derber  Konsistenz.  Auf  der  letzten  Phalanx  des  Daumes 
zwei  linsengroße,  derbe  Papeln  von  wachsartigem  Glanz,  auf  ihrer  Spitze 
eine  etwa  stecknadelkopfgroße,  blauschwarz  verfärbte  Stelle.  Auf  der 
Ulnarseite  des  zweiten  Fingers,  entsprechend  dem  Gelenk,  zwischen  Meta- 
carpus  und  erster  Phalanx,  eine  linsengroße  Papel  von  gelblichroter  Farbe 


1)  Vorgestellt   in  der  Breslauer  dermatologischen  Vereinigung.    Conf. 
Archiv  f.  Dermatologie,  Bd.  60,  1902,  p.  143. 


690  Fritz  Juliusberg, 

und  derber  Konsistenz,  mit  einer  stecknadelkopfgrofien,  schwärzlich  ver- 
färbten Stelle  im  Zentrum ;  daneben  eine  kleine  rote  Hautstelle  von  etwas 
derberer  Konsistenz  als  die  übrige  Haut.  Auf  der  Ulnarseite  der  ersten 
Phalanx  des  3.  Fingers  eine  Papel  wie  am  zweiten.  Auf  der  Beuge- 
seite der  ersten  Phalanx  des  5.  Fingers  zwei  tiefe,  hanfkorngroße 
Nekrosen,  von  Krustenmasse  ausgefüllt.  In  der  Oelenkbeuge  zwischen  der 
ersten  und  zweiten  Phalanx  des  5.  Fingers  eine  linsengroüe  Papel 
von  gelblicher  Farbe  und  wachsartigem  Glanz,  im  Zentrum  giau  ver- 
färbt. 

An  der  Ulnarseite  des  linken  Oberarmes  finden  sich  3  Effloreszenzen : 
eine  rote,  sehr  flache,  knapp  linsengroße  Papel  mit  einer  stecknadelkopf- 
großen, von  einer  Kruste  ausgefüllten  Ulceration  im  Zentrum,  eine  ebenso 
große  gelbliche  Papel  von  derber  Konsistenz  mit  bräunlich  verfärbtem 
Zentrum,  eine  hanfkorngroße,  stark  braun  pigmentierte,  deprimierte  Narbe 
mit  braunrotem  Hof. 

lieber  den  Ellenbogen  teils  deprimierte  Narben,  teils  flache  Papeln 
mit  zentraler  Kruste;  auf  dem  Handrücken  eine  braune,  narbig  veränderte 
Hautstelle,  hanfkomgroß,  von  derber  Konsistenz,  mit  braun-rotem  Hof. 
Auf  der  ulnarseite  des  Daumens  eine  hanfkorngi-oße,  wie  eine  Pustel  aus- 
sehende Effloreszenz;  die  Pusteldecke  im  Zentrum  braun  verfärbt.  Auf 
der  Ulnarseite  des  3.  Fingers  ein  etwa  erbsengroßer,  derber  Knoten 
mit  zentraler  Einziehung;  auf  dem  rechten  Knie  etwa  20  leicht  depri- 
mierte, runde,  hanfkorngroße  Närbchen.  Letztere  rühren,  wie  Pat  angibt, 
davon  her,  daß  sie  sich  vor  einigen  Jahren  beim  Fall  eine  Anzahl  Nägel 
in  die  Haut  drückte. 

28.  Sept.  1901.  Injektion  von  1  mg  Alttuberkulin:  typische, 
allgemeine  Beaktion  mit  Temperatursteigerung  bis  39,3. 
Ein  Teil  der  Knötchen  zeigte  frisch  entzündliche  Böte  in 
der  Umgebung,  nicht  so  eklatant  wie  bei  Lupusknötchen, 
aber  doch  s  od  entlieh,  daß  man  von  einer  lokalenBeaktion 
sprechen  konnte;  zugleich  wurde  ein  sehr  ausgedehnter 
Liehen  scrofulosorum  am  Stamme  sichtbar. 

Fall  7.  25-jähr.  Mann,  hereditär  nicht  belastet.  Vor  einem  Jahr 
beim  Militär  akut  einsetzende  Pneumonie,  die  sich  aber  über  13  Wochen 
erstreckte,  mit  hohem  Fieber  (angeblich  keine  Pleurites).  Gleichzeitig  bil- 
deteo  sich  am  Halse  Drüsenschwellungen,  zum  Teil  mit  Fistel- 
bildung und  kurz  darauf  traten  eigentümliche  Entzün- 
dungsherde an  den  Beinen  auf,  ohne  Schmerzen,  ohne  ge- 
schwürigen Zerfall. 

Status  vom  19.  Nov.  1901:  Großer,  kräftiger  Pat.  Schleimhäute  von 
mittlerem  Blutgehalt.     Mund  und  Bachenhöhle  frei. 

Am  Hase  beiderseits,  bis  unterhalb  der  Ohren  sich  erstreckend, 
große  Drüsenpakete,  schon  von  weitem  sichtbar,  zum  Teil  mit 
der  Haut  verwachsen  und  hier  rote  Narbenzüge  bildend. 

Thorax  gewölbt,  nicht  ganz  symmetrisch,  vordere  Seite  schleppt 
bei  der  Atmung  deutlich,  vordere  Spitze  steht  perkutorisch  tiefer,  Lungen- 
grenze hinten  unten,  rechts  höher.  Perkutorisch  keine  sicheren  Schall- 
differenzen,  auskultatorisch  rechts  vorn  und  hinten  oben  verlängertes  und 
verschärftes  In-  und  Exspirium,  nach  Husten  einzelne  Basseigeräusche. 

Herz  und  Abdominalorgane  ohne  Besonderheiten. 

Im  Verlauf  des  Aufenthaltes  geringe  purulente  Bronchitis  mit  zeit- 
weiligen   typischen    Steigerungen.     An    beiden    Beinen,   bis   hinab  zu  den 


Ueber  „Taberkulide^'  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         691 

Fußrücken,  zahlreiche  typische  Folliclisnarben,  zum  größten  Teil  mit  einem 
peripheren  Pigmenthof. 

13.  Jan.  1902.  Y,  ^S  Alttuberkulin.  Beaktion  allgemein; 
Folliclisnarben  haben  nicht  reagiert. 

Rasselgeräusche  auf  der  rechten  Spitze  am  15.  Jan.  1902 
sehr  deutlich  geworden. 

Fall  8:  2-jähr.  Mädchen.  Conjunctivitis  phlyctaenulosa 
beider  Augen.  Vergrößerte  Cervikaldrüsen.  In  beiden  Bicipital- 
furchen  je  eine  etwa  erbsengroße  Cubitaldrüse. 

Ueber  dem  rechten  Ellenbogen  zwei  blaßbraunrote,  an  der  Spitze 
schuppende,  stecknadelkopfgroße  Knötchen.  Auf  der  ulnaren  Seite  des 
Unterarmes,  etwa  der  Mitte  seiner  Länge  entsprechend,  eine  ovaläre,  etwas 
deprimierte  Narbe,  Ueber  dem  linken  Ellenbogen  eine  rote,  scharf  um- 
schriebene, leicht  schuppende  Stelle.  An  der  ulnaren  Seite  des  linken 
Unterarmes,  ebenfalls  in  der  Mitte,  eine  rundliche,  hanfkomgroße,  depri- 
mierte Narbe.  Am  Abdomen  mehrere  leicht  schuppende  braunrote  bis 
gelbbiaune  Stellen  (Liehen  scrofulosorum ?).  Rechts  von  der  rechten  Mam- 
milla  eine  erbsengroße,  etwas  leicht  hypertrophische  blaurote  Narbe,  um- 
geben von  einem  braunroten  Hof.  Je  eine  hanfkomgroße  gute,  flache 
Narbe,  pigmentlos  und  von  einem  leicht  braunen  Hof  umgeben,  auf  der 
rechten  Bauchseite,  nahe  der  Medianlinie  und  auf  der  linken  Bauchseite 
nahe  der  Inguinalgegend.  4  gleiche  Narben  in  der  Sakralgegend.  Ueber 
dem  linken  Knie  eine  hanfkomgroße,  rundliche,  pigmentlose,  leicht  depri- 
mierte Narbe.  Unterhalb  des  Kniees  eine  stecknadelkopfgroße,  rote,  infil- 
trierte Papel,  im  Zentrum  eine  gelb  durchscheinende  kleine  Stelle. 

An  der  Tibia  (Innenseite  des  linken  Unterschenkels)  eine  tiefe,  mit 
dem  Knochen  verwachsene  Narbe. 

Fall  91):  2V8-jähr.  Kind.  Mutter  des  Vaters  an  Lungen- 
tuberkulose gestorben;  sonst  nichts  von  Tuberkulose  in  der  Anamnese 
zu  eruieren.  —  Eine  innere  tuberkulöse  Erkrankung  beim  Kinde  läßt  sich 
ebensowenig,  bis  auf  die  VergrößerungeinigerHalsdrUsen,  finden. 
4  Wochen  post  partum  bekam  es  auf  jedem  Knie,  auf  dem  rechten  Ober- 
schenkel und  am  Arm  kleine  furunkelähnliche  Bildungen,  von  denen  man 
jetzt  die  restierenden  Narben  noch  bemerkt.  Weihnachten  1902  trat  ein 
Ausschlag  am  ganzen  Körper  auf. 

Status  vom  11.  Jan.  1903:  Halsdrüsen  beiderseits  in  großer  Anzahl 
vergrößert.  Am  Körper,  auf  den  Armen  und  den  Oberschenkeln  ein  teil- 
weise gruppiertes,  teilweise  disseminiertes  Exanthem,  das  sich  aus  ver- 
schiedenen kleinen  Papeln  zusammensetzt  Am  Stamme  haben  die  Papeln 
etwa  Stecknadelkopf-  bis  Hanfkomgroße,  sind  teilweise  aggregiert,  teilweise 
stehen  sie  so  dicht  beisammen,  daß  licheninflzierte  Hautfläcben  vorhanden  sind. 
An  den  Extremitäten  sind  die  Papeln  viel  größer  und  erreichen  stellenweise 
Erbsengroße.  Hier  ist  eine  Gruppierung  nicht  zu  erkennen.  Zahlreiche 
flache  Papeln  und  Flecke  auf  beiden  Fußsohlen.  Einige  der  Papeln  tragen 
an  ihrer  Spitze  eine  kleine  Pustel.  Auf  beiden  Knieen,  am  rechten  Ober- 
schenkel, sowie  auf  dem  linken  Oberarm  linsen-  bis  erbsengroße,  scharf 
umschriebene,  teils  rundliche,  teils  ovaläre  tiefe,  deprimierte  Narben.  Die 
Narben   sind   pigmentlos.     Auf  einer   der   Narben  (am  rechten  Ober- 


1)  Diesen  Fall  verdanke  ich  Herrn  Kollegen  H.  Böhm. 


692  Fritz  Juliusberg, 

Schenkel)  sieht  man  am  Rande,  zum  Teil  im  Narben ge-webe , 
2um  gröüten  Teil  in  der  gesunden  Haut  liegend,  einehanf- 
korngroße,  braune,  Verfärbung.  Auf  Glasdruck  läßt  sich 
<iieses  Braun  in  Hellgelblichbraun  verwandeln.  Die  Kon- 
sistenz der  Haut  scheint  auf  Sondendruck  andieserStelle 
etwas  weicher  zu  sein,  so  daß  der  Herd  klinisch  als  Lupus- 
knötchen  imponiert.     Therapie  :  Lebertran  intern. 

28.  Febr.  Am  Stamme  ist  das  Exanthem  fast  vollständig  abgeheilt; 
<lie  Knötchen  an  den  Extremitäten  sind  blasser  und  flacher  geworden. 

22.  März.  Das  Exanthem  am  Stamme  ist  fast  vollständig  verschwunden ; 
auch    die    Knötchen  an  den  Extremitäten  sind  kaum  noch  wahrzunehmen. 

20.  April.  Der  anscheinend  lupöse  Herd  hat  sich  in  ge- 
ringer Weise  vergrößert. 

1.  Juli.  Der  Herd,  der  anscheinend  noch  weiter  gewach- 
wachsen ist,  wird  excidiert. 

Die  mikroskopisch e  Untersuchung  ergibt  ein  tuberku- 
löses Knötchen  mit  zahlreichen  Riesenzellen  und  einigen 
Epitheloidzellen  im  Zentrum,  lokalisiert  dicht  unter 
dem  Epithel,  in  den  obersten  Schichten  des  Coriums. 

Fall  10:  11-jähr.  Patientin  K.R.  Vater  gesund,  M  u  1 1  e  r  a  n  Lungen- 
schwindsucht gestorben.  Das  Kind  leidet  an  Erkrankung  angeblich 
von  frühester  Kindheit  an,  doch  ist  bis  Ende  vorigen  Jahres  nur  der 
Kopf  befallen  gewesen.  Seit  dieser  Zeit  ging  die  Hauterkrankung  auch 
■auf  den  übrigen  Körper  über,  und  seit  dieser  Ausbreitung  der 
Hautaffektion  stellte  sich  auch  Husten  und  Auswurf  ein, 
und  die  Fat.  begann  abzumagern. 

Status  vom  6.  Juli  1900:  Schlecht  entwickeltes  Mädchen  mit  nur 
sehr  unbedeutendem  Fettpolster ;  blöder  Gesichtsausdruck.  Mehrere  Jahre 
zurückliegende  Erinnerungsbilder  sind  gänzlich  verwischt.  Die  Ant- 
worten auf  die  gestellten  Fragen  erfolgen  äußerst  langsam ;  leichte  Rechen- 
aufgaben mit  2-stelligen  Zahlen  vermag  das  Kind  überhaupt  nicht  auszu- 
führen. 

Die  Cervikal-,  Occipital-,  Submaxillar-  und  Suprakla- 
vikulardrüsen  sind  als  erbsen-  bis  kirschkerngroße  Tu- 
moren überall  in  größerer  Anzahl  abzutasten;  ein  großes,  etwa 
Taubeneigröße  erreichendes  Drüsenpaket  sitzt  hinterdem 
linken  Ohr;  eben  solche  Pakete  in  beiden  Achselhöhlen. 
In  der  rechten  Ellenbeuge  fühlt  man  eine  etwa  erbsen- 
große, in  der  linken  eine  etwa  linsengroße  Drüse  in  Sulcus 
bicipitalis;  ebenso  sind  die  Leisten-  und  Schenkeldrüsen  bis  zu 
Linsen-  und  Kirschkerngröße  vergrößert. 

üeber  derganzen  Lunge  rauhes  In- und  Exspirium;  über 
der  Scapula  feinbläsiges  Rasseln,  hinten  unten  beiderseits 
klingendes  Rasseln;  Exspirium  mit  bronchial  em  Beiklang, 
rechts  hinten  unten  leichte  Dämpfung. 

An  der  linken  Seite  des  harten  Gaumens  einige  weiße  Herde  in  der 
Schleimhaut ;  ob  es  sich  um  Narben  oder  atrophische  Stellen  handelt,  läßt 
sich  nicht  entscheiden ;  an  diese  sich  anschließend  und  auch  auf  die  rechte 
^eite  sich  fortsetzend  kleinere  Gefäßinjektionen ;  am  XJebergang  des  harten 
in  den  weichen  Gaumen  ähnliche  weiße  Stellen. 

Hautbeschaffenheit:  Die  Behaarung  des  Kopfes  ist  eine  sehr 
spärliche,    doch    bestehen  nirgends  große,    ganz  haarlose  Bezirke,    sondern 


lieber  „ Tuberkulide'^  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         693 

nur  die  Abstände  der  einzelnen  Haare  voneinander  sind  auffallend  groß. 
Kelativ  am  stärksten  behaart  ist  der  Hinterkopf,  während  an  den  Vorder- 
nnd  Seitenflächen  nur  spärliche  blonde,  festsitzende  Haare  sich  finden.  An 
den  stärker  behaarten  Hinterkopfstellen  einzelne  Bezirke  von  etwa  Taler- 
größe, die,  nicht  ganz  scharf  begrenzt,  nur  ganz  spärliche  blonde  Haare 
tragen.  Die  Kopfhaut  zeigt  ein  wundes  Aussehen ;  dieses  rührt  davon  her, 
daß  innerhalb  hyperpigmentierter,  teils  mehr  schwarzbrauner,  teils  heller 
brauner  Partien,  besonders  reichlich  an  der  Schläfengegend  und  hinter  den 
Ohren,  aber  auch  disseminiert  am  übrigen  Kopfe,  etwa  linsengroße,  glän- 
zende weiße,  scharf  begrenzte  runde  oder  ovaläre  atrophische  Herde  sich 
finden.  Innerhalb  einzelner  dieser  Atrophien  bemerkt  man  rötliche  Teleangi- 
ektasien. 

Dem  Oesicht  wird  durch  einen  schmetterlingsähn- 
lichen Krankheitsherd,  der  scharf  begrenzt  die  Nase  und  die 
Wangen  einnimmt,  ein  eigentümliches  Aussehen  verliehen.  Dieser  große 
Herd  schneidet  etwa  1  cm  unterhalb  der  Augen  in  scharfer  Linie  ab  und 
erstreckt  sich  vom  Nasenrücken  über  die  Stirn,  wo  die  Grenze  unregel- 
mäßige Linien  aufweist;  nach  unten  zu  verläuft  die  Grenze  in  der 
Nasolabialfalte,  nach  den  Ohren  zu  sind  die  Grenzlinien  unregelmäßig. 
Dieser  Herd  von  mattroter  Farbe  erscheint  leicht  atrophisch,  nicht  so, 
daß  die  Follikelbildung  überall  verschwunden  wäre  —  dies  ist  nur  auf 
dem  Nasenrücken  an  einzelnen  Partien  der  Fall,  wo  die  Haut  mattrot 
und  glänzend  erscheint  —  aber  die  Follikel  sind  spärlicher  und  kleiner 
als  auf  der  übrigen  Haut.  An  den  Bandpartien  reichlich,  viel  spärlicher 
in  den  zentralen  Partien,  finden  sich  kleine  Krüstchen  unregelmäßig  auf- 
gelagert. 

lieber  den  Augenbrauen  sitzen  in  mattroter  Haut  mehrere  knapp 
linsengroße,  sehr  unregelmäßig  begrenzte  weiße  atrophische  Stellen.  Die 
Narbenbildungen,  wie  sie  auf  dem  behaarten  Kopf  beschrieben  sind,  setzen 
sich  auch  auf  die  Ohrmuscheln  fort.  Eine  Verbindungsbrücke  zwischen 
den  unteren  Ecken  der  Schmetterlingsfigur  bildet  eine  Linie  von  matt- 
roter atrophischer  Haut,  die  sich  über  das  Kinn  hin  wegzieht. 

Der  Stanmi  und  die  Extremitäten  weisen  ein  Exanthem  auf,  welches 
überall  den  Charakter  von  Einzel effloreszenzen  trägt.  Das  verschieden- 
artige, sehr  bunte  Aussehen  der  Haut  wird  nur  durch  die 
quantitativ  sehr  verschiedene  Verteilung  der  Efflore- 
szenzen bedingt.  Es  sind  im  wesentlichen  zwei  Typen,  die  das 
Exauthem  zusammensetzen,  und  ihre  Uebergangsstadien«  Auf  der  einen 
Seite  stehen  flache  Papeln,  die  im  Zentrum  einen  kleinen 
Krater  zeigen,  der  vielfach  von  einem  Blutkrüstchen  ausgefüllt  wird; 
auf  der  anderen  Seite  einfache  atrophische  Stellen,  anscheinend 
die  Endstadien  des  Prozesses.  Die  Farbe  der  Atrophien  ist  eine  matt- 
rote; wo  sie  vereinzelt  stehen,  sind  sie  von  einem  sepia-braunen  Saume 
umgeben. 

Besonders  dicht  stehen  die  Effloreszenzen,  frische  wie  alte,  auf  der 
Brust  und  dem  oberen  Teile  des  Rückens;  hier  speziell  ist  die  Gegend 
zwischen  und  über  den  Schulterblättern  so  dicht  von  dem  Exanthem  besät, 
daß  die  Wälle  um  die  Effloreszenzen  konfluiert  sind,  so  daß  die  anscheinend 
nicht  atrophische  Haut  vollkommen  eine  sepia-braune  Verfärbung  aufweist. 
Am  Bauche  und  an  den  Oberarmen  findet  sich  eine  disseminierte  Ver- 
teilung des  Exanthems;  die  Einzeleffloreszenzen  mit  ihrem  braunroten  Hof 
stehen  deutlich  isoliert.     Unterarm  und  Hände  sind  intakt,     unter  dem 

MitMI.  a.  d.  Oranxcebietao  d.  Modlsin  a.  Chlrurd«.    Xm.  B4.  45 


694  Fritz  Juliusberg, 

rechten  Knie  zwei  kleine  Papeln,  wie  am  Stamme,  von 
mattroter  Farbe,  mit  Delle  und  Krüstchen  im  Zentrum. 

Therapie:  Vlemingkx-Bäder ;  Gesicht  mit  Bleivaseline  verbunden. 

16.  Juli.  Ekzem  der  äul^eren  Gehörgänge;  Therapie:  Ichthyol- 
Vaseline  6  Proz. 

18.  Juli.  Auftreten  eines  Panaritiums  am  rechten  Daumen  und 
kleinen  Finger.     Therapie:  Umschläge  mit  essigsaurer  Tonerde. 

29.  Juli.  Erbsengroßer  Absoeß  am  linken  Fußgelenk ;  Incision,  feuchter 
Verband. 

31.  Juli.  Erbsengroßer  Absoeß  über  dem  Stemum.  Incision.  Am 
Rücken,  an  den  Oberarmen  und  am  Kreuz  sind  zahlreiche  neue  Efflore- 
szenzen  entstanden.  Zum  Teil  sind  dieselben,  wie  die  früheren,  mit  zen- 
tralen, dunkelroten  Krüstchen  bedeckt. 

3.  Aug.  Das  Allgemeinbefinden  des  Kindes  hat  sich  auffallend  ver- 
schlechtert Schmerzen  im  Thorax,  an  den  Füßen  und  Ellenbogen.  Am 
rechten  Ellenbogen  und  am  rechtenKnie  sind  mehrere  auf 
Druck  schmerzhafte,  etwa  linsengroße  Sugillationen  ent- 
standen. Oedem  beider  Füße.  Therapie:  Verband  mit  essigsaurer 
Tonerde. 

4.  Aug.  Es  sind  neue  Sugillationen  an  den  Armen  und  Nates 
aufgetreten;  dabei  finden  sich  in  der  Kreuzbeingegend  und  am  Abdomen 
tiefe,  unregelmäßig  geformte  ülcerationen.  Therapie:  Jodoformborsalbe. 
Abends  starke  Atemnot. 

5.  Aug.  Die  ganze  linke  Hand  ödematös  geschwollen;  die  Sugilla- 
tionen sind  zahlreicher  geworden. 

7.  Aug.  Am  rechten  Handgelenk  ein  knapp  hanfkorn- 
großes  Knötchen,  tief  in  der  Subcutis  gelegen,  scharf  um- 
schrieben.    Exitus  letalis. 

Sektion  am  8.  Aug.  1901  (Dr.  Miodowskt). 

Sektionsprotokoll:  Ihrem  Alter  entsprechende  weibliche  Leiche 
mit  einer  besonders  an  den  oberen  Extremitäten  stark  reduzierten  Mus* 
kulatur  und  spärlichem  Fettpolster. 

Die  Haut  an  Brust  und  Bücken,  die  im  ganzen  einen  eigentümlichen 
schmutzig  braungrauen  Farbenton  aufweist,  zeigt  eine  auffallende  Zeich- 
nung. Unregelmäßig  disseminiert  finden  sich  kleinere  und  größere  (bis 
10  Pfg.-Stück  große),  meist  leicht  eingesunkene  atrophische  Hautstellen, 
die  von  einem  leicht  erhabenen,  einige  von  einem  breiten  braunen  Saume 
umgeben  sind.  Aehnliche  Hautstellen  finden  sich  an  den  Oberarmen  und 
Oberschenkeln,  während  Unterschenkel  und  Unterarme  davon  frei  sind. 
Das  Gesicht  zeigt  einen  eigentümlich  gedunsenen  Ausdruck,  bedingt 
durch  eine  starke  Infiltration  der  Haut.  Diese  ist  stellenweise  blaurot 
verfärbt  und  näßt  an  einzelnen  Partien;  letzteres  gilt  besonders  von  der 
Vorderfläche  der  beiden  Ohrmuscheln.  In  der  Sakralgegend  mehrere  bis 
10  Pfg.-Stück  große,  scharf  umschriebene  Hautdefekte,  deren  Grund  leicht 
hämorrhagisch  und  mit  einem  eingetrockneten  Sekrete  bedeckt  ist  Ueber 
beiden  Ellenbogen  und  auf  beiden  Knien  ähnliche,  etwa  erbsengroße 
SufiTusionen,  zum  Teil  kleine  Ülcerationen  im  Zentrum  aufweisend. 

Thorax :  gut  gebaut,  mit  tiefem  Durchmesser,  etwas  vergrößert.  Hals : 
entsprechend  lang,  sehr  breit  und  voluminös. 

Beim  Oeffhen  des  Thorax  quillt  aus  jeder  Brusthöhle  eine  reichliche 
Menge  (beiderseits  auf  etwa  ^/g  1  geschätzte)  bernsteingelbe,  von  feinen 
und  groben  Flöckchen  getrübte  Flüssigkeit  hervor.  Beide  Lungen,  in 
sich  zusammengesunken,   sind   auf  dem  hinteren   oberen  Teil  der  Pleura- 


üeber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         695 

höhle  verdrängt.  Das  Herz  liegt  deshalb  in  größerer  Ausdehnung  als 
normal  zu  Tage;  indessen  scheint  die  Verbreiterung,  die  nach  rechts  wie 
nach  links  besteht,  durch  Flüssigkeitsansammlangen  im  Herzbeutel  bedingt 
zu  sein.  Die  Flüssigkeit  im  Herzbeutel  erweist  sich  in  der  Tat  auf  mehr 
als  das  Doppelte  vermehrt,  klar,  hellgelb. 

Das  Herz  entspricht  der  Oröße  der  Faust  der  Leiche;  der  rechte 
Ventrikel  leicht  dilatiert,  sonst  sind  Lumina  und  Ostien  entsprechend. 
Die  Klappenapparate  sind  zart  und  spiegelnd,  die  Muskulatur  ist  etwas 
blaß,  aber  gut  konsistent. 

Die  linke  Lunge  weist  nach  allen  Seiten  mit  den  gegenüberliegenden 
Pleuraflächen  Verklebungen  auf;  dieselben  lassen  sich  leicht  lösen,  nur 
an  der  Hinterseite  sind  die  Verwachsungen  fester.  Ober-  und  Unterlappen 
unterscheiden  sich  deutlich:  der  erstere  ist  im  allgemeinen  gut  lufthaltig  und 
bluthaltig,  nur  an  der  Spitze  ist  eine  luftleere,  haselnußgroße,  infiltrierte 
Stelle  zu  finden;  auf  der  Schnittfläche  zeigt  diese  eine  ziemlich  gleich- 
mäßige, gelbliche  Farbe  und  eine  bröckelige  Beschaffenheit  Eine  be- 
sondere Anordnung  um  einen  Bronchus  läßt  sich  nicht  erkennen.  Der 
Unterlappen,  in  sich  zusammengesunken,  an  der  Oberfläche  dunkelblau 
verfärbt,  zeigt  dieselbe  Farbe  auch  auf  der  Schnittfläche ;  aus  dem  derben 
Parenchym  läßt  sich  keine  Luft  herauspressen.  Auffallend  ist  die  Er- 
weiterung und  das  E^laffen  der  kleineren  und  mittleren  Bronchien,  um  die 
das  Gewebe  besonders  fest  zu  sein  scheint  Aus  jedem  Bronchiallumen 
läßt  sich  ein  reichlicher  Tropfen  schleimig-eiterigen  Sekretes  herauspressen. 

Die  rechte  Lunge,  nur  am  hinteren  Abschnitt  leicht  adhärent,  zeigt 
am  Oberlappen  dieselben  Verhältnisse  wie  links.  Hier  lassen  sich  im 
lufthaltigen  Parench3rm  mehrere  leicht  infiltrierte,  haselnußgroße  Stellen 
herausfühlen,  bei  denen  im  Gegensätze  zu  links  noch  das  Konfluieren  aus 
einzelnen  kleineren  graagelben  Infiltrationen  in  Anordnung  um  ein  kleines 
Bronchiallumen  zu  erkennen  ist.  Beträchtlich  ist  die  Blähung  der  Marginal- 
partien,  so  daß  die  ganze  Lunge  voluminöser  erscheint  als  die  linke.  Unter- 
und  Mitt^ellappen  verhält  sich  wie  links  der  Unterlappen. 

Der  pleurale  Ueberzug  beider  Lungen  mit  viel  fibrinösen,  zum  Teil 
bindegewebig-membranösen  Auflagerungen  bedeckt. 

Bronchial-  und  Tracheaischleimhaut  lebhaft  geschwellt  und  gerötet 
und  mit  zähem  Sekrete  bedeckt 

Larynz,  am  rechten  wahren  Stimmbande  und  Arykörper  ein  linsen- 
großer, oberflächlicher  Schleimhautdefekt 

Bronchialdrüsen  haselnußgroß,  zum  Teil  walnußgroß.  Während  ein- 
zelne, nur  punktförmige  gelbe  Einsprenklungen  in  Kohle  pigmentiertes 
Parenchym  erkennen  lassen,  zeigen  die  meisten  eine  gleichmäßig  gelb- 
graue, jeder  Zeichnung  entbehrende  Schnittfläche  auf,  auf  der  ein  ver- 
kästes, morsches,  zum  Teil  bröckeliges  Parenchym  hervortritt  Ebenso 
verhalten  sich  die  Supraklavikidardrüsen. 

Tonsillen  beiderseits  groß  und  derb;  aus  der  linken  quillt  beim 
Schneiden  ein  Tropfen  Eiter. 

Schilddrüsen  ohne  Besonderheiten. 

Bei  Eröffnung  des  leicht  aufgetriebenen  Abdomens  drängen  sich  sofort 
die  geblähten  Därme  hervor.  Serosa  glatt,  spiegelnd;  stellenweise  leicht 
injiziert 

Li  der  Bauchhöhle  etwa  l^/j  1  braungelber,  gleichmäßig  trüber 
Flüssigkeit 

Leber  den  Rippenbogen  leicht  überragend,  Oberfläche  glatt.  Mitt- 
lerer Blutgehalt,   Konsistenz  gut.     Zeichnung   deutlich.     Farbe  braungelb. 

45* 


j 


Ö96  Fritz  Juliusberg, 

Milz:  9:6:3.  Gut  bluthaltig  und  konsistent.  Follikel  als  grau- 
gelbe Punkte  zu  sehen.  Beim  mehrfachen  Durchschneiden  des  Organs 
sieht  man  ganz  spärliche,  stecknadelkopfgroße,  tuberkelähnliche  graue 
Knötchen  im  Parenchjm  eingelagert. 

Nebennieren:  Ohne  Besonderheiten. 

Nieren:  Kapsel  gut  erhalten;  Parenchjon  blaß,  sonst  gut  konsistent, 
Binde  und  Mark  deutlich  geschieden. 

Mesenterialdrüsen:  Auflfallend  groß,  verkäst,  ebenso  die  prä- 
vertebralen Drüsen. 

Im  Kleinhirn  ein  haselnußgroßer  verkäster  Tuberkel. 

Leichendiagnose:  Tuberculosis  caseosa  glandul.  lym- 
phat.  bronch.  subscapul.,  meseraic,  praeverteb.  et  pulm. 
Tuberculosis  cutis?  Pleuritis  serofibinosa  duplex.  Hydro- 
pericardium.  Dilatatio  levis  ventriculi  d.  Tuberculosis  lienis.  Ab- 
scessus  tonsillae.  Trachechondritis  purulenta.  Tuberculosissolitaria 
vermis  cerebelli. 

Zur  mikroskoplsclieii  Untersachung  stand  mir  folgendes  Material 
zu  Gebote: 

1)  ein  subkutan  unter  der  Haut  gelegenes,  gut  palpables, 
etwa  hanfkorngroßes  Knötchen  von  Fall  2,  das  wir  etwa 
14  Tage  lang  beobachtet  hatten. 

Das  Zentrum  des  Knötchens,  das  auch  mikroskopisch  in  der  Sub- 
cutis  gelegen  war,  erwies  sich  als  ein  nekrotischer  Herd,  den  ein 
starker  Infiltrationsherd  umgab.  Bei  Färbung  auf  elastische 
Fasern  läßt  sich  in  der  Mitte  des  nekrotischen  Zentrums  ein  Ring 
von  elastischen  Fasern  nachweisen,  offenbar  die  Beste  eines 
vormals  hier  vorhandenen  Gefäßes.  Innerhalb  der  Infiltrations- 
zone, die  den  nekrotischen  Herd  umgibt,  läßt  sich  auf  der  einen  Seite 
eine  zirkuläre  Anordnung  der  Infiltrationszellen  erkennen, 
die  anscheinend  darauf  hindeuten,  daß  hier  einmal  ein  Gefäß  bestanden 
hat;  irgend  welche  Beste  desselben  lassen  sich  nicht  mehr  mikroskopisch 
nachweisen.  Das  Infiltrat  ist  zusammengesetzt  hauptsächlich  aus  kleinen 
Leukocy.ten,  daneben  finden  sich  reichliche  Mastzellen,  epitheloide 
Zellen  und  auch  in  den  meisten  Schnitten  eine  bis  mehrere 
typische  Biesenzellen  von  verschiedener  Größe.  Nach  außen  zu  ist 
das  Infiltrat  nicht  so  kompakt  wie  nach  dem  Zentrum  zu  und  sendet 
zwischen  das  gesunde  Gewebe  einzelne  Infiltrationszüge  hinein.  Neben 
diesem  großen  Herde  finden  sich  in  der  Umgebung  kleine  Infiltrate  in 
allen  Schichten  der  Haut,  die  sich  meist  um  die  Gefkße  und  Schweiß- 
drüsen gelagert  haben.  Außer  dem  innerhalb  der  nekrotischen  Partie  ge- 
legenen Gefäße  ist  irgend  ein  direkter  Zusammenhang  der  Infiltration  mit 
den  Gefäßen  und  Drüsenorganen  nicht  festzustellen.  Es  wurden  etwa 
20  Schnitte  mit  negativem  Befunde  auf  Tu  b  erkelbacill  en 
gefärbt. 

2)  Ein  etwa  8  Tage  bestehendes  Knötchen  von  Fall  6. 
Das  Zentrum  des  Knötchens  nimmt  ein  großes  Infiltrat  ein,  zur 
Hälfte  etwa  in  der  Subcutis,  zur  Hälfte  im  kutanen  Gewebe  gelegen, 
Daslnfiltrat  ist  zusammengesetzt  hauptsächlich  aus  Leu- 
kocyten  und  zahlreichen  Plasmazellen;  Biesenzellen  sind 
in  keinem  Schnitte  nachzuweisen.  Unterhalb  dieses  In- 
filtrats findet  sich  eine  große  Vene,    in   deren  Wandungen 


üeber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         697 

stellenweise  Leukocyten  eingewandert  sind.  Die  Wan- 
dung der  Vene  zeigt  besonders  im  oberen  Teile  eine  deut- 
liche Verdickung,  durch  Wucherung  der  Gefäßwand  und 
leuko cytäre  Infiltration  bedingt,  und  an  einzelnen  Stellen 
dringen  diese  Verdickungen  in  das  Lumen  des  Gefäßes 
hineJD,  welches  sie  auf  diese  Weise  in  geringemMaße  ver- 
engern. Die  Umgebung  dieses  Gefäßes  zeigt  stellenweise 
eine  stärkere  Infiltration,  die  sich  in  einzelnen  Strängen 
in  das  große  Infiltrat  fortsetzt. 

3)  Das  2  Tage  bestehende  Knötchen  an  der  Hand  von 
Fall  10.  Im  subkutanen  Gewebe  ünden  sich  Infiltrationsmassen,  die  sich 
zwischen  den  einzelnen  Fetträubchen  hinziehen  und  lediglich  aus  Leuko- 
cyten bestehen.  In  den  tieferen  Schichten  der  Cutis  sind  diese  Infiltra- 
tionen stärker  und  im  Zentrum  derselben  findet  man  mehrere 
Gefäße  größeren  und  klein  eren  Kalibers,  in  deren  Wan- 
dungen Leukocyten  eingewandert  sind  und  deren  Wan- 
dungen Leukocyten  in  großer  Anzahl,  ziemlich  dicht  ge- 
drängt, umgeben.  Ein  Teil  dieser  Gefäße  ist  thrombosiert, 
und  zwar  zeigt  er  die  Zustände  eines  frischen,  fibrinösen 
Thrombus;  das  Gefäßlumen  ist  durchzogen  von  einem  dicht- 
maschigen  Netz  dünnerer  und  dickerer  Fibrinfädeu,  dessen 
Maschen  teils  zerfallene,  teils  erhaltene  Leukocyten  und 
rote  Blutkörperchen  aufweisen.  In  den  oberen  Teilen  der  Cutis 
einige  kleinere,  nur  aus  Leukocyten  bestehende  Infiltrate ;  Riesenzellen 
oder  epitheloide  Zellen  nirgends  zu  finden. 

4)  Pigmentierte  Haut  der  Brust  von  Fall  10.  In  den  untersten 
Schichten  des  Epithels  und  in  den  obersten  Schichten  des  Corinms  zahl- 
reiche Ablagerungen  eines  gelbbraunen  Pigmentes.  Kleine  Infiltrate,  die 
zum  größten  Teil  den  Gefäßen  folgen,  in  den  oberen  und  mittleren  Schichten 
der  Cutis.     Die  Infiltrate  bestehen  größtenteils  aus  Leukocyten. 

5)  Haut  vom  Ellenbogen  vom  Fall  10.  Zur  Untersuchung  kam  eine 
der  Sugillationen  vom  Ellenbogen.  Das  Epithel  ist  stellenweise  zerrissen^ 
so  daß  blasenförmige  Hohlräume  in  demselben  vorhanden  sind.  In  den 
obersten  Schichten  des  Coriums,  reichlicher  noch  in  den  tieferen  und  vor 
allem  im  subkutanen  Gewebe,  zahlreiche  dichte,  aus  Leukocyten  be- 
stehende Infiltrate  und  große  Ansammlungen  roter  Blutkörperchen.  Die 
Zellen  der  Infiltrationsherde  sind  stellenweise  in  kleine  Bröokchen  zer- 
fallen, besonders  dort,  wo  man  die  roten  Blutkörperchen  nachweisen  kann, 
ist  das  leukocytäre  Infiltrat  zerfallen-  Die  Infiltrate  mit  den  erhaltenen 
Zellen  sind  scharf  abgegrenzt;  Biesenzellen  oder  epitheloide  Zellen  lassen 
sich  in  ihnen  nicht  nachweisen. 

6)  Ulceration  der  Sakralhaut  von  Fall  10.  Tiefe  Ulceration,  schon 
beim  Durchschnitt  der  Präparate  erkennbar.  An  den  Stellen  des  Ge- 
schwürs fehlt  das  Epithel  vollständig;  der  Boden  des  muldenförmigen 
Geschwürs  liegt  tief  im  Corium  und  zeigt  zum  größten  Teil  nekrotische, 
zellartige  Massen.  In  der  Umgegend  des  Geschwürs  sind  die  Gefäße 
stark  erweitert  und  mit  Blut  gefüllt.  Dichte,  leukocytÄre  Infiltrationen, 
besonders  am  Boden  des  Geschwürs,  geringe  Infiltrationsherde  im  sub- 
kutanen Gewebe. 

7)  Kleines  Bläschen  der  Bauch  haut  von  Fall  10.  Zeigt  dieselben  Ver- 
hältnisse wie  die  Knötchen  an  der  Sakralhaut  Ueber  den  klinischen 
Befund  des  Knötchens  wurde  in  der  Krankengeschichte  kein  Befund 
erhoben. 


698  Fritz  Juliusberg, 

8)  Haut  des  Gesichts  von  Fall  10.  Im  epithelialen  Anteil  lassen  sich 
bis  auf  einige  Abhebungen  der  Homschicht  von  den  kernhaltigen  Massen 
und  geringen  Einwanderungen  von  Leukocyten  keine  Veränderungen  kon- 
statieren. Dicht  unter  dem  Epithel  sitzt  ein  dichtes  Zellinfiltrat,  welches 
sich  bis  in  die  oberen  Teile  des  Fettgewebes  hin  erstreckt.  Das  Infiltrat 
ist  zusammengesetzt  besonders  aus  Lymphocyten  und  vereinzelten  Plasma- 
zellen. Die  Gefäße  innerhalb  der  erkrankten  Partien  zeigen  keine  Ver- 
änderung. Eine  Anordnung  des  Infiltrats  um  andere  Gewebselemente  ist 
nicht  nachzuweisen.  Im  subkutanen  Gewebe  sind  hier  und  da  ähnUche 
Infiltrationsherde  zwischen  dem  subkutanen  Gewebe  zerstreut  Die 
elastischen  Fasern  sind  dort,  wo  die  Infiltration  am  stärksten  ist,  nicht 
nachzuweisen:  sie  finden  sich  nur  in  spärlicher  Zahl  dort,  wo  die  In- 
filtration wepiger  dicht  ist  und  in  größerer  Anzahl  an  den  spärlichen 
Stellen,  wo  keine  Infiltration  besteht  Die  elastischen  Fasern  sind  etwas 
stärker  geschlängelt  als  in  der  Norm,  und  zeigen  stellenweise  die  Degene- 
ration, die  an  das  Altersgewebe  erinnern  (Schoonhbid).  In  den  obersten 
Schichten  des  Coriums  zahlreiche,  ziemlich  grobkörnige  Ablagerungen 
eines  gelbbraunen  Pigments. 

9.  Von  der  Kopfhaut  kamen  nur  narbig  veränderte  Stellen  zur  Unter- 
suchung. An  diesen  ist  das  Epithel  auf  eine  dünne  Schicht  reduziert 
Diese  Atrophie  nimmt  im  wesentlichen  die  kernhaltige  Schicht  ein :  die 
Hornmassen  darüber  scheinen  im  Gegenteil  ziemlich  stark  verdickt  zu  sein. 
Eingesprengt  eine  ganze  Reihe  verödeter  Haarfollikel.  Kleine  Infiltrations- 
herde sind  an  allen  Schichten  der  Haut  vorhanden,  aber  nur  in  unbe- 
deutender Ausdehnung. 

10)  Einige  Stücke  aus  der  Lunge  und  aus  den  Lymphdrüsen,  die 
zur  Untersachung  kamen,  wiesen  deutliche,  riesenzellenhaltige  Tuberkeln 
auf.  Daneben  in  der  Lunge  eine  reichliche  Ablagerung  eines  schwarzen 
Pigments. 

Ich  gehe  zunächst  auf  das  mikroskopische  Aussehen  der  Einzel- 
effioreszenzen  ein,  da  dieses  uns  für  die  klinische  Entwickelung  der- 
selben gute  Fingerzeige  bietet: 

Was  das  histologisclie  BUd  dieser  nekrotisterenden  Taberkalid- 
form  betrifft,  so  ist  erst  nach  den  Untersuchungen  L.  Philippsohns 
auf  den,  wie  es  scheint,  wichtigsten  Faktor  bei  den  Einzeleffioreszenzen 
die  Aufmerksamkeit  gelenkt  worden:  auf  den  Beginn  der  Erkran- 
kung an  kleineren  Gefäßen,  also  auf  die  Auffassung  dieser 
Erankheitsform,  als  einer  von  den  Gefäßen  stets  ausgehenden  Erkran- 
kung. Freilich  ist  schon  vorher  einigen  Autoren  (Johnston,  Darier, 
Jacquet  u.  a.)  die  Beteiligung  der  Gefäße  an  den  Effloreszenzen  auf- 
gefallen und  in  unzweideutigster  Weise  davon  Mitteilung  gemacht 
worden,  aber  erst  die  PHiLippsoHNschen  Befunde  wiesen  mit  genügen- 
der Deutlichkeit  auf  die  wesentliche  Rolle  der  Gefäße  in  diesen 
Effloreszenzen  hin.  Auch  Pinkus  und  ebenso  ich,  und  jüngst 
Alexander,  konnten  die  Befunde  Philippsohns  voll  und  ganz  be- 
stätigen. Von  den  oben  beschriebenen  histologischen  Untersuchungen 
kommen  die  unter  No.  1,  2,  3  beschriebenen  Effloreszenzen,  als  sicher 
der  FoUiclis  zugehörig,  hier  in  Betracht,  und  zwar  handelt  es  sich  in 


lieber  „Tuberkulide^  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         699 

jiUen  3  Fällen  um  relativ  frische  Effloreszenzen,  wo  die  Anfangsstadien 
des  Prozesses  noch   eine  relativ  gute  Beurteilung   ermöglichten.    Das 
Knötchen  No.  3  stellte  eine  ganz  frische  Effloreszenz  dar.  Hier  handelte 
€s  sich  lediglich  um  kleinzellige  Infiltrationen  der  Gefäßwand  und  ihrer 
Umgebung,  kompliziert  durch  einen  frischen,  teils  roten,  teils  gemischten 
Thrombus.  Irgendwelche,  auch  nur  auf  Tuberkulose  verdächtige 
histologische  Momente  lassen  sich  in  den  Knötchen  nicht  nachweisen. 
—  Ein  weiteres  Knötchen  No.  2  stellt  eine  etwa  8  Tage  alte  Efflore- 
szenz dar.    Hier  ist  es  nicht  zu  einem  obturierenden  Thrombus  ge- 
kommen.   Auch  lediglich  infiltrative,  phlebitische  und  periphlebitische 
Prozesse  in  den  obersten  Schichten  des  subkutanen  Gewebes  sind  die 
einzigen   histologischen   Befunde.   —  Ein  weiteres  Stadium  stellt  das 
Knötchen  No.  1,  das  mindestens  14  Tage  alt  war,  dar.    Hier  ist  der 
Thi'ombus  schon  vollkommen  nekrotisiert,  desgleichen  die  Gefäßwand; 
nur  die  Darstellung  der  elastischen  Fasern  ermöglicht  noch  die  Fest- 
stellung, daß  der  Prozeß  von  einem  Gefäß  ausgegangen  ist.  Die  ganze 
nekrotische  Masse   ist  umgeben   von    einem   dichten   Infiltrationswall. 
Zahlreiche  Riesenzellen  erwecken  einen  gewissen  Verdacht  auf 
Tuberkulose;  die  Möglichkeit,  histologisch  die  Tuberkulose  festzu- 
steUen,  ist  auch  bei  dieser  Effloreszenz  nicht  vorhanden.    Wir  haben 
schon  darauf  hingewiesen,  daß  einen  gleichen  Befund  auch  Philipp- 
sohn  und  PiNKus  erhoben  haben;   bei  Philippsohn  sind  aber  die 
tuberkuloseähnlichen  Veränderungen  in  ziemlich  starkem  Maße  ausge- 
sprochen.   In  denselben  Grenzen  variieren  auch  die  zahlreichen  histo- 
logischen Untersuchungen,  die  die  Literatur  über  diesen  Gegenstand 
aufweist:  In  den  seltensten  Fällen  findet  sich  gar  nichts 
für  Tuberkulose  Verdächtiges;  meist  sind  die  natürlich 
nicht  ausschlaggebenden  Riesenzellen  nachzuweisen,  in 
seltenen  Fällen   ist  das  Bild   ein  derartiges,   daß  es  als 
ßicher   zur  Tuberkulose    gehörig    von    den   Autoren   be- 
zeichnet werden  konnte  (Philippsohn,  Mag  Leod  und  Ormsbt). 
Alexander  meint,  ^daß  es  den  allgemeinen  pathologischen  An- 
schauungen widerspräche,  daß  ein  relativ  kleiner  Bacillenembolus,  ein- 
mal  in   einer  Arterie   haften   bliebe,   das  andere  Mal  in  eine  relativ 
große  Vene  vordringe^  und  gibt  der  Vermutung  Ausdruck,  daß  dort, 
wo  die  Vene  scheinbar  zuerst  getroffen  ist,  der  Embolus 
durch  die  arteriellen  Vasa  vasorum  in  die  Wand  und  von 
da  zur  Intima  der  Vene  gelangt.  Wir  geben  diese  Hypothese  hier 
wieder,  zumal  da  ihre  Gültigkeit  für  eine  Reihe  von  FäUen  sehr  wohl 
möglich  wäre. 

Ganz  entschieden  muß  ich  aber  opponieren,  wenn  Alexander  sich 
dagegen  wendet,  daß  viele  Autoren,  auch  ich  selbst,  das  häufig 
bezüglich  Tuberkulose  un  Charakter  istische  histologische 
Bild  betonen   und  darin  eine  gewisse  Schwierigkeit  finden,  anstandslos 


700  Fritz  Juliusberg, 

die  Tuberkulide  in  die  Hauttuberkulose  einzureihen.  Wir  sind  noch 
heute  darauf  angewiesen,  histologisch  die  Tuberkulose  aus  gewissen 
Zellformen,  ihrer  Anordnung  und  der  Art  der  Nekrose  des  befallenen 
Gewebes  zu  diagnostizieren.  Können  wir  diese  Kriterien  nicht 
feststellen  oder  sind  sie  nur  vereinzelt  da,  so  müssen 
andere  ausschlaggebende  Momente  vorhanden  sein,  uin 
die  Annahme:  Tuberkulose  zu  rechtfertigen.  Wir  müssen 
darum  auf  Grund  der  meisten  anderen  und  unserer  eigenen  mikro- 
skopischen Untersuchungen  ausdrücklich  betonen,  daß  von  allen 
Momenten,  die  wir  bei  der  FoUiclis  für  ihre  Einreihung  unter 
die  Tuberkulosen  verwerten  können,  gerade  das  mikrosko- 
pische Bild  am  wenigsten  Beweismaterial  gebracht  hat; 
ja,  daß  gerade  die  vielen  mikroskopischen  Untersuchungen,  die  meist 
so  wenig  für  Tuberkulose  Sprechendes  aufwiesen,  der  Einreihung  der 
FoUiclis  unter  die  Tuberkulose  resp.  Tuberkulide  große  Schwierigkeiten 
gemacht  haben.  An  dieser  Tatsache  läßt  sich  nun  einmal  nichts  ändern. 
Und  wenn  dagegen  angeführt  wird,  daß  wir  ja  beim  Lupus  vulgaris 
gelegentlich  ein  für  Tuberkulose  im  histologischen  Bilde  uncharakte- 
ristisches Aussehen  finden,  so  ist  demgegenüber  doch  daran  festzu- 
halten, daß  das  die  Ausnahme  und  nicht  die  Regel  ist.  Wir  müssen 
deswegen  ganz  besonders  bei  der  ^Folliclis^  nach  Ursachen  forschen, 
die  uns  das  so  auffallend  von  den  sonstigen  Tuberkulosen  differente 
histologische  Aussehen  erklären,  und  es  bleibt  uns  nichts  übrig,  als 
aus  den  in  der  Literatur  bekannten  und  unseren  eigenen  histologischen 
Untersuchungen  das  Fazit  zu  ziehen,  daß,  wenn  bei  den  in  Rede  stehenden 
„Tuberkulid"formen  ein  tuberkulöses  Virus  (sei  es  in  Form 
der  Bacillen,  sei  es  als  deren  Toxin)  eine  ätiologische 
Rolle  spielt,  dieses  Virus  jedenfalls  lange  Zeit  braucht,  um  die 
histologisch  für  Tuberkulose  charakteristischen  Veränderungen  hervor- 
zurufen, ja  daß  es  unter  Umständen  überhaupt  nicht  dazu  kommt 

Auch  die  Toxine  müßten  in  sehr  abgeschwächter  Form  wirksam 
sein.  Daß  überhaupt  Toxine  allein,  ohne  Bacillen  im  Stande  seien,  in 
histologischer  Beziehung  tuberkuloseähnliche  Bilder  hervorzurufen,  hat 
Klinomüller  festgestellt. 

NiGOLAu  gelang  es  allerdings  nur,  mit  abgeschwächten 
Bacillen  Tuberkulose,  nicht  aber  mit  filtrierten  Bouillon* 
kulturen  von  Tuberkelbacillen  tuberkulöse  Verände- 
rungen hervorzuheben.  Klinomüller  jedoch,  der  spezielle  Vorsichts- 
maßregeln in  der  Wahl  der  Tiere  und  in  der  Ausführung  der  Injektion 
anwendete,  um  günstige  Bedingungen  für  das  Festhalten  der  Toxine  za 
schaffen,  kam  auch  bezüglich  der  Toxine  zu  positiven  Ergebnissen, 
Experimente,  die  jedenfalls  beweisen,  daß  die  Bildung 
eines  histologisch  tuberkuloseähnlichen  Gewebes  auch 
ohne  daß  Bacillen  mit  tätig  sind,  möglich  ist. 


Ueber  ^Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         701 


» 


So  negativ  die  histologischen  Untersuchungen  bezüglich  des  tuber- 
kulösen Baues  dieser  Effloreszenzen  sind,  so  deutlich  weisen  doch 
die  meisten,  vor  allem  die  neueren,  Untersuchungen  darauf  hin,  daß 
wir  es  bei  der  BoECKschen  Form  des  Lupus  erythematosus  disseminatus 
mit  einer  Gefäßerkrankung  zu  tun  haben,  einer  Erkrankung,  die 
meist  mit  phlebitischen,  unter  Umständen  auch  mit  arteritischen  Pro- 
zessen anfängt  und  in  der  Regel  zu  Thrombenbildung  führt,  welch 
letztere  häufig  zu  einer  vollkommenen  Obturation  des  Gefäßes  führen. 
Wahrscheinlich  liegt  in  der  Ausbildung  dieser  Obturation  auch  die  Ur- 
sache der  späteren  oberflächlichen  Nekrose,  indem  der  abgekapselte, 
aus  abgestorbenem  Gewebe  bestehende  Thrombus,  als  blander  Fremd- 
körper wirkend,  als  solcher  schließlich  oberflächlich  abgestoßen  wird. 
Die  Tatsache,  daß  in  der  Regel  oberflächliche  Bildung  des  BoECKschen 
^Pus  focus^  und  spätere  Narbenbildung  erfolgt,  läßt  darauf  schließen, 
daß  die  Bildung  des  obturierenden  nekrotisierenden  Thrombus  meist 
der  Ausgang  des  Prozesses  ist.  Wir  möchten  an  dieser  Stelle  gleich 
hinzufügen,  daß  neben  dem  klinischen  Ablauf  vor  aUem  die  histo- 
logische Struktur  und  der  histologische  Verlauf  diese 
nekrotisierende  Form  gut  von  der  des  Liehen  scrofulosorum  und  vor 
allem  der  Acne  scrofulosorum  unterscheiden.  Das  ist  aber  nicht  der 
Fall  gegenüber  gewissen  syphilitischen  Effloreszenzen  gummöser 
Natur,  die  ganz  in  gleicher  W^eise  mit  zentraler  Nekrose  ablaufen, 
nachdem  sie  ihren  Ausgang  von  der  Gefäßwand  genommen  haben 
(Blaschko,  Markuse). 

Meine  weiteren,  oben  mitgeteilen  mikroskopischen  Befunde  beziehen 
sich  sämtlich  auf  teils  abgelaufene,  teils  frische  Prozesse,  der  die 
Folliclis  der  Patientin  10  komplizierenden  Affektion ;  sie  haben  mit  der 
FoUiclis  selbst  keinen  direkten  Zusammenhang  und  werden  später  bei 
Besprechung  dieses  Falles  ihre  Berücksichtigung  finden. 

Indem  wir  auf  die  vor  unseren  Krankengeschichten  kurz  angedeuteten 
Charakteristika  des  speziell  von  Boegk  in  klarster  Weise  beschriebenen 
Krankheitsbildes  hinweisen,  sei  kurz  bemerkt,  daß  neben  Boegk  speziell 
TouTON  durch  die  sehr  erwünschte  Identifizierung  einer  Reihe  von  unter 
den  verschiedensten  Benennungen  mitgeteilten  Fällen  sich  um  die  klinische 
Abgrenzung  der  Erkrankung  besondere  Verdienste  erworben  hat.  Diese 
Zusammenstellung  der  beiden  Autoren  war  um  so  notwendiger,  als  einige 
Autoren  in  ihrer  Benennung  auf  Teile  der  Haut  Rücksicht  genommen^ 
die  gar  nichts  mit  der  Entstehung  der  Effloreszenz  selbst  zu  tun  haben; 
hierher  gehören  die  Bezeichnungen,  welche  die  Erkrankung  mit  den 
Schweißdrüsen  in  Beziehung  zu  setzen  suchen ;  übrigens  lag  der 
Irrtum  sehr  nahe,  da  der  Beginn  der  Erkrankung  in  der  Regel  dort, 
wo  die  Schweißdrüsenknäule  am  reichlichsten  sind,  ihren  Anfang  nimmt 
und  die  zirkumskripte  Entzündung  in  diesen  Partien  leicht  die  Ver- 
mutung erweckt,  daß  sie  von  den  Schweißdrüsen  selbst  herrührt. 


702  Fritz  Jnliusberg, 

Was  die  von  uns  mitgeteilten  Fälle  anbetriflft,  so  weisen  die  Fälle 
3,  4,  5,  6,  8,  10  im  Laufe  der  Beobachtung  frische  Effloreszenzen 
auf,  die  die  sichere  Diagnose  ermöglichten.  Im  Falle  7  konnten  die 
diagnostischen  Schlüsse  aus  der  Anamnese  und  dem  Aussehen  der  Narben 
gestellt  werden.  Dasselbe  gilt  für  den  Fall  9,  der  dadurch  noch 
ein  ganz  besonderes  Interesse  gewinnt,  daß  sich  in  einer 
der  Narben  ein  klinisch  und  histologisch  sichergestelltes 
Lupusknötchen  entwickelt  hatte.  Einen  ganz  eigenartigen  Ver- 
lauf bot  Fall  10,  der  soviel  Besonderheiten  aufwies,  daß  er  noch  später 
eine  besondere  Berücksichtigung  finden  muß.  Alle  Fälle  waren 
mit  Tuberkulose  sicher  kombiniert;  nur  bei  Fall  3  konnte  diese 
als  nur  wahrscheinlich  angenommen  werden,  da  eine  diagnostische  Tu- 
berkulinjektion  leider  nicht  gemacht  werden  konnte. 

Gehen  wir  zunächst  auf  die  von  Boegk  gewählte  Benennung 
und  die  Beziehungen  der  Erkrankung  zum  Lupus  erythe- 
matosus discoide  sein,  so  müssen  wir  hier  betonen,  daß  die  klinische 
Differenz  beider  Krankheitsformen  auf  der  einen  Seite  das  aus  der 
Subcutis  allmählich  an  die  Oberfläche  rückende,  schließlich  nach  Bildung 
eines  Ulcus  mit  tiefer  Narbe  abheilendes  Knötchen,  auf  der  anderen 
Seite  die  oberflächliche,  nur  mit  narbiger  Atrophie  endigende  chronische 
Hautentzündung  —  uns  so  bedeutend  erscheint,  daß  auch  für  die 
Anhänger  der  tuberkulotoxischen  Natur  des  Lupus  erythematosus  doch 
nicht  Gründe  genug  vorliegen  dürften,  um  die  BoECKsche 
Form  als  eine  Abart  des  Lupus  exthematosus  in  seiner 
gewöhnlichen  Form  aufzufassen.  Wir  stimmen  darin  mit  Pin- 
Kus  überein,  der,  ebenso  wie  wir,  weder  klinische  noch  histo- 
logische Beziehungen  dieser  beiden  Affektionen  anerkennt.  Dazu 
kommt,  daß  während  sich  die  BoECKsche  Form  fast  ausnahmslos  bei 
Tuberkulösen  findet,  der  Lupus  erythematosus  in  seiner  ge- 
wöhnlichen Form  (cf.  Picks  und  Voirols  Statistik)  diese  Regel 
sicher  nicht  aufweist.  Es  erscheint  uns  daher  unberechtigt,  wenn 
Roth  beide  Erkrankungen  zusammenstellt  und  in  einer  derartigen 
Statistik  das  häufige  Zusammenfallen  des  Lupus  erythematosus  mit  der 
Tuberkulose  beweisen  will.  Sicherlich  kommen  beide  Erkrankungen 
gelegentlichzusammenan  demselben  Individuum  vor  und  es  finden 
sich  außerdem  zwei  Körperstellen,  der  Rand  der  Ohrmuschel  und  der 
Rücken  der  Finger  als  häufige  Lokalisation  beider  Erkrankungen.  — 
Doch  zeigt  noch  eine  dritte  Erkrankung  häufig  dieselbe  Lokalisatiön  am 
Fingerrücken  und  macht  bisweilen  bei  flüchtiger  Beobachtung  gegenüber 
der  Folliclis  diagnostische  Schwierigkeiten;  es  sind  dies  die  einfachen 
Pernionen,  die,  bevor  sie  ulceriert  sind,  sich  oft  überhaupt  nicht  von 
den  Effloreszenzen  der  Folliclis  unterscheiden;  —  ist  es  einmal  zur 
Ulceration  gekommen,  so  unterscheiden  sich  die  unregelmäßigen  Ränder 
dieser  Affektion  deutlich  von  den  scharf  umschriebenen  kleinen  Ulcerati- 


Ueber  „Tuberkulide"  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         703 

onen  bei  der  Folliclis.  —  Daß  Kälteeinflüsse  auf  das  Entstehen  der 
Folliclis  nicht  ohne  Wirkung  sind,  geht  daraus  hervor,  daß  Allen  hierher 
gehörige  Fälle  als  „necrotizing  chillbains^,  Crocker  die  Folliclis  als 
eine  „winter  eruption"  beschreibt  Auch  die  meisten  der  BoECKSchen 
Fälle  und  noch  andere  zeigen  die  Hauptschübe  in  der  kalten  Jahreszeit, 
und  dasselbe  ist  bei  unseren  Fällen  3,  4,  6,  der  Fall;  im  ersteren  der 
Fälle  werden  sogar  vorausgegangene  Erfrierungen  von  der  Patientin  in 
ursächlichen  Zusammenhang  mit  der  Affektion  gebracht. 

Es  liegt  nahe,  daran  zu  denken,  daß  neben  einer  spezifischen 
Aetiologie,  auf  die  wir  weiter  unten  einzugehen  haben,  auch  noch 
Einflüsse  der  äußeren  Temperatur  als  disponierendes  Moment 
eine  Rolle  spielen.  Daß  Störungen  im  Gefäßsystem  aufs  engste  mit 
dem  Auftreten  der  Effloreszenzen  zusammenhängen,  haben  zuerst  in 
unzweideutiger  Weise  die  Untersuchungen  Philippsohns,  die  auch 
PiNKUS  und  ich  bestätigen  konnten,  gezeigt.  Auch  andere  Untersucher 
geben  die  Beteiligung  der  Gefäße  in  besonders  hervortretender  Weise 
an;  neben  den  Beschreibungen,  die  sich  vielfach  in  den  Journalen  für 
Dermatologie  finden,  weise  ich  auf  eine  Beschreibung  von  Johnstok 
hin,  für  den  die  Koinzidenz  der  klinischen  Beobachtung  (Auftreten  be- 
sonders in  der  kalten  Jahreszeit,  Sitz  der  Effloreszenzen  an  der  äußeren 
Temperatur  besonders  zugänglichen  Partien),  mit  dem  Beginn  an  der 
Gefäßwand,  wie  es  das  Mikroskop  erweist,  die  Annahme,  daß  die  Folliclis 
als  Gefäßerkrankung  beginnt,  noch  akzeptabler  macht.  Daß  auch  ähn- 
liche Verhältnisse  für  den  gewöhnlichen  Lupus  erythematosus  eine  prä- 
disponierende Rolle  spielen,  ist  möglich ;  aber  diese  Koinzidenz  in 
der  Lokalisation  genügt  doch  nicht,  um  diese  beiden 
Krankheitsformen  in  eine  zusammenzufassen.  Ebenso- 
wenig können  wir  aus  dem  Vorkommen  beider  Erkrankungen  an  einem 
Individuum  Gründe  für  eine  nähere  Verwandtschaft  der  beiden  Krank- 
heitsformen finden. 

Um  an  dieser  Stelle  gleich  die  Differentialdiagnose  der 
Folliclis  zu  erledigen,  sei  zunächst  darauf  hingewiesen,  daß  im  all- 
gemeinen, auch  wenn  die  Diagnose  bei  der  ersten  Besichtigung  ziemlich 
sicher  erscheint,  vor  allem  der  Verlauf  der  Erkrankung  also 
die  Beobachtung  mehrerer  Evolutionsformen  des  Exan- 
thems zur  Sicherstellung  der  Diagnose  wünschenswert  ist  Auf  diese 
Weise  gelingt  es  leicht,  etwaige  differentialdiagnostische  Schwierigkeiten 
sowohl  den  Frostbeulen  gegenüber  wie  den  gleichfalls  von  Boegk  be- 
schriebenen benignen  Sarkoiden  Geschwülsten  der  Haut  zu  lösen.  Daß 
diese  letzteren  differentialdiagnostisch  in  Frage  kommen  können,  be- 
weist ein  jüngst  in  der  französischen  Gesellschaft  für  Dermatologie  vor- 
gestellter Fall. 

Während  wir  bezüglich  des  Zusammenhanges  des  disseminierten 
Lupus  erythematosus  BoECKs  und  des  Lupus  erythematosus 


704  Fritz  Juliusberg, 

discoides  in  seiner  gewöhnlichen  Form  uns  durchaus  ablehnend 
verhalten,  betreten  wir  mit  der  Frage  nach  den  Beziehungen  des  aku- 
ten disseminierten  Lupus  erythematosus  Kaposis  zu  der 
BoEGK sehen  Form  ein  außerordentlich  schwieriges  und  vor  der  Hand 
noch  nicht  geklärtes  Gebiet.  In  der  Literatur  findet  sich  diese 
Frage  mehrfach  angeschnitten  und  mit  der  Erklärung  erledigte,  daß 
Kaposis  und  Boecks  Krankheit  gar  nichts  miteinander  zu  tun  haben. 
Wenn  auch  unbedingt  zuzugeben  ist,  daß  in  typischen  Fällen  die 
beiden  Formen  ganz  auffallende  Differenzen,  besonders  im  Gesamt- 
charakter des  ganzen  Krankheitsbildes,  aufweisen,  so  ist  mir  doch  beim 
Lesen  der  Krankengeschichten  Kaposis  mehrfach  aufgestoßen,  daß  ein- 
zelne seiner  Fälle  sowohl  der  Beschreibung  der  Effloreszenzen  nach, 
wie  nach  ihrer  Lokalisation,  sehr  an  die  Kranken  Boecks  erinnern. 
BoEGK  selbst  hat  unter  seine  Beobachtung  einen  Fall  eingereiht,  der  an- 
fangs sicher  das  Bild  seiner  Disseminatusform  zeigte  und  später  ganz 
in  die  Form  Kaposis  überging  (Boecks  Fall  3).  Auch  mein  letzter 
Fall  scheint  zu  diesen  Fällen  zu  gehören.  Zur  BoECKschen 
Form  gehörten  die  Effloreszenzen  an  den  Extremitäten  und  die  aller- 
dings schon  in  Narben  übergegangenen  am  Stamm,  vor  allem  das  mikro- 
skopisch untersuchte  Knötchen  schien  mit  Sicherheit  eine  ganz  frische 
hierher  gehörige  Effloreszenz  darzustellen.  Die  Gesichts-  und  Kopfaffektion, 
die  speziell  im  Gesicht,  wo  sie  noch  nicht  abgelaufen  war,  auch  mikro- 
skopisch als  Lupus  erythematosus  sich  erwies,  erinnerte  wieder  in  hohem 
Grade  an  Kaposis  Fälle,  ebenso  die  hämorrhagischen  Effloreszenzen 
auf  den  Ellenbogen,  die  ähnlich  wie  bei  mehreren  Kranken  Kaposis 
das  Krankheitsbild  in  den  letzten  Tagen  besonders  schwer  gestalten. 
In  Rücksicht  auf  die  spärliche  Kasuistik,  die  über  die  KAPOSische  Form 
besteht,  habe  ich  es  für  zweckmäßig  gehalten,  die  Krankengeschichte 
möglichst  genau  wiederzugeben;  auch  die  mikroskopischen  Unter- 
suchungen, die  allerdings  nur  einen  detaillierten  histologischen  Abdruck 
der  klinisch  beobachteten  Erscheinung  aufwiesen,  habe  ich  als  kastui- 
stischen  Beitrag  mit  beigefügt,  wage  es  aber  nicht  über  die  Beziehung 
der  Krankheit  Kaposis  zu  der  Boecks  resp.  zum  Lupus  erythematosus 
discoides  ein  Urteil  abzugeben,  wenn  mir  auch  die  (noch  dunklen)  Be- 
ziehungen der  akuten  Form  Kaposis  zum  Lupus  erythematosus  dis- 
coides nach  der  Publikation  Kaposis  sehr  wahrscheinlich  sind. 

Ein  weiterer  Punkt  bedarf  einer  kurzen  Besprechung:  Es  ist  dies 
die  immer  und  immer  wieder  von  Barth£lemy  hervorgehobene  Dif- 
ferenz zwischen  den  beiden  Formen,  die  er  als  „Acnitis"  und 
„Folliclis"  bezeichnet.  Daß  die  Folliclis  identisch  ist  mit 
Boecks  und  den  Fällen  vieler  anderer  Autoren,  ist  so  häufig  gesagt 
worden,  daß  weitere  Bemerkungen  hierüber  überflüssig  sind ;  nur  müssen 
wir  hinzufügen,  daß  die  von  Barthi^lemy  betonte  Beobachtung,  daß 
die  Folliclis  relativ  oberflächlich  nicht  subkutan  sitzt,  sich  nicht  be- 


lieber  „Tuberkulide*'  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         705 

stätigt  hat.  An  den  Fingern  freilich,  wo  eine  geringe  Entwickelung 
des  subkutanen  Fettgewebes  vorhanden  ist,  scheinen  die  Effloreszenzen 
auch  in  ihrem  ersten  Stadium  in  die  Haut  selbst  eingesprengt 
zu  sitzen.  Am  Unterarm  sitzen  sie  fast  regelmäßig  in  ihrem  ersten 
Stadium  tief  im  subkutanen  Gewebe.  Ich  glaube  überhaupt, 
daß  die  höhere  oder  tiefere  Lokalisation,  die  anfangs  rein  accidentell 
ist,  je  nach  der  Höhe  des  Gefäßes,  welches  von  der  Erkrankung  er- 
griffen ist,  eine  ausschlaggebende  Rolle  in  der  Differentialdiagnose 
dieser  Krankheitsformen  nicht  spielen  darf.  Auf  der  anderen  Seite 
bezeichnet  Barthj^lehy  den  primären  Beginn  der  Effloreszenz  bei 
seiner  „Acnitis"  immer  als  tief  subkutan  gelegen.  Wenn  seine 
„Acnitis'\  wie  dies  Boegk  annimmt,  mit  den  Fällen,  die  Kaposi 
als  „Acne  teleangiectodes*',  Finger  und  andere  Autoren  als 
„Lupus  follicularis  disseminatus"  beschreiben,  überein- 
stimmt, so  ist  bei  dieser  Affektion  eigentlich  ein  viel  oberfläch- 
licherer Sitz  die  Regel.  Auch  die  Abbildung  Barth6lemys  seiner 
Fälle  von  „Acnitis  (in  den  Annales  de  Dermat.  1891)  sprechen  für 
diese  Uebereinstimmung.  Bis  jetzt  sind  Fälle  mit  der  Diagnose  Ac- 
nitis (abgesehen  von  einem  von  Pinküs  vorgestellten  Fall)  nur  von 
Barth£lemt  selbst  beschrieben  worden.  Wir  müssen  es  daher  offen 
lassen  zu  entscheiden,  ob  bezüglich  dieser  Form  die  Ansicht  Boecks 
tatsächlich  die  richtige  ist,  wenn  auch  diese  Ansicht  sehr  vieles  Wahr- 
scheinliche für  sich  hat.  Eine  andere  Ansicht  über  die  Auffassung  der 
Acnitis  vertrat  Pinkus,  der  neben  einer  tuberkulösen  Form  noch  eine 
zweite  beobachtet  zu  haben  glaubt,  die  weder  mit  den  Tuberkuliden 
noch  mit  der  Tuberkulose  überhaupt  in  Beziehung  steht. 

Beziehung  der  Folliclis  zum  Erythema  indurativum 

Bazin. 
Wenn  ich  auch  kein  eigenes  Material  über  die  Krankheitsform, 
welche  unter  dem  allgemein  acceptierten  Namen  als  Erythema  in- 
durativum Bazin  bekannt  ist,  hier  anführen  kann,  so  kann  ich  doch 
die  prinzipiell  wichtige  und  für  die  pathogenetische  Auf- 
fassung der  Tuberkulide  höchst  bedeutungsvolle  Frage, 
wie  weit  sich  die  Fälle  von  Folliclis  und  die  des  Erythema  in- 
durativum Bazin  voneinander  unterscheiden  resp.  einander  ähneln, 
nicht  übergehen. 

Diese  Affektion,  zuerst  von  Bazin  als  „Erytheme  indur6  scro- 
fuleux^'  beschrieben,  ist  charakterisiert  durch  das  Auftreten  von  erbsen- 
bis  über  nußgroßen  Knötchen,  die  besonders  an  den  Unterschenkeln  ihren 
Sitz  haben.  Die  einzelnen  Knötchen  sind  zuerst  nur  durch  das  Tastgefühl 
zu  konstatieren,  erst  später  nimmt  die  Haut  über  ihnen  eine  blaue  Ver- 
fUrbung  an.  In  den  seltensten  Fällen  tritt  eine  Resorption  ein,  meist 
kommt  es  zu  einem  Durchbruch  des  Knötcheninhaltes  und  es  treten  tiefe 


706  Fritz  Juliusberg, 

ülcerationen  auf.  Der  Verlauf  der  Einzeleffloreszeuzen  ist  meist  noch 
schleichender  als  der  der  FoUiclis  und  kann  sich  über  Monate  und  Jahre 
hinziehen.  Kurz  sei  darauf  hingewiesen,  daß  die  große  Aehnlichkeit  dieser 
Afifektion  mit  dem  Erythem a  nodosum  und  den  Gummen  der  Unterschenkel 
oft  die  Diagnose  außerordentlich  erschwert. 

BoECK  weist  ausdrücklich  darauf  hin,  daß  viele  Fälle  des 
Erythema  indurativum  seiner  Ansicht  nach  als  „Tuberculides 
nodulaires"  aufgefaßt  werden  müssen,  also  als  eine  Form,  welche 
sich  nur  durch  die.  Größe  der  Effloreszenzen  von  der  Folliclis 
resp.  dem  Lupus  erythematosus  disseminatus  unterscheidet. 
Hierher  gehören  gerade  eine  Reihe  durch  histologische  Untersuchungen 
und  Tierimpfungen  besonders  wertvoller  Fälle,  so  diejenigen  von 
Philippsohn,  Maclcod  und  Ormsbet.  In  der  Tat  zeigen  bei  diesen 
Fällen  die  histologischen  Untersuchungen,  daß  prinzipiell  zwischen 
diesen  Fällen  und  der  Folliclis  irgend  welche  Gegensätze 
nicht  bestehen.  Hier  wie  dort  beginnt  die  Erkrankung  in  der  Gre- 
fäßwandung  und  führt  in  ihrem  Verlaufe  zu  einer  zentralen  Nekrose 
mit  nachfolgender  Ulceration.  Die  einzige  Differenz,  nämlich  die  Tat- 
sache, daß  bei  diesen  Fällen  von  Erythema  indurativum  die 
Effloreszenzen  vor  allem  an  der  unteren  Extremität  sitzen  und  ver- 
einzelt an  der  oberen,  während  bei  der  Folliclis  das  umgekehrte 
quantitative  Verhältnis  vorherrscht,  ist  viel  zu  wenig  eingreifend,  um 
daraus  irgend  welche  Gegensätze  aufzubauen. 

Neben  diesen  Fällen  gibt  es  aber  auch  eine  Reihe  anderer, 
die  mit  ihren  plattenförmigen  Infiltraten  (cf.  speziell  Harttüngs 
Fall)  klinisch  doch  ein  ganz  anderes  Bild  bieten,  als  die  erstgenannten. 
Aber  auch  hier  bildet  die  Histologie  eine  gewisse  sehr 
weitgehende  Uebereinstimmung  mit  der  Folliclis  und  den 
von  BoECK  als  Tuberculides  nodulaires  bezeichneten  Fälle  von 
Erythema  indurativum,  besonders  im  Ausgang  des  pathologischen 
Prozesses  von  der  Gefäßwand.  Eine  gewisse  Differenz  beider  Formen 
zeigt  sich  übrigens  darin,  daß  die  erste  der  Folliclis  ähnelnde  auch 
häufig  nach  der  Ansicht  der  Autoren,  die  solche  Fälle  publiziert  haben, 
mit  derselben  kombiniert  erscheinen,  was  bei  der  zweiten  Form 
nicht  der  Fall  ist  (Johnston,  Whitfield  u.  a.).  Wir  werden  die  Be- 
weise, die  für  die  tuberkulöse  Natur  der  der  Folliclis  gleichenden  Form 
erbracht  worden  sind  und  die  von  Fällen  mit  der  Diagnose  von  Folliclis 
gewonnen  wurden,  zusammenstellen  müssen,  da  eine  Trennung  derselben 
unserer  Ansicht  nach  keine  Berechtigung  hat  und  auch  bei  der  wenig 
einschneidenden  Differenz  beider  Formen  kaum  möglich  sein  dürfte. 

Erfinde  fftr  die  tuberkulöse  Natur  der  nekrotisierenden 
Tuberkulide. 

Fassen  wir  das  Material,  welches  uns  bei  den  nekrotisierenden 
Tuberkuliden    für    und    wider    ein    Zusammenhang   mit   Tuberkulose 


lieber  „Taberknlide^*  und  disseminierte  Hanttuberkidosen.         707 

schlechthin,  und  ffir  eine  toxisch-tuberkulöse  Natur  auf  der  einen, 
bacillär-tuberkulöse  Natur  auf  der  anderen  Seite  spricht,  zusammen,  so 
ergeben  sich  folgende  Momente: 

1)  Fast  stets  weist  das  erkrankte  Individuum  ander- 
weitige sichere  Tuberkulosen  auf,  eine  Tatsache,  die  ebenso- 
gut für  einen  toxisch-tuberkulösen  Charakter,  wie  für  eine  bacillär- 
tuberkulöse  Natur  der  Hauterkrankung  sprechen  würde.  Diese  ander- 
weitigen Tuberkulosen  sind  in  der  Regel  chronischer  Natur  und  zwar 
meist  Lymphdrüsenerkrankungen,  die  sich  gelegentlich  erst 
durch  Injektionen  von  Tuberkulin  als  tuberkulös  feststeUen  lassen. 

2)  Die  Affektion  reagiert  häufig,  was  ebenso  wie  1)  zu 
verwerten  ist,  lokal  auf  Alttuberkulin.  Bei  dem  tiefen  Sitze 
der  Effloreszenzen  im  Beginn  ist  aber  auch  die  Möglichkeit  vorhanden, 
daß  die  reaktive  Entzündungszone  bei  schwachem  lokalen  Reagieren 
nicht  die  Hautoberfläche  erreicht  und  so  der  Beobachtung  entgeht,  so 
daß  vielfach  die  lokale  Reaktion  durch  diesen  Umstand  nicht  mit  der 
nötigen  Schärfe  konstatiert  werden  kann  oder  gar  der  Beobachtung  ganz 
entgeht.  Daß  auch  abgeheilte  Effloreszenzen  (cf.  Fall  5)  auf 
Injektion  von  Alttuberkulin  reagieren,  stützt,  wie  mir 
scheint,  die  Ansicht  KLiNOMt^LLERs,  daß  auch  bacillenfreies 
tuberkulöses  Gewebe  auf  Alttuberkulin  lokal  reagieren 
kann.  Freilich  müssen  wir  mit  Rücksicht  auf  die  weiter  unten  von 
mir  als  ö  angeführte  Beobachtung  auch  die  Möglichkeit  zugeben,  daß 
noch  Tuberkelbacillen  in  einer  derartigen  Narbe  zurückgeblieben  sein 
können. 

3)  Gegenüber  zahlreichen  negativen  Untersuchungen  auf  Tuberkel- 
bacillen konnten  Philippsohn,  Magleod  und  Ormsby  solche 
konstatieren. 

4)  Gegenüber  zahlreichen  negativen  Tierimpfungen  haben  Philipp- 
sohn, Thibierge  und  Ravaut  an  Meerschweinchen  positive 
Impfungen  erzielen  können.  Die  lange  Inkubationszeit  der 
geimpften  Tiere  spricht  für  eine  geringe  Virulenz  des  verimpften 
Materials.  Wir  weisen  an  dieser  Stelle  auf  eine  unseres 
Erachtens  sehr  wichtige  Mitteilung  von  Cazin  und 
IscovESCO  hin,  auf  die  mich  Kollege  Pinküs  aufmerksam  machte. 
Diese  beiden  Autoren  katten  nämlich,  veranlaßt  durch  das  häufige  Vor- 
kommen der  Pernionen  bei  skrofulösen  Kindern  (welches  auch 
Bazin  und  Hardt  auffiel)  und  zwar  schon  1889,  also  zu  einer 
Zeit,  wo  die  „nekrotisierenden  Tuberkulide**  noch  nicht 
entdeckt  waren,  sowohl  mikroskopische  Untersuchungen 
angestellt,  wobei  das  erkrankte  Gewebe  als  ein  Granulations- 
gewebe  mit  Riesenzellen  sich  erwies  —  das  Suchen  nach 
Tuberkelbacillen  war  negativ,  bis  auf  einen  nicht  sicheren 
—  als  auch  4  Meerschweinchen  mit  derartigem  Gewebe  geimpft, 


708  Fritz  Juliusberg, 

welche  alle  vier,  4  Monate  später  getötet,  Tuberkulose  mit  Sicher- 
heit aufwiesen,  ein  verspätetes  Wirken  der  Impfung,  das  mit  Philipp- 
sohns Tierversuch  in  gutem  Einklang  steht. 

5)  In  der  Narbe  einer  derartigen  Effloreszenz  konnte 
ein  lupöser  Herd  klinisch  und  mikroskopisch  von  mir 
festgestellt  werden  (cf.  Fall  9).  Da  eine  spätere  Infektion  der 
glatten  Narbenoberfläche  immerhin  unwahrscheinlich  erscheint,  ist  die 
Vermutung  sehr  naheliegend,  daß  der  Keim  zu  dem  Lupus  durch  das 
Tuberkulidknötchen  gelegt  worden  ist. 

6)  Der  histologische  Bau  ist  als  typisch  tuberkulös  nur 
von  Philippsohn,  Macleod  und  Ormsby  angegeben.  Tuberkulose- 
verdächtigeElemente  (Riesenzellen,  epitheloide  Zellen  und  Nekrose) 
wurden  von  den  meisten  Autoren  beobachtet.  Daß  überhaupt 
gar  kein  für  Tuberkulose  verdächtiger  Befund  sich  erheben  läßt,  kommt 
seltener  vor.  Es  scheint  nach  unseren  Untersuchungen,  als  ob  ein 
histologisch  uncharakteristisches  Bild  mehr  den  früheren  Stadien  der 
Erkrankung,  die  tuberkuloseverdächtigen  resp.  tuberkulöse  Verände- 
rungen einem  höheren  Alter  der  Effloreszenz  eigen  seien.  Dies  würde 
dafür  sprechen,  daß  bei  dieser  Erkrankung  das  tuberkulöse  Gift,  sei  es 
nun  bacillenhaltig  oder  nicht,  eine  außerordentliche  Schwäche  in  seiner 
Wirkung  aufweist.  Wenigstens  kontrastiert  sehr  auffällig  damit  die 
Schnelligkeit,  mit  der  virulentes  Tuberkelbacillenmaterial  (cf.  Wechs- 
berg und  6.  Herxheimer)  und  auch  bacillenfreies  tuberHulöses  Toxin 
(Klingmijller)  typische  tuberkulöse  Veränderungen  hervorruft. 

Auf  Grund  dieser  Erwägungen  und  Tatsachen  stehen 
wir  nicht  an,  den  Zusammenhang  der  nekrotisierenden 
Tuberkulide  mit  Tuberkulose  als  gesichert  anzunehmen. 
Einige  Beobachtungen  beweisen  (Punkt  3,  4  und  5),  daß  auch 
Bacillen  in  diesen  Effloreszenzen  vorkommen  können  und 
daß  (Punkt  4  und  5)  diese  Bacillen  verimpfbar  und  wahr- 
scheinlich sehr  selten  (Punkt  5)  imstande  sind,  auch  bei  Men- 
schen Formen  der  bekannten  Hauttuberkulosen,  in  unserem 
Falle  ein  Lupus  vulgaris  hervorzurufen.  Ob  Bacillen  regelmäßig 
selbst  die  Effloreszenzen  veranlassen  oder  ob  deren  Toxine  auch  hier 
eine  Rolle  spielen,  wie  beim  Liehen  scrofulosorum,  müssen  wir  zum 
Entscheid  weiteren  Untersuchungen  überlassen.  Ein  Wahrschein- 
lichkeitsmoment, welches  beim  Liehen  scrofulosorum  die 
Möglichkeit  eines  häufigeren  rein  toxischen  Ursprunges 
offen  läßt,  nämlich  die  Beobachtung,  daß  auch  das  Tuberkulin  als 
solches  ein  Arzneiexanthem,  das  wir  vom  Liehen  scrofulosorum  weder 
klinisch  noch  mikroskopisch  abgrenzen  können,  hervorruft,  besteht  bei 
den  nekrotisierenden  Tuberkuliden  nicht;  denn  diesen 
Affektionen  ähnliche  Arzneiexantheme  sind  noch  nie  nach  Tuberkulin 
beobachtet  worden. 


Ueber  „ Tuberkulide^'  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         709 

Eine  Schwierigkeit  gegenüber  den  sehr  schwerwiegend  für 
Tuberkulosen  sprechenden  Gründen  liegt  anscheinend  darin,  daß  das 
histologische  Bild  kein  für  Tuberkulose  typisches  ist, 
wenigstens  in  den  meisten  Fällen,  auch  in  den  Fällen,  in  denen  ganze 
Effloreszenzen  vollständig  in  Serien  untersucht  worden  sind.  Dieses  im 
höchsten  Grade  auffallende  Ergebnis  steht  sogar  mit  dem  Liehen  scro- 
fulosorum,  also  einer  ganz  besonders  gutartigen,  in  der  Regel  spontan 
verheilenden  Hauttuberkulose  insofern  in  gewissem  Gegensatz,  als  hier 
das  für  Tuberkulose  sprechende  Gewebe  viel  leichter  zu  konstatieren 
ist.  Baumgarten  hatte  bekanntlich  die  Anschauung  ausgesprochen, 
daß  Tuberkelbacillen  erst  dann,  wenn  sie  in  Wucherung  begriffen  sind, 
wirklich  tuberkulöse  Veränderungen  herbeiführen  können,  eine  An- 
schauung, die  allerdings  von  vielen  Seiten  lebhaft  bestritten  wird.  Auch 
uns  scheint  diese  Hypothese  entbehrlich  und  sogar  unseren  klinischen 
Beobachtungen  in  gewisser  Weise  zu  widersprechen,  wenn  wir  bedenken, 
daß  unsere  kutanen  Tuberkulodermaformen  durch  entweder  sehr  wenig 
virulente  oder  durch  tote  Bacillen  oder  auch  bloß  durch  Toxine  hervor- 
gerufen werden.  Wir  müssen  dann  allerdings  annehmen,  daß  der  Viru- 
lenzgrad des  Giftes  schon  von  vornherein  ein  viel  geringerer  ist,  als 
beim  Liehen  scrofulosorum,  wo  wir  im  allgemeinen  den  typisch-tuber- 
kulösen Bau  antreffen,  oder  die  Art  der  Entstehung  muß  bei 
der  Folliclis  eine  ganz  besonders  schwächende  Wirkung 
auf  das  Virus  ausüben.  Wir  haben  schon  oben  betont,  daß  uns  die 
histologischen  Veränderungen,  die  nicht  für  Tuberkulose  sprechen, 
weniger  bedeutungsvoll  erscheinen,  als  die  Punkte,  die  uns  zu  der  An- 
nahme einer  tuberkulösen  Natur  der  nekrotisierenden  Tuberkulidformen 
drängen.  Wir  wollen  an  dieser  Stelle  hinzufügen,  daß  es  auch  hier 
in  der  Regel  Tuberkulosen  chronischer  Natur  speziell  der 
Lymphdrüsen  sind,  welche  die'  primäre  Tuberkulose  darstellen. 
Darum  ist  es  auch  unter  Umständen  schwer,  diese  als  sicher  tuberkulös 
zu  erweisen.  Bei  unserem  Fall  6  beispielsweise  war  bei  der  Aufnahme 
der  Patientin  außer  der  Folliclis  und  einigen  vergrößerten  Drüsen  am 
Hals  nichts  für  die  Tuberkulose  Sprechendes  nachzuweisen.  Erst  als 
wir  Alttuberkulin  injizierten,  bewies  die  allgemeine  Reaktion  und  das 
Sichtbarwerden  eines  Liehen  scrofulosorum  die  Tuberkulose  der  Patientin. 

Ein  auffallender  Gegensatz  besteht  betreffs  des 
Alters  zwischen  den  vom  Liehen  scrofulosorum  und  dem 
von  der  Folliclis  befallenen  Patienten.  Der  Liehen  scro- 
fulosorum —  und  dasselbe  gilt  für  die  Acne  scrofulosorum  — 
tritt  am  häufigsten  in  den  ersten  10  Lebensjahren  auf, 
während  die  Folliclis  in  den  meisten  Fällen  einem  späteren  Alter, 
etwa  um  das  20.  Lebensjahr  herum,  eigen  ist.  Hier  sind  es 
wieder  häufiger  weibliche  Patienten,   und  wie  ich  schon  oben  betonte, 

MitMl.  a.  d.  GrenzfeMetea  d.  Mediziii  a.  Chirarvl«.    Xm.  Bd.  4ß 


710  Fritz  Juliusberg, 

spielt  relativ   oft  eine   vorausgegangene  Kältewirknng  eine  prädispo- 
nierende  Rolle. 

Trotz  dieser  Differenzen  ist  aber  die  Prognose  so- 
wohl der  nekrotisierenden  Tuberkulide  wie  des  Liehen 
oder  Acne  scrofulosorum  —  ich  sehe  dabei  ab  von  dem  sicher 
lokal  sehr  gutartigen  Prozeß  —  dieselbe.  Die  kutane  Erkran- 
kung spricht  zwar  für  die  Tuberkulose  des  befallenen 
Individuums,  aber  diese  ist  in  der  Regel  eine  torpide 
verlaufende,  die  durch  eine  zweckmäßige  Allgemeinbehandlung  sehr 
günstig  beeinflußt  werden  kann.  In  dieser  Hinsicht  haben  diese 
Hauterkrankungen  eine  nicht  zu  unterschätzende  Be- 
deutung und  geben  uns  wertvolle  Fingerzeige  für  die 
Beurteilung  des  Gesundheitszustandes  und  die  Besse- 
rung desselben  in  einem  Lebensalter,  wo  das  durch  seine 
Tuberkulose  nicht  so  widerstandsfähige  Individuum  am 
leichtesten  den  Schädigungen  aller  Art  ausgesetzt  ist. 

Wir  haben  es  also  mit  zwei  Hauptgruppen  exanthematischer 
Hauttuberkulosen  zu  tun,  die  neben  ihrer  disseminierten 
Verteilung,  durch  ihre  Benignität,  ihr  in  der  Regel  spon- 
tanes Abheilen,  ihre  nur  selten  beobachtete  Tendenz  in 
weniger  gutartige  Tuberkulosen  überzugehen,  den  bekannten 
Hauttuberkulosen  gegenüber  eine  gewisse  Sonderstellung  ein- 
nehmen. Dieser  Sonderstellung  wurde  von  verschiedenen  Seiten  her 
auch  in  der  Benennung  Rechnung  getragen  und  so  die  verschiedenen 
Gruppenbezeichnungen  Toxituberkulide,  Tuberkulide,  para- 
tuberkulöse Affektionen  undExantheme  der  Tuberkulose 
in  die  Literatur  eingeführt,  von  denen  die  DARiERSche  Bezeichnung 
Tuberkulide  sich  den  meisten  Anklang  verschaffte.  Es  liegt  unserer 
Ansicht  nach  kein  Grund  vor,  diesen  Namen,  der  sich  so  festgesetzt 
hat  und  mit  dem  man  den  Zusammenhang  mit  Tuberkulose 
einerseits,  die  Benignität  der  Eruption  andererseits  zum 
Ausdruck  zu  bringen  suchte,  wenn  er  auch  sprachlich  nicht  ganz  ein- 
wandfrei ist,  fallen  zu  lassen.  Nur  müssen  wir  uns  natürlich  hüten^ 
solche  Affektionen,  deren  Zusammenhang  mit  Tuberkulose  absolut  noch 
nicht  erwiesen  ist,  dieser  Gruppe  beizugesellen. 

Differenzen  zwischen  Tuberkuliden  und  anderen 
ex  an  thematischen  Haut  tuberkulösen. 

Verlockend  scheint  es,  wie  dies  Zollikoper  getan  hat,  die  Tuber- 
kulide als  „hämatogene  Hauttuberkulosen^  den  früher  bekannten 
Tuberkulosen  der  Haut  gegenüberzustellen.  Zollikoper  stützt  sich 
dabei  auf  die  Beobachtung,  daß  speziell  beim  Lupus  vulgaris  die  auf 
hämatogenem  Wege  entstandenen  Formen  zu  den  relativen  Seltenheiten 
gehörten.  Wir  müssen  dem  entgegen  betonen,  daß  diese  An- 


lieber  „Tuberkulide^  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.         711 

nähme  nur  mit  erheblicher  Einschränkung  zu  acceptieren 
ist  Faßt  man  nur  die  lokalisierten  LupnsfUle  ins  Auge,  so  dürfte 
ZoLLiKOFERs  Behauptung,  daß  diese  Fälle  in  der  Regel  Inokulations- 
tuberkulose darstellen,  richtig  sein;  denn  bei  diesen  Formen  ist  eine 
hämatogene  Infektion  anscheinend  nicht  häufig,  und  es  dürfte  zu  den 
größten  Seltenheiten  gehören,  hier  einen  Infektionsmodus  auf  dem  Blut^ 
wege,  wie  dies  Wolter  jüngst  gelungen  ist,  nachzuweisen.  Ebenso 
gilt  natürlich  die  lokale  Infektion  wohl  für  die  meisten  Fälle  der  Tuber- 
culosis verrucosa  cutis  und  des  Skrofülodermas.  Jedoch  zeigt  uns  die 
umfangreiche  Kasuistik,  daß  —  ganz  abgesehen  von  einigen  Beob- 
achtungen von  ^Hauttuberkulosen^  sensu  strictiori  mit  reichlichem 
Bacillengehalt  —  auch  beim  Lupus  vulgaris  recht  häufig  Fälle 
beobachtet  sind,  bei  denen  wir  sicherlich  einen  hämatogenen  In- 
fektionsmodus annehmen  müssen.  Mit  diesen  ^disseminierten^ 
Hauttuberkulosen  haben  wir  uns  jetzt  zu  beschäftigen. 

Zuerst  von  Leightenstern,  später  von  Meter,  Pelaoatti  und 
Heller  und  ganz  jüngst  von  Rendsburg  wurden  Fälle  von  akuter 
miliarer  Tuberkulose  der  Haut  beschrieben,  akute  Schübe  mit 
BläschenbUdung  und  reichlichem  Bacillengehalt,  die  sicherlich  auch 
auf  hämatogenem  Wege  zustande  kommen  und  deren  tuberkulöse 
Natur  unbestreitbar  ist. 

Der  Lupus  vulgaris  weist  drei  Formen  auf,  die  als  disse- 
minierte Tuberkulosen  hier  Platz  finden  müssen: 

Es  sind  dies  1)  die  Fälle,  wo  in  der  durch  frühere  Pro- 
zesse elefantiastisch  verdickten  Haut  die  Verbreiterung 
der  Lymphspalten  und  Gefäße  der  Aussaat  und  Ansiede- 
lung der  Tuberkelbacillen  einen  besonders  günstigen 
Boden  schuf.  Diese  Fälle  haben  natürlich  je  nach  dem  modifizierten 
Terrain  gewöhnlich  nur  eine  beschränkte  Verbreitung,  meist  nur  auf 
einer,  vor  allem  der  unteren  Extremitäten,  und  man  könnte  darüber 
strittig  sein,  ob  diese  Fälle  —  einen  typischen  Fall  dieser  Art  habe  ich 
vor  einigen  Jahren  in  Neissers  stereoskopischem  Atlas  veröffentlicht  — 
einwandsfrei  hier  zu  den  disseminierten  Tuberkulosen  zu  rechnen  sind. 
Geben  wir  der  Beobachtung  Raum,  daß  bei  den  nekrotisierenden  Tuber- 
kuliden Einflüsse  (vor  allem  der  Temperatur)  auf  die  Gefäße  einen 
günstigen  Boden  an  besonders  ausgesetzten  Körperteilen  für  die  tuber- 
kulöse Erkrankung  schaffen,  so  würde  doch  darin  eine  Berechtigung 
mehr  liegen,  diese  Fälle  hier  mitanzuführen. 

Unzweifelhaft  gehören  aber  die  Fälle  von  Lupus  vulgaris 
disseminatus  hierher,  die  von  Adamson,  Besnier,  Du  Gastel, 
DouTRELEPONT,  Hall,  Juliusberg,  Loustak  uud  NIELSEN  uach 
Masern,  von  Doutrelepont,  Philippson,  Tobler  nach  Schar- 
lach, von  Neisser  nach  Varicellen  beobachtet  worden  sind.  Die 
klinische  Entwickelung   dieser  LupusflQle    spricht   sicherlich  für  eine 

46* 


712  Fritz  Juliusberg, 

faämatogene  Infektion,  wenn  auch  nach  Philippson  der  knotenförmige 
Bau  der  einzelnen  oberflächlichen  Herde  im  Gegensatze  zum  dentritisch 
verzweigten  der  auf  dem  Blut-  oder  Lymphwege  entstandenen  auf  eine 
Inokulation  von  außen  deuten  würde. 

Die  dritte  Gruppe  umfaßt  die  sogenannten  Lupus  follicularis- 
Fälle  im  Gesicht,  mehrfach  als  Acne  teleangiectodes  publi* 
ziert,  bei  denen  auch  das  gleichzeitige  schubweise  Auftreten  der  zahl- 
reichen Knötchen  für  eine  Entstehungsweise  auf  dem  Zirkulationswege 
spricht  Ob  die  als  Acnitis  bezeichneten  Fälle  (c£  oben)  hierher  ge- 
hören, läßt  sich  vor  der  Hand  noch  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden. 
Uebrigens  sei  hier  kurz  bemerkt,  daß  es  neben  den  von  Finger  als 
Lupus  follicularis  gedeuteten  Fällen  von  Acne  teleangiectodes 
auch  solche  gibt,  die  anscheinend  nicht  unter  die  Tuberkulose  einzu- 
reihen sind,  wie  Finger  unlängst  hervorhebt. 

In  vieler  Beziehung  bemerkenswert  ist  ein  Fall  Naeoelis  als 
hämatogene  Hauttuberkulose  beschrieben,  bei  dem  sich 
verschiedene  subkutane  Knötchen  —  eines  derselben  erinnerte  durch 
Bildung  eines  Pus  focus  an  die  Folliclis  —  entwickelten,  die  histologisch 
Tuberkulose  mit  Verkäsung  und  Bacillen  aufwiesen.  Leider  ist  nicht 
angegeben,  ob  in  den  verkästen  zentralen  Partien  sich  Reste  von  Ge- 
fäßen nachweisen  ließen. 

Wir  können  uns  nach  Anführung  des  letztgenannten  Materials  des- 
wegen nicht  mit  dem  Vorschlag  Zollieofers,  die  Tuberkulide  als 
„hämatogene''  Haut  tuberkulösen  abzusondern,  einverstanden 
erklären.  Es  liegt  nahe,  nachzuforschen,  ob  bei  den  disseminierten 
Formen  des  Lupus  vulgaris,  ähnlich  wie  bei  Wolters  lokalisiertem 
Falle,  nicht  auch  die  Gefäße  histologisch  in  irgend  einem  Zusammen- 
hang mit  dem  Entstehen  der  tuberkulösen  Granulationsmassen  zu  setzen 
sind.  In  gewissem  Sinne  hat  Philippson  dieser  Frage  Rechnung  ge- 
tragen, indem  er  auf  den  dendritischen,  entlang  den  Gefäßen  angeord- 
neten Bau  des  hämatogen  entstandenen  Lupus  vulgaris  hinwies.  An 
den  Präparaten  eines  früher  von  mir  beschriebenen  Falles  von  Lupus 
vulgaris  disseminatus  konnte  ich  allerdings  den  dendritischen  Bau  und 
die  Anordnung  um  die  Gefäße  nicht  als  deutlich  ausgesprochen  kon- 
statieren; möglicherweise  sind  aber  die  von  Philippson  gefundenen 
Lokalisationen  nur  deutlich  erkennbar,  wenn  man  ganz  frische  Herde 
zur  Untersuchung  bekommt,  und  werden  verwischt,  wenn  der  einzelne 
Herd  einen  längeren  Bestand  erreicht  hat. 

Fassen  wir  noch  einmal  das,  was  wir  wissen  über  die  Tuberkulide 
und  die  Eigenschaften,  die  sie  uns  im  Gegensatz  stellen  lassen  gegen- 
über den  bekannten  Formen  der  Hauttuberkulose,  zusammen,  so  kommen 
wir  zu  dem  Schlüsse,  daß  neben  den  sicher  bekannten,  in 
Exanthemform  auftretenden  typischen  Haut  tuberkulösen, 
nämlich   den   oben    zusammengestellten   Formen    des   Lupus  vulgaris 


üeber  „ Tuberkulide^  und  disseminierte  Hauttuberkulosen.        713 

disseminatus,  wozu  auch  der  Lupus  follicularis  disseminatus 
gehört  und  den  von  Leightenstern  u.  a.  beschriebenen  bläschen- 
förmigen Eruptionen  bei  allgemeiner  Miliartuberkulose  eine  Gruppe 
besonders  gutartiger  Exantheme  besteht,  der  sogenannten  Tuber- 
kulide, die  durch  ihre  Benignität  und  ihr  spontanes  Abheilen 
charakterisiert  sind,  die  lokal  stets  eine  günstige  Prognose 
geben  und  deren  Bedeutung  vor  allem  darin  liegt,  daß 
sie,  da  sie  sekundäre  Infektion  oder  Intoxikation  von 
einem  oder  mehreren  primären  tuberkulösen  Herden  her 
darstellen,  uns  so  diagnostische  Rückschlüsse  auf  diese 
gestatten.  Sehen  wir  von  der  Kasuistik  einiger  eigentümlicher  und 
nicht  immer  mit  Sicherheit  hierher  gehöriger  Fälle  ab,  so  zerfallen 
diese  Tuberkulide  in  zwei  Hauptformen: 

1)  in  die  des  Liehen  scrofulosorum  und  die  der  ihm  nahe 
verwandten  Acne  scrofulosorum; 

2)  in  die  nekrotisierenden  Formen,  zu  der  die  Folliclis, 
die  von  dieser  kaum  abzugrenzenden  „Tu berculi des  nodulaires'' 
und  wohl  auch  die  Fälle  von  Erythema  indurativum  mit  platten 
Infiltraten  gehören. 

Wenn  es  auch  mit  Sicherheit  feststeht,  daß  in  einer  Reihe  von 
Fällen  beider  Gattungen  Tuberkelbacillen  lokal  vorkommen,  so  ist  doch 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  daß  auch  von  den  primären  Herden 
auf  dem  Zirkulationswege  fortgeführte  Toxine  allein  derartige  Exantheme 
hervorrufen  können;  daß  dieser  Fall  eintreten  kann,  ist  durch  einige 
Arbeiten  aus  der  Breslauer  Klinik  nachgewiesen  worden. 

Während  bei  den  nekrotisierenden  Formen  der  Ausgang  der  Einzel- 
efüoreszenzen  von  den  Gefäßen  sicher  feststeht  und  sich  auch  histo- 
logisch in  der  Regel  leicht  nachweisen  läßt,  ist  bei  der  Gruppe  des 
Liehen  skrofulosorum,  wo  die  Entstehung  der  Eruption  auf  dem  Zir- 
kulationswege kaum  zu  bezweifeln  sein  dürfte,  die  Beteiligung  der  Ge- 
fäße nicht  in  deutlicher  Weise  zu  verfolgen. 

Zum  Schlüsse  ist  es  mir  eine  angenehme  Pflicht,  meinem*  ver- 
ehrten früheren  Chef,  Herrn  Geheimen  Medizinalrat  Professor  Dr. 
Neisber,  für  die  Ueberlassung  des  Materiales  und  die  Unterstützung 
bei  dieser  Arbeit  ergebenst  zu  danken. 


Literatur. 

I.  Allgemeines  über  Tuberkulose. 
Baumgabtbn,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  9  u.  10. 
Hbbxhbimbr,    G.,   Zisolers  Beitr.   z.  path.  Anat   u.  z.  allg.  Path.,    1903, 

p.  363  ff. 
Wbchsbbro,  Beitr.  z.  path.  Anat.  u.  z.  allg.  Fath.,  1901. 


714  Fritz  Juliusberg, 

IL  lieber  Hauttnberknlose  im  allgemeinen. 

Lehr-  und  Handbticher  von  HauiOpbau-Lbrbbdib,  Hbbra,  Jarisch,  Kaposi 
(cf.  auch  Uebersetzong  von  Bbsnibr-Doton),  Nbissbr  in  t.  Zibmssbbts 
Handbuch,  Nbisser-Jadassohn  in  Ebstjun-Sohwalbbs  Handbuch. 

Referate  und  Diskussion  über  Hauttuberkulose  auf  dem  2.  intemat.  Dermat- 
Kongreß  zu  London  (Hallopbau,  Fox,  Pbllizabi,  Jadassohn). 

Jadassohn  in  Lubarsch-Ostbrtag,  1896;  BerL  klin.  Wochenschr.,  1899. 

Klinomüllbr,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1903,  p.  778  (Entstehung  von  tuber- 
kulösem Oranulationsgewebe  durch  bacillenfreiee  Toxin).  Arch.  f.  Dermat., 
Bd.  69,  1904. 

Nbissbr,  Stereoskopisch-med.  Atlas,  30/31,  1900;  Diagnostischer  Wert  des 
Alttuberkulins.  Therap.  d.  Gegen w.,  1900;  Hauttuberkulosen  und  Tuber- 
kulide.    Dtsoh.  Klinik,  1902. 

IIL  üeber  Lupus  erythematosus. 

Jadassohn  in  Lubarsch-Ostbrtao,  1896,  und  Mraqbk,  Handbuch  der  Haut- 
krankheiten, Bd.  3. 

Kaposi,  Ueber  den  akuten,  disseminierten  Lupus  erythematosus.  Arch.  £ 
Dermat.,  1869,  1872. 

Pick,  W.,  Beziehung  des  Lupus  erythematosus  zur  Tuberkulose.  Arch.  f. 
Dermat.,  Bd.  68,  1901. 

Roth,  Beziehungen  des  Lupus  erythematosus  zur  Tuberkulose.  Arch.  f. 
Dermat.,  Bd.  51,  1900. 

VoiROL,  Dtsch.  Med,-Ztg.,  1903,  No.  80—85. 

IV.  Ueber  Tuberkulide  im  allgemeinen. 
Berührt  werden  die  Tuberkulide  in  den  meisten  obigen  Arbeiten  (cf. 
speziell  Referat  und  Debatten  auf  dem  Londoner  Kongreß,  Hallopbau  in 
seinem  Lehrbuche,   Jadassohn   in  Berl.  klin.  Wochenschr.,    1899,   Nbissbr 
in  Dtsch.  Klinik. 
Referat   und   Debatten    auf  dem   4.   intemat.  Dermat-Kongr.,   Paris  1900 

(BoBCK,  Fox,  Campana,  Ribhl,  Daribr,  Aüdry,  Nbissbr,  Jadassohn). 
Debatten-  und  Diskussionsbemerkungen  auf  dem  6.  Kongr.  d.  Dtsch.  Dermat.- 

Oesellsch.,  Straßburg  1898  (Wolff,  Jagobi,  Jadassohn,  Nbissbr). 
Bbauprbz,  Gontribution  &  T^tude  de  la  folliclis.     Th^se  de  Paris,  1898. 
Bbttman,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1904,  No.  18  u.  19. 
BoBC«;  Arch.  f.  Dermat.,  Bd.  42,  1898,  p.  71,  175,  363  ff. 
Daribr,  Ann.  de  dermat,  1896,  p.  1431. 
Frinoubt,  Des  tuberculides  et  particuli^rement  de  la  forme  folliclis.     These 

de  Paris  1898. 
Hallopbaü,  Ann.  de  Dermat.,  1896,  p.  508. 

Haüry,  Essai  sur  les  tuberculides  cutan^es.     Th^se  de  Paris,  1899. 
JoHNSTON,  The  cutaneous  paratuberculoses.     The  Philadelphia  monthly  med. 

Journ.,  1899,  p.  78  ff. 
LbrbddE;  La  sem.  med.,  1900,  p.  1  ff. 
NicoLAü,  Ann.  de  Dermat.,  1903,  p.  713  ff. 
Tanybt,  Contribution  k  l'6tude  des  hidrosadenites  suppuratives  disseminees. 

Thöse  de  Bordeaux,  1894. 
ToüTON,  6.  Dtsch.  Dermat-Kongr.,  1899,  p.  52  ff. 
ZoLLiKOFBR,  Korrcsp.-Bl.  f.  Schweizer  Aerzte,  1902,  No.  6. 


üeber  „Tuberkulide'^  and  disseminierte  Hanttuberkulosen.         715 

V.  Lieben  scrofulosorum. 

S,  u.  4.  intemat  Dermat-Kongr.  Bobgks,  Jadassohks,  Klingmüllbrs, 
Neissbbs  oben  zitierte  Arbeiten. 

Bbttman  (cf.  oben  [Bacillennachweis]). 

OoMBY,  Liehen  scrof.  nach  Masern.  20.  Vers.  d.  Gesellsch.  f.  Kinderheilk., 
1904,  p.  179. 

Hallopbau,  Ann.  de  dermat.,  1892,  p.  284. 

Haüshalteb,  Liehen  scrof.  nach  Masern.  Ann.  de  dermat,  1898,  p.  455 
(posit.  Tierimpfung). 

Hebra,  Hautkrankheiten,  1860. 

HuDBLO  u«  Hbrenschmidt,  Licheu  sorof.  nach  Masern.  Ann.  de  dermat., 
1901,  p.  626. 

Jacobi,  3.  Kongr.  d.  dtsch.  dermat.  Gesellsch.,  1892,  p.  69.  (Bacillennach- 
weis.)    6.  Kongr.  ders.  Gesellsch.,  1899,  p.  496  (posit,  Tierimpfung). 

Jadassohn  (cf.  oben  [lokale  Tuberkulinreaktion]). 

Klingmüllbr  cf.  oben  (Entstehung  des  Liehen  scrofulosorum  durch  Toxine). 

LBFäBVRB,  Thöse  de  Nancy,  1898  (Fälle  Haushaltbrs). 

Neissbr  cf.  oben  (Hinweis  auf  positive  lokale  Tuberkulinreaktion  und  echt 
tuberkulöse  Natur  des  Liehen  scrof.). 

Pbllizari,.  Londoner  Kongr.,  p.  426.     (Positive  Tierimpfung.) 

PoRGBS,  Arch.  f.  Dermat.,  Bd.  66,  1903,  p.  401. 

BiBHii,  cf.  Pariser  Kongreß  u.  Arch.  f.  Dermat.,  p.  852. 

ScHWBNTNGBR  u.  Buzzi,  Mouatsh.  f.  prakt.  Dermat.,  Bd.  11,  No.  12. 

WoLPP,  6.  Kongr.  d.  dtsch.  Dermat.-Gesellsch  (Bacillennachweis). 

VL  Acne  scrofulosorum. 
Bbauprez,  cf.  Th^se. 

Du  Castel,  Anu.  de  Dermat.,  1898,  p.  540. 

Badgliffe  Crockbr,  2.  intemat.  Dermat.-Kongr.,  Wien  1893,  p.  510  fF. 
CoLCOTT  Fox,  The  Brit.  Journ.  of  Dermat.,  1897,  p.  341. 
Pox  u.  Galloway,  Ebenda,  1897,  p.  273. 
Gallowat,  Ebenda,  1896,  p.  89  u.  221,  1895,  p.  107. 
Gastou  et  Emery,  Ann.  de  Dermat.,  1896,  Deo. 
Haüry,  cf.  Th^se. 
Jarisgh,  cf.  Lehrbuch,  p.  439. 

Jamibson,  The  Brit.  Journ.  of  Dermat.,  1894,  p.  217. 
Malcolm  Morris,  The  Brit.  Journ.  of  Dermat.,  p.  167. 
Pringle,  The  Brit  Journ.  of  Dermat.,  1894,  p.  217,  und  1895,  p.  119. 
Stanley,  The  Brit.  Journ.  of  Dermat.,  1893,  p.  341  fF. 
TouTON,  Acne-Referat  auf  dem  6.  dtsch.  Dermat.-Kongr.,  p.  73. 

VIL  Nekrotisierende  Tuberkulidformen. 
(Folliclis,  „Tuberculides  nodulaires",  Erythema 
in  durativ.  Bazin^). 
Keferate   und  Debatten   auf  dem  Londoner   und  Pariser  internat.  Kongr., 
BoBCKS  Arch.,  1898  (dort  viel  Kasuistik),  Thesen  von  Bbaijpbez,  Fringuet, 
Haury,  Tanvbt. 
Alexander,  Dtsch.  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  71,  p.  587,  u.  Arch.  f.  Dermat., 
Bd.  70,  1904. 


1)  Die  Fälle  ohne  weitere  Bemerkungen  gehören  zur  Folliclis. 


716  Fritz  Julinsberg, 

Allbn,  Polliclis.     Joum.  of  out.  diseases,    1898,   p.  227,  u.  1900,  p.  171. 
AuBKBT,  Ann.  de  Dennat,  Bd.  10,  1879/80,  p.  259.    (Als  Acne  induree 

g6n^ralis6e  bezeichnet,  offenbar  Folliclis.) 
AuDBT,  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.,  Bd.  26,  1898,  p.  481  (Eryth.  indurata 

Bazin). 
Balzbr  et  Alquibr,  Ann.  de  Dermat.,  1900,  p.  531  u.  1171. 
Balzer  et  Leroy,  ebenda,  p.  550. 
Balzbr  et  Moüssbaüx,  ebenda,  1899,  p.  136. 
Babthälbmy,  Ann.   de  Dermat.,    1891,  p.  1   u.  163,   1892,  p.  619,    1893, 

p.   883,   1897,   p.    173.     (Erste  Beschreibung  der  Folliclis   und  Acnitis 

und  Differenz  beider  Formen,  cf.  auch  fg.  Mitteilung.) 
Barthälbmy  et  Saint-Gbbmain,  ebenda,  1890,  p.  979. 
BoECK,  Norsk  Magaz.  for  Lsegevidenskaben,  1880.     Bef.  Arch.  f.  Dermat.,. 

p.  587.     (Die  ersten  2  Fälle  von  Bobcks  Lupus  eryth.  diss.) 
Brogq,   Traitement  des   maladies   de   la  peau,    1890,   p.   318,   u.  Ann.  de 

Dermat,  1897,  p.  60. 
Bronson,   Joum.  of  cut.  and  genito-urinary  diseases,    1889,   p.  401,    1891, 

p.  121. 
Brousse  et  Ardin-Dbltbil,  Joum.  des  mal.  cut.  et  syph^j  1900,  p.  657. 
Du   Castbl,   Ann.  de  Dermat.,    1896,   p.  520,    1897,   p.  46,   1898,  p.  540, 

1901,  p.  959. 
Cazin  u.  Iscovbsco,  1.  interaat.  Dermat-Kongr.,  Paris  1890,  p.  511  (Per- 

nionen?  auf  Meerschweinchen  verimpft,  machen  diese  tuberkulös). 
Crockbr,   The   Brit.   Joum.   of  Dermat,    1900,   p.  39.     (Beschreibung  der 

Folliclis  als  Winteremption.) 
Danlob,  Ann.  de  Dermat,  1896,  p.  1443. 
Darier,   Ann.  de  Dermat.,   1896,  p.  1431.     (Die  Bezeichnung  Tuberkulide 

zum  ersten  Male  genannt.) 
Dblbanco,  Monatsh.  f.  prakt  Dermat,  Bd.  31,  1900,  p.  176. 
DuBRBUiLH,  Arch.  de  m6d.  et  de  anat  path.,  1893,  No.  1,  ref.  Monatsh.  L 

prakt  Dermat,  Bd.  17,  1893,  p.  534. 
Ehrmann,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1902,  p.  1236  u.  1261. 
Elliot,  Ann.  de  Dermat.,  1898,  p.  909. 
FoRDYCB,  Joum.  of  cut  and  genito-urinary  diseases,  1891. 
Colcott  Fox,  The  Brit  of  Dermat,  1901,  p.  15  ff. 
Gastoü,  Ann.  de  Dermat,  1900,  p.  868. 
Gastou  et  Paris,  ebenda,  1901,  p.  422. 
Gauchbb  et  Druellb,  Ann.  de  Dermat,  1903,  p.  945. 
Gaucher  et  Eostaine,  ebenda,  1903,  p.  427. 

GiovANNiNi,  Journ.  ital.  del  mal.  veneree  et  delle  pelle,  1889,  p.  302. 
Grunewald,  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat,  1885,  p.  81  ff. 
Hallopeau,  Ann.  de  Dermat,  1899,  p.  452. 

—  H.  et  P.,  ebenda,  1899,  p.  644. 

—  et  Bureau,  ebenda,  1896,  p.  1310,  u.  1897,  p.  55  u.  175. 

—  et  Claisse,  ebenda,  1891,  p.  329.     (Wohl  Acnites.) 

—  et  LB  Damany,  ebenda,  1895,  p.  380. 

—  et  Lemiäre,  ebenda,  1901,  p.  167. 

—  et  ViEiLLARD,  ebenda,  1903,  p.  589. 

Harttüng,   Arch,  f.  Dermat.,   Bd.  64,    1903,  p.  436.     (Folliclis  kombiniert 
mit  Erjrth.  ind.) 

—  u.  Alexander,   Arch.  f.  Derm.,   Bd.  60,  1902  (Erythema  indurativum). 
Hutchinson,  Lect.  on  clin.  surg.,  1879,  u.  Arch.  of  surg..  Vol.  6. 
Jadassohn,  6.  Eongr.  d.  dtsch.  Dermat- Gesellsch.,  1899,  p.  489. 


üeber  „Tuberkulide^^  und  diBseminierte  Hauttuberkulosen.         717 

JoHKSTON,  Journ.   of  cut.  diseases,   1898|   p.  336,  1899,  p.  311.     (Kombi- 
nation von  Folliclis  mit  Erythema  indurativum.) 
JuLiusBBBO,  7.  Kongr.  d.  dtscb.  Dermat-Gesellsch.,  p.  214,  u.  AUgem.  med. 

Central-Ztg.,  1901,  No.  60. 
KlinomOller.  cf.  obige  Arbeit  im  Arch.  f.  Dermal 
Kracht,  Ann.  de  Dermat.,  1898,  p.  1163. 
Lbrbddb,  Ann.  de  Dermat.,  1898,  p.  893. 
LuKASiBwioz,  Arch.  f.  Dermat.,  1901,  £rg.-H.  2,  p.  57  ff. 
Mac  Lbod  et  Orhsby,   The  Brit.  Journ.  of  Dermat.,   1901,   p.  867   (Posit 

Bacillenbefund). 
Mantboazza,  Ann.  de  Dermat.,  1901,  p.  497  ff.  (Erythema  indurat.) 
Mbnbau,  Ann.  de  Dermat,  1898,  p.  799. 
MoNiBR  et  Malhbrbb,   Presse  m^d.,    1898,   p.   241,   ref.  Ann.  de  Dermat., 

1899,  p.  196. 
Perämt,  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.,  Bd.  27,  1898,  p.  179. 
Philippsohn,   Giom.  it.  de  maL  ven.  et  delle  pelle,    1898,  p.  61.     Arch.  f. 

Dermat.,  Bd.  51,  1900,  p.  33,  Bd.  60,  1901,  p.  215.     (In  allen  3  Abeiten 

Zusammenhang  der  folliclis  mit  Oefißthrombosen.) 
Pick,  F.  J.,  Arch.  f.  Dermat.,  1889,  p.  551. 
PiNKus,  7.   Kongr.   d.   dtsch.   Dermat-Gesellsoh.     Dermat.  Zeitschr^    1901, 

p.  44,  434. 
Pollitzer,  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.,  Bd.  14,  1892,  p.  129. 
Easch,  Dermat.  Zeitschr.,  1900,  p.  97. 

Saalpbld,  Dermat.  Zeitschr.,  1901,  p.  225,  434,  1902,  p.  218. 
SäB  et  Drubllb,  Ann.  de  Dermat,  1903,  p.  822. 
Spiegel,  Monatsh.  f.  prakt  Dermat,  Bd.  23,  1896,  p.  617. 
Tenbsson,  Lbrbddb,  Martinbt,  Ann.  de  Dermat.,  1896,  p.  913. 
TniBiäROB,  Ann.  de  Dermat,  1897,  p.  50  ff. 

—  et  Ravaut,  ebenda,  1899,  p.  513. 

TöRöK,  Arch.  f.  Dermat,  Bd.  58,  1901,  p.  339. 
TouTON,  6.  Kongr.  d.  dtsch.  Dermat-Gesellsch.,  p.  52. 
Unna,  Die  Histopathologie  der  Hautkrankheiten,  p.  393. 
Whitfield,   The  americ.  Journ.  of  the  med.  scienc,    1901,   p.  828.     (Ery- 
thema indurativum.) 

VIII.  Eigenartige  oder  fragliche  Tuberkulidformen. 
Batet,  Journ.  des  mal.  cut.  et  B3q)h.,  1894,  p.  326.    (Erythema  bei  Tuber- 
kulose.) 
Hallopbau,  Ann.  de  Dermat,  1901,  p.  946. 

—  et  GuiLLBMONT,   ebenda,    1895,  p.  660.     (Wohl  reiner  Lupus  erythem.) 

—  et  Laffittb,  ebenda,  1897,  p.  150. 

Lbrbddb  et  Haurt,  Ann.  de  Dermat,  1895,  p.  52,  1899,  p.  384. 

—  et  MiLiAN,  ebenda,  1898,  p.  1095. 

Paütribr,   Arch.   f.   Dermat.,   Bd.   69,    1904,   p.    145   (dort  Literatur  über 

Angiokeratoma  Mirabelli). 
Pick,  W.,  Arch.  f.  Dermat,  Bd.  69,  1904,  p.  411. 
Hatmond,  Frogr.   m^d.,   1900.    Bef.   Journ.  des  mal«  cut  et  syph.,   1900, 

p.  576  (EryÖiema  bei  Tuberkulose). 

IX.   Akute   miliare  Tuberkulose   der  Haut   bei  allgemeiner 

Miliartuberkulose. 
Hellbr,   Tagebl.   d.   62.  Vers,   dtsch.  Naturf.  u.  Aerzte,  Heidelberg  1889. 
Leichtbnstbrn,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1897,  p.  1  ff. 


718  Frits  Jalinsberg,  Ueber  ^Taberkulide*^  etc. 

Mbtbr,    P.y    2    FäUe    von    metastatischer   Haattnberkulose.      Inaag.-Di88. 

Kiel,  1889. 
Pblagatti,  Oiorn.  et  de  mal.  ven.  et  pelle,  1898,  p.  704. 
Rendsburg,  Jahrb.  f.  Einderheilkd.,  1904,  Heft  3,  p.  860. 

X.  Lupus  vulgaris  disseminatus  und  Lupus  follicularis. 
Adambon,  Brit.  Journ.  of  Dermat.,  1898,  p.  20  (Lupus  nach  Masern). 
Bbsnibr,  Ann.  de  Dermat.,  1899,  p.  32  (Lupus  nach  Masern). 
Du  Gastbl,   Ann.  de  Dermat,   1898,   p.  729,    1901,   p.   346   (Lupus  nach 

Masern). 
DoüTfi^BLBPONT,  Arch.  f.  Dermat.,   Bd.  29,    1894,  p.  211,   und  Dtech.  med. 

Wochenschr.,  Vereinsbeil.,  1900,  p.  289.     (Lupus&lle  nach  Masern  und 

Scharlach.) 
FiNOBR,   Wien.   klin.   Wochenschr.,    1897,   No.   8,    1902,   No.    10.     (Lupus 

follicularis  und  Acne  teleangiectodes.) 
Hall,  The  brit  med.  Journ,,  1901,  p.  866  (Lupus  nach  Masern). 
JuLiusBBBG,   Stereoskop.-med.  Atlas,  Lief.  30/31.     (Lupus   diss.   in  elefant 

veränderter  Haut  und  Lupus  nach  Masern.) 
Kaposi,   Arch.  f.  Dermat,   Bd.  26,   1894,   p.  87  £F.  (Acne  teleangiectodes). 
LousTAN,  Des  tuberoulides  cutan6es  cons^cutives  au  fiövres  eruptiv,  et  en 

partulier  &  la  rougolle.     Thöse  de  Paris,  1901. 
Nabqbli,   Münch.   med.  Wochenschr.,    1898,  p.  415.     (Eigenartige  hämato- 

gene  Hauttuberkulose.) 
Nbissbb,    Hautkrankheiten.      Handbuch    von    Ebstbin  -  Schwalbb,   p.    482. 

(Lupus  nach  Varicellen.) 
Niblsbn,  Dermat  Zeitschr.,  Bd.  6,  p.  528  (Lupus  nach  Masern). 
Fhilippsohn,  Centralbl.  f.  allgem.  Path.  u.  path.  Anat.,  1893,  No.  8.     (BUs- 

tologische  Differenzen  bei   inokulierten   und   disseminierten   chronischen 

Infektionskrankheiten.)     Berl.  klin.  Wochenschr.,    1892,  p.  858.     (Lupus 

nach  Scharlach.) 
ToBLBR,   Jahrb.   f.   Einderheilkunde,    1904,    Hefl   3,   p.   345   (Lupus   nach 

Scharlach). 


Aus  der  Chirurg.  Klinik  und  dem  hyg.  Institut  der  Universität  Breslau. 


Nachdruck  verboteo. 

XXYIL 

Experimentelle  Studien 

zur  Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit 

der  Gewebe  gegen  Infektion. 

Von 
Dr.  H.  Miyake  aus  Japan. 


Es  fehlt  bekanntlich  nicht  an  Versuchen,  Menschen  oder  Tiere  mit 
Hilfe  einer  künstlich  erzeugten  Hyperleukocytose  vor  Infektionen  zu 
schützen  oder  nach  erfolgter  Erkrankung  zu  heilen,  und  man  hat  in 
der  Tat  auf  diesem  Wege  mehr  oder  weniger  günstige  Erfolge  erzielt, 
wenigstens  im  Tierexperiment.  Ob  man  bei  der  Deutung  der  hierbei 
spielenden  Vorgänge  Metschnikopfs  berühmter  Phagocytenlehre  oder 
den  Anschauungen  Pfeiffers  (2)  und  Büchners  folgt,  die  den  Effekt 
dem  Blutserum  zuschreiben,  soviel  steht  unzweifelhaft  fest,  daß  hyper- 
leukocytisches  Blut  oder  Exsudat  starke  bakterizide  Kraft  besitzt. 
Buchner  (3)  und  seine  Schüler  haben  von  dem  leukocytenreichen  Ex- 
sudate, welches  durch  Injektion  von  sterilisierter  Aleuronataufschwemmung 
in  die  Pleurahöhle  eines  Versuchstieres  gewonnen  war,  experimentell 
nachgewiesen,  daß  dasselbe  viel  stärker  bakerizid  wirkt  als  das  Blut  und 
Serum  desselben  Tieres.  Zu  ganz  analogen  Resultaten  führten  die  Un- 
tersuchungen Hahns  (4)  mit  menschlichem  und  tierischem  hyperleuko- 
cytotischen  Blute.  Diese  bakterizide  Kraft  hyperleukocytotischer  Ge- 
websflüssigkeiten beruht  nach  Buchner  nicht  auf  Phagocytose,  sondern 
wesentlich  auf  gelösten  Stoffen  (Alexine),  deren  Abstammung  aus  den 
lebenden  Leukocyten  angenommen  werden  muß.  Buchner  bestreitet 
keineswegs,  daß  zwar  in  solchen  Versuchen  lebhafte  Phagocytose  zu 
beobachten  ist,  will  jedoch  dieselbe  nicht  als  wesentliche  oder  gar  einzige 
Vorbedingung  der  bakteriziden  Leistung  der  Leukocyten  ansehen,  sondern 
vielmehr  nur  als  Zeichen  eines  sekundären  Vorganges. 

Diese  natürlichen  Abwehrvorkehrungen  können  nun  durch  Injektion 
verschiedener   chemotaktischer  Mittel   leicht   und   schnell  noch  erhöht 


720  H.  Miyake, 

werden,  und  es  lag  nahe,  eine  praktische  Verwertung  dieser  Erfahrung 
zu  versuchen.  So  gab  es  eine  Zeit,  wo  man  mit  regem  Eifer  daran 
arbeitete,  ein  gut  wirkendes  hyperleukocytotiscbes  Mittel  zu  finden, 
welches  zur  Konkurrenz  mit  den  spezifischen  Sera  berufen  wäre.  Leider 
führten  alle  diese  Bemühungen  nicht  zu  befriedigenden  Resultaten.  Die 
Wirksamkeit  der  bisher  durch  künstliche  Hyperleukocytose  erzeugten 
Schutzkräfte  war  nur  gering  und  von  kurzer  Dauer ;  und  so  ist  in  den 
letzten  Jahren  der  Gedanke,  auf  diese  Weise  die  Infektionskrankheiten 
zu  bekämpfen,  mehr  und  mehr  zurückgetreten.  Immerhin  finden  sich 
auch  in  der  neueren  Literatur  vereinzelt  derartige  Versuche  erwähnt, 
über  die  ich  im  folgenden  kurz  berichten  will. 

Pawlowsky  (5)  immunisierte  Tiere  durch  Vorbehandlung  mit 
Proteinen  (Papayotin  und  Alerin)  gegen  spätere  Milzbrandinfektion ; 
A.  LoEWY  und  Richter  (6)  Kaninchen  durch  intravenöse  Injektion  von 
Spermin  gegen  Pneumokokken;  Jacob  (7)  durch  intravenöse  und  sub- 
kutane Albumoseninjektion  Kaninchen  gegen  Pneumokokken  oder 
Mäuseseptikämiebacillen ;  Issaeff  (8)  durch  Präventivimpfung  von  ver- 
schiedenen Präparaten  (Kochsalzlösung,  Bouillon,  Nukleinsäure  etc.) 
Meerschweinchen  gegen  intraperitoneale  Cholerainfektion ;  ferner  gelang 
es  Hahn,  durch  Papayotinalbumoseninjektion  Tiere  vor  dem  tödlichen 
Verlaufe  von  Milzbrandinfektionen  zu  schützen.  Bekannt  ist  namentlich 
die  therapeutische  Anwendung  von  Landerers  (9)  zimmtsaurem  Natrium 
(Hetol)  gegen  Tuberkulose.  Während  Moürek  (10)  subkutane  Injektion 
von  NukleSn  bei  Lupus  und  gummösem  Geschwür,  Maxon  Kino  (11) 
eben  solche  bei  Tuberkulose  empfehlen,  sah  M.  Labb£  (12  von  intra- 
venösen und  subkutanen  Injektionen  mit  Nuklein,  Nukleinsäure,  Spermin, 
Protalbumose  u.  s.  w.  bei  Injektionskrankheiten  nur  wenig  befriedigende 
Wirkungen  und  gibt  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß  uns  die  biologische 
Chemie  in  Zukunft  ein  Mittel  an  die  Hand  geben  werde,  welches  die 
leukocytenproduzierenden  Organe  in  höherem  Maße  anregen  werde  als 
die  bisher  bekannten  Präparate.  Außer  den  erwähnten  finden  sich  noch 
zahlreiche  zerstreute  Mitteilungen  über  therapeutische  Verwendung 
hyperleukocytotischer  Mittel  in  der  französischen  und  amerikanischen 
Literatur,  auf  die  ich  im  einzelnen  nicht  eingehen  möchte.  Besonders 
viele  Versuche  scheinen  mit  verschiedenen  Nuklein-  und  Nukleinsäure- 
präparaten  gemacht  zu  sein,  welche  die  Firma  Parke  u.  Davis  in  London 
schon  seit  geraumer  Zeit  in  den  Handel  bringt  und  sehr  warm  gegen 
verschiedene  Infektionskrankheiten  (Pneumonie,  Septikämie,  Tuberkulose 
etc.)  sowie  gegen  Carcinom  empfiehlt. 

Während  nun  die  bisherigen  Versuche  alle  auf  die  therapeutische 
Verwertung  der  künstlichen  Hyperleukocytose  abzielen,  scheint  bis  jetzt 
an  ihre  prophylaktische  Anwendung  nur  wenig  gedacht  zu  sein. 
Und  doch  könnte  man  a  priori  daran  denken,  daß  sie  gerade  hier  weit 
zuverlässiger  wirken  wird,  als  unter  den  komplizierten  Bedingungen  der 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     721 

schon  ausgebrochenen  Krankheit.  Besonders  wertvoll  müßte  eine  solche 
prophylaktische  Erzeugung  der  Hyperleukocytose  in  der  chirurgischen 
Praxis  sein.  Gewiß  hat  die  große  Vervollkommnung  der  Anti-  und 
Aseptik  die  Störungen  der  Wundheilung  auf  ein  Minimum  reduziert; 
gewiß  können  wir  jetzt  beruhigt  das  Messer  an  die  Brust-  und  Bauch- 
organe, ja  an  das  Gehirn  setzen,  Operationsgebiete,  die  früher  als  noii 
me  tangere  galten.  Gleichwohl  darf  man  nicht  allzuviel  von  der  Anti- 
und  Aseptik  erwarten ;  kommen  doch  noch  genug  Fälle  z.  B.  bei  Magen- 
oder Darmoperationen  vor,  bei  welchen  der  Eingriff  trotz  strengster 
Maßnahmen  als  verhängnisvolle  Folge  akute  Peritonitis  nach  sich  zieht. 
Nach  den  reichen  Erfahrungen  meines  hochgeehrten  Chefs,  Herrn  Ge- 
heimrat V.  Mikulicz,  ist  bei  mehr  als  der  Hälfte  aller  nach  Magen- 
und  Darmoperationen  gestorbenen  Patienten  Peritonitis  als  Todesursache 
zu  verzeichnen,  gewiß  eine  erschreckend  hohe  Zahl.  Diese  verderbliche 
Komplikation  ganz  auszuschalten,  steht  aber  nicht  in  der  Macht  der 
Anti-  und  Aseptik,  weil  der  Magen-  und  Darmkanal  stets  reichliches 
Infektionsmaterial  liefert.  In  dieser  Erwägung  erachtete  es  Herr  Ge- 
faeimrat  v.  Mikulicz  für  eine  wichtige  Aufgabe,  auf  Mittel  zur  Ver- 
meidung dieser  Infektionsquelle  zu  sinnen,  und  gab  mir  die  Anregung 
zu  nachstehender  Arbeit,  für  deren  Uebertragung  ich  ihm  auch  an  dieser 
Stelle  meinen  aufrichtigen  Dank  ausspreche.  Des  weiteren  bin  ich  Herrn 
Geheimrat  Flijoge  zu  größtem  Dank  verpflichtet  für  die  gütige  Erlaub- 
nis, die  Arbeit  in  seinem  Institut  auszuführen,  sowie  für  die  freundlichen, 
wertvollen  Ratschläge,  die  er  mir  während  der  ganzen  Dauer  meiner 
Versuche  zu  teil  werden  ließ.  Ebenso  spreche  ich  dem  Assistenten  des 
hygienischen  Instituts,  Herrn  Dr.  Hetmann,  für  sein  liebenswürdiges 
Entgegenkommen  sowie  für  die  freundliche  Unterstützung  in  allen  Be- 
ziehungen meinen  herzlichsten  Dank  aus. 

Bei  Störungen  der  Wundheilung  nach  aseptischen  Operationen 
kommen  hauptsächlich  drei  Arten  von  Bakterien  in  Betracht,  nämlich 
Staphylococcus  pyog.  aur.,  Streptococcus  path.  long,  und  die  Gruppe  des 
Bacterium  coli;  alle  anderen  pyogenen  Bakterien  haben  untergeordnete 
Bedeutung.  Daß  Bacterium  coli- Arten  in  der  Aetiologie  der  Peritonitis 
eine  hervorragende  Rolle  spielen,  unterliegt  kaum  einem  Zweifel,  ob- 
gleich hierüber  völlige  Einigkeit  noch  nicht  besteht.  Die  Bacterium 
coli-Arten,  die  gewöhnliche  und  ständige  Bewohner  des  Darmkanals 
sind,  besitzen  anscheinend  für  gewöhnlich  keine  ausgesprochen  schäd- 
liche Eigenschaft;  sobald  aber  ein  störendes  Moment  in  dem  Verdauungs- 
kanal auftritt,  erfahren  sie  entweder  eine  Virulenzsteigerung  und  werden 
pathogen,  oder  es  drängen  sich  virulente  Abarten,  die  bis  dahin  zurück- 
traten, in  den  Vordergrund.  Nach  Tavel  und  Lanz  (13)  ließen  sich 
unter  einer  Reihe  Coliarten  auf  Grund  genauer  kultureller  und  morpho- 
logischer Studien  verschiedene  Spielarten  unterscheiden,  unter  30  unter- 
suchten  coliähnlichen  Bakterien   wurden   von  den  beiden  Autoren  20 


722  H.  Miyake, 

verschiedene  Stämme  gefunden.  Die  einzelnen  Stämme  ließen  sich 
hauptsächlich  durch  die  Verschiedenheit  der  Geißeln  sowie  durch  die 
Beweglichkeit  unterscheiden.  Ob  ein  bestimmter  Stamm  unter  diesen 
zahlreichen  CoUbakterien  eine  spezifische  Rolle  bei  der  Peritonitis  spielt, 
entzieht  sich  unserem  Urteil;  doch  scheint  es  ein  relativ  seltenes  Vor- 
kommnis zu  sein,  daß  eine  Peritonitis  durch  Bacterium  coli  allein  ver- 
ursacht wird,  obgleich  Fälle  von  Barbacci,  Sohnitzler  (14)  u.  a.  bekannt 
gegeben  sind,  in  welchen  diese  Bakterien  allein  zum  Wachstum  gelangten. 
Nach  Tavel  und  Lanz  gehört  die  perforative  und  operative  Peritonitis 
fast  ausschließlich  zu  der  Gruppe  der  Polyinfektionen,  und  man  kann  in 
diesen  Fällen  keine  einzelne  Bakterienart  als  Erreger  anschuldigen,  be- 
sonders nicht  das  Bacterium  coli  allein.  Daß  öfters  durch  das  Kultur- 
verfahren  allein  Golibakterien  gefunden  werden,  läßt  sich  durch  ihre 
leichte  Kultivierbarkeit  erklären;  im  Deckglaspräparate  des  Peritoneal- 
exsudates  findet  man  meist  noch  andere  Bakterien,  die  nicht  zur  Ent- 
wickelung  gelangen.  Obgleich  die  beiden  Autoren  an  der  ätiologischen 
Bedeutung  der  Golibakterien  für  die  Peritonitis  zweifeln,  war  Tavel  (15) 
doch  der  erste,  welcher  der  Frage  nach  der  Pathogenität  des  Bacterium 
coli  Aufmerksamkeit  geschenkt  hat^. 

Im  Gegensatz  zu  Tavel  zweifelt  Esgherich  (16)  auf  Grund  seiner 
mittelst  der  neuesten  zuverlässigen  Methode,  des  Agglu- 
tinationsverfahrens, ausgeführten  Untersuchungen  nicht,  daß  das  Bact 
coli  an  dem  Zustandekommen  der  schweren  Peritonitis  beteiligt  sei.  Er 
wies  nach,  daß  das  Blutserum  eines  an  wiederholter  Peritonitis  er- 
krankten Patienten  gegenüber  den  aus  dem  Peritoneum  gezüchteten 
Bact.  coli  positive  WiDALsche  Reaktion  erkennen  ließ.  —  Ein  sicherer 
Beweis  dafür,  daß  Bact.  coli  als  einziger  oder  auch  nur  als  wesentlicher 
Krankheitserreger  fungiert  hat,   ist  damit  freilich  noch  nicht  erbracht 

A.  Fränkel  (17),  P.  Ziegler  (18)  gelang  es,  mit  Golistämmen, 
welche  aus  menschlicher  Peritonitis  oder  aus  menschlichem  und  tierischem 
Kot  herstammten,  experimentell  Peritonitis  zu  erzeugen. 

Obwohl  also  unter  Pathologen  und  Bakteriologen  die  Ansicht  über 
die  Bedeutung  des  Bact.  coli  als  alleiniger  Erreger  der  Peritonitis  ge- 
teilt ist,  ist  es  für  die  Praktiker  schließlich  ganz  einerlei,  ob  es  allein 
oder  mit  anderen  Bakterien  symbiotisch  wirkt.  Jedenfalls  ist  es  eine 
unzweifelhafte  Tatsache,  daß  das  Bact.  coli  in  der  größten  Mehrzahl  der 
Fälle  von  operativer  und  perforativer  Peritonitis  zur  Beobachtung  kommt. 
So  fand  Flexner  (19)  unter  60  Peritonitisfällen  (Leichenmaterial),  sekun- 
dären endogenen  Ursprunges,  47mal  Bact.  coli  commune,  39mal  Strepto- 

1)  Obige  Bemerkung  kami  müSverstanden  werden:  Tavbl  hat  wohl 
die  Rolle  des  Bact.  coli  bei  der  Peritonitis  znerst  erkannt.  Die  Patho- 
genität des  Colibacterium  aber  habe  ich  bereits  1891  er- 
kannt und  experimentell  bewiesen.  (Vortr.  i  d.  U.-Els.  Aerste- 
verein  in  Strasburg,  n.  Klinik  der  Cholelithiasis.)  Nauntn. 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     723 

C0CCU6  pyogenes  u.  s.  w.,  am  häufigsten  war  jedoch  die  Kombination 
von  Bact  coli  und  Streptococcus ;  ebenso  kommt  auch  nach  A.  FrInkel 
das  Bact.  coli  als  häufigster  Befund  unter  all  den  anderen  vor.  In 
22  Fällen  eigener  und  fremder  Beobachtung  von  Magenperitonitis  nach 
Perforation  eines  Geschwürs  handelte  es  sich  nach  C.  Britner  (20) 
meist  um  eine  Poly-  oder  Doppelinfektion,  selten  um  Monoinfektion, 
und  zwav  fanden  sich  dabei  Streptococcus  und  Bact.  coli  als  Haupt- 
erreger vor.  In  der  Aetiologie  der  Peritonitis  spielt  der  Streptococcus 
eine  ebenso  große  Rolle  wie  das  Bact.  coli,  ja  nach  Tavel  und  Lanz 
steht  der  erstere  sogar  in  erster  Reihe.  Im  Gegensatz  zu  diesen  beiden 
Bakterien  kommt  dem  Staphylococcus  als  Peritonitiserreger  keine  große 
Bedeutung  zu,  obgleich  er  in  anderen  Geweben  als  der  häufigste  und 
wichtigste  Erreger  der  Entzündung  gilt.  Allgemein  herrscht  die  An- 
sicht, daß  es  sich  bei  der  operativen  und  perforativen  Peritonitis  fast 
unfehlbar  um  eine  Polyinfektion  handelt  und  zwar  entweder*  mit  Bact. 
coli  oder  mit  Streptococcus  oder  mit  beiden.  Betreffs  der  genaueren 
Literatur  der  Peritonitis  möchte  ich  auf  das  vorzügliche  Sammelreferat 
von  Max  von  Brunn  (21)  verweisen,  indem  ich  selbst  nur  die  aller- 
wichtigsten  Arbeiten,  die  zu  meiner  Arbeit  direkte  Beziehungen  be- 
sitzen, in  aller  Kürze  erwähnt  habe. 

Um  nun  den  drei  hauptsächlich  in  Betracht  kommenden  Arten  von 
Bakterien  —  dem  Streptococcus,  Bact.  coli  und  Staphylococcus  —  ent- 
gegenzuarbeiten, stehen  uns  zwei  Wege  offen,  nämlich  die  spezi- 
fische Serumimmunisierung  und  die  allgemeine  Immunisierung 
auf  dem  Wege  der  Hyperleukocytose  bezw.  Phagocytose.  Mit  dem  ersten 
Plan  beschäftigten  sich  bereits  zahlreiche  Autoren,  ohne  jedoch  nennens- 
werte Erfolge  zu  erzielen.  Eine  wesentliche  Schwierigkeit  besteht  in 
den  zahlreichen  Varietäten,  in  welchen  jede  der  3  Arten  zerfällt,  und 
zu  deren  wirksamer  Bekämpfung  demnach  auch  ein  ^polyvalentes^  Serum 
nötig  ist.  In  unserem  Falle  liegt  aber  noch  die  weit  größere  Schwierig- 
keit vor,  daß  meist  zwei  oder  noch  mehr  pathogene  Bakterienarten  vor- 
kommen; vorläufig  müssen  wir  unsere  HofiFhung  in  dieser  Richtung 
aufgeben,  und  so  bleibt  nur  der  zweite  Weg  —  die  Hyperleukocytose 
—  übrig.  Ihren  prophylaktischen  Wert  gegen  die  bei  aseptischen 
Operationen  in  Betracht  kommenden,  schwachvirulenten  Bakterien  habe 
ich  im  folgenden  geprüft  und  die  Gesichtspunkte  anzugeben  versucht, 
unter  denen  auch  ihre  praktische  Verwertung  Erfolg  verspricht 

Santa  Solieri  (22)  ist  meines  Wissens  der  erste,  der  unter  ähn- 
lichen Gesichtspunkten  die  Widerstandsfähigkeit  des  Peritoneums  gegen 
Bakterieninfektion  zu  erhöhen  versuchte.  Er  behandelte  Meerschwein- 
chen zuerst  mit  endoperitonealen  Injektionen  von  kleinen  Mengen 
physiologischer  Kochsalzlösung  und  erzielte  dadurch  eine  7— 16-fache 
Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  die  Goliinfektion.  Ermutigt 
durch  dieses  überraschend  günstige  Resultat  hat  Solieri  seine  Methode 


724  H.  Miyake, 

an  einigen  Laparotomiepatienten  praktisch  angewandt  und  zwar  mit  an- 
scheinend günstigem  Erfolg.  Solieri  war,  wie  aus  seiner  Literatur- 
angabe ersichtlich  ist  zu  seinen  Versuchen  angeregt  durch  die  schönen 
Immunitätsversuche  von  Issaeff  gegen  Cholera.  Issaeff  erzeugte 
durch  intraperitoneale  Präventivimpfung  von  physiologischer  Kochsalz- 
lösung, Bouillon,  Nukleinsäure  (Kossel),  Tuberkulin  bei  Meerschwein- 
chen Hyperleukocytose,  injizierte  dann  im  Gipfel  der  Peritonealhyper- 
leukocytose  virulente  Gholeravibrionen  intraperitoneal  und  erzielte  dadurch 
einen  gewissen  Schutz  gegen  die  tödliche  Infektion,  dessen  Wirksamkeit 
je  nach  der  Qualität  der  vorbehandelten  Präparate  variierte.  Die  besten 
Dienste  leistete  die  Nukleinsäure,  dann  Bouillon  und  Kochsalzlösung. 
Seiner  Ansicht  nach  spielt  hierbei  die  Phagocytose  die  Hauptrolle:  „Die 
Zellenreaktion,  welche  in  der  Phagocytosis  ihren  Ausdruck  findet,  spielt 
die  Hauptrolle  im  Schutzprozesse  des  Organismus  derjenigen  Meer- 
schweinchen, welche  durch  Injektionen  von  Bouillon,  Kochsalzlösung 
und  verschiedener  anderer  Flüssigkeiten  gegen  Cholerainfektion  ge- 
schützt sind.  Auch  in  der  Immunität  der  Meerschweinchen  gegen  intra- 
peritoneale Cholerainfektion  wird  der  Phagocytosis  eine  nicht  unbedeutende 
Rolle  zuzuschreiben  sein.^ 

Als  chemotaktisch  wirksame  Mittel  werden  eine  ziemlich  bedeutende 
Anzahl  von  Präparaten  angegeben :  Bakterienproteine,  tierische  und  pflanz- 
liche Albuminate,  verschiedene  Zersetzungsprodukte  etc.  Buchner  (23) 
empfiehlt  unter  den  Bakterienproteinen  das  Pneumococcus-,  Pyocyaneus-, 
Typhusbacillenprotein  u.  s.  w. ;  von  Zersetzungsprodukten  buttersaures 
und  valeriansaures  Ammoniak  (1  Proz.),  Harnstoif  (5  Proz.),  harnsaures 
Ammoniak  (1  Proz.)  und  Skatol  (1  Proz.);  von  Pflanzenkaseinen  das 
Gluteinkasein  GriJblers  (5—10  Proz.),  Erbsenlegumin  (5—10  Proz.), 
Weizenkleber  oder  Aleuronat;  von  Umwandlungsprodukten  tierischer 
Gewebe  den  Leim.  Von  Pawlowsky  wurden  Papayotin,  Alerin,  von 
A.  LoEWY  und  Richter  Pilokarpin  und  Spermin ;  von  Issaeff,  Hahn 
physiologische  Kochsalzlösung,  Bouillon,  Nuklein,  Nukleinsäure,  Tuber- 
kulin; von  Landerer  zimmtsaures  Natrium  oder  Hetol  verwertet. 

Ehe  ich  zu  meinen  eigentlichen  Versuchen  übergehe,  muß  ich  über 
die  Auswahl  unter  den  genannten  Präparaten  sprechen,  welche  für  mich 
von  zwei  Faktoren  abhing :  1)  Von  ihrer  Unschädlichkeit  und  2)  von 
ihrem  chemotaktischen  Wirkungswert.  Da  die  genaue  quanti- 
tative Angabe  über  letzteren  bei  den  einzelnen  Präparaten  in  der 
Literatur  meist  nicht  zu  finden  ist,  habe  ich  zunächst  Vorversuche 
mit  Leukocytenzählung  gemacht.  Als  chemotaktisches  Mittel 
wurden  sterile  physiologische  Kochsalzlösung,  neutrale  Bouülon,  Aleu- 
ronat, Nukleinsäure  und  Hetol  probiert.  Die  Technik  der  Injektion, 
Dosis,  Exsudatentnahme  (Glaskapillare),  Zählung  (Thoma  und  Zeiss' 
Apparat)  etc.  geschah  genau  nach  dem  Vorgange  Issaeffs  an  Meer- 
schweinchen   von   200—360  g  Körpergewicht;    die   Untersuchung   mit 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.    725 

Hetol  nach  Landerer  durch  intravenöse  Injektion  an  Kaninchen.  Bei 
Verwendung  der  Nukleinsäure  wurden  später  aus  mehrfachen  Gründen 
Aenderungen  getroffen,  über  welche  ich  an  der  betreffenden  Stelle  im 
einzelnen  ausführlich  berichten  werde. 


I.  Zur  quantitativen  Wertbestimmung 
der  verschiedenen  hyperleukocytotischen  Mittel: 
Der  Zweck  dieser  Versuche  war  eine  genaue  Analyse  der  quanti- 
tativen Wirkung  einzelner  chemotaktischer  Mittel  sowie  des  zeitlichen 
Ablaufs  dieser  Wirkung. 

a)  Versuche  mit  intraperitonealer  Injektion  von  phy- 
siologischer Kochsalzlösung: 

Als  physiologische  Kochsalzlösung  wurde  nach  den  neuesten  Ergeb- 
nissen 0,85-proz.  Chlomatriumlösung  benutzt  und  in  der  Regel  1  ccm 
intraperitoneal  injiziert,  nachdem  vorher  die  normale  Leukocytenzahl  im 
Blute  sowie  im  Peritonealtranssudate  bestimmt  worden  war.  Dieses  Ver- 
fahren wurde  auch  bei  allen  anderen  Versuchsreihen  eingeschlagen,  wenn 
nicht  ausdrücklich  etwas  anderes  bemerkt  ist. 


Lenk 

im  Peritonealtranssadate 

Dnrch- 

Zeit 

I.Tier 

2.  Tier 

3.  Tier 

4.  Tier 

5.  Tier 

scfaniU 

4X1.1903 

5.XI.1903 

6.XI.1903 

6.XI.1903 

3.III.1904 

Vor  der  Injektion 

12000 

11000 

12000 

13000 

11200 

11840 

1  St.  nach  der  Injektion 

10500 

10600 







10550 

3— 4St.nachder  Injektion 

16400 

17  600 

17  700 

15  700 

— 

16850 

6  St  nach  der  Injektion 

— 

— 

— 

— 

16400 

16400 

10  „      „       „ 

— 

— 

— 

— 

20400 

20400 

^^  tt      >i      >i        II 









26560 

26560 

17—18  St  nach  d.Injekt 

— 



37  800 

54400 

— 

47  600 

22—24  „       „    „       „ 
28  St  nach  der  Injektion 

54500 

47  600 

26400 

25800 

24000 

35  660 

25  300 

28400 

26850 

2X24  8tnachd.Injekt 
3X24  „      „      „      „ 

— 

— 

17  600 

17  200 

— 

17  400 

14000 

12  310 

15200 

11200 

— 

13178 

Auf  Grund  der  obigen  fahlen  kann  ich  Issaeffs  Angabe  über 
den  Eintritt  der  sogenannten  negativen  Chemotaxis  der  Leukocyten 
kurz  nach  der  Injektion  und  über  die  nachfolgende  Hyperleukocytose 
bestätigen,  jedoch  mit  einer  kleinen  Abweichung  im  zeitlichen  Verlauf. 
Nach  IssAEFF  beginnt  die  Hypoleukocytose  gleich  nach  der  Kochsalz- 
injektion und  erreicht  nach  3—4  Stunden  ihr  Maximum;  im  Anschluß 
an  diese  tritt  die  Hyperleukocytose  erst  nach  8 — 10  Stunden  auf  und 
erreicht  in  24  Stunden  ihr  Maximum.  Nach  meinen  Untersuchungen 
ist  die  Leukocytenabnahme  in  der  ersten  Stunde  nur  in  unbedeutendem 
Grade  angedeutet.  Während  normales  Peritonealexsudat  leicht  trüb  und 
ziemlich  deutlich  alkalisch  bleibt,  sieht  eine  Zeitlang  nach  der  Injek- 
tion herausgeholtes  Exsudat  wässerig  klar  aus,  reagiert  schwach  alka- 
lisch bezw.  beinahe  indifferent  und  der  Leukocytengehalt  ist  0,9-fach 
vermindert.    Schon  3—4  Stunden  nach  der  Iqjektion  bemerkt  man  eine 


Mittall.  a.  d.  Orano^bletan  d.  Medlxln  n.  Chirurg«.    XID.  Kd. 


47 


726  H.  Miyake, 

deutliche  Vermehrung  der  Leukocyten  im  Exsudate  und  es  tritt  eine 
merkliche  Trübung  des  Exsudates  auf.  Im  Höhepunkt  der  Hyper- 
leukocytose,  17—24  Stunden  nach  der  Injektion,  sieht  das  Exsudat 
serös-eiterig  aus.  Im  Durchschnitt  erreichte  die  Leukocytenzahl  nach 
17 — 18  Stunden  das  Vierfache  des  normalen  Gehaltes  und  kehrte 
innerhalb  von  3m  al  24  Stunden  allmählich  zur  Norm  zurück.  Aller- 
dings vollzieht  sich  die  Hyperleukocytose  weder  quantitativ  noch  zeit- 
lich gleichmäßig,  sondern  ist  großen  Schwankungen  unterworfen,  so 
daß  sich  ein  für  alle  Fälle  gültiges  Gesetz  schwer  aufstellen  läßt. 

Regelmäßig  stellt  sich  nach  der  maximalen  Hyperleukocytose  eine 
kurzdauernde  Periode  ein,  in  welcher  sich  das  Exsudat  in  dem  ganzen 
Peritonealbereich  sehr  schwer  herausholen  läßt.  Diese  Erscheinung 
scheint  nicht  ausschließlich  auf  die  zu  oft  wiederholte  Exsudatentnahme 
zurückzuführen  zu  sein,  sondern  scheint  zum  größten  Teil  von  der  reak- 
tiven Wirkung  der  injizierten  Flüssigkeit  abzuhängen,  denn  bei  einem, 
vorher  gar  nicht  behandelten  Meerschweinchen,  welchem  ca.  30  ccm 
physiologischer  Kochsalzlösung  intraperitoneal  injiziert  worden  waren, 
mißglückte  14  Stunden  nachher  die  Entnahme  des  Peritonealexsudates 
vollkommen,  so  daß  ich  die  weitere  Untersuchung  aufgeben  mußte. 
Aus  diesem  Grunde  mußte  ich  manchmal  die  weitere  wichtige  Zählung 
unterlassen,  so  daß  ich  die  Lücke  nachträglich  durch  die  an  anderen 
Tieren  ermittelte  Zahl  zu  ergänzen  genötigt  war.  Um  möglichst  an- 
nähernd die  wahren  Werte  zu  erhalten,  ist  es  unerläßlich,  einen  Durch- 
schnittswert aus  mehreren  Zählungen  zu  ziehen,  was  bei  diesen  wie 
bei  allen  nachfolgenden  Versuchen  geschehen  ist. 

Nicht  bloß  im  Peritonealexsudate,  sondern  auch  im  Blute  ist  die 
Leukocytenzahl  ähnlichen  Schwankungen  unterworfen,  jedoch  in  weit 
geringerem  Maße  als  in  der  Peritonealhöhle.  Während  die  Leukocyten- 
zahl im  normalen  Blute  im  Durchschnitt  von  4  Fällen  10438  zählt, 
beträgt  sie  17—18  Stunden  nach  der  Injektion,  also  auf  dem  Gipfel 
der  peritonealen  Hyperleukocytose,  im  Durchschnitt  von  2  Fällen  nur 
18  600.  Wenn  wir  aber  die  Kochsalzlösung  in  reichlicher  Menge  in  die 
Peritonealhöhle  eingießen,  so  tritt  die  Wirkung  noch  viel  energischer 
zu  Tage  als  in  kleiner  Dosis. 

Unter  aseptischen  ELautelen  wurden  am  6.  März  1904  einem  Meer- 
schweinchen von  300  g  Körpergewicht  50  ccm  warmer  physiologischer 
Kochsalzlösung  vermittelst  eines  durch  eine  kleine  Laparotomiewunde  ein- 


Zeit 


Vor  der  Injektion 
1  8t  nach  der  Injektion 

•       >»        w  n  w 

y      n        »>  »  I» 

"^        11  »1  II  M 


Leukocytenzahl  im 
Peritonealexsudate 


10(300 
800 
14400 
20000 
54800 


Leukocvtenzahl 
im  Blute 


10200 
3600 


20800 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     727 

geführten  feinen  N^LATONSchen  Katheters  in  die  Peritonealhöhle  eingegossen. 
Ein  Teil  der  Lösung  floß  zwar  wieder  heraus;  doch  blieben  etwa  25  bis 
30  ccm  zurück.  Die  Bauchwand  wurde  durch  Etagennähte  fest  geschlossen 
und  darauf  die  Leukocytenzählung  vorgenommen. 

Mit  diesem  Versuche  wurde  bezweckt,  die  leukocytotische  Wirkung 
großer  Eochsalzmengen  in  der  Peritonealhöhle  zu  studieren,  da  Spü- 
lungen der  Bauchhöhle  mit  5—12  Liter  Kochsalzlösung  bei  jeder 
größeren  Laparotomie  seit  geräumer  Zeit  in  unserer  chirurgischen  Klinik 
im  Gebrauch  sind.  Wie  aus  der  obigen  Tabelle  ersichtlich  ist,  scheint 
die  physiologische  Kochsalzlösung  in  der  Peritonaelhöhle  nicht  ganz  in- 
different zu  sein,  sondern  ziemlich  stark  anregend  auf  das  Leukocyten- 
zentrum  zu  wirken;  infolgedessen  können  wir  im  Blute  die  zweifache, 
im  Peritonealexsudate  die  4,1  fache  Vermehrung  der  Leukocytenzahl 
nach  24  Stunden  konstatieren,  nachdem  eine  kurze  exquisite  Hypoleuko- 
cytose  geherrscht  hat.  Diese  Tatsache  legte  uns  den  Gedanken  nahe, 
ob  nicht  schon  ein  minimaler  Reiz  wie  der  einfache  kapillare  Stich  ins 
Peritoneum  ebenfalls  hyperleukocytotisch  wirke.  Um  dies  zu  entscheiden, 
wurde  folgender  Versuch  ausgeführt 

Einem  Meerschweinchen  von  300  g  wurde  am  5.  März  1904  ohne 
Vorbehandlung  in  bestimmtem  Zeitintervall  mittels  steriler  Olaskapillaren 
Peritonealezsudat  entnommen  und  die  Leukocyten  gezählt. 


Zeit 


Erste  Entnahme 
6  St.  nach  d.  1.  Ekitnahme 

1^     »  l>        V    ^*  » 

^^    »I        11      11  !•  11 

^^    11        11      11  *■•  11 


Leukocytenzahl  im 
Peritonealexsudate 


11800 
14400 
10800 
12600 
12200 


Leukocytenzahl 
im  Blute 


10650 
10500 


Sechs  Stunden  nach  dem  ersten  Stich  trat  demnach  anscheinend  eine 
leichte  Steigerung  der  Leukocyten  im  Peritonealexsudat  auf,  doch  ließen 
sich  bei  den  weiteren  Zählungen  weder  im  Blute  noch  im  Peritoneal- 
exsudate merkliche  Differenzen  konstatieren. 

Auf  Grund  dieses  Experimentes  können  wir  den  Verdacht,  daß 
schon  ein  einfacher  Eapillarstich  auf  die  Peritonealleukocytose  einen 
Einfluß  ausüben  könnte,  völlig  ausschließen  und  die  in  den  übrigen 
Versuchen  beobachtete  Wirkung  lediglich  auf  die  injizierten  Mittel 
zurückführen. 

b)  Versuche  mitintraperitonealer  Injektion  von  1  ccm 
neutraler  Bouillon: 

Wie  die  nächste  Tabelle  zeigt,  wird  wie  durch  Kochsalz  auch  durch 
Bouilloninjektion  anfangs  kurzdauernde  Hypoleukocytose,  dann  eine  nach 
3  Stunden  beginnende  Hyperleukocytose  hervorgerufen ;  dieselbe  erreicht 
etwa  nach  24  Stunden  ihr  Maximum  und  fällt  allmählich  nach  48  Stunden 

47* 


728 


fi.  Miyak«, 
Leukocytenzahl  im  Peritoneaiexsudate: 

Zeit 

l.  Tier 
7.  XI.  1903 

2.  Tier 

7.  XL  1903 

Durchechnitt 

Vor  der  Injektion 
1—1)  St  nach  d.  Injektion 
3} — 4    „      „     „        „ 
9--10   „      „     „        „ 

QS^OA      "         "        "             " 
*X24      W          «         M              »> 

12000 
10580 
22  700 
24200 
26000 
20100 

12400 
10600 
22000 
21200 
21500 
21200 

12200 
10590 
22350 
22  700 
23750 
20650 

Leukocytenzahl  im  Blute: 

Vor  der  Injektion 10250  I  Durchschnitt 

24  St  nach  der  Injektion   ....    15800  /  von  2  Fallen. 

zur  Norm  ab.  Im  Vergleich  zur  Chlornatriumlösung  wirkt  die  Bouillon 
recht  schwach  im  Peritoneum  wie  auch  im  Blute,  was  gegen  Issaeffs 
Befunde  spricht  Der  Grund  hierfür  ist  vielleicht  in  der  wechselnden 
Zusammensetzung  der  Bouillon  zu  suchen.  Ich  habe  die  gewöhnliche, 
hier  im  Breslauer  hygienischen  Institut  gebräuchliche  neutrale  Bouillon 
(1  Proz.  Pepton  +  0,5  Proz.  Kochsalz)  benutzt. 

c)  Versuche  mit  intraperitonealer  Injektion  von  1  ccm 
einer  2-proz.  Aleuronataufsch wemmung: 

Das  unter  dem  Namen  Aleuronat  von  R.  Hundhausbn  in  den  Handel 
kommende  Präparat  wurde  in  physiologischer  Kochsalzlösung  aufgeschwemmt, 
bei  100^  im  Wasserbade  15  Minuten  lang  sterilisiert  und  dann  zur  In- 
jektion benutzt  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  bemerkt,  dafi  wir  als 
Grandflüssigkeit  aller  Lösungen,  die  später  in  Betracht  konunen,  in  der 
Regel  physiologische  Kochsalzlösung  verwandt  haben. 


Leukocytenzahl  im  Periton 

ealexsudate: 

Zeit 

I.  Tte 

12.  XL  1903 

2.  Her 

13.  XI.  1903 

3.  Tier 
17.  XI.  1903 

Durchschnitt 

Vor  der  Injektion 

12500 

11300 

11060 

11620 

i— 1    St  nach  d.  Injektion 

1660 

2360 

1640 

1553 



— 

7120 

7120 

^            >}       n 

34400 

35000 

38400 

35933 

8—9     „     „ 

i        if 

54200 

38600 

68800 

53867 

24       „     „ 

f        fj 

64500 

67  000 



65750 

30       „     ., 

f                 99 

82400 

92500 



87  450 

9                99 

90400 

79900 

47  000 

72  433 

3x24 

9                 )y 

37  400 

37  410 



37  405 

4X24   1,     „ 

19300 

22000 

23000 

21433 

5x24  „     M 

9                 »1 

— 

14500 

14  500 

Leukocytenzahl  im  Blute: 

Vor  der  Injektion 10  550  1  Durchschnitt 

30  St  nach  der  Injektion  ....    16950  /    in  2  Fallen. 

Betrachtet  man  die  Tabelle,  so  konstatiert  man  zwei  bemerkens- 
werte Befunde,  nämlich  die  hohe  Hypo-  und  Hyperleukocytose;  die 
erstere  ist  nur  vorübergehender  Natur,  dagegen  beginnt  die  zweite  in 
der  3.  oder  4.  Stunde  und  erreicht  nach  30  Stunden  ihr  Maximum  mit 


Steigerung  der  Widerstandsfikhigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     729 

einer  7,5 fachen  Vermehrung,  am  ganz  allmählich  nach  einigen 
Tagen  zur  Norm  zurückzukehren.  Im  Blute  vermehren  sich  die  Leu- 
kocyten  nicht  in  dem  Maße  wie  in  dem  Peritonealexsudate. 

d)  Versuche  mit  intraperitonealer  Injektion  vonlccm 
einer  2-proz.  Hefenukleinsäure: 

Dieses  Präparat,  welches  mir  von  der  chemischen  Fabrik  Böhringbb 
&  SöHNB  in  Mannheim  liebenswürdigerweise  zur  Verfligang  gestellt 
wurde,  wurde  in  physiologischer  Kochsalzlösung  aufgeschwemmt,  durch 
Zusatz  von  Natrium  carbonicum  neutralisiert  und  die  nunmehr  klare 
Lösung  im  Wasserbade  von  100^  C  15  Minuten  sterilisiert. 

Leukocytenzahl  im  Peritonealexsudate: 


Zdt 

1.  Tier 

2.  Tier 

3.  Tier 

Dnrch- 

16.  Nov.  1903 

16.  Nov.  1903 

17.  Nov.  1908 

schnitt 

Vor  der  Injektion 

10200 

12200 

11700 

11367 

'/.    8td.nachder  Injektion 

— 

— 

1170 

1170 

*■         if         yf       n 

fl 

2680 

4300 

4000 

3660 

^          f}          tf        n 

1} 

28800 

41000 

51200 

40333 

O          }|          „        ff 

fy 

85  300 

77  400 

10400 

88900 

^^          11          t>        ff 

yt 

82  350 





82350 

^          II          II        II 

II 

61000 

— 



61000 

2X24  „      „     „ 

n 





42000 

42000 

3X2*  ..       »     ,, 

%i 

27  500 



— 

27  500 

4X24   „       „     „ 

ff 





28800 

28800 

5X24 

II 

— 

— 

21500 

21500 

Leukocytenzahl  im  Blute: 
Vor  der  Iniektion  9600,  Durchschnitt  von  2  Fallen; 

24  Std.  nach  der  Injektion  15600,  1  FaU. 

Sowohl  in  der  Quantität  als  auch  in  der  Dauer  der  Hypo-  und  Hyper- 
leukocytose  stimmt  die  Nukleinsäure  mit  der  Wirkung  des  Aleuronats 
ungefähr  überein  und  zwar  auch  im  Blute.  Nur  tritt  hier  das  Maxi- 
mum der  Hyperleukocytose  viel  schneller  auf  als  beim  Aleuronat ;  schon 
nach  8  Stunden  erreicht  die  Leukocytenzahl  etwas  über  die  7,8 fache 
Größe  gegen  die  Norm  und  hält  sich  24  Stunden  lang  beinahe  konstant. 
Im  weiteren  Verlaufe  läßt  sich  nach  4  bis  5mal  24  Stunden  noch  eine 
ganz  leichte  Vermehrung  konstatieren. 

Vergleichen  wir  die  Wirkung  der  4  geprüften  chemotaktischen 
Präparate,  so  wirkt  die  Nukleinsäure  am  besten  (7,8fach),  dann  folgt 
das  Aleuronat  mit  beinahe  gleichem  Wert  (7,5fach),  während  das  Koch- 
salz (4fach)  weit  hinter  ihnen  zurücksteht  und  schließlich  die  Bouillon 
den  schwächsten  (l,9fach)  Ausschlag  ergibt  Betreffs  des  zeitlichen 
Ablaufes  der  Wirkung  steht  die  Nukleinsäure  ebenfalls  an  erster  Stelle ; 
sie  kommt  am  raschesten  zur  Wirkung  (8  Stunden),  während  die  übrigen 
Präparate  erst  17—24  Stunden  nach  der  Injektion  das  Maximum  ihrer 
Wirksamkeit  erreichen. 

e)  Versuche  mit  smbkutaner  Injektion  von  1  ccm  einer 
0,5-proz.  Nukleinsäure: 


730 


H.  Miyake, 


Die  Injektion  wurde  unter  die  Bauchhaut  gemacht. 

Leukocytenzahl  im  Peritonealexsudate: 


Zeit 

I.Tier 
2.  Jan.  1904 

2.  Tier 
3.  Jan.  1904 

Dorchflchnitt 

Vor  der  Injektion 

1  Std.  nach  der  Injektion 

•          1»              M               1»                  >» 

12  600 

3392 

26200 

10200 
3600 

11400 

3496 

26200 

Weitere  Untersuchungen  muBten  wegen  der  Unmöglichkeit  der  Ezsudat- 
entnahme  eingestellt  werden. 

Leukocytenzahi  im  Blute: 


Zeit 


Vor  der  Injektion 

1  Std.  nach  der  Injektion 

**       >i  n  »»  » 

'         it  39  n  n 


1.  Tier 
Jan.  1904 


10900 

12000 
18600 


2.  Tier 
3.  Jan.  1904 


10120 

3600 

14500 

21200 


Durchschnitt 


10510 

3600 

13250 

19900 


Durch  subkutane  Injektion  tritt  sowohl  im  Blute  als  auch  im  Peri- 
tonealexsudate zunächst  Hypoleukocytose  von  kurzer  Dauer  ein,  dann 
die  eigentliche  Hyperleukocytose.  Die  Hyperleukocytose  im  Peritoneal- 
exsudate ist  nicht  so  ausgeprägt  wie  bei  der  intraperitonealen  Injektion. 
Abgesehen  von  der  Quantität  der  Leukocyten  im  Peritonealexsudate, 
zeigen  beide  Injektionen  in  der  sonstigen  Wirkung  genau  das  gleiche 
Verhalten. 


IL  Die  Körpertemperatur  und  die  sonstigen 
Erscheinungen  nach  der  Injektion  von  Kochsalzlösung, 
Aleuronat  und  Nukleinsäure. 
Die  intraperitoneale  Injektion  von  Ghlornatriumlösung  veranlaßt 
gar  keine  Schmerzempfindung,  ebensowenig  wird  die  Körpertemperatur 
beeinflußt.  Als  normale  Temperatur  im  Rectum  habe  ich  bei  zahl- 
reichen Meerschweinchen  38—38,2^0  gefunden,  obgleich  Ausnahmen 
davon  öfters  vorkommen.  Unter  4  Fällen  wurde  bei  2  Tieren  kurz  nach 
der  Injektion  eine  Temperaturemiedrigung  von  0,1^0  beobachtet,  bei 
zwei  anderen  gar  keine  Reaktion.  Anders  wirken  intraperitoneale  In- 
jektionen von  Aleuronat;  hier  tritt  lokale  Schmerzhaftigkeit,  Temperatur- 
erniedrigung und  nachfolgendes  leichtes  Fieber  auf.  Die  Schmerzhaftig- 
keit scheint  ziemlich  intensiver  Natur  zu  sein;  die  Tiere  bleiben  eine 
Zeitlang  kränklich,  elend  und  ohne  Freßlust  Konstant  wurde  eine 
schnell  vorübergehende  Temperaturerniedrigung  von  1— iVs^C  Vi  bis 
V2  Stunde  nach  der  Injektion  beobachtet.  Ganz  ähnliche  Erscheinungen 
treten  bei  der  Injektion  von  1-  bis  2-proz.  saurer  Nukleinsäurelösung 
auf.  Hier  ist  aber  die  Temperatursteigerung  etwas  mehr  (0,5 — 1,5  ®C) 
ausgeprägt  als  beim  Aleuronat    Dieselbe  tritt  nach  3  Stunden  ein,  er- 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     731 

reicht  nach  6—7  Stunden  ihr  Maximum  und  fällt  gewöhnlich  schon  nach 
10  Stunden  zur  Norm  ab.  Bei  1-proz.  neutralisierter  Nuklein- 
säurelösung  scheint  die  Reizerscheinung  viel  milder  zu  verlaufen. 
Temperaturerniedrigung  tritt  nur  in  geringem  Grade  auf,  höchstens 
0,5  bis  0,7  ®C.  Nach  3 — 4  Stunden  erhöht  sich  die  Temperatur  nur 
um  0,5—1,5^0  über  die  Norm  und  fängt  schon  nach  7  Stunden  an 
allmählich  zu  fallen.  Sowohl  durch  subkutane  als  auch  durch  intra- 
peritoneale Injektion  von  neutralisierter  0,5-proz.  Nukleinsäure  tritt  in 
der  größten  Mehrzahl  der  Fälle  eine  kaum  merkbare  Temperatur- 
erniedrigung von  0,1— 0,2®  C  mit  nachfolgender  Temperaturerhöhung 
von  0,5— 1,5  ^C  auf.  Dieselbe  erreicht  nach  3—4  Stunden  ihr  Maxi- 
mum und  fällt  gewöhnlich  innerhalb  von  10  Stunden  zur  Norm  ab. 

Weder  bei  den  lebenden  noch  bei  den  sezierten  Tieren  habe  ich 
je  an  der  Injektionsstelle  nachteilige  Wirkungen,  wie  Ekchymosen, 
Nekrosen  etc.  beobachtet. 

An  der  Hand  dieser  Erfahrungen  wfirde  fflr  praktische  Zwecke  mit 
Rücksicht  auf  ihre  Unschädlichkeit  zunächst  die  Kochsalzlösung  in  Be- 
tracht kommen,  jedoch  mit  Rücksicht  auf  ihren  leukotaktischen  Wirkungs- 
wert in  erster  Linie  die  Hefenukleinsäure.  Jedes  der  beiden  Mittel  hat 
seine  Vorzüge  und  seine  Schattenseiten.  Doch  fallen  bei  der  Nuklein- 
säure die  Mängel  gegenüber  den  Vorteilen  nicht  schwer  ins  Gewicht 
und  lassen  sich  sehr  leicht  durch  die  Herabsetzung  der  Dosis  ohne 
Verlust  an  Wirksamkeit  auf  ein  sehr  geringes  Maß  reduzieren.  Welchen 
Schutz  nun  jedes  von  diesen  Präparaten  gegen  Bakterieninfektion  ge- 
währt, lehren  die  nachfolgenden  Tierexperimente. 

III.  Die  Prüfung  der  Resistenzfähigkeit  der  Gewebe 
gegenBt^kterieninfektionnachkünstlich  erzeugter Hyper- 

leukocytose. 
Der  ursprüngliche  Plan  dieser  Versuche  war,  eine  Steigerung  der 
peritonealen  Widerstandsfähigkeit  gegen  bakterielle  Infektion  ver- 
mittelst künstlicher  Hyperleukocytose  hervorzurufen.  Im  weiteren  Ver- 
laufe der  Arbeit  erschien  es  jedoch  wünschenswert,  die  Versuche  über 
den  anfänglichen  Plan  hinaus  zu  erweitern  und  schließlich  selbst  all- 
gemeine Infektionen  in  den  Bereich  der  Arbeit  zu  ziehen.  Ich  will 
daher  die  Versuche  in  folgender  Reihenfolge  besprechen. 

A.  Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  Bact.  coli; 

B.  Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  Mischkulturen  von 
Bact.  coli,  Streptococcus  und  Staphyl.  aureus; 

C.  Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  den  Austritt  von 
Magen-  und  Darminhalt; 

D.  Allgemeine  Resistenzerhöhung  beim  Kaninchen  gegen  Infektion 
mit  Streptococcus  und  mit  Staphylococcus  aureus. 


732 


H.  Miyake, 


A.  ResistenzerhöhuDg  des  Peritoneums  gegen  Bact.  coli. 

Das  Bact.  coli,  welches  zu  diesen  Versuchen  Anwendung  fand,  stammte 
aus  dem  Eiter  einer  akuten  Appendicitis ;  seine  Virulenz  wurde  durch  ein- 
malige Meerschweinchenpassage  verstärkt.  Um  während  der  ganzen  Dauer 
der  Versuche  mit  Material  von  möglichst  gleichem  Virulenzgrad  arbeiten 
zu  können,  wurden  ca.  50  Agarkulturen,  welche  gleichzeitig  geimpft  und 
24  Stunden  lang  bei  37  ^  gewachsen  waren,  nach  exakter  Bestimmung  der 
Dosis  letalis  minima  unter  Verhütung  von  Austrocknung  im  Eisschrank 
aufbewahrt. 

Die  Dosis  letalis  minima  wurde  Anfang  November  1903  durch  wieder- 
holte intraperitoneale  Injektion  an  11  Meerschweinchen  von  200 — 300  g 
auf  1/^  der  exakt  gemessenen  Normalöse  (2  mg)  festgestellt.  Die  wieder- 
holte Prüfung  am  27.  Dezember  1903  hat  ergeben,  daß  der  Virulenzgrad 
trotz  der  vorsichtigen  Aufbewahrung  doch  auf  Vj  Normalöse  zurück- 
gegangen) war;  so  bedeutet  in  der  nachfolgenden  Beschreibung  „Coli  Vi" 
die  Dosis  letalis  minima  von  V4  und  „Coli  V,"  von  einer  halben  Normal- 
öse. Die  zur  Injektion  nötige  Verdünnung  der  Bakterien  geschah  stets 
mit  1  ccm  neutraler  Bouillon.  Als  Versuchstiere  wurden  Meerschweinchen 
von  annähernd  gleichmäßigem  Körpergewicht  von  2B0 — 300  g  benutzt. 

I.  Kochsalzvorbehandlung: 


Nummer  und 
Datum 


Gewicht 


Injektions- 
mittel 


Dosis  von 
Bact  coli 


Besultat 


Bemerkungen 


1 
1.  Dez.  1903 


1.  Dez.  1903 


4.  Dez.  1903 


4.  Dez.  1903 


210  g 

225  g 

260  g 
245g 


1   ccm   dner 

0,85  proz. 

Kochsalzlös. 


do. 


do. 


do. 


V,0esel6Btd. 
n.  d.  NaCl- 
Vorbehandl. 


1  Oese  16  Std. 
n.  d.  NaQ- 
Vorbehandl. 

V,0«e7  8td, 
n.  d.  Naa- 
Vorbehandi. 

1  Oeee  7  Std. 
n.  d.  Naa- 
Vorbehandl. 


nach  3 


tlSStd. 
der      Coliin- 
jektion 


tl6Std.nach 
der  Coliin- 
jektion 

lebt 


Std.  nach  der  Coli- 
injekt.  schwer  krank; 
KoUapetemp.  unter 
30®  C  kurz  vor  dem 
Tode 

Ausgeprägte  Kollaps- 
temperatnr.  Schmerz- 
hafte Spannung  des 
muches 

Schwer  krank;  im 
Laufe  von  12  Stun- 
den erholt 


t20  Std. nach  Tod 
der      Coliin- 
jektion 


unter     akutem 
Kollaps 


Da  die  Vorversuche  ergeben  hatten,  daß  die  Hyperlenkocytose  in 
der  Peritonealhöhle  durch  die  intraperitoneale  Injektion  von  1  ccm 
0,85-proz.  Kochsalzlösung  nach  17—18  Stunden  ihr  Maximum  erreicht, 
so  wurde  2  Meerschweinchen  16  Stunden  nach  der  Vorbehandlung,  also 
noch  im  Stadium  der  steigenden  Hyperlenkocytose,  Vs  und  1  Oese  Coli 
injiziert.  Die  beiden  Tiere  starben  nach  16—18  Stunden  unter  dem 
Bilde  von  akutester  Sepsis  unter  schwerem  Kollaps,  genau  wie  Pfeiffer 
und  IssAEFF  von  ihren  Tieren  bei  den  Versuchen  über  Choleraimmuni- 
sierung schilderten.  Da  der  Versuch  mißglückt  schien,  wurden  zwei 
weitere  Tiere  7  Stunden  nach  der  Vorbehandlung  mit  genau  gleicher 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     733 


Dosis  von  Coli  infiziert.  Der  Erfolg  war,  daß  das  mit  V«  Oese  infizierte 
Tier  am  Leben  blieb,  während  das  andere  mit  1  Oese  geimpfte  nach 
20  Stunden  starb.  Daraus  geht  klar  hervor,  daß  die  Chlornatriumvor- 
behandlung nicht  so  gute  Dienste  leistet,  wie  wir  erwartet  haben;  die- 
selbe erreicht  in  meinen  Versuchen  nur  eine  zweifache  Steigerung 
der  Resistenzfähigkeit  des  Peritoneums  gegen  die  tödliche  Minimaldosis 
von  Bact.  coli,  während  allerdings  Solieri  die  7- fache  erzielte.  Auch 
bei  —  2mal  versuchter  —  Injektion  von  2  ccm  Kochsalzlösung,  von 
der  Solieri  eine  Erhöhung  der  Resistenz  des  Peritoneums  um  das 
16fache  sah,  habe  ich  höchstens  eine  3-fache  Verstärkung  erzielt  Der 
günstige  Erfolg,  den  Solieri  mit  Injektionen  von  2  ccm  Kochsalz- 
lösung im  Meerschweinchenversuch  hatte,  gibt  ihm  übrigens  Veran- 
lassung zu  dem  Bedauern,  daß  ein  analoges  therapeutisches  Vorgehen 
am  Menschen  unmöglich  sei,  „denn  eine  Dosis  von  2  ccm  beim  Meer- 
schweinchen entspricht  beim  Menschen  von  65  kg  einer  solchen  von 
300  ccm,  was  eine  beträchtliche  endoperitoneale  Injektion  beim  Menschen 
ausmachen  würde^.  Dieses  Bedenken  muß  ich  für  unbegründet  halten, 
da  die  Spülung  der  Peritonealhöhle  mit  5,  10—12  1  physiologischer  Koch- 
salzlösung bei  uns  schon  seit  einigen  Jahren  bei  zahlreichen  Opera- 
tionen am  Magen  und  Darm  vorgenommen  wird  und  nie  nachteilige 
Folgen  beobachtet  werden.  Ein  Teil  der  gespülten  Flüssigkeit  fließt 
natürlich  wieder  heraus,  doch  bleiben  mindestens  2 — 4  1  in  der  Peri- 
tonealhöhle zurück.  Diese  Art  der  Spülung  hat  bis  jetzt  nicht  nur 
nicht  geschadet,  sondern  zweifellos  erheblich  genützt.  Die  genauere 
Erklärung  für  diese  günstige  Wirkung  lasse  ich  dahingestellt;  a  priori 
und  auf  Grund  meiner  Versuche  läßt  sich  erwarten,  daß  außer  der 
Wegspülung  der  aus  dem  Magen-  und  Darmkanal  ausgetretenen  Keime 
noch  die  dadurch  erregte  Hyperleukocytose  eine  Rolle  spielt. 

Da  die  Versuche  mit  Bouilloninjektionen  zu  Tierexperimenten  nicht 
besonders  ermutigten,  so  wurde  von  der  Fortsetzung  derselben  Abstand 
genommen. 

2.  AleuroDatbehaDdlung: 


Nummer  und 
Datum 


Injektionsmittel 


Körper- 
temperatur im 
Kectum 


Doeis 
von 

Bact. 
coli 


Beeultat 


kungen 


1. 
7.  Dez.  1903 


7.  Dez.  1903 


9.  Dez.  1903 


1  ccm  eines  2-proz. 
Aleuronat  in  0,85- 
proz.  Kochsalzlö- 
sung 

do. 


do. 


36,6  •  0  V*  ßtd. 
38,0  *»  C    3    „ 
38,8 »  C    7    „ 


36,7  «  C  V, 
38,0  °0  3 
38,0  •  C    7 


Std. 


2  Oesen 


4  Oesen 


3  Oesen 


lebt 


t  16V,  ßtd. 
n.  d.  Coli- 
injektion 

t  34  öt  n. 
d.  Ooü. 
injektion 


Nach  ca. 

10-stünd. 

Erkrankung 

erholt 

Akuteste 
Sepsis 

do. 


734 


H.  Miyake, 


Unter  3  Tieren,  welche  mit  je  2,  3  und  4  Oesen  Coli  (Vi)  geimpft 
waren,  blieb  nur  das  mit  kleinster  Dosis  geimpfte  am  Leben.  Hieraus 
geht  hervor,  daß  das  Aleuronat  trotz  seiner  stark  chemotaktischen 
Eigenschaft  doch  nicht  im  stände  ist,  gegen  höhere  Dosen  von  Coli  zu 
schützen;  dasselbe  konnte  nur  eine  8- fache  Verstärkung  der  Re- 
sistenz herbeiführen. 

3.  Hefe-NukleinBänrevorbehandlung: 


Nummer 
and  Datum 


Gewicht 


Injektions- 
mittel 


Temperatur 


DosIb  von 
B.coli(V4)| 


BcBultat 


I.  Serie:  2-proz.  Nukleinsäure. 


1. 

1. 
Dez. 

1903 

260  g 

1. 

2. 
Dez. 

1903 

245  g 

2. 

3. 
Dez. 

1903 

200g 

2. 

4. 
Dez. 

1903 

215  g 

2. 

5. 
Dez. 

1903 

240  g 

3. 

6. 
Dez. 

1903 

280  g 

4. 

7. 
Dez. 

1903 

260  g 

3. 

& 
Dez.  1903 

240  g 

3. 

9. 
Dez. 

1903 

240  g 

10. 
5.  Dez,  1903 


11. 
5.  Dez.  1903 


240  g 


250  g 


1  ccm  einer 

•        

2-proz. 
Nukleinsäure 

do. 

— 

do. 

38,1  •  V.  d.  Inj. 

353'  V.  Std.  n.  d.  Inj. 

oo,ü     D          n      tf    11      11 

do. 

38,0  •  V.  d.  Inj. 

353''  Vt  Std.  n.  d.  Inj. 

o7,o     0         „      „    „      „ 

do. 

38,2«  V.  d.  Inj. 

35,2  •  Vt  Std.  n.  d.  Inj. 

36,8®  5          nun       11 

do. 

38,0  •  V.  d.  Inj. 

36,9  <>  V,  Std.  n.  d.  Inj. 

'iX^l  ::  ::::  :: 

do. 

38,0»  V.  d.  Inj. 

37,2  •  Vt  ßtd.  n.  d.  Inj. 

38,fo?    ;:  ::;  ;; 

do. 

38,1  •  V.  d.  Inj. 

36,9*»  V.  Std.  n.  d.  Inj. 

38,20  6        ,     „   „     ., 

do. 

38,0®  V.  d.  Inj. 
36,9  °  Vt  Std.  n.  d.  Inj. 
37.2     3        „      „   „     „ 
38,6®  6        „     „  „     „ 

II.  Serie: 

1-proz.  Nukleinsäure. 

1  ccm  einer 

1-proz. 
Nukleinsäure 

38,0®  V.  d.  Inj. 

37,5®  Vt  Std.  n.  d.  Inj. 

oSfC      3           »1       i>     II       n 

38,0»  7        „     „  „     „ 

do. 

38,0»v.  d.  Inj. 
37.4»  V.  Std.  n.  d.  Inj. 
«^8,7     3        „     „   „     „ 
38,0»  7        „     „   „     „ 

Vt  Oese  I   lebt  (ohne 
etwas 
zu  leiden 


1  Oese 

2  Oesen 

3  Oesen 

4  Oesen 
4  Oesen 

6  Oesen 

8  Oesen 

12  Oesen 

2  Oesen 
4  Oesen 


do. 

lebt  {fast 
gar  nioit  ge- 
litten) 

lebt  Heicht  er- 
krankt, erholt 
sich  aber  nach 
3  Stunden 

do. 


do. 


t  (kollabiert 

22  Std.  n.  d. 

Infektion 

t  17  Std. 
n.d.  Infektion 


t  17  Std. 
n.d.  Infektion 


lebt  (fast 
nicht  er- 
krankt) 

lebt  (nach 
kurzer  Er- 
krankonff 
sich  erholt 


Entsprechend  den  bei  den  Vorversuchen  gewonnenen  Erfahrungen, 
erfolgte  an  sämtlichen  Tieren  die  Coliinfektion   7  Stunden  nach  der 


Steigerung  der  Widerstandsfehigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     735 

Vorbehandlung.  Im  Anfange  verwendete  ich  nach  Issaeffs  Vorgang 
2-proz.  Lösung,  habe  aber  später  versucht,  die  Dosis  innerhalb  der 
gleichwirksamen  Grenze  möglichst  herabzusetzen,  und  es  gelang  in  der 
Tat,  in  bedeutend  verdünnter  Lösung  dasselbe  Ziel  zu  erreichen.  Wie 
aus  der  obigen  Tabelle  ersichtlich  ist,  besteht  in  der  Wirkung  von  1  bis 
2-proz.  Lösung  kein  Unterschied;  mit  beiden  konnte  ich  eine  16- fache 
Verstärkung  der  Resistenz  erzeugen. 

Um  die  unangenehmen  Nebenwirkungen,  die  Schmerzhaftigkeit  und 
die  Beeinflussung  der  Temperatur,  möglichst  zu  beseitigen  und  die  für 
den  Menschen  brauchbare  Dosierung  zu  finden,  habe  ich  die  Versuche 
mannigfach  variiert  Die  nachstehende  Tabelle  ergibt  den  Effekt  von 
intraperitonealer  Injektion  einer  0,5— 1-proz.  neutralisierten  Lösung. 


Nummer 
und  Datum 


Gewicht 


Neutrali- 

eierte 

Nukleinsäure 


Temperatur 


Dosis  von 
Bact  coli 


Resultat 


1. 

11.  Dez.  190a 

220  g 

2. 
11.  Dez.  1903 

220g 

3. 
11.  Dez.  1903 

200g 

4. 
13.  Dez.  1903 

250g 

5. 
13.  Dez.  1903 

200  g 

6. 
25.  Dez.  1903 

230  g 

7. 
25.  Dez.  1903 

250  g 

8. 
26.  Dez.  1903 

210  g 

9. 
26.  Dez.  1903 

220  g 

L  Serie: 

1  com  einer 
1-proz.  Löeg. 


da 

do. 
do. 
do. 


IL  Serie: 

1  ccm  einer 
O^proz. 
Lösung 

do. 


do. 


do. 


1-proz.  Nukleinsäure. 

38,0*»  V.  d.  Inj. 
37,3  •  Vi  ötd.  n 
37,8  •  3        „     „ 
oo,4     7         „      „ 

38,0«  V.  d.  Inj. 
37,3  •  Vi  Std.  V. 
37,6'»  3 
38,4«  7 


d.  Inj. 


d.  Inj. 


37,5«  Vi  Std.  n.  d.  Inj. 

3o|3     3         „      „    „     % 

»Ä>f4     7         ,1      „    „      „ 


38,4  

38,0«  V,  Std.  n.  d.  Inj 

39,2  3  „     „   „  „ 

*'"i''  •  1»     II    II  II 

38,0«  Va  Std.  V.  d.  Inj. 

o9,4  3  „     „   „  „ 
39,0* 


II   II 

M      II 


0,5-proz.  Nukleinsäure. 

38,4  «  V.  d.  Inj. 
38,4«  V.  Std.  n 
39,0«  3        „     „ 
38,6«  7        „     „ 

37,7  «  V.  d.  Inj. 

38,0«  V«  Std.  n 
3  )f  f) 
•         II     I» 


39,0« 
38,5« 

37,5« 
37,5« 
39^« 
38,2« 

38,5« 


V.  d.  Inj. 
V,  Std.  n. 
3        V     ii 
V        „     „ 


1  Oese 

2  Oesen 

4  Oesen 

do. 

do. 

V.  d.  Inj. 
38,1 «  V,  Std.  n.  d. 
3o,o     o         „      „    „ 
38|7     7        „     „   „ 


lebt 


Inj. 

3  Oesen 

II 

II 

Inj. 

4  Oesen 

II 

n 

Inj. 

do. 

II 

II 

Inj. 

5  Oesen 

II 

" 

t  19  Std.  n. 
d.  Injektion 

lebt 


t  24  Std.  n. 
d.  Injektion 


lebt 


736  H.  Miyake, 

Während  alle  mit  0,5-proz.  Lösung  vorbehandelten  Tiere  am  Leben 
blieben,  starben  2  unter  3  mit  1-proz.  behandelten  Tieren.  Der  Grund 
dieses  abweichenden  Befundes  ist  in  der  Größendifferenz  der  Versuchs- 
tiere zu  suchen.  Wir  konnten  hier  mit  0,5-proz.  neutralisierter  Lösung 
nicht  nur  ebenso  günstigen  Effekt  erzielen  wie  mit  2-proz.,  sondern 
sogar  noch  etwas  mehr,  nämlich  eine  20-fache  Verstärkung.  Die 
weiteren  Vorteile  der  Lösung  bestehen  in  der  Geringfügigkeit  der  Neben- 
wirkungen. 


Es  erhebt  sich  nun  die  wichtige  Frage :  Können  wir  dieses  Resultat 
ohne  weiteres  auf  den  Menschen  übertragen  und  eine  ebenso  große 
Steigerung  der  peritonealen  WiderstandsfUigkeit  gegen  die  Infektion 
von  pathogenen  Bakterien  erzielen  wie  bei  den  Meerschweinchen? 

Wie  in  der  Einleitung  kurz  erwähnt  ist,  findet  sdion  seit  geraumer 
Zeit  die  therapeutische  Anwendung  der  Nukleinpräparate  an  Menschen 
statt.  So  hatte  M.  Hahn  im  Jahre  1897  Nukleinsäure  von  Parke  & 
Davis  Co.  0,1  g  subkutan  beim  Menschen  injiziert,  ohne  jedoch  die 
gewünschte  Hyperleukocytose  zu  erzielen.  Parke  &  Davis  Co.  liefert 
5-proz.  Nukleinsäure,  deren  Maximaldosis  auf  6  ccm  angegeben  wird; 
LABBfi  benutzte  1 — 2  ccm  einer  1-proz.  Nukleinlösung  mit  ziemlich 
befriedigendem  Erfolge  in  Bezug  auf  die  Hyperleukocytose  u.  s.  w.  Die 
Ansichten  über  die  Dosierung  und  den  Erfolg  der  Nukleinpräparate 
weichen  ziemlich  voneinander  ab,  um  so  mehr,  als  zur  Zeit  unter  dem 
Namen  ^Nuklein^  und  „Nukleinsäure^  eine  Menge  von  Präparaten  in 
den  Handel  kommen,  welche  je  nach  ihrer  Abstammung  aus  Hefe, 
Thymus,  Milz  u.  s.  w.  und  je  nach  der  Fabrik  verschiedenartige  Wir- 
kungen haben  werden.  Rechnet  man  die  Dosis  von  1  ccm  einer 
0,5-proz.  Lösung,  d.  h.  0,005  g  Nukleinsäure,  wie  wir  sie  beim  Meer- 
schweinchen von  300  g  Körpergewicht  mit  Erfolg  benutzen,  auf  einen 
Menschen  von  70  kg  um,  so  ergibt  sich  ca.  1,17  g  Nukleinsäure,  was 
im  Vergleich  zu  der  bisherigen  Dosis  anderer  Autoren  noch  zu  viel 
erscheint.  Um  mit  entsprechender  Vorsicht  vorzugehen,  müssen  wir 
uns  anfangs  mit  einer  möglichst  kleinen  Dosis  begnügen  und  dann  all- 
mählich zu  größeren  übergehen. 

Mit  gütiger  Genehmigung  von  Herrn  Geheimrat  v.  Mikulicz  wurde 
am  21.  Dez.  1903  zum  erstenmal  bei  einer  41-jährigen  Frau,  die  wegen 
einer  Pylorusstenose  operiert  werden  sollte  und  trotz  der  raschen  Ab- 
nahme ihres  Körpergewichtes  noch  leidlich  ernährt  war,  die  Injektion 
vorgenommen.  Neun  Stunden  vor  der  Operation  wurden  mittelst  eines 
durch  eine  ganz  kleine  Laparotomiewunde  ^)  geführten  Gummirohrs  50  ccm 
einer  0,5  proz.  neutralisierten  sterilen  Nukleinsäurelösung  in  die  Peri- 


1)  Unter  lokaler  Anästhesie  ausgeführt. 


Steigernng  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     737 

tonealhöhle  eingegossen,  die  Wunde  fest  zugenäht  und  der  weitere  Ver- 
lauf genau  verfolgt.  Unter  unbedeutenden  Nebenwirkungen  trat  ziem- 
lich hohe  Hyperleukocytose  im  Blute  auf,  welche  wohl  im  stände  ge- 
wesen sein  konnte,  die  gehofifte  Wirkung  zu  entfalten.  Puls,  Temperatur 
und  Atmung  wurden  von  uns  stündlich  untersucht;  die  Temperatur- 
erniediigung,  welche  bei  den  Tieren  regelmäßig  auftritt,  wurde  hier  nicht 
beobachtet,  dagegen  leichtes  Fieber.  Als  Maximaltemperatur  wurde 
7  Stunden  nach  der  Injektion  38,1^  konstatiert;  doch  bestand  diese  Er- 
scheinung nur  kurze  Zeit.  Außer  mäßiger  Reizerscheinung  des  Peri- 
toneums klagte  die  Patientin  weder  über  Kopfschmerz,  Uebelkeit,  Er- 
brechen noch  über  sonstige  üble  Erscheinungen.  Spannungsgeffihl, 
Druckempfindlichkeit  des  Abdomens  und  Seitenstechen  bei  jedem  Atem- 
zuge waren  die  Hauptsymptome  der  Reizung;  dieselben  scheinen  aber  nicht 
sehr  schlimmer  Natur  gewesen  zu  sein,  da  die  Patientin  sie  ohne  Nar- 
kotika ertrug.  Die  Reizerscheinung  erreichte  erst  in  der  vierten  Stunde 
ihr  Maximum,  dann  ließ  sie  allmählich  nach  ca.  12  Stunden  nach.  Was 
die  Leukocytose  im  Blute  betrifft,  so  ergaben  sich  folgende  Werte: 

(Vor  der  Injektion  7200 

Vor  der  Operation  {  7^2  Std.  n.  d.  Injektion  20000 

24000 
28000 
15000 
10800 
8000 
8800 

Neun  Stunden  nach  der  Injektion  hatten  wir  etwas  über  die 
3-fache  Vermehrung  der  Leukocyten  konstatiert,  ja  sogar  nach 
37  Stunden  4- fache,  wobei  es  allerdings  wahrscheinlich  ist,  daß  außer 
der  Nukleinsäurewirkung  noch  die  operative  Leukocytose  hinzutrat.  Im 
weiteren  Verlaufe  hatte  die  Patientin  keinerlei  abnorme  Erscheinungen ; 
die  Operation  —  es  handelte  sich  um  eine  Gastrolyse  —  erfolgte  in 
Narkose  ohne  Störung  und  auch  die  Heilung  ging  wie  sonst  glatt  von 
statten.  Wieweit  dies  der  Nukleinsäure  zu  verdanken  war,  läßt  sich 
vorläufig  nicht  sagen ;  hoffentlich  wird  ihre  Verwendung  an  einem  großen 
Material  in  der  Zukunft  einen  sicheren  Beweis  dafür  liefern.  Jedenfalls 
können  wir  sagen,  daß  die  Injektion  in  diesem  Falle  nicht  geschadet 
hat  Immerhin  wird  es  gut  sein,  vorläufig  die  Hoffnungen  auf  den 
Wert  der  Nukleinsäureinjektionen  in  der  chirurgischen  Praxis  nicht  allzu 
hoch  zu  spannen.  Liegt  doch  das  Bedenken  nahe,  ob  man  im  stände 
sein  werde,  bei  hoch  dekrepiden  Personen,  wie  bei  den  an  Magencarci- 
nom  lange  leidenden  Patienten  durch  diese  Behandlung  die  erhoffte 
Leukocytose  zu  erzeugen.  Weiter  ist  es  noch  die  Frage,  ob  die  er- 
zeugten Leukocyten,  welche  aus  kachektischen  Personen  stammen,  ebenso 
kräftige  bakterizide  Kraft  besitzen,  wie  bei  normalen  Individuen.  Zur 
Beantwortung  dieser   Fragen   sind  ausgedehnte  klinische  Erfahrungen 


l  9 

« 

>»                   » 

r37 

»»                   »» 

51 

V                    M 

Nach  der  Operation 

74 

»»                    >» 

81V, 

»»                    >» 

l99 

99                  n 

738 


H.  Miyake, 


erforderlich,  wie  sie  jetzt  in  der  Breslauer  chirurgischen  Klinik  bereits 
gesammelt  werden. 

Obwohl  sich  im  vorliegenden  Falle  die  völlige  Unschädlichkeit 
des  Mittels  ergab,  hatten  wir  doch  gleichzeitig  gelernt,  daß  sich  die  in- 
traperitoneale Injektion  an  Menschen  doch  nicht  so  einfach  gestaltet  wie 
wir  uns  vorstellten,  und  zwar  sind  es  nicht  technische  Schwierigkeiten, 
sondern  humane  Gründe,  welche  uns  zaudern  lassen,  den  elenden 
Patienten  zweimal  kurz  hintereinander  auf  den  Operationstisch  zu  legen. 
Infolgedessen  habe  ich  mich  bemüht,  das  Verfahren  unbeschadet  seiner 
Wirksamkeit  noch  leichter  und  einfacher  zu  gestalten  als  zuvor,  und 
kam  Iiierbei  zu  einer  anderen  Form  der  Applikation.  Derselben  liegt 
folgender  Gedanke  zu  Grunde:  Bekanntlich  wird  durch  die  intraperi- 
toneale Injektion  Hyperleukocytose  nicht  nur  in  der  Peritonealhöhle 
allein,  sondern  auch  im  Blute  erzeugt,  und  es  ist  wahrscheinlich,  daß 
sich  die  Leukocyten  da  sammeln,  wo  der  Reiz  stattgefunden  hat  oder 
da,  wo  der  Schutz  am  meisten  nötig  ist.  Jedes  Leukocyten-anlockende 
Mittel  wirkt  nicht  nur  an  der  Stelle,  wo  die  Einspritzung  erfolgte, 
sondern   reizt   das   sogenannte  Leukocytenzentrum ;   der  Effekt  ist  also 

Präventivimpfung  von  0,5-proz.  neutralisierter  Hefenukleinsäore  sub- 
kutan (Meerschweinchen): 


Dosis  der 

Nummer  und 
Datum 

Gewicht 

NokleinsSure 

Temperatur 

Bact.coü(V,) 
7  Std.  po6t 

Besultat 

injectionem 

1. 

200g 

1  ocm  einer 

38,0»  V.  d.  Inj. 

4  Oesen 

lebt 

2a  Dez.  1903 

0^  pioz. 
Lösung 

37^»  V.  ßf^  »• 
38,60  3       ,^      ^ 
38^2»  7       „      „ 

d.Inj. 

»>       W 

2. 

200g 

do. 

363"  V.  d.  Inj. 

3  Oeeen 

II 

28.  Dez.  1903 

36,2''  V.  Std.  n. 
38,5»  3       „      „ 
38^2»  7       „      ,, 

d.  Inj. 

»«      n 

3. 

240  g 

do. 

383"  V.  d,  Inj.* 

5  Oesen 

ti 

4.  Jan.  1901 

38,2 •  •/.  Btd.  n. 
38,5»  2       „      „ 
383*4       „      „ 
38,6«  7       „      „ 

d.  Inj. 
»    »1 

II    II 
II    II 

4. 

250  g 

do. 

38,4«  V.  d.  Inj. 

6  Oesen 

if 

4  Jan.  19(M 

38,4«  V.  Btd-  n. 
39,3»  2       „      „ 
39,7«  4       „      „ 
39,0«'  7       „      „ 

d.Inj. 

II        II 
II        II 
II        II 

5. 

260  g 

do. 

38,4»  V.  d.  Inj. 

8  Oesen 

if 

4.  Jan.  1904 

38,4»  Vt  Std.  n. 
38,6»  2       „      „ 
39,4    4       „      „ 
39,0»  7       „      „ 

d.  Inj. 
»    II 
II    II 
II    II 

6. 

260  g 

do. 

38,4  0  V.  d.  Inj. 

10  Oesen 

„ 

5.  Jan.   1904 

38,4»  V.  Std.  n. 
39,7    3       „      „ 
393»  7       „      „ 

d.  Inj. 
II    II 
II    »1 

Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     73Ö 

voraussichtlich  kein  lokaler,  sondern  ein  allgemeiner.  War  diese  Vor- 
aussetzung richtig,  so  mußte  durch  subkutane  Injektion  eine  ebenso 
große  Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  an  dem  Orte 
erzeugt  werden  können,  wo  Schutz  und  Wehr  nötig  ist,  wie  bei  der 
direkten  lokalen  Applikation.  In  diesem  Sinne  habe  ich  Versuche  an- 
gestellt (vgl.  die  Tabelle  auf  p.  738). 

Die  durch  die  subkutane  Injektion  veranlaßte  lokale  Erscheinung 
verläuft  sehr  mild;  das  Resultat  gegen  Coliinfektion  ist  glänzend  zu 
nennen.  Wir  konnten  hier  ebenfalls  eine  20- fache  Steigerung  der 
peritonealen  WiderstandsfiQiigkeit  erzeugen,  was  auch  bei  der  intraperi- 
tonealen Injektion  die  maximale  Grenze  war. 

Um  innerhalb  dieses  Wirkungskreises  die  nötige  Dosis  der  Nuklein- 
säure noch  weiter  herabsetzen  zu  können,  haben  wir  auch  Versuche 
mit  0,25-proz.  neutralisierter  Lösung  angestellt. 


Versuche 

mit  subkutaner  In 

ijektion   von   0,25-proz.  neutral 

lisierter 

Lösung: 

Dosis  der 

Nummer  und 
Datum 

Gewicht 

Nukldnsaure 

Temperatur 

Bact.  coli  Vj 
7  Std.  poHt 
injectionem 

Resultat 

1. 

215  g 

1  ccm 

37 12«  V.  d.  Inj. 

4  Oesen 

tl2  Std. 

6.   Jan.  1904 

363''  Vi  Std.  n.  d.  Inj. 

dO|0        O                fl          II         II         II 

07  70  7 

**•»•       •           i>      II     II     II 

n.  d.  In- 
fektion 

2. 

220  g 

it 

37,3«  V.  d.  Inj. 

>i 

t  17  Std. 

6.  Jan.  1904 

37,1«  V.  Std.  n.  d.  Inj. 
00,9    0        „     „    ,1    ,1 
37,507        1,     II    1,    „ 

n.  d.  In- 
fektion 

Aus  diesen  Versuchen  ergibt  sich,  daß  die  unterste  wirksame  Grenze 
der  Nukleinsäure  zu  0,5  Proz.  angesetzt  werden  muß. 

Da  die  Einhaltung  von  7  Stunden  als  günstiger  Zeitpunkt  zur 
Operation  nach  der  Präventivimpfung  bei  dem  praktischen  Gebrauch 
am  Menschen  manchmal  nicht  möglich  ist,  so  wurde  versucht,  ob  nicht 
auch  noch  die  spätere  Zeit  nach  der  Infektion  ebenso  günstig  wäre. 


Versuche 

mit   subkutaner   I 
Nukleinsäure  15 

njektion    von  0,5proz.    neutral 
Stunden  post  injectionem: 

isierter 

Nunmier  und 
Datum 

Gewicht 

Nukleinsäure 

Temperatur 

Dosis  der 
Bact.  coU  Vi 

Besultat 

1. 
13.  Jan.  1904 

2. 
13.  Jan.  1904 

240  g 
260  g 

1  ccm 
1« 

38|Oo  V.  d.  Inj. 

393^  V,  Std.  n.  d.  Inj. 

38.6  •  15     ,1      ,1    „    II 
38,4«  V.  d.  Inj. 

38.7  «>  Vt  Std.  n.  d.  Inj. 
38,5M5     II      II    II    ,1 

9  Oesen 
10  Oesen 

t  12  Std. 

post  in- 

tectionem 

lebt 

Aus  diesem  Ergebnis  können  wir  schließen,  daß  auch  15  Stunden 
nach  der  Injektion  eine  brauchbare  Zeit  darstellen. 


740 


H.  Miyake, 


In  der  Hoffnung,  den  erzielten  Effekt  noch  zu  erhöhen,  wurden  die 
weiteren  wiederholten  intraperitonealen  und  subkutanen  Präventiv- 
impfungen von  Nukleinsäure  in  steigender  Dosis  ausgeführt.  Zum  Aus- 
gleich fQgte  ich  einige  Versuche  mit  abgetötetem  Bact.  coli  hinzu. 

I.  Serie:  VerBnche  mit  wiederholten  iDtraperitonealen  Injektionen 
▼on  neutralisierter  Nnkleinsäure  in  steigender  Dosis. 


Ge- 
?ncht 


1.  Injektion 

von 
Nnklönsanre 


2.  Injektion 


3.  Injektion 


4.  Injektion 


Dosis  d.  ß. 

coli  V*. 
7  Bt  p.  in- 
fectionem. 


Besultat 


205g 

aoog 

200g 


1  ocm    einer 
l-proz.LÖ6g. 

(iS.xii.^) 

do. 
do. 


1  ocm  einer 
2-proz.LÖ8g. 
(20.  XU.  03) 

do. 

do. 


1  ccm  einer 
2-proz.Lö6g. 
(2l.XIL^) 

do. 

do. 


6   Oesen 
(23.  XIL  03) 

8  Oesen 
10  Oesen 


lebt 


lebt 

fim  Laufe 
von  10  St. 


II.  Serie:  Versnche  mit  wiederholter  subkutaner  Injektion  von 
neutralisierter  Nukleinsäure  in  steigender  Dosis. 


200g 


200  g 


1  ocm    einer 

l-pro2.LÖ6g. 

(lIxiLOS; 
1  ocm    einer 

l-proz.Lö6g. 

(13.  XIL  03) 
200  g  1  ccm    einer 

1-proz.Löeg. 

(lixn.  08) 
165  g         do. 


1  ocm   einer 
2-proK.LÖ8g. 

(15.XIL03J 
do. 


do. 


do. 


1  ocm  einer 
3-proz.LöBg. 
(16.  XIL  03) 

do. 


da 


do. 


8  Oesen 
(17.  XIL  03) 

6  Oesen 


lebt 


lebt 


lebt 


lebt 


III.  Serie:  Versuche  mit  intraperitonealer  Injektion  von  ab- 
getötetem ColL 


Nummer  und 
Dosis 

Gewicht 

Dosis  von  abge- 
tötetem Goß 

Dosis  von  Bact 

coU  V*.    7  St  p. 
injectionem 

Resultat 

1. 
9.  Dez.  1903 

2. 
9.  Dez.  1903 

230  g 
280g 

V,  Oese  in 
physiolog. 
soluMung 

2  Oeeen 

1  ccm 
Koch- 

V.  Oese 
2  Oesen 

lebt 
lebt 

3. 
la  Dez.  1903 

200g 

2     „ 

5     „ 

M 

4. 
13.  Dez.  1903 

200g 

2     „ 

6     „ 

t  im  Laufe  von 
12  Stunden 

Durch  wiederholte  Injektionen  von  Nukleinsäure  tritt  bei  den  Ver- 
suchstieren eine  Gewöhnung  der  Art  auf,  daß  sie  allmählich  gegen  das 
Mittel  wenig  reagieren.  Der  damit  erzielte  Erfolg  ist  recht  befriedigend 
zu  nennen.  Es  erfolgten  im  ganzen  3 — 4  Injektionen  und  zwar  jeden 
Tag  einmal  oder  einen  Tag  um  den  andern,  je  nach  dem  Befinden  des 
Tieres.  Während  durch  viermalige  intraperitoneale  Vorbehand- 
lung 40-fache  Steigerung  erzielt  wurde,  konnten  wir  durch  drei- 
malige  subkutane   Injektion  32- fache  erzeugen,   also  ein  beinahe 


Steigerung  der  Widerstands&higkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     741 

gleich  günstiges  Resultat.  Trotz  dieses  guten  Resultates  werden  wir 
vielleicht  selten  Gelegenheit  haben,  diese  Art  der  Behandlung  beim 
Menschen  anzuwenden ;  denn  erstens  werden  es  die  Umstände  nicht  er- 
lauben, so  viel  Zeit  vor  der  Operation  dem  zu  opfern,  zweitens  wird 
wahrscheinlich  der  Patient  nur  selten  die  öftere  Vornahme  der  schmerz- 
haften Prozedur  gestatten. 

Für  die  Versuche  mit  abgeschwächten  Kulturen  wurde  eine  Goli- 
kultur  durch  1 -stündige  Erhitzung  auf  65^  G  abgetötet,  davon  Vs  bis 
2  Normalöse  abgenommen,  mit  1  ccm  Bouillon  aufgeschwemmt  und 
zur  intraperitonealen  Präventivimpfung  benutzt.  Die  einmalige  Ein- 
spritzung der  abgetöteten  Bact.  coli  leistet  keinen  so  großen  Effekt, 
wie  wir  erwarteten;  sie  konnte  bloß  20- fache  Steigerung  erzielen. 

B.  Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  Misch- 
kultur von  Bact  coli,  Streptococcus  und  Staphylococcus 

aureus. 

Zur  Injektion  wurde  aufier  dem  erwähnten  Golistamm  noch  24  stün- 
dige virulente  Agarkultur  von  Staphylococcus  aureus  aus  dem  Eiter  eines 
akuten  periartikulären  Abscesses  und  gleichalte  Bouillonkultur  von  Strepto- 


Präventivinipfung  von  0,5-proz.  neutralisierter  Nukleinsäure: 


Nummer 
und  Datum 


Ge- 
wicht 


Nukleinsäure 


Temperatur 


Doeis  von  Bak- 
terien ;  7  St.  p. 
injectionem 


Resultat 


intraperitoneal. 


1. 
2a  Dez.  1903 


220g 


2. 
2a  Dez. 


1903 


240  g 


1  ccm  einer  0^- 
proz.  Lösung 
intraperito- 
neal 

do. 


3. 
ö.  Jan. 


1904 


4. 
9.  Jan.  1904 


9.  Jan.  1904 


6. 
11.  Jan. 


Mittel!, 


37,6«  vor  der  Injekt 
37,l«V»St.n.d.Inj. 

0070    q 

"ö>"       •     I»    »I   >i    ff 

38,1  <»  vor  der  Injekt, 
38,0»V«St.n.d.Inj. 
38,6<>  3 
38,1  <>  7 

subkutan 

383"vordcrInjekt 

38,l»Vf8t.n.d.Inj. 

3o,D      o     „  „  „    „ 

Q7  7  0    7 

*^*f*       •     f»  II  II    I» 

38,3*»  vor  der  Injekt. 

373''V,Stn.d.Inj. 

«Ä>,7      o     ,,  „'  „    „ 

9Q4.0    7 

"*^i^      •     1»  I»  II    II 

38,5  «vor  der  In  jekt. 
38,6«  V.8t.n.d.lnj. 

«^|ö      o     „  „  „    „ 
38,5     7    ,y  „  „    „ 

38,1  "vor  der  Injekt 
38,3«V,8t.n.d.Inj. 

*^"|5  O        „     „     ,y       „ 

^ftQO    7 

*^^i*'       •      »»  »I  »I    II 

I.  a.  d.  Gmxfebiatan  d.  Medtxin  a.  Chinirfle.    XUI.  Bd. 


270  g  1  ccm  einer  0,5 
proz.  Lösung 
subkutan 

300  g 


300  g 


1904 


300g 


II  II  II   II 
1»  II  II   »I 


je  4  Oesen  von 
Coli  V»i  Aureus, 
Streptococcus 

je  4  Oesen  von 
Coli  ^/,,  Aureus, 
Streptococcus 


je  9  Oesen  von 
Coli  ^/,,  Aureus, 
Streptococcus 


lebt 


lebt 


je   8  Oesen  von  lebt 
Coli  Vfi  Aureus, 
Streptococcus 


t   16  St   p. 
infect. 


je  10  Oesen  von 
Coli ,  Aureus, 
Streptococcus 

je  9  Oesen  von 
Coli ,  Aureus, 
Streptococcus 

48 


t  12  St.   p. 
infect. 


t   14  St   p^ 
infect 


742 


H.  Miyake, 


coccus  ans  dem  Eiter  einer  Halsphlegmone  injiziert.  Die  intraperitoneale 
Injektion  von  diesen  beiden  Bakterienarten  in  großen  Dosen  wirken  be- 
kanntlich bei  Meerschweinchen  ganz  indifferent. 

Während  die  vorbehandelten  Tiere  gegen  einfache  Coliinfektion 
den  20-fachen  Widerstand  leisteten,  überstanden  sie  hier  nur  die 
16- fache  Dosis  der  minimalen  tödlichen  Colidosis,  obgleich  die 
beiden  anderen  Bakterien  allein  bedeutungslos  waren. 

C.  Resistenzerhöhung  des  Peritoneums  gegen  den 

Austritt  von  Magen-  und  Darminhalt: 

I.  Berie:    Aktiv  immanifiierte  Tiere: 

vorbehandelt  mit  Nukleinsäure. 


o 


Ge- 
wicht 


Präventiv- 
impfung 


Doeis  von  virulenten 
Coli 


Operation 


Besultat 


BemerkungeD 


265  g 


220g 


220  g 


230  g 


250  g 


1 


ocm    einer 
Nuk- 


1-jxroz.  *.  «-.- 
lemsäure  in- 
traperitoneal 
(10.  XII.  03) 

do. 
(11.  XII.  03) 


do. 


4  Oesen  10.  XII.  03 
8     „      11.  XII.  03 

10  „      13.  XU.  03 

11  „      14.  XII.  03 


lOese  11.  XII.  03 

4  Oesen  12.  XII.  03 

8     „  13.  XU.  03 

12      „  14.  XII.  03 


2  Oesen  11.  XII.  03 

4      „      12.  XIL  03 

8      „      13.  XII.  03 

12     „      14.  XII.  03 


Aml5.XII.1903 
Mageninhalt 
in  erö6.  Menge 
in  d.  PeritoneiQ- 
höhle  herausge- 
preßt   Nähte  I 

Am  15.  XII.  1903 
Blinddarm 
inhalt  in  der 
PeritoneaUiöhle 
herausgepreßt. 
Nähtef 

do. 


lebt 


lebt 


lebt 


I 


Fieberfrei,  er- 
holte sich 
rasch  nach 
der  Opera- 
tion 

do. 


do. 


7.  Oese  von 
abRetöteten 
Coli     intra- 
peritoneal 
(9.  XII.  03) 

2  Oesen    von 
abgetöteten 
Coli     intra- 
peritoneal 
(9.  XII.  03) 


vorbehandelt  mit  abgetöteten  Coli. 


V,  Oese    10.  XII.  03 

2  Oesen  11.  XII.  03 

4      „      12.  XU.  03 

8      „      13.  XII.  03 

12      „      14.  XII.  03 

12      „      15.  XII.  03 

2  Oesen  10.  XII.  03 


4 

7 

8 

12 

12 


11.  XII.  03 

12.  XII.  03 

13.  XII.  03 

14.  XII. 


Am  15.  XIL  1903 
Blinddarm 
inhalt  in  der 
Peritonealhöhle 
herausgepreßt 
Nähte! 

do. 


lebt 


lebt 


6  '200  g 


230  g 
240  g 


I 


15.  XII.  03 

Kontrolltiere: 

Am  15.  XU.  1903] t  5  öt  p. 
Blinddarm-  |  operatio- 
inhalt  in  der  n^n. 
Peritonealhöhle 
herausgepreßt 


do. 


do. 


Nähte! 


do. 
do. 


do. 

t4V,Stp 
operatio- 
nem. 


akut  Kollaps, 
Krämpfe 


do. 
do. 


Steigerung  der  WiderstandsÄhigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     743 


II.  Serie:  Mit  Bubkntaner  Injektion  von  Nukleinsäure 
vorbehandelte  Tiere. 


Ge- 
wicht 


1  240  g 


Praventiv- 
impfung 


Dods  von  virulenten 
Coli 


1  ccm  ein.  0,5-1 

ßToz.neutra- 
siertNuks.' 
(5.  I.  1904)  ; 


2  ,240  g  do. 


3  230  g 


Operation 


7  8t  p.  injection. 
Danninhalt  in 
der  Peritoneal- 
höhle entleert 
Nahte! 
do. 


Resultat 


lebt 


Kontrolltiere: 


4  240  g 


Danninhalt  in 
der  Peritoneal- 
höhle entleert 
(5.  1.  1904) 

do. 


lebt 


lebt 


Bemerkungen 


tiestp. 

operatio- 
nem. 


Ohne  etwas  zu 
leiden,  sofort 
sich  erholt 


do. 


Schw.  krank, 
erst  nach  ca. 
26  St  erholt 

akute  Sepsis 


III.  Serie:  Die  mit  wiederholten  Injektionen  von  Nukleinsäure 
vorbehandelten  Tiere. 


1  '200  g 


2  '200  g 


Iccml^/Ns. 

13.  XII.  03 
lccm2%N8. 

14.  XII.  03 
Iccm  27oN8. 

15.  XII.  03 
lccm37oN8, 

16.  XII.  03 

do. 


7  St  nach  der 
letzten  Injektion 
Darminhalt  in 
die  Peritoneal- 
höhle entleert 
(17.  XII.  1903; 


do. 


lebt 


lebt 


Ohne  etwas 
zu  leiden, 
gleich  sich 
erholt 


do. 


Sämtliche  Tiere  wurden  7  Stunden  nach  der  Vorbehandlung  unter 
aseptischen  Kautelen  laparotomiert,  der  Magen  oder  eine  Darmschlinge 
auf  einem  aseptischen  wasserdichten  Battist,  welcher  um  die  Wunde 
herum  mittelst  Klemme  eingeklemmt  war,  herausgeholt,  incidiert  und 
eine  möglichst  große  Menge  Inhalt  in  die  Bauchhöhle  hineingepreßt. 
Nachdem  die  Oeffnung  im  Magen  oder  Darm  durch  eine  doppelreihige 
Naht  sorgfältig  geschlossen  war,  wurde  der  Magen  oder  die  Darm- 
schlinge wieder  in  die  Bauchhöhle  reponiert  und  zum  Schluß  die  Bauch- 
wand zugeschlossen.  Während  5  Kontrolltiere  mit  einer  einzigen  Aus- 
nahme innerhalb  von  A^j^—IQ  Stunden  post  operationem  unter  rasch 
eintretendem  Kollaps  zu  Grunde  gingen,  blieben  alle  vorbehandelten 
Tiere  am  Leben.  Auch  das  eine  überlebende  Kontrolltier  war  durch 
24  Stunden  sehr  schwer  krank.  Die  gestorbenen  Tiere  hatten  in  der 
Peritonealhöhle  einen  leicht  bräunlich  getrübten  Erguß  in  mäßiger 
Menge,  gemischt  mit  Magen-  oder  DarminhaU.  Die  Darmnähte  haben 
stets  gut  gehalten.  Kulturen  mit  dem  Peritonealexsudat  ergaben  haupt- 
sächlich Kolonien  von  Bact.  coli,  dann  von  Staphylococcus  albus  und 
aureus  und  von  Bacillus  aerogenes.  Die  anaörobe  Kultur  mißlang  in- 
folge Zersprengung  des  Nährbodens  durch  entwickelte  Bakteriengase. 

48* 


744 


H.  Miyake, 


Durch  diese  Versuche  wollte  ich  mich  überzeugen,  daß  meine 
Präventivimpfung  nicht  nur  gegen  eine  Art  von  Bakterien,  sondern 
auch  gegen  Mischinfektion  und  zwar  gegen  den  Austritt  von  Magen- 
und  Darminhalt  wie  bei  der  operativen  und  perforativen  Peritonitis, 
einen  sicheren  und  festen  Schutz  gewährt 

Gestützt  auf  die  vorstehenden  günstigen  Resultate  glaube  ich 
dieses  Mittel  zur  prophylaktischen  Impfung  bei  jeder 
Laparotomie  im  Falle  von  drohender  Peritonitis  empfehlen 
zu  können,  und  zwar  in  Form  der  subkutanen  Injektion. 

Wenn  wir  diese  Versuchsergebnisse  wirklich  beim  Menschen  ver- 
werten wollen,  so  bleibt  noch  eine  wichtige  Frage  übrig,  zu  deren  Ent- 
scheidung noch  einige  Tierexperiraente  erforderlich  sind.  Die  Peri- 
tonitis, die  wir  nach  Laparotomien  ab  und  zu  beobachten,  wird  nämlich 
nicht  ausschließlich  infolge  von  der  unmittelbar  bei  der  Operation  er- 
folgten Infektion  bedingt,  sondern  kann  noch  im  weiteren  Verlaufe  in- 
folge von  Nahtinsufficienz  oder  vorzeitiger  Lösung  des  Murphyknopfes 
eintreten.  In  solchen  Fällen  wird  erfahrungsgemäß  leider  häufig  nicht 
früh  genug  die  richtige  Diagnose  gestellt  und  der  notwendige  Eingriff 
in  der  Bauchhöhle  zu  spät  vorgenommen;  so  findet  man  bei  der  Er- 
öffnung der  Bauchhöhle  meist  schon  eine  mehr  oder  weniger  ausge- 
prägte Peritonitis  vor.  Gerade  in  den  Fällen,  wo  die  peritonitische  Er- 
krankung noch  in  Entwicklung  begriffen  ist,  kann  vielleicht  meine 
Präventivimpfung  auch  am  Platze  sein. 


Therapeutische  Versuche  mit  subkutaner  Injektion  von  0,5-proz. 
neutralisierter  Nukleinsäure  bei  infizierten  Tieren: 


Nummer 
und  Datum 


Gewicht 


Dosis  von 
Bact.  coli  V» 


Nukleinsäure 


Resultat 


1. 
9. 1.  1904 


2. 
9. 1.  1904 


11. 1.  1904 


200g 

300g 
230  g 


2  Oesen  intra- 
peritoneal 


6  Oesen  intra- 
peritoneal 

4  Oesen  intra- 
peritoneal 


6  St.  n.  d.  Coliinjektion 
im  beginnenden  Stadium 
der  Peritonitis  1  ccm  0,5- 
proz.  Lösung  subkutan 

zugleich  mit  Coliinjektion 
locra  0,5-proz.  Lösung 
subkutan 

1 » /,  St.  n.  d.  Coliinjektion 
i.  Stadium  d.  bednnend. 
Peritonitis  lccm0,5-proz. 
Lösung  subkutan 


lebt  Erst  schwer 
krank,  doch  er- 
holte sich  nach 
18  St 

t  19  St.  n.  dar 
Coliinjektion 


lebt  Nach  2-tag. 
Bchw.  Erkrank, 
sich  erholt. 


Die  Wirkung  des  Mittels  ist  in  diesen  Fällen  nicht  so  eklatant 
wie  in  den  früheren  Versuchen;  doch  ist  es  zweifellos  bis  zu  ge- 
wissem Grade  im  stände,  schon  ausgebrochene  leichte  Peri- 
tonitis im  allerersten  Anfange  zu  coupieren.  Ist  aber  eine 
gewisse  Grenze  überschritten,  dann  leistet  das  Mittel  fast  nichts  mehr. 
Aus   diesen  Versuchsergebnissen  ergibt  sich  also  für  Anwendung  der 


Steigening  der  Widerstandsfähigkeit  der  Oewebe  gegen  Infektion.     745 

Nukleinsäure  noch  die  weitere  Aussicht  —  wenn  man  auch  keine 
übertriebenen  Hoffnungen  daran  knüpfen  darf  —  bei  Magen-  und 
Darmperforationen  lebensrettend  zu  wirken. 

Vergleicht  man  meine  bisher  mit  den  verschiedenen  in  Betracht 
kommenden  Mitteln  erzielten  Versuchsergebnisse,  so  wird  die  sub- 
kutane Injektion  von  0,5-proz.  neutralisierter  Nukleinsäure  in 
ersterLinie  zu  empfehlen  sein,  weil  erstens  in  dieser  Konzentration 
Nebenwirkungen  in  geringem  Maße  auftreten,  zweitens  die  Haupt- 
wirkung noch  sicher  hervortritt,  drittens  die  Injektion  leicht  ausführbar 
ist.  Es  hat  sich  ferner  ergeben,  daß  der  Wert  der  erzeugten  Hyper- 
leukocytose  mit  der  Steigerung  der  peritonealen  Widerstandsfähigkeit 
nicht  in  direkter  Proportion  steht.  Abgesehen  von  der  raschen  Wirkung, 
steht  die  Nukleinsäure  in  Bezug  auf  den  Leukocytenwert  mit  dem 
Aleuronat  ungefähr  auf  gleicher  Stufe;  dennoch  hat  die  erstere  einen 
unvergleichlich  stärkeren  Effekt  (20-fach),  während  das  letztere  kaum 
8-fache  Steigerung  bewirkt.  —  Trotz  des  noch  eklatanteren  Erfolges 
der  wiederholten  Injektion  von  Nukleinsäure  in  steigender  Dosis 
(40-fach)  kann  ich  diese  Methode  leider  aus  den  schon  erörterten 
Gründen  für  die  Praxis  nicht  empfehlen;  dieselbe  besitzt  nur  theo- 
retisches Interesse. 

Um  das  Wesen  der  Leukocytenwirkung  sowie  die  Art  des  Unter- 
gangs der  eingespritzten  Bakterien  innerhalb  der  Bauchhöhle  zu 
studieren,  habe  ich  nach  Pfeiffer  und  Issaeff  mit  sterilen  Glas- 
kapillaren von  Zeit  zu  Zeit  das  Peritonealexsudat  entnommen  und  so- 
wohl in  hängenden  Tropfen  und  in  gefärbten  Präparaten  genau  unter- 
sucht, als  auch  mittels  der  Normalöse  auf  Gelatineplatten  ausgesät  und 
dann  die  Keimzahl  bestimmt.  Im  ganzen  wurden  3  Meerschweinchen 
nach  drei  verschiedenen  Vorbehandlungen  zu  diesem  Zwecke  untersucht. 

Es  wurde  ein  Meerschweinchen  von  265  g  mit  intraperitonealer  In- 
jektion von  1  ccm  einer  2-proz.  Nokleinsäurelösung  vorbehandelt,  dann 
durch  täglich  je  einmal  erfolgende  intraperitoneale  Einspritzung  von  4,  8 
und  12  Oesen  virulentem  Bact  coli  (Y^)  immunisiert.  Im  Anschluß  an 
die  letzte  Injektion  (am  6.  Dezember  1908)  wurde  das  Peritonealexsudat 
Yj)  1i  2)  3,  5,  10,  20,  24  und  48  Stunden  nach  der  Injektion  untersucht. 
Genau  wie  Pfeiffer  beschrieb,  konnte  ich  das  ausgesprochene  Bild  der 
extracellulären  Auflösung  und  Zerbröckelung  der  Bakterienleiber  sowie 
lebhafte  Phagocytose  mit  meist  veränderten,  teilweise  wohlerhaltenen 
Bakterien  innerhalb  des  Protoplasmas  von  poljnukleären  Leukocyten  sowie 
mononukleären  Makrophagen  konstatieren. 

Ein  genaueres  Studium  dieser  Vorgänge  ergibt,  daß  schon  nach 
einer  halben  Stunde  einige  phagocytische  Zellen  unter  zahlreichen 
vermehrten  Leukocyten  sichtbar  werden.  Im  weiteren  Verlaufe  voll- 
zieht sich  der  phagocytotische  Vorgang  immer  deutlicher  und  zwar 
unter   stetiger  Vermehrung   von  polynukleären  Leukocyten   und   unter 


746  H.  Miyake, 

aasgesprochener  Formveränderung  der  Bakterien,  bis  schließlich  extra- 
celluläre  Bakterien  vollkommen  fehlen.  Am  schönsten  ausgeprägt  er- 
scheint die  Phagocytose  nach  3 — 4  Stunden;  nach  5—10  Stunden  ist 
sie  beinahe  vollendet;  man  sieht  dann  mikroskopisch  fast  gar  keine 
extracellulären  Bakterien  mehr,  dieselben  sind  vernichtet,  wie  die  folgende 
Kolonienzählung  beweist. 

^/j  Stunde  nach  der  Goliinjektion  486  517 

3  Stunden    „        „              „  12 165 

5       „          ,1        n              »j  2 160 

24       „          „        „              „  187 

48       „          „        „              „  stenl 

In  dieser  Weise  verläuft  der  Vorgang,  wenn  wir  die  Lmnunisierung 
spezifisch  durch  steigende  Vorbehandlung  mit  der  betreffenden  Bakterien- 
art herstellen.  —  Um  weiter  klarzulegen,  wie  es  sich  mit  der  Nuklein- 
Säurewirkung  allein  verhält,  wurde  am  7.  Dezember  1903  ein  Meer- 
schweinchen von  235  g  durch  intraperitoneale  Injektion  von  1  com  einer 
1-proz.  Nukleinsäure  vorbehandelt  und  7  Stunden  nachher  mit  4  Oesen 
virulenter  Coli  (V4)  infiziert.  Auch  in  diesem  Falle  konnte  man  ein  ana- 
loges Bild  des  Phlagocytismus  und  des  extracellulären  Zerfalles  von  Bak- 
terien konstatieren,  aber  mit  der  kleinen  Abweichung,  daß  der  Prozefi  des 
extracellulären  Bakterienzerfalls  wenig  deutlich  ausgeprägt  erscheint. 
Mikroskopisch  sieht  man  schon  nach  5  Stunden  weder  zerbröckelte  noch 
erhaltene  extracelluläre  Bakterien  mehr. 

Die  Kolonien  auf  Gelatineplatten: 

Y,  Stunde  nach  der  Goliinjektion  73  024 

1        »  t»  n  ii  11483 

3        })  n  »  n  53 

5         n  I)  )}  n  23 

18       „  „  „  „  steril 

Aber  nicht  nur  bei  intraperitonealer,  sondern  auch  bei  sub- 
kutaner Nukleinsäureinjektion  sind  diese  Vorgänge  zu  konstatieren 
und  zwar  mit  einem  interessanten  Befunde  bezüglich  des  Auftretens 
von  Leuko-  und  Phagocytose. 

Ein  Meerschweinchen  von  260  g  wurde  am  6.  Januar  1904  durch 
subkutane  Injektion  von  1  com  einer  0,5-proz.  neutralisierten  Nuklein- 
säurelösung  vorbehandelt  und  7  Stunden  nachher  mit  8  Oesen  virulenter 
Coli  (Y2)  intraperitoneal  infiziert.  Das  Peritonealexsudat  blieb  ^/^  bis  3 
Stunden  lang  nach  der  Goliinjektion  fast  wässerig  klar,  dementsprechend 
enthielt  dasselbe  sehr  spärliche  Leukocyten,  so  daß  wir  in  einem  Deck- 
glaspräparate nur  einige  davon  mit  Mflhe  finden  konnten.  Erst  nach 
4  Stunden  sah  das  Exsudat  fast  eiterig  trüb  aus  und  enthielt  Unmengen 
von  Leukocyten.  Von  diesem  Moment  an  trat  erst  eine  lebhafte  Phago- 
cytose zu  Tage,  und  das  schwer  erkrankte  Tier  fing  an,  sich  prompt  zu 
erholen.  Es  gesellte  sich  femer  noch  als  interessanter  Befund  eine  rasche 
Abnahme  der  Kolonienzahl  im  Exsudat  hinzu.  Schon  nach  5  Stunden 
sah  man  äußerst  spärliche  extracelluläre  Bakterien  und  nach  17  Stunden 
war  der  Prozeß  beendet. 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     747 

Kolonienzahl  auf  Gelatineplatten: 
Sofort      nach  der  Injektion     183  868 


V,  Stunde 

31 

)} 

11 

68950 

1       „ 

11 

w 

11 

86  723 

2  Standen  „ 

11 

11 

84475 

3       ,, 

}} 

11 

11 

10376 

4       ,. 

n 

11 

11 

1046 

&       „ 

n 

»1 

11 

773 

17       „ 

» 

11 

11 

4 

20       „ 

)i 

11 

11 

steril 

24       „ 

♦» 

11 

11 

n 

Bei  subkutaner  Injektion  von  Nukleinsäure  können  wir  ebenso  leb- 
haften Bakterienuntergang  und  ein  ebenso  schönes  Bild  von  Phago- 
cytose  konstatieren,  wie  bei  den  oben  genannten  Tieren,  jedoch  tritt 
der  Vorgang  hier  etwas  verspätet  auf,  nämlich  erst  nach  4  Stunden 
und  zwar  plötzlich  mit  voller  Energie.  Dieser  Befund  läßt  sich  sehr 
leicht  erklären.  Während  die  Abwehrvorrichtung  bei  der  intraperito- 
nealen Injektion  durch  die  an  Ort  und  Stelle  herrschende  Hyperleuko- 
cytose  fix  und  fertig  vorbereitet  ist,  ist  hier  selbstverständlich  eine 
gewisse  Zeit  erforderlich,  bis  sich  Leukocyten  in  genügender  Menge  aus 
dem  Blute  in  der  Peritonealhöhle  sammeln.  Durch  diesen  bemerkens- 
werten Befund  ist  meine  Annahme  vollauf  bewiesen,  daß  man  im  stände 
sein  wird,  durch  subkutane  Injektion  von  Nukleinsäure  ebenso  günstigen 
Erfolg  zu  erzielen,  wie  durch  intraperitoneale. 

Um  zu  prüfen,  ob  das  aus  dem  Exsudat  kultivierte  Bacterium  coli 
noch  seine  Virulenz  besitze,  stellte  ich  einige  diesbezügliche  Versuche 
an.  Es  wurde  je  V«  Oese  Coli  von  Kulturen,  die  von  jedem  der  drei 
oben  erwähnten  Tiere  3  Stunden  nach  der  Injektion  aus  Peritoneal- 
exsudat  angelegt  worden  waren,  intraperitoneal  auf  Meerschweinchen 
injiziert.  Alle  Tiere  starben  ohne  Ausnahme  innerhalb  von  16  bis 
23  Stunden.  Hieraus  geht  hervor,  daß  das  noch  am  Leben  gebliebene 
Bact.  coli  innerhalb  der  Peritonealhöhle  eines  aktiv  immunisierten  sowie 
mit  Nukleinsäure  vorbehandelten  Meerschweinchens  selbst  noch  3  Stunden, 
eventuell  noch  länger  seine  Virulenz  beibehält. 

Wenn  die  Vorbehandlung  der  Nukleinsäure  ihren  Zweck  erfüllt,  so 
konstatiert  man  als  charakteristisches  Zeichen  der  Wirkung  in  dem  Peri- 
tonealexsudate  enorme  Vermehrung  der  Leukocyten;  fehlt  die 
Wirkung,  so  bleibt  das  Exsudat  konstant  klar.  In  diesem  Falle  erkrankt 
das  Tier  immer  schwerer;  es  stellt  sich  schmerzhafte  Auftreibung  des 
Bauches,  Temperaturerhöhung,  sodann  rasch  zunehmender  Kollaps  ein. 
Aus  solchem  Exsudate  beschickte  Gelatineplatten  enthalten  schon  nach 
einigen  Stunden  unzählige  Kolonien.  Hat  sich  einmal  die  Kollapstempera- 
tur eingestellt,  dann  versagt  jedes  Hilfsmittel.  Bei  der  Sektion  konstatiert 
man  dann  außer  dem  bekannten  Zeichen  von  akuter  Sepsis  noch  mäßige 
Exsudatansammlung  in  der  Peritonealhöhle  mit  unzähligen  Bakterien. 


748 


H.  Miyake, 


Untersucht  man  leukocytenreiches  trübes  Exsudat  unter  dem  Mikro- 
skop, so  sieht  man  sehr  deutlich  die  lebhafte  Phagocytose,  welche  bei 
dem  klaren  Exsudat  ganz  fehlt;  es  genügt  also  schon  das  makrosko- 
pische Aussehen  des  Exsudats,  um  eine  sichere  prognostische  Entschei- 
dung zu  fällen. 

D.  Allgemeine  Resistenzerhöhung  beim  Kaninchen 
gegen   Infektion    mit  Streptococcus  und   mit  Staphylo- 

coccus  aureus. 

1.  Versuche  gegen  Streptococcus. 
a)  Versuche  gegen  Impferysipelas: 


Nummer  und 
Datum 


Nuklein- 
säure 


Temperatur 
p.  injectionem 


248tündiger 

Strepto- 
coccus aus 

einem  Appen- 
dicitiseiter 


Temperatur 
p.  infectionem 


Besultat 


7.  Febr.  1904 


1430  g 


6  ccm  0,5- 

proz.  Lös. 

subkutan 

injiziert 


38,8  •  vor  der  Injektion 
39,2»  87,  St  n.  d.  Inj. 


9ötd.n.  Vor- 
behndl.  je  0,2 
ccm  Bouillon- 
kultur  an  bei- 
den Ohren  in 
jiziert 


39,3« 
39,2« 
38,7« 


7.  Febr.  1904 


3. 
.  Febr.  1904 


1750  g 


1520  g 


7  ccm  0,5- 

proz.  Lös, 

subkutan 

injiziert 


6  ccm  0,5- 
proz.  Lös. 
subkutan 


39,0®  vor  der  Injektion 
38,9«  V,Std.n.d.Inj. 
39,4  2*/i  I»  II  li 
39,4' 8»«  „  ,.  „ 
39,4    8    „    „    ,1 

39,0«  vor  der  Injektion 
38,9«    ViStd.n.d.Inj, 

39,Ä       C  „  y,      „ 

09,3      5  yy  „      y, 

39,5       7*/,        ,y  y,      „ 


KontroUtier  11500  g 
7.  Febr.  1904 


4.  1950  g 

13.  Febr.  1904 


8  Std.  n.  d. 
Vorbehandl. 
0,3  ocm  Bouil- 
lonkultur am 
1.  Ohr  injiziert 

8  Std.  n.  d. 
Vorbehandl. 
0,3  ccm  amr. 
u.  0,1  ccm  am 
I.Ohr  injiziert 


0,2  ccm  Bouil- 
lonkultur am 
1.  Ohr  injiziert 


13.  Febr.  1904 


1800  g 


ccm  1- 
proz.  Lös. 
subkutan 
injiziert 

10  ccm  1- 

proz.  Lös. 

subkutan 

injiziert 


KontroUtier  .1450  g 
13.  Febr.  1904 


39,2«  vor  der  Injektion 
39y3«15V,ötd.n.d.Inj. 


38,8«  vor  der  Injektion 
393«  7  btd.  n.  d.  Inj. 


39.0« 
39y4« 


14  Btd.  p.  inject 

^^         I»         »I  w 

43      II      II       II 


15  Std.  p.  inject 
^«^     II     II      II 


39,8« 
39,2« 


38,8« 
40y5« 


16  V,  Std.  n.d.  39,5« 
Vorbehandl. 
0,2  ccm  am  r. 
Ohr  injiziert 


7  Std.  n.  der 
VorbehandL 
0,2  ccm  am  1. 
Ohr  injiziert 

0,2  ccm  am  r. 
Ohr  injiziert 


39,2«  16  Std.  p.  inject. 


Während  Kon- 
troUtier an  chi- 
raktErysipelas 
erkrankte»  b«^ 
kam  d.  Tier  no- 
bedeutendeEö- 
tung  im  Inj^- 
tionsbereiefa 

Oanz  unbedeu- 
tende lymph- 
angitische  B<v 
tung  zentralw. 
v.d.  Injektion«- 
BteUe  eichtbtr 

14  „  yy  „  Die  unbedeoL 
22  „  „  „  lymphangiti- 
Bche  Bötonr 
trat  viel  späta- 
auf  als  beim 
KontroUtier  n. 
sogar  nur  mh 
kurz.  Bestände 

16  8td.  p.  in- 
fectionem  chA- 
rakterist  erv- 
sipelat  KötuD^ 
u.  AnschwelL 
m.  4t£g.  Daa«r 

7  nach  der  Inj.  LokaleBefnnde 
genau  dieedbeo 
yn^  beim  Va^ 
Buchbtier  No.  3 


vor  der  Injektion 
17  Std.  n.  d.  Inj 


38.7« 
41y0« 


vor  der  Injektion 
48  Std.  p.  inject 


do. 


i 


20  Std.  p.  inject  I 

trat  chankt 

Erysipelas  anfi 

u.  dauerte  vier 

Tagelang     | 


I 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     749 


Der  Streptococcusstamm,  den  wir  zur  lokalen  Infektion  benatzten, 
stammt  aus  einem  akuten  Appendicitiseiter  und  gehört  nach  v.  Linobls- 
HBiM  zu  dem  Streptococcus  pathogenes  brevis.  Geimpft  wurde  stets 
24-stündige  Bouillonkultur  am  Ohr  weißer  Kaninchen. 

b)  Versuche  zum  Schatze  gefi^en  einen  hochvirulenten  Streptococcus: 


Nummer  und 
Datum 


Ge- 
wicht 


Nukleinsäure 


Aronsonscher 
Streptococcus 


Resultet 


Bemerkungen 


1, 
25.  Febr.  1904 


KontroUtier 


2. 

26.  Febr.  1904 


KontroUtier 


3. 
28.  Febr.  1904 


Kontrolltier 


4. 
4.  März  1904 


1500  g 


1430  g 


1750  g 


1520  g 


6  ccm  1-proz. 
LoBong  sub- 
kutan 


8  ccm  1-proz. 
Lösung  sub 
kutan 


1350  g 


1800  g 


1380  g 


lOccml-proz. 
Lösung  sub- 
kutan 


KontroUtier 


1280  g 


9»/,  Std.  n.  d 
Vorbehandlung 
ViMoo  eines  Ku- 
bikcentimeters 
subkutan 

Vi^Moo  eines  Ku- 

bikcentmieters 

subkutan 

8V,  Std.  n.  d. 
Vorbehandlung 
V^qooo  eines  Ku- 
bikoentimeters 
subkutan 

V^oooo  eines  Ku- 

bikcentimeters 

subkutan 

7V,  Std.  n.  d. 
Vorbehandlung 
'Woo  eines  Ku- 
bikcentimeters 
subkutan 

"AoooooanesKu- 

bikcentimeterH 

subkutan 

6V,  Std.  n.  d 


f  15  Std.  p. 
injectionem 


t  14V,    Std. 
p.  injectionem 

t  23»/^  Std. 
p.  injectionem 


t  19  Std.  p. 
injectionem 

t^  23  Std.  p. 
injectionem 


t  25*/,  Std. 
p.  injectionem 


im  Anschluß  an  Strep- 
tococcusinjektion  noch- 
mals 6  ccm  l-i)roz. 
Nukleinsäure  injiziert 

akute  allg.  Sepsis 


lebte  4V,  Std.    länger 
als  d.  KontroUtier 


akute  allg.  Sepsis 


desgL 


desgl. 


1)  7  ccm  1 

proz.  Lösung  Vorbehandlung 
subk.  1.  März 

2)  10  ccm  1- 
proz.  Lösung 
subk.  3.  März 

3)  12  ccm  1- 
proz.  Lösung 
subk.  4.  März 


y^oofloftccm  unter 
derBuckenhaut 
injiziert 


t  17  Std.  p.Temp.  38,6«      Worder 
injectionem  >  L.  i.  Blute  15200/  In jekt. 

L.i.  Blute  152007V,  Std. 

n.  der  2.  Ns.-InjeKtion 

Temp.  39,0*»     l^'  ?^- 
L.i.fiute27500J°j3ji^; 


Vkmkk»  eines  Ku- 

Dikcentimeters 

unter  d.Rücken- 

haut 


t  26V,  Std 
p.  injectionem 


akute  allg.  Sepsis 


Es  wurde  hier  Vioooo  ^^®  Viooooo  ^^^  einer  Originalkultur  einem 
Kaninchen  unter  die  Ilückenhaut  injiziert.  Bei  jedem  Versuche  wurde 
stets  ein  Kontrolltier  benutzt,  da  der  Streptococcus  bekanntlich  leicht  und 
schnell  seine  Virulenz  ändert.  Einmalige  und  mehrmalige  Vorbehandlung 
mit  Nukleinsäure  übte  in  allen  Fällen  keinen  EinfluE  auf  die  tödliche 
Infektion  aus.  Sowohl  vorbehandelte  als  auch  Kontrolltiere  starben  inner- 
halb 14 — 26 Y2  Stunden  unter  den  Erscheinungen  einer  akuten  allgemeinen 
Sepsis.  Aus  dem  Herzblute  wuchsen  reichliche  Kolonien  von  Strepto- 
kokken in  Eeinkultur.  Einmal  trat  scheinbare  Verlängerung  des  Lebens 
bei    dem    vorbehandelten  Tiere   um   einige  Stunden   auf,   ein  anderes  Mal 


750  H.  Miyake, 

dagegen  wurde  gerade  das  Gegenteil  gefunden,  so  daß  wir  keinen  Grund 
haben,  dem  Mittel  eine  Wirksamkeit  zuzusprechen. 

Aus  diesen  Versuchen  läßt  sich  schließen,  daß  die  durch  Nuklein- 
säure erzeugte  Hyperleukocytose  nicht  im  stände  ist,  gegen  hoch- 
virulente  Bakterien  zu  wirken. 

Unter  5  Kaninchen,  die  vorbehandelt  waren,  blieb  nur  eins  fast  gänz- 
lich von  den  Folgen  der  Impfung  verschont.  An  diesen  Kaninchen  wurde 
im  Injektionsbereich  leichte  Rötung  sowie  starke  Erweiterung  und  Püllung 
der  zentralwärts  gelegenen  GeiUße  ohne  Temperaturerhöhung  beobachtet 
Die  4  übrigen  Tiere  bekamen  eine  ganz  unbedeutende  lymphatische  Rötung 
zentralwärts  von  der  Injektionsstelle  unter  leichter  Temperaturerhöhung, 
deren  Dauer  sich  höchstens  auf  2  Tage  erstreckte.  Während  sich  an  vor- 
behandelten Tieren  der  Impfverlauf  so  leicht  gestaltete,  litten  2  Kontroll- 
tiere dagegen  unter  beträchtlichem  Fieber  an  einem  charakteristischen 
Impferysipelas,  welches  sich  nach  4-  bis  6-tägigem  Bestände  bis  zur 
Nackenhaut  verbreitete. 

Nach  diesen  Experimenten  scheint  es,  daß  die  Nukleinsäure  durch 
Femwirkung  auf  die  Leukocytencentra  die  erysipelatöse  Affektion  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  zu  unterdrücken  imstande  gewesen  ist. 

Wie  erwähnt,  wird  voraussichtlich  die  Schutzkraft  der  Hyperleuko- 
cytose durch  Nukleinsäure  gegenüber  hochvirulenten  Bakterien 
nicht  sehr  evident  sein.  In  der  größten  Mehrzahl  der  vorbehandelten 
Fälle  konnten  wir  dementsprechend,  einerlei  ob  mit  konzentrierter  oder 
verdünnter  Lösung,  einen  absoluten  Schutz  gegen  die  Lokalinfektion 
mit  Streptokokken  nicht  erreichen ;  fast  immer  trat  eine  lymphangitisch® 
oder  erysipelatöse  Affektion  auf.  Um  aber  die  Wirkung  gegen  hoch- 
virulente Bakterien  noch  exakter  festzustellen,  habe  ich  mit  einem  sehr 
virulenten  Streptococcus  gearbeitet,  welchen  Herr  Dr.  Aronson  gütigst 
unserem  hygienischen  Institut  zur  Verfügung  gestellt  hatte,  wofür  ich 
ihm  meinen  ergebensten  Dank  ausspreche.  Dieser  Streptococcus  war 
nach  Aronson  so  hochvirulent,  daß  ein  Millionstel  Teil  bis  ein  Hundert- 
tausendstel Teil  eines  Kubikcentimeters  von  Bouillonkultur  Mäuse 
oder  Kaninchen  durch  subkutane  Injektion  innerhalb  24—48  Stunden 
sicher  tötete. 

2.  Versuche  gegen  Staphylococcus  aureus. 
Obschon  ich  mit  verschiedenen  Stämmen  von  Aureus  sowohl  auf 
intravenösem  als  auch  subkutanem  Wege  an  einigen  Kaninchen  Ver- 
suche angestellt  habe,  konnte  ich  leider  keine  zuverlässigen  Resultate 
erhalten.  Durch  intravenöse  Injektion  von  Aureus  nach  subkutaner 
Vorbehandlung  konnten  wir  manchmal  die  Tiere  am  Leben  erhalten, 
während  das  Kontrolltier  starb;  nach  weiterer  Wiederholung  der  Ver- 
suche ergab  sich  aber  gerade  das  Gegenteil.  Ferner  war  es  unangenehm, 
daß  wir  über  keinen  stark  virulenten  Stamm  verfügten ;  alle  Tiere  lebten 


Steigerung  der  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  gegen  Infektion.     751 

7 — 12  Tage  lang,  bis  sie  schließlich  starben.  Es  ist  wohl  denkbar,  daß 
die  Tiere  auch  ohne  Vorbehandlung  am  Leben  bleiben,  wenn  es  sich 
um  Infektion  mit  solchen  schwachvirulenten  Stämmen  handelt. 

Des  weiteren  habe  ich  Versuche  mit  subkutaner  und  intramusku- 
lärer Injektion  mit  Staphylococcus  aureus  gemacht,  um  die  Wirkung 
des  Mittels  gegenüber  dem  lokalen  Absceß  zu  studieren,  kam  jedoch 
auch  hier  zu  negativem  Resultate,  vielleicht  schon  deshalb,  weil  ich  eine 
zu  große  Dosis  von  Kultur  einspritzen  mußte,  um  eine  genügende 
Reaktion  zu  erzielen. 


Zum  Schluß  möchte  ich  noch  erwähnen,  daß  Herr  Geh.-Rat 
V.  Mikulicz  bereits  ausgedehnten  Gebrauch  von  meiner  Lösung  an 
den  Patienten  der  Klinik  gemacht  hat.  Es  werden  jetzt  bei  erwach- 
senen Individuen  in  der  Regel  50  ccm  einer  2-proz.  neutralisierten 
Lösung,  also  1  g  Hefenukleinsäure  unter  die  Brusthaut  injiziert;  von 
2  Patienten  wurden  sogar  2  g  Nukleinsäure  ohne  merkliche  Störung 
vertragen.  Obwohl  0,5-proz.  Lösung  am  meisten  zu  empfehlen  ist, 
können  wir  dieselbe  oft  am  Menschen  nicht  verwerten,  da  wir  zur  In- 
jektion von  1  g  Nukleinsäure  ein  ziemlich  großes  Quantum  Flüssigkeit 
(200  ccm)  nehmen  müssen.  Die  Zahl  der  bis  jetzt  injizierten  Patienten, 
welche  an  verschiedenen  Affektionen  litten,  beläuft  sich  auf  34  ^).  Ueber 
die  Einzelheiten  der  Wirkung,  Nebenwirkung,  sowie  über  den  Leuko- 
cytenwert  beim  Menschen  werden  Herr  Greh.-Rat  v.  Mikulicz  *)  und  Herr 
Dr.  Renner  selbst  an  anderer  Stelle  ausfQhrlich  berichten.  Nur  so  viel 
darf  ich  schon  hier  bemerken,  daß  sich  aus  der  subkutanen  Anwen- 
dung der  neutralisierten  Nukleinsäure  beim  Menschen  bisher  keine 
Nachteile  ergeben  haben  und  daß  Herr  Geheimrat  v.  Mikulicz  den 
Eindruck  hat,  daß  die  Operierten  gegen  die  Gefahr  der  Infektion 
von  selten  des  Magendarmkanals  dadurch  wesentlich  gesichert  werden. 


Literatur. 

1)  Metschnikoff,  Immunität  bei  Infektionskrankheiten.    1902. 

2)  Ppbippbr,  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  18,  1894,  p.  1. 

5)  Büchner,  Münchener  med.  Wochenschr.,  1894,  No.  37,  p.  717. 
4)  Hahn,  Archiv  f.  Hyg.,  Bd.  28,  1897,  p.  312. 

6)  Pawlowskv,  Centralbl.  f.  Bakt,  Bd.  16,  1894,  p.  193. 

6)  LoBWY  u.  RiGHTBR,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1895. 

7)  Jacob,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  30,  Heft  5  u.  6. 


1)  Die  Zahl  ist  inzwischen  auf  106  gestiegen. 

2)  Vergl.    den  Vortrag   von   v.  Mikulicz   auf  dem   Ghirurgenkongreß 
1904.     Arch.  f.  klin.  Chirurgie,  Bd.  73,  S.  347. 


752  H.  Miyake,  Steigerung  der  Widerstandsfkhigkeit  etc. 

8)  IssABPP,  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  16,  1894,  p.  287. 

9)  Landbreb,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  März  1898. 

10)  MouRECK,  Wiener  med.  Wochenschr.,  35  u.  36.   Ref.  in  Baumoartbns 
Jahresber.,  1893,  p.  781. 

11)  Maxon  KiKO,  Medic.  news,  May  22,  1898.   Ref.  in  Virchows  JaLresber., 
1898,  p.  290. 

12)  Marcsl  IiABBfi,  Presse  m^dicale,  1903,  No.  57. 

13)  Tavbl  u.  Lakz,   üeber    die   Aetiologie   der  Peritonitis.     Monographie, 
1893. 

14)  Barbacci,  Schnitzleb,  zitiert  in  dem  Sammelreferat  von  Max  v.  Brunk. 

15)  Tavbl,  KorrespondenzbL  f.  Schweizer  Aerzte,  397. 

16)  Escherich   n.  Pfaundler,   Kolle  a.  Wassbrmanns  Handbuch,   Bd.  2, 
p.  440. 

17)  Frabnkbl,  A.,  Wiener  klin.  Wochenschr.,  No.  13 — 16,  1891. 

18)  ZiEGLBB,  Stadien  über  die  intestinale  Form  der  Peritonitis.   München, 
1893. 

19)  Flexnbr,  zitiert  von  Max  von  Brunn. 

20)  Bbunneb,  C,  Bbuns'  Beiträge,  Bd.  40,  1903. 

21)  Bbunn,  Max  von,  Centralbl.  f.  allg.  Pathol.  u.  pathol.  Anat.,  Bd.  12,  1901. 

22)  SoLiBBi,  S.,  Zieglebs  Beiträge,  Bd.  31,  1902. 

23)  BucHNEB,  Münchener  med.  Wochenschr.,  1890,  p.  1894. 

24)  Ppeifpbb  u.  Issabpp,  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  17,  1894,  p.  356. 


Aus  der  medizinischen  Universitätsklinik  in  Königsberg 
(Direktor:  Geh.-Rat  Prof.  Lichtheim). 


Nachdruck  verboten. 

XXVIIL 

Zur  Kenntnis  des  Bantischen  Symptom- 
komplexes. 

Von 

Dr.  J.  Lossen, 

froherem  Assistenten  der  Klinik, 
jetzt  Assistenzarzt  der  medizinischen  Universitätsklinik  zu  Straßburg. 


Seit  der  Florentiner  Anatom  Banti(4— 8)  eine  Anzahl  Fälle  be- 
schrieb, in  welchen  sich  zu  einem  schon  lange  bestehenden  Milztumor 
mit  anämischer  Blutbeschaffenheit  die  Erscheinungen  einer  Lebercirrhose 
gesellten,  und  auf  Grund  dieser  Beobachtungen  ein  neues  Krankheitsbild 
aufstellte,  hat  sich  das  allgemeine  Interesse  wieder  in  erhöhtem  Maße 
den  unter  dem  Namen  der  Anaemia  splenica  oder  Splenomegalia  pri- 
mitiva  zusammengefaßten  Zuständen  und  ihren  Komplikationen  mit  Ver- 
änderungen in  anderen  Organen  zugewandt  Alsbald  wurden  vornehmlich 
in  Italien  den  BANTischen  Beobachtungen  ähnliche  Fälle  als  Morbus 
Banti  beschrieben  [Benvenüti  (10),  Maragliano  (42),  Rinaldi  (51), 
Leonani  (39),  Galvagni  (31),  Casarini  (19),  Cavazzani  (20—22), 
BONARDI  (13)  u.  a.]. 

In  Deutschland  hingegen,  wo  besonders  Senator  (54)  die  Aufinerk- 
samkeit  auf  die  Arbeiten  Bantis  lenkte,  bezweifelten  die  meisten  Autoren 
die  Richtigkeit  der  Deutung,  die  Banti  seinen  Befunden  gab,  und  er- 
blickten in  dem  von  ihm  geschilderten  Symptomkomplex  nicht  eine  ein- 
heitliche, selbständige  Krankheit,  sondern  nur  eigentümliche  Verlaufs- 
weisen verschiedenartiger  Erkrankungen. 

Einerseits  sah  man  in  den  den  BANTischen  Befunden  entsprechenden 
Fällen  nur  eine  primäre  Lebercirrhose  mit  ungewöhnlich  großem  Milz- 
tumor, andererseits  führte  man  die  Leber-  und  Milzveränderungen  auf 
eine  gemeinsame  Ursache  zurück.  Diese  kann  verschiedener  Natur  sein ; 
für  einige  Fälle  wurde  Lues  hereditatia  beschuldigt  [Marchand  (43), 
Chiari  (23)]. 

Das  Interesse  an  diesem  Gegenstand  wird  noch  dadurch  gesteigert, 
daß  die  Frage  nach  der  nosologischen  Stellung  des  BANTischen  Symptom- 


754  J.  Lossen, 

komplexes  nicht  nur  eine  theoretische  Bedeutung,  sondern  auch  einen 
gewissen  praktischen  Wert  besitzt,  da  Banti  die  einzige  wirksame 
Therapie  gegen  die  von  ihm  beschriebene  Krankheit  in  der  frühzeitig 
auszuführenden  Splenektomie  erblickt. 

Daher  erscheint  es  gerechtfertigt,  genau  beobachtete  Fälle,  die  in 
dieses  Gebiet  gehören,  besonders  solche,  bei  denen  die  chirurgische 
Therapie  eingeschlagen  wurde  oder  eine  anatomische  Eontrolle  möglich 
war,  mitzuteilen.  Denn  sowohl  die  Frage  nach  der  anatomischen 
Grundlage  dieser  Prozesse  als  die  nach  der  Prognose  der  chirurgischen 
und  der  konservativen  Behandlung  kann  nur  auf  Grund  eines  großen 
Materials  gelöst  werden.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  erfolgt  die 
Veröffentlichung  eines  in  der  Königsberger  medizinischen  Klinik  be- 
obachteten Falles,  bei  dem  besonders  die  hochgradigen  Veränderungen 
an  den  abdominalen  Venen,  die  Banti  zu  den  Gardinalsymptomen  des 
von  ihm  aufgestellten  Krankheitsbildes  rechnete,  die  aber  in  der  Lite- 
ratur nur  wenig  Beachtung  fanden,  Interesse  beanspruchen. 

Emilie  Sz.,  24  J.,  Eigenkäthnerstochter,  aufgenommen  4.  Nov.  1902, 
gestorben  30.  März  1903. 

Anamnese:  Die  Eltern  und  8  Geschwister  leben  und  sind  gesund. 
6  Geschwister  —  und  zwar  die  ältesten  —  starben  in  früher  Kindheit,  eins 
davon  mit  4  Jahren  an  Typhus,  die  anderen  angeblich  in  den  ersten 
Lebenswochen  an  „Schwäche". 

Von  Kinderkrankheiten  weiß  Pat.  nichts  anzugeben.  Mit  16  J.  machte 
sie  einen  Unterleibstyphus,  mit  20  J.  eine  schmerzhafte,  nicht  fieberhafte, 
multiple  Gelenkaffektion  durch.  Seit  der  letzteren  Erkrankung  will  sie  oft 
an  Herzklopfen,  besonders  nach  starken  Anstrengungen,  leiden. 

Im  Alter  von  12  Jahren  stellte  sich  bei  dem  damals  sehr  schwäch- 
lichen Mädchen,  nachdem  es  wegen  allgemeinen  Unwohlseins,  Schwäche- 
gefühl und  Herzklopfen  2  Tage  zu  Bett  gelegen  hatte,  eine  starke  Blutung 
aus  dem  Munde  ein.  Es  wurde  ca.  1  1  schwarzroten  geronnenen  Blutes 
entleert.  Ob  diese  Massen  ausgehustet  oder  ausgebrochen  wurden,  kann 
Pat.  nicht  angeben.  Sie  litt  zu  dieser  Zeit  weder  an  Husten  noch  an 
Magenbeschwerden.  Schon  damals  soll  das  Abdomen  auffallend  stark  ge- 
wesen sein. 

Seit  5  —  6  Jahren  leidet  Pat.  an  Schmerzen  im  ganzen  Bauche,  die 
beständig  vorhanden  sind,  bei  Bewegungen  aber  zunehmen.  Seit  etwa  der- 
selben Zeit  bemerkte  sie  eine  große  harte  Masse  in  der  linken  Bauch- 
hälfte und  der  Nabelgegend,  welche  auf  Druck  sehr  empfindlich  ist. 

Während  der  letzten  Jahre  treten  anfallsweise,  in  letzter  Zeit  fast 
täglich,  meistens  nach  dem  Essen,  Schmerzen  in  der  Magengegend  auf,  die 
ca.  1  Stunde  anhalten.     Erbrechen  erfolgt  fast  nie. 

Schon  in  der  Kindheit  klagte  Pat.  oft  über  Brustschmerzen  und  Atem- 
beschwerden bei  körperlichen  Anstrengungen,  die  in  den  letzten  2 — 3  Jahren 
häufiger  und  stärker  wurden  und  auch  in  der  Ruhe  auftreten,  ^e 
wurden  bald  r.  bald  1.  empfunden.  Auch  die  Atembeschwerden  haben  zu- 
genommen. 

Seit  ca.  1  Jahr  leidet  sie  auch  an  Husten  mit  angeblich  reichlichem 
Auswurf.  Vor  einigen  V^ochen  stellten  sich  Heiserkeit  und  Schmerzen  im 
Halse  ein. 


Zur  Kenntnis  des  BAimschen  Symptomkomplexes.  755 

Auch  Kopfschmerzen  und  Schmerzen  in  den  Augen  mit  Lichtscheu 
sind  in  den  letzten  2 — 3  Jahren  häufig  aufgetreten,  auch  klagt  sie  seit 
derselben  Zeit  über  ein  häufiges  Krampfgefühl  in  beiden  Beinen.  Die 
Füsse   sollen  mitunter  anschwellen  und  im  Liegen  wieder  dünner  werden. 

Seit  4  Jahren  tritt  mitunter  eine  völlige  Anurie  für  einen  Tag  ein^ 
ohne  daß  danach  die  Hammenge  wesentlich  zunimmt. 

Die  Menstruation  ist  bisher  nie  aufgetreten. 

Status  praesens.  Mittelgroßes  Mädchen  von  kräftigem  Knochen- 
bau, gut  entwickelter  Muskulatur  und  reichlichem  Fettpolster. 

Haut  und  Schleimhäute  blaß.  Keine  Exantheme.  Geringes  Knöchel- 
ödem. Keine  Drüsenschwellungen.  Zunge  feucht,  etwas  geschwellt  mit 
geringem  grauweißem  Belag.  Rachenorgane  o.  B.  Bachenreflex  vorhanden. 
Pupillen  ziemlich  weit,  gleich,  auf  Licht  gut  reagierend. 

Thorax  breit,  gut  gewölbt.  Atmung  oft  unregelmäßig  und  beschleu- 
nigt; symmetrisch.  —  Untere  Lungengrenzen:  r.  Maml.:  unt.  Rand  d. 
VL  C;  1.  Parast:  ob.  Rand  d.  IV.  C;  r.  mittl.  Axill. :  VIL  L-R.;  1.  mittl. 
Axill. :  unt.  Rand  der  VIL  C;  Scapularlinie :  bdst.  X.  proc.  spin.  dors. 

Perkussion  ergibt  normalen  Befund.  Auskultation  überall  vesikulärea 
Atmen,  über  den  hinteren  Lungenflächen  etwas  rauh  und  von  spärlichen 
grobblasigen  Rasselgeräuschen  begleitet. 

Herz:  Spitzenstoß  im  V.  I.-R.,  ca.  1  Finger  außerhalb  der  MamL 
Relat.  Dämpfung:  oben  HI  C;  r.  zwischen  Median-  und  r.  Sternallinie;  L 
Mammillarlinie.  Auskultation:  Ueberall  lautes  systol.  Geräusch.  Keine 
Accentuation  des  IL  Tones.  —  Puls  von  mittlerer  Größe,  Füllung  und  Span- 
nung, bdst.  gleich;  regelmäßig  72  p.  Min. 

Abdomen:  In  toto  mäßig  aufgetrieben,  1.  etwas  mehr  als  r.  In  der 
1.  Bauchhälfte  eine  große,  Zungen  förmige  Resistenz,  welche 
nach  unten  ca.  2  Finger  unter  die  Nabelhorizontale,  median- 
wärts  bis  zur  Mittellinie  reicht.  Nach  oben  setzt  sie  sich  unter 
den  Rippenbogen  fort,  lateralwärts  reicht  sie  bis  in  die  Regio  lumbalis,  wo 
man  den  hinteren  Rand  1 — 2  Fingerbreiten  von  der  Skapularlinie  entfernt 
fühlen  kann.  —  Diese  Resistenz,  die  bei  tiefer  Inspiration  nur  wenig  tiefer 
tritt,  ist  von  derber  Konsistenz,  hat  eine  ziemlich  glatte  Oberfläche  und 
einen  stumpfen  Rand,  an  welchem  sich  keine  deutlichen  Incisuren  erken- 
nen lassen  und  ist  auf  Druck  schmerzhaft  Nach  oben  schließt  sich  an 
diesen  Tumor  eine  Dämpfung  an  der  linken  seitlichen  Thoraxwand  an,  die 
bis  zur  Vn.  C.  hinaufreicht 

Der  Rest  des  Abdomens  gibt  normale  Perkussions-  und  Palpations- 
verhältnisse.  Die  unterste  Bauchregion  ist  auf  Druck  etwas  empfindlich. 
Die  Leber  ist  nicht  fühlbar,  ihre  Dämpfung  endet  in  der  Mam- 
millarlinie 2  Finger  oberhalb  des  Rippenbogens. 

Harn  rotgelb,  trübe,  alkalisch,  1023.  Kein  Albumen,  kein  Zucker; 
Indikan  nicht  vermehrt. 

Augenhintergrund:  Papille  beiderseits  etwas  blaß,  sonst  o.  B. 

Sputum  rein  schleimig,  keine  T — B. 

B 1  u  1 1)  Hb  =  37  Proz.  (Flbischl;,  R  =  3  367  000,  W  =  2470,  W :  R 
=  1  1 363. 


1)  In  den  folgenden  Blutanalysen  bedeutet  durchweg:  Hb  =  Hämoglobin- 
gehalt (nach  Flbischl)  R  =  rote  Blutkörperchen ;  W  *=  weiße  Blutkörper- 
chen; P  =  neutrophile  Polynukleäre;  E  =  eosinophile  Polynukleäre; 
k.  L  =  kleine,  g.  L  =  große  Lymphocyten ;  g.  Mo  =  große  Mononukleäre 
nebst  den  sogen.  Uebergangsformen ;  Mstz  =  Mastzellen;  Myn  =  neutro- 
phile Myelocyten;  kh.  R  =  kernhaltige  rote  Blutkörperchen. 


/ 


756  J.  Lossen, 

Leukocyten  P  =  68,3;  E  =  3,7;  k.  L  =  25;  g.  L  =  5,6;  gr. 
Mo  =  4,0;  Mstz  —  2,4;  Myn  —  1,0. 

Aus  der  Krankengeschichte  sei  nur  erwähnt,  daß  die  Beschwerden 
der  Pat,  die  wohl  vorwiegend  auf  Hysterie  zurückzufflhren  sind,  haupt- 
sächlich in  Kopfschmerzen,  Brennen  in  den  Augen,  Atembeschwerden  und 
Halsschmerzen  bestanden.  Hin  und  wieder  wurde  über  Schmerzen  in  der 
unteren  Bauchregion  und  oft  auch  in  der  Gegend  des  Milztumors,  der  auf 
Druck  stets  empfindlich  war,  geklagt  Die  Harnentleerung  erfolgte  oft 
nur  einmal  am  Tage,  ohne  daß  Harndrang  auftrat.  Die  Temperatur  war 
während  des  ganzen  Aufenthaltes  in  der  EJinik  normal  (36,0 — 37,3)  Puls- 
frequenz 76 — 100. 

Am  5.  Febr.  stellte  sich  plötzlich  eine  äußerst  frequente,  krampfartige 
Atmung  (108  p.  Min.)  ein,  während  gleichzeitig  das  Bewußtsein  stark  be- 
nommen wurde.  Während  der  Nacht  traten  wiederholt  Krämpfe  in  der 
gesamten  Körpermuskulatur  von  vorwiegend  tonischem  Charakter  ein.  Die 
Pupillenreaktion  ist  dabei  erhalten.  Das  Bewußtsein  völlig  geschwunden. 
Während  dieser  Krampfanfklle,  die  im  Laufe  der  Nacht  und  des  folgen- 
den Vormittages  an  Häufigkeit  und  Dauer  noch  zunahmen,  war  die  Atmung 
ganz  oberflächlich  und  von  normaler  Frequenz.  In  den  Zwischenzeiten 
wieder  stark  beschleunigte  A^ung.  Auf  starke  Faradisation  nur  vorüber- 
gehende Besserung.  Während  der  folgenden  Tage  wiederholten  sich  die 
Krampfanfklle,  bei  welchen  Pat.  oft  stark  um  sich  schlug,  und  die  Atem- 
beschleunigung noch  mehrmals.  Wiederholt  Chloralhydrat,  2 — 3  g  per 
Klysma. 

Die  Untersuchung  des  Blutes  wurde  in  Abständen  von  3 — 4  Wochen 
wiederholt  und  ergab  folgende  Resultate: 

27.  Nov.  Hb  ==  38  Proz.;  R  =  3133000;  W  =  2400;  W:R.  = 
1: 1305.  --  P  =  60;  E  =  3;  kl.  L  =  37;  g.  L  =  0;  g.  Mo  =  0;  Mstz  = 
O  Proz. 

15.  Dez.  Hb  =  39  Proz.;  R=  3087000;  W  =  1800;  W:R.  = 
1:1715.  —  P  =  36;  E=.4;  k.  L  =  56;  g.L  =  3;  g.  Mo  — 2;  Mstz  — 
O  Proz. 

18.  Januar  1903.  Hb  =  43Proz.;  R  — 3800000;  W  =  2000; 
W:R  —  1:1900.  —  P  =  56,4;  E  =  6,8;  k.  L  —  35,6:  g.  L  =  0,8; 
g.  Mo  =  0;  Mstz  =  0,4  Proz. 

4.  Febr.  Hb  =  46  Proz.;  R  =  3975333;  W  =  1850;  W:R. 
—  1:2149.  —  P  =  35;  E  —  10;  k.  L  =  54;  g.  L  =  0;  g.  Mo  =  0; 
Mstz  =  1  Proz.     Unter  200  W  —  429800  R  ein  Normoblast 

28.  Febr.  Hb  =  40  Proz.;  R  =  3331000;  W—  2000;  W:R. 
=  1 :  1666.  —  P  =»  50;  k.  L  =  32,3;  g.  L  =  6,1 ;  E  =  7,6;  g.  Mo  = 
2,7;  Mstz  =  1  Proz. 

8.  März.  W  —  2200.  —  P  =  52;  E  =  7,7;  k.  L  —  30,7;  g.  L 
=  2,3;  g.  Mo  =  7,3;  Mstz  =  0  Proz. 

13.  März.     R  =  3850000;  W  =  2800,  W:R  =  1:1375. 

Die  Therapie  bestand  in  3  Monate  lang  fortgesetztem  Qebrauch  von 
Liqu.  Natr.  arsenic.  in  steigenden  und  sinkenden  Dosen  von  0,25 — 0,9 
pro  die. 

10.  März.  Verlegung  nach  der  chirurgischen  Klinik,  wo  in  den  fol- 
genden Tagen  noch  zweimal  hysterische  Anfalle  mit  tonischen  Krämpfen 
auftreten. 

14.  März  wurde  die  Splenektomie  von  Herrn  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  OarrMs, 
dem  ich  für  die  freundliche  Ueberlassung  des  Operationsprotokolls  und  der 


Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  757 

chirurgischen  Krankengeschichte  meinen  verbindlichsten  Dank  ausspreche, 
ausgefElhrt. 

Operation.  Aethemarkose.  15  cm  langer  Schnitt  1.  von  der  Mittel- 
linie parallel  dem  Bectusrande,  am  Rippenbogen  beginnend  nach  abwärts. 
Stumpfes  Auseinanderdrängen  der  Rectusfasem,  Eröffnung  des  hinteren 
Blattes  der  Bectusscheide  und  des  Peritoneums.  Sofort  stellt  sich  die 
sehr  vergrößerte  Milz  mit  ihrem  unteren  Pol  ein.  Es  gelingt  relativ  leicht, 
den  unteren  Milzpol  vor  die  Wunde  zu  luxieren.  Oberfläche  der  Milz 
glatt;  an  der  Kapsel  fleckige,  plaqueförmige  Verdickungen  (Perisplenitis 
chronica).  Um  an  den  Milzhilus  zu  gelangen,  wird  der  mediale  Rand  des 
Organs  aufgehoben,  und  die  ganze  Milz  um  ihre  Längsachse  nach  auÜen 
umgelegt.  Dabei  zeigen  sich  an  ihrer  Unterfläche  deutlich 
große  Gefäßverzweigungen  arterieller  wie  venöser  Natur. 
Es  wird  versucht  den  Milzstil  mehr  zentral  freizulegen  und  zunächst  die 
Arterien  zu  unterbinden.  Da  jedoch  die  Venen  am  Hilus  enorm 
erweitert,  vermehrt  und  mannigfach  verästelt  sind,  dabei 
äußerst  dünnwandig,  so  kommt  es  bei  diesen  Manipula- 
tionen wiederholt  zu  starken  Blutungen.  Infolge  der  noch 
bestehenden  arteriellen  Zufuhr  schwellen  die  Venen  außerordentlich  an 
und  entleeren  beim  Anreißen  und  Anschneiden  jedesmal  Blut  im  Strahl. 
Die  Blutstillung  und  weitere  Freilegung  der  Hilusgefäße  macht  deshalb 
die  größte  Schwierigkeit  und  veranlaßt  des  öfteren  heftige  Blutungen. 
Endlich  gelingt  es,  die  gewaltigdKÜber  daumendicke  Milzarterie  zu  unter- 
binden. Der  Stumpf  derselben  wird  in  doppelter  Nahtreihe  durch  Ein- 
stülpen der  Wand  übernäht.  Neue  Schwierigkeiten  stellen  sich  bei  der 
Ereilegung  des  oberen  Milzpoles  auf  der  Hinterfläche  der  Milz  entgegen. 
Dieselbe  ist  nämlich  mit  dem  Magen  und  der  unteren  Fläche  des  Zwerch- 
felles, flächenhaft  verwachsen,  und  zudem  mündet  an  dieser  Stelle  ein 
ganzes  Knäuel  fingerdicker  Venen  aus  der  Milz  aus.  Durch 
Anlegen  langer  Klemmen  gelingt  es,  diese  Venen  ohne  größere  Blutungen 
zu  durchtrennen.  Die  Ellemmen  können  der  Tiefe  wegen  nicht  durch 
Unterbindungen  ersetzt  werden,  sondern  bleiben  liegen.  Danach  wird  die 
Milz  auch  mit  ihrem  oberen  Pole  herausluxiert  und  so  in  toto  exstirpiert. 
Toilette  der  Bauchhöhle.  Kurz  vor  Schluß  der  Operation  wird  die  Leber 
zur  Ansicht  gebracht.  Abgesehen  von  einer  Verkleinerung  des  linken 
Lappens,  keine  Besonderheiten,  keine  Cirrhose.  Kein  Ascites.  Schluß 
des  oberen  Drittels  der  Bauchwunde,  Tamponade  der  übrigen  Wundhöhle. 
Die  exstirpierte  Milz  stellt  einen  platten,  keulenförmigen  Tumor  von  23  cm 
Länge,  15  cm  Breite  und  5 — 6  cm  Dicke  dar.  Gewicht  1  kg.  Unregel- 
mäßige Kapselverdickungen.  Am  unteren  Pol  an  der  medialen  Kante  deut- 
liche Milzincisur.     Aneurysma  cii-soides  der  Milzarterie. 

Am  Abend  des  Operationstages  38,2®  C.  Während  der  folgenden 
Tage  entwickeln  sich  unter  dauernden  fieberhaften  Temperaturen  Er- 
scheinungen einer  subakuten  Peritonitis  und  einer  rechtsseitigen  seropuru- 
lenten  Pleuritis. 

80.  März.     Exitus  letalis  (16  Tage  post  operationem). 

Während  des  Aufenthaltes  in  der  chirurgischen  Klinik  wurden  die 
Untersuchungen  des  Blutes  von  uns  weitergeführt,  sie  unterblieben  nur 
während  der  ersten  5  Tage  nach  der  Operation  in  Rücksicht  auf  den 
Zustand  der  Kranken.  Die  B.esultate  sind  in  folgender  Tabelle  zusammen- 
gestellt. 

Uitua,  &.  d.  OT«nzc«Uetaa  d.  MdUzfa  u.  Chlxwcl«.   ZIIL  Bd.  49 


758 

J.  I 

«ossen, 

Dat 

Hb 

R 

W 

W^ 

1 

WVR 

M 

P 

h5 

Mo 

E 

1 

c 

20.III. 
23.III. 
26.m. 

2&m. 

34«'/. 
32»/. 

35  «/o 
31% 

3062  500 
2462500 
2400000 
2  450000 

21000 
41400 
68100 
49200 

16100 
27  900 
34800 
23500 

4900 
13  500 
33  300 
25  700 

m9i 

1/88,3 

1/69 

1/104,3 

1/626 
1/183,6 
1/72,5 
1/95,3 

57,5 
703 
76,6 
75,5 

13,4 
5,0 
7,9 
4,5 

5,017,7   5,9 
1,021^   1,0 
6,4  8,6  0,25 
9,010,250^ 

0,25 
0 

0^5 

0 
0,25 
0,25 

Anmerkung.  In  dieser  Tabelle  bedeutet  W  die  nach  dem  TnoMABchen  Ver- 
fahren ^ählten  kernhaltigen  Elemente.  W^  die  Zahl  der  Leukocyten,  die  durch 
Subtraktion  der  im  ge&bten  Präparat  ermittelten  Menge  der  kernhaltigen  Erythro- 
cyten  (kh.  B.)  erhalten  wurde. 


Autopsie  den  14.  März  1903.  Obduzent:  Prof.  M.  Askanazy. 
Protokoll  im  Auszuge: 

Kr&ftiger  Körper,  geringes  Oedem.  L.  von  der  Mittellinie  ein  hand- 
tellergroßer Defekt,  in  dessen  Grunde  eine  Darmschlinge,  einige  Fett- 
gewebslappen  und  ein  Stück  Netz  neben  einem  Drainrohr  liegen.  Auf  dem 
Längsdurchschnitt  durch  die  Bauchwand  keine  erweiterten  Gefkße. 

Bei  der  Eröffnung  der  Bauchhöhle  entleert  sich  eine  fein  molkig  ge- 
trübte, helle  Flüssigkeit  (ca.  2  1).  Die  Trübung  nimmt  nach  der  Tiefe  etwas 
zu,  und  hier  sind  ein  paar  Fibrinflocken  beigemischt,  ohne  daß  die  Flüssig- 
keit rein  eiterig  erscheint.  Rechts  von  der  Mittellinie  liegt  der  stark  ge- 
blähte Magen,  dann  das  Netz,  wie  vermutet,  an  die  Bauchwunde  grenzend, 
deren  oberes  Ende  nicht  durch  Eingeweide  gebildet  wird,  sondern  den 
innersten  Bauchwandschichten,  die  fest  mit  dem  Colon  transversum  ver- 
wachsen sind,  entspricht.  Die  Fettlappen  in  der  Wunde  erweisen  sich 
als  Appendices  epiploic.  der  Flexur.  Bei  deren  Ablösimg  findet  sich  ein 
kirschkemgroßer  abgekapselter,  intraperitonealer  Absceß  zwischen  den 
verlöteten  Darmschlingen.  Ein  zweiter  Absceß  wird  unter  dem  Quercolon 
gefunden.  Bei  weiterer  Lösung  der  Darmschlingen  werden  weiter  eiterig 
gefUrbte  Partieen  bemerkbar.  Auch  zwischen  dem  Dünndarm  und  Meso- 
colon  transversum  mehrere  abgesackte  eiterig  fibrinöse  Exsudate.  Die 
Leber  ist  nach  oben  gedrängt,  die  Stelle  der  operativ  entfernten  Milz 
wird  durch  den  Fundus  des  Magens  und  die  Flezura  lienal.  eingenommen. 
Zwerchfellstand  1:  3.  L-R.,  r:  4.  L-R. 

In  der  r.  Pleurahöhle  dünneiterige,  blaß  zitronengelbe  Flüssigkeit,  oa. 
900  cm,  1.  Pleurahöhle  leer.  Im  Mediastinum  etwas  Fettgewebe.  Herz 
liegt  frei,  Lungen  retrahieren  sich  gut.  Liquor  pericard.  von  entsprechen- 
der Menge,  klar. 

Herz  wenig  vergrößert.  Epikard  etwas  sehnig  trübe.  In  den  Höhlen 
viel  flüssiges  Blut.  E.  Ventrikel  etwas  diktiert,  seine  Muskulatiir  blaß- 
braun, schlaff.  Muskulatur  des  1.  Ventrikels  fest,  hellbraun,  diffus  trübe^ 
1,4  cm  dick.  Papillarmuskel  mit  vereinzelten  weißen  Flecken.  Ein  ab- 
normer Sehnenfaden  zieht  zum  Septum.  Aortenintima  glatt,  Aortenumfang 
6  cm. 

L.  L  u  n  g  e :  keine  Verwachsungen,  Pleura  etwas  trübe,  aber  spiegelnd. 
Parenchym  weich  und  knisternd,  hellrotbraun,  stark  ödematös,  besonders 
im  Ü.-L.,  nach  dem  Auspressen  schlaff.  —  R.  Lunge  im  U.-L.  weniger  volu- 
minös, ganze  Pleura  mit  Fibrin  beschlagen.  %  des  U.-L.  atelektatisch, 
vrom  O.-L.  unterer  Rand  luftleer,  das  übrige  lufthaltig.  Parenchym  blaß, 
im  O.-L.  etwas  feucht. 

Abdomen.    L.vom  Magen  und  am  Fundus  fühlt  man  eine 


Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  759 

anscheinend,  dem  Zwerchfell  unmittelbar  angelagerte 
Besistenz,  die  mit  konvexer  Fläche  in  die  linke  Pleura 
ragt,  median  bis  an  die  Aorta  thorac.  und  nach  abwärts 
bis  zum  Darmbein  reicht.  Beim  Abtrennen  des  Ligam. 
gastrocol.  erweisen  sich  die  stark  erweiterten  Venen  mit 
einer  in  eiteriger  Einschmelzung  begriffenen  Thrombus- 
masse erfüllt.  Ebenso  sind  die  Venen  des  Mesocolon  transv. 
und  des  Mesocolon  descend.  bis  zum  Beginn  der  Flexur 
dilatiert,  geschlängelt  und  mit  Thromben  erfüllt.  Die 
Venenthrombose  setzt  sich  vom  Mesocolon  transv.  auch 
auf  die  Ven.  coron.  fort,  so  daß  man  geschlängelte  und 
thrombosierte  Venen  über  die  große  Kurvatur  auf  die 
vordere  Magenwand  subserös  verfolgen  kann. 

An  der  hinteren  Bauchwand  ziehen  auch  erweiterte  Venen  als  prall 
elastische  Körper  nach  links  auf  die  untere  Fläche  der  erwähnten  Besistenz 
hin,  zum  Teil  thrombosiert,  zum  Teil  mit  flüssigem  Blut  erfüllt  Die  1.  Niere 
liegt  zum  Teil  hinter  dem  unteren  Abschnitt  dieser  Besistenz.  Die  letztere 
ist  nach  unten  durch  eine  glatte  Fläche,  die  sich  im  ganzen  der  Nieren- 
oberfläche anpaßt,  abgegrenzt.  Auf  einem  Querschnitt  durch  die  erwähnte 
Besistenz  zeigt  sich  im  Anschluß  an  den  peritonealen  Ueberzug  ein  Fett- 
gewebe, in  welches  die  Venen  eingeschlossen  sind.  In  einem  Gefäß 
ein  älterer,  bereits  grauroter,  bröckeliger  Thrombus,  der 
schon  fest  mit  der  Gefäßwand  verbunden  ist.  Auf  einem 
weiteren  Schnitt  zeigt  sich  der  97,  cm  im  Längs-,  12  im 
Quer-  und  11  im  Sagi ttaldurchmesser  messende  Tumor  von 
11  derartig  dilatierten  Venenlumina  eingenommen.  Er  ist 
also  ein  Komplex  von  mächtigen  Varicen. 

L.  Niere  15: 6^9: 4  cm.  Kapsel  haftet  etwas  fester,  Oberfläche 
glatt,  graurot.  Parenchym  blaß.  Unter  der  1.  Niere  im  Fettgewebe  bis 
walnußgroße  Varicen,  die  mit  dem  varikösen  Tumor  unter  dem  Zwerch- 
fell in  Verbindung  stehen.  L.  Nebenniere  hinter  dem  verdichteten  Zell- 
gewebe, das  die  Vorderfläche  des  Tumors  überzieht.  Sie  ist  groß;  Gewebe 
blaß;  Binde  wenig  fettreich.  —  K  Niere  leicht  aus  der  Kapsel  zu  lösen, 
leicht  vergrößert,  etwas  weich,  Oberfläche  zeigt  embryonale  Lappung,  sonst 
glatt.  Querschnitt  blaß,  Nierenbeckenschleimhaut  anämisch.  B.  Neben- 
niere entsprechend  groß.  Binde  und  Mark  gut  entwickelt. 

In  den  Gallenwegen  galliger  Inhalt,  Schleimhaut  zart.  Zellgewebe 
im  Umfange  der  Pfortader  verdichtet  Pfortaderstamm  ca.  1  cm 
thrombosiert  und  dilatiert  Intima  sehnig  weiß  verdickt, 
zeigt  narbenähnliche  Leisten.  In  einem  großen  Pfortader- 
ast mehrere  verkalkte  Platten.  Im  Bereich  des  Leberhilus  ist  die 
Pfortader  frei.  Das  Mesenterium  des  Dünndarms  ist  von 
Thrombosen  frei.  Die  Venenwände  sind  nicht  glatt,  son- 
dern zeigen  kleine,  leistenförmige,  sehnig  weiße  Ver- 
dickungen der  Intima. 

In  der  Vena  cava  flüssiges  Blut  an  der  Einmündung  der  1.  Viena 
renalis  ein  bröckeliger  Thrombus,  der  sich  in  diese  hinein  fortsetzt,  aber 
nicht  bis  zum  Hilus  reicht.     B.  Vena  renalis  frei. 

Leber.  Gewicht  1390  g,  an  der  Oberfläche  fibrinöse  Auflagerung, 
darunter  die  Serosa  mäßig  verdickt,  glatt.  Peritonealer  Ueberzug  der 
Gallenblase  auch  verdickt.  B.  Leberlappen  19  cm  lang,  12  hoch,  13  dick. 
L.  Leberlappen  ISy^  <^°^  ^^^S»  Konsistenz  normal,  beim  Einschneiden  kein 
Knirschen.    Parenchym  hellbraun  mit  ausgesprochener  Läppchenzeichnung  ; 

49* 


760  J.  Lossen, 

in  den  oberen  Partien  des  r.  Leberlappens  weiße  Streifchen.  Die  vom 
Hilus  eintretenden  Gefl&ße  zeigen  etwas  indariertes  Zellgewebe.  Im  Lig. 
teres  sind  ein  paar  kleine  Kanäle  zu  erkennen. 

Im  Magen  schwärzlich-brauner  Inhalt  von  saaerem  Oeruch,  Schleim- 
haut überall  zart  mammilloniert.  Im  Duodenum  bräunlicher  Inhalt,  auf 
der  Schleimhaut  bräunliche  Kömchen.  Im  ganzen  Dünndarm  galliger  In- 
halt, Schleimhaut  des  Darmes  blaß,  am  Dickdarm  kleine  flache  Substanz- 
defekte  mit  rosigem  Grunde.     Mastdarmschl^imhaut  blaß. 

Blase  klein,  kontrahiert;  Schleimhaut  hell  rosa;  Ureteren  frei. 
Uterus  klein;  ausgesprochene  Plicae  palmatae  und  einzelne  Ovula 
Nabothi.  Ovarien  groß,  Oberfläche  kömig,  Parenchym  blaß,  Fimbrien 
ödematös. 

Auf  der  Rachenschleimhaut  reichlich  schleimiges  Sekret,  im  Oeso- 
phagus schwarze  Ejrttmel.  —  Trachea:  Schleimhaut  blaß  rosa.  —  Schilddrüse 
sehr  blaß,  hell  bräunlich,  kömig.  —  Jugularvenen  zart. 

Schädeldach  derb.  Diploö  reichlich,  blaß-rosa.  Dura  ziemlich  stark 
gespannt,  Innenfläche  glatt.  Weiche  Hirnhäute  mäßig  gerötet.  Basale 
Himarterien  zart.  In  den  Seitenventrikeln  etwas  klare  Flüssigkeit.  Ependym 
etwas  dick  und  glatt  Zirbeldrüse  groß.  Himsubstanz  von  guter  Kon- 
sistenz, feucht,  läßt  zahlreiche  Blutpünktchen  austreten.  Basale  Ganglien 
blaß.  Auf  dem  Durchschnitt  durch  den  Himstamm  oberhalb  der  linken 
Olive  eine  Gruppe  von  stecknadelkopfgroßen  Hämorrhagien. 

Anatomische  Diagnose:  (Milz  exstirpiert)  Phlebosklerose  der 
Vena  lienal.  und  portarum,  der  VV.  mesenter.  Ausgedehnte  Varicenbildung 
der  W.  coeliac  mit  zum  Teil  erweichten  Thromben.  Variköser  Tumor  in 
der  Milzgegend,  subakute  eitrig-fibrinöse  Peritonitis.  Pleuritis  seropuru- 
lenta  dextra.  Atelektase  des  r.  unteren  Lungenlappens.  Erweichter  Throm- 
bus in  der  1.  Nierenvene.  !6tat  mammillion^  des  Magens.  Leichte  Nekrosen 
im  Schwänze  des  Pankreas. 

Mikroskopische  Untersuchung:  Die  Organstücke  wurden  in 
Sublimat-Kochsalzlösung  öder  in  10-proz.  Formol  fixiert  und  in  Alkohol 
bezw.  Jodalkohol  nachgehärtet,  zum  Teil  in  Paraffn,  zum  Teil  in  Celloidin 
eingebettet  und  vorwiegeud  mit  Hämatoxylin-Eosin  und  nach  van  Gibsok 
gefärbt     Die  Färbung  des  elastischen  Gewebes  geschah  nach  Wbigbbt^). 

Milz:  Die  Kapsel  ist  ziemlich  dick  und  besteht  aus  groben,  sich  kreu- 
zenden Bindegewebszügen.  Die  Trabekel  sind  stark  entwickelt,  ihre  feinere 
Struktur  bietet  nichts  Besonderes.  An  vak  GiESON-Präparaten  sieht  man 
schon  bei  schwacher  Vergrößerung  zahlreiche  rote  Streifen  und  fleckige 
Partien  in  der  Pulpa,  die  sich  schon  durch  ihre  weniger  scharfe  Begrenzung 
und  die  in  ihnen  vorhandenen  gelbbraunen  Partien  von  den  Trabekeln  unter- 
scheiden. Stärkere  Vergrößerungen  lassen  in  ihnen  Züge  von  ziemlich 
kemreichem  Bindegewebe  erkennen  und  dazwischen  die  gleichen  Zellen, 
die  das  übrige  Pulpagewebe  bilden.  Das  Bindegewebe  ist  kernreich;  die 
Kerne  sind  schwach  gefärbt,  meistens  von  unregelmäßigem  Kontur. 

Die  Pulpa  enthält  reichlich  rote  Blutkörperchen;  zahlreiche  intensiv 
gefärbte  pyknotische  Kerne,  die  denen  der  MALPiGHischen  Körperchen 
gleichen,  sowie  auch  kleinere,  noch  intensiver  gefärbte  Kerne,  wie  die  der 
kleinen  Lymphocytenformen   des  Blutes.     Häufig   sieht   man   nicht  nur  in 


1)  Herrn  Prof.  Dr.  M.  Askanazt  in  Königsberg  und  Herrn  Prof.  Dr. 
M.  B.  Schmidt  in  Straßburg  spreche  ich  für  die  freundliche  Durchsicht  der 
Präparate  meinen  verbindlichsten  Dank  aus. 


Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  761 

den  Kapillaren,  sondern  noch  öfter  in  den  Pnlpasträngen  polynnkleäre 
Zellen  mit  eosinophilen  Granula.  Auffallend  sind  zahlreiche  große,  meistens 
ovale,  oft  etwas  eingekerbte,  helle,  blftschenfbrmige  Kerne.  Sie  sind  sehr 
wenig  intensiv  ge&rbt  und  enthalten  spärliche,  gut  differenzierte  Chromatin- 
snbstanz.  Sie  bilden  an  vielen  Stellen  das  Gros  der  Pulpazellen  und 
geben  der  Pulpa  ein  charakteristisches  Aussehen.  Besonders  zahlreich 
sind  sie  in  der  Umgebung  der  bindegewebigen  Partien  und  haben  Aehn- 
lichkeit  mit  den  zwischen  den  Bindegewebszügen  liegenden  Kernen.  Doch 
sind  letztere  länger,  meist  mehr  spindelförmig  und  in  ihren  Konturen  un- 
regelmäßiger.    Pigment  fehlt  in  der  Pulpa  gänzlich. 

Die  venösen  Kapillaren  sind  sehr  zahlreich  und  ziemlich  weit  An 
vielen  Stelleu  liegen  sie  so  dicht  aneinander,  daß  das  Pulpagewebe  auf 
schmale  Stränge  zwischen  ihnen  beschränkt  ist.  Dadurch  zeigt  das  ganze 
Bild  bei  schwacher  Vergrößerung  einen  netzartigen  Bau.  Die  Kapillaren 
haben  meistens  keine  deutliche  bindegewebige,  nach  van  Gibson  färbbare 
Hülle,  lassen  sich  aber  doch  meistens  gut  erkennen.  Ihr  Endothelbelag 
'  ist  ziemlich  vollkommen.   Die  langen  schmalen  Endothelkerne  sind  intensiv 

^  gefärbt  und  springen  stärker  in  das  Lumen  hinein  vor  als  die  der  größeren 

Gefäße.     Nirgends   aber   zeigt   sich   eine   Quellung   der  Endothelien.     Der 
Inhalt  der  Kapillaren  besteht  aus  roten  und  weißen  Blutkörperchen,  unter 
^  letzteren    Mono-    und    Polynukleäre.     Nur    selten    sieht   man    Zellen    mit 

großem,    wenig  gefärbtem  Kern  in  ihnen.     Die   oben  erwähnten  charakte- 
ristischen großkernigen  Zellen  der  Pulpa  finden  sich  in  den  Kapillarlumina 
'"  nicht.     Auch  in  ihrer  unmittelbaren  Umgebung  treten  sie  nicht  besonders 

'-  zahlreich  auf.     Schmale,   langgestreckte  Bluträume,   die   als  arterielle  Ka- 

pillaren zu  betrachten  sind,  sind  ziemlich  spärlich. 
•'■  Die   MALPiGHischen  Körperchen  sind   in   mäßiger  Menge,   eher   etwas 

c  spärlich    vorhanden.     Ihre  Größe    ist   verschieden.     Sie  bestehen  meistens 

^  aus    einer    dunkleren   Randzone    und    einem  helleren,    kernärmeren    Zen- 

trum.    Die   Zentralarterie   ist  in  einigen  von  einer  starken  Bindegewebs- 
schicht  umgeben,    auch    sieht   man   bei   van  GiEsoN-Färbung   in  manchen 
bindegewebige   Streifen   oder   Pleoken.     Oft    läßt  sich  nachweisen,   daß  es 
:^  Bindegewebe   ist,   welches   kleine,   innerhalb  des  Körperchens   austretende 

Arterienäste   begleitet;   an    anderen   Stellen   scheinen   die   bindegewebigen 
Partien  nicht  in  Zusammenhang  mit  Gefäßen  zu  stehen.     Eine  eigentliche 
Sklerosierung    oder    überhaupt     eine    difFuse    Bindegewebswucherung    im 
^  Zentrum    der   Follikel,    wie    sie   Banti,    Cavazzani   u.  a.   beschreiben,    ist 

i'  nirgends  vorhanden.    Die  die  MALPiOHischen  Körperchen  bildenden  Zellen 

f  haben   i-unde  Kerne   von   annähernd   gleicher  Größe,   die   sich   mit  Häma- 

toxylin  intensiv  färben  und  keine  feinere  Struktur  erkennen  lassen. 
:  Die  unmittelbar  nach  der  operativen  Entfernung  der  Milz  angefertigten 

i  Abstrichpräparato  wurden  zum  Teil  mit  Hämatoxylin-Eosin,  zum  Teil 

r.  mit    dem  JsNNERschen  Methylenblau-Eosingemisch^)    gefärbt.     Sie    zeigen 

r  sehr  reichlich   rote   Blutkörperchen,    darunter   nur   ganz   vereinzelte  kern- 

haltige (Normoblasten).  Unter  den  farblosen  Elementen  tiberwiegen  bei 
weitem  die  einkernigen  Formen.  Neben  relativ  spärlichen  kleinen  Lympho- 
cyten  größere  mit  runden  oder  ovalen  Kernen  und  einem  Protoplasmasaum, 
der  sich  in  den  JENNBR-Präparaten  stärker  blau  färbt  als  der  Kern. 
Zellformen,  die  den  im  Schnittpräparat  so  zahlreichen  großen  ovalen  Kernen 


1)  L.  Jbnnbr,  Lancet  1899,  I,   p.  370.  —  Kurpjuwbit,  Dtsch.  Arch. 
f.  klin.  Med.,  Bd.  77,  1903,  p.  669. 


762  J.  Lossen, 

entsprechen,  konnten  wir  nicht  nachweisen.  Die  polynukleären  Zellen 
sind  viel  spärlicher,  unter  ihnen  auffallend  viel  Eosinophile;  etwa  jedes 
2.  bis  3.  Gesichtsfeld  enthält  eine  eosinophile  Zelle.  Die  übrigen  poly- 
nukleären Zellen  sind  auch  im  JsNKBR-Präparat  fast  sämtlich  frei  von 
Granula.  Nächst  dem  Reichtum  an  eosinophilen  Zellen  fällt  das  reich- 
liche Vorkommen  von  Mastzellen  auf.  Einkernige  granulierte  Zellen  fehlen 
vollständig.  Einzelne  große,  anscheinend  mononukleäre  Zellen  enthalten 
Erythrocyten  oder  Bruchstücke  von  solchen. 

Leber:  Keine  Vermehrung  des  interacinösen  Binde- 
gewebes. In  der  OLissoNsehen  Kapsel  sieht  man  reichlich  Gallengänge. 
Die  Kapillaren  zwischen  den  Leberzellenbalken  sind  ziemlich  weit,  sie 
enthalten  rote  Blutkörperchen  und  aufiPallend  viel  kernhaltige  Zellen. 
Letztere  bestehen  aus  Lymphocyten  und  polynukleären  Leukocyten  sowie 
ziemlich  zahlreichen  kernhaltigen  Erythrocyten.  (Man  erinnere  sich  der 
starken  Hyperleukocytose  und  der  Blutkrise  in  den  letzten  Tagen  vor 
dem  Tode.)  Außerdem  sieht  man  vorwiegend  in  den  peripheren  Teilen 
der  Kapillarlumina  große  runde,  ovale  oder  auch  etwas  eingeschnürte  und 
gebogene,  blasse  Kerne  mit  spärlicher  Chromatinsubstanz,  die  von  mäßig 
breitem  Protoplasma,  welches  sich  mit  Eosin  weniger  intensiv  färbt  als 
das  der  Leberzellen,  umgeben  sind.  Dicht  am  Bande  der  Leberzellen- 
balken findet  man  hin  und  wieder  lang  gestreckte  schmale,  meist  sichel- 
förmig gekrümmte  intensiv  gefärbte  Kerne. 

Die  Gefäß  Veränderungen  wurden  hauptsächlich  an  den  Mesenterial  venen 
untersucht.  Es  fand  sich  eine  ungleichmäßige,  an  einzelnen  Stellen  sehr  be- 
trächtliche Verdickung  der  Litima  und  in  dieser  eine  auffallend  starke  Ent- 
wickelung  der  elastischen  Fasern,  welche  nicht  wie  in  der  normalen  Gefäß- 
wand zu  parallel  verlaufenden  Bündeln  oder  Lamellen  angeordnet  sind, 
sondern  unregelmäßige  charakterlose  Netze  bilden.  Das  Bindegewebe  der  Li- 
tima ist  ziemlich  kernarm ;  nirgends  finden  wir  eine  zellige  Infiltration.  An 
den  verdickten  Stellen  mißt  die  Intima  bis  zu  250 — 340  ft  gegen  etwa  70 
bis  80  an  normalen  Partien.  An  einzelnen  Stellen  ist  die  Grenze  zwischen 
Intima  und  Media  verschwommen.  Letztere  zeigt  keine  Verdickung  und 
keinerlei  Abnormitäten.    Die  begleitenden  Arterien  zeigen  nichts  Abnormes. 

Vom  Knochenmark  (Stemum  und  Rippen),  welches  makroskopisch 
eine  bräunlichrote  Farbe  zeigte,  wurden  Abstrichpräparate  gemacht,  die 
ein  normales  Bild  zeigen.  Sie  enthalten  zahlreiche  kernhaltige  Erythro- 
cyten, alle  mit  kleinem,  meist  rundem,  mitunter  aber  auch  eingeschnürtem 
oder  rosettenförmigem,  pyknotischem  Kern;  keine  Megaloblasten.  Unter 
den  farblosen  Zellen  zahlreiche  neutrophile  und  in  geringerer  Menge 
eosinophile  Myelocyten,  sowie  reichliche  einkernige  nichtgranulierte  Zellen. 

Die  Krankengeschichte  unserer  Patientin  wird  durch  die  mannig- 
fachen hysterischen  Beschwerden,  die  wir  als  für  das  in  Rede  stehende 
Leiden  nicht  in  Betracht  kommend  sogleich  ausscheiden,  kompliziert 
Dahin  gehören  außer  den  Krampfanfällen  die  Heiserkeit,  die  zeitweise 
Anurie  und  die  mannigfachen,  sicher  nicht  organisch  bedingten  Be- 
schwerden. 

Die  klinische  Untersuchung  ergab  im  wesentlichen  nur  einen  großen 
Milztumor  und  die  Zeichen  beträchtlicher  Anämie. 

Eine  maligne  Neubildung  der  Milz  ließ  sich  bei  dem  langen  Be- 
stehen des  Tumors  und  dem  günstigen  Ernährungszustand  ausschließen. 


Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  763 

Für  eine  Leukämie  fehlte  der  entsprechende  Blutbefund,  für  eine  Pseudo- 
leukämie  jede  Vergrößerung  der  Lymphdrüsen.  Malaria  war  nicht 
vorausgegangen.  Zur  Annahme  einer  Lebercirrhose  berechtigte  nichts  im 
Krankheitsbilde.  Es  fehlten  alle  Zeichen  einer  Stauung  im  Pfortader- 
gebiet, sowie  jede  Spur  von  Ikterus ;  die  Leber  war  von  normaler  Größe. 

Da  die  Behandlung  mit  Arsenik  keinen  wesentlichen  Erfolg  er- 
zielte, glaubten  wir  der  Patientin  die  operative  Entfernung  der  Milz, 
die  sie  selbst  dringend  wünschte,  anraten  zu  müssen.  Wir  stützten 
uns  dabei  auf  die  Erfahrungen  von  Harris  und  Herzog  (33),  Bessel- 
Hagen  (11),  Banti  (4—8),  v.  Mikulicz-Kausch  (37)  u.  a.,  die  durch 
die  Splenektomie  gute  Erfolge  erzielten.  Die  Unterscheidung  zwischen 
einer  einfachen  Anaemia  splenica  und  dem  ersten  Stadium  des  Morbus 
Banti,  die  unseres  Erachtens  nicht  möglich  ist,  hatte  für  die  Frage  der 
Operation  keine  wesentliche  Bedeutung;  denn  in  beiden  Fällen  hat 
man  die  Splenektomie  mit  Erfolg  ausgeführt. 

Die  Operation  stieß  auf  ganz  unerwartete  Schwierigkeiten  infolge 
der  enormen  Entwicklung  der  venösen  Gefäße  der  Milz  und  die  große 
Brüchigkeit  ihrer  Wandungen:  Verhältnisse,  welche  an  die  bei  leuk- 
ämischen Milzen  erinnern,  deren  Entfernung  fast  stets  durch  unstillbare 
Blutungen  tödlich  verläuft.  —  Wir  müssen  den  ungünstigen  Ausgang 
auf  die  Schwierigkeit  der  Blutstillung  wenigstens  indirekt  zurückführen, 
indem  dadurch  die  Dauer  der  Operation  außerordentlich  verlängert  und 
die  Gefahr  einer  Infektion  erhöht  wurde. 

Eine  sehr  starke  Entwickelung  und  leichte  Zerreißlichkeit  der  venösen 
Gefäße  beobachteten  auch  Harris  und  Herzog  (33),  sowie  Bessel- 
Hagen  (11).  Diese  Verhältnisse  sind  für  die  Prognose  der  Splenek- 
tomie von  Interesse,  da  man  mit  der  durch  sie  bedingten  Erschwe- 
rung der  Operation  rechnen  muß.  Hochgradige  Dilatation  und  Skle- 
rose der  Gefäße  werden,  wenn  sich  die  Schwierigkeiten  gleich  nach 
Eröffnung  der  Bauchhöhle  übersehen  lassen,  unter  Umständen  sogar 
ein  Grund  zur  Unterlassung  der  Splenektomie  werden.  Im  allge- 
meinen gibt,  wie  die  Zusammenstellungen  von  Bessel-Hagen  (11), 
Jordan  (35)  »und  Bater  (9)  lehren,  die  Splenektomie  bei  Anaemia 
splenica  (Splenomegalia  primitiva  und  Morbus  Banti)  eine  relativ  gute 
Prognose.  Bessel-Hagen  fand  nach  Ausscheidung  von  leukämischen 
und  verletzten  Milzen  bei  164  in  den  Jahren  1891—1900  ausgeführten 
Splenektomien  31  Todesfälle  =  18,9  Proz. 

Die  Sektion  unserer  Patientin  ergab  als  überraschendstes  Resultat, 
daß  die  Dilatation  und  Sklerose  nicht  nur  die  V.  lienalis,  sondern  auch 
die  übrigen  Pfortaderwurzeln  betraf.  Die  Mesenterialvenen,  die  V.  coro- 
naria  etc.  waren  stark  dilatiert  und  geschlängelt  und  zum  Teil  throm- 
bosiert.  Hinter  der  Stelle  der  entfernten  Milz  fand  sich  ein  großes 
Konvolut  von  varikösen  Venen.  Es  ließ  sich  nicht  feststellen,  welche 
Venen  sich  außer  der  V.  lienal.  an  seiner  Bildung  beteiligten.    An  der 


764  J.  Lossen, 

Innenfläche  der  Venen  des  Pfortaderwurzelgebietes  sowie  der  Ven. 
portarum  und  ihrer  Aeste  fanden  sich  zahlreiche  leistenfSrmige  oder 
plattenförmige  Verdickungen,  während  die  Wand  im  allgemeinen  nicht 
verdickt  war. 

Die  Thromben  erwiesen  sich  als  verschieden  alt.  Die  einen  waren 
intensiv  rot,  teilweise  erweicht,  und  hafteten  der  Wand  nur  locker  an, 
so  daß  man  ihre  Entstehung  im  Anschluß  an  die  postoperative  Peritonitis 
annehmen  kann ;  andere  waren  von  grauroter  Farbe,  fest  mit  der  Wand 
verbunden,  ließen  also  auf  eine  viel  weiter  zurückliegende  Entstehung 
schließen.  —  Die  Komplikation  mit  den  septischen  Prozessen  machte 
das  anatomische  Bild  natürlich  sehr  unübersichtlich  und  erschwerte  die 
Deutung  sehr.  So  viel  ist  indessen  sicher,  daß  hier  seit  langer  Zeit 
hochgradige  Veränderungen  der  Pfortader,  ihrer  Aeste  und  Wurzeln 
bestanden.  —  Die  Thrombose  in  der  linken  Nierenvene,  deren  Wand 
sich  als  intakt  erwies,  ist  jedenfalls  frisch  entstanden. 

In  der  Literatur  finden  wir  in  einer  Anzahl  von  Fällen  ähnliche 
Afifektionen  der  Venenwand  bei  Thrombosen  im  Pfortadergebiet.  Aus- 
führliche Zusammenstellungen  haben  Borrmann  (15)  und  Saxer  (53) 
gegeben.  Während  die  älteren  Autoren  die  Veränderung  der  Venen- 
wand als  Folge  der  Thrombosierung  ansahen,  ist  Borrmann  geneigt, 
für  eine  Reihe  von  Fällen  eine  primäre  sklerotische  Endophlebitis  der 
Pfortader,  mitunter  auch  der  zu  ihr  gehörigen  Venen,  besonders  der 
V.  lienalis  und  mesenter.  als  Ursache  der  Thrombosierung  anzusprechen. 
Die  Aetiologie  dieser  Phlebitis  ist  nach  Borrmann  ebenso  unklar  wie 
die  des  Atheroms  der  Aorta,  doch  hält  er  es  für  nicht  unwahrschein- 
lich, daß  in  vielen  Fällen  die  Lues  eine  Rolle  spielt. 

Saxer  (53)  bezweifelt  im  Gegensatz  dazu  das  Vorkommen  einer  pri- 
mären Phlebitis  im  Pfortadergebiet  als  Ursache  der  Thrombosen.  Er 
wendet  sich  gegen  die  Ansicht  Borrmanns  mit  den  Worten:  „Wollte 
man  wirklich  eine  Phlebosklerose  (syphilitischen  oder  sonstigen  Ur- 
sprungs) als  Ausgangspunkt  der  Thrombose  der  Pfortader  ansprechen, 
so  müßte  man  doch  notwendigerweise  diesen  Zustand  in  solchen  Fällen 
demonstrieren  können,  bei  denen  noch  keine  schwereren  klinischen  und 
anatomischen  Folgen  der  Behinderung  des  Pfortaderkreislaufs  oder  gar 
des  Verschlusses  bestanden  haben. ^ 

Wir  glauben,  daß  unser  Fall  dieser  Forderung  Saxers  genügt.  Die 
endophlebitischen  Prozesse  sind  weit  über  die  thrombosierten  Venen- 
strecken hinaus  ausgedehnt.  In  den  Mesenterialvenen  z.  B.  finden  wir 
starke  leistenförmige  Verdickungen  der  Intima  und  keine  Thromben.  Wir 
können  also  hier  nicht  in  der  Thrombose  die  direkte  Ursache  der  Phlebitis 
sehen.  Ebenso  erscheint  es  unzulässig,  die  Venenwanderkrankung  als 
Folge  einer  durch  die  Thrombose  der  Vena  portarum  oder  ihrer  Aeste 
aufgetretenen  Drucksteigerung  im  Pfortadergebiete  aufzufassen,  denn 
die   Thrombose   des   Pfortaderstammes   ist   keine  obturierende,  und  es 


Zur  Kenntnis  des  BAKTischen  Symptomkomplezes.  765 

fehlen  sowohl  klinische  wie  anatomische  Erscheinungen  einer  hoch- 
gradigeren Stauung.  Wir  glauben  also,  daß  es  sich  hier  um  eine  pri- 
märe sklerotische  Affektion  des  Pfortaderstammes,  seiner  Aeste  und 
seiner  Wurzeln,  besonders  der  Ven.  lienalis  und  mesenter.  mit  sekun* 
därer  Thrombenbildung  handelt 

Eine  ähnliche  Erklärung  nimmt  Budday  (18)  für  zwei  von  ihm  be- 
obachtete Fälle  von  Thrombose  des  Pfortaderstammes  und  der  Ven. 
lienal.  und  mesent  mit  hochgradigen  Veränderungen  der  Wand  an. 

Die  Verdickung  betraf  dort  zwar  auch  die  Media  und  Adventitia, 
doch  fiberwog  die  Intima  bedeutend,  die  mehr  als  die  Hälfte  des  Ge- 
samtquerschnittes der  Gefäßwand  einnahm.  Neben  bindegewebigen 
Verdickungen  fand  Budday  häufig  Verkalkung.  „An  den  intakteren  Stellen 
ließ  sich  eine  große  Menge  neugebildeter  feiner  elastischer  Fasern  in 
der  Intima  nachweisen.^  Der  Prozeß  ist  in  den  BuDDAYschen  Fällen 
bedeutend  weiter  vorgeschritten,  zeigt  aber  im  ganzen  viel  Aehnlichkeit 
mit  den  von  uns  gefundenen  Veränderungen. 

Großes  Interesse  beansprucht  der  Zusammenhang  der  GeAßaffektion 
mit  dem  Milztumor.  Bekanntlich  hat  Banti  sklerotische  Veränderungen 
der  Pfortader  und  ihrer  Wurzeln  zu  den  wesentlichen  Erscheinungen 
des  von  ihm  aufgestellten  Krankheitsbildes  gezählt.  Nach  seiner  Schil- 
derung beschränken  sich  diese  Prozesse  im  ersten  Stadium  auf  die 
Milzvene  und  den  unterhalb  der  Einmündung  derselben  gelegenen  Teil 
der  V.  portarum.  Hingegen  fand  er  im  ascitischen  Stadium  auch  in 
den  übrigen  Pfortaderwurzeln  ausgedehnte  sklerotische  Veränderungen» 
Letztere  führt  er  auf  eine  Drucksteigerung  im  Pfortaderwurzelgebiet 
infolge  der  Lebercirrhose  zurück. 

Diese  Deutung  erscheint  uns  gezwungen,  weil  sie  einen  Unterschied 
zwischen  den  Veränderungen  in  der  V.  port.  und  lienalis  und  denen  in 
den  übrigen  Wurzeln  der  Pfortader  macht,  und  diese  Trennung  lediglich 
dadurch  begründet  wird,  daß  in  den  wenigen  im  ersten  Stadium  der 
BANTischen  Krankheit  zur  Autopsie  gelangten  Fällen  die  phlebitischen 
Veränderungen  auf  die  Milzvene  und  den  Pfortaderstamm  beschränkt 
waren. 

In  unserem  Falle  finden  wir  in  der  Leber  keinerlei  Veränderungen 
die  eine  Drucksteigerung  und  dadurch  sklerotische  Prozesse  im  Pfort- 
aderwurzelgebiet verursachen  könnten. 

Andererseits  ist  eine  Abhängigkeit  der  Venenveränderungen  von  der 
Milzaffektion,  wie  sie  Banti  für  die  von  ihm  im  primären  Stadium 
gefundenen  sklerotischen  Prozesse  annimmt,  hier  nicht  denkbar;  denn 
eine  in  der  Milz  entstehende  toxische  Substanz  kann  zwar  die  V.  lienalis 
und  den  Pfortaderstamm  schädigen,  nicht  aber  die  übrigen  Pfortader- 
wurzeln, die  hier  ebenfalls  befallen  sind. 

Die  erwähnte  Annahme  Bantis  hat  neuerdings  Albu  (1),  der  geneigt 
ist,  in  dem  BANTischen  Symptomkomplex  eine  eigentümliche  Form  der 


766  J.  Lossen. 

Lebercirrhose  zu  sehen,  als  Stütze  für  diejenige  Auffassung,  welche  den 
primären  Sitz  dieser  Krankheit  in  die  Milz  verlegt,  herangezogen.  Albü 
glaubt,  daß  die  Veränderungen  an  der  V.  lienalis  und  am  Pfortaderstamm 
den  Weg  bezeichnen,  auf  welchem  die  toxischen  Substanzen  beim  Morbus 
Banti  und  wahrscheinlich  auch  bei  anderen  Formen  der  Lebercirrhose 
aus  der  Milz  der  Leber  zugeführt  werden.  —  Demgegenüber  scheint 
uns  die  Tatsache,  daß  bei  nicht  mit  Lebercirrhose  komplizierten  Milz- 
hypertrophien auch  in  den  übrigen  Pfortaderwurzeln  sklerotische  Pro- 
zesse vorkommen,  die  nicht  auf  eine  Drucksteigerung  im  Pfortader- 
gebiet bezogen  werden  können,   wie  unser  Fall  lehrt,  von  Bedeutung. 

Eine  Abhängigkeit  der  Milzhyperplasie  von  der  Venenerkrankung 
erscheint  uns  unwahrscheinlich.  Um  eine  Stauungsmilz  mit  sekundärer 
Induration  infolge  der  Thrombosen  kann  es  sich  bei  dem  Fehlen  son- 
stiger Stauungserscheinungen  im  Pfortadergebiet  jedenfalls  nicht  handeln. 
Außerdem  sprechen  auch  die  Größe  des  Milztumors  und  der  mikro- 
skopische Befund  dagegen. 

Eine  dritte  Möglichkeit  ist  die,  daß  sowohl  der  Milztumor  wie  die 
Venenaffektion  durch  eine  gemeinsame  Ursache  bedingt  sind ;  und  diese 
Deutung  scheint  uns  die  wahrscheinlichste  zu  sein.  Wir  glauben  es 
hier  mit  einem  der  Fälle  von  scheinbar  idiopathischer  Splenomegalie  zu 
tun  zu  haben,  in  welchen  sich  anatomisch  noch  andere  Veränderungen 
an  den  Abdominalorganen  nachweisen  lassen,  die  nicht  von  der  Milz- 
affektion abhängig,  sondern  ihr  koordiniert  sind.  Eine  solche  Erklärung 
haben  Chiari  und  Marchand  für  die  von  ihnen  beschriebenen  Falle 
gegeben,  die  klinisch  das  Bild  der  BANTischen  Krankheit  darboten,  und, 
wie  die  Autopsie  lehrte,  zum  Teil  sicher,  zum  Teil  wahrscheinlich  auf 
Lues  hereditaria  tarda  zu  beziehen  waren.  Dort  fanden  sich  von  der 
BANTischen  Trias  (Milztumor,  Lebercirrhose  und  Phlebosklerose)  die 
beiden  ersteren,  in  unserem  Fall  Milztnmor  und  Phlebosklerose. 

Welcher  Art  die  gemeinsame  Ursache  ist,  bleibt  in  unserm,  wie  bei  den 
meisten  Fällen  unklar.  In  der  Krankengeschichte  finden  wir  keine  An- 
haltspunkte für  Lues.  Man  müßte  denn  die  Angabe,  daß  die  ältesten 
Geschwister  in  früher  Kindheit  gestorben  sind,  als  ein  Zeichen  für  here- 
ditärluetische Belastung  ansehen.  Die  Sektion  förderte  keine  charakte- 
ristischen syphilitischen  Veränderungen  zu  Tage. 

Im  Vordergrunde  des  anatomischen  Befundes  steht  neben  den 
endophlebitischen  Prozessen  der  Milztumor.  Nach  den  geschilderten 
mikroskopischen  Befunden  ist  die  Vergrößerung  des  Organs  teils  auf 
eine  Hyperplasie  der  Pulpa,  teils  auf  eine  Zunahme  des  Bindegewebes 
zurückzuführen.  Wir  finden  eine  fleckweise  Vermehrung  der  binde- 
gewebigen Substanz,  welche  nicht  im  Zusammenhang  mit  dem  Trabe- 
kularnetz  steht.  Dieser  Befund  stimmt  bis  zu  gewissem  Grade  mit  dem 
von  BoRissowA  (Fall  1)  erhobenen  überein.  Nur  war  der  Prozeß  dort 
viel  weiter  vorgeschritten  als  in  unserem  Falle. 


Zur  Kenntnis  des  BAXTischen  Symptomkomplexes.  767 

Die  Endothelauskleidung  der  sehr  reichlichen  venösen  Kapillaren 
ist  gut  erhalten,  was  wohl  auf  die  sofortige  Fixierung  der  Milzstückchen 
nach  der  Operation  zurückzuführen  ist;  nirgends  aber  finden  sich 
Quellungserscheinungen  an  den  Endothelien,  nirgends  eine  Auskleidung 
der  Kapillaren  mit  hohen  epithelartigen  Zellen,  wie  sie  Banti  sah, 
noch  eine  Abstoßung  von  gequollenen  Endothelien  in  das  Lumen  der 
Kapillaren,  wie  sie  Borissowa  (14)  und  Harris  und  Herzog  (33) 
beschreiben. 

Das  Pulpagewebe  ist  reich  an  roten  Blutkörperchen ;  auffallend  ist 
neben  den  kleineren  und  größeren  lymphocytenähnlichen  Zellen  der 
große  Reichtum  an  großen,  hellen,  bläschenförmigen,  mit  spärlicher 
Chromatinsubstanz,  die  an  vielen  Stellen  die  Mehrzahl  der  Pulpaelemente 
bilden.  Es  ist  oben  schon  erwähnt,  daß  diese  Zellen  sich  nicht  im 
Lumen  der  Kapillaren  finden  und  auch  in  der  Umgebung  derselben 
nicht  besonders  zahlreich  vorhanden  sind.  Ein  Zusammenhang  mit  den 
Endothelien  der  venösen  Kapillaren  scheint  daher  ausgeschlossen.  Die 
Kerne  zeigen  große  Aehnlichkeit  mit  denen,  welche  wir  zwischen  den 
Fasern  der  bindegewebig  entarteten  Partien  finden,  und  es  liegt  die 
Vermutung  nahe,  daß  wir  es  mit  einer  Vermehrung  von  Zellen  zu  tun 
haben,  die  zur  Bindegewebsbildung  in  Beziehung  stehen.  Es  würde 
dann  auch  an  den  Stellen,  wo  wir  noch  keine  Bindegewebssubstanz 
finden,  bereits  eine  Vorstufe  der  fibrösen  Umwandlung  der  Pulpa  er- 
reicht sein.  Daß  es  sich  um  sessile  Elemente  handelt,  scheint  uns  auch 
daraus  hervorzugehen,  daß  wir  auf  Abstrichpräparaten  der  Milz  keine 
den  erwähnten  Zellen  entsprechende  Elemente  finden. 

An  den  MALPiOHischen  Körperchen  konnten  wir  keine  eigentlich 
sklerotischen  Veränderungen,  wie  sie  Banti  und  Gavazzani  beschreiben, 
wahrnehmen.  —  Bemerkenswert  ist  noch  die  reichliche  Menge  von  eosino- 
philen und  Mastzellen  in  den  Abstrichpräparaten  der  Milz.  Erstere 
zählt  y.  Ebner  (26)  zu  den  normalen  Pulpabestandteilen.  Ueber  das 
Vorkommen  der  Mastzellen  in  der  Milz  scheint  nichts  bekannt  zu  sein. 
Die  Eosinophilen  sind  hier  jedenfalls  weit  über  das  Normale  vermehrt, 
so  sehr,  daß  wir  ihr  reichliches  Vorhandensein  keinesfalls  aus  ihrem 
etwas  erhöhten  Prozentsatz  im  zirkulierenden  Blute  erklären  können. 

An  der  Leber  finden  wir  keine  Veränderungen,  die  mit  dem  übrigen 
Krankheitsbilde  in  Zusammenhang  stehen  könnten.  Der  reichliche  Ge- 
halt der  intraacinösen  Kapillaren  an  kernhaltigen  Zellen  erinnerte  auf 
den  ersten  Blick  an  die  Befunde  Borissowas,  die  die  Kapillaren 
durch  große  einkernige  Zellen,  die  sie  als  verschleppte  Endothelien  aus 
den  venösen  Kapillaren  der  Milz  anspricht,  vollgestopft  fand.  Die 
genaue  Untersuchung  bei  starker  Vergrößerung  zeigte  jedoch,  daß  die 
meisten  dieser  Zellen  polynukleäre  Leukocyten  und  kernhaltige  rote 
Blutkörperchen  waren,  was  bei  der  in  der  letzten  Lebenswoche  be- 
stehenden Hyperleukocytose  und  Blutkrise  nicht  wunder  nehmen  kann. 


768  J.  Lossen, 

Daneben  fanden  sich  große  einkernige  Zellen  mit  hellem,  ovalem  Kern 
und  reichlichem,  schwach  gefärbtem  Protoplasma,  die  wir  wohl  als  ge- 
quollene KüPFFERsche  Sternzellen  betrachten  müssen.  Eine  Schwellung 
dieser  Zellen  ist  bei  Infekten  häufig  und  hier  wohl  auf  die  peritonitische 
Infektion  zurückzuführen.  Außerdem  sahen  wir  übrigens  noch  häufig 
schmale  endothelartige  Kerne  am  Rand  der  Leberzellenbalken. 

Wir  sind,  wie  oben  dargelegt,  geneigt,  die  endophlebitischen  Ver- 
änderungen im  Pfortaderwurzelgebiet  und  den  Milztumor  auf  eine  ge- 
meinsame, uns  ihrem  Wesen  nach  unbekannte  Ursache  zurückzuführen. 
Es  fragt  sich,  wie  wir  dann  den  eigentümlichen  anämischen  Blutbefund 
erklären  können.  Die  Veränderungen  des  Blutes  können  einerseits  als 
direkte  Folge  der  supponierten  allgemeinen  Krankheitsursache  angesehen, 
andererseits  auf  die  Störungen  der  Funktion  der  Milz  bezogen  werden. 
Erstere  Ansicht  wird  von  Wenthworth  (62)  für  die  als  Anaemia  splenica 
bezeichneten  Zustände  im  allgemeinen  vertreten.  Wir  möchten  letztere 
Annahme  für  wahrscheinlicher  halten,  denn  die  anämische  Beschaffenheit 
wäre  als  Folge  einer  allgemeinen  konstitutionellen  Erkrankung  doch  recht 
hochgradig,  besonders  im  Vergleich  zu  der  relativ  geringen  Störung  des 
Allgemeinbefindens.  Andererseits  bietet  sie  mehrfach  Uebereinstimmung 
mit  den  Blutbefunden,  wie  sie  sonst  bei  starker  Hypertrophie  der  Milz 
erhoben  werden,  sei  es  daß  diese  eine  idiopathische  oder  mit  anderen 
Abnormitäten  vergesellschaftet  ist. 

Der  Blutbefund  bei  unserer  Kranken  ergab  eine  beträchtliche 
Herabsetzung  des  Hämoglobingehaltes  (37—46  Proz.)  und  eine  diesem 
nicht  entsprechende  Verminderung  der  Zahl  der  Erythrocyten,  3,13  bis 
3,97  Millionen,  also  ca.  70  Proz.  des  Normalwertes;  endlich  als  auf- 
fallendste Erscheinung  eine  hochgradige  Verminderung  der  Leukocyten 
(1800—2800).  Was  die  einzelnen  Arten  der  Leukocyten  betrifft,  so 
sehen  wir  bei  allen  Untersuchungen  eine  relative  Abnalime  der  neutro- 
philen  Polynukleären,  freilich  in  sehr  verschiedenem  Grade.  Während 
ihr  Prozentsatz  bei  den  meisten  Zählungen  zwischen  50  und  60  schwankt, 
sinkt  er  zweimal  ohne  ersichtliche  Ursache  und  ohne  wesentliche  Aen- 
derung  der  Gesamtzahl  der  Leukocyten  auf  35  Proz.  Entsprechend 
ist  die  relative  Zahl  der  Lymphocyten  erhöht  bis  zu  59  Proz.  Relativ 
vermehrt  erscheinen  besonders  bei  den  letzten  Zählungen  auch  die  eosin- 
ophilen Zellen  (bis  zu  10  Proz.);  freilich  überschreitet  ihre  absolute 
Zahl  nicht  185  pro  cmm,  bleibt  also  unter  der  von  Ehrlich  aufge- 
stellten Grenze  der  normalen  Werte.  Schwerere  Veränderungen  des 
Blutbildes  wurden  nicht  beobachtet,  es  bestanden  nur  geringe  Aniso- 
und  Poikilocytose  und  nur  einmal  bei  allen  Zählungen  fand  sich  ein 
Normoblast. 

Die  Veränderungen  des  Blutbildes  nach  der  Operation  sind  aus  der 
der  Krankengeschichte  beigefügten  Tabelle  zu  ersehen.  Diese  Befunde 
haben  für  die  Frage  nach  den  Folgen  der  Splenektomie  nur  einen  sehr 


Zur  Kenntnis  des  BAirrischen  Symptomkomplexes.  769 

beschränkten  Wert,  denn  sie  sind  kompliziert  durch  den  starken  Blut- 
verlust und  durch  die  peritonitische  Infektion,  worauf  wir  die  Hyper- 
leukocytose  und  die  Ueberschwemmung  des  Blutes  mit  kernhaltigen 
Erythrocyten  jedenfalls  zum  Teil  zurückführen  müssen. 

Der  Blutbefund  unserer  Patientin  zeigt  die  von  Senator  für  den 
Morbus  Banti  als  charakteristisch  angesprochenen  Eigentümlichkeiten: 
erhebliche  Oligochromämie,  geringere  Oligocytämie  und  starke  Leuko- 
penie unter  besonders  starker  Verminderung  der  Lymphocyten.  Stärkere 
Abnahme  des  Hämoglobingehaltes,  geringere  der  Erythrocyten  finden 
sich  bei  den  meisten  Formen  der  Anämie.  Das  umgekehrte  Verhältnis, 
also  eine  Erhöhung  des  Färbeindex,  kommt  wohl  nur  bei  der  perniciösen 
Anämie  vor  und  darf  als  eines  ihrer  charakteristischsten  Zeichen  betrachtet 
werden.  Auch  Banti  erwähnt  bereits,  daß  in  seinen  Fällen  die  Zahl 
der  roten  Blutkörperchen  in  geringerem  Grade  vermindert  war,  als  der 
Hämoglobingehalt. 

Viel  auffälliger  ist  die  starke  Leukopenie.    Außer  bei  gewissen  In- 
fektionskrankheiten wird  sie  bei  der  perniciösen  Anämie  häufig,  gelegent- 
lich auch  bei  anderen  schweren  Anämien  gefunden.  Ehrlich  und  Lazarus 
(27)  sehen  in  ihr  ein  prognostisch  sehr  ungünstiges  Symptom,  während 
'-  V.  Decastello  und  Hofbaüer  (25)  sie  neuerdings  bei  verschiedenen 

'■'  Arten   der  Anämie   ohne   besonders  schlechte  Prognose  fanden.    Man 

führt  sie  im  allgemeinen  auf  eine  verminderte  Bildung  von  weißen 
Blutzellen    infolge    einer    Erschöpfung    des    Knochenmarkes    zurück. 

-  Letztere  können  wir  in  unserem  Falle  sowie  bei  den  sonstigen  Fällen 
von  Milztumor  mit  Leukopenie  wohl  ausschließen. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Konstanz  der  Leukopenie  bei  der  Anaemia 
'-  splenica,  d.  h.   bei   den  mit  einer  erheblichen  Vergrößerung  der  Milz 

einhergehenden  Anämien  ohne  Beteiligung  der  anderen  blutbildenden 
'>  Organe?    Senator  hat  die  Blutbefunde  einer  Anzahl  derartiger  Fälle 

eigener  und  fremder  Beobachtung  zusammengestellt;  wir  selbst  haben 
i  in  der  Literatur  noch  weitere  derartiger  Fälle  gefunden  und  selbst  2 

[  solche  beobachtet,  deren  Krankengeschichten  unten  folgen.    Wir  geben 

^  die  Resultate  in  einer  tabellarischen  Uebersicht  wieder,  wobei  wir,  dem 

-  Beispiel  Senators  folgend,  die  Fälle  von  Anämie  mit  Splenomegalie 
f                   ohne  weitere  Komplikationen  von  denen,  in  welchen  Afifektionen  anderer 
r                    abdomineller  Organe  (Lebercirrhose,  Ascites,  Venenerkrankungen)  nach- 
weislich bestanden,  trennen.    Die  Fälle  sind  in  den  Tabellen  nach  der 
Gesamtzahl  der  Leukocyten  geordnet^).    (Tab.  I  und  II.) 

Wir  finden,  wenn  auch  nicht  konstant,  doch  in  einem  auffallend 


1)  Bei  2  Fällen  (Tab.  11,  4  u.  13)  von  Senator,  bei  welchen  sehr 
zahlreiche  Untersuchungen  angeführt  wurden,  haben  wir  nur  den  Befund  mit 
dem  niedrigsten  Leukocytenwert  angefahrt,  in  Klammem  ist  daneben  die 
Durchschnittszahl   der  Leukocyten   aus   sämtlichen  Zählungen   angegeben. 


770  J.  Lossen, 

hohen  Prozentsatz  (61  bezw.  69  Proz.)  eine  abnorm  geringe  Zahl  der  Leu- 
kocyten  (unter  5000).  Auch  läßt  sich  meistens  ein  relatives  Vorherrschen 
der  Lymphocyten,  also  eine  besonders  starke  Abnahme  der  polynukleären 
Formen  feststellen.  Nur  in  3  Fällen  unter  52  bestand  eine  Leukocytose 
(über  10000). 

Beide  Tabellen  umfassen  sicherlich  Fälle  mit  ganz  verschiedener 
Aetiologie,  die  vielfach  den  gleichen  Blutbefund  darbieten.  Es  sei  nur 
an  den  anscheinend  unkomplizierten  Fall  von  Harris  und  Herzoo, 
an  den  von  Pribram  als  Morbus  Banti  betrachteten  und  an  den  Fall 
von  Hocke  (Chiari),  der  höchst  wahrscheinlich  luetischen  Ursprunges 
ist,  erinnert,  welche  alle  in  gleicher  Weise  eine  hochgradige  Leukopenie 
zeigen.  Ein  durchgreifender  Unterschied  zwischen  den  einfachen  Anä- 
mien mit  Milztumor  und  denen  mit  anderweitigen  Komplikationen  läßt 
sich  jedenfalls  nicht  erkennen. 

Es  scheint  demnach,  daß  eine  Hypertrophie  der  Milz,  gleichgültig 
welchen  Ursprungs,  neben  einer  Abnahme  des  Hämoglobingehaltes  und 
der  Erythrocyten  in  vielen  Fällen  auch  eine  Verminderung  der  farb- 
losen Elemente  bedingt.  Wie  diese  Leukopenie  zustande  kommt, 
können  wir  bei  unseren  gegenwärtigen  Kenntnissen  von  der  hämato* 
poetischen  Funktion  der  Milz  nicht  sagen. 

Ueber  die  Art  und  Weise,  wie  eine  Milzhyperplasie  zur  anämischen 
Blutbeschaffenheit  führt,  können  wir  vorläufig  auch  nur  Vermutungen 
hegen.  Harris  und  Herzoo  (33)  haben  auf  Grund  des  von  ihnen  er- 
hobenen Befundes,  einer  enormen  Wucherung  der  Endothelien  der  venösen 
Kapillaren  der  Milz,  die  Hypothese  aufgestellt,  daß  gerade  diese  Zellen 
für  die  Zerstörung  der  roten  Blutkörperchen  eine  wichtige  Rolle  spielen. 
Sie  fanden  freilich  keine  Zerfallsprodukte  von  Erythrocyten  in  den- 
selben, aber  sie  glauben,  daß  die  Endothelien  vielleicht  durch  Erzeu- 
gung irgend  eines  chemischen  Produktes  zum  Untergang  der  Ery- 
throcyten beitragen,  und  so  ihre  Hyperplasie  zu  anämischen  Zuständen 
führe.  Diese  Hypothese  hat  manches  Bestechende,  doch  muß  man  be- 
rücksichtigen, daß  in  dem  Blutbefund  bei  Anaemia  splenica  viel  we- 
niger die  Verminderung  der  Erythrocyten  als  die  Abnahme  des  Hä- 
moglobins im  Vordergrunde  steht,  ferner,  daß  der  von  Hi^nRis  und 
Herzog  erhobene  oder  ein  ähnlicher  in  gleicher  Weise  zu  deutender 
Befund  nur  von  wenigen  Autoren  [Borissowa  (14) ,  Picou  und 
Ramond  (48)]  festgestellt  wurde,  während  in  anderen  Fällen  andere 
anatomische  Veränderungen  der  Milz  bei  gleichem  Blutbefund  gefunden 
wurden. 

Noch  dunkler  erscheinen  diese  Verhältnisse,  wenn  wir  berücksich- 
tigen, daß,  wie  aus  obigen  Tabellen  hervorgeht,  die  Leukopenie  bei 
den  mit  Milztumor  einhergehenden  Anämien  durchaus  kein  konstanter, 
wenn  auch  ein  sehr  häufiger  Befund  ist,  und  daß  es  endlich  Fälle  von 
anscheinend  primärem  Milztumor  gibt,   in    denen   wir  weder  eine  Leu- 


Zar  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes. 


771 


d 
< 


a 
o 


o 


J 


^ 
^ 


o 


a 

OD 

I 


108 


OS 

H 


•11J089O 


§1 


zi«K 


I 


CO 

I 


34 


i  § 

'S    'S 


-i 


I  ^ 


s 


I 


O 


-i 


'S 

I 


0+     «HD 
9>       lO 


08 

I 


5 

'Sri 

1^ 


IM      I      I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I      I  I  I  I  I 


IS-I  I 


I  ^*eo  1^111 


I    I    I    I    I    I    I    I    I 


o 


coaTcvT 

jr^ 

CMCNJC4    ' 


I  I 


I  I  I  I  I  I 


INI 


I  I 


Ig835a 


I  I  I  I  i  I  I  I  I 


I 

OD 

I 

0 


^ 


^ 


Es] 


I  I 


I  I  I  I  I  I  I  I 


C^lOi^ 


■0.01 


SSS  1  IgJS 


>-r.:f^« 


s 


xepai 


o     oo     ooooo     o 


I  I 


'  00*00' 


00    '  rHOOOOOO 


Od 

o 


S    gS  IS8SIS5    IS     I  I  I  I  ISSlg^ 


s 


lOCM  I  t>- lÖ  »O  10  t- CO  « 


s 


IS 


M 

^ 


•^  »-*  Q -^  »O  »^  "!0  CO  OD      i-H 

r- 1>  35 1>- 00  cg  kC  dg  o  CO   c- 


^j^C^^^ö^  :h^ 


»QO^'^cS^OiQ« 


$^:^ör^^coö^cococo 


coioiOQO 
1-1  Jbt-ocvj 


C4 


Soo88qSi>CO        C4 
CO  r- CO  CO  CO  CO  CM  CD        f-H 
GM        ^COOO'^'^CO^CM 


>os 


5  !>  ^  CO  CO  dö  1-H 


O0ioo^;or^^r-ic^c 


OOOOCN^OOOO^COOO^^^^OOCOOOOO  C0^7^*2^* 


GM  "»^  CM  CO  00 


772 


J.  Lossen, 


I 


6 


o 

^   'S 


^  2 

TS 


a 

o 

a 

8 
•a 

JSi 

Gl 

CO 

es 

'a 


a 


I 

c 
0 


q  1^  3      ^ 

ä  ='jt  S  .    ä 

■Ü-  «  ■*       f^    M 

C  E  fc    b£'U 

S  -  ö  J-'    E 


123? 


^>^ 


^ 


Hi 


Hi 

S 


CH- 


1^ 


I   I   I  ,t^   I 


I    I 


I    2^8K 


I  I 


o 


I  I 


CO  CO  tO  CC  IC?  JO  CO 


u 


C5, 


^ 


CO  CO  rjTcO  o  r- 1>  CO 


I  I 


s 


Ȁ  25  00  iC  CO  O  lO 


zdpai 


o 


^ 

w 


?2S      U 


o 


s 


o 


IC  :o  rc  «r:  _ 


oo'ooooo  o 


I  Ol 

o 


S  coSco-^T*«?«  ^       o  5 


8 


00*^  CSJ 


00 
CO 


"^  COOOC^O^COt*   CJ  ^ 


O  1>-C0  r^-QO^Q  Q 

CO  00  •-•  O  ÖD  Ä  CO  00   Ä 

•^ cocococoooysco  oj 


^ 


thoo       o]  (N  1-^  cm  «-H  cv)  cm  Gl       ^W 


•OK 


CO  o 


I 


^ 


5 


PS 

I 


Zur  Kenntnia  des  BAMTischen  Symptomkomplexes. 


773 


ii  11 

IM  si 


4   I 


i^^s  .IIa 

55  00  0       ^P*" 


12-' 


TS   .- 

13  S.^ 


•II  ö 


*0 
CD 


"^1 


:?i 


1 1 


Sä 


I  I 


lll 


1: 


QQ 


1          II       1         s-^  1     1 1  1 II II     II       1 

1              II         1            S-^-  1       1  11  1  1  1  1       II         1 

1           II       s         ^-n- 1     8?  1  II 1 1 1      1    1       1 

1                  M           o»               "'S-  1         1  1    1  1  1  1  1         II            1 

I                           II                 ^                       ggo.             1    1     1    1    1    1    1            gl                   1 

O                                        O         O                      '                                        i-lOO                   rHO    O     '       '       •       '                    O         O                          r-1 

S                SSI                5S2       sf  2  1  1  II        !§    S$          f 

el.^^        ^ 


i>5^  ior-'-<  »-HC 
^ri  005COCOC 


8 


S 


(M 

O      10 


S 

00 


Sco 


>0   lOOi'^C 


505  '^  00  C 


8    8 

't        CM 


«910  od>o      90:0  oooMio^ 


H<       kO 


kO 


s 


S    i- 

£        OS 


OQ 


1. 


6 


O  ^  CM  00  rj<  IC 

»-I  1-H  rH  *H  rH  »-H 

IClttetl.  a.  d.  Orenzfebieten  d.  Medixin  n.  Chlrargie.    XIIL  Bd. 


50 


774 


J.  Lossen, 


MM 


I 


s 


I  I 


I    I 


I  I  I 


I  I 


18 


I     ~ 


I  I 


I    I 


I  I  I 


I       I 


XdpüT 


I    I    I 


^M 


O    '    OO 


00 


fe 

§ 


o      o 


03 


& 


e  I  SS 


! 

3 


les  1I5  S  S 


s? 


3üS  S  u 


'2  E; 

I  I8S 


S 


■  jT!   '■F44   .« 


S3EgS§ 


_^  ^    gj  f»? 


2 


s 

■TM 


'^  CO  gQ 


'^ 
-* 


PS 


55 


^    £ 


Ire 


•ox 


5 


-_-      i 


0ä 


^  SS 

S  ?s  « 

K  2  5 

£  :ä  QQ 


Cz4 


i  i 


Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  775 

kopenie  noch  eine  Abnahme  der  Erjthrocyten  finden,  die  im  Gegen- 
teil mit  einer  Hyperglobulie  einhergehen. 

Die  günstigen  Resultate  der  Splenektomie  bei  der  einfachen  unkom- 
plizierten Anaemia  splenica  sprechen  entschieden  für  die  Abhängigkeit  der 
anämischen  Blutbeschaffenheit  der  Milzaffektion.  Wenn  nun  auch  in  den 
mit  Veränderungen  anderer  Organe  einhergehenden  Fällen  von  Spleno- 
megalie ein  günstiger  Erfolg  erzielt  wurde,  so  müssen  wir  auch  hier  die 
Blutveränderung  auf  die  Milzerkrankung  beziehen.  Vorbedingung  für 
die  Operation  ist,  daß  die  Veränderungen  anderer  Organe  nicht  so 
hochgradig  sind,  daß  durch  sie  schwere  Störungen  verursacht  werden. 
Nach  Banti  ist  die  Entfernung  der  Milz  bei  Splenomegalie  mit  ausge- 
sprochener Lebercirrhose  —  im  ausgebildeten  dritten  Stadium  des  Morbus 
Banti  —  zwecklos,  hingegen  wurden  bei  geringen  Veränderungen  in 
der  Leber  noch  bedeutende  Besserungen  erzielt,  wobei  es  allerdings 
noch  unsicher  ist,  ob  es  sich  um  wirkliche  Dauerheilungen  handelt. 
Neuerdings  hat  Tansini  (58)  in  solchen  Fällen  die  TALMAsche  Operation 
in  Verbindung  mit  der  Splenektomie  erfolgreich  angewandt. 

Auf  die  Schwierigkeiten  und  Gefahren,  welche  für  die  Splenek- 
tomie durch  hochgradige  Affektion  der  venösen  Gefäße  entstehen,  ist 
bereits  oben  aufmerksam  gemacht. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig,  auf  die  2  Fälle  von  Anaemia  splenica  mit 
Leukopenie  unserer  eigenen  Beobachtung,  deren  Blutbefund  wir  in  den 
Tabellen  notiert  haben,  einzugehen  und  ihre  Krankengeschichte  hier 
kurz  wiederzugeben. 

Hermann  B.,  15  Jahre,  Arbeitersohn,  aufgenommen  5.  März  1903, 
entlassen  22.  Mai  1903. 

Die  Eltern  und  7  Geschwister  leben  und  sind  gesund;  1  Bruder 
starb  mit  1  Jahre  an  unbekannter  Krankheit.  Früh-  oder  Fehlgeburten 
hat  die  Mutter  nicht  durchgemacht.  Patient  lernte  mit  1^/^  Jahren 
laufen.  Als  Kind  soll  er  kränklich  gewesen  sein,  klagte  häufig  über 
Kopfschmerzen  und  Schmerzen  im  Leib  und  litt  oft  an  schweren  Diar- 
rhöen. Blut  wurde  im  Stuhl  nie  bemerkt.  Seit  3  Jahren  wurden  die  Leib- 
schmerzen häufiger  und  stärker;  sie  stellten  sich  meist  1 — 2  Stunden  nach 
dem  Essen  ein.  Nach  den  Schmerzanf^llen,  die  hauptsächlich  in  der 
linken  Bauchseite  empfunden  wurden,  soll  immer  diarrhoischer  Stuhl  er- 
folgt sein.  Obwohl  der  Appetit  immer  gut  war,  kam  Patient  doch  mehr 
und  mehr  herunter.  Vor  3  Wochen  bemerkte  der  Vater  in  der  1.  Ober- 
bauchregion eine  harte  Geschwulst,  nachdem  Patient  schon  längere  Zeit 
über  Schmerzen  dort  geklagt  hatte. 

Status  praesens:  Magerer  Knabe  von  seinem  Alter  entsprechender 
Größe;  auffallend  infantiler  Habitus;  Genitalien  klein,  ohne  Behaarung. 
Haut  sehr  blaß,  keine  Oedeme,  keine  nennenswerten  Lymphdrüsen- 
schwellungen. Geringer  rhachitischer  Rosenkranz.  Lungenbefund  normal, 
Herz  von  normaler  Größe,  über  allen  Ostien  ein  lautes  systolisches  Geräusch, 
am  lautesten  an  der  Pulmonalis. 

Abdomen  sehr  breit,  mäßig  aufgetrieben,  besonders  die  1.  obere 
Partie.    Hier  fühlt  man  eine  große,  derbe  Resistenz  mit  ziem- 


776  J.  Lossen, 

lieh  stumpfem  Bandy  die  unter  dem  1.  Rippenbogen  hervor- 
kommt. Sie  überragt  medialwärtsdieMammillarlinie  um 
2^|j  Fingerbreiten,  nach  unten  reicht  sie  2  Finger  unter 
die  Nabelhorizontale,  nach  hinten  läßt  sie  sich  nicht  deut- 
lich abgrenzen.  Der  stumpfe  Rand  ist  nach  rechts  und  unten  konvex 
und  zeigt  am  unteren  Ende  eine  stärkere  Vorbuchtung.  Der  Tumor 
fühlt  sich  derb  an,  die  Oberfläche  glatt.  Perkussionsschall  über  ihm  ge- 
dämpft, die  Dämpfung  setzt  sich  auf  die  seitliche  Thoraxwand  fort  und 
reicht  in  der  mittleren  Azillarlinie  bis  zum  unteren  Band  der  6.  C. 
Der  größte  Durchmesser  mißt  21  cm,  der  tiefste  Punkt  des  Tumors  ist 
14  cm  vom  Rippenbogen  entfernt,  die  Leber  ist  nicht  fdhlbar,  ihre 
Dämpfung  nicht  vergrößert.  Ueber  dem  übrigen  Abdomen  ist  der  Schall 
in  der  Mitte  laut  tympanitisch,  über  den  abhängigen  unteren  und  rechts- 
seitigen Partien  verkürzt. 

Harn  hellgelb,  klar,  1012,  kein  Albumen,  kein  Zucker,  Indikan-  und 
Diazoreaktion  negativ.  Stuhl  flüssig^  hellgelb  mit  schleimigen  Bei- 
mengungen, stark  alkalisch.  Mikroskopisch:  Tripelphosphatkristalle  und 
Trichocephaluseier. 

Während  der  ersten  Wochen  oft  Bauchschmerzen,  4 — ömal  täglich 
diarrhoische  Stühle;  auf  Tannalbin  Besserung,  schließlich  einmal  täglich 
dickbreiiger  Stuhl.  Mehrere  Wochen  Injektionen  von  Atoxyl  0,02 — 0,1 
p.  die.  Ernährungszustand  bessert  sich  wesentlich,  Gewichtszunahme  von 
40,4  auf  46  kg. 

Dieser  Fall  bietet  im  Blutbefund  (s.  Tab.  I  No.  2)  weitgehende  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  ersten.  Die  Anämie  ist  geringer,  die  Leukopenie  noch 
hochgradiger.  Sie  betriflFt  die  einzelnen  Leukocytenarten  in  annähernd 
gleicher  Weise.  Die  Verdauungsstörungen  legen  uns  den  Gedanken  nahe, 
daß  vielleicht  auch  hier  neben  dem  Milztumor  Gefäßveränderungen,  die 
zu  Zirkulationsstörungen  geführt  haben,  bestehen.  Sichere  Anhaltspunkte 
dafür  konnten  durch  die  Untersuchung  allerdings  nicht  ermittelt  werden. 
Auffallend  ist  der  infantile  Habitus  des  Patienten  und  die  mangelhafte 
Ausbildung  der  Genitalien.  Wir  erinnern  uns,  daß  bei  unserer  ersten 
Patientin  die  Menstruation  im  Alter  von  24  Jahren  noch  nicht  auf- 
getreten war. 

Anna  H.,  39  J.,  Besitzersfrau,  aufgenommen  13.  Juni  1903,  entlassen 
11.  Juli  1903. 

Die  Eltern  und  5  Geschwister  leben  und  sind  gesund,  ebenso  der 
Ehemann  und  1  Kind;  2  Kiuder  starben  einige  Tage  nach  der  Geburt. 
Aborte  hat  Pat.  nicht  durchgemacht.  Keine  ernsteren  Erkrankungen,  nie 
Malaria.  Während  der  letzten  Jahre  häufig  Magenbeschwerden;  während 
1 — 2  Wochen  „wehes  Gefühl"  in  der  Magengegend,  häufig  Aufstoßen, 
kein  Erbrechen.  Geringer  Appetit,  zunehmende  Schwäche.  Seit  14  Tagen 
wieder  die  gleichen  Beschwerden.  Seit  5  Jahren  harte,  nicht  empfindliche 
Geschwulst  in  der  linken  oberen  Bauchregion,  die  allmählich  größer  wurde, 
ohne  Beschwerden  zu  verursachen.  Während  des  letzten  Jahres  hin  und 
wieder  Nasenbluten,  mitunter  leichtes  Herzklopfen.  Periode  regelmäßig, 
keine  Fiebererscheinungen. 


Zar  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes.  777 

Status :  Elleine  magere  Frau  von  schwächlichem  Körperbau.  Haut  blaß, 
mit  einem  leichten  Stich  ins  Gelbliche.  Sclerae  nicht  deutlich  ikterisch. 
An  beiden  Unterschenkeln  Varicen,  die  Leistendrüsen  links  etwas  ver- 
größert, derb,  sonst  keine  nennenswerten  Drüsenschwellungen.  Lungen- 
befund normal,  an  der  Herzspitze  ein  weiches,  systolisches  Geräusch. 

Abdomen :  Schlaffe  Bauchdecken,  die  unteren  Bauchpartien  etwas  aufge- 
trieben, die  Yorwölbung  ist  links  stärker  als  rechts  und  setzt  sich  hier, 
nach  oben  flacher  werdend,  bis  zum  Bippenbogen  fort.  Dementsprechend 
ftihlt  man  eine  große  derbe,  nicht  druckempfindliche  Resi- 
stenz, die  sich  sofort  durch  mehrere  flache  Incisuren  als 
die  Milz  erweist.  Sie  erstreckt  sich  nach  rechts  bis  zur 
Mittellinie;  ihr  oberer  Pol  bleibt  zwei  Finger  breit  von 
der  Symphyse  entfernt;  nach  oben  reicht  sie  unter  den 
Bippenbogen,  nach  hinten  bis  in  die  Lendengegend.  Bei  der 
Atmung  ist  sie  nur  wenig  verschieblich.  An  diese  Resistenz  schließt  sich 
nach  oben  eine  Dämpfung  an  der  seitlichen  Thoraxwand  an,  die  bis  zur 
8.  Bippe  reicht.  Der  untere  Leberrand  ist  in  der  Mammillar- 
linie  1  Finger  unterhalb  des  Bippenbogens  fühlbar,  ziem- 
lich scharf,  die  Gallenblase  ist  nicht  palpabel.  Dämpfung 
dementsprechend  vergrößert. 

Harn  spärlich,  rotgelb,  mit  reichlichem  ziegelmehlartigen  Sediment, 
Hauch  Albumen,  kein  Zucker,  mäßig  reichlich  Indikan.  Ln  Sediment 
keine  Nierenbestandteile. 

Während  des  klinischen  Aufenthaltes  betrug  die  tägliche  Hammenge 
800 — 1000  ccm.  Der  Urin  enthielt  nie  Gallenfarbstoff,  aber 
reichlich  Urobilin.  Der  Stuhlgang  erfolgte  1 — 2mal  täglich,  war 
von  normaler  Beschaffenheit.  Die  Behandlung  bestand  in  Darreichung  von 
Liqu.  Natr.  arsen.,  dann  in  Injektionen  von  Atoxyl  bis  zu  0,2  p.  die.  Eine 
Aenderung  des  Allgemeinbeflndens  trat  nicht  ein,  das  Körpergewicht  blieb 
konstant.     Die  Splenektomie  lehnte  Patientin  ab. 

Dieser  Fall  zeigt  eine  beträchtliche  Anämie.  Die  Leukopenie  erreicht 
keinen  so  hohen  Grad  wie  bei  den  beiden  anderen,  es  besteht  geringe 
relative  Lymphocytose  (s.  Tab.  II  No.  12).  Hier  können  wir  wohl  mit 
Sicherheit  annehmen,  daß  neben  dem  Milztumor  eine  Affektion  der 
Leber  besteht.  Sie  ist  etwas  vergrößert,  der  Harn  ist  spärlich  und 
enthält  neben  reichlichen  Uraten  Urobilin.  Die  Gründe,  die  in  solchen 
Fällen  gegen  die  Annahme  einer  primären  Lebercirrhose  angeführt 
werden,  sind:  die  außergewöhnliche  Größe  und  das  lange  Bestehen 
des  Milztumors.  Wir  hätten  es  also  mit  einer  BANTischen  Krank- 
heit im  zweiten  Stadium  zu  tun.  Wir  haben  auf  Grund  eigener  und 
anderer  Beobachtungen  oben  besprochen,  daß  für  eine  große  An- 
zahl derartiger  Fälle  die  Deutung  Bantis  nicht  zutrifft,  daß  es  sich 
vielmehr  um  koordinierte  Affektionen  der  Milz,  der  Leber  und  der 
venösen  Gefäße  des  Pfortadergebietes  handelt,  die  ihre  Entstehung 
einer  gemeinsamen,  meistens  unbekannten  Ursache  verdanken.  Auch 
in  diesem  FaUe  finden  wir  nichts,  was  für  eine  syphilitische  Aetiologie 
spricht." 


778  J.  Lossen, 

Meinem  verehrten  Lehrer,  Herrn  Geheimrat  Prof.  Dr.  Lichtheim, 
spreche  ich  für  die  Ueberlassung  des  Materials  zu  dieser  Arbeit  und 
das  freundliche  Interesse,  das  er  derselben  entgegenbrachte,  meinen 
verbindlichsten  Dank  aus. 


Literatur. 

1)  Albu,   Sammelreferat.     Dtsch.  med.  Wochenschr.,   1904,  No.  19  u.  20. 

2)  Bahrdt,  Ueber  die  Unmöglichkeit,  eine  Bantische  Krankheit  in  ihrem 
ersten  Stadium  zu  diagnostizieren.  Münch.  med.  Woohenschr.,  1903, 
No.  21. 

3)  Banti,  L'anemia  splenica.     Firenze  1882. 

4)  — ,  La  splenomegalia  con  cii-rosi  epatica.  Lo  Sperimentale,  Sez.  biol., 
1894,  Fase.  5.  e  6. 

5)  — ,  Splenomegalie  mit  Lebercirrhose.  Zibolbrs  Beitr.  z.  path.  Anat., 
Bd.  24,  1898,  p.  21. 

6)  — ,  La  Splenomegalie  avec  cirrhose  du  foie.     Sem.  m6d.,  1894. 

7)  — ,  Nuovi  studi  suUa  splenomegalia  con  cirrosi  epat.  Policlin.,  V,  5, 
1898,  p.  104.     Ref,  Schmidts  Jahrb.,  Bd.  264,  p.  139. 

8)  — ,  Riforma  med.,  1901,  No.  öl — 53.     Citiert  nach  Gavazzaki. 

9)  Baybr,  Statistisches  tlber  Splenektomie  etc.  Münch.  med.  Wochenschr., 
1904,  No.  3. 

10)  Bbnybnuti,  La  Splenomegalie  primit.     Sem.  m^d.,  1898,  p.  414. 

11)  Bbssbl-Haoen,   Ein    Beitrag   zur  Milzchirurgie.     Arch.   f.   klin.  Chir., 
Bd.  62,  p.  188. 

12)  BiERBNS   DB   Haan,   Alimentäre  Glykosurie   bei  Leberkranken.     Boas' 
Arch  f.  Verdauungskrankheiten,  Bd.  4,  1898,  p.  7. 

13)  BoNARDi,  Gazz.  degli  ospedali,  1897. 

14)  BoRissowA,    Beiträge    zur    Kenntnis    der   Bantischen    Krankheit    und 
Splenomegalie.     Virchows  Arch.,  Bd.  172,  1903,  p.  108. 

15)  BoRRMANN,    Beiträge    zur    Thrombose   des   Pfortaderstammes.      Dtsch. 
Arch.  f.  kÜD.  Med.,  Bd.  59,  1897,  p.  283. 

16)  Breuer,  Wien.  klin.  Wochenschr.,  1902,  No.  33. 

17)  BuGCo  e  Bocci,  Malattia  del  Banti  etc.   Bevista  olin.  med.,  1901.     B.ef. 
ViRCHow-HiRscH,  1901,  II,  p.  262. 

18)  BuDDAY,   lieber   Sklerose   der  Pfortader.     Centralbl.  f.  allgem.  Pathol. 
u.  path.  Anat.,  Bd.  14,  1903,  p.  161. 

19)  Casarini,  Casist.  clin.     Modena,  1897,  p.  30. 

20)  Cavazzani,  Sopra  un  caso  di  splenomegalia  con  cirrosi  epatic.    Biforma 
med.,  No.  267  u.  268. 

21)  — ,   Sulla   splenomegalia  con  cirros.  epat.    H  Morgagni,  1900,  No.  11. 

22)  — ,   Del  alcune  questioni  riguardanti  la  malattia   del  Banti.    Biforma 
med..  Anno  17,  1901,  No.  102. 

23)  Chiari,    [Jeber   Morbus   Banti.     Prager  medizin.  Wochenschrift,    1902, 
No.  24. 

24)  OuRSCHMANN,  Müuch.  med.  Wochenschr.,  1903,  No.  12. 

25)  V.  Dboastbllo  u.  Hofbaubr,  Zur  Klinik  der  leukopeuischen  Anämien. 
Zeitschr.  f.  klin.  Med.,  Bd.  39,  1900,  p.  488. 

26)  V.  Ebner,  v.  Köllickbrs  Handbuch  der  Gewebelehre,  Bd.  3,  1. 


Zur  Kenntnis  des  BAKTischen  Symptomkomplezes.  779 

27)  Ehrlich  u.  Lazarus,  Normale  und  pathologische  Histologie  des  Blutes, 
Nothnagels  spezielle  Pathol.  u.  Therap.,  Bd.  8,  Heft  1,  1. 

28)  Ewald,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1901,  No.  47. 

29)  Fichtner,  Zur  Kenntnis  der  Bantischen  Krankheit.  Münch.  med. 
Wochenschr.,  1903,  No.  21. 

30)  Frascani  Gazz.  med.  di  Torino,  1882.     (Cit  nach  Sippy  1.  c.) 

31)  Galvagni,  E.,  Sopra  un  caso  di  malattia  di  Banti  in  una  geofaga. 
Clin,  med.,  Anno  18,  No.  17. 

32)  Grbtsbl,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1866. 

33)  Harris  u.  Hkrzoo,  Ueber  Splenektomie  bei  Splenomegalie.  Dtsch. 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  59,  p.  667. 

34)  Hocke,  Ueber  ein  an  den  Bantischen  Symptomkomplex  erinnerndes 
Krankheitsbild  etc.     Berl.  klin.  Wochenschr.,  1902,  No.  16. 

35)  Jordan,  Die  Ezstirpation  der  Milz,  ihre  Indikationen  und  ihre  Resul- 
tate.    Mitt.  a,  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  11,  1903,  p.  407. 

36)  Kast,  Wien.  med.  Wochenschr.,  1903. 

37)  Kausch,  Ein  Fall  von  Bantischer  Krankheit  mit  Milzexstirpation. 
Jahresber.  d.  schles.  Gesellsch.  f.  vaterl.  Knltur,  1902,  p.  286. 

38)  Kühn,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1902,  No.  2. 

39)  Lbgnani,  Un  caso  di  malattia  del  Banti  guaritto  con  esportazione 
della  milza.     Clin.  med.  Ital.,  Ott.  1900. 

40)  Lbnhoff,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1901,  No.  46. 

41)  Litten,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1901,  No.  46  u.  47. 

42)  Maragliano,  Spien omegalia  primit.  con  anemia.  Gaz.  degli  osped., 
1898.    (Ref.  Centralbl.  f.  innere  Med.,  1899,  p.  389.) 

43)  Mabchand,  Zur  Kenntnis  der  sogenannten  Bantischen  Krankheit  und 
der  Anaemia  spien.    Münch.  med.  Wochenschr.,  1903,  p.  463. 

44)  MoHB,  Ein  Beitrag  zur  myasthen.  Paralyse.  Berl.  klin.  Wochenschr., 
1903,  No.  46. 

45)  Osler,  Chron.  splenic  enlargement  recurring  gastrointestinal  haemor- 
rhages.     Edinb.  med.  Joum.,  1899,  p.  441. 

46)  — ,  Americ.  Joum.  of.  med.  sc,  1900,  Jan. 

47)  Obstbrreich,  Milzschwellung  bei  Lebercirrhose.  Virohows  Arch.,  Bd. 
142,  1895,  p.  285. 

48)  Picou  et  B.AMOND,  Splenomegalie  primitive;  epith^lioma  de  la  rate. 
Arch.  de  m^d.  exper.,  T.  8,  1896,  p.  168. 

49)  PfiiBRAM,  Ueber  Bantische  Krankheit.  Prag.  med.  Wochenschr.,  1902, 
No.  9. 

50)  RiEDBR,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Leukocytose.     Leipzig  1892. 

51)  RiNALDi,  Contributo  alla  conoscenza  della  splenomegalia  con  cirrosi 
epat.  Riforma  med.,  1897.  (Ref.  Centralbl.  f.  innere  Med.,  1898, 
p.  328.) 

52)  RoGBR,  Presse  m^dic,  1903,  No.  59.  (Ref.  Dtsch.  Medizinalztg.,  Bd. 
25,  1904,  No.  11.) 

63)  Saxbr,  Zur  Pathologie  des  Pfortaderkreislaufs.  Centralbl.  f.  allgem. 
Path.  u.  pathol.  Anat.,  Bd.  13,  1902,  p.  577. 

54)  Sbnator,  Ueber  Anaemia  spien,  mit  Ascites.  Berl.  klin.  Wochenschr., 
1901,  No.  46. 

55)  SiPPY,  Splenica  pseudoleucaemia  (Anaemia  splenica,  Splenomegalie  pri- 
mitive).    Amer.  Joum.  of  the  med.  sc.  Vol.  118,  1899,  p.  428. 

56)  V.  Stark,  Münch.  med.  Wochenschr.,  1908,  No.  36. 

57)  Strümpbll,  Ein  Fall  von  Anaemia  splenica.  Archiv  für  Heilkunde, 
Bd.  17  u.  18. 


780     J.  Lossen,  Zur  Kenntnis  des  BANTischen  Symptomkomplexes. 

58)  Tansini,  The  Lancet,  1900  u.  1902.     (Cit.  nach  Albü  L  c.) 

59)  Tbkbilb,  Un  caso  di  splenomegalia  primit.  Gazz.  d.  osped.,  1896^ 
No.  86.     (Ref.  Centralbl.  f.  innere  Med.,  1897,  p.  126.) 

60)  Umber,  Ueber  Bantische  Krankheit  Münch.  med.  Wochenschr.^ 
1904,  No.  9. 

61)  Wbinbbrobb,  Wien.  med.  Wochenschr.,  1902. 

62)  Wbnthwobth,  Assoc.  of  Anaemia  with  chronic  enlargement  of  the 
Spien.  Boston  med.  Joum.,  Oct.  1901.  (Ref. :  Virchow-Hirsch  J.-B.^ 
1901,  II,  p.  42.) 

63)  Ztfkin,  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Anaemia  splenica.  Berl.  klin. 
Wochenschr.,  1903,  No.  42.  u.  43. 


Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Kiel. 


Nachdruck  verboten. 

XXIX. 

lieber  Massenblutungen  aus  gesunden  und 
kranken  Meren. 

Von 

Dr.  Rudolf  Stich, 

ehem.  Assistenten  der  Klinik, 
Assistent  der  chirurgischen  Klinik  in  Königsberg. 


Trotz  der  zahlreichen  VeröflFentlichungen  der  letzten  Jahre  über 
renale  Hämaturien,  Nephralgien  und  Koliken  bei  anscheinend  gesunden 
Nieren  ist  noch  immer  keine  volle  Klarheit  darüber  geschaffen,  was  die 
Ursache  dieser  Blutungen  sei.  Die  gewöhnlichen  Ursachen,  Traumen, 
Steine,  Tumoren,  Tuberkulose  lassen  sich  ausschließen,  auch  von  den 
selteneren  Ursachen,  wie  Parasiten,  Thrombose  der  Nierengefäße,  para- 
sitäre oder  tropische  Chlorose  und  Hämaturie,  Aneurysma  der  Nieren- 
arterien kann  keine  Rede  sein,  die  einwandsfrei  den  höher  gelegenen 
Harnwegen  entstammende  renale  bezw.  uretero-pelvine  Flüssigkeit  ist 
ein  Gemenge  von  reinem  Blut  und  Harn,  irgendwelche  sonstigen  patho- 
logischen Bestandteile  fehlen :  was  sollen  wir  diagnostizieren  ?  Essentielle 
Hämaturie?  Das  befriedigt  nicht.  Wir  wollen  eben  eine  Erklärung  für 
die  Blutung.  So  wurden  mit  großem  Scharfsinn  an  der  Hand  lehrreicher 
Fälle  theoretische  Erwägungen  angestellt,  wie  die  Entstehung  der 
Nierenblutung  hier  zu  deuten  sei.  Mit  oder  auch  ohne  ausgesprochene 
Bluteranamnese  nahm  man,  nachdem  Senator  ^)  unter  Mitteilung  eines 
Falles  den  Weg  dazu  gewiesen,  an,  es  bestehe  noch  eine  besondere,  auf 
die  Niere  beschränkte  Neigung  zu  Blutungen,  und  gab  dieser  hypo- 
thetischen Neigung  den  Namen  einer  „renalen  Hämophilie".  Andere, 
namentlich  französische  Kliniker,  hielten  in  Analogie  der  Fälle  von 
Sabatier2)  und  Legüeu^)  nervöse  Vorgänge  für  das  auslösende 


1)  Senator,  Berliner  klinische  Wochenschr.  1891,  No.  1. 

2)  Sabatibb,  Revue  de  Chirurgie,  1889,  No.  1. 

3)  Legubu,  Ann.  des  mal.  des  org.  g^üito-urin.  Vol.  9,  1891,  8,  9,  11. 


782  Rudolf  Stich, 

Moment.  Aehnliche  Ursachen  vermutete  Elemperer^),  der  von  einer 
^angioneurotischen  Hämaturie"  spricht. 

Eine  kritische  Beleuchtung  der  Frage  ist  in  einem  Bericht 
an  die  französische  Gesellschaft  für  Urologie  im  Jahre  1899  von  A.  Mal- 
herbe und  F.  Legueu*)  geliefert  worden.  Sie  teilen  die  essentiellen 
Hämaturien  ein  in  1)  die  rein  klinischen  Beobachtungen,  2)  die  ana- 
tomisch verifizierten  Beobachtungen  mit  und  3)  diejenigen  ohne  erkenn- 
bare Veränderungen.  Nur  die  dritte  Gruppe  verdient  den  Namen  der 
essentiellen  Hämaturie,  von  welcher  aber  so  wenig  sichere  Beispiele 
vorliegen,  daß  die  Referenten  zu  dem  Schlüsse  kommen :  Es  gibt  keine 
essentielle  Hämaturie.  Alle  Hämaturien  sind  symptomatisch,  sie  lassen 
sich  auf  allgemeine  (toxische  oder  infektiöse)  oder  lokale  Ursachen  zu- 
rückführen. Schon  vorher  hatte  sich  Albarran^)  gegen  das  häufige 
Diagnostizieren  einer  renalen  Hämophilie  gewandt  und  noch  schärfer 
ging  er  mit  der  Nephralgie  h^maturique  seiner  Landsleute  und  mit  den 
angioneurotischen  Nierenblutungen  ins  Gericht.  Nur  wenige  Fälle  hielten 
seiner  strengen  Kritik  stand. 

In  Deutschland  hat  Israel^)  wiederholt  und  eindringlich  davor 
gewarnt,  in  solchen  dunklen  Fällen  von  Nierenblutungen  und  Nieren- 
koliken selbst  nach  makroskopischer  Freilegung  der  Niere  durch  die 
Nephrotomie  anzunehmen,  die  Blutung  erfolge  aus  unveränderten 
Nieren,  weil  das  unbewaffnete  Auge  keine  pathologischen  Zustände  an 
den  Organen  erkennen  konnte.  Auf  Grund  von  10-jährigen  Beobach- 
tungen kam  er  zu  dem  gleichen  Schlüsse  wie  die  französischen  Autoren, 
daß  der  überwiegenden  Mehrzahl  von  diesen  einseitigen  Koliken  oder 
einseitigen  Blutungen  oder  der  Kombination  beider  Erscheinungen  ent- 
zündliche Prozesse  zu  Grunde  liegen. 

Die  Konsequenzen  aus  diesen  Erfahrungen  ziehend,  sahen  alsbald 
manche  Chirurgen,  besonders  des  Auslandes,  die  akute  und  chronische 
Nierenentzündung  bereits  vor  dem  Forum  der  Chirurgen.  Diesen 
^chirurgischen"  Anschauungen  ist  in  neuester  Zeit  von  interner  Seite, 
namentlich  von  Pel^)  und  Senator^)  scharf  widersprochen  worden. 
Beide  sind  der  Ansicht,  daß  Israel  die  Bedeutung  der  ^kleinen,  nur 
mikroskopisch  wahrnehmbaren  Entzündungsherdchen"  überschätze.    Pel 


1)  Klbmpbrbr,  Deutsche  med.  Wochenachr.  1897,  No.  9  und  10  und 
Vereinsbeilage  No.  6. 

2)  A.  Malhbrbe  et  F.  Legueu,  Gaz.  hebd.  de  m^d.  et  de  chir.,    Oct. 
18Ö9  (Centralbl.  f.  Chir.,  1900). 

3)  Annal.  des  mal.  des  organes  g6nito-urin.,  1898,  No.  5;  Centralbl.  f. 
Chirurgie,  1898. 

4)  Mitteilungen    a.   d.   Grenzgebieten  der  Med.  u.  Chir.  1900,  p.  471. 

5)  Pbl,  P.  K.,  Mitteilungen  a.  d.  Grenzgebieten  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  8, 
1901,  p.  443. 

6)  Senatob,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1902,  No.  8. 


Ueber  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        783 

weist  darauf  hin,  wie  selten  man,  wenigstens  im  reiferen  Lebensalter, 
ganz  intakte  Nieren  findet.  Er  hält  es  bei  manchen  von  Israels  Fällen 
fQr  möglich,  daß  trotz  aller  negativen  Operationsbefunde  doch  eine 
Lithiasis  vorliegen  könne,  fest  überzeugt,  daß  sehr  kristallreicher  Harn, 
besonders  solcher  mit  den  scharfen  Oxalatkristallen,  auch  ohne  Stein- 
bildung im  Stande  sei,  allerheftigste  Kolikschmerzen  mit  Ureterkrampf, 
Blutung  und  Erscheinungen  von  Nierenreizung  zu  verursachen.  Nur 
in  den  Fällen  von  akuter  oder  akut  exacerbierter  Nephritis  hält  er  die 
Spaltung  der  Nierenkapsel  und  vielleicht  auch  des  Nierengewebes  für 
gerechtfertigt,  bei  denen  wegen  der  Herabsetzung  der  Diurese  Lebens- 
gefahr ffir  den  Kranken  besteht,  und  die  interne  Heilkunst  nicht  mehr 
die  Macht  hat,  die  Diurese  zu  steigern  und  die  drohenden  Gefahren 
abzuwenden,  um  so  mehr,  als  einzelne  Erfahrungen  dafür  zu  sprechen 
scheinen,  daß  bereits  eine  einseitige  Nephrotomie  durch  die  Entspannung 
und  die  darauffolgende  stärkere  Diurese  auch  günstig  auf  die  Funktion 
der  anderen  Nieren  wirken  kann.  Ganz  ähnliche  Zweifel  wie  Pel  hegt 
Senator.  Wenn  selbst  in  der  Niere  ein  Entzündungsherd  bestehe,  wie 
Israel  sie  bei  manchen  seiner  operierten  Fälle  gefunden,  so  dürfe  dar- 
aus noch  nicht  auf  Entzündung  als  Ursache  von  Kolik  und  Blutung 
geschlossen  werden.  Vielmehr  könnten  daneben  noch  ganz  andere  Dinge 
in  der  Niere  vorhanden  sein,  die  nach  aller  Erfahrung  und  ungezwungen 
die  Blutung  erklärten,  seien  es  Steinchen  oder  Tuberkulose  etc.  Daß 
das  keine  ausgedachte  Vermutung  Senators  ist,  sondern  daß  Tat- 
sachen dafür  sprechen,  das  beweist  eine  bezügliche  Beobachtung  von 
Braatz  1). 

Derselbe  operierte  eine  an  heftigen  einseitigen  Nierenkoliken  leidende 
Fat.  dreimal;  zuerst  wurde  wegen  Beweglichkeit  der  Niere,  in  der  bei 
fehlendem  anderen  Befund  die  Ursache  der  Schmerzen  gesehen  wurde,  die 
Nephropexie  vorgenommen,  ohne  daß  ein  längerer  Erfolg  dadurch  erzielt 
wurde,  weshalb  Y«  J&hre  später  die  Nierenspaltung  hinzugefügt  wurde, 
um  einem  eventuellen  Krankheitsherd  auf  die  Spur  zu  kommen.  Es  fand 
sich  nichts  Auifallendes,  so  daß  die  Niere  verblieb.  Die  daraufhin  gestellte 
Diagnose  „Nephralgie^'  schien  eine  glänzende  Bestätigung  in  dem  weiteren 
Befinden  der  Operierten  zu  finden ;  denn  die  KolikanfkUe  blieben  mit  dem 
Tage  der  Operation  fort.  Nach  3  Jahren  wegen  neuerlicher  Erkrankung 
dritte  Freilegung  der  Niere  und  Ezstirpation :  neben  frischen  tuberkulösen 
Herden  findet  sich  am  unteren  Pol  ein  alter  ausgeheilter  Herd,  der  offen- 
bar die  früheren  Beschwerden  veranlaßt  hatte. 

Besonders  weit  in  ihrer  Indikationsstellung  zur  chirurgischen  Be- 
handlung des  Morbus  Brightii  gehen  die  Franzosen  und  Amerikaner. 
In  einer  größeren  Zahl  von  Arbeiten  verteidigt  Edbbohls^),  wohl  der 

1)  Braatz,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1900,  No.  10. 

2)  Edebohls,  Die  Heilung  der  chronischen  Nierenentzündung  durch  ope- 
rative Behandlung.  Autorisierte  Uebersetzung  von  Dr.  0.  Bbuthnbr, 
Genf  1903. 


784  Rudolf  Stich, 

radikalste  Chirurg  auf  diesem  Gebiet,  immer  wieder  das  aktive  Vor- 
gehen der  Chirurgen.  Er  empfiehlt  entweder  die  Nephropexie  mit  aus- 
gedehnter Freilegung  der  Nierenrinde  durch  Abstreifen  der  Capsula 
propria  oder  besser  noch  durch  totale  Exdsion  der  Nierenkapsel :  Nephro- 
kapsektomie.  Aehnlich  wie  bei  der  TALMAschen  Operation  der  Leber- 
cirrhose  soll  durch  die  EDEBOHLSSche  Operation  eine  arterielle  Hyper- 
ämie der  Nieren  hervorgerufen  und  dadurch  eine  Absorption  der  inter- 
stitiellen und  intertubulären  EntzQndungsprodukte  und  Exsudate  erzielt 
werden.  Was  die  Grenzen  der  Indikation  zur  Operation  anlangt,  so 
vertritt  er  den  Standpunkt,  daß  jeder  Patient  der  operativen  Behand- 
lung unterworfen  werden  soll,  der  nicht  unheilbare  Komplikationen 
aufweist,  die  ihrerseits  die  Verabreichung  eines  Anästhetikums  kontra- 
indizieren, und  dessen  Lebensdauer  —  ohne  Operation  —  mutmaßlich 
nicht  weniger  als  einen  Monat  beträgt.  Die  letztere  Bedingung  wird 
aus  dem  Grunde  gestellt,  weil  der  wohltätige  Einfluß  der  operativen 
Intervention,  die  Bildung  eines  ausgiebigen  Gefäßsystems  zwischen 
Niere  und  Nierenfettkapsel,  kaum  vor  10  Tagen  post  operationem  sich 
geltend  macht. 

PoussoN  ^)  geht  nicht  ganz  so  weit.  Er  schlägt  eine  chirurgische 
Intervention  vor :  a)  dans  les  n^phrites  chroniques  compliqu6es  d'h6mat- 
urie,  b)  dans  les  n6phrites  chroniques  s'accompagnant  de  nöphralgie, 
c)  dans  les  n^phrites  infecüeuses  subaigues,  d)  dans  les  n^phrites  in- 
fectieuses  aiguäs.  Beide  Autoren  haben  eine  große  Zahl  von  Anhängern 
in  ihren  Ländern  gefunden,  aber  man  kann  sich  bei  der  Durchsicht 
der  Literatur  des  Eindruckes  nicht  erwehren,  daß  die  bisher  mitgeteilten 
Fälle  größtenteils  nicht  sorgfältig  und  lange  genug  beobachtet  sind,  als 
daß  wir  aus  ihnen  sichere  Schlüsse  auf  den  Wert  der  Operation  ziehen 
könnten. 

Ich  gehe  zunächst  nicht  näher  auf  diese  und  neuere  Arbeiten  ein, 
beschränke  mich  vielmehr  an  dieser  Stelle  darauf,  hervorzuheben,  daß 
in  denselben  mehrfach  von  einseitigen  Nephritiden,  sogar  von 
einseitigem  Morbus  Brightii  die  Rede  ist,  während  man  bisher 
nur  ungern  von  der  Annahme  abging,  daß  die  hämatogenen  Nieren- 
erkrankungen, die  Erkrankungen,  welche  durch  vom  Blut  ausgehende 
Schädlichkeiten  (Infektionserreger,  Toxine  und  andere  Gifte,  fehlerhafte 
dyskrasische  Blutmischung)  verursacht  sind,  daß  diese  stets  doppelseitig 
auftreten  müßten.  Da  ich  nun  in  der  Lage  zu  sein  glaube,  einen  Fall, 
der  in  das  Gebiet  der  einseitigen  chronischen  diffusen  Ne- 
phritis mit  enormer  Hämaturie  gehört,  sicher  beweisen  zu  können, 
so  folge  ich  gerne  der  Anregung  meines  verehrten  Lehrers  und  früheren 


1)  PoüsaoN,    Bull,  et  mem.  de  la  soci^t^  de  chir.  de  Paris,  p.  689  u. 
Ann.  des  mal.  g^n.-urin.,  T.  20,  1902. 


lieber  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        785 

Chefs,  diesen  und  einige  weitere  an  seiner  Klinik  beobachteten  Fälle 
von  einseitiger  Massenblutung  zu  veröffentlichen. 

Fall  L  Frau  G.  C,  30  J.  alt,  erkrankte  am  17.  März  1901  ohne 
nachweisbare  Ursache  mit  Blutharnen,  das  sich  in  2  Tagen  heftig 
steigerte.  Ursprünglich  fehlte  jegliches  Krankheitsgefühl,  am  19.  März 
morgens  jedoch  stellte  sich  kurz  vor  der  Urinentleerung  plötzlich  starker 
Schmerz  in  der  rechten  Seite  ein,  der  nach  der  Blasengegend  zu  aus- 
strahlte. Später  bestanden  nur  noch  stechende  Schmerzen  in  der  rechten 
Nierengegend,  ohne  das  Ausstrahlen  nach  unten  zu.  Als  Kind  hat  Fat. 
schwarzePocken  durchgemacht,  später  Masern,  Scharlach,  Diph- 
therie gehabt.  Im  übrigen  enthält  die  Anamnese,  auch  die  Familien- 
anamnese, nichts,  was  für  die  Erkrankung  von  Bedeutung  wäre.  Keine 
Anhaltspunkte  für  Lues. 

Status:  Nicht  gerade  anämisch  aussehende  Frau.  Normale  Tem- 
peratur. Keine  Oedeme.  An  den  Brustorganen,  speziell  am  Herzen,  keine 
nennenswerten  Veränderungen.  Puls  ziemlich  voll,  mäßig .  gespannt.  Am 
Abdomen  außer  einer  ganz  leichten  Druckempfindlichkeit  der  rechten 
Nierengegend  nichts  Positives  nachweisbar.  Blase  wenig  gefüllt,  Pal- 
pation nicht  schmerzhaft.  Kein  Urindrang.  Fat.  kann  nach  Aufforderung 
spontan  urinieren.  Der  Urin  —  ca.  400  ccm  —  dunkelrot,  wie  reines 
Blut,  enthält  neben  mehreren  unregelmäßig  gestalteten  ein  5 — 8  cm  langes, 
2 — 3  cm  dickes  drehrundes  Blutgerinnsel.  Im  Filtrat  reichlich  Eiweiß. 
Im  Sediment  massenhafte  Erythrocyten,  zum  Teil  unverändert,  in  Geld- 
rollenform, zum  Teil  (nur  wenige)  in  Stechapfelform.  Spärliche  Leuko- 
cyten,  Blasenepithelien.  Nierenbestandteile  sind  nicht  nachweisbar,  keine 
Cylinder  zu  finden,  dagegen  zahlreiche  Kristalle  (phosphorsaurer  Kalk 
und  Harnsäurekristalle).     Im  Spektroskop  die  Oxyhämoglobinstreifen. 

Verlauf:  Noch  in  der  Nacht  wurden  100  ccm  einer  2-proz.  Oela- 
tinelösung  in  den  linken  Oberschenkel  injiziert.  Außerdem  erhielt 
Fat.  per  os  Tannigen.  Eisblase  der  rechten  Nierengegend  und  Morphium 
gegen  die  Schmerzen. 

21.  März.  Fat  sieht  etwas  blasser  aus.  Sie  kann  nicht  spon- 
tan Urin  lassen  und  klagt  über  heftige  Schmerzen  in  der  Blasen- 
gegend. Aus  der  Urethra  hängt  ein  5  cm  langes,  rundes,  ^/^  cm  dickes 
Blutgerinnsel  frei  heraus.  Beim  Versuch,  es  herauszuziehen,  reißt  es  ab. 
Auch  jetzt  spontanes  Urinieren  unmöglich,  ebenso  nach  Anwendung  der 
sonst  üblichen  äußeren  Mittel.  Es  wird  deshalb  versucht,  die  stark  ge- 
füllte Blase  mit  einem  weiblichen  Katheter  zu  entleeren.  Derselbe 
verstopft  sich  jedoch  wiederholt  mit  dicken  Blutgerinnseln,  so  daß  es  erst 
mit  einem  dicken  männlichen  Katheter  gelingt,  die  Blase  einigermaßen 
zu  entleeren.  Es  gehen  massenhafte  Blutgerinnsel  mit  ab.  Urin  dunkel- 
rot gefärbt,  reagiert  alkalisch.  Die  Blase  wird  dann  mit  ca.  8  Litern 
1-proz.  Borwasser  gespült,  doch  bleibt  die  abfließende  Flüssigkeit  stets 
rötlich  gefUrbt,  so  daß  Cystoskopie  unmöglich  wäre.  Bis  zum  Schluß  des 
Spülens  werden  Gerinnsel  entfernt.  Es  macht  nicht  den  Eindruck,  als  ob 
im  Laufe  des  Spülens  (ca.  %  Stunden  dauernd)  frisches  Blut  aus  der 
Blase  käme.  Nach  dem  Spülen  werden  4  g  G-elatine  in  den  rechten 
Oberschenkel  injiziert.  Abends  wiederum  Katheterismus  mit  männ- 
lichem Katheter,  weil  spontane  Urinentleerung  nicht  möglich. 

22.  März.  Morgen temperatur  zum  erstenmal  erhöht,  38,5.  Allgemein- 
befinden nicht    verschlechtert.     In    der  Nacht    konnte    Fat.    ca.    700    ccm 


786  Rndolf  Stich, 

Urin  spontan  lassen  (stark  blutig,  reagiert  alkalisch).  Bei  der  Spülimg 
werden  noch  sehr  zahlreiche  Blutgerinnsel  ans  der  Blase  entfernt,  doch 
wird  die  Spülflüssigkeit  rascher  hell.     Hämoglobingehalt  des  Blutes  60  Proz. 

25.  März.  Hämoglobingehalt  des  Urins  etwa  5 — 8  Froz.  Fat  klagt 
jetzt  wieder  über  brennende  und  stechende  Schmerzen  der  rechten  Nieren- 
gegend. 

26.  März.  Klagen  über  Schmerzen  in  der  Blasengegend;  häufiger 
schmerzhafter  Harndrang.  Urin  stark  blutig,  nicht  übel  riechend,  Menge 
zwischen  600  und  1900  pro  die ;   schwankende  Körpertemperataren  über  38. 

30.  März.  Die  noch  vorhandenen  Beschwerden  beziehen  sich  jetzt 
mehr  auf  die  bestehende  Gystiti&  Die  Blutung  läßt  nach  (2 — 3  Proz, 
Hämoglobin).  Der  Urin  ist  stark  ammoniakalisch,  schleimhaltig,  mit  sehr 
reichlichen  Eiterkörperchen  im  Sediment  Interne  Behandlung  der  Cystitis 
und  Spülungen.     Temperatur  zwischen  38  und  39. 

2.  April.  Im  Urin  weniger  Blut,  einzelne  Portionen  blutfrei.  Da 
Urotropin  wegen  Erbrechens  der  Fat.  ausgesetzt  wurde,  ist  die  Beaktion 
des  Urins,  die  vorübergehend  sauer  war,  amphoter  geworden.  Mikro- 
skopisch finden  sich  im  Urin  jetzt  hyaline  und  Körnchencylinder,  niemals 
Blutcylinder. 

Gestern  entleerte  sich  bei  der  Blasenspülung  ein  Blutgerinnsel,  das 
einen  kompletten  Abguß  eines  Nierenbeckens  und  eines  Ureters  bis  unten 
hin  darstellte.  Vorher  waren  keine  Koliken  beobachtet  worden.  Hämo- 
globingehalt des  Blutes  46  Froz.     Blutdruck  112 — 114  (Riva-Rocci). 

5.  April.  Der  Blutgehalt  hat  wieder  etwas  zugenommen.  Wieder 
Entleerung  von  Ureterengerinnseln.     Temperaturen  um  38^. 

Man  hat  den  Eindruck,  daß  die  rechte  Nierengegend  etwas  mehr 
ausgefüllt  ist  als  die  linke,  obwohl  die  rechte  Niere  nicht  direkt  palpabel 
ist.  Wegen  Verdachts  auf  Tumor  der  rechten  Niere  wird  ein  operativer 
Eingriff  vorgeschlagen,  von  der  Fatientin  jedoch  abgelehnt. 

6.  April.     Nachts  unerwarteter  Exitus  letalis. 

Die  im  pathologischen  Institut  vorgenommene  Autopsie 
(J.-No.  246/01)  ergab  keine  eigentliche  Erklärung  für  den  plötzlichen 
Exitus,  dagegen  hinreichende  Aufschlüsse  über  das  Krankheitsbild.  Das 
Frotokoll  gibt  über  den  Befund  der  Hamorgane  folgendes:  Nieren  sehr 
fest,  durch  derbes  Bindegewebe  befestigt,  etwas  vergrößert.  Beim  Ablösen 
der  Kapsel  quellen  in  unregelmäßiger  Verbreitung  massenhafte  Eitertropfm 
vor.  Die  linke  Niere  im  ganzen  sehr  derb,  sehr  blaß,  graurötlich.  Auf 
dem  Durchschnitt  blaß  graurötlich,  von  massenhaften  Eiterherden  durch- 
setzt. Nierenkelche  und  -becken  in  ihrer  Wand  etwas  verdickt.  Rechte 
Niere  im  ganzen  ebenso,  aber  im  Nierenbecken  ein  großes  Blutgerinnsel. 
An  der  Oberfläche  ausgedehnte  unregelmäßig  begrenzte,  schmutzigbraune 
Färbung,  die  durch  das  Gewebe  bis  in  die  Pyramiden  hinein  sich  fort- 
setzt. Die  Schleimhaut  des  Nierenbeckens  zeigt  in  geringer  Ausdehnung 
einen  ganz  zarten,  etwas  fester  anhaftenden  Belag.  In  einem  rechten 
Nierenbecken  nahe  der  Papille  ein  kleines  Gerinnsel,  nach  dessen  Weg- 
nahme sich  eine  nadeis ticb große  Oeffnung  zeigt,  aus  der  etwas  wässerig 
blutige  Flüssigkeit  bei  Druck  ausfließt.  Harnblase  sehr  klein  und  dick- 
wandig, enthält  blutigen  Urin.  Ihre  Schleimhaut  stark  gerötet  und  fein 
ekchymosiert.  Links  vom  Scheitel  findet  sich  ein  unregelmäßiger  bis  über 
1  mm  dicker  schmutzig  gelber  Belag.  Die  Harnröhre  zeigt  sich  beim 
Aufschneiden  mit  einem  ähnlichen  Belage  gefüllt,  der  bis  in  die  Harn- 
blase hineinzieht.  Unter  diesem  Belag  zeigt  sich  eiterige  Infiltration  und 
an  einer  Stelle    anscheinend  Nekrose   durch    die    ganze  Dicke    der  Wand. 


Ueber  Massenblutiingen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        787 

Ureteren  ohne  Besonderheiten.  Untere  Hohlvene  und  Aorta  frei  von  Ge- 
rinnseln. 

Mikroskopisch  zeigten  sich  in  Stücken  der  linken  Niere  nur 
Veränderungen,  wie  sie  durch  die  aufsteigende  Pyelonephritis  bedingt 
waren,  neben  kleinen  Absceßchen  in  der  Binde  und  herdweiser  Leuko- 
cyteninfiltration  längs  der  geraden  Harnkanälchen  ziemlich  gleichmäßig 
verbreitete,  nicht  sehr  starke,  parenchymatöse  Degeneration  der  Epithelien 
der  gewundenen  Harnkanälchen,  mit  Sicherheit  also  ein  frischer  Prozeß. 
Die  rechte  Niere  dagegen  bot,  abgesehen  von  diesen  akuten  Verände- 
rungen, das  ausgesprochene  Bild  einer  chronischen  parenchymatösen 
Nephritis:  Glomeruli  großenteils  untergegangen  und  ganz  oder  zum 
Teil  durch  kemarmes,  hyalin  aussehendes  Gewebe  ersetzt;  an  anderen 
Stellen  wieder  tritt  mehr  die  Schwellung  und  Desquamation  des  Epithels 
in  den  Vordergrund.  Auch  das  Epithel  der  BowHAMschen  Kapsel  ist 
vielfach  gequollen  und  desquamiert,  dann  und  wann  finden  sich  mehr 
homogene  geronnene  Massen  unter  den  von  der  Kapsel  weit  abgedrängten 
Gefkßknäueln,  vereinzelt  einmal  rote  Blutkörperchen;  hier  und  da  um 
bereits  verödete  Glomeruli  ein  breiter  Saum  junger  kleinzelliger  Binde- 
gewebswucherung. 

Auch  die  gewundenen  Harnkanälchen  zeigen  an  ihrem  Epithel 
vielfach  degenerative  Vorgänge :  Quellung,  große  bläschenförmige,  schwach 
gefärbte  Kerne,  Desquamation,  so  daß  das  eigentliche  Lumen  verloren  ge- 
gangen ist.  An  vielen  Stellen  sind  sie  mit  kömigen  Massen  ausgefüllt^ 
die  durch  Eosin  diffus  rot  gefärbt  erscheinen,  an  anderen  sind  sie  voll- 
gepfropft von  gut  erhaltenen  roten  Blutkörperchen,  daneben  Uebergänge. 
Manche  Partien  sind  aufs  beste  erhalten  und  lassen  sich  von  normalem 
Nierengewebe  nur  dadurch  unterscheiden,  daß  die  bindegewebige  Zwischen- 
substanz etwas  vermehrt  ist. 

Die  geraden  Harnkanälchen  bieten  im  ganzen  das  gleiche  Bild. 
Abweichend  ist  an  ihnen  nur,  daß  sich  in  ihrem  Gebiete  neben  den 
frischen  Blutungen  auch  Beste  von  älteren  Hämorrhagien  finden,  dadurch 
charakterisiert,  daß  sowohl  im  Zwischengewebe  wie  in  den  Harnkanälchen 
selbst  zahlreiche  pigmenthaltige  Zellen  eingestreut  sind. 

Das  Stützgewebe  ist  allenthalben,  bald  mehr,  bald  weniger  ver- 
breitert, meist  zellarm,  hie  und  da  zellreicher,  namentlich  auch  zwischen 
den  gewundenen  Harnkanälchen,  so  daß  die  Harnkanälchen  teilweise  zum 
Schwund  gebracht  sind,  und  diese  Partien  sich  mehr  einer  interstitiellen 
Nephritis,  der  indurierten  Schrumpfniere,  nähern.  Hier  finden  sich  denn 
auch  die  charakteristischen  GefUßveränderungen :  Verdickung  der  Adventitia^ 
Wucherungsvorgänge  der  Intima,  so  daß  das  Lumen  der  Gefkße  eingeengt 
ist,  Vermehrung  der  Kerne  der  Media. 

Fall  II.  Landmann  H.  Seh.,  46  J.,  bemerkte  etwa  Mitte  Juli  1899, 
daß  sein  Urin  auffallend  braunrote  Farbe  habe,  morgens  intensiver  wie 
abends,  ohne  irgendwelche  Beschwerden  davon  zu  haben.  Am  11.  Nov. 
1899  Aufnahme  in  die  Klinik.  Pat.  gibt  an,  während  der  ganzen  Krank- 
heitsdauer angestrengt  gearbeitet  zu  haben,  ohne  Schwäche  oder  leichtere 
Ermüdbarkeit  zu  fühlen.  Schwellungen  der  Gliedmaßen,  der  Augenlider 
will  er  nie  beobachtet  haben,  auch  hat  er  nie  über  Kopfschmerzen  zu 
klagen  gehabt.  Ca.  10  Wochen,  bevor  Pat.  etwas  von  dem  Blutharnen 
bemerkte,  trat  ihm  ein  Pferd  auf  die  Brust,  links  vom  Sternum,  etwa  der 
2.  und  3.  Hippe  entsprechend.  Im  2.  Lebensjahr  angeblich  Typhus,  sonst 
immer  gesund.     Familienanamnese  ergibt  nichts  Besonderes. 


788  Rudolf  Stich, 

Status:  Gesund  aussehender  Mann,  der  keinerlei  Krankheitsgefühl 
hat.  Hämoglobingehalt  90.  Normale  Temperatur.  Keine  stärkeren  Oedeme, 
nur  vom  Knie  ab  die  unteren  Extremitäten  ganz  leicht  ödematös. 
Puls  groß,  etwas  gespannt,  langsam  (60),  regulär.  Herzdämpfung 
nicht  vergrößert.  I.  Ton  über  der  Mitralis  und  IL  Ton  über  der  Pulmonalis 
leicht  accentuiert;  Töne  im  ganzen  leise,  rein.  Sonst  ist  an  den  Brust- 
wie  Bauch  Organen  nichts  Besonderes  nachweisbar.  Nierengegenden  nicht 
schmerzhaft.  Harn,  ca.  1000  ccm  pro  die.  Morgenurin  etwas  dunkler 
wie  der  des  übrigen  Tages,  trübe,  von  dunkelbraunroter  Farbe.  Boden- 
satz von  graurötlicher  Farbe.  Die  über  dem  Satz  sich  lagernde  Flüssig- 
keit bleibt  trübe  und  dunkelbraunrot.  Reaktion  sauer,  spezifisches  Ge- 
wicht 1030,  HsLLBRsche  Blutprobe  positiv,  im  Filtrat  1  ^Jqq  Eiweiß.  Spär- 
liche Cylinder.  Verlauf:  Stets  gleiches  subjektives  Wohlbefinden  bei 
gleichbleibendem  Blutgehalt  des  Urins.  Eine  am  27.  Nov.  vorgenommene 
Gelatineinjektion  (2  g)  blieb  —  ebenso  wie  Tannigen  per  os  —  ohne 
sichtbaren  Erfolg  auf  die  Blutungen.  Die  Cystoskopie  bezw.  Ureteren- 
katheterismus  ergaben  bei  normalem  Blasenbefund  ans  beiden  üreteren 
Blutungen,  aus  dem  linken  stärker  wie  rechts.  Während  im  gesammelten 
Tagesurin  wiederholt  spärliche  Cylinder  und  Cylindroide  gefunden  wurden, 
sind  solche  in  der  gesammelten  Ureterflüssigkeit  nicht  nachgewiesen. 

Der  vorgeschlagene  Probeschnitt  wird  vom  Pat.  abgelehnt,  so  daß  er 
am  4.  Dez.  1899   bei  subjektivem  Wohlbefinden  ungeheilt  entlassen  wird. 

2. — 15.  März  1900.  IL  Aufenthalt  in  der  medizinischen 
Klinik.  Bei  seiner  II.  Aufnahme  gibt  der  Pat.  an,  daß  bald  nach  seiner 
Entlassung  der  Harn  von  selbst  klarer  geworden  sei,  doch  trat  immer 
dann  und  wann,  namentlich  nach  „etwaigen  Erkältungen"  stärkere  Trübung 
auf.  Gegen  Mitte  Februar  nahmen  die  Blutungen  wieder  zu,  so  daß  ihn 
sein  Arzt  neuerdings  nach  der  Klinik  sandte.  In  der  Zwischenzeit  hatte 
Pat.  schwere  Arbeiten  verrichten  können  und  auch  jetzt  ist  sein  All- 
gemeinbefinden keineswegs  alteriert 

Der  Befund  war  zunächst  der  gleiche  wie  früher  angegeben,  doch 
besserte  sich  in  wenigen  Tagen  —  ohne  daß  außer  Bettruhe  therapeutische 
Maßnahmen  getroffen  worden  wären  —  der  Blutgehalt  so  weit,  daß  nur 
noch  ein  ganz  minimaler  Bodensatz  vorhanden  blieb.  Zu  dieser  Zeit  wai* 
im  Urin  Eiweiß  nicht  ganz  sicher  mehr  nachweisbar.  Als  dann  neuer- 
dings Blutungen  eintraten,  willigte  der  Pat  in  einen  operativen  Ein- 
griff ein. 

Am  19.  März  wurde  in  der  chirurgischen  Klinik  die  linkp 
Niere,  als  die  zweifellos  stärker  blutende,  freigelegt.  Dieselbe  ließ 
sich  nur  schwer  lösen,  zeigte  einige  Adhäsionen.  Nach  dem  Hervor- 
wälzen der  leicht  gelappten  Niere  erwies  sich  die  Nierenkapsel  an 
vielen  Stellen  verdickt.  Aeußerlich  waren  keine  Krankheitsherde 
sonst  zu  entdecken.  Der  etwas  nach  hinten  von  der  Mitte  angelegte 
Sektionsschnitt  ließ  die  Rindenpartie  auf  dem  Durchschnitt 
leicht  gelblich  gefärbt  und  trübe  erscheinen,  die  Markpartie 
stark  blaurot.  Am  unteren  Pol  wurde  ein  Teil  excidiert,  danach  das 
Nierenbecken  weiter  eröffnet  und  palpiert.  Da  sich  weder  ein  Stein  fand 
noch  irgendwelcher  Befund  die  Exstirpation  ratsam  erscheinen  ließ,  wur- 
den beide  Hälften  durch  tiefgreifende  Catgutnähte  wieder  vereinigt. 

Schon  am  Tage  nach  der  Operation  stellte  sich  indessen  Fieber  ein, 
das  bald  kontinuierlich  zwischen  38  und  39  blieb.  Gleichzeitig  nahmen 
■die  Urinmengen  ab,  ohne  Verringerung  des  Blutgehaltes,  so  daß  wegen 
Verdacht   auf  Nekrose   der   linken    Niere    diese   am  26.  März   ex- 


Ueber  Massenblutangen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        789 

stirpiert  wurde.  Der  obere  Nierenpol  erwies  sich  an  der  Rückseite 
von  einem  großen  anämischen  Infarkt  eingenommen.  Die  umgebende 
Kapsel  war  fibrinös  eiterig  belegt,  die  Nephrotomiewunde  verklebt  und 
mit  Blutkoagulis  gefüllt  An  den  Stellen,  wo  die  Catgutnähte  gelegt  waren, 
war  das  Nierengewebe  nekrotisch  geworden.  In  der  Mitte  der  Niere, 
nahe  der  Konvexität,  hatten  sich  mehrere  verschieden  große  anämische 
Infarkte  ausgebildet.  Das  nicht  durch  den  operativen  Eingriff  direkt 
veränderte  Nierengewebe  war  parenchymatös  getrübt  und  man  sah  deut- 
lich die  Glomeruli  hervortreten.  Das  Nierenbecken  war  eng  und  wenig 
mit  Blutgerinnseln  gefüllt  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab  klein- 
zellig infiltrierte  Herde  im  parenchymatös  nephritischen  Organ,  Zeichen 
von  „Blutübertritt"  in  die  geraden  Hamkanälchen,  keine  Tuberkulose, 
keine  Geschwulstbildung,  so  daß  die  Diagnose  lautete:  hämorrhagische 
Nephritis. 

Die  Temperatur  fiel  am  Abend  der  Operation  auf  37,8,  stieg  jedoch 
in  beiden  folgenden  Tagen  wieder  rasch  bis  auf  40,3  und  hielt  sich  dann 
kontinuierlich  um  40,  bis  der  Patient  am  3.  März  unter  typischen  sep- 
tischen Erscheinungen  zu  Orunde  ging.  Der  Urin  blieb  bis  zu- 
letzt bluthaltig.  Die  Autopsie  ergab  neben  anderen  septischen  Pro- 
zessen zahlreiche  kleine  Absceßchen  der  rechten  Niere.  Der  wesentliche 
Befund  der  im  pathologischen  Institut  vorgenommenen  Autopsie 
{J.No.  179/00)  lautet  im  Auszug:  Abscesse  der  Bauchmuskulatur,  des  r. 
Stemoklavikulargelenkes  und  dessen  Umgebung  und  der  r.  Niere.  Große 
eiternde  Wundhöhle  in  der  Gegend  der  1.  Niere.  Starke  parenchymatöse 
Trübung  und  fettige  Degeneration  von  Herz,  Leber,  Niere.  Geringe 
chronische  Endarteriitis  der  Aorta.  Erweiterter  linker  Ureter.  Kleines 
Geschwür  der  Blase. 

Fall  ni.  E.  U.,  32-jähr.  Maschinist,  war  bereits  im  Jahre  1893  mit 
heftigen  Schmerzen  in  der  r.  Seite  und  im  Bücken,  Schüttelfrost  und 
Bluthamen  erkrankt.  Er  wurde  damals  in  einem  auswärtigen  Kranken- 
hause behandelt.  Nach  3  Tagen  waren  alle  Schmerzen  vorbei,  Bluturin 
soll  nur  bei  einer  einzigen  Entleerung  beobachtet  worden  sein.  Am 
14.  Sept.  1896  nachmittags  erkrankte  er  wieder  ganz  plötzlich  aus  vollem 
Wohlbefinden  ohne  nachweisbare  Ursache.  Zunächst  bekam  er  Urindrang; 
der  darauf  entleerte  Urin  war  stark  bluthaltig.  Y,  Stunde  später  stellten 
sich  heftige  Schmerzen  in  der  r.  Seite  ein,  die  nach  der  Blasengegend 
zu  ausstrahlten.  Gleichzeitig  starker  Schüttelfrost,  Kopfschmerzen  und 
Urindrang,  dem  jetzt  auf  einmal  nicht  mehr  nachgegeben  werden  konnte. 
Trotz  mehrfacher  Versuche  konnte  er  keinen  Tropfen  Wasser  lassen. 
Während  die  Schmerzen  in  der  r.  Seite  und  im  Bücken  bald  etwas  nach- 
ließen, nahm  die  Spannung  der  Blase  stetig  zu,  so  daß  Pat  noch  am 
gleichen  Abend  die  Klinik  aufsuchte. 

Status:  Schwerkrank  aussehender  Mann.  Quälender  Urindrang. 
Urinieren  unmöglich.  Frösteln.  Temperatur  37,1.  Ueber  den  Lungen 
vorne  beiderseits,  hauptsächlich  links,  Schallverkürzung.  L.V.O.  ver- 
schärftes Atmen,  vereinzeltes  feines  Bassein  (knackendes  Blasenspringen). 
Herz  ohne  Befund.  Puls  ziemlich  klein,  langsam.  Blase  steht  bis  3  Quer- 
finger unterhalb  des  Nabels,  ist  prall  gefällt  Ueber  ihr  starke  Druck- 
empfindlichkeit, die  sich  bis  in  die  r.  Seite,  in  die  Nierengegend,  hin  er- 
streckt. Schon  der  leiseste  Druck  auf  die  Nierengegend  selbst  ist 
außerordentlich  empfindlich,  so  daß  kein  sicherer  Palpationsbefund  erhoben 
werden  kann.     Mit  dem  Katheter  werden  400  com  stark  blutig  gefärbten, 

Mlttail.  a.  d.  Orenzcebieten  d.  Medlsln  a.  Chirargie.    Zm.  Bd.  51 


790  Rudolf  Stich, 

etwas  dicken  Urins  entleert.  Nach  der  Entleerung  zunächst  bedeutende 
Erleichterung,  dann  bald  wieder  —  auf  dem  Transport  in  den  Kranken- 
saal —  sehr  heftige  Schmerzen  in  der  r.  Seite,  der  Nierengegend  ent- 
sprechend. Mikroskopisch  können  im  Urin  außer  sehr  zahlreichen  Erythro- 
cyten  und  entsprechenden  Leukocyten  keine  korpuskularen  Elemente  ge- 
funden werden. 

Verlauf:  Die  anfallsweise  auftretenden  sehr  heftigen  Schmerzen, 
sowie  das  Bluthamen  bestehen  auch  in  den  nächsten  Tagen  in  wechseln- 
der Intensität.  Katheterismus  ist  nur  noch  einmal  nötig.  Blasenspülung 
wegen  Yerstopfens  des  Katheters  mit  Blutgerinnseln  unvollkommen,  des- 
halb Cystoskopie  und  Ureterenkatheterismus  ausgeschlossen.  Wegen  Ver- 
dachtes auf  Nephrolithiasis  nach  der  chirurgischen  Klinik  verlegt. 

Dort  wurde  am  19.  Sept.  die  Nephrotomie  mittelst  v.  Bbromai^n- 
schen  Schnittes  vorgenommen.  Die  Niere  wurde  mit  vieler  Mühe  hervor- 
gezogen; sie  erwies  sich  als  hyperämisch  und  leicht  brüchig,  so  daß  sie 
beim  Herausziehen  an  drei  Stellen  oberflächlich  einriß.  Bei  der  Nephro- 
tomie entstand  eine  starke  Blutung.  Die  genaue  Abtastung  des  Nieren- 
beckens sowohl  wie  des  Ureters  ergab  nichts  von  Steinen.  Auch  sonst 
fand  sich  makroskopisch  nichts  Auffallendes  an  der  Niere,  weshalb  dieselbe 
nach  Vemähung  des  Parenchyms  und  der  Kapsel  wieder  reponiert  wurde. 
Tamponade  der  Wunde. 

Nach  der  Operation  verschwanden  die  Schmerzen  und  die  Hämaturie 
und  kehrten  bis  zu  der  4  Wochen  später  erfolgten  Entlassung  nicht  wieder. 

n.  Aufnahme.  5.  August  1900.  Von  seiner  Entlassung  aus  der 
chirurgischen  Klinik  bis  jetzt  ist  der  Fat  ganz  gesund  gewesen.  Am 
3.  August  erkrankte  er  wieder  in  der  gleichen  Weise  wie  früher  mit  Blut- 
hamen. Die  ursprünglich  geringen  Schmerzen  steigerten  sich  binnen  zwei 
Tagen  wiederum  derart,  daß  der  Mann  klinische  Hilfe  suchte.  Sie  hatten 
stets  denselben  kolikartigen  Charakter  wie  bei  den  früheren  Anfallen. 

Bei  der  Untersuchung  konnte  diesmal  an  den  Lungen  nichts 
Pathologisches  mehr  gefunden  werden.  Im  übrigen  war  der  Befund  der 
gleiche  wie  früher.  Mehrfach  Katheterismus  nötig.  Im  Urin  gröbere, 
wohl  in  der  Blase  entstandene,  und  feinere  Gerinnsel,  Ureterenausgüssen 
entsprechend.  Mikroskopisch  außer  Erythrocyten  und  Leukocyten  nur 
öfters  einzelne  größere  Zellen  mit  bläschenförmigem  Kern  (aus  dem  Nieren- 
becken ?). 

Verlauf:  Wegen  der  anfänglich  häufig  wiederkehrenden  Nieren- 
koliken muß  zunächst  wiederholt  Morphium  gegeben  werden.  Dann  wird 
vom  2.  Tage  an  mit  Gelatineinjektionen  begonnen  ^),  im  ganzen  wurden 
9mal  4  g  innerhalb  10  Tagen  injiziert  8  Tage  nach  der  Aufnahme 
zeigte  der  Urin  vollkommen  blutfreie  Beschaffenheit,  Eiweiß  und  Cylinder 
traten  nicht  auf.  Eine  geringfügige  Cystitis  ohne  Fieber  wurde  mit  Uro- 
tropin  und  Spülungen  unschwer  beseitigt.  Am  30.  Aug.  konnte  Fat.  völlig 
geheilt  entlassen  werden. 

Am  8.  April  1903  kam  er  zu  einer  Nachuntersuchung  wieder  in  die 
Klinik.  Er  gab  an,  vollkommen  beschwerdefrei  zu  sein,  höchstens  bei  ganz 
schweren  Arbeiten  habe  er  noch  sehr  geringfügige  Schmerzen  in  der  r. 
Nierengegend.  Kein  objektiver  Befund.  Glatte,  ganz  leicht  druckempfind- 
liche Narbe.     Hämoglobin  85  Proz.,  Urin  ohne  Befund. 


1)  Cf.    Grunow,    Ueber   Anwendung    subkutaner   Gelatineinjektionen 
zur  Blutstillung.     Berl.  klin.  Wochenschr.,  1901,  No.  32. 


Ueber  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        791 

Fall  IV.  Arbeiter  0.  D.,  23  J.,  erkrankte  am  29.  Juni  1901  mit 
Schmerzen  in  der  r.  Seite  und  dem  Bücken,  etwa  der  Nierengegend  ent- 
sprechend. Er  führte  dies  auf  eine  Erkältung  zurück,  indem  er  —  ein 
eifriger  Radfahrer  —  nach  starker  Erhitzung  rasch  3  Olas  kaltes  Wasser 
hinunterstürzte.  Zwei  Tage  später  bemerkte  er,  unter  Zunahme  der 
Schmerzen,  daß  der  Urin  blutig  wurde,  die  einzelnen  Portionen  verschieden 
intensiv.  Allmählich  steigerten  sich  die  Schmerzen,  welche  jetzt  auch  mehr 
nach  der  Blase  hinzogen,  derart,  daß  Fat.  arbeitsunfähig  wurde.  Mit 
17  Jahren  fieberhafte  Halsentzündung.  Später  Soldat.  Nie  ernstlich  krank. 
Nichts  von  Hämophilie  in  der  Anamnese. 

Status:  Kräftiger  Mann,  von  gesundem  Aussehen  (Hämoglobingehalt 
100  Proz.).  Kein  Fieber.  In  der  r.  Lumbaigegend,  dicht  unterhalb 
der  12.  Rippe  besteht  eine  etwa  handtellergroße  druckempfindliche  Stelle, 
die  auch  beim  Aufrichten  und  bei  r.  Seitenlage  schmerzt;  sonst  ergibt  die 
Untersuchung  keine  pathologischen  Befunde.  Spontan  entleerter  Urin  von 
hellrötlich-brauner  Farbe;  Reaktion  sauer;  im  dunkelrotbraunen  Bodensatz 
mehrere  Ureterenausgüsse.  Das  Filtrat  der  oberflächlichen  Flüssigkeit 
gibt  eine  positive  HBLLEBsche  Blutprobe  und  enthält  ca.  ^4  Proz.  Albumen. 
Im  Sediment  zahlreiche  rote  Blutkörperchen,  einige  Leukocyten,  amorphe 
Krümel,  keine  Cylinder. 

Verlauf:  Urin  morgens  meist  dunkler  als  tagsüber.  Reaktion  wech- 
selnd, sauer  bis  alkalisch.  Unter  Bettruhe,  flüssiger  Diät  und  Extract. 
secal.  comut.  fluid,  sistieren  die  Blutungen  langsam,  um  vom  10.  Juli  ab 
ganz  beseitigt  zu  sein.  Mikroskopisch  und  chemisch  danach  im  Urin  nie 
mehr  pathologisches  nachweisbar.  Nur  einmal  wurden  einige  Hamsäure- 
kristalle  gefunden.  Gleichzeitig  mit  der  Abnahme  der  Blutungen  ver- 
schwinden auch  die  Schmerzen  langsam,  so  daß  Pat.  nach  14  Tagen  ge- 
heilt entlassen  werden  kann. 

Nach  seiner  Entlassung  war  der  Pat.  3 — 4  Monate  beschwerdefrei. 
Seitdem  hat  er  angeblich  alle  3 — 4  Wochen  einen  Anfall:  kolikartige 
Schmerzen  der  rechten  Bauchhälfte,  die  nach  der  linken  Nierengegend 
ausstrahlen  sollen.  Die  Schmerzen  sind  anfangs  sehr  heftig  und  klingen 
nach  1  Tage  allmählich  ab,  um  nach  mehreren  Tagen  bis  Wochen  gänz- 
lich zu  verschwinden.  Blut  ist  jetzt  jedoch  nie  mehr  im  Harn  gewesen. 
Kein  Erbrechen.  Normale  Stühle.  Abgang  von  Steinen  mit  dem  Urin  nie 
beobachtet  (April  1904). 

Wenn  ich  mich  zunächst  der  Pathologie  der  beschriebenen 
Hämaturien  zuwende,  so  muß  ich  vorläufig  die  Fälle  3  und  4  als  nicht 
ganz  aufgeklärt  außer  acht  lassen ;  die  beiden  ersten  Fälle  konnten  je- 
doch anatomisch  untersucht  werden,  so  daß  sich  aus  ihnen  bestimmte 
Schlüsse  ziehen  lassen.  In  Fall  2  dürfte  die  Ursache  der  Blutungen 
in  der  mikroskopisch  festgestellten  hämorrhagischen  Nephritis 
zu  suchen  sein.  Schon  bei  der  Operation  wurden  makroskopische  Ver- 
änderungen des  Nierenparenchyms  wahrgenommen,  die  aber  nicht  so 
prägnant  waren,  daß  bereits  damals  die  sichere  Diagnose  gestellt  wurde. 

Edebohls^)  behauptet  zwar,  nachdem  er  persönlich  mehr  als 
300  Nieren  während  der  Operation  zu  untersuchen  und  zu  vergleichen 


1)  Edbbohls,  L  c. 

61* 


792  Rudolf  Stich, 

in  der  Lage  gewesen  ist,  es  verursache  ihm  keine  Schwierigkeiten  mehr, 
prompt  vermittelst  Inspektion  und  Palpation  zu  entscheiden,  ob  eine 
zur  eventuellen  Operation  luxierte  Niere  von  chronischer  BRiOHTscher 
Krankheit  befallen  ist  oder  nicht.  Er  hat  deshalb  nur  in  zwei  Fällen 
ein  ganz  kleines  Stück  Nierengewebe  behufs  mikroskopischer  Unter- 
suchung bei  seinen  Operationen  excidiert,  da  der  Ausfall  von  Nieren- 
gewebe sich  nicht  durch  Neubildung  ersetzen  kann,  sondern  nur  durch 
kompensatorische  Hypertrophie.  In  allen  anderen  Fällen  seien  die 
während  der  Operation  vorgefundenen  pathologischen  Veränderungen 
so  positiv  und  ausgesprochen  gewesen,  daß  ein  Zweifel  an  der  Richtig- 
keit der  Diagnose  nicht  aufkommen  konnte.  Ich  muß  gestehen,  daß 
man  anderorts  weniger  sicher  in  der  makroskopischen  Diagnose  des 
Morbus  Brightii  ist,  und  daß  ich  deshalb  die  Zweifel,  welche  deutsche 
Autoren  dem  auf  solche  Weise  diagnostizierten  einseitigen  „Morbus 
Brightii^  entgegenbrachten,  für  durchaus  berechtigt  halte.  Israel  ^)  hat 
in  seinen  eigenen  Fällen  von  schwerer  diffuser  Nephritis  mit  dem  bloßen 
Auge  nichts  Krankhaftes  sehen  können,  und  kann  zu  seiner  Unterstützung 
in  diesem  Punkte  mehrere  Fälle  aus  der  Literatur  anführen.  Auch 
PoussoN  konnte  auf  dem  Durchschnitt  der  Nieren  makroskopisch  nichts 
Abnormes  konstatieren,  und  mikroskopisch  war  abundante  Gewebs- 
wucherung, Druck  auf  die  Glomeruli,  endo-  und  periarteriitische  Gefäße, 
Blutungen  zwischen  Gefäßschlingen  und  BowMANschen  Kapseln  zu 
sehen.  Ebenso  nahm  Albarran  bei  der  Operation  nur  einen  kleinen 
gelblichen  Fleck  an  einem  Punkte  der  Rinde  wahr,  während  bei  mikro- 
skopischer Untersuchung  eine  völlige  Durchsetzung  von  Rinde  und  Mark 
mit  Miliartuberkeln  offenkundig  wurde. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  im  Falle  2  exicdierten  Stück- 
chens, sowie  die  Untersuchung  des  8  Tage  später  wegen  Verdachtes 
auf  Nekrose  exstirpierten  Organes  hat  die  Diagnose  einer  hämorrhagischen 
Nephritis  bestätigt.  Der  Patient  erlag  nach  weiteren  8  Tagen  einer 
Sepsis,  und  so  war  man  in  der  Lage,  auch  die  andere  Niere  zu  unter- 
suchen. Leider  liegen  hier  nur  Angaben  über  den  makroskopischen 
Befund  vor,  die  keinen  sicheren  Aufschluß  darüber  geben,  ob  neben  den 
gefundenen  Absceßchen  und  den  dadurch  und  durch  die  Allgemein- 
infektion bedingten  parenchymatösen  Degenerationsvorgängen,  ob  neben 
diesen  akuten  Krankheitserscheinungen  auch  noch  ausgedehntere 
ältere  pathologische  Veränderungen  in  dem  Organ  vorhanden  waren, 
welche  in  eine  Linie  mit  den  Veränderungen  der  linken  Seite  zu  stellen 
gewesen  wären.  Ich  unterlasse  es  deshalb,  hieraus  Schlüsse  auf  die 
Einseitigkeit  des  Prozesses  zu  ziehen,  glaube  vielmehr  nach  dem  Be- 
fund der  Cystoskopie,  daß  wahrscheinlich  ein  doppelseitiger  Prozeß 
vorlag. 

1)  ISRABL,    1.  c. 


Ueber  Massenblatnngen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        793 

Anders  im  Fall  I.  Hier  —  die  Patientin  erlag  einer  doppelseitigen 
aszendierenden  Pyelonephritis  —  stellte  sich  bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  überraschenderweise  heraus,  daß  —  neben  den  in  beiden 
Organen  ziemlich  gleich  stark  verbreiteten  Abscessen  —  auf  der 
rechten  Seite  eine  chronische  diffuse  Nephritis  vorhan- 
denwar, diesich  in  keiner  Weise  von  den  Befunden  unter- 
schied, welche  wir  bei  den  subchronisch  und  chronisch 
verlaufenden  Nephritiden,  speziell  bei  der  chronisch 
hämorrhagischen  Nephritis  finden,  während  die  linke 
Seite,  abgesehen  von  den  erwähnten  Eiterherden  und 
damit  verbundenen  akuten  de  generativen  Erscheinungen 
nichts  zeigte,  was  auf  einen  der  anderen  Seite  analogen 
Prozeß  hinwies;  kurz  gesagt,  es  fand  sich  eine  einseitige 
Nephritis. 

Der  strikte  Beweis  der  Einseitigkeit  einer  Nephritis  kann, 
streng  genommen,  nur  durch  die  Sektion  gegeben  werden,  gibt  auch 
Israel^)  zu.  Nach  dem  vorhin  Gesagten  darf  man  hinzufügen,  daß 
der  Sektion  die  mikroskopische  Bestätigung  der  makroskopischen  Dia- 
gnose folgen  muß.  Ich  habe  in  der  deutschen  Literatur  der  letzten 
15  Jahre  keinen  sicher  bewiesenen  analogen  Fall  finden  können,  glaube 
auch  kaum,  daß  in  früheren  Jahren  —  die  Literatur  dieser  stand  mir 
nur  teilweise  zur  Verfügung  —  eine  derartige  Beobachtung  auf  dem 
Sektionstische  gemacht  wurde.  Aus  der  Literatur  des  Auslandes  mögen 
mir  Fälle  entgangen  sein,  da  es  mir  unmöglich  war,  auch  nur  die 
Mehrzahl  der  hierher  gehörigen  Arbeiten  im  Original  zu  erhalten;  in 
den  entsprechenden  Referaten  ist  jedenfalls  nichts  derartiges  enthalten. 

Einen  Fall,  bei  dem  wenigstens  der  makroskopische  Sektionsbefund 
für  die  Einseitigkeit  der  Nephritis  spricht,  erwähnt  Israel  von  einem 
einwandsfreien  Beobachter,  Rater  ^).  Die  Beobachtung  betraf  einen 
26-jährigen  Mann,  welcher  nach  dreimonatlichen  Nierenblutungen,  deren 
Ursache  nicht  erkenntlich  war,  starb.  Bei  der  Sektion  fand  man  eine 
chronische  Nephritis  links,  während  die  rechte  Niere  gesund  schien. 
Eine  mikroskopische  Untersuchung  fehlt.  Also  kann  der  Fall  nicht  als 
bewiesen  angesehen  werden. 

Drei  Fälle  von  „einseitiger  Nephritis**  veröffentlichten  Castaigne 
und  Rathert^).  Aber  es  handelt  sich  sich  hier  offenbar  um  eiterige 
Nephritiden.    Auch  sie  sind  also  hier  nicht  heranzuziehen. 

Um  so  zahlreicher  sind  in  den  letzten  Jahren  die  Veröffentiichungen 
geworden,  in  welchen  klinisch  beobachtete  einseitige  Nephritiden 
beschrieben  sind.    Ich  habe  oben  erwähnt,  daß  Edebohls  solche  Fälle 


1)  Israel,  1.  c. 

2)  Rayeb,  Trait^  des  maladies  des  reins.     Paris  1841. 

3)  Casteionb  et  Bathbby,  La  semaine  m^dicale,  1902,  20  acut. 


794     '  Rudolf  Stich, 

bringt.  Die  Fälle  sollen  sich  5mal  als  rechtsseitige  chronische  inter- 
stitielle Nephritis,  4mal  als  chronische  interstitielle  Entzündung  der 
linken  Niere,  4mal  als  doppelseitige  interstitielle  Nephritis,  2mal 
als  doppelseitige  chronische  parenchymatöse  Nephritis  und  Imal  als 
doppelseitige  chronische  diffuse  Nephritis  charakterisiert  haben.  Norden- 
TOFT  ^)  berichtet  über  eine  Patientin,  die  mit  Schmerzen,  Dysurie,  Hämat- 
urie und  Pollakisurie  erkrankt  sei.  Cystoskopie  und  Ureterenkatheteris- 
mus  ergaben  die  linke  Niere  als  Sitz  der  Affektion.  Die  Diagnose 
schwankte  zwischen  Nephrolithiasis  und  Tuberkulose.  Die  Nephrotomie 
bewirkte  Aufhören  der  Hämaturie  und  Besserung  der  übrigen  Sym- 
ptome. Die  mikroskopische  Untersuchung  eines  excidierten  Stückchens 
hatte  nur  Zeichen  von  parenchymatöser  Nephritis  ergeben.  BOhner  *), 
der  selbst  aus  Schedes  Klinik  einen  Fall  von  „einseitig  hämorrhagischer 
Nephritis^  —  bei  der  Autopsie  fanden  sich  freilich  auch  in  der  anderen 
Niere  Veränderungen  —  veröffentlicht,  stellt  aus  der  Literatur 
15  Nephrektomien  und  16  Nephrotomien  zusammen,  bei  denen  das 
Resultat  der  Operation  mehrfach  für  das  Vorhandensein  einer  einseitigen 
Nephritis  spricht.  In  5  von  diesen  31  Fällen  trat  nach  der  Operation 
früher  oder  später  der  Tod  ein,  doch  kann  ich  aus  den  mir  zugäng- 
lichen Referaten  dieser  Fälle  nirgends  mit  Sicherheit  entnehmen,  daß 
die  Nephritis  einseitig  gewesen  sei.  Israel^  bringt  in  seiner  Ent- 
gegnung auf  Senators  *)  Kritik  neben  seinem  eigenen,  hierhergehörigen, 
Fälle  von  Hofbaüer,  Poüsson,  de  Keersmacker,  Rovsing,  alle  mit 
Hämaturie  verbunden.  Allen  diesen  Fällen  muß  man  die  Tatsache  ent- 
gegenhalten, daß  es  Nephritiden  gibt,  die  ohne  Albuminurie  und 
Cylindrurie  verlaufen.  Es  ist  also  nicht  unbedingt  nötig,  daß  das  Auf- 
hören der  Ausscheidung  von  Eiweiß  und  Cylindern  in  diesen  Fällen 
nach  der  Operation  (Nephrektomie  bezw.  Nephrotomie)  gleichbedeutend 
ist  mit  gesunder  Niere  der  anderen  Seite.  Gleiches  muß  man  von  den 
Fällen  sagen,  die  Edebohls'  zahlreiche  Anhänger  in  Amerika  seit 
3  Jahren  veröffentlichen. 

Wichtiger  erscheint  mir  für  die  Beurteilung  unserer  beiden  ersten 
Fälle  jetzt  die  Besprechung,  wie  weit  der  anatomische  Befund 
den  klinischen  Verlauf  erklärt  Der  Ausgangspunkt  der 
Blutungen  ist  in  beiden  Fällen  sichergestellt;  er  ist  in  der  Niere 
selbst  zu  suchen.  Im  ersten  Falle  bewiesen  das  die  mehrfach  beob- 
achteten üreteren-  bezw.  Nierenbeckenausgüsse,  sowie  später  die  Au- 
topsie, bei  der  sich  im  rechten  Nierenbecken  ein  großes  Blutgerinnsel 
fand,  während  das  linke  frei  war,  im  zweiten  war  durch  den  vor  der 


1)  NoBDBNTOFT,  Hospitaltidende,    1902,    No.  42.     Ref.    Dtsch.    med. 
Wochenschr.,  1902,  Lit.-BeiL  No.  48,  p.  311. 

2)  Bohnbr,  Inaug.-Diss.   Bonn,  1901. 

3)  1.  c. 

4)  Senator,  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1902,  No.  8. 


Ueber  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        795 

Operation  in  der  chirurgischen  Klinik  vorgenommenen  Harnleiter- 
katheterismus mit  Bestimmtheit  konstatiert  worden,  daß  bei  normalem 
Blasenbefiind  aus  beiden  Ureteren  Blutungen  erfolgten,  aus  dem  linken 
stärker  als  rechts, 

Waren  nun  diese  Blutungen  durch  die  gefundenen  pathologischen 
Veränderungen  bedingt  oder  hatten  sie  doch  vielleicht  andere  Ursachen  ? 
Weder  die  anamnestischen  Angaben  noch  die  klinische  Beobachtung, 
weder  der  makroskopische  noch  mikroskopische  Befund  bei  der  Sektion 
gaben  uns  Anhaltspunkte  für  die  häufigsten  Ursachen  der  Hämaturie: 
Steine,  Tumoren,  Tuberkulose.  Ebensowenig  konnte  das  Blut  von  einem 
Trauma  oder  einer  der  selteneren  Ursachen,  wie  ich  sie  schon  eingangs 
erwähnt  habe,  herrühren.  Ein  Papillom  des  Nierenbeckens  oder  Ure- 
ters, das  in  einigen  wenigen  Fällen  als  Grund  für  eine  stärkere  Blutung 
gefunden  wurde,  wurde  bei  der  Autopsie  vergeblich  gesucht.  So  blieb 
nichts  anderes  übrig,  als  entweder  jene  angioneurotischen  Blutungen 
anzunehmen  —  für  Hämophilie  im  engeren  Sinne  fehlten  alle  Anhalts- 
punkte —  oder  die  gefundenen  entzündlichen  Veränderungen  der 
Nieren  in  ätiologischen  Zusammenhang  mit  der  Hämaturie  zu  bringen. 

Die  typischen  Symptome  einer  chronischen  Nephritis 
waren  in  unseren  Fällen  nicht  ausgesprochen.  Namentlich  muß 
es  befremdlich  erscheinen,  daß  trotz  der  immer  wieder  vorgenommenen 
mikroskopischen  Harnuntersuchung  nur  so  außerordentlich  spärliche 
Cylinder  —  im  ersten  Falle  lange  Zeit  gar  keine  —  gefunden  werden 
konnten,  insbesondere,  daß  bei  den  enormen  renalen  Blutungen  keine 
Blutcylinder  im  Urin  waren.  Wenn  auch  vielleicht  in  dem  ersten  Fall 
die  Blutungen  so  profus  gewesen  sein  könnten  aus  einzelnen  Nieren- 
abschnitten, daß  zu  einer  Bildung  von  Cylindern  keine  Zeit  gewesen 
wäre,  oder  wenn  die  Cylinder  in  den  größeren  Gerinnseln  hätten  ver- 
borgen sein  können,  so  daß  eine  Erkennung  derselben  unmöglich  war, 
bei  dem  anderen  Patienten  wären  diese  Einwände  nichtig  gewesen,  da 
sich  der  Urin  bei  demselben  im  Laufe  der  klinischen  Beobachtung  so 
weit  aufhellte,  daß  nur  noch  ein  ganz  minimaler  Bodensatz  vorhanden 
blieb.  In  dieser  Zeit  fehlten  Cylinder  ganz,  und  Eiweiß  war  nicht  mehr 
mit  Sicherheit  nachweisbar.  Doch  sind  ja  genugsam  Fälle  bekannt,  in 
welchen  Nephritiden  ausnahmsweise  nicht  mit  Albuminurie  und  An- 
wesenheit von  Cylindern  verbunden  waren.  Das  ist,  wie  Senator^) 
mitteilt,  schon  von  Bright  angegeben.  Andere  Autoren  haben  diese 
Beobachtung  wiederholt  bestätigt,  ich  erwähne  aus  früheren  Jahren 
Henoch,  Bartels,  Quincke.  Senator,  in  neuerer  Zeit  hat  Cassel  ^ 
derartige  Fälle  zusammengetragen  und  eine  größere  Zahl  einwands- 
freier,  auf  dem  Sektionstisch  bestätigter  Beobachtungen  mitgeteilt. 


1)  Senator,  1.  c. 

2)  Berliner  klin.  Wochenschr.,  1900,  No.  10. 


796  Rudolf  Stich, 

Da.  das  Vorhandensein  von  Oedemen  gleichfalls  sehr  inkonstant 
ist,  so  dürfen  wir  das  Fehlen  derselben  im  einen,  den  minimalen  Grad 
im  anderen  Fall  nicht  als  Gegengrund  für  unsere  Diagnose  anführen. 
Aus  der  Harnmenge  waren  keinerlei  Schlüsse  zu  ziehen,  da  dieselbe 
sich  ganz  in  den  Grenzen  der  Norm  hielt.  Ebenso  fehlten  Verände- 
rungen am  Zirkulationsapparat  mit  Ausnahme  einer  ganz  mäßigen 
Spannung  des  Pulses  in  beiden  Fällen.  Es  ist  nach  alledem  nicht  zu 
verwundern,  daß  eine  sichere  Diagnose  in  vivo  nicht  gestellt  werden 
konnte. 

Noch  einem  Einwurf  glaube  ich  entgegentreten  zu  sollen:  dem,  es 
sei  anatomisch,  speziell  mikroskopisch  keineswes  erwiesen,  ob  die  be- 
schriebenen Veränderungen  wirklich  gleichbedeutend  seien  mit  Morbus 
Brightii,  oder  ob  nicht  vielmehr  das  ganze  Bild  Heilungsvorgängen  ent- 
spräche, Heilungsvorgängen  einmal,  wie  sie  beobachtet  würden  bei  in- 
fektiösen Nephritiden,  speziell  bei  Pyelonephritis  ascendens,  und  dann 
solchen  nach  Traumen,  Infarkten  etc.,  also  lokalen  Insulten  der  Niere. 
Die  letzteren  kann  ich  wohl,  ohne  ein  Wort  darüber  zu  verlieren, 
ausschalten.  Anamnese,  klinischer  Verlauf^  Sektions-  und  mikrosko- 
pischer Befund  sprechen  einstimmig  und  absolut  dagegen.  Wie  steht 
es  nun  mit  jenen  infektiösen  Nephritiden?  Wir  haben  da  zu  unter- 
scheiden zwischen  solchen,  welche  von  den  tieferen  Harnwegen  her 
aufsteigen  und  solchen,  die  hämatogenen  Ursprungs  sind,  von  denen 
schon  bisher  angenommen  wurde,  daß  sie  einseitig  sein  können,  wenn 
ich  auch  hervorheben  muß,  daß  selbst  diese  aus  begreiflichen  Ursachen 
meist  doppelseitig  sind,  nämlich  Pyelonephritis  ascendens  im  eigent- 
lichen Sinn  und  die  hämatogene  infektiöse  (eiterige)  Nephritis.  Von 
diesen  beiden  Formen  ist  es  bekannt,  daß  sie  in  einen  chronisch  ent- 
zündlichen oder  auch  indurierenden  Prozeß  ausgehen  können.  Ich 
glaube  tatsächlich,  daß  es  anatomisch  nicht  ganz  sicher  zu  entscheiden 
wäre,  ob  wir  eine  auf  diese  Weise  entstandene  einseitige  Nephritis  vor 
uns  haben,  wenn  mir  auch  nicht  bekannt  geworden  ist,  daß  diese 
^chronisch  entzündlichen  oder  indurierenden  Prozesse*  später  je  das 
Bild  einer  typischen  hämorrhagischen  Nephritis  geboten  hätten.  Jeden- 
falls ist  in  der  Niere  weder  makroskopisch  noch  mikroskopisch  etwas 
von  den  Heilungsvorgängen  zu  sehen  gewesen,  welche  Brügauff^)  in 
seiner  interessanten  und  lehrreichen  Arbeit  aus  Ponfigks  Institut  be- 
schreibt. Aber  wir  brauchen  in  unserem  Fall  uns  nur  den  klinischen 
Verlauf  der  Krankheit  vor  Augen  zu  führen,  um  sofort  ausschließen 
zu  können,  daß  es  sich  hier  um  Heilungsvorgänge  bezw.  „Ueber- 
gang^  in  chronisch  entzündliche  Prozesse  handeln  kann.  Das  ganze 
Krankenlager  der  Frau  hat  knapp  3  Wochen  gedauert  und  hat  keines- 
wegs mit  den  Symptomen  einer  Pyelonephritis  begonnen,   vielmehr  — 

1)  Brucauff,  Virchows  Archiv,  Bd.  166,  1901. 


lieber  Massenblntungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        797 

ohne  Fieber,  ohne  subjektives  Krankheitsgefühl  —  mit  Blutungen. 
Und  dann,  in  3  Wochen  bildet  sich  eine  akute  eit^erige  Nierenentzündung 
nicht  so  um,  dazu  gehören  Monate,  wenn  nicht  Jahre.  Zu  alledem 
führt  ja  die  Anamnese  direkt  auf  eine  früher  erworbene  Nieren- 
entzündung im  Sinne  des  Morbus  Brightii  hin.  Die  Patientin  hat  in 
ihrer  Kindheit  Pocken,  Masern,  Scharlach,  Diphtherie  durchgemacht.  So 
bleibt  uns  eben,  wenn  wir  die  Blutung  überhaupt  mit  den  gefundenen 
entzündlichen  Veränderungen  der  rechten  Niere  in  Zusammenhang 
bringen  wollen,  nur  die  Annahme  übrig,  daß  die  unilaterale  Nephritis 
von  einer  jener  Krankheiten  übrig  geblieben  ist. 

Leider  ist  in  allen  unseren  Fällen  eine  bakteriologische  Unter- 
suchung des  steril  entnommenen  Urins  versäumt  worden,  so  daß  wir 
außer  stände  sind,  die  so  wichtige  Frage  zu  beantworten,  wie  weit  die 
akuten  Exacerbationen  der  chronischen  Nephritiden  auf  einer  infektiösen 
Basis  beruhen. 

Noch  ein  Punkt  scheint  mir  der  Erwähnung  wert.  In  der  aus- 
gedehnten und  nützlichen  Diskussion  zu  Senators  ^)  Vortrag  im  Ver- 
ein für  innere  Medizin  in  Berlin  brachte  Zondek  sehr  interessante 
Präparate,  aus  denen  hervorging,  daß  kleine  Steine  an  operativ  ge- 
spaltenen Nieren  sehr  wohl  verborgen  bleiben  und  daß  solche  Steine 
zirkumskripte  Entzündungen  hervorrufen  können,  die  bei  längerer  Fort- 
dauer des  Reizes  größere  Bezirke  der  Niere  umgreifen  können.  Ohne 
diese  Tatsachen  in  Abrede  stellen  zu  wollen,  möchte  ich  betonen,  daß 
in  unserem  Falle  die  Entzündung  einmal  die  ganze  Niere  umfaßte,  und 
dann,  daß  bei  der  Sektion  nichts  von  einem  Steinchen  zu  finden  war» 

Haben  wir  nun  nach  diesen  klinischen  und  anatomischen  Befunden 
Veranlassung,  statt  der  naheliegenden  Annahme,  die  Blutungen  hätten 
in  den  beschriebenen  entzündlichen  Prozessen  ihre  Ursache,  auf  die 
Hypothesen  einer  Angioneurose  zurückzukommen,  mit  anderen  Worten^ 
war  die  Hämaturie  der  Ausdruck  eines  organischen  Nierenleidens  oder 
einer  neuropathischen  Veranlagung  der  Nierengefäße? 

Klemperer  hat  bekanntlich  in  Analogie  anderer  „neuropathischer^ 
Blutungen,  wie  der  Menstrualblutung,  der  nervösen  Blutungen  hoch- 
gradig neurasthenischer  und  hysterischer  Individuen,  angenommen^ 
solche  Blutungen  könnten  auch  aus  den  Nieren  erfolgen  und  zwar  aus 
gesunden  Nieren,  wie  es  bekannt  sei,  daß  aus  anderen  anatomisch  un- 
veränderten Organen  profuse  Blutungen  erfolgten,  z.  B.  Haemoptoe^ 
Haematemesis  zur  Zeit  einer  Suppressio  mensium.  Er  bezieht  sich 
dabei  auf  die  anerkannte  Autorität  von  Regklinohausens. 

Nicht  nur  klinische  Beobachtungen  und  Obduktionsbefunde  haben 
zur  Evidenz  bewiesen,  daß  aus  gesunden  Organen  unter  nervösen  Ein- 
flüssen Blutungen  erfolgen  können,   sondern   auch  der  experimentellen 


1)  Senator,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1902,  Ver.  Beil.  No.  9. 


798  Rudolf  Stich, 

Forschung  ist  es  mehrfach  gelungen,  durch  Nervenreizung  Blutungen 
in  gesunden  Organen  hervorzurufen. 

Die  Entstehung  solcher  Blutungen  durch  Nerveneinfluß  soll  nach 
der  Annahme  einzelner  Autoren  durch  Reizung  der  Vasomotoren,  Blut- 
drucksteigerung und  Berstung  der  Gef&ße  zu  erklären  sein.  Vülpian 
hält  eine  Lähmung  der  vasomotorischen  Zentren  für  die  Ursache  der 
Blutungen:  sie  bedingt  eine  Erschlaffung  der  Gefäßwand  und  Ueber- 
füUung  der  kleinsten  Gefäße. 

Die  Möglichkeit  solcher  Blutungen  also,  für  dieSoKOLOFF^ 
aus  der  Klinik  Boteins  bereits  vor  30  Jahren  einen  Fall  angeführt 
hat  —  dessen  zweifellose  Richtigkeit  bei  der  damaligen  Untersuchungs- 
methode freilich  nicht  sichergestellt  hat  werden  können  —  die  Möglich- 
keit besteht.  Freilich  müßte  man,  wenn  man  von  „nervösen  Blutungen" 
spricht,  eigentlich  eine  „neuropathische"  Konstitution  oder  sonst  nervöse 
Störungen  an  den  betreffenden  Patienten  finden.  In  einer  Anzahl  der 
von  Klemperer  angeführten  Fälle  spielen  solche  Zustände  auch  eine 
Rolle,  in  anderen  ist  nichts  davon  erwähnt,  in  diesen  sollen  dann  eben 
die  Nierengefäßnerven  die  einzigen  gewesen  sein,  die  verändert  waren. 

Geben  wir  also  die  Möglichkeit  der  angioneurotischen  Blutungen 
zu!  Sind  wir  danach  gezwungen,  in  unseren  beiden  Fällen  von  einer 
Angioneurose  zu  sprechen?  Insofern  vielleicht,  als  eben  jeder  Blut- 
austritt durch  unverletzte  Gefäße  in  letzter  Linie  auf  nervösen  Ur- 
sachen beruhen  kann.  Finden  wir  in  einer  blutenden  Niere  einen  Stein 
oder  einen  Tumor  oder  einen  tuberkulösen  Herd,  so  nehmen  wir  an, 
daß  diese  die  Ursache  der  Blutung  waren.  Finden  wir  dagegen  bei 
einer  rechtsseitigen  Hämaturie  mikroskopisch  das  Bild  einer  chronischen 
diflfusen  hämorrhagischen  Nephritis,  dann  sollten  wir  eine  neuropathische 
Blutung  annehmen?  Ich  glaube,  es  ist  natürlicher,  wenn  wir  von  einer 
einseitigen  hämorrhagischen  Nephritis  sprechen. 

Die  Anamnese,  die  klinische  Untersuchung  und  die  Autopsie  er- 
gaben nichts  Positives  für  die  Annahme  einer  luetischen  Erkran- 
kung der  Niere.  Immerhin  ist  im  Auge  zu  behalten,  daß  die  Syphilis 
zu  sekundären  Nieren  Veränderungen  führen  kann,  die  in  ihrem  patho- 
logisch-anatomischen Verhalten  keine  spezifischen  Charaktere  zeigen. 
Alle  Formen  der  chronischen  Nephritis  sind  bei  syphilitischen  Indivi- 
duen beobachtet.  Immerhin  ist  es  mir  auch  von  diesen  Formen  nicht 
bekannt,  daß  sie  jemals  einseitig  gewesen  sein  sollen. 

Es  bleibt  mir  nur  noch  zu  erwähnen  übrig,  daß  auch  für  die 
Nieren  blutung  nach  körperlicher  Ueberanstrengun  g 
(Leyden,  Klemperer,  Senator)  bei  unseren  beiden  ersten  Fällen 
keine  Anhaltspunkte  waren. 

Der  dritte  der  mitgeteilten  Fälle  ist  nicht  so  klar.    Daß  die  Ko- 


1)  SoKOLOFF,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1874,  No.  20. 


Ueber  MassenblutuDgen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        799 

liken  renale  waren  und  nicht  andere  Ursachen  wie  etwa  Gallensteine, 
Pankreas-  und  Wurmfortsatzerkrankungen,  Darmverschluß,  Magen-  und 
Duodenalgeschwüre  hatten,  ist  durch  die  Hämaturie  und  die  ganz 
enorme  Schmerzhaftigkeit  der  rechten  Nierengegend  erwiesen.  Daß 
nicht  Krankheitszustände  des  Ureters  die  Blutungen  und  die  Koliken 
veranlaßt  haben,  scheint  mir  einmal  durch  das  Fehlen  einer  Striktur 
(retrograde  Sondierung  bei  der  Operation)  und  dann  durch  die  immer 
wiederkehrenden,  außerordentlich  starken  Hämaturien  bestätigt. 

Die  Niere  war  nicht  dislociert,  also  können  wir  kaum  eine  inter- 
mittierende Hjdronephrose,  bei  der  Blutungen  und  Koliken 
vorkommen,  annehmen,  zumal  während  der  Schmerzparoxysmen  nie  eine 
Vergrößerung  der  Niere  konstatiert  werden  konnte. 

Ein  Neoplasma  der  Niere  dürfte  wohl  auszuschließen  sein. 
3  Jahre  nach  Beginn  der  Erkrankung  wurde  bei  der  Nephrotomie  weder 
in  der  Niere  noch  im  Nierenbecken  noch  im  Ureter  etwas  von  Tumoren 
nachgewiesen ;  die  Blutung  stand  trotzdem  nach  der  Operation  prompt. 
Auch  bei  der  zweiten  Auftiahme,  4  Jahre  später,  und  selbst  bei  einer 
Nachuntersuchung  im  April  1903,  also  10  Jahre  nach  Beginn  der  Er- 
krankung war  nichts  von  einem  Tumor  palpabel.  Wenn  auch  in  ein- 
zelnen, seltenen  Fällen  das  Wachstum  von  malignen  Neubildungen  der 
Nieren  außerordentlich  langsam  vor  sich  -geht,  so  ist  es  doch  in  hohem 
Grade  unwahrscheinlich,  daß  bei  so  langer  Beobachtungsdauer  nie  ein 
Tumor  hätte  gefühlt  werden  können,  wenn  tatsächlich  ein  solcher  vor- 
handen war. 

Auch  an  eine  Nephrolithiasis  kann  ich  in  unserem  Falle  nicht 
recht  glauben,  wenngleich  der  Ausschluß  einer  solchen  stets  auf  die 
größten  Schwierigkeiten  stößt.  Es  wurde  bei  der  Operation  nichts  von 
Steinen  gefunden,  trotzdem  die  Niere  nicht  etwa  nur  palpiert  oder  das 
Nierenbecken  durch  Pyelotomie  freigelegt  wurde,  sondern  trotz  der 
breit  spaltenden  Nephrotomie.  Aber  es  ist  ja  allgemein  bekannt,  daß 
erbsengroße  und  kleinere  Steine,  die  wohl  recht  heftige  Koliken  aus- 
lösen können,  bei  der  Operation  übersehen  werden  können.  Noch  vor 
wenigen  Wochen  sah  ich  einen  derartigen  Fall,  bei  dem  in  zwei 
Sitzungen  aus  aseptischer  Niere  rechts  9  Steine  von  Linsen-  bis 
Kirschgröße  und  links  ein  etwa  walnußgroßer  Stein  entfernt  wurde, 
der  einen  vollständigen  Ausguß  des  Nierenbeckens  darzustellen  schien 
und  nirgends  Bruchflächen  zeigte  oder  Facetten,  welche  auf  das  Vor- 
handensein weiterer  Steine  hätten  schließen  lassen;  auch  die  genaueste 
Palpation  des  durch  die  Pyelotomiewunde  eingeführten  Fingers  und  der 
Sonde  hatte  nichts  mehr  von  Steinen  erkennen  lassen.  6  Wochen  nach 
der  ersten  und  11  Tage  nach  der  zweiten  Operation  wurde  mit  dem 
Urin  unter  typischen  Anfällen  rechts  ein  linsengroßer,  links  ein  erbsen- 
großer Stein  entleert,  dessen  Zugehörigkeit  zu  den  betreffenden  Seiten 
um  so  leichter  nachzuweisen  war,  als  die  chemische  Zusammensetzung 


800  Rudolf  Stich, 

der  Steine  der  beiden  Seiten  differierte.  Obwohl  das  negative  Operations- 
resultat nicht  unbedingt  gegen  einen  Stein  spricht^  ist  es  doch  be- 
achtenswert. Dazu  kommt,  daß  die  Blutungen  und  KoUken  zeitlich 
stets  so  gelagert  waren,  daß  wir  von  Steinkoliken  im  eigentlichen  Sinne 
nicht  recht  wohl  sprechen  können.  Stets  waren  nämlich  die  Blutungen 
das  primäre  und  erst,  wenn  dieselben  profus  wurden,  also  Gerinnsel- 
bildung eintreten  mußte,  dann  setzten  die  Schmerzfälle  ein,  die  eben 
weiter  nichts  bedeuteten,  als  daß  die  Goagula  sich  durch  den  Ureter 
nach  der  Blase  durchzwängten.  Ich  kann  aus  diesem  Grund  für  unsere 
Fälle  eigentlich  auch  nicht  so  recht  an  Israels  Theorie  von  der  Nieren- 
kongestion als  Ursache  der  Schmerzen  glauben. 

Noch  schwerer  auszuschließen  oder  Oberhaupt  nicht  mit  Sicherheit 
auszuschließen  ist  Tuberkulose.  Vor  allem  wäre  für  diese  Er- 
krankung die  Vornahme  einer  cystoskopischen  Untersuchung  eventuell 
von  größtem  Wert  gewesen.  Die  Tatsache,  daß  bei  der  Nierenspaltung 
kein  tuberkulöser  Herd  gefunden  wurde,  beweist  nichts  gegen  Tuber- 
kulose. Der  lehrreiche  Fall  von  Braatz  zu  diesem  Kapitel  ist  bereits 
erwähnt.  Etwas,  was  vielleicht  gegen  eine  tuberkulöse  Infektion  an- 
zuführen wäre,  ist  der  weitere  Verlauf.  Daß  die  Nierentuberkulose  in 
ihren  Anfangsstadien  bei  rein  interner  und  allgemeiner  Behandlung  einer 
Ausheilung  fähig  ist,  wird  nicht  nur  von  inneren  Klinikern  behauptet, 
sondern  auch  von  hervorragender  chirurgischer  Seite  hervorgehoben 
(TuFFiER,  GüYON  u.  a.).  ludosseu  erscheint  es  mir  im  höchsten  Grade 
unwahrscheinlich,  daß  bei  den  stürmischen  und  wiederholten  Attacken, 
die  unser  Patient  durchzumachen  hatte,  eine  Ausheilung  erfolgt  wäre, 
wenn  der  Prozeß  ein  tuberkulöser  gewesen  wäre;  denn  allseitig  wird 
anerkannt,  daß  reichliche  Blutungen  sofortige  Nephrektomie  erfordern. 
Vielleicht  könnten  bei  einer  gelegentlichen  neuen  Untersuchung  Cysto- 
skopie  und  Tuberkulininjektionen  größere  Klarheit  schaffen. 

So  stehen  wir  denn  unter  Ausschaltung  der  zahlreichen,  seltenen 
Ursachen  für  Nierenblutung  und  Nierenkolik,  deren  ausführliche  Be- 
sprechung über  den  Rahmen  dieser  Arbeit  hinausginge,  vor  der  Wahl, 
beunruhigende  Krankheitserscheinungen  bei  gesunden  Nieren  anzu- 
nehmen, mögen  wir  sie  nun  idiopathische  renale  Neuralgie,  Nephralgie 
h^maturique,  essentielle  Hämaturie,  angioneurotische  Nierenblutung 
heißen,  oder  aber  wir  müßten  auch  in  diesem  Fall  eine  hämorrhagische 
Nephritis  von  jener  seltenen  Form  den  erwähnten  Symptomen  suppo- 
nieren.  Eine  sichere  Entscheidung  zu  treffen,  scheint  mir  unmögUch, 
und  ich  unterlasse  es  deshalb,  mich  in  unfruchtbaren  Spekulationen 
über  diesen  Punkt  zu  ergehen.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  4.  Falle,  bei 
dem  die  Diagnose  sich  ja  überhaupt  nur  auf  klinische  Beobachtungen 
stützen  kann. 

Ich  wende  mich  zu  der  Therapie  der  Fälle  und  schicke  voraus, 
daß  es  bei  diesen  Erkrankungen  ganz  außerordentlich  schwer  ist,  rieh- 


Ueber  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        801 

tige  Schlüsse  auf  die  Wirksamkeit  therapeutischer  Maßnahmen  zu  ziehen, 
da  die  Blutungen  oft  genug  ganz  spontan  ohne  jede  Behandlung,  ja 
selbst  ohne  die  allgemein  empfohlene  Ruhelage  stehen.  Eines  freilich 
halte  ich  für  richtig,  zu  betonen:  nur  dann,  wenn  wir  im  stände  sind, 
mit  voller  Sicherheit  einen  malignen  Tumor  oder  Tuberkulose  auszu- 
schließen, sind  wir  berechtigt,  einen  operativen  Eingriff  zunächst  zu 
unterlassen.  Anderenfalls  müssen  wir,  auch  wenn  die  beunruhigenden 
Symptome  —  Massenblutungen  und  Kolikanfälle  —  durch  oder  während 
interner  Behandlung  beseitigt  würden,  unserem  Klienten  einen  opera- 
tiven Eingriff  unbedingt  anraten.  Unsere  moderne  Nierendiagnostik 
bewegt  sich  erfreulich  aufwärts,  so  daß  wir  hoffen  dürfen,  manchen 
dieser  Fälle,  der  bisher  ohne  Diagnose  das  Krankenhaus  verließ,  in  der 
Zukunft  richtig  rubrizieren  zu  können;  aber  trotzdem  dürfte  es  auch 
in  der  Zukunft  schwer  sein,  stets  einen  beginnenden  Nierentumor  aus- 
zuschließen. Wer  mit  der  Pathologie  der  Nierentumoren  einigermaßen 
vertraut  ist,  weiß  sehr  wohl,  daß  selbst  ganz  profuse  Blutungen  im 
Verlauf  dieser  Prozesse  monate-,  ja  jahrelang  zum  Stillstand  kommen 
können,  und  daß  deshalb  das  Sistieren  der  Blutung  durchaus  kein  Be- 
weis für  die  günstige  Prognose  des  Leidens  ist.  Ich  kann  mich  des- 
halb keineswegs  mit  Klehperers^)  Thesen  4.  und  8.  einverstanden 
erklären,  gebe  vielmehr  den  Chirurgen  durchaus  recht,  welche  dieselben 
geradezu  gefährlich  erachten.  Wenn  wir  in  diesen  unklaren  Fällen  von 
Hämaturie  —  und  das  werden  sie  ja  in  der  Mehrzahl  auch  fernerhin 
bleiben  —  warten  wollen,  bis  ein  positiver  Palpationsbefund  oder  gar 
der  Nachweis  von  Tumorzellen  im  Urin  die  Diagnose  einer  angio- 
neurotischen  Nierenblutung  ausschließt,  dann  kann  die  kostbarste  Z^it 
für  die  Frühoperation  eines  sonst  tödlichen  Leidens  bereits  ver- 
strichen sein. 

Welche  Gefahren  aber  auch  auf  anderen  Gebieten  in  dem  Warten 
mit  der  Operation  liegen,  das  zeigt  unser  Fall  I,  der  —  ohne  unsere 
Schuld  —  nicht  zur  Operation  kam:  die  Gerinnselbildung,  die  dadurch 
hervorgerufene  Verstopfung  des  Orificium  internum  urethrae  und  die 
Notwendigkeit  mehrfacher  Katheterisation  verursachten  eine  heftige 
Cystitis  und  aufsteigende  Pyelonephritis. 

Die  Prognose  dieser  Massenblutungen  ist  nach  unseren  Fällen  keine 
günstige.  Nur  zwei  der  Kranken  haben  die  mehrfachen  Attacken 
schwerster  Hämaturie  glücklich  überstanden.  Von  den  beiden  letal 
endigenden  Fällen  ist  der  eine  rein  intern,  der  andere  intern  und 
chirurgisch  behandelt  worden.  Die  interne  Behandlung  bestand  in 
erster  Linie  in  Bettruhe  und  reizloser  Diät,  wie  sie  bei  allen  auf 
nephritischer  Basis  beruhenden  akuten  oder  chronisch  exacerbierenden 
Nierenerkrankungen   empfohlen  ist.     Sodann    wurde    versucht,    durch 


1)  Klbmpbrbb,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1897,  No.  10. 


802  Rudolf  Stich, 

Styptica  per  os  und  subkutane  Gelatineinjektionen  die  Blutungen 
günstig  zu  beeinflussen.  Es  schien  ja  in  dem  Falle  I  auch,  als  ob  diese 
Medikationen  auf  die  Hämaturie  von  guter  Wirkung  wären,  aber  ehe 
die  Blutungen  ganz  beseitigt  waren,  fiel  die  Frau  einer  infektiösen 
eitrigen  Nephritis  zum  Opfer.  Im  Falle  II  hatte  die  einmalige  Gela- 
tineinjektion (2  g)  gar  keinen  Erfolg  zu  verzeichnen,  der  Patient  wurde 
auf  seinen  Wunsch  zunächst  ungeheilt  entlassen,  und  zu  Hause  ver- 
schwanden die  Blutungen  dann  bald  ohne  jede  ärztliche  Behandlung 
ganz  von  selbst,  freilich,  um  nach  2  Monaten  neuerdings  einzusetzen. 
Der  schon  bei  der  ersten  Aufnahme  vorgeschlagene,  aber  vom  Patienten 
abgelehnte  Probeschnitt  wurde  jetzt  nach  längerer,  vergeblicher  interner 
Behandlung  ausgeführt;  es  fand  sich  eine  hämorrhagische  Nephritis. 
Leider  erlag  der  Patient  einer  Sepsis.  Dieser  unglückliche  Ausgang 
kann  nicht  gegen  den  Vorschlag  eines  chirurgischen  Eingriffes  in  An- 
spruch genommen  werden.  Einmal  hätte  das  Leiden  ohne  einen  solchen 
wahrscheinlich  auch  letal  geendet,  und  dann  sind  die  Operationsver- 
luste ^)  bei  diesen  unstillbaren  Nierenblutungen  keine  sehr  großen. 
Von  14  Nephrotomien  starben  nur  3,  Fälle  von  Olivier,  Israel  und 
Schede.  Die  Todesursache  war  in  allen  3  Fällen  eine  doppelseitige 
Nephritis,  einmal  unter  Konkurrenz  eines  leichten  Erysipels.  Auch  in 
unserem  Falle  ist  es  nicht  unmöglich,  daß  eine  doppelseitige  Nieren- 
entzündung vorlag. 

Die  Blutung  kam  nach  der  Nephrotomie  hier  nicht  zum  Stillstand^ 
vielmehr  entleerte  der  Patient  auch  weiterhin  bluthaltigen  Urin.  Es 
sind  mehrfach  in  der  Literatur  derartige  Fälle  verzeichnet,  die  dann 
durch  die  sekundäre  Nephrektomie  zur  Heilung  kamen.  Bei  uns  konnte 
die  Nephrektomie  den  letalen  Ausgang  nicht  aufhalten.  Der  Grunde 
warum  im  vorliegenden  Fall  die  Blutungen  nicht  standen,  ist  natürlich 
schwer  ausfindig  zu  machen.  Zweierlei  könnte  vielleicht  in  Betracht 
kommen,  erstens  die  septische  Infektion,  zweitens  die  Naht,  die  viel- 
leicht durch  stärkere  Spannung  in  einzelnen  Gebieten  des  Nierenparen- 
chyms venöse  Stauung  hervorrief ;  vielleicht  haben  auch  beide  Faktoren 
ineinander  gegriffen.  Israel  hat  auf  Grund  seiner  Erfahrungen  jetzt 
empfohlen,  statt  der  Naht  in  diesen  Fällen  die  Tamponade  der  Nieren- 
wunde vorzunehmen,  von  der  Erwägung  ausgehend,  daß  die  von  ihm 
beabsichtigte  Entspannung  und  Gewebsdrainage  dadurch  viel  ausgiebiger 
zu  erreichen  sei. 

Im  3.  Fall  wurde,  in  Annahme  einer  Nephrolithiasis,  beim  zweiten 
Anfall  die  Nephrotomie  vorgenommen.  Obwohl  sich  kein  Stein  fand,  stand 
die  Hämaturie  nach  der  Operation,  um  4  Jahre  später  neuerdings  einzu- 
setzen. Auch  solche  Fälle  sind  bekannt,  wenngleich  selten.  Sie  sind 
von    Israel    und   in   den   neueren   größeren   Lehrbüchern    aufgeführt 


1)  Schede,  1.  c. 


Ueber  Massenblutongen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.        803 

(Senator,  Penzoldt  -  Stintzing  u.  a,),  so  daß  der  Hinweis  genügt. 
Auch  hier  ist  wiederholt  mit  der  sekundären  Nephrektomie  definitive 
Heilung  erzielt  worden.  In  unserem  Fall  stand  die  neue  Blutung,  wie 
früher  erwähnt,  nach  mehrfachen  Gelatineinjektionen,  so  daß  ein  zweiter 
operativer  Eingriff  unnötig  wurde. 

Ich  glaube,  daß  wir  in  Bezug  auf  die  Behandlung  dieser  Massen- 
blutung folgendes  aus  unseren  Fällen  gelernt  haben :  Zunächst  ist  unter 
allen  Umständen  zu  versuchen,  die  Blutung  ohne  operativen  Eingriff 
zu  beseitigen ;  denn  selbst  bei  Verdacht  auf  Tumor  werden  die  Vorbe- 
dingungen einer  Operation  im  Ruhestadium,  wenn  ich  so  sagen  soll^ 
günstiger  sein.  Von  der  innerlichen  Darreichung  der  Styptica  wird 
man  wenig  zu  erwarten  haben.  Dagegen  dürfte  —  Bettruhe  und  nicht 
reizende  Diät  als  selbstverständlich  vorausgesetzt  —  ein  Versuch  mit 
subkutanen  Gelatineinjektionen  indiziert  sein.  Eventuell  kann  Kälte  in 
Form  einer  Eisblase  diesen  Versuch  unterstützen.  In  Anbetracht  der 
Fälle  von  Senator,  Klemperer,  Leoueu  etc.  kann  eine  suggestive 
Behandlungsweise  und  hydrotherapeutische  Maßnahmen  mit  Nutzen  ein- 
geleitet werden.  Gehen  aber  die  Symptome  nicht  in  8 — 14  Tagen  zu- 
rück, so  ist  unter  allen  umständen  die  probatorische  Freilegung  der 
Niere  zu  empfehlen.  Schon  vor  diesem  Zeitraum  ist  ein  operativer 
Eingriff  vorzuschlagen,  wenn  die  Symptome  bedrohlicher  werden  oder 
Erscheinungen  eiteriger  Nephritis  bezw.  Cystitis  eintreten.  Von  dem 
Operationsbefund  hängen  die  weiteren  Maßnahmen  ab.  Auch  im  Fall 
des  Rückgangs  der  Blutungen  ist  dann  ein  operativer  Eingriff  ange- 
zeigt, wenn  der  Verdacht  auf  Nieren tumor  weiterbesteht.  In  jedem 
Fall  sind  die  Kranken  anzuweisen,  auch  nach  ihrer  Entlassung  sich 
ärztlich  überwachen  zu  lassen. 

Die  Lehre  von  der  Doppelseitigkeit  des  Morbus  Brightii  wird 
auch  in  der  Zukunft  für  die  überwältigende  Mehrzahl  der  F^le  gelten, 
wie  uns  die  Sektionsberichte  auch  weiterhin  zeigen  werden.  Eins 
scheint  mir  aber  unser  Fall  I  zu  zeigen,  daß  es  selteneFälle  gibt, 
die  —  klinisch  durch  Hämaturie  und  Koliken  ausge- 
zeichnet —  anatomisch  auf  der  kranken  Seite  das  Bild 
einer  diffusen  chronischen  parenchymatösen  und  inter- 
stitiellen Nephritis  darbieten,  während  die  andereNiere 
normal  ist. 


Literatur. 

(Das  nachstehende  Verzeichnis  enthält  nur  diejenigen  Arbeiten,  welche 
nicht  bereits  in  dem  Sammelreferat  von  Wilhelm  Klink  aufgeführt 
sind  [Centralbl.  f.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  1903,  p.  641,  740,  784, 
826,  869,  916]). 


804  '  Rudolf  Stich, 

1)  Albarran  et  Bbrnard,  Regeneration  de  la  capsule  dn  rein  .  .  .  Sem. 
niM.,  1902. 

2)  AsAKURA,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Decapsulatio  renum. 
Mitteil.  a.  d.  Grenzgeb.,  Bd.  12. 

3)  Barette,  Les  n^phrites  infectieuses  au  point  de  vue  chir.  These 
d'agregat.,  Paris  1887. 

4)  Barth,  Zur  Frage  der  diagnostischen  Nierenspaltung.  29.  Chir.-Kongr. 
zu  Berlin.     Centralbl.  f.  Ohir.,  1900. 

5)  Blake,  Freliminary  report  of  five  cases  of  renal  decapsulation.  Boston 
med.  and  surg.  Journ.,  1903,  Aug.  13. 

6)  BoNsz  -  OsMOLOwsKY,  Einige  Untersuchungsergebnisse  über  die  Ver- 
änderungen der  Nieren  bei  Entfernung  ihrer  Kapsel.  Russky  Wratsch, 
1903.     Ref.  i.  d.  Münch.  med.  Wochenschr.,  1903. 

7)  Braatz,  Ueber  operative  Spaltung  der  Niere.  Dtsch.  med.  Wochen- 
schrift, 1900,  No.  10. 

8)  BüHNBR,  Ueber  einen  Fall  von  Nephrotomie  wegen  Nierenblutung . . . 
Dissertation  Bonn,  1901. 

9)  CaillA,  Chronic  parenchymatosis  nephritis  in  a  child  treated  by  renal 
decaps.     Arch.  of  Pediatrics,  1902  (nach  Edbbohls). 

10)  CiüTi,   L'intervento   chirurgico   nelle   nefriti.     Riv.   crit.   di  clin.  med., 

1902,  No.  22  (HiLDEBRANOs  Jahresber.). 

11)  DoRST,  Een  gewal  von  pseudoessentieller  Hämaturie.  Nederl.  Tjydschr. 
V.  Geneesk.,  I.     Ref.  i.  d.  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1902. 

12)  Edebohls,  The  technics  of  nephropexy,  as  an  Operation  per  se  .  .  . 
Ann.  of  surg..  Febr.  1902. 

13)  —  Questions  of  priori ty  in  the  surgical  treatment  of  •  .  .  Med.  Reo., 
April  26,  1902. 

14)  —  Renal  decapsulation  for  chronic  Brights  disease.  Med.  Reo.,  1903, 
March  28. 

15)  Ehrhardt,  Experimentelle  Beitr&ge  zur  Nierendekapsulation.  Mitteil. 
a.  d.  Grenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  13,  1904. 

16)  Esoat,  Des  h^maturies  renales  chez  les  prostatiques.  Assoc.  £ran9. 
d'urolog.,  Oct.  1899. 

17)  Fenwick,  Renal  papiUectomy.  A  contribution  of  the  study  of  painless . . . 
Brit.  med.  Journ.,  1900,  Febr.  3. 

18)  Ferguson,  Surgical  treatment  of  nephritis  or  Brights  disease.  Med. 
Stand.,  Chicago,  June  1899. 

19)  Flodbrus,  Om  höggradig  renal  hematuri  vid  makroskopiskt  oförändrade 
njurar.  Upsala  Läkarefören.  Förhandl.,  N.  F.  Bd.  4.  Ref.  im  Centralbl. 
f.  Chir. 

20)  Gibbons,  Renal  colic  in  infants.     The  Lancet,  1896,  Jan.  18. 

21)  GuiTäRAs,  The  surgical  treatment  of  Brights  disease.  New  York  med. 
Journ.,  1902,  p.  847. 

22)  Hahn,  Nierenblutung  bei  Hämophilie,  durch  Gelatine  geheilt.  Münch. 
med.  Wochenschr.,   1900,  No.  42. 

23)  Hanchbtt,    Surgical    treatment    of  chronic  nephritis.      Critique,  Jan. 

1903,  p.  1. 

24)  Harrison,  Nefrotomia  nelle  nefriti.  Gazz.  degli  osped.  e  della  clin., 
1901,  No.  35  (Hildebrands  Jahresber.). 

25)  Henry,  Nephropexy  in  a  case  of  chronic  nephritis.  Amer.  Journ.  of 
the  med.  scienc,  1903,  Sept. 


lieber  Massenblutungea  aas  gesunden  und  kranken  Nieren.        805 

26)  Hbrmak,  Der  Nierenschnitt  als  therapeutischer  Eingriff  bei  sogenannter 
Nephralgie  .  .  .  Przegl^d  lekarski,  1902,  No.  19—22.  Ref.  Oentralbl. 
f.  Chir.,  1902. 

27)  Holländer,  Nierenexstirpation  bei  einem  8-monatlichen  Kinde.  Dtsch. 
med.  Wochensohr.,  1903,  No.  34. 

28)  HoFBAUBB,  Ein  Fall  von  2-jähriger  unilateraler  Nierenblutung.  Mitteil. 
a.  d.  Orenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  5. 

29)  Imbert,  Hämaturie  h^mophilique.     Assoc.  fi*an9.  d'urologie,  1899. 

SO)  Johnston,  Haematuria  from  both  Ureters.  Joum.  of  cut.  and  gen.-ur. 
dis.,  1900,  July  (Hildbbbands  Jahresber.). 

31)  —  Splitting  the  kidney  capsule  for  the  relief  of  nephralgia.  Med. 
News,  Vol.  70,  1897,  No.  5  (nach  Edbbohls). 

32)  KoRTBWEO,  Die  chirurgische  Behandlung  der  Nephritis.  Nederl.  Tjyd- 
schrift  vor  Geneesk.,  1901  (Hildbbrands  Jahresber.). 

33)  Lambert,  De  Tincision  liböratrice  de  la  capsule  propre  du  rein.  Rev. 
de  chir.,  1897,  No.  3. 

34)  Lange,  Nephrectomy  for  acut  surgical  kidney;  double  Ureter.  Ann. 
of  surg.,  1901,  Oct. 

35)  Laurent,  Ueber  einen  Fall  von  Nephrotomie  wegen  Nierenblutung 
infolge  .  .  .  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1901,  No.  13. 

36)  Lbnnander,  Ueber  Spaltung  der  Nieren  mit  Besektion  des  Nieren- 
gewebes .  .  .  Nord.  med.  Ark.,  3.  F.,  Abt.  I,  p.  1  (Centralbl.  f.  Chir.). 

37)  Luxardo,  Del  intervento  chir.  in  alcune  forme  di  nefriti.  Grazz.  degli 
osped.,  1900,  No.  110. 

38)  Lyman,  Surgical  treatment  of  chronic  nephritis.  Journ.  of  the  Americ. 
med.  Assoc,  1902,  p.  1030. 

39)  Mac  Gowan,  Nephrotomy  for  severe  and  prolonged  mononephrous 
hemorrhage.     Med.  News,  1901,  Dec.  7. 

40)  GüiSY,  Trois  cas  d'h^maturies  hyst^riques.  Ann.  des  mal.  des  org. 
g6n.-ur.,  1901,  No.  12. 

41)  Nbvb,  A  case  of  renal  Irritation  simulating  calculus  of  the  kidney  .  .  . 
Med,  News,  1897,  Jan.  30. 

42)  Newmann,  Four  cases  unilateral  renal  hematuria  without  other  Sym- 
ptoms .  .  .  Med.  chir.  soc.  Glasgow  med.  Journ.,  1901,  May  (Hilde- 
brands Jahresber.). 

43)  Nonne,  Kasuistische  Mitteilungen.  Aerztl.  Verein  Hamburg,  21.  Jan. 
1902.     Ref.  Münch.  med.  Wochenschr.,  1902,  No.  5. 

44)  Nordbntoft,  Et  tilfoelde  of  ensidig  partiel  nephritis  chronica  .  .  . 
Hospitalstidende,  1902,  No.  42      Ref.  Dtsch.  med.  Wochenschr.,  1902. 

45)  NoufiNB,  Traitement  chirurgicale  des  nöphrites.    Th^se  de  Paris,  1903. 

46)  Primrosb,  The  operativ  treatment  of  chronic  Brights  disease.  Canadian 
Journ.  of  med.  and  surg.,  1902  (nach  Edbbohls). 

47)  Ralfe,  Causation  and  treatment  of  obscure  renal  pain.  The  Lancet, 
1896,  Febr.  29. 

48)  Rayer,  Trait6  des  maladies  des  reins.     Paris  1841. 

49)  RuMPLBB,  Der  gegenwärtige  Stand  der  Lehre  der  chirurgischen  Be- 
handlung der  .  .  .  Inaug-Diss.  StraiSburg,  1903. 

50)  SuTER,  Ueber  einseitige  renale  Hämaturie,  bedingt  durch  Teleangi- 
ektasien .  .  .  Centralbl.  f.  Chir.,  1902,  No.  16. 

öl)  Senator,  Neuralgie  der  Niere,     ßerl.  klin.  Wochenschr.,  1895,  No.  13. 
52)  Stern,   Beitrag   zur   Frage   der   chirurgischen   Behandlung   der    chro- 
nischen Nephritis.     75.  Vers,  dtsch.  Naturf.  u.  Aerzte,  Cassel  1903. 

Mlttett.  a.  d.  Orenzg«Utten  d.  Medixln  u.  Chlrorgit.    ZHI.  Bd.  52 


806  Rudolf  Stich,  lieber  Massenblutungen  etc. 

53)  Tansini,  Contributo  di  chirurgia  renale.  Festschr.  f.  £.  Bottini^ 
Palermo  1902  (Hildbbbands  Jahresber.). 

54)  TiFFANT,  Free  divislon  of  the  kidney  for  the  relief  of  nenralgia.  Trans- 
act.  of  the  Americ  surg.  assoc,  Philadelphia  1896  (nach  Edbbohls). 

55)  Trantbnboth,  Lebensgefährliche  Hämaturie  als  Zeichen  von  Nieren- 
tuberknlose.     Mitteil.  a.  d.  Orenzgeb.  d.  Med.  u.  Chir.,  Bd.  1. 

56)  Tyson  and  Frazier,  Report  of  a  case  of  decapsulation  of  the  kidney. 
üniy.  of  Pennsylv.  med.  bull.,  1903,  Sept  (nach  Edbbohls). 

57)  Waombr,  Idiopathische  renale  Neuralgie,  Nephralgie  etc.  Pbnzoldt- 
Stiktzings  Handbuch  der  speziellen  Therapie  innerer  Ejrankheiten, 
3.  Aufl. 

58)  WiLMS,  Ueber  Spaltung  der  Niere  bei  akuter  Pyelonephritis  .  -  . 
Münch.  med.  Wochenschr.,  1902,  No.  12. 


Aus  der  inneren  Abteilung  des  städtischen  Krankenhauses  zu  Stettin. 


Nachdruck  verboten. 

XXX. 

Die  Hirnpuiiktioii. 

Probepnnktloii  und  Punktioii  des  Oehirnes  und  seiner 
Häute  durch  den  intakten  Schädel. 

Von 
Dr.  Bmst  Neisser,         und  Dr.  Kurt  Follaok, 

Direktor  der  Abteilung,  I.  Assistent  der  Abteilung. 

(Hierzu   2   Abbildungen   im   Texte.) 


Ein  Fall  von  Himabsceß  in  der  motorischen  Region,  der  zwar 
Herdsymptome  machte,  aber  keinerlei  Anhaltspunkte  für  die  Annahme 
eines  eiterigen  Prozesses  bot,  vielmehr  von  uns  für  eine  nicht  eiterige  In- 
fluenzaencephalitis  gehalten  wurde  und  unoperiert  starb,  war  der  Aus- 
gangspunkt der  folgenden  Untersuchungen. 

Ueber  einige  bemerkenswerte  Resultate  ist  in  Kürze  bereits  auf  dem 
21.  Kongreß  für  innere  Medizin  (vgl.  d.  Therapie  d.  Gegenwart,  Mai  1904) 
berichtet  worden. 

In  der  vorliegenden  Arbeit  sollen  die  technischen  Einzelheiten  des 
Verfahrens,  die  in  Betracht  kommenden  anatomischen  Verhältnisse  und 
die  gewonnenen  klinischen  und  pathologischen  Erfahrungen  und  Beläge 
eingehend  geschildert  werden. 

Literatur. 

Wir  stellen  in  folgendem  zusammen,  was  wir  in  der  Literatur  über 
die  Schädel-^)  bezw.  Hirnpunktion  gefunden  haben. 

Der  erste  Autor,  welcher  die  Probepunktion  von  Hirnabscessen 
durch  den  intakten  Schädel  empfohlen  hat,  ist  Maas'). 

Maas  sagt :  „Entschließt  man  sich  aber  unter  solchen  Verhältnissen 
zu  einem  operativen  Eingriff,  so  wäre  zu  empfehlen,  nach  einer  kleinen 


1)  Wo  im  folgenden  von  8  c  h  ä  d  e  1  pnnktion  die  Bede  ist,  ist  Punktion 
des  Sch&delinhalts,  nicht  des  Schädelknochens  gemeint. 

2)  Berliner  klinische  Wochenscbr.,  6.  Jahrgang,  No.  14,  1869.  Mit- 
teilungen aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Breslau.  I.  Zur  Kasuistik  und 
Therapie  der  Oehirna bscesse  nach  eigenen  Erfahrungen  von  Dr.  Heb- 
mann Maas. 

52* 


Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Incision  durch  die  Weichteile  den  Schädel  mit  einem  feinen  DriUbohrer 
mit  gedrehter  Säule  zu  durchbohren  und  sich  von  dieser  Oeffnung  aus 
über  das  Vorhandensein  und  die  Lage  des  Abscesses  mit  einer  Nadel 
oder  einem  feinen  Troikart  zu  vergewissern.  Ist  der  Absceß  und  seine 
Lage  dann  so  konstatiert,  so  kann  man  entweder  die  Trepanation 
mit  der  gewöhnlichen  Behandlung  folgen  lassen,  oder  die  Entleerung 
und  Heilung  ohne  Anlegung  einer  größeren  Oeffnung  nach  der  oben 
angegebenen  Weise  versuchen.  Fände  man  keinen  Absceß,  so  hat  man 
durch  eine  solche  Durchbohrung  des  Knochens  keine  relativ  bedeutende 
Verletzung  gemacht,  wie  dieses  Middeldorpf  sowohl  bei  Durchbohrung 
des  Schädelknochens,  als  auch  fast  sämtlicher  anderer  Knochen  des 
Skelettes  gezeigt  hat  Natürlich  wird  vorausgesetzt,  daß  man  sich  nur 
ganz  sauber  gearbeiteter,  vorher  minutiös  gereinigter  Instrumente  be- 
dient, bei  der  Operation  den  Bohrer  mit  der  größten  Vorsicht  und, 
um  jede  Erhitzung  zu  vermeiden,  nur  langsam  eindringen  und  nach- 
her eine  sorgfältige  Antiphlogose  sowohl  örtlich  als  auch  allgemein 
folgen  läßt". 

Trotz  dieser  Empfehlung  scheint  Maas  selbst  die  Probepnnktion 
nie  ausgeführt  zu  haben. 

Middeldorpf,  auf  dessen  Bohrversuche  sich  Maas  beruft,  be- 
schreibt schon  1856,  wie  man  mittelst  eines  Bandbohrers  mit  Leichtig- 
keit einen  feinen  Kanal  durch  den  Schädel  bohren  kann^). 

„Der  Bohrer  wird  zum  Eindringen  durch  knöcherne  Hüllen  ge- 
braucht, indem  man  ihn  mit  dem  Daumen  der  linken  Hand  auf  den 
Kopf  ansetzt  und  mit  der  rechten  Hand  den  Schaft  durch  Auf-  und 
Abwärtsschieben  des  Handgriffes  in  drehende  Bewegung  setzt.  Man 
wählt  feine  Spitzen  und  findet  in  den  löffeiförmigen  sicheren  Schutz 
gegen  Verletzung  unterliegender  Häute,  z.  B.  der  Dura  mater.  Aus 
der  nadelfeinen  Oeffnung  dringen  die  Flüssigkeiten  oder  werden  in  die- 
selbe andere  Instrumente  zum  Tasten  etc.  eingeführt.  Der  Läufer 
schützt,  daß  man  nicht  unversehens  in  die  Tiefe  sinkt.  In  zwei  Fällen, 
wo  ich  ihn  zur  Diagnose  von  Ansammlungen  in  der  Schädelhöhle  ge- 
brauchte, gewährte  er  eine  überraschende  Sicherheit  des  Handelns.  In 
dem  einen  Falle  indizierte  er  die  Trepanation,  in  dem  anderen  sprach  er 
gegen  dieselbe  und  die  zu  letzterer  einladenden  Symptome  erklärte  die 
Sektion  anderweitig^.  Nachdem  Maas  sein  Instrumentarium,  bestehend 
in  Nadel  mit  Nadelhalter,  Bohrer  und  Trokaren  geschildert  hat,  zählt 
er  die  Krankheitszustände  auf,  für  deren  Diagnose  die  Akidopeirastik 
gute  Dienste  leistet;  unter  anderen  Encephalocele,  Cephalhämatom, 
Hydrocephalus,  Krebs  am  Schädel  und  seine  Durchbrechung  der  Schädel- 
wand.   Die  obige  kurze  Notiz  Maas'  beweist,  daß  er  die  Punktion  am 


1)  OOnzburos  Zeitschrift  für  klinische  Medizin,   Breslau    1856,   Jahr- 
gang 7:    Ueberblick  über  die  Akidopeirastik  von  Professor  Miodbldobpf. 


Die  Himpanktion. 

Lebenden  ein  oder  das  andere  Mal  wirklich  ausgeführt  hat.  Doch  fehlen 
alle  genaueren  Angaben. 

Dr.  6iBi£R  soll  1884  feine  Oeffnungen  in  den  Schädel  gebohrt 
haben  zur  Injektion  von  Wutgift. 

Ebenso  hat  Spitzka*)  durch  Drillbohröffhungen  Injektionen  ins 
Gehirn  gemacht. 

SouCHON^)  empfiehlt  1889  sein  an  Hunden  geprüftes  Verfahren: 
Weichteilschnitt,  Durchbohrung  des  Knochens  mit  dem  Drillbohrer,  Ein- 
führung einer  feinen  Spritze  zur  Aspiration  eventuell  angesammelter 
Flüssigkeit. 

Schmidt^  ist  der  erste,  der  in  systematischer  Weise 
eine  diagnostische  Hirnpunktion  bei  Verdacht  auf  Hirn- 
absceß  vornimmt  und  im  Anschluß  an  seinen  negativ  ver- 
laufenen Fall  die  Technik  und  Indikation  der  Punktion 
beschreibt.  Auch  er  wurde,  wie  wir,  durch  das  Bedauern,  daß  ein 
Fall  von  Hirnabsceß  unoperiert  hatte  sterben  müssen,  auf  den  Gedanken 
einer  „Schädelperforation  mit  nachfolgender  diagnostischer  Gehim- 
punktion"  gebracht  —  übrigens  auch  ohne  die  früheren  Versuche  dieser 
Art  zu  kennen. 

In  der  Einleitung  seiner  Arbeit  sagt  Schmidt  :  „Wenn  ich  in  folgen- 
dem, obwohl  mir  nicht  in  den  Sinn  kommt,  in  Sachen  der  Gehirn- 
chirurgie viel  mitsprechen  zu  dürfen,  mir  erlaube,  über  die  Schädel- 
perforation mit  nachfolgender  diagnostischer  Gehirnprobepunktion 
einige  Bemerkungen  zu  machen,  so  geschieht  dies  aus  folgenden 
Gründen.  Einerseits,  weil  diese  doch  jedenfalls  sehr  naheliegende, 
diagnostische,  leichte  und  einfache  Operation  in  der  ziemlich  reichlichen 
neueren  Literatur  der  Gehirnchirurgie  und  der  Himabsceßoperation  ins- 
besondere nirgends  besprochen  oder  empfohlen  ist,  noch  viel  weniger 
eine  Ausführung  derselben  schon  veröffentlicht  ist,  ich  aber  die  unmaß- 
gebliche Ansicht  habe,  daß  es  nur  eine  Frage  der  Zeit  ist,  daß  sie  sich 
in  der  Praxis  einbürgern  dürfte  etc.**, 

und  weiter  unten: 

„Zwar  wird  die  Kunst  des  Neuropathologen  zweifellos  auch  hier 
noch  Fortschritte  machen,  aber  dessen  Gewinne  können  kaum  aller 
Chirurgen  Gemeingut  werden,  auch  kann  nicht  jeder  Chirurg  in  praxi 
vorkommenden  Falles  die  Unterstützung  eines  besser  unterrichteten 
und  erfahrenen  Nervenarztes  sich  verschaffen,  und  da  ferner  auch  für 
den  routiniertesten  Diagnostiker  noch  unklar  bleibende   F&lle  restieren 


1)  On   some   points  regarding  therapeutical  and  other  injuries  of  the 
brain.     Proceedings  of  the  American  nearol.  assoc.  1887. 

2)  On  the  drilling   of  capillary   holes  through  the  scull  for  ezploring 
the  brain  with  neadle  and  syringe.  New  Orleans  med.  and  surg.  Joum.,  1889. 

3)  Archiv    für   klinische    Chirurgie,    Bd.    46,    1893.      Schmidt,    Zur 
Schadelperforation  mit  nachfolgender  diagnostischer  G^himpnnktion. 


810  Ernst  Neisser  und  Kart  FoIIack, 

werden,  so  werden,  wenn  man  dem  y.  BEROMANNschen  Erfordernisse, 
nur  klar  diagnostizierte  Hirnabsceßfälle  anzugreifen,  treu  bleiben  will, 
falls  es  nicht  gelingt,  die  Diagnose  mit  noch  anderen,  als  den  bisher 
üblichen  Mitteln  festzustellen,  sehr  viele  Himabsceßkranke  nach  wie  vor 
un operiert  sterben  müssen^. 

Schmidt  durchmustert  dann  die  Literatur  und  bespricht  die  Em- 
pfehlung der  Punktion  durch  Maas  (s.  oben)  und  die  Versuche  von 
MiDDELDORPF.    Er  Schreibt  dann  weiter: 

„Möglicherweise  hat  eine  Aeußerung  y.  Bergmanns  dazu  beige- 
tragen, das  Verfahren,  wenigstens  soweit  die  Anwendung  der  Aspirations- 
spritze dabei  in  Frage  kommt,  nicht  vorzunehmen^,  und  zitiert  folgende 
Worte  y.  Bergmanns^)  betreffs  des  Absceßnachweises  nach  weit  frei 
trepanierter  Dura: 

„Bis  in  die  neueste  Zeit. hat  man  versucht,  dem  Einschnitt«  den 
Einstich  mit  einer  Explorations-  oder  Aspirationsnadel  vorzuziehen.  In- 
dessen ist  das  Verfahren,  ganz  abgesehen  von  nicht  zu  unterschätzenden 
Nebenwirkungen  einer  energischen  Ansaugung  —  nach  Beck  ist  infolge 
derselben  einmal  ein  Bluterguß  in  den  Seitenventrikel  und  die  vierte 
Hirnkammer  zu  stände  gekommen  —  durchaus  unzuverlässig  und  un- 
sicher. An  der  Zeit  dürfte  es  sein,  die  Explorativnadel  mit  dem  Messer 
zu  vertauschen.^ 

Schmidt  betont  darauf  mit  Recht,  daß  es  sich  in  dem  Falle,  den 
Beck  meinte,  nicht  um  eine  feine  Probepunktion,  sondern  uro  eine 
radikale  Entleerung  eines  Abscesses  mittelst  Saugapparates  handelte, 
daß  mithin  dieser  Fall  nicht  ernstlich  zur  Abschreckung  vor  der  An- 
wendung einer  kleinen  Probepunktionsspritze  dienen  kann. 

Da  auch  Kocher  (vergl.  unten)  schreibt:  ^Die  Punktion  des  Ge- 
hirns mit  Explorativ-  und  Aspirationsnadeln  ist  durch  die  Autorität 
y.  Bergmanns  unverdienterweise  in  Verruf  gekommen^,  zitieren  wir 
hier  die  Worte  y.  Bergmanns')  Ober  den  BECKschen  resp.  Pignaud- 
schen  Fall,  der  ihn  auch  zu  der  oben  von  Schmidt  erwähnten  Aeußerung 
veranlaßte. 

„Allein  das  Aussaugen  hat  auch  gewisse  Nachteile.  Die  Entleerung 
ist  doch  nur  unvollkommen,  während  die  wesentlichste  Bedingung  der 
Heilung  eines  Abscesses  seine  vollständige  und  weite  Entlastung  ist. 
Benz  hat  durch  konsequente  Aspiration  seinen  Patienten  geheilt.  Der- 
selbe hat  nach  dem  gelungenen  Stich  noch  8Vt  Jahre  gelebt  und  ist 
dann  an  Lungenblutung  erlegen.  Anders  scheint  es  nach  einer  Notiz 
von  Beck  (Schädelverletzungen  1877  S.  78)  Pignaud  gegangen  zu  sein, 
der  nach  der  {Aspiration  seinen  Patienten  an  apoplektischen  Erschei- 
nungen durch  Bluterfüllung  des  Seitenventrikels  und  der  vierten  Hirn- 


1)  Die  chirurgische  Behandlung  von  Himkrankheiten,   2.  Aufl.,  1889. 

2)  Die  Lehre  von  den  Kopfverletzungen,  1880. 


Die  Hirnpunktion.  811 

kammer  verlor.  Der  Verdacht,  daß  hier  das  Ansaugen  zu  energisch 
geübt  wurde,  läßt  sich  nicht  zurückweisen.  Immerhin  kann  die  Schröpf- 
kopfwirkung des  Instruments  zu  viel  tun,  und  kann  dieselbe  Blutungen, 
welche  die  Methode  vermeiden  will,  erst  recht  hervorrufen." 

V.  Bergmann  wendet  sich  also  in  der  oben  erwähnten  Aeußerung 
wohl  nur  gegen  die  stärkere  Aspiration  von  Abscessen  aus  therapeutischen 
Zwecken  statt  Anwendung  des  Messers,  nicht  aber  gegen  Probepunktionen 
überhaupt.  So  heißt  es  auch  in  der  neuesten  Auflage  des  berühmten 
BEROMANNschen  Werkes  ^)  nur :  „Ist  der  Schnitt  ins  Hirn  gerechtfertigt, 
so  hat,  wenn  der  Absceß  erreicht  ist,  das  Skalpell  jedes  andere 
Evakuationsinstrument  zu  ersetzen". 

Aus  der  vorliegenden  Aeußerung  y.  Bergmanns  können 
wir  uns  keineswegs  überzeugen,  daß  er  diePunktion  des 
Gehirns  mit  einer  feinen,  kleinen  Punktionsnadel  resp. 
Spritze  überhaupt  verwirft. 

Wir  kommen  zur  SoHMiDTschen  Arbeit  zurück.  Schmidt  bespricht 
nun  seinen  Fall  eingehend,  bei  dem  er  wegen  Verdachts  auf  Schläfen- 
lappenabsceß  die  diagnostische  Hirnpunktion  vornahm.  Letztere  schil- 
dert er,  wie  folgt: 

„Dann  gut  1^,  Daumenbreite  über  dem  Ohrmuschelansatz  Schädel- 
bohrung ^).  Kleiner  Stich  mit  spitzer  Klinge  von  5  mm  Länge  auf  den 
Knochen.  Entblößung  des  letzteren  mit  der  Schneide  eines  schmalen 
Meißelchens.  Bohrung  mit  einem  2^/2  mm  breiten  Bohrstift.  Herr 
Dr.  G.  dreht  den  Kurbelbogen,  ich  achte,  das  untere  Bohrende  etwas 
hemmend,  auf  die  Fortschritte  der  Bohrung.  Mehrmals  wird  der  Bohrer 
abgesetzt  und  das  Loch  sondiert.  Trotz  der  Vorsichtsmaßregeln  fährt 
schließlich  der  Bohrstift  nach  geschehener  Durchdringung  des  Schädels, 
bei  welcher  ein  Knacken  nicht  gehört  wurde,  unversehens  freilich  etwa 
nur  2  mm  weit  in  die  Tiefe.  Einführung  der  Probepunktionsnadel  ca. 
2— 2V2  cm  tief.    Aspiration  ohne  Resultat. 


tt 


Aus  dem  Sektionsprotokoll  (des  an  Schädelfraktur  mit  extraduralem 
Bluterguß  und  Himkontusion  gestorbenen  Pat)  interessiert: 

„Das  Bohrloch  ist  durch  ein  Ooagulum  ausgefüllt,  welches  knopf- 
ft5rmig  aus  dem  Loch  in  der  Tabula  externa  1 — 2  mm  hoch  herausragt, 
80  daß  die  Bohrstelle  nur  bei  genauerer  Betrachtung  sich  markiert. 

Der  Bohrkanal  befindet  sich  gerade  mitten  zwischen  2  stricknadel- 
dicken Oefäßfurchen.  Auch  an  der  Glastafel  ragt  aus  ihm  das  obturierende 
Coagulum  knopfförmig  in  derselben  Höhe  heraus,  wie  an  der  Außenseite  .  .  . 

Dura  heil,  die  Stichverletzung  ist  kaum  zu  bemerken.  Venen  der 
Pia  überall  sehr  stark  gefüllt,  nirgends  Meningitis  .  . . 

Die  Nadelstichstelle    in    dem    rechten    Schläfenlappen   markiert    sich 


1)  Die  chirurgische  Behandlung  von  Hirnkrankheiten  von  E.  v.  Bbbo- 
MANN,   1899. 

2)  Schmidt  benutzt  einen  gewöhnlichen  Tischlerbohrer  (s.  unten). 


812  Ernst  Neisßer  und  Kurt  Pollack, 

dnrch  ein  feines,    kanm   linsengroBes,    petechiales,   sternförmiges  Saggillat 
in  der  Pia. 

Nachdem  die  Pia  abgezogen,  ist  der  Ort  des  Stiches  in  den  rechten 
Schläfenlappen  in  dessen  Binde  durchaus  nicht  mehr  auffindbar,  daher 
auch  die  Windung,  welche  getroffen  wurde,  uicht  bestimmbar.  Zahlreiche 
Schnitte  durch  die  Substanz  des  Schläfenlappens  in  verschiedener  Rich- 
tung lassen  von  dem  Stiche  nicht  das  mindeste  erkennen.  Es  zeigen 
sich  weder  die  Spur  des  Stichkanals,  noch  irgend  welche  noch  so  kleine, 
dessen  Stelle  andeutende  Blutergüsse." 

In  der  Epikrise  hebt  Schmidt  als  Wichtigstes  „den  völligen 
Mangel  an  Symptomen  und  Reaktionszeichen,  welcher  der  AusfQhning 
des  Gehimstiches  und  der  Spritzenaspiration  gefolgt  ist",  hervor. 
Femer  leistete  die  Punktion  in  diagnostischer  Beziehung  einen  guten 
Dienst,  indem  sie  das  Vorhandensein  eines  SchlSfenlappenabscesses 
aasschloß. 

Nachdem  Schmidt  der  Hoffnung  Ausdruck  verliehen,  daß  seine 
Operation  die  Anregung  zu  weiteren  derartigen  Versuchen  abgeben 
möge,  stellt  er  als  Hauptindikation  fest:  Lebenbedrohende  Hirn- 
erkrankungen, die  den  Verdacht  auf  Absceß  erregen,  ohne  denselben 
so  sicher  erkennen  zu  lassen,  daß  die  alsbaldige  Trepanation  gerecht- 
fertigt erscheinen  kann! 

Das  zu  dem  in  Narkose  vorzunehmenden  Eingriff  nötige  Instru- 
mentarium Schmidts  besteht  in: 

1)  einer  Tischlerdrehkurbel, 

2)  Bohrspitzen  von  1 — 3  mm  (mit  Millimetereinteilung), 

3)  einer  auf  dem  Bohrstift  auf-  und  ab  beweglichen  Schutzhülse» 
die  ein  plötzliches  Hineinfahren  in  den  Schädel  verhütet, 

4)  gewöhnlicher  Punktionsspritze  mit  genügend  langer  Nadel  (mit 
Centimetereinteilung). 

Was  die  Wahl  der  Punktionsstelle  betrifft,  so  schlägt  Schmidt, 
da  er  sich  im  wesentlichen  mit  der  Aufsuchung  otitischcr  Abscesse  be- 
schäftigt, vor,  zunächst  das  Zentrum  des  Schläfenlappens,  dann  eventuell 
seine  peripherischen  Teile  (mit  Hülfe  einer  Abbildung)  zu  punktieren; 
falls  nicht  an  einer  zirkumskripten  Stelle  starke  Schmerzhaftigkeit  vor- 
handen ist.  Dann  eventuell  —  oder  auch  zu  Anfang,  wenn  besondere 
Zeichen  darauf  hinweisen  —  das  Kleinhirn  daumenbreit  unterhalb  der 
Mitte  der  Verbindungslinie  von  Protuberantia  occipitalis  externa  und 
Warzenfortsatz.  Die  Gefahren  der  Punktion  schlägt  Schmidt  gering 
an.    Uns  interessiert,  was  er  über  eventuelle  Blutungen  sagt: 

„Diese  (nämlich  die  Gefahren)  könnten  allenfalls  in  Blutungen 
bestehen.  Blutungen  aus  Temporal-  und  Occipitalarterien  sind  un- 
schwer zu  umstechen.  Mehr  Verlegenheiten  könnte  aber  ein  Anstechen 
von  Zweigen  der  Art.  meningea  media  bereiten.  Doch  erscheint  die 
Möglichkeit,  durch  Stichverletzung  hier  erheblichere  Blutungen  zu  be- 
wirken,  nicht   zu  groß.    Erstens   handelt   es   sich   über   der  Schläfen- 


Die  Hirnpunktion.  813 

schuppe  nur  noch  um  Zweige  ans  dem  hinteren  Hauptast  des  Gefäßes 
und  sind  die  hier  in  Frage  kommenden  Arterienkaliber  keine  beträcht« 
liehen  mehr^  Zweitens  ist  fraglich,  ob  die  feinen  Stichwunden  zu 
nennenswerten  Blutungen  würden  führen  können,  und  ob  nicht  die 
Blutung  nach  Entfernung  der  Nadel  von  selbst  stehen  würde . . . 

Sollte  es  aber  doch  stärker  bluten,  so  wird  das  aus  dem  Bohrloch 
fließende  Blut  die  bestehende  Gefahr  alsbald  bekunden  und  man  wird, 
wenn  nötig,  das  Schädelloch  mit  dem  Meißel  zu  vergrößern  und  das 
verletzte  Gefäß  zu  unterbinden  haben.  An  den  Schläfenlappen  des 
Hirns  könnten  nur  kleinere  Pialvenen  getroffen  werden,  die  nicht  viel 
bluten  können.  Die  tief  in  der  SvLVischen  Furche  verborgene  Art. 
fossae  Sylvii  wird  kaum  in  Gefahr  kommen.  Bei  der  Exploration  des 
Kleinhirns  können  überall  etwas  wichtigere  Gefäße  nicht  gefährdet 
werden.*^ 

Einige  Jahre  später  hat  Payr^  Explorativpunktionen  bei  Hunden 
vorgenommen.  Er  arbeitet  ebenfalls  mit  einem  Drillbohrer  (von  V»  bis 
2  mm  Durchmesser),  auf  dessen  Schaft  eine  Schutzhülse  verschieblich 
und  fixierbar  angebracht  ist.  Letztere  wird  allmählich  mehr  und  mehr 
zurückgestellt,  bis  Sondierung  des  Bohrlochs  mit  einer  Knopfsonde  er- 
gibt, daß  der  Schädel  perforiert  ist  Durch  den  Bohrkanal  führt  Payr 
ein:  gerade  und  gekrümmte  Nadeln,  Harpunen  (eine  mit  2  scharfen 
Löffelchen,  die  durch  Vor-  und  Rückwärtsschieben  in  einer  Metallröhre 
geöffnet  resp.  geschlossen  werden;  die  andere  in  Form  eines  geschärf- 
ten Metalltrichters  von  1  mm  Durchmesser  Trichteröffnung),  Glas- 
kapillarröhrchen,  dünne  rechtwinkelig  gebogene  und  an  einer  Seite  zu 
einem  langen  Glasfaden  ausgezogene  Glasstäbchen. 

Nach  Hautschnitt,  Zurückschiebung  des  Periosts  und  Anlegung 
des  Bohrkanals  beim  Hunde  fördert  Payr  mit  der  Harpune  kleine 
Stückchen  Hirn  Substanz  zu  Tage;  mit  den  Glasstäbchen  stellt  er  die 
Pulsation  der  Dura  dar,  mit  den  gekrümmten  Hohlnadeln  injiziert  er 
Methylenblau  und  weist  die  Beherrschung  eines  Stückes  von  10—12  cm 
in  der  Fläche  und  4—6  cm  in  der  Tiefe  nach.  Auch  die  Punktion  des 
Seiten  Ventrikels  gelingt  gut.  Alle  Hunde  bleiben  gesund.  Bei  der 
Sektion  zweier  operierter  Hunde  ergibt  sich  völlig  reaktionslose  Heilung 
der  gesetzten  Wunden. 

Payr  empfiehlt  die  Anwendung  der  Punktion  beim  Menschen  bei 
folgenden  Fällen: 

1)  bei  endokraniellen  Blutungen, 

2)  zur  Probepunktion  für  Flüssigkeitsansammlungen  (Gysticercus- 
Gehirnabsceß ;  mangelnde  Pulsation  der  Dura!) 


1)  Centralbl.  f.  Ohir.,    1896,    No.  31,    22.   Jahrg.;    Payb,  Einige  Ver- 
suche über  Explorativoperationen  am  Gehirn. 


814  Ernst  Neisser  und  Kurt  FoIIack, 

3)  zur  Diagnostik  von  Neubildungen  (Harpunierung!)  der  Gehirn- 
häute und  des  Gehirns, 

4)  zur  Herausnahme  zur  bakteriologischen  Untersuchung, 

5)  zur  Punktion  der  Hirnseitenventrikel  bei  Hydrocephalus  und 
Drainage  durch  das  Bohrloch. 

Was  von  den  bei  den  Tierversuchen  gewonnenen  Resultaten  in 
der  Gehirnchirurgie  beim  Menschen  brauchbar  sein  wird,  wagt  Payr 
nicht  zu  entscheiden. 

In  den  letzten  Jahren  ist  dann  aus  der  KocHERschen  Klinik  ein 
höchst  ein&ches  Verfahren  der  Schädel-  resp.  Gehirnpunktion  von 
A.  Kocher^)  publiziert  worden. 

Ohne  die  geringste  Voroperation  wird  nach  einer  Cocaininjektion 
an  der  betreffenden  Stelle  ein  Drillbohrer  durch  die  Weichteile  gedrückt 
und  nun  der  darunter  liegende  Knochen  angebohrt,  bis  das  Nachlassen 
des  Widerstandes  die  Durchbohrung  der  Lamina  interna  anzeigt.  — 
Der  Bohrkanal  wird  in  der  KoCHERschen  Klinik  benutzt,  um  Tetanus- 
heilserum in  den  Seitenventrikel  zu  injizieren. 

Kocher  sen.  kommt  in  seinem  großen  Werk  „Hirnerschütterang, 
Hirndruck  und  chirurgische  Eingriffe  bei  Hirnkrankheiten"  *)  im  Kapitel 
der  explorativen  Craniotomie  auf  die  aus  seiner  Klinik  zuerst  ange- 
gebene Methode  zu  sprechen  und  sagt  nach  Beschreibung  der  Anlegung 
des  Bohrkanals:  „Durch  die  so  gebildete  Oeffnung  kann  der  Ansatz 
einer  PRAVAzschen  Spritze  eingefQhrt,  Inhalt  von  Cysten,  Blutergüssen, 
Abscessen  und  der  Ventrikel  aspiriert,  oder  andererseits  Injektion  in 
die  Hirnsubstanz  oder  Ventrikel  ausgeführt  werden.  Die  Operation 
kann  mit  einer  Kokaininjektion  ausgeführt  werden,  ohne  daß  der  Patient 
irgend  eine  unangenehme  Empfindung  hat.'' 

„Verdient  eine  solche  abso  lut  schmerz-  und  gefahr- 
lose Operation  den  Namen  der  Explorativtrepanation 
nicht  besser,  als  die  Hemicraniotomia  temporaria,  bei 
der  man  auch  zunächst  nur  Hirnhäute  und  Oberfläche 
des  Gehirns  inspizieren  kann  und  für  Aufschluß  über 
tieferliegende  V  er  an  derungen  doch  wieder  zu  Explorativ- 
nadeln  und  Spritzen  seine  Zuflucht  nehmen  muß?!^ 


Ueberblicken  wir  die  bisher  existierende  Literatur,  so  sehen  wir 
folgendes : 

Von  mehreren  Seiten,  unter  anderem  von  einem  der  bedeutendsten 
Chirurgen,  wird  die  explorative  Schädelpunktion  empfohlen,  die  Zu- 
stände werden  aufgezählt,  bei  welchen  sie  etwas  leisten  könnte  (Maas, 


1)  Oentralbl.  für  Chir.,  1899,  No.  22. 

2)  In  NoTHNAGBLS  Haudb.  d.  spez.  Pathologie  u.  Therapie.    Wien  1901. 


Die  HimpuDktion.  815 

MiDDELDORPF,  Patr,  Kocher,  Schmidt),  aber  Erfahrungen  über 
wirklich  ausgeführte  Punktionen  und  Probepunktionen  am  Lebenden 
sind  von  niemand  gesammelt  bezw.  mitgeteilt  worden.  Der  Schmidt- 
sche  Fall  steht  anscheinend  vereinzelt  da.  —  Vergeblich  wird  man  das 
Wort:  Hirnpunktion  durch  den  intakten  Schädel  selbst  in  den  besten 
und  neuesten  Lehrbüchern^)  und  Abhandlungen  suchen.  Insbesondere 
hat  die  innere  Klinik  und  die  Neuropathologie  sich  an  dieser  Angelegen- 
heit nicht  beteiligt. 

Nachdem  wir  im  Laufe  der  Zeit  eine  große  Reihe  von  Vorversuchen 
an  der  Leiche  gemacht  und  nachdem  wir  in  der  Lage  waren,  an  ca. 
36  Fällen  etwa  136mal  die  Probepunktion  resp.  die  Punktion  auszu- 
führen, teilen  wir  unsere  Erfahrungen  mit  und  beginnen  mit  der  Be- 
sprechung der  Technik. 

unsere  Technik. 

Wir  übergehen  alle  Versuche,  die  wir  anfangs  machten;  erwähnen 
auch  nur  kurz,  daß  wir  zunächst  mittelst  spitzen,  feinen  Thermokauters 
durch  die  Weichteile  bis  auf  den  Knochen  hindurchgingen  und  dann 
mit  dem  elektrischen  Bohrer  den  Knochen  bis  zur  Dura  durchbohrten. 
Wir  sahen  aber  bald,  daß  die  Benutzung  des  Thermokauters  ganz  un- 
zweckmäßig ist,  da  Narben  zurückbleiben  und  die  Infektionsgefahr  nicht 
unerheblich  ist;  ferner,  weil  wir  uns  überzeugten,  daß  man  mit  dem 
elektrischen  Bohrer  durch  Weichteile  und  Knochen  unmittelbar  in  einem 
Akte  hindurchgehen  kann,  ähnlich  wie  es  A.  Kocher')  behufs  In- 
jektion von  Tetanusantitoxin  macht,  mit  dem  Unterschiede,  daß  wir 
nicht  einen  Handbohrer,  sondern  die  elektrische  Bohrmaschine  mit 
großer  Umdrehungsgeschwindigkeit  anwenden,  die  eine  ungemeine 
Sicherheit  des  Gefühls  beim  Bohren  gibt  und  den  Schmerz  auf  ein 
solches  Minimum  herabsetzt,  daß  nicht  einmal  die  Injektion  von  Kokain, 
•  wie  sie  Kocher  anwendet,  notwendig  ist.  Ferner  durchstoßen  wir 
nicht,  wie  Kocher,  zuerst  die  Weichteile  und  bohren  dann,  sondern 
wir  drücken  den  rotierenden  Bohrer  durch  Haut,  Weichteile  und  Knochen 
hindurch  *). 


1)  Höchstens  käme  hier  die  Bemerkung  in  Betracht,  die  H.  Fischbr 
in  seinem  Lehrbuche  der  speziellen  Chirurgie  (Berlin  1892)  bei  der  Be- 
sprechung der  Diagnostik  der  Himabscesse  macht: 

„Man  kann  in  zweifelhaften  Fällen  den  Schädel  mit  dem  Drillbohrer 
anbohren  und  Probepunktionen  machen.  Zu  starke  probatorische  Aspiration 
soll  man  aber  vermeiden,  weil  dadurch  Apoplexien  verursacht  werden 
können." 

2)  Centralblatt  far  Chirurgie,  1899. 

3)  Aehnlich  wie  es  Tillmanns  (s.  Verhandlungen  der  Gesellschaft 
deutscher  Naturforscher  und  Aerzte,  Leipzig  1900,  II)  zur  Anbohrung 
und  Probepunktion  der  Knochen  macht 


816  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Jeder  Hautschnitt,  überhaupt  jede  Anlegung  einer  äußeren  Wunde, 
unterbleibt. 

Als  Motor  verwenden  wir  einen  Elektromotor  ftlr  chirurgische 
Zwecke  (mit  Anschluß  an  eine  Gleichstromleitung)  von  W.  A.  Hirsch- 
mann (Umdrehungszahl  mit  biegsamer  Welle  ca.  1200).  Es  macht  kaum 
einen  Unterschied,  ob  man  den  großen  Elektromotor  (nach  den  An- 
gaben V.  Bergmanns  hergestellt)  benutzt,  wie  wir  es  für  den  größten 
Teil  unserer  Punktionen  getan  haben,  oder  ob  man  sich  des  neueren 
kleinen  Motors  bedient.  Der  letztere  hat  den  Vorzug  größerer  Billig- 
keit, sowie  der  sehr  leichten  Lösung  und  Wiederbefestigung  des  Bohrers. 

Als  Bohrer  benutzen  wir  ausschließlich  den  in  unserem  Besteck 
(vergl.  unten)  enthaltenen  feinen  Bohrer  mit  planparallelen  Flächen 
(2V8  ™ni»  No.  7).  Für  Ausnahmefälle,  über  die  später  gesprochen 
wird,  wenden  wir  einen  etwas  stärkeren  Bohrer  an  (2^/g  mm,  No.  8). 

Zur  Anästhesierung  benutzen  wir  das  Anspritzen  von  Aethylchlorid. 
Allgemeine  Narkose  haben  wir  bisher  in  keinem  Falle  angewendet  — 
was  uns  bei  den  in  Frage  kommenden  Fällen  gegenüber  der  Probe- 
kraniotomie  als  ein  schwerwiegender  Vorteil  erscheint. 

Hiernach  gestaltet  sich  unser  Verfahren  folgendermaßen: 

Der  Patient  liegt  auf  einem  flachen,  mit  Leder  gepolsterten  Unter- 
suchungstisch von  etwa  80—85  cm  Höhe.  Kopf-  bezw.  seitwärts  von 
ihm  steht  der  Punktierende  auf  einer  breiten,  niedrigen  Fußbank,  die 
zweckmäßig  durch  Gummiunterlagen  isoliert  ist.  Nach  Basierung  des 
ganzen  Schädels  resp.  einer  größeren  zirkumskripten  Stelle  beginnen 
wir  damit,  die  betreffenden  Punkte^)  zu  markieren,  an  denen  punktiert 
werden  soll*). 

Nachdem  dies  geschehen  und  die  Haut  mit  Aether  desinfiziert  ist, 
erfaßt  der  Punktierende  den  am  Kabel  befestigten  Bohrer  mit  beiden 
Händen  an  dem  cylindrischen  Metallhalter,  setzt  den  in  volle  Rotation 
versetzten  Bohrer,  während  der  Kopf  durch  Assistenten  schonend  und^ 
doch  sicher  und  möglichst  ohne  Hautverschiebung  gehalten  wird,  meist 
senkrecht  zur  Hautoberfläche  auf  und  übt  einen  ganz  leichten  Druck  in 
die  Tiefe  aus. 

Der  Bohrer  durchbohrt  nun  spielend  leicht  und  ohne  jede  gröbere 
Erschütterung  fast  wie  eine  Probepunktionsnadel  Haut,  Weichteile  und 
Knochen.  Man  spürt  deutlich,  wie  nach  Durchtrennung  der  Weichteile 
die  Durchbohrung  des  Knochens   vor   sich  geht*),   ein  leichtes  Vor- 

1)  Hierüber,  sowie  über  die  Anlegung  des  Kraniometers  vergL  den 
anatomischen  Teil. 

2)  Hierzu  hat  sich  uns  das  feste  Andrücken  einer  in  Karbolfachsin 
getauchten  Pipette  bewährt,  da  die  dadurch  auf  der  Haut  erzeugte  rote, 
kreisförmige  Vertiefung  auch  nach  dem  alsbald  folgenden  sorgfUtigen  Ab- 
reiben mit  Aether  noch  sichtbar  bleibt. 

3)  Oefters  bildet  sich  um  den  Bohrer  herum  in  der  Haut  ein  kleiner 
Hügel  von  aufgeworfenem  Bohrstaub  resp.  etwas  extravasiertem  Blut 


Die  Himpunktion.  817 

rutschen  des  Bohrers  zeigt  die  Perforation  der  Lamina  externa,  ein 
zweites,  verbunden  mit  dem  Gefühl  des  aufhörenden  Widerstandes,  die 
der  Lamina  interna  an.  In  demselben  Augenblick  wird  auf  den  Halt- 
ruf des  Punktierenden  der  Bohrer  zu  augenblicklichem  Stillstand  ge- 
bracht und  dann  in  derselben  Richtung,  wie  er  eingeführt  wurde,  wieder 
zurückgezogen.    Das  Ganze  dauert  wenige  Sekunden. 

Wer  die  ersten  Male  punktiert,  wird  die  unangenehme  Empfindung 
haben,  als  ob  er  durch  die  Dura  hindurch  zu  tief  in  den  Schädel  hinein 
fahren  könnte.  Indessen  können  wir  versichern,  daß  bei  Anwendung 
unserer  Bohrtechnik  weder  ein  solches  Schutzinstrument  erforderlich 
ist,  wie  es  Middeldorpf,  Payr,  Schmidt  (vergl.  oben)  benutzten, 
noch  die  Unterbrechung  der  Punktion  und  Sondierung  des  Bobrkanals 
irgendwie  notwendig  oder  zweckmäßig  erscheint.  In  einer  Reihe  von 
Fällen  haben  wir  uns  von  dem  Intaktbleiben  der  Dura  bei  der  Punktion 
in  der  Weise  überzeugt,  daß  wir  in  den  Bohrkanal  ein  feines  Metall- 
röhrchen  und  durch  dieses  hindurch  eine  Metallborste  einführten  und 
mit  dieser  die  Dura  nachträglich  sprengten,  was  sich  durch  einen  deut- 
lichen Knacks  zu  erkennen  gab.  Auch  ohne  dieses  Hilfsmittel  haben 
wir  uns  bei  Anwendung  unserer  abgestumpften  Nadel  (s.  unten)  in 
ähnlicher  Weise  durch  Gefühl  und  Gehör  von  der  Intaktheit  der  Dura 
überzeugen  können.  Wo  schließlich  die  Dura  bei  der  Punktion  ver- 
sehentlich perforiert  werden  sollte,  hat  dies  nach  unseren  Erfahrungen 
nicht  das  geringste  zu  bedeuten. 

Beim  Zurückziehen  des  Bohrers  soll  möglichst  jede  Hautverschie- 
bung vermieden  werden  bezw.  wenn  sie  doch  stattfindet,  beachtet  wer- 
den, nach  welcher  Richtung  sie  erfolgt,  damit  man  nachher  den  Eingang 
des  knöchernen  Kanals  mit  der  Nadel  besser  treffen  kann. 

Nach  Herausziehen  des  Bohrers  beobachten  wir,  ob  irgendwelche 
pathologische  Flüssigkeit  (altes  Blut,  blutiges  Serum  oder  dergl.)  aus 
dem  Bohrkanal  herausfließt.  Darauf  folgt  Abtupfen  mit  einem  sterilen 
Gazebausch  (ab  und  zu  blutet  es  ein  wenig  aus  dem  Kanal)  und  die 
Einführung  der  Punktionsnadel. 

Wir  verwenden  ausschließlich  feine  Probepunktionsnadeln  von  1  mm 
Dicke  und  gut  7  cm  Länge;  alle  Nadeln  sind  mit  Centimetereinteilung 
versehen,  damit  jederzeit  die  Tiefe,  in  der  das  Ende  sich  befindet,  ab- 
gelesen werden  kann.  Die  Nadeln  laufen  zum  Teil  nach  dem  Muster 
gewöhnlicher  Probepunktionsnadeln  in  eine  abgeschrägte  Spitze  aus; 
zum  Teil  aber  ist  diese  Spitze  stumpf  gemacht  bezw.  abgerundet. 

Wir  führen  nun  zunächst  die  auf  eine  Punktionsspritze  ^)  aufgesetzte 
abgerundete  Nadel  in  den  Bohrkanal  ein  und  versuchen,  ob  sich  etwaige 
extradurale  Flüssigkeit  aspirieren  läßt.  Hierbei  spürt  man  häufig  deut- 
lich, wie  man  die  Dura  vor  sich  herdrängt.   (Zu  gleichem  Zwecke  kann 


1)  Spritze  von  2  com  Inhalt. 


818  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

man  auch  bei  Anwendung  des  etwas  größeren  Bohrers  [No.  8]  eine 
Nadel  einführen,  deren  Spitze  senkrecht  zur  Längsachse  abgeschnitten 
ist,  so  daß  sie  ein  feines  Hohlröhrchen  darstellt)  Darauf  fOhren  wir 
die  spitze  Nadel  ein,  durchstechen  die  Dura  und  aspirieren,  die  Nadel 
langsam  vorschiebend,  von  Strecke  zu  Strecke. 

Um  die  sonst  häufige  Verstopfung  der  Nadel  schon  beim  Einführen 
zu  vermeiden,  armieren  wir  jede  Nadel  mit  einem  feinen,  aber  starren 
Mandrin  aus  Stahldraht.  Dieser  wird  vor  der  Aspiration  herausgezogen. 
Eine  etwaige  Verstopfung  der  Nadel  im  weiteren  Verlauf  der  Punktion 
(kenntlich  am  Zurückfliegen  des  angezogenen  Stempels),  die  nur  selten 
auftritt,  kann  man  durch  nochmaliges  Einführen  des  Mandrins^)  be- 
seitigen. —  Noch  einfacher  und  nur  scheinbar  gewagt  ist  in  solchen 
seltenen  Fällen  das  ruckweise  Einblasen  einer  geringen  Menge  Luft 
aus  der  aufgesetzten  Spritze  —  die  man  dann  sofort  wieder  ansaugt. 

Ist  die  Tiefe  erreicht,  die  nicht  überschritten  werden  soll  (vergl. 
darüber  den  anatomischen  Teil),  so  zieht  man  unter  Ansaugen  die 
Nadel  langsam  zurück  und  heraus.  Man  sieht  so  am  besten,  aus  welcher 
Tiefe  eventuell  aspirierte  Flüssigkeit  stammt 

Auf  die  Stichöffnung  kommt  ein  Stückchen  steriler  Gaze  und  ein 
Pflaster,  ein  Verband  ist  überflüssig.  Die  kleine  Stichöffhung  heilt  ohne 
die  geringste  Reaktion  in  kürzester  Zeit;  einen  später  nur  mit  Mühe 
zu  findenden  Narbenpunkt  zurücklassend. 

Der  feine  Enochenkanal  verschließt  sich,  wie  wir  bei  der  Autopsie 
feststellen  konnten ,  durch  ein  gelblich-rötliches  Granulationsgewebe ; 
bleibt  aber  —  was  von  Wichtigkeit  und  unter  Umständen  sehr  erwünscht 
ist  —  noch  monatelang  für  eine  Punktionsnadel  durchgängig  (in  einem 
unserer  Fälle  3 1  Monate).  Auch  über  das  Aussehen  der  Dura  und  des 
Gehirns  nach  der  Punktion  haben  wir  —  wie  wir  hier  gleich  anfügen 
wollen  —  durch  Autopsien  reichliches  Material  sammeln  können:  An 
der  Dura  sieht  man  entweder  gar  nichts  mehr,  oder  einen  bläulichen 
Punkt  resp.  kaum  stecknadelkopfgroßen  Fleck ;  oder,  wenn  die  Punktion 
noch  nicht  weit  zurückliegt,  einen  kleinen  Schlitz  oder  ein  kleines  Loch. 
An  der  Hirnoberfläche  sieht  man  einen  rötlichen  oder  mehr  bläulichen 
Punkt,  entsprechend  der  Einstichstelle;  auf  einem,  dem  Stichkanal 
folgenden  Durchschnitt  der  Hirnsubstanz  ab  und  zu  einen  mattbläu- 
lichen Strich,  der  noch  die  Richtung  der  Nadel  anzeigt;  häufig  auch 
gar  nichts.  Ueberhaupt  haben  wir  des  öfteren  an  Hirn  wie  Dura  ver- 
geblich nach  der  Stelle  des  Stichkanals  gesucht^). 

In  3  Fällen  fanden  wir  bei  der  Sektion  resp.  Operation  an  der 
Hirnoberfläche   einen  oder  zwei  noch  nicht  stecknadelkopfgroße  Bohr- 

1)  Um  mit  dem  feinen  Mandrin  den  Eingang  in  die  Nadel  schnell  zu 
finden,  sind  die  Ansätze  unserer  Nadeln  innen  trichterförmig  gestaltet. 

2)  Ueber  kleine,  durch  die  Punktion  erzeugte  Blutungen  vergl.  den 
klinischen  Teil. 


Die  Hirnpunktion.  819 

Splitter,  die  hügelförmig  der  Rinde  aufsaßen,  ihr  ziemlich  fest  anhafteten 
und  offenbar  bei  der  Bohrung  in  das  Gehirn  hineingedrückt  waren. 
Durch  leichtes  Ansetzen  des  Bohrers  läßt  sich  übrigens  dieses  Hinein- 
drücken von  Knochenstaub  in  die  Tiefe  vermeiden. 

Hier  mögen  noch  einige  Bemerkungen  über  eine  eventuelle  Narkose 
zwecks  Hirnpunktion  Platz  finden. 

Wir  sagten  oben  schon,  daß  wir  in  allen  Fällen  (d.  h.  bei  der  An- 
legung von  weit  mehr  als  100  Bohrkanälen)  mit  lokaler  Anästhesie 
(Chloräthyl)  ausgekommen  sind^  und  es  ist  erstaunlich,  wie  gut  von  ver- 
ständigen Patienten  der  Eingriff  ertragen  wird:  höchstens  eine  leise 
Schmerzäußerung  bei  Durchbohrung  des  Periosts  resp.  der  Dura;  oft 
auch  das  nicht  einmal.  Auch  bei  Kindern  wird  man  im  allgemeinen 
mit  Chloräthyl  auskommen.  Bei  Benommenen,  die  ja  für  die  Punktion 
häufig  in  Frage  kommen,  fällt  jede  Anästhesierung  fort.  Nur  bei  auf- 
geregten, agitierten  Individuen,  bei  Deliranten  u.  dergl.,  die  wider 
ihren  Willen  gehalten  werden  müssen,  pressen,  um  sich  schlagen  und 
deren  Venen  dabei  stark  anschwellen,  dürfte  ab  und  zu  einmal  die 
Punktion  zweckmäßig  unter  allgemeiner  Narkose  vorgenommen  werden. 


Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  und  wir  haben  uns  selbst  davon  über- 
zeugt, daß  man  mit  viel  geringeren  Mitteln  und  einfacheren  Instrumenten 
in  ähnlicher  Weise  Haut,  Weichteile  und  Schädel  durchbohren  kann, 
also  sowohl  mit  einem  der  gebräuchlichen  Handbohrer  (z.  B.  nach 
Kocher  jun.),  als  auch  insbesondere  mit  einer  zahnärztlichen  Bohr- 
maschine (Fußmotor  mit  chirurgischer  W^elle  und  Handstück  mit  Ab- 
steilvorrichtung von  Hirsghmann),  an  die  derselbe  Bohrer  paßt,  wie 
an  den  kleinen  Elektromotor.  Der  Fußmotor  ist  dem  Handbohrer  un- 
bedingt vorzuziehen,  steht  aber  wegen  der  geringeren  Oleichmäßigkeit 
und  Zahl  der  Rotationen,  sowie  wegen  des  erforderlichen  stärkeren 
Andrückens  gegen  die  Unterlage  hinter  dem  elektrisch  betriebenen 
Bohrapparat  zurück. 

Für  denjenigen,  der  für  diese  doch  noch  nicht  geübte  Technik  das- 
jenige Verfahren  zu  wählen  wünscht,  das  die  größte  Leichtigkeit,  Sicher- 
heit und  Schmerzlosigkeit  gewährleistet  und  speziell  auch  das  Intakt- 
bleiben der  Dura  bei  der  Punktion  am  ehesten  garantiert,  den  glauben  wir 
durchaus  auf  unsere  Methode  *)  und  alle  Einzelheiten  derselben  verweisen 
zu  müssen.  Gerade  in  der  Anwendung  einer  hohen  Rota- 
tionsgeschwindigkeit, sowie  in  der  Verwendung  eines 
ganz  feinen,  glatten  Bohrers  sehen  wir  wichtige  Charak- 
teristika unseres  Verfahrens! 


1)  Die  Apparate  (kleiner  Elektromotor,  Besteck  mit  Cyrtometer)  sind 
im  Medizinischen  Warenhaus  in  Berlin  erhältlich. 


820  Ernst  Neisser  and  Kurt  Pollack, 

Wenn  dementsprechend  die  Punktion  schon  wegen  der  Kostspielig- 
keit der  Anschaffungen  zunächst  nur  in  größeren  Krankenhäusern  und 
Kliniken  geflbt  werden  wird,  so  können  wir  zur  Zeit  einen  Nachteil  für 
unser  Verfahren  hierin  nicht  erblicken. 

Abgesehen  von  der  Kostspieligkeit  der  Instrumente  haftet,  unserem 
Verfahren  —  soviel  wir  sehen  —  nur  ein  Mangel  an:  es  macht  hier 
und  da  Schwierigkeiten  bezw.  es  dauert  oft  einige  Zeit,  bis  man  mit 
der  Nadel,  die  man  in  den  Weichteilkanal  eingeführt  hat,  den  ange- 
gelegten Knochenkanal  wiederfindet.  Besonders  an  Stellen  mit  stärkerer 
Weichteilbedeckung,  z.  B.  am  Hinterhaupt,  kommt  dies  dadurch  zu 
Stande,  daß  durch  Muskelkontraktion  die  verschiedenen  Schichten  des 
Weichteilkanals  sich  gegen  einander  und  gegen  den  Knochenkanal  ver- 
schieben. Mit  einiger  Geduld  gelingt  es  übrigens  immer,  schließlich  den 
Knochenkanal  wieder  aufzufinden  und  die  Nadel  einzuführen,  und  es  tut 
dieses  Suchen  mit  der  Nadel  mehr  der  Eleganz  der  Methode,  als  ihrem 
wirklichen  Wert  Abbruch. 

Zur  Beseitigung  dieses  Uebelstandes  lagen  folgende  Möglich- 
keiten vor: 

1)  Den  Bohrer  zu  perforieren,  um  ihn  entweder  selbst  als  Hohl- 
nadel zu  verwenden  oder  eine  Hohlnadel  durch  ihn  hindurchzuführen. 

Dies  scheitert  an  der  Feinheit  unseres  Bohrers ;  ihn  aber  auch  nur 
um   das  geringste  stärker  herzustellen,  halten  wir  für  ganz  untunlich. 

2)  Den  Bohrer  mit  einer  Rinne  zu  versehen,  die  als  Leitung  für 
die  Nadel  dient.  Auch  hiermit  haben  wir  keine  guten  Erfahrungen  ge- 
macht. An  unserem  Bohrer  läßt  sich  seiner  Feinheit  halber  keine  Rinne 
mehr  anbringen,  ohne  daß  er  die  nötige  Festigkeit  verliert;  in  Form 
einer  Rinne  dargestellte  Bohrer  erwiesen  sich  durch  zu  starke  Erhitzung 
und  Verbiegung  als  gänzlich  unbrauchbar. 

3)  Mehrversprechend  erschien  der  Gedanke,  zugleich  mit  dem 
Bohrer  eine  darüberlaufende  Hülse  einzuführen,  die  keinen  größereu 
Umfang  zu  haben  brauchte,  als  der  Bohrer  selbst,  indem  sie  durch 
zwei  seitliche  Längsschlitze  das  Zurückziehen  des  in  die  entsprechende 
Ebene  gedrehten  Bohrers  gestattete.  Die  Hülse  bleibt  im  Knochen- 
kanal stecken  und  erlaubt  in  einfacher  Weise  das  Einführen  der  Nadel. 

So  zweckmäßig  auch  eine  solche  Anordnung  erscheint,  so  schienen 
doch  wenigstens  bei  den  Modellen,  mit  denen  wir  arbeiteten,  die  Nach- 
teile den  einen  Vorteil  zu  überwiegen :  geringere  Stabilität  und  schwerere 
Sterilisierbarkeit,  größere  Schmerzhaftigkeit  und,  verknüpft  mit  dem 
künstlichen  Offenhalten  des  Weichteilkanales,  leichtere  Infektionsmög- 
lichkeit des  Kanales. 

Wir  sind  deshalb  stets  wieder  auf  unsere  sonst  bewährte,  oben 
geschilderte  Methode  zurückgekommen. 

Dagegen  haben  wir  an  Stellen,  wo  voraussichtlich  größere  Schwierig- 


Die  Hirnpunktion.  821 

Iceiten  bei  der  Auffindung  des  Knochenkanals  zu  erwarten  waren,  fol- 
gende Modifikationen  mit  Vorteil  angewendet: 

Nach  Anlegung  des  Bohrkanals  wird  nicht,  wie  sonst,  der  Bohrer 
zurückgezogen,  sondern  nach  Abstellung  des  Motors  die  Verbindung 
zwischen  Bohrer  und  Griff  gelöst ,  so  daß  der  Bohrer  im  Schädel 
stecken  bleibt.  Dann  wird  neben  ihm  und  entsprechend  seiner  Flächen- 
seite (durch  Marke  kenntlich)  die  Nadel  eingeführt.  Hierbei  empfiehlt 
es  sich,  den  stärkeren  Bohrer  anzuwenden.  Steckt  die  Nadel  im 
knöchernen  Kanal,  so  wird  der  Bohrer  vorsichtig  zurückgezogen. 

Das  Auffinden  des  Bohrkanals  wird  auch  dadurch  schon  erleichtert, 
daß  man  in  der  eben  angegebenen  Weise  den  Bohrer  stecken  läßt,  ihn 
dann  unter  guter  Fixierung  der  Haut  herauszieht  und  gleich  die  Nadel 
einführt. 

Im  ganzen  sind  diese  Modifikationen  ohne  erhebliche  Bedeutung. 

Dagegen  legen  wir  das  größte  Gewicht  auf  die  Ein- 
haltung unserer  so  einfachen  Technik  und  dieBenutzung 
so  feiner,  glatter  Bohrer,  wie  wir  sie  gebrauchen. 

Von  der  Einführung  anderer  Instrumente  durch  den  Bohrkanal 
sind  wir  wieder  abgekommen.  Wir  haben  uns  —  um  ein  Instrument 
zu  besitzen,  mit  dem  man  festere  Massen,  z.  B.  Tumorpartikelchen  gut 
aus  der  Schädelhöhle  herausbefördern  kann  —  nach  den  Angaben  Payrs 
«ine  Harpune  machen  lassen:  dieselbe  versagte  vollständig.  Als  weit 
besser  erwies  sich  der  von  demselben  Autor  empfohlene  Metalltrichter 
mit  geschärftem  Rande.  Er  erfordert  aber  ein  viel  zu  großes  Bohrloch, 
setzt  leicht  dem  Zurückgehen  Schwierigkeiten  entgegen,  verletzt  auch 
zu  stark. 

Wenn  es  sich  darum  handelte,  Gehimsubstanz  oder  zelliges 
Material  von  einem  Hirntumor  etc.  zu  gewinnen  —  eine  Aufgabe,  die 
gegenüber  der  viel  wichtigeren  Aspiration  flüssiger  Massen  immerhin 
erst  in  zweiter  Linie  kommt  —  so  gelang  uns  das  in  ausreichender 
Weise  dadurch,  daß  wir  eine  stärkere,  gut  federnde  Spritze  von  5  ccm 
Inhalt  auf  die  Nadel  aufsetzten  und  unter  mehrfachem  Hin-  und 
Herschieben  der  Nadel  aspirierten. 

Eine  Pulsation  der  Dura  scheint  uns  an  einem  Bohrloch,  wie  wir 
es  anlegen,  nicht  zu  beobachten  zu  sein. 

Anatomischer  Teil. 
Wahl  der  Punktionsstelle. 

An  der  Hand  der  Anatomie  haben  wir  versucht: 
1)  Punkte  festzulegen,  die  geeignet  sind,   bestimmte  Hirnpartien, 
speziell  die  verschiedenen  Lappen  an  zweckmäßigen  Stellen  zu  treffen, 
■also  Punkte,  für  den  Stirn-Zentral-Schläfen-Scheitel-Hinterhauptslappen 
und  das  Kleinhirn. 

MitteU.  a.  d.  üranxcebieten  d.  Modlsin  n.  Chirurgie.    XUL  Bd.  53 


822  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

2)  Punkte  aufzufinden,  die  den  von  bestimmten  Affektionen  be- 
sonders häufig  be&Uenen  Bezirken  entsprechen.  Vor  allem  Punkte,  an 
denen  man  Schläfenlappen-Kleinhimabscesse  und  Blutungen  aus  der 
Meningea  media  mit  großer  Sicherheit  antreffen  kann. 

3)  Diese  Punkte  so  zu  wählen,  daß  sie  ohne  komplizierte  Kon- 
struktion zu  finden  sind,  daß  ferner  die  Punktion  mit  möglichst  wenigen 
Unannehmlichkeiten  resp.  Gefahren  verknüpft  ist ;  also  PunktionssteUen, 
welche  die  äußeren  Arterien,  die  Art.  meningea  media  und  ihre  Aeste, 
die  größeren  Hirnvenen,  die  Sinus  nach  Möglichkeit  vermeiden. 

A.  Punkte  fUr  die  Punktion  der  einzelnen  Lappen  (vergl.  Fig.  1). 

I.  Stirnhirn. 

Am  Stimhirn  haben  wir  zwei  Punkte  benutzt,  die  beide  auf  einer 
Linie  liegen,  die  durch  die  Mitte  des  oberen  Augenhöhlenrandes  parallel 
zur  Medianlinie  nach  hinten  gezogen  ist. 

Der  erste  Punkt  (-Fi)  wird  so  erhalten,  daß  man  auf  dieser  Linie 
von  dem  Marge  supraorbitalis  an  die  Höhe  der  Orbita  (ca.  4  cm)  ab- 
trägt; der  zweite  liegt  um  dieselbe  Strecke  weiter  nach  oben  bezw. 
hinten  {F^). 

F^  (unterer  Stirnpunkt)  entspricht  dem  vorderen  Pol  des  Stirn- 
lappens resp.  der  Hemisphäre. 

F^  (oberer  Stimpunkt)  trifft  etwa  die  mittleren  Partien  des  Stirn- 
lappens (von  vorn  nach  hinten  gerechnet)  und  zwar  im  Bereich  der 
zweiten  Stirn  Windung^).  An  beiden  Punkten  ist  die  Gefahr  einer  Gefäß- 
verletzung sehr  gering. 

Was  die  Hirnvenen  anbelangt,  so  sind  dieselben  hier  bekanntlich 
klein  (Venae  cerebrales  superiores  anteriores).  Auch  die  Aest^hen  der 
Meningea  anterior  resp.  media,  soweit  sie  dem  vorderen  oberen  Teil 
des  Stirnlappens  entsprechen,  sind  dünn  und  liegen  weit  auseinander. 
Andere  Gefäße  kommen  nicht  in  Betracht. 

Die  Punkte  F^  und  F^  spielen  eine  Rolle  bei  der  eventuellen 
Punktion  von  Stirnhirntumoren,  Abscessen,  Cysten  u.  dergl.  Auch  zur 
Punktion  des  Vorderhorns  resp.  eines  Hydrocephalus  internus  sind  die 
Punkte  zu  benutzen  (s.  unten). 

Einige  Beispiele  aus  unseren  Leichenversuchen: 

Punktion  an  F^  trifft  das  Stirnhirn  2,5  cm  oberhalb  der  Basis,  im 
Gyrus  front.  IE.  In  4  cm  Tiefe  erreicht  die  Nadel  das  Corpus  striatom; 
auf  der  anderen  Seite  in  3,5  cm  Gehimtiefe  das  Vorderhorn. 

Punktion  an  F^  (4  cm  nach  hinten  von  F^),  Gyr.  front  II  getroffen; 
etwa  Zentrum  des  Stimhirns;  hier  in  2,5  cm  Gehimtiefe  das  Vorderhorn 
erreicht.     Größere  Venen  fehlen. 


1 )  Eine  durch  die  Mitte  des  Tub.  front,  gelegte  Sagittallinie  läBt  den 
Gyr.  front.  I  medial,  den  Gyr.  front.  II  lateral  von  sich  liegen. 


Die  Himpunktion. 


823 


Punktion  von  F^  trifft  die  zweite  Stimwindnng  gut  2  cm  oberhalb 
der  Basis.     In  3  cm  Gehirntiefe  Ventrikel  erreicht. 

Punktion  von  F^  trifft  die  zweite  Stirnwindung  im  Zentrum  des 
Stirnlappens  (von  vom  nach  hinten  gerechnet).  Die  Nadel  erreicht,  in 
5  cm  Gehimtiefe   durch   den  Streifenhügel   hindurch,   den  Seitenventrikel. 


Unterer  Orittelponkt 


{tm  Nasenwurzel) 


Oberer  Drittelponkt 


S  =  Scheitelpunkt,  Mitte  zwischen  iV  and  0 


"L  —  Spitxe  der  Sutnra 
lambdolde« 
(NL  =»  Linea  naso- 
lambdoidea  [Poiribr]) 


0     ^  Protaberantia 
occipitalis  externa 
(iVO  =  Linea-naeo-ocd- 

p  italli-horizontalis) 

(Aeqnatorial-  oder  Basal- 

linie) 


Spitie  des  Proc  mastoid. 

Fiff.  1.  Schema  zur  Bestimmung  der  kranio-cerebralen  Topographie  (nach  Poirier- 
EocHEB).    Einzeichnung^  unserer  Pünktionspunkte. 

»—  EocHEBSche  Kraniometeipunkte  bezw,  -Linien. 

®     Unsere  Absceßpunkte. 

%     Unsere  Punkte  zur  Punktion  der  einzelnen  Lappen. 

Zwei  weitere   Versuche    ergaben    in   3  cm  Himtiefe   das  Eindringen  der 
Nadel  in  das  Vorderhom  etc. 


IL  Kleinhirn. 
Unsere  Punktionsstellen  für  das  Kleinhirn  sind  folgende: 
Kl  liegt  auf  der  Mitte  einer  Verbindungslinie  von  Protuberant. 
occipitalis  externa  und  Spitze  des  Proc.  mastoideus.    Es  ist  dies  der 

53* 


824  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Punkt,  von  dem  aus  Poirier  die  Freilegung  des  Kleinhirns  empfohlen 
hat.  Hier  trifft  man  das  Zentrum  der  betreffenden  Kleinhimhemisphäre 
(an  der  Unterfläche  den  LobuL  gracilis;  bei  Durchstechen  kommt  die 
Nadel  oben  etwa  in  der  Mitte  des  LobuL  quadrangularis  wieder  zu 
Tage)^.  Wie  beim  Stirnhirn  sind  auch  hier  die  Venen  der  Himober- 
fläche  klein;  irgend  welche  größeren  Arterienstämme  des  Hirns  oder 
der  Dura  kommen  ebensowenig  in  Betracht,  wie  die  Sinus. 

Beispiele.  Punkt  an  K^i  Bei  6  cm  Tiefe  stößt  die  Nadelspitze 
ans  Tentorium  an  (von  der  äußeren  Hauptoberfläche  gerechnet) ;  die  Stelle, 
wo  sie  anstößt,  liegt  von  der  Mittellinie  noch  um  ca.  8  cm  entfernt  Vom 
äußersten  Seitenzipfel  des  vierten  Ventrikels  bleibt  die  Nadel  ca.  3  cm 
entfernt  Die  Nadel  steckt  im  Lob.  graciL  an  der  Unterseite,  oben  etwas 
nach  vom  von  der  Mitte  des  Lob.  quadrangularis. 

Mehrere  Wiederholungen   ergeben  im  ganzen  immer  wieder  dasselbe. 

IIL  Zentrallappen. 
(Gyr.  central,  anter.  und  poster.) 

Der  Zentrallappen  ist  nach  verschiedenen  Methoden  leicht  zu 
treffen;  jedoch  ist  die  Anwendung  eines  Meßinstrumentes  notwendig. 
Am  bekanntesten  ist  das  KÖHLERsche  Craniencephalometer,  mit  dem 
man  den  Sulcus  Rolandi  bestimmt 

Wir  folgen  Kocher*),  welcher  sagt: 

^Wir  haben  schon  oben  darauf  hingewiesen,  daß  wir  nicht,  wie  die 
übrigen  Autoren,  seit  Lucas  Championni^re  die  Fissura  Rolandi  für 
den  SchlCLssel  der  motorischen  Region  halten  können,  sondern  vielmehr 
den  Sulcus  praecentralis.  Dieser  hat  zugleich  den  Vorteil,  leichter  be- 
stimmbar zu  sein  als  die  Zentralfurche,  und  ferner,  daß  von  ihm  die 
untere  und  obere  Stirnfurche  ausgehen,  die  eine  ungemein  exakte  Be- 
stimmung zulassen.  Dadurch  grenzen  sich  nicht  nur  die  in  der  Basis 
der  Stimwindungen  gelegenen  Zentren  voneinander  ab,  sondern  es  ist 
auch  leichter,  die  in  der  vorderen  Zentralwindung  gelegenen  Zentren 
auseinander  zu  halten,  da  hier  sonst  bloß  durch  das  winkelige  Vortreten 
der  hinteren  Zentralwindung  eine  Trennung  der  oberen  Zentren  für 
die  Extremitäten  von  den  unteren  für  den  Kopf  gegeben  ist.  Es  kommt 
hinzu,  daß  um  das  untere  Ende  der  Präzentralfurche  herum  sich  eine 
Reihe  wichtiger  Zentren  gruppieren,  was  für  die  Zentralfurche  nicht  in 
der  Ausdehnung  der  Fall  ist.  Auch  liegt  unter  diesem  unteren  Ende 
der  Präzentralfurche  die  Bifurkation  der  Fissura  Sylvü.  Nimmt  man 
hinzu,   daß   sich  die  Präzentralfurche  viel  leichter  in  ganzer  Länge  be- 

1)  Man  muß  hier  bei  der  Punktion  des  Kleinhirns  bertlcksichtigen, 
daß  der  anzulegende  Kanal  nicht  senkrecht  zur  Haut,  sondern  senkrecht 
zur  Knochen-(Occipat)-Oberfläche  verlaufen  soll.  Daraus  geht  hervor,  daß 
man  beim  Bohren  den  Griff  des  Bohrers  ziemlich  stark  gegen  den  Nacken 
icesenkt  halten  muß. 

2)  1.  c.  p.  418. 


Die  Himponktion,  825 

stimmen  läßt,  so  liegen  sicherlich  Gründe  genug  vor,  derselben  größere 
Bedeutung  für  die  Hirntopographie  zuzuerkennen,  als  dieses  bislang  ge- 
schehen ist." 

Für  uns  kommt  noch  ein  nichtiger  Punkt  hinzu,  um  die  Bedeutung 
der  Präzentralfurche  zu  vermehren.  Mit  ihrer  Bestimmung  nach  Kocher 
ist  zugleich  der  vordere  Ast  der  Art.  meningea  media  mitbestimmt,  der, 
wie  man  sich  in  den  schönen  Photogrammen  von  J.  Stiles  überzeugen 
kann  —  wenn  man  von  den  obersten  Partien  absieht  —  in  seinem 
Verlauf  ganz  dem  des  Sulc.  praecentral.  entspricht,  von  dem  er  nur 
durch  die  Hirnhaut  geschieden  ist.  Und  diesen  Ast  müssen  wir  vor 
allem  bei  der  Punktion  vermeiden.  Wir  haben  nach  den  KocHERschen 
Angaben  mit  Hilfe  des  Cyrtometers  den  Verlauf  des  Sulc.  praecentral. 
und  der  Meningea  media  am  Lebenden  und  an  der  Leiche  in  einer  Reihe 
von  Fällen  bestimmt  und  uns  bei  der  späteren  Operation  oder  Sektion 
von  der  ausgezeichneten  Treffsicherheit  der  Kocher  sehen 
Methode  überzeugen  können.  Wir  fanden  es  bei  Leichenversuchen 
nicht  selten,  daß  die  eingestochenen  Nadeln  genau  im  Sulc.  praec. 
steckten  und  zugleich  —  bei  Punktionen  am  sogenannten  oberen  oder 
unteren  Drittelpunkt  (d.  i.  den  Schnittpunkten  des  Sulc.  praec.  mit  dem 
Sulc.  frontal.  I  u.  II)  —  dem  Endpunkt  des  Sulc.  front.  I  resp.  II  ent- 
sprachen.   Dabei  trafen  wir  die  Meningea  bis  auf  0,5  cm  genau. 

Das  Kocher  sehe  Cyrtometer  (vgl.  Fig.  1)  besteht  aus  einem 
Horizontalbogen  (Metall-  oder  Kautschukband),  das  von  der  Glabella 
bis  zur  Protuberantia  occipitalis  externa  verläuft  und  jedem  Kopf 
angepaßt  werden  kann.  Der  Bogen  wird  so  angelegt,  daß  der  untere 
Band  des  Bandes  der  Spina  occipitalis  und  dem  untersten  Ende  der 
Glabella,  d.  i.  der  tiefsten  Stelle  der  Nasenwurzel  entspricht.  Ein 
sagittales,  biegsames  Stahlband  liegt,  fest  verbunden  mit  dem  horizon- 
talen, auf  der  Spina  occipitalis,  wird  über  die  Mittellinie  nach  vorn  ge- 
legt und  an  der  Nasenwurzel  unter  dem  Horizontalbande  durchgezogen, 
gespannt  und  fixiert  Ein  drittes  Band,  ebenfalls  aus  biegsamem  Stahl, 
ist  auf  einer  runden  Platte  mit  Kreiseinteilung  nach  allen  Richtungen 
drehbar  und  läßt  sich  in  ganzer  Länge  auf  dem  Sagittalband  verschieben. 

Alle  Bänder  haben  Zentimeter-  und  Millimetereinteilung. 

Außerordentlich  leicht  ist  hiermit  zunächst  die  Präzentralfurche 
zu  bestimmen.  Nimmt  man  die  Mitte  zwischen  Prot,  occipit.  extern,  und 
Glabella  und  stellt  das  bewegliche  Band  (den  sogenannten  vorderen 
Schrägmeridian)  so,  daß  es  mit  dem  Sagittalband  einen  Winkel 
von  60^  (nach  vorn)  bildet,  so  trifft  man  mit  dem  vorderen 
Schrägmeridian  die  Präzentralfurche  in  ganzer  Länge 
und  nur  der  oberste  Teil  fällt  noch  in  die  vordere  Zentralwindung  selbst. 

Teilt  man  diesen  Schrägmeridian  zwischen  Sagittalmeridian  und 
Aequator  in  drei  Teile,  so  hat  man  genau  den  Anfang  des  Sulc.  front, 
sup.  im  oberen  Drittelpunkt  und  des  Sulc.  front,  inf.  im  unteren 


826  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Drittelpnnkt.  Die  Richtung  der  STLVischen  Furche  findet  man  so, 
daß  man  entweder  von  einem  Punkte  nahe  der  hinteren  Grenze  des 
dritten  Viertels  des  Sagittalmeridians  den  Schrägmeridian  im  rechten 
Winkel  nach  vorn  gehen  läßt,  oder  einfacher:  indemman  eine  Linie 
von  der  Spitze  der  Lambdanaht  nach  der  Nasenwurzel 
zieht  (zu  diesem  Zweck  ist  noch  ein  Metallbogen  am  Horizontalband 
des  Cyrtometers  befestigt)  [Linea  nasolambdoidea].  Diese  Linie  weicht 
hinten  etwas  abwärts  von  der  SYLVischen  Furche  ab,  entspricht  aber 
dem  Verlauf  der  wichtigen  I.  Temporalwindung  genau  (Linea  temporalis  I), 
wenn  man  als  vordere  Grenze  den  vorderen  Schrägmeridian  und  als 
hintere  den  hinteren  Schrägmeridian  ansieht,  welcher  letztere 
von  dem  Mittelpunkt  zwischen  Glabella  und  Spina  occipitalis  in  einem 
nach  hinten  offenen  Winkel  von  60^  abgeht. 

Die  Ausführung  der  ganzen  Konstruktion  dauert  wenige  Minuten. 

Wo  der  hintere  Schrägmeridian  die  Linea  nasolambdoidea  schneidet, 
befindet  sich  das  hintere  Ende  der  ersten  Temporalfurche  (u.  1  cm 
darüber  der  SYLVischen  Furche). 

Da  dieser  Meridian  abwärts  von  diesem  Schnittpunkte  die  Grenze 
zwischen  Temporal-  und  Occipitallappen,  aufwärts  aber  ungefähr  die 
Grenze  zwischen  Zentral-  und  Parietallappen  (oben  geht  er  ganz  in  die 
hintere  Zentralwindung  ein)  bildet,  so  bezeichnet  ihn  Kocher  auch  als 
Linea  limitans. 

Danach  kommt  das  einfache  KooHERsche  Schema  zu  stände,  das 
in  der  Figur  wiedergegeben  ist. 

Wie  man  sieht,  bestimmt  man  mittels  des  Cyrtometers  in  kürzester 
Zeit  nicht  nur  den  Sulc.  praecentralis  und  den  Hauptast  der  Meningea, 
sondern  auch  die  Fissura  Sylvii,  und  grenzt  die  übrigen  Lappen  gegen 
einander  ab  (Linea  limitans). 

Uns  interessiert  hier  zunächst  nur  der  vordere  Schrägmeridian 
event.  auch  die  SYLVische  Furche.  Der  vordere  Schrägmeridian  ent- 
spricht, wie  schon  erwähnt,  der  Meningea  media  und  zwar  dem  Haupt- 
ast (Ram.  anter.  der  Autoren),  der  nur  oben  nach  vorn  abweicht ;  ferner 
entspricht  er  dem  Sinus  parieto-sphenoidal,  der  größtenteils  mit  der 
Meningea  verläuft  und  bis  zur  Mittellinie  hin  dem  Sulc.  praecentralis 
folgt  (Merkel). 

Die  Linie,  die  die  SYLVische  Furche  angibt,  entspricht  zugleich  der 
großen  Vena  cerebri  media,  welche  oberflächlich  in  dem  SYLVischen  Spalt 
verläuft ;  ferner  häufig  einem  hinteren  Ast  des  Ram.  anter.  der  Meningea. 
Bedenkt  man  ferner,  daß  der  sogenannte  vordere  Ast  der  Meningea 
media  noch  mehr  Aeste  nach  hinten  oben  abgibt,  daß  ferner  auch  die 
Hirnvenen  dieses  Bezirks  (System  der  Vena  cerebri  media)  weit  mäch- 
tiger sind,  als  die  der  vordersten  oder  hintersten  Hirnpartien,  so  ist 
ohne  weiteres  klar,  daß  die  untersten  Partien  des  Zen- 
trallappens zur  Punktion  wenig  geeignet  sind. 


Die  Hirnpunktion.  827 

Je  weiter  man  nach  oben  kommt,  desto  dünner  werden  die  Aeste 
der  Meningea  und  desto  weiter  liegen  sie  auseinander ;  hier  werden  also 
die  Punktionsverhältnisse  günstiger. 

Wir  haben  es  für  zweckmäßig  befunden,  uns  V2 — 1  cm 
hinter  dem  aufgezeichneten  Verlauf  der  Meningea  (wenn 
möglich  entfernt  von  der  STLVischen  Furche)  zu  halten. 

Hier  triflft  man: 

a)  oberhalb  des  oberen  Drittelpunktes  das  Beinzentrum  (C^), 

b)  zwischen  oberem  und  unterem  Drittelpunkt  das  Armzentrum  ((7,), 

c)  in  der  Höhe  des  unteren  Drittelpunktes  das  Facialiszentrum  (Q), 
Je  nachdem   man   dicht  hinter  der  Meningea  resp.  dem  vorderen 

Schrägmeridian  punktiert  oder  um  eine  Gyrusbreite  weiter  nach  hinten 
(ca.  1—1,5  cm),  trifft  man  den  Gyr.  prae-  oder  postcentralis. 

Für  die  Punktion  des  Zentrallappens  überhaupt  empfehlen 
sich  aus  den  oben  erwähnten  Gründen  Punkte  oberhalb  der  Höhe 
des  unteren  Drittelpunktes. 

Will  man  ein  bestimmtes  Zentrum  punktieren,  so  muß  man 
eventuell  tiefer  unten  eingehen,  z.  B.  bei  Punktion  des  unteren  Facialis- 
oder  des  Hypoglossuszentrums  oder  der  BROCAschen  Windung]  (letztere 
liegt  dicht  vor  dem  vorderen  Schrägmeridian,  in  dem  stumpfen  Winkel, 
den  dieser  mit  der  nach  vorn  verlängerten  Lin.  tempor.  I  bildet).  Hier 
wächst  die  Gefahr  einer  Blutung  nach  den  obigen  Auseinandersetzungen 
bedeutend;  man  wird  also  hier  die  Indikation  der  Punktion  strenger 
stellen,  als  bei  den  Punktionen  in  den  mittleren  und  oberen  Partien 
der  motorischen  Region. 

Hier  mag  noch  bemerkt  sein,  daß  man  selbstverständlich  auch  nach 
Bestimmung  der  RoLANDOschen  Furche  punktieren  kann,  indem  man 
sich  etwas  nach  vorn  bezw.  etwas  nach  hinten  davon  hält. 

Uns  schien  aber  aus  ersichtlichen  Gründen  die  EocHERsche 
Methode  für  unsere  Zwecke  geeigneter. 

Wer  in  dem  seltenen  Besitz  wirklich  exakter  Nachbildungen  ist, 
die  die  Lagebeziehungen  der  Hirnoberfläche  zum  Schädel  naturgetreu 
wiedergeben,  wird  sich  dieser  natürlich  zur  Wahl  der  Punktionsstellen 
am  Schädel  in  ausgezeichneter  Weise  bedienen  können. 

IV.  Schläfenlappen. 

Für  die  Punktion  dieses  Lappens  schlagen  wir  folgende  Punkte  vor. 

Der  eine  (Tj)  liegt  1 — 1,5  cm  oberhalb  des  oberen  Ansatzes  der 
Ohrmuschel  (Orientierung  des  Schädels  nach  der  deutschen  Hori- 
zontalen *). 

Dieser   Punkt  entspricht  etwa  dem   Zentrum  des  Schläfenlappens. 


1)  Linie    durch    den    Infraorbitalrand    und    den    obersten  Punkt   des 
Meatus  acusticus  externus. 


828  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Ein  zweiter  Punkt,  an  dem  wir  öfters  punktiert  haben,  wird  erhalten  (T^X 
wenn  man  von  einem  Punkte  1  cm  oberhalb  des  Ohrmuschelansatzes 
(Ti)  um  1,5  cm  nach  vorn  geht  (parallel  der  deutschen  Horizontalen). 

Dieser  Punkt  entspricht  etwa  dem  Zentrum  des  Schläfenlappeus^ 
soweit  letzterer  hinter  dem  Os  temporale  liegt. 

(Ueber  Ts  siehe  unten  bei  den  Absceßpunkten.) 

Die  Venen  sind  in  dieser  Gegend  im  ganzen  nicht  sehr  groß  oder 
dicht,  so  daß  die  Gefahr  einer  venösen  Blutung  gering  erscheint.  Die 
einzige  größere  Vene  liegt  im  Sulc.  temp.  superior. 

Die  Punktionsstelle  bleibt  meist  nach  hinten  resp.  unten  davon. 
Von  den  Arterien  kommt  allein  der  Ramus  posterior  der  Meningea  media 
in  Betracht,  der  zwar  für  gewöhnlich  hinter  dem  oberen  Teil  der  Schuppe 
nach  hinten  zieht,  also  weit  nach  oben  bleibt,  aber  auch  nicht  selten 
tiefer  (hinter  dem  mittleren  oder  unteren  Teile  der  Schuppe)  verlaufen 
kann  ^).  Dieser  Ast  ist  —  da  nicht  anatomisch  fix  und  bestimmbar  — 
auch  nicht  vollkommen  sicher  zu  vermeiden.  Wir  haben  ihn  beiläufig, 
trotz  häufiger  Punktionen  in  dieser  Gegend,  nie  getroffen. 

Günstig  für  die  Punktion  in  diesem  Bereich  ist  der  Umstand,  daß 
der  erwähnte  Ast  sich  erst  am  hinteren  Rande  der  Schuppe  in  mehrere 
Aeste  zu  teilen  pflegt,  hinter  der  Schuppe  aber  so  gut  wie  astlos 
verläuft 

Beispiele:  1)  1  cm  nach  vom  von  einem  Punkt  punktiert,  der 
1  cm  über  dem  oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel  liegt  (Orientierung:  Deutsche 
Horizontale).  Schlafenlappen  im  Gyr.  temporalis  II  getroffen.  Dieser 
Punkt  kann  noch  0,5  cm  nach  vom  verlegt  werden,  um  das  Zentrum  des 
Schläfenlappens  —  soweit  er  hinter  dem  Temporale  gelegen  ist  —  zu 
treffen. 

Ast  der  Meningea  media  nicht  getroffen;  sie  verläuft  hinten  an  der 
Sutura  petrosquamosa.  In  5  cm  Gehimtiefe  die  Pedunculi  cerebri  ge- 
troffen. 

2)  2  cm  nach  vom  von  einem  Punkt  punktiert,  der  1,5  cm  oberhalb 
des  Ansatzes  der  Ohrmuschel  liegt.  Gyr.  temp.  II  getroffen  und  zwar 
ziemlich  im  Zentrum  des  Schläfen lappens. 

In  8  cm  Gehimtiefe  wird  das  Unterhorn  erreicht. 

V.  und  VI.    Parietal-  und  Occipitallappen. 

Diese  Lappen  werden  verhältnismäßig  selten  punktiert  werden  müssen. 

Man  entwirft  sich  am  besten  wieder  mit  dem  KocHERschen  Cyrto- 
meter  die  auf  Figur  1  gegebene  Zeichnung.  Durch  dieselbe  werden 
die  Grenzen  und  Umrisse  des  Lob.  parietal,  und  occipital.  bestimmt 
und  man  kann  nun  ungefähr  in  der  Mitte  der  aufgezeichneten  Fläche 
punktieren  *). 

1)  Vgl.  die  Arbeit  von  B.  Steinbr,  „Zur  chirurgischen  Anatomie  der 
Arteria  meningea  media '^     Archiv  für  klinische  Chirurgie,    1894,    Bd.  48. 

2)  Wir  haben  bei  unseren  Versuchen  am  Scheitellappen  gewöhnlich 
den  Lob.  parietalis    superior    getroffen.     Den  Lob.    parietalis    infer.   trifft 


Die  Himpunktion.  829 

Bei  der  Punktion  des  Paxietallappens  muß  man  selbstverständlich 
berücksichtigen,  daß  die  Linea  limitans  oben  in  den  Zentrallappen  fällt. 
Mit  Hilfe  der  KocHERschen  Zeichnung  kann  man  sich  mit  einem  Blick 
orientieren. 

Die  Venenverhältnisse  sind  besonders  im  Bereich  des  Occipital- 
hirns  günstig.  Wenn  man  in  der  Mitte  des  Occipital-  resp.  Parietal- 
lappens  bezw.  ihrer  Umgrenzung  durch  die  KocHERsche  Zeichnung 
punktiert,  wird  man  kaum  eine  größere  Vene  treffen.  Die  Arterien 
der  Dura  bilden  hier  schon  sehr  feine,  ziemlich  weit  auseinanderliegende 
Aeste  und  geben  kaum  zu  Bedenken  Anlaß.  —  Die  Vermeidung  der 
Sinus  (longitudinalis  sup.  und  transvers.)  ergibt  sich  von  selbst,  wenn 
man  von  der  Mittellinie  resp.  Aequatoriallinie  genügend  entfernt  bleibt^ 

Wir  erinnern  noch  daran,  daß  der  Sinus  transversus  unterhalb  der 
Basallinie  liegt,  so  daß  man  ziemlich  nahe  an  diese  herangehen  kann; 
femer,  daß  der  Sinus  longitud.  sup.  s.  sagittalis  gegen  Ende  seines  Ver- 
laufs etwas  nach  rechts  abbiegt  (um  in  den  rechten  Sin.  transvers. 
auszumünden),  resp.  überhaupt  etwas   rechts   von  der  Mittellinie  verlftufl. 

VII.    Seiten  Ventrikel. 

Hier  mögen  einige  Bemerkungen  über  die  Punktion  der  Seiten- 
ventrikel Platz  finden. 

Der  beste  Punkt  scheint  uns  der  von  Kocher  angegebene.  Kocher, 
welcher  den  Seitenventrikel  punktiert,  um  bei  Tetanus  Antitoxin  ein- 
zuspritzen, wählt  eine  Stelle  vor  der  Präzentralfurche  zwischen  mitt- 
lerer und  oberer  Stirnwindung  in  der  Höhe  des  Sulcus,  d.  i.  an  der 
Schädeloberfläche  die  Stelle  2,5 — 3  cm  lateral  vom  Bregma  (Vereinigungs- 
stelle der  Sagittal-  und  Goronarnaht) ;  hier  vermeidet  man  die  moto- 
rischen Zentren  und  triflft  in  5—6  cm  Tiefe  das  Lumen  des  normalen 
Ventrikels  und  zwar  das  Vorderhorn.  —  Wo  man  das  Bregma  nicht 
durchfühlt,  findet  man  es  folgendermaßen :  Man  denkt  sich  einen  Punkt 
dicht  unter  der  Nase  mit  dem  Por.  acust.  extern,  verbunden  und  in 
letzterem  zu  dieser  Linie  eine  Senkrechte  errichtet;  dieses  Lot  trifft 
die  Sagittallinie  im  Bregma.  —  Wir  haben  so  in  zahlreichen  Fällen 
gefüllte  und  erweiterte,  wie  auch  leere  Ventrikel  punktiert 

Die  Oefahr  bei  mit  Flüssigkeit  erfüllten  Ventrikeln  (Hydrocephalus, 
Meningitis  serosa)  sind  gleich  Null.  Je  leerer  der  Ventrikel  ist,  desto 
eher  kann  es  zu  einer  Verletzung  von  Gefäßen  und  Blutungen  kommen, 
wie  in  einem  unserer  Fälle,  wo  nach  Injektion  von  Tetanusantitoxin 
bei  der  Autopsie  ein  Blutgerinnsel  von  5  cm  Länge  im  Seitenventrikel 
gefunden  wurde. 


man,  wenn  man  in  dem  nach  oben  und  vom  offenen  Winkel  zwischen 
Linea  naso-lambdoidea  und  hinterem  Scbrägmeridian  punktiert.  —  Sowohl 
bei  Punktion  des  Occipital-  wie  Parietallappens  trafen  wir  in  ca.  3  cm 
Himtiefe  den  Ventrikel. 


830  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Versuche:  Punktion  des  Stirn-,  Schläfen-,  Zentral-,  Hinterhaupts- 
lappens; in  3 — 4  cm  Hirntiefe  Ventrikel  erreicht 

Die  Punkte,  die  wir  für  die  Lappen  angegeben  haben,  sind  ge- 
wissermaßen Standardpunkte,  von  denen  man  im  gegebenen  Falle 
abweichen  kann,  je  nachdem  die  Symptome  auf  einen  anderen  Punkt 
hinweisen.  [So  haben  wir  oben  bei  dem  Zentrallappen  schon  drei 
Punkte  angegeben,  je  nachdem  es  sich  um  Verdacht  auf  eine  AiFektion 
des  Bein-,  Arm-  oder  Facialiszentrums  handelt.  Andere  Punkte  ^)  würden 
sein :  Zentren  der  Augenbewegung,  der  motorischen  Aphasie !  Ferner 
ließ  sich  die  Punktionsstelle  auch  für  Arm,  Bein,  Facialiszentren  noch 
spezialisieren,  je  nachdem  gewisse  Teile  besonders  befallen  sind  (oberer 
Facialis,  unterer  Facialis,  Hand,  Schulter,  Fuß,  Oberschenkel  etc.]. 

Im  allgemeinen  dürften  die  von  uns  angegebenen 
Punkte  geeignet  sein  und  ausreichen,  einen  Herd  in 
einem  bestimmten  Hirnteil  zu  treffen  und  dies  auch 
darum,  weil  für  die  Probepunktion  doch  nur  ein  Herd  in 
Betracht  kommt,  der  eine  gewisse  Oberflächenausdeh- 
nung besitzt. 

B.   Fixe  Punkte  zur  Punktion  von  Abscessen  und  Blutungen. 

Von  noch  größerer  Bedeutung  erschien  es  uns,  Punkte  zu  fixieren, 
an  denen  nach  klinischer  Erfahrung  Abscesse  und  gewisse  Blu- 
tungen vorzukommen  pflegen. 

I.    Absceßpunkte. 

Von  Abscessen  kommen  für  die  Punktion  im  wesentlichen  die 
otitischen  Abscesse  in  Betracht  und  es  war  daher  unser  Bestreben, 
Punkte  zu  finden,  von  denen  aus  man  gefahrlos  schon  möglichst  kleine 
Kleinhirn-  oder  Schläfenlappenabscesse  punktieren  kann. 

KÖRNER  (Die  otitischen  Erkrankungen  des  Hirns,  der  Hirnhäute 
und  der  Blutleiter,  1894)  sagt  über  den  Sitz  der  otitischen  Hirnabscesse 
folgendes:  „Die  von  einem  kranken  Schläfenbein  induzierten  Hirn- 
abscesse liegen  in  den  demselben  benachbarten  Hirnteilen,  also  im 
Schläfenlappen  oder  in  der  Kleinhirnhälfte  der  gleichen  Seite,  sehr 
selten  in  der  Brücke  oder  den  Kleinhirnschenkeln.'^ 

„Erkrankungen  im  Bereich  der  mittleren  Schädelgrube  führen  zum 
Absceß  im  Schläfenlappen,  solche  im  Gebiet  der  hinteren  Schädelgrube 
zum  Absceß  im  Kleinhirn.  —  Die  Erfahrung,  daß  die  Abscesse  in  un- 
mittelbarer Nähe  des  Kontaktes  erkrankter  Knochenteile  mit  den  Hirn- 
häuten auftreten,  gibt  uns  die  Möglichkeit,  die  von  ihnen  bevorzugten 
Stellen  wenigstens   ungefähr  zu  bestimmen.    Dieser  Kontakt  findet  in 


1)  Zu  finden  mit  Hilfe  von  Tafeln  der  Himoberfiäche,  in  die  die  ein- 
zelnen Funktionen  eingetragen  sind. 


Die  Himpimktion.  831 

der  mittleren  Schädelgrube,  meist  am  Dache  der  Pauken- 
und  Warzenhöhle  statt.  Auf  diesem  liegt  der  vordere  Teil  des 
Gyr.  fusiformis.  In  der  hinteren  Schädelgrube  handelt  es  sich  zumeist 
um  die  Fossa  sigmoidea  des  Sulc.  transversus;  ihr  entspricht  die 
Vorderfläche  des  äußersten  Kleinhirnteils.  Den  seltener 
in  Betracht  kommenden  Mündungen  der  Vorhofswasserleitung  und  des 
inneren  Gehörgangs  entsprechen  mehr  medianwärts  gelegene  Teile  der 
vorderen  Kleinhirnfläche.*' 

„Diese  Ortsbestimmung  bezieht  sich  auf  den  beginnenden,  noch 
kleinen  Absceß.** 

Es  fragte  sich  also  für  uns,  von  wo  aus  man  mit  der  Punktions- 
nadel in  die  Hirnpartien  gelangt,  die  den  von  Körner  angegebenen  Kon- 
taktflächen zwischen  Hirn-  und  Knochenteilen  möglichst  benachbart  sind. 

Auf  Grund  von  Leichenversuchen   wählten   wir  folgende  Punkte: 

a)  Schläfenabsceßpunkt. 

Derselbe  liegt  ca.  0,5—0,75  cm  senkrecht  über  dem 
oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel. 

Durch  Leichenversuche  läßt  sich  leicht  zeigen,  daß  die  Frontal- 
ebene, die  durch  den  oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel  geht,  die  erste 
Kontaktstelle  Körners  zwischen  Dach  der  Paukenhöhle  und  Lob.  fusi- 
formis trifft,  bezw.  in  der  Mitte  schneidet.  Somit  stellt  diese  Ebene 
oder  vielmehr  die  Linie,  in  der  sie  die  Schädeloberfläche  schneidet 
(d.  i.  eine  im  oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel  errichtete  Senkrechte  be- 
zogen auf  die  deutsche  Horizontallinie),  den  einen  geometrischen  Ort 
für  die  Punktionsstelle  dar. 

Schwerer  ist  die  Bestimmung,  wie  hoch  man  auf  dieser  Linie  punk- 
tieren soll. 

Beispiele:  1)  1  cm  oberhalb  des  Ansatzes  der  Ohrmuschel  punk- 
tiert. Die  Nadel  sitzt  im  Oyr.  temporalis  II;  bleibt  l*/^  cm  oberhalb  der 
Ebene,  die  durch  die  Oberfläche  des  Lob.  fusiformis  gebildet  wird. 

In  3,5  om  Himtiefe  dringt  die  Nadel  ins  Unterhom,  gleich  nachdem 
sie  den  Lob.  fusiformis  passiert  hat. 

In  6  cm  Himtiefe  erreicht  die  Nadelspitze  die  Himschenkel  (Basis!). 
(Ein  Ast  der  Meningea  läuft  dicht  unter  der  Punktionsstelle  vorbei!) 
2)  Punktion  o)  am  Ansatz  der  Ohrmuschel,  ß)  1  cm  nach  oben  davon ; 
an  beiden  Punkten  der  Gyr.  temp.  II  getroffen,  durch  a  würde  ein  sehr 
kleiner  Absceß,  durch  ß  ein  etwas  größerer  an  der  Berührungsstelle  von 
Gyr.  fusiformis  und  Tegmen  tympani  getroffen  sein.  Ast  der  Meningea 
lauft  hinter  den  Punktionsstellen  vorbei. 

Bei  o  in  4,5  cm  Himtiefe  die  Pedunculi  cerebri  erreicht, 
Bei  ß  in  gut  5  cm  Hirntiefe  die  Pedunculi  cerebri  erreicht 
Das  Tegmen   tympani   entspricht   der   vorderen  Partie   des  Gyr.  fusi- 
formis und  einem  Teil  der  Basis  der  HL  Scbläfenwindung. 

8)  Genau  am  Ansatz  der  Ohrmuschel  punktiert  und  zwar  rechts  und 
links.  Links  findet  sich  dicht  neben  der  Punktionsstelle  ein  kleiner  Ast 
der  Meningea.  Rechts  verläuft  der  Eam.  posterior  derselben  etwa  3  cm 
höher  nach  hinten. 


832  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Beiderseits  ist  der  Qyr.  tempor.  III  getroffen.  Die  Nadel  liegt  nur 
^4  cm  oberhalb  der  Ebene,  die  man  durch  die  Oberfläche  des  Oyr.  fnsi- 
formis  legen  kann ;  sie  verläüt  schon  in  4  cm  Oehimtiefe  die  Himsnbstanz 
und  kommt  aus  der  Basis  hervor! 

Hier  wäre  ein  ganz  beginnender  Abscefi  im  Lob.  fasiformis  getroffen 
worden. 

4)  Punktion  genau  am  oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel  resp.  eine  Spur 
tiefer;  rechts  und  links 

a)  links:  Gehirn  nicht  getroffen!  die  Nadel  liegt  an  der  Himbasis, 
tangiert  an  das  Oehim.  Der  Kam.  poster.  der  Meningea  liegt  2  cm 
oberhalb  der  Punktionsstelle. 

b)  rechts:  Schläfenlappen  hier  getroffen  im  Sulc.  tempor.  medius 
(zwischen  Oyr.  temp.  II  und  HI);  wohl  nur  Gehirn  getroffen,  weil  hier 
nicht  genau  senkrecht  zur  Oberfläche  eingestochen,  sondern  die  Spitze 
etwas  scheitelwärts  abgewichen.  Kam.  poster.  der  Meningea  liegt  1  cm 
oberhalb  der  Punktionsstelle. 

6)  1,5  cm  oberhalb  des  Ohrmuschelansatzes;  trifft  den  Gyr.  temporal,  ü, 
bleibt  knapp  2  cm  oberhalb  der  Himbasis.  Würde  also  einen  ziemlich 
kleinen  Absceß  erreichen.  Die  Nadel  geht  dicht  unter  dem  Boden  des 
Unterhoms  vorbei. 

ß)  Punktion: 

a)  Am  Ansatz  der  Ohrmuschel :  Der  unterste  Teil  der  HL  Schläfen- 
windung wird  fast  an  der  Basis!  getroffen.  Die  Nadel  liegt  0,4  cm 
oberhalb  der  Basis.  Hier  wäre  ein  noch  nicht  haselnußgroßer  Absceß 
der  Kontaktstelle  von  Tegmen  und  Schläfenlappen  gefunden  worden. 

b)  Etwas  nach  unten  und  vom  von  der  vorigen  Stelle;  aber  Nadel 
etwas  scheitelwärts  gerichtet.  Der  unterste  Teil  von  Gyr.  temp.  III 
getroffen ;  aber  etwas  weiter  ab !  von  der  Basis  (d.  h.  höher),  als  bei  a 
(was  natürlich  mit  der  leicht  schräg  gehaltenen  Punktionsrichtung  zu- 
sammenhängt). 

An  der  betreffenden  Stelle  des  Lob.  fusiformis  passiert  die  Nadel  in 
etwa  1,5 — 2  cm  Entfernung  von  der  Basis. 

[7)  Oberer  Ansatz  der  Ohrmuschel  mit  dem  lateralen  Ende  des  Margo 
Bupraorbitalis  verbunden;  in  8  Teile  geteilt.  Am  hinteren  Drittelpunkte 
eingestochen  —  nach  Wegnahme  des  Schädeldaches  —  durch  die  Spitze 
des  Schläfenlappens  gegen  den  Türkensattel:  Entfernung  von  der  Haut- 
oberfläche bis  zur  Carotis  interna:  6  cm.  (Ein  Punkt,  der  sich  nicht  zu 
Punktionen  eignet.)] 

Zu  Anfang  hatten  wir  uns  bei  mehreren  Leichenversuchen  davon 
überzeugt,  daß  eine  senkrecht  zur  Oberfläche  am  oberen  Ansatz  der 
Ohrmuschel  selbst  eingestochene  Nadel  einen  an  der  Berührungsstelle 
vom  Paukenhöhlendach  und  Lob.  fusiformis  des  Schläfenlappens  suppo- 
nierten,  auch  nur  haselnußgroßen  Absceß  mit  Sicherheit  treffen  muß. 
Dabei  durchstach  die  Nadel  den  Gyr.  temporal.  II  etwa  in  seiner 
unteren,  basalen  Partie,  wie  das  auch  nach  den  Abbildungen  der  meisten 
topographischen  Lehrbüchor  zu  erwarten  war. 

Weitere  Versuche  lehrten  uns  aber,  daß  unter  Umständen  an  dieser 
Stelle  das  Gehirn  durch  die  Nadel  eben  gerade  noch  getroffen  wurde, 
so  daß  dieselbe  nur  noch  den  tiefsten  (basalsten)  Teil  des  Gyr.  tempor.  III 


Die  Himpunktion.  833 

durchstach  resp.  am  Gehirn  tangierte  —  ein  jedenfalls  bei  der  Punktion 
unangenehmes  resp.  nicht  erwünschtes  Vorkommnis. 

Die  Erklärung  hierfür  und  zugleich  gute  Orientierung  über  die  zu 
Grunde  liegenden  Verhältnisse  gibt  Froriep  in  seinem  berühmten 
Werk  über  die  Lagebeziehungen  zwischen  Großhirn  und  Schädeldach. 

Froriep  unterscheidet  auf  Grund  seiner  sorgfältigen,  an  25  Köpfen 
angestellten  Versuche  mit  Bezug  auf  die  Lageverschiedenheit 
des  Gehirns  2  Typen:  den  frontipetalen  und  den  occipito- 
petalen  Typus;  ersteren  gekennzeichnet  durch  stirnwärts  zusammen- 
gedrängtes Hirn,  mit  steiler,  weit  vorn  liegender  Zentralfurche;  letzteren 
mit  nackenwärts  gerücktem  Hirn  und  schräger,  weit  hinten  liegender 
Zentralfurche.  Welcher  von  beiden  Gruppen  ein  beliebiger  Fall  an- 
gehört, läßt  sich  nach  Froriep  bestimmen  auf  Grund  der  mit  dem 
Stangenzirkel  zu  bestimmenden  Maße: 

1)  Länge  des  Hinterhauptes, 

2)  Längen-Occipitallängenindex  und 

3)  auf  Grund  der  Höhenlage  des  Inion  (Prot,  occipit.  ext.)  zur 
Horizontalen. 

Je  größer  die  erwähnten  Maße  und  je  mehr  sich  das  Inion  zur 
Horizontalen  oder  unter  diese  neigt,  um  so  sicherer  ist  auf  die  dem 
occipitopetalen  Typus  entsprechende  Lagerung  des  Hirns  zu  rechnen, 
und  umgekehrt. 

Während  nach  verschiedensten  kraniocerebralen  Topographien  dem 
oberen  Ansatz  der  Ohrmuschel  etwa  der  Gyr.  tempor.  II  entspricht 
und  der  Schläfenlappen  abwärts  bis  zu  einer  durch  den  oberen  Rand 
des  Por.  acust.  extern,  gelegten  Horizontalen  reicht  —  sind  dies  nach 
Froriep  nur  die  mehr  oder  weniger  frontipetalen  Köpfe.  Bei  dem 
occipitalen  Typus  reicht  der  Schläfenlappen  viel  weniger  weit  herab  — 
bei  dem  ausgesprochensten  Fall  Frorieps  nur  bis  zum  Ansatz  der 
Ohrmuschel!  und  es  entspricht  in  diesem  Fall  dem  Ansatz  der  Ohr- 
muschel die  Hirnbasis,  statt  des  Gyr.  temp.  IL  [üeber  den  oberen 
Kand  des  Por.  acust.  extr.  erhebt  sich  die  Unterfläche  des  Schläfen- 
lappens in  den  beiden  extremsten  Fällen  Frorieps  um  0  mm  (fronti- 
petaler)  und  12  mm  (occipitopetaler  Typus).]  Hieraus  erhellt  ohne 
weiteres,  daß  man  nicht  einfach  am  Ansatz  der  Ohrmuschel  punktieren 
kann,  da  man  bei  einem  extrem  occipitopetalen  Kopf  unter  Umständen 
das  Gehirn  überhaupt  verfehlen  würde. 

Am  nächsten  läge  es  nun,  auf  Grund  der  FRORiEPschen  Angaben 
mit  dem  Stangenzirkel  den  Typus  des  einzelnen  Falles  zu  bestimmen 
und  danach  die  Punktionsstelle  höher  oder  tiefer  zu  bemessen  (beim 
frontipetalen  etwa  am  Ansatz  der  Ohrmuschel  oder  noch  etwas  tiefer; 
bei  occipitopetalen  etwa  IVs  cm  oberhalb  des  Ansatzes). 

Aber  diese  Bestimmung  —  die  auch  für  unsere  Zwecke  noch  nicht 
absolut  sichere  Resultate  ergibt  —  erschien   uns  zu  zeitraubend  und 


834  Ernst  Neisser  und  Kurt  Follack, 

zu  kompliziert,  ganz  abgesehen  davon,  daß  der  Apparat  der  Punktion 
noch  durch  ein  neues  Instrument  —  den  Stangenzirkel  —  beschwert 
wird  und  wir  glaubten,  daß  man  ohne  das  auskommt.  Eine  Punk- 
tionsstelle, etwa  0,5  —  0,75  cm  oberhalb  des  oberen  An- 
satzes der  Ohrmuschel  wird  bei  den  verschiedensten 
Kopftypen  der  Anforderung  genügen,  den  Schläfen- 
lappen noch  sicher  zu  treffen,  andererseits  aber  auch 
nicht  allzuweit  oberhalb  der  Unterfläche  des  Gyr.  fusi- 
formis  hindurchzustechen.  Und  somit  kommen  wir  zu  der 
Bestimmung,  die  wir  oben  als  Schläfenabsceßpunkt  angegeben  haben. 
Der  Punkt  liegt  übrigens  nahe  der  Mitte  des  Rechteckes,  welches 
E.  y.  Bergmann  für  die  Schädelresektion  zum  Zwecke  der  Auf&ndang 
otitischer  Abscesse  im  Schläfenlappen  angegeben  hat. 

Wir  betonen  noch  einmal,  daß  bei  der  Bestimmung  dieses  Punktes 
uns  der  Wunsch  geleitet  hat,  einen  möglichst  kleinen  Absceß 
diagnostizieren  zu  können.  Größere  Abscesse,  wie  sie  wohl  meist  in 
der  Praxis  vorkommen,  wird  man  auch  von  anderen  Punkten  erreichen 
können,  z.  B.  von  den  oben  erwähnten  Punkten  T^  bezw.  T,. 

Was  die  Gefahren  bei  dieser  Punktion  anlangt,  so  kommt  unter 
Umständen  der  Ram.  poster.  der  Art.  meningea  media  in  Betracht 
(vergl.  darüber  das  oben  unter  Punktion  des  Schläfenlappens  Gesagte). 
Die  Hirnvenen  sind  von  kleinem  Kaliber  und  bilden  ziemlich  große 
Maschen.  Die  einzige  große  Vene  liegt  im  Sulc.  temp.  I,  der  oberhalb 
bezw.  vor  der  Punktionsstelle  bleibt. 

Zu  beachten  wäre  noch,  daß  unter  anderem  das  Unterhorn  bei 
dieser  Punktion  angestochen  werden  könnte.  Um  nicht  einmal  durch 
einen  Absceß  hindurch  in  den  Ventrikel  zu  stechen  und  eine  eiterige 
Infektion  desselben  zu  erzeugen,  wird  man  die  Regel  hier  ganz  be- 
sonders beherzigen,  immer  nur  ganz  allmählich  von  Strecke 
zu  Strecke  unter  Aspiration  ins  Innere  vorzudringen. 

b)  Kleinhirnab  sceß  {K^). 

Einfacher  als  für  die  Abscesse  des  Schläfenlappens,  war  es,  einen 
Punkt  zu  finden,  von  dem  aus  man  Kleinhirnabscesse,  auch  so  lange 
sie  noch  klein  sind,  finden  kann. 

An  den  Teil  des  Kleinhirns,  der  in  der  Fossa  sigmoidea  liegt  — 
und  um  diesen  handelt  es  sich  ja  bei  beginnenden  Abscessen  —  kommt 
man  ausreichend  nahe  heran,  wenn  man  in  der  Mitte  zwischen  zwei 
Punkten  eingeht,  von  denen  der  eine  der  Halbierungspunkt  der  Ver- 
bindungslinie von  Inion  und  Warzenfortsatzspitze  ist  (s.  oben  K^X 
während  der  andere  (K^)  dem  hinteren  oberen  Winkel  des  Proc.  mastoid. 
entspricht  (=  höchster  abtastbarer  Punkt  des  hinteren  Randes  des 
Warzenfortsatzes).  Der  so  gefundene  Punkt  Z,  liegt  in  dem  Knie, 
das   der   Sinus  sigmoideus   bildet,   bleibt  aber  von  beiden   Schenkeln 


Die  Himpunktion.  835 

desselben  so  weit  entfernt,  daß  jede  Gefahr,  den  Sinus  anzupunktieren, 
ausgeschlossen  ist. 

Die  Richtung  des  Punktionskanals  ist  hier,  wie  überhaupt  am  Klein- 
hirn (s.  oben)  möglichst  senkrecht  zur  Oberfläche  des  Knochens  an- 
zulegen, die  ja  hier  nicht  der  Hauptoberfläche  parallel  verläuft.  Die 
Venen  der  Kleinhirnoberfläche  sind  verhältnismäßig  klein;  die  Gefahr, 
eine  venöse  Blutung  zu  bekommen,  außerordentlich  gering.  Arterien 
kommen  nicht  in  Betracht. 

Man  kann  das  Kleinhirn  sogar  noch  etwas  weiter  nach  vorn  und 
außen  trefifen  (und  damit  der  KÖRNERschen  Kontaktstelle  noch  näher 
kommen),  wenn  man  statt  bei  K^  bei  Zg  punktiert  (vergl.  Beispiel  2 
und  3),  ohne  daß  man  etwa  dabei  den  Sinus  zu  verletzen  brauchte. 
Denn  der  absteigende  Schenkel  des  Sinus  läßt  ja  das  hinterste  Drittel 
(von  vorn  nach  hinten  gerechnet)  des  Proc.  mastoid.  noch  frei  und  auch 
der  horizontale  Teil  des  Sinus  bleibt  von  K^  noch  um  ein  genügendes 
Stück  nach  oben.  Man  muß  nur  an  diesem  Punkte  den  Bohrer  nicht 
senkrecht  zur  Oberfläche  resp.  zum  Knochen  aufsetzen,  sondern  die 
Spitze  etwas  nach  vorn  (gesichtswärts)  und  nach  unten  (basalwärts) 
richten.  Man  punktiert  dann  im  Knie  des  Sinus  sehr  gut 
die  äußerste  vorderste  Partie  des  Kleinhirns.  Größere 
Abscesse,  etwa  von  Walnußgröße  und  darüber  erreicht  man  auch  von 
der  Breitseite  der  Hemisphäre  her,  also  von  unserem  Punkt  K^  (s.  oben). 

Beispiele. 

1)  Punktion  bei  K^  ]  vermeidet  den  Sinus  sigmoides ;  trifft  ziemlich 
nahe  an  den  Teil  des  Kleinhirns  heran,  der  in  der  Fossa  sigmoidea  liegt. 

2)  Punktion  bei  K^ ;  trifPt  dicht  hinter  dem  absteigenden  Schenkel 
des  Sinns  sigmoides  genau  den  Teil  des  Kleinhirns,  der  in  der  Fossa 
sigmoidea  liegt. 

In  4,5  cm  Hirntiefe  wird  der  4.  Ventrikel  von  der  Nadel  erreicht. 

3)  Punktion  an  derselben  Stelle.  Hier  liegt  der  Sinus  nach  allen 
Eichtungen  hin  1,5  cm  von  dem  Punktionskanal  ab;  Kleinhirnpartie,  die 
in  der  Fossa  sigmoidea  liegt,  gut  getroffen  u.  s.  w. 

C.  Andere  Abscesse. 

Andere  Abscesse  wird  man  je  nach  den  vorhandenen  Lokalsym- 
ptomen suchen  müssen.  Die  großen  Abscesse  des  weißen  Marklagers 
des  Stirn-Zentral-Parietal-Occipitallappens  wird  man  leicht  von  den  oben 
angegebenen  typischen  Punktionsstellen  der  einzelnen  Lappen  aus  finden. 

Für  den  rhinogenen  Absceß  dürfte  sich  der  untere  Stirnpunkt 
(^i)  gut  eignen.  Den  vordersten  Pol  des  Stirnhirns  trifft  man  noch 
besser,  wenn  man  etwas  nach  innen  und  unten  von  F^,  etwa  bei 
jPs  (s.  Figur)  punktiert.  Doch  kann  man  an  diesem  Punkte  bei  weiter 
bezw.  stark  nach  oben  entwickelter  Stirnhöhe  (starke  Vorwölbung  der 
Supraorbitalregion !)   in  diese   hineingeraten.    [Meist   überschreitet  die 


836 


Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 


Stirnhöhle  noch  oben  die  Höhe  des  Augenbrauenbogens  nur  am  ein 
Weniges.] 

Man  wird  daher  —  wenn  man  bei  F^  punktiert  —  nach  vor- 
sichtiger Dorchbohrung  des  Knochens  durch  Tasten  mit  der  einge- 
führten Nadel  feststellen,  ob  man  noch  einen  zweiten  Widerstand  (hintere 
Wand  der  Stirnhöhle)  fühlt  und  in  diesem  Falle  weiter  nach  oben 
punktieren. 


I 


K 

S^ 

^  ^ 

\-~< 

;  m       K 

\y^           it'j 

1^~"\ 

}/j^y'^^'j^ 

1 
1 
1 
1 

Fie.  2.  Projektion  der  A.  meningea  media  auf  die  laterale  IScliädelflaehe  (V^  der 
Datürlicnen  Größe,  Dach  v.  Babdeleben,  Häckel  und  Fbohse).  A  «  vorderer 
KRÖNLEENScher  Punkt,  B  =  hinterer  KBÖNUSiNscher  Punkt,  #  =  Punktionsstdlen 
für  extradurale  Hämatome. 


IL  Blutungspunkte. 
Ueber  diese  Punkte  können  wir  uns  kurz  fassen.  Wir  suchen 
die  extraduralen  Blutungen  (aus  der  Meningea)  selbstverständ- 
lich da  auf,  wo  die  Chirurgen  sie  aufsuchen,  halten  uns  also  im 
wesentlichen  an  die  beiden  ERÖNLEiNschen  Punkte.  Dieselben  liegen 
bekanntlich  auf  einer  Horizontalen  vom  Supraorbitalrande  rückwärts« 
der  vordere  3—4  cm  hinter  dem  Proc.  zygomaticus  ossis  frontis,  der 
hintere  an  der  Ereuzungsstelle  mit  einer  Vertikalen  durch  den  Hinter- 
rand  des  Proc.   mastoideus  (vergl.  Figur  2).     Um  nicht   einmal  den 


Die  Hirnpunktion.  837 

Stamm  der  Meningea  am  vorderen  KRÖNLEiNschen  Punkt  zu  treffen, 
punktieren  wir  etwas  nach  hinten  von  diesem  Punkte. 

Für  das  seltene  Hämatom  der  hinteren  Schädelgrube  — 
das  die  Chirurgen  durch  eine  occipitale  Trepanation  hinter  dem  Proc. 
mastoideus  etwa  in  der  Mitte  der  Linea  semicircularis  inferior  erreichen 
~  würde  sich  der  oben  beschriebene  Punkt  Ki  in  ausgezeichneter 
Weise  eignen  (vergl.  im  klinischen  Teil  unseren  Fall  Adermann  [17]). 
Unter  Umständen  wird  man  auch  intradurale  Blutungen  punktieren. 
In  solchen  Fällen  wird  häufig  die  Wahl  der  Punktionsstelle  sich  aus 
vorhandenen  Lokalerscheinungen  ergeben  (vergl.  unsere  Fälle  im  kli- 
nischen Teil,  speziell  Fall  Handt  [13]). 

Am  Schluß  dieses  Kapitels  sei  noch  auf  folgende  zwei  Punkte  ein- 
gegangen : 

1)  Die  Gefahr,  die  größeren  Arterien  der  Weichteile  zu  verletzen, 
kommt  nicht  wesentlich  in  Betracht.  Es  könnten  speziell  die  Artt. 
temporales  bei  Schläfen-  und  die  Artt.  occipitales  bei  Eleinhirnpunk- 
tionen  verletzt  werden. 

Abgesehen  davon,  daß  die  Arterien  der  Weichteile  dem  Bohrer 
wahrscheinlich  vermöge  ihrer  Elastizität  ausweichen,  und  so  gar  nicht 
verletzt  werden,  kann  man  die  Temporaiis  sehen  resp.  abtasten  und  so 
vermeiden ;  die  Occipitalis  dürfte  an  den  von  uns  angegebenen  Punkten 
nicht  getroffen  werden.  Aber  selbst  ,ein  eventuell  auftretendes  Häma- 
tom —  wir  haben  ein  solches  bei  keiner  unserer  Punktionen  gesehen  — 
wäre  noch  kein  großes  Unglück,  da  die  Arterie  ja  im  Notfalle  sofort 
unterbunden  werden  könnte. 

2)  Viel  wichtiger  ist  die  Entscheidung  der  Frage:  Wie  tief  darf 
man  punktieren?  Dieselbe  ist  so  allgemein  natürlich  nicht  zu  be- 
antworten ;  man  wird  an  der  einen  Stelle  tiefer  als  an  der  anderen  ein- 
gehen dürfen  resp.  müssen.  In  den  einzelnen  von  uns  in  Beispielen 
angeführten  Versuchen  sind  Anhaltspunkte  für  die  zulässige  Tiefe  der 
Punktion  bei  einem  Erwachsenen  enthalten.  (Für  Kinder  wird  man  die 
Maße  entsprechend  kleiner  wählen  müssen.) 

Vergleicht  man  die  einzelnen  Werte,  so  findet  man,  daß  man  im 
allgemeinen,  von  der  Hautoberfläche  aus  gerechnet,  4 — 4,5 — 5  cm  ohne 
wesentliche  Gefahr  einstechen  kann.  Nur  selten  wird  man  bei  dring- 
licher Indikation  über  die  Tiefe  von  5  cm  hinausgehen  dürfen. 

Gefahren  bei  zu  tiefem  Einstechen  sind: 

1)  Anstechen  des  Ventrikels.  Dabei  könnte,  wenn  er  leer 
ist,  durch  Verletzung  der  Tela  eine  Ventrikelblutung  erzeugt  werden, 
oder  aber  die  Nadel  in  einem  unglücklichen  Falle  einem  Eiterherd  oder 
noch  flüssigen  Blutherd  einen  Weg  in  den  Ventrikel  bahnen  I 

2)  Herausfahren  aus  der  Hirnbasis  und  Verletzung  von 
Hirnteilen  (Pedunculi  I),  Nerven  oder  Blutgefäßen  der  Basis  (Vorsicht 
im  Schläfenlappen!!  speziell  bei  occipitopetalem  Typus). 

Uittell.  a.  d.  OTenxfebfceten  d.  Itodixin  a.  Chlrurfie.    im.  Bd.  54 


838  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

3)  Anstechen  einer  Hirnarterie. 

Ein  zu  tiefes  Eindringen  —  das  sollte  man  beim  Punktieren  nie 
vergessen  —  ist  schon  aus  dem  Grunde  wenig  zweckmäßig,  als  in  der 
Regel  alle  irgend  welcher  Encheirese  zugänglichen  Herde 
entweder  der  Oberfläche  des  Gehirns  selbst  angehören 
oder  doch  so  weit  in  die  Nähe  derselben  reichen,  da& 
die  von  uns  angegebenen  Tiefenmaße  zur  Aufifndung  ge- 
nügen; wo  eine  Probepunktion  wider  Erwarten  negativ  ausfällt,  sollte 
man  lieber  durch  wiederholte  Punktion  die  Hirnoberfläche  absuchen 
und  der  Lockung,  zu  tief  zu  gehen,  widerstreben ! 

Zusammenfassung. 

Zusammenfassend  läßt  sich  über  die  von  uns  angegebenen  Punk- 
tionspunkte folgendes  sagen: 

Für  die  wichtigsten  Afifektionen,  als  Eleinhirnabsceß,  Schläfenabsceß» 
Blutungen  aus  der  Meningea  media  sind  Punkte  bestimmt,  an  denen 
man  mit  größter  Sicherheit  den  Absceß  resp.  das  Extravasat  antrifft 
und  zwar  im  wesentlichen  ohne  Gefahr. 

Was  die  weiteren  Punkte  zur  Punktion  der  einzelnen  Hirnlappen 
betrifft,  so  sind  es  nur  die  untersten  Partien  der  Zentralwindungen  und 
die  angrenzenden  Teile  (Facialis-,  Hypoglossuszentrum,  BnocAsche  Win- 
dung etc.),  wo  eine  gewisse  Gefahr  der  Verletzung  größerer  Gefäße 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden  kann.  An  den  mittleren  und  oberen 
Partieen  der  Zentralwindungen  und  an  den  Punkten,  die  für  die  übrigen 
Lappen  angegeben  sind,  kann  man  ohne  wesentliche  Gefahr  punktieren. 

Tiefer  als  4 — 5  cm,  von  der  Hautoberfläche  aus  gerechnet,  soll 
man  ohne  zwingenden  Grund  nicht  eingehen. 

Klinischer  Teil. 

Wir  betrachten  nunmehr  im  folgenden,  was  uns  die  Punktion  in 
diagnostischer  resp.  therapeutischer  Beziehung  geleistet  hat. 

Die  Krankengeschichten  der  von  uns  punktierten  Fälle  finden  sich 
am  Schlüsse  der  Arbeit  im  Auszuge  mitgeteilt. 

Einige  dieser  Fälle  dürften  auch  —  abgesehen  von  dem  speziellen 
Interesse  für  die  vorliegende  Arbeit  —  klinisch  von  Bedeutung  sein. 

Es  bedarf  kaum  der  Erklärung,  daß  das  hier  vorliegende  Eranken- 
material  sich  zum  größten  Teile  aus  schweren  und  verlorenen  Fällen 
zusammensetzt,  so  daß  es  nicht  verwundern  kann,  wenn  eine  große 
Anzahl  unserer  Fälle  zur  Sektion  gekommen  ist.  Andererseits  sind 
wir  in  der  Lage,  einige  Fälle  beschreiben  zu  können,  an  deren  Er- 
kennung bezw.  Heilung  wir  der  Punktion  resp.  Probepunktion  ein  aus- 
schlaggebendes Gewicht  zuschreiben  dürfen. 

Wir  betrachten  zunächst  die  Fälle,  in  denen  wir  durch  Schädel- 
punktion   pathognostische    Flüssigkeit    resp.    Substanz    gewannen;    in 


Die  Hirnpanktion. 


839 


zweiter  Reihe  die  Fälle,  in  denen  das  negative  Resultat  der  Punktion 
die  Diagnose  in  maßgebender  Weise  beeinflußte. 

Tabelle  I.    Aspirierte  Substanzen'). 


Altes  Blut 


Häm-    < 
atoidin- 
kristalle 


Cysten- 

fiüssig- 

keit 


Liquor 
(in  grö- 
ßeren 
Mengen) 


zitronen- 

Reibe 

Menin- 

geal- 

flussig- 

keit 


Eiter 


Heröe- 
dteri^e 
Flüssig- 
keit 


Nekro- 
tisches 
Hirn- 
gewebe 


Tumor- 
gewebe 


Lemke  (9) 
Handt  (13) 
Xielgas  (15) 
[Weber  (16)] 
Adermann  (17) 
MaUisch  (22) 
Bithr  (23)  (aus 
altem  Blut  aus- 
gepreßt. Serum) 
Freitag  (24) 
Trapp  (27j 
Berg  (28) 
Böhm  (29) 


Borek(19) 


Pahi  (4) 
Witt  (31) 


Piet8ch(3) 
Pahl  (4) 
Jllckel  (8) 
Rohl  (21) 
Berg  (28) 


Ück  (11) 


Nickel  (2) 

Werner(34) 


R.  (20) 
Rohl  (21) 
Lindner  (26) 


Rohl  (21)  Witt  (31) 


1)  Oefters  wurde  normale  Himsubstanz,  etwas  reines  Blut,  einige  Kubikcenti- 
meter  Liquor  cerebrospinaUs  aus  der  Oberfläche  oder  dem  Ventrikel,  selten  auch  leicht 
blutig  tingierter  Liquor  entleert. 

L  Blutungen  der  Schädelhöble. 

1.  Lemke  (9)^).  Diagnose:  Möglichkeit  einer  Meningealblutung.  Lemke 
wurde  ohne  Anamnese  eingeliefert.  Er  machte  den  Eindruck  eines  Deli- 
ranten.  Die  Erscheinungen  des  zunehmenden  Himdruckes  ließen,  zusammen 
mit  der  Verletzung  der  Schädelweichteile  und  dem  Gerücht,  daß  Lemke 
gefallen  sei,  an  eine  Blutung  aus  der  Meningea  media  denken,  wozu  auch 
die  rechtsseitige  spastische  Parese  paßte. 

Die  Punktion  ergab  links  hinten  am  KröMLBiNSchen  Punkte  ziemlich 
oberflächlich  altes  Blut  (chokoladenbraun  geftrbt  mit  schwarzen  Gerinnseln 
und  etwas  zertrümmerter,  mit  Blut  durchmischter  Gehimmasse). 

Diagnose  nach  der  Punktion:  Eztraduraler  Bluterguß;  Con- 
tusio  cerebri. 

Die  sofort  ausgeführte  Operation  konnte  den  Exitus  nicht  mehr  ab- 
wenden, der  —  wie  die  Sektion  lehrte  —  außer  durch  die  bedeutende 
Blutung  wohl  im  wesentlichen  durch  ausgedehnte  Himzertrümmerung  zu 
Stande  gekommen  war. 

Epikrise:  In  diesem  Falle  wäre  vielleicht  auch  so  operiert  worden. 
Doch  wies  die  Punktion  die  Blutung  als  linksseitiges  parieto-occipitales 
(Krönlbin)  Hämatom  nach.  —  Das  operative  Eingehen  am  vorderen  £&ön- 
LEiNschen  Punkte,  das  keine  Blutung  entdeckt  hätte,  wurde  so  gespart. 

2.  Handt  (13).  Diagnose:  JACKsoNsche  Epilepsie.  Anamnestisch  war 
bei  dem  Pat.,  der  zu  Fuß  ins  Krankenhaus  kam  und  nur  über  Kopf- 
schmerzen und  Schlaflosigkeit  klagte,  nur  zu  eruieren,  daß  er  vor  8  (!)  Tagen 
auf  die  rechte  Hinterhauptgegend  gefallen  war  und  seitdem  Kopfschmerzen 


1)  Vergl.  hinten  die  Krankengeschichten. 


54* 


840  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

hatte.  —  Die  unter  unseren  Augen  entstandenen,  immer  häufiger  werdenden 
und  mit  immer  stärkerer  Bewußtseinstrübung  einhergehenden  ELrampfanfalle, 
speziell  des  linken  Facialis,  ließen  uns  die  Punktion  am  rechten  Facialis- 
Zentrum  vornehmen,  die  zur  allgemeinen  Verwunderung  nach  DurchstechuDg 
der  Dura  reichlich  chokolade  nbraunes  Blut  mit  schwärz 
liehen  Gerinnseln  entleerte.  —  Die  Diagnose  lautete  nun  auf:  Intra- 
durales  Hämatom. 

Die  sofort  angeschlossene  Operation  deckte  ein  mächtiges  intradurales 
Hämatom  auf,  nach  dessen  Ausräumung  die  Anfalle  aufhörten.  —  Nach 
einer  bald  wieder  vorübergehenden  Geistesstörung  ti*at  völlige,  dauernde 
Heilung  ein. 

Epikrise:  Die  durch  die  Punktion  aufgedeckte  Blutung  wäre  sonst 
nicht  erkannt  worden.  Handt  wäre  ohne  das  Resultat  der 
Punktion  wahrscheinlich  nicht  operiert,  sondern  zunächst  einer 
Schmierkur  unterzogen  worden.  Die  BedeutungderPunktion  liegt 
in  diesem  Falle  darin,  daß  H.  sofort  der  richtigen  Therapie 
zugeführt  werden  konnte,  was  sonst  nicht  möglich  ge- 
wesen wäre. 

Die  Probeponktion  war  für  H.  von  vitaler  Bedeatrmg. 

Der  Fall  ist  auch  sonst  interessant.  Zunächst  durch  die  Anamnese 
(8-tägiges  Intervall!);  dann  durch  den  operativen  Erfolg  bei  dem  von 
den  Chirurgen  prognostisch  so  ungünstig  angesehenen  ausgebreiteten 
intraduralen  Hämatom. 

3.  Kielgas  (15).  Bei  dem  ohne  Anamnese  mit  einer  Luxation  and 
blauen  Flecken  am  Knie  eingelieferten  Pat.  bestand  der  ganz  entfernte 
Verdacht  auf  eine  Pachymeningitis  haemorrhagica  oder  event.  eine  extra- 
durale Blutung.  Die  wegen  zunehmender  Benommenheit  vorgenommene 
Funktion  forderte  am  rechten  vorderen  KRöNLBiNSchen  Punkte  altes  choko- 
ladenfarbenes  Blut  heraus,  wovon  100  ccm!  entleert  wurden.  Danach 
lautete  die  Diagnose  auf  extra-  event.  intradurales  Hämatom  rechterseits. 

Wegen  Besserung  des  Befindens  durch  die  Punktion  wurde  leider 
mit  der  Operation  gewartet;  am  nächsten  Tage  trat  plötzlich  Verfall  und 
Exitus  ein. 

Die  Sektion  ergab  ein  großes  rechtsseitiges  intradurales  Hämatom 
infolge  Pachymeningitis  haemorrhagica  (-|-  Trauma?)  mit  enormer  Platt- 
drückung der  rechten  Großhirnhemisphäre  (femer  potatorische  V^erände- 
Hingen). 

Epikrise:  Die  Punktion  deckte  auch  in  diesem  Falle  eine  groBe 
meningeale  Blutung  auf,  von  deren  Diagnose  sonst  keine  Bede  sein  konnte. 
Sie  beseitigte  durch  Entleerung  von  ca.  100  ccm!  Blut  den  bestehenden 
Himdrack.  Eine  sofort  an  die  Punktion  angeschlossene  Operation  hätte 
vermutlich  das  Leben  des  Pat.  gerettet.  Die  Verhältnisse  lagen  hier  kaum 
ungünstiger,  als  bei  dem  Falle  Handt  (vergl.  oben). 

4.  Adermann  (17).  Adermann  war  früher  schon  einmal  im  Kranken - 
hause  gewesen  und  hatte  dasselbe,  durch  Schmierkur  gebessert,  verlassen. 
Die  Diagnose  hatte  zwischen  Lues  cerebri  und  beginnender  Paralyse 
geschwankt 

Nunmehr  kommt  er  mit  ähnlichen  Beschwerden.     Es   entwickelt    sich 


Die  Hirnpunktion.  841 

aber  in  wenigen  Tagen  unter  unseren  Augen  das  Bild  des  ausgesprochenen 
Hirndrucks  (Kopfschmerz,  Druckpuls,  Somnolenz). 

Die  deswegen  bei  dem  schon  moribunden,  mit  lautem  Tracheal- 
rasseln  daliegenden  Patienten  vorgenommene  Punktion  ^)  der  rechten  hin- 
teren Schädelgrube  (Singultus!  Fallen  nach  links!)  deckte  —  offenbar 
subdural  —  teils  älteres,  teils  frischeres  Blut  auf. 

Die  Diagnose  wurde  danach  auf:  großes  intradurales  Hämatom  der 
hinteren  Schädelgrube  (wahrscheinlich  infolge  Pachymeningitis  haemor- 
rhagica !)  gestellt.  —  Durch  Entleerung  von  im  ganzen  180g!Blut  —  in 
2  Sitzungen  —  wurde  der  Hirndruck  in  wenigen  Tagen  beseitigt 

Adermann  erholte  sich  in  überraschender  Weise  (daher  keine  Opera- 
tion!). Er  wurde  später  nur  noch  mit  einer  leichten  Beschränkung  der 
Blickbewegung  nach  oben  entlassen.  Später  stellte  er  sich  als  völlig 
geheilt  vor. 

Rückblickend  läßt  sich  sagen,  daß  Adermann  auch  bei  seinem  ersten 
Aufenthalt  (vergl.  den  Status!)  im  Erankenhause  an  einer  pachy meningi- 
tischen Blutung  nur  geringerer  Intensität  gelitten  hat. 

Epikrise:  In  diesem  Falle  deckte  die  Funktion  nicht  nur  eine 
große  intrakranielle  Blutung  auf,  die  niemand  erwartet  hatte,  sondern 
sie  war  auch  von  hohem  therapeutisohen  Werte,  indem  sie  durch 
Entleerung  des  Blutergusses  (und  zwar  durch  einen  unendlich  viel 
kleineren  Eingrifl;  als  durch  eine  Operation  0  den  schweren  Himdruck 
beseitigte  und  den  schon  in  Agone  befindlichen  Fat.  rettete! 

Sehr  bemerkenswert  ist  es,  wie  lange  das  Blut  hier  fltlssig  ge- 
blieben ist. 

5.  Mallisch  (22).  Der  Pat.  wurde  komatös  eingeliefert.  Die  Anam- 
nese ergab  nur  einen  Anhaltspunkt  für  Potatorium.  Seit  3  Tagen  war  er 
allmählich  immer  benommener  geworden.  Wegen  des  entfernten  Verdachts 
auf  pachymeningitische  Blutung  wurde  zur  Punktion  geschritten.  Am 
rechten  vorderen  KRöNLEiNschen  Punkt,  sowie  dicht  dahinter  wurden  im 
ganzen  30  ccm  zum  Teil  alten  Blutes  nach  Durchstechung  der  Dura  ent- 
leert; am  hinteren  KRöNLEiMschen  Punkt  fand  sich  nichts. 

Die  Diagnose  lautete  danach:  Meningeale  (vermutlich  subdurale) 
Blutung  im  Bereich  der  rechten  vorderen  Großhirnhemisphäre.  Operation 
konnte  aus  äußeren  Gründen  nicht  stattfinden.  Die  Sektion  ergab  in  der 
Tat  an  der  Stelle  der  Punktion  eine  subdurale  und  piale  Blutung,  aber 
anscheinend  durchgebrochen  von  einer  großen  Blutung  der  rechten  inneren 
Kapsel,  außerdem  chronische  Nephritis  und  Säuferveränderungen. 

Epikrise:  In  diesem  Falle  führte  die  Punktion  wenigstens  insofern 
irre,  als  man  an  eine  selbständige  (pachymeningitische)  intradui*ale  Blutung 
dachte,  nicht  aber  an  einen  durchgebrochenen  apoplektischen  Herd.  Es  ver- 
steht sich,  daß  über  die  Herkunft  alten  Blutes  an  der  Hirnober£äche  die 
Probepunktion  nichts  aussagen  kann.  Die  Entscheidung  hierüber  muß, 
soweit  es  möglich  ist,  das  klinische  Bild  geben  und  dies  war  im  vor- 
liegenden Falle  irreführend  (ganz  allmählich  sich  einstellende  und  zu- 
nehmende Benommenheit,  kein  „Schlaganfall^^). 

6.  Weber  (16).  (Punktion  aus  therapeutischen  Rücksichten.)  Die 
Diagnose  lautete  hier  auf  Blutung   der   linken   inneren  Linsenkapsel.     Da 


1)  Wir  dachten  eventuell   ein    luetisches  Meningealödeni    vorzufinden 
und  durch  Entleerung  desselben  dem  Pat.  zu  nutzen  (vergl.  unten  Fall  Ück!). 


842  Ernst  Neisser  and  Kart  Pollack, 

bedeutender,  immer  weiter  zunehmender  Hirndrack  vorhanden  war  und 
so  sicherer  Exitus  bevorstand,  sollte  der  Versuch  gemacht  werden,  durch 
Aspiration  von  Blut  den  Himdruck  herabzusetzen.  Wir  dachten  dabei 
besonders  an  einen,  wenige  Wochen  vorher  zur  Sektion  gekommenen  Fall 
von  Apoplexia  sanguinea,  der  unter  den  Zeichen  des  progredienten 
Himdrucks  gestorben  war.  Die  Sektion  hatte  eine  mächtige  Blutung  der 
inneren  Linsenkapsel  aufgedeckt,  die  fast  bis  an  die  Hirnoberfläche  reichte : 
das  Blut  war  noch  flüssig  gewesen.  In  der  Erinnerung  an  diesen  Fall 
nahmen  wir  die  Punktion  vor,  jedoch  ohne  Glück.  Die  erste  Punktion 
(in  der  unteren  motorischen  Gegend)  wurde,  da  anscheinend  frisches  Blut 
sich  entleerte,  sofort  unterbrochen.  (Darauf  Verschlechterung!)  Bei  einer 
zweiten  Panktion  durch  den  alten  Stichkanal  wurde  in  5  cm  Tiefe  altes 
mit  frischem  vermischtes  Blut  gefunden  und  20  ccm  entfernt.  (Es  handelte 
sich  also  in  der  Tat  um  eine  Apoplexie). 

Hierdurch  wurde  eine  deutliche,  aber  nur  vorübergehende  Besserung 
erreicht;  dann  trat  der  Tod  ein. 

Die  Sektion  deckte  eine  große  Blutung  in  der  Gegend  der  großen 
Ganglien  auf,  die  in  die  Ventrikel  durchgebrochen  war. 

Epikrise:  Bei  dem  vorhandenen  Durchbruch  der  mächtigen  Blutung 
in  den  Seitenventrikel  konnte  die  Punktion  nichts  mehr  leisten. 

Der  Fall  ermutigt  nicht  sehr  zur  Wiederholung  in   ähnlichen  Fällen. 

Die  erste  Punktion  hatte  übrigens  —  wie  die  Sektion  zeigte  —  die 
Peripherie  des  großen  Blutherdes  getroffen;  keineswegs  eine  frische  Blutung 
gesetzt ! 

7.  B&hr  (23).  Das  ly^-jährige  Kind,  welches  in  benommenem  Zu- 
stande mit  fadenförmigem  Puls  von  160  und  darüber  hereingebracht 
wurde,  hatte  2  Wochen  vorher  ein  Schädeltrauma  mit  nachfolgender 
Kommotion  (und  Basisfraktur?)  erlitten,  sich  erst  gebessert  und  in  den 
letzten  Tagen  wieder  verschlechtert.  Wegen  Verdachts  auf  intrakranielle 
Blutung  wurde  in  der  rechten  motorischen  Region  (linksseitige  Hemi- 
parese?!)  die  Punktion  vorgenommen.  Sie  ergab  extradural  (teils  Ton 
selbst  ausfließend,  teils  aspiriert)  bräunliches,  offenbar  aus  altem  Blute 
ausgepreßtes  Serum  (10  ccm  entleert);  subdural  nichts. 

Eine  zweite  Funktion  am  hinteren  KRöKLBiNschen  Punkt  ergab  extra- 
dural nichts,  subdural  etwas  zertrümmerte,  mit  altem  Blut  vermischte 
Hirnmasse.  Die  Diagnose  lautete  danach  auf:  kleines  extradu- 
rales Extravasat  und  Contusio  cerebri. 

Das  Beflnden  besserte  sich  trotz  der  geringen  Entleerung  von  10  ccm 
Flüssigkeit  auflUllig  nach  der  Punktion  (Puls  ging  von  160  und  mehr  auf 
100  herunter).     Schließlich  trat  völlige  Heilung  ein. 

Eprikise:  In  diesem  Falle,  in  dem  für  einen  operativen  Eingriff 
nicht  der  mindeste  Anhaltspunkt  vorhanden  war,  hat  die  Punktion  zu- 
gleich diagnostisch  und  therapeutisch  gutes  geleistet. 
Der  Umschlag  im  Beflnden  im  direkten  Ansohlaß  an  die  kleine  Bnt- 
leenmg  von  10  com  war  ein  augenscheinlicher. 

Der  Fall  ist  auch  klinisch  interessant;  es  liegen  2  Wochen  zwischen 
dem  Trauma  und  dem  Auftreten  der  schweren  Himerscheinungen. 

8.  Freitag  (24).  In  diesem  Falle,  in  dem  auch  der  Verdacht  auf 
eine  meningeale  Blutung  vorlag,  wurde  durch  Punktion  am  linken  hinteren 
KRöNLEiNschen  Punkt  und  in  der  Nähe  desselben  oberflächlich  dunkles 
Blut  mit  schwärzlichen  Körnern  (altes  Blutpigment  enthaltend!)  gefunden, 


Die  Hirnpunktion.  843 

recbterseits  nichts.  Die  Diagnose  lautete  auf  (vermutlich  intra-)  durales 
Hämatom  der  linken  hinteren  Hemisphäre. 

Zur  Operation  konnte  man  sich  wegen  Fehlens  eigentlicher  Hirn- 
druckerscheinungen und  der  sehr  geringen  aspirierbaren  Blutmenge  zu- 
nächst nicht  entschließen.  Die  schließlich  aber  doch  ausgeführte  Operation 
ergab  einen  nicht  bedeutenden  intraduralen  Bluterguß. 

Die  Sektion  bestätigte  die  Lokalisation  und  geringe  Intensität  des- 
selben. Als  Todesursache  wirkten  neben  dem  Bluterguß:  die  Kommotion, 
eine  Kontusion  und  vor  allem  eine  hochgradige  Degeneration  des  Herzens  mit 

Epikrise:  Der  Fall  lehrt,  daß  die  Aspiration  von  altem  Blut 
keineswegs  gleichbedeutend  ist  mit  Indikation  zur  Operation. 

Bei  dem  Fehlen  vonHirndruck  und  derUnmöglichkeit, 
durch  Punktion  größere  Mengen  alten  Blutes  zu  erhalten, 
führten  wir  die  schweren  Erscheinungen  schon  nach  der 
Punktion  auf  die  begleitende  Kommotion  und  eventuell 
Contusio  cerebri  zurück! 

9.  Trapp  und  Berg  (27  und  28).  Wir  fanden  dann  noch  in 
2  Fällen  (Trapp  und  Berg),  in  denen  Verdacht  auf  pachymeningitische 
Blutung  bestand,  Spuren  alten  Blutes,  beide  Male  in  der  hinteren  Schädel- 
grube und  beide  Male  nur  durch  die  mikroskopische  Diagnose  (Häma- 
toidin,  Hämosiderin).  In  beiden  Fällen  glaubten  wir  nach 
dem  Befund  einen  größeren  Bluterguß,  dem  operativ  bei- 
zukommen gewesen  wäre,  ausschließen  zu  können.  Der  eine 
Fall  (Trapp)  kam  zur  Sektion  und  wies  in  der  Tat,  neben  einem  schon 
bei  Lebzeiten  vermuteten  Tumor  (Oliom  der  Stammganglien)  in  der 
hinteren  Schädelgrube  einige  flache  piale  Blutergüsse  auf,  aus  denen 
offenbar  das  punktierte  alte  Blut  stammte  und  deren  Entstehung  wohl 
auf  die  vorhandene  enorme  Himhyperämie  zu  beziehen  war.  Diese 
Suffusion  war  klinisch  ganz  bedeutungslos.  Der  andere  Fall 
(Berg)  kam  nicht  zur  Sektion,  doch  lehrte  der  Verlauf,  daß  es  sich 
nicht  um  ein  größeres  Extravasat  gehandelt  haben  kann. 

10.  Böhm  (29).  Dieser  Fall  ist  ganz  ähnlich  dem  Fall  Lemke  (siehe 
oben  1),  nur  daß  hier  Anamnese  und  Status  noch  mit  großer  Wahrschein- 
lichkeit für  einen  duralen  Bluterguß  sprachen.  Die  Punktion  bestätigte 
dies,  wies  eine  große  Ausdehnung  der  Blutung  und  femer  Himzertrümmerung 
nach.  Die  Operation  deckte  einen  mächtigen  intraduralen  Bluterguß  auf, 
der  kalottenf(K)rmig  dem  Gehirn  aufsaß  und  es  stark  komprimierte.  Leider 
konnte  sie  das  Leben  nicht  mehr  retten.  Die  Sektion  zeigte  noch  andere 
subdurale  Extravasate  und  Hirnzertrümmerung  (sowie  die  diagnostizierte 
Basisfraktur). 

Epikrise:  Die  Punktion  war  als  Bestätigung  der  klinischen  Diagnose 
zur  Bestimmung  der  Seite  und  Ausdehnung  der  Blutung  angenehm. 

Znsammenfassung: 
Die  bei  den  besprochenen  11  Fällen  gesammelten  Erfahrungen  be- 
weisen zunächst,  daß  man  durch  die  von  uns  geübte  Punktion  intra- 
kranielle  Blutergüsse  gut  nachweisen  kann.  Wurden  doch  alle  Fälle 
von  Blutungen,  die  unter  unserem  Material  waren  (soweit  es  durch  Ver- 
lauf, Operation,  resp.  Sektion  verifiziert  ist)  durch  die  Punktion  erkannt. 


844  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Es  hängt  dies  zunächst  damit  zusammen,  daß  das  Blut  sowohl  bei 
intra-  wie  extraduralen  Blutungen  —  wenigstens  partiell  —  länger  flüssig 
bleibt,  als  man  gemeinhin  glaubt.  Wir  sind  nach  unseren  Erfahrungen 
überzeugt,  daß  man  auch  aus  einem  ganz  geronnenen,  der  Dura  kappen- 
förmig  aufsitzenden  extraduralen  Hämatom  noch  genügend  Flüssigkeit 
aspiriert,  um  die  Diagnose  zu  sichern. 

Das  Blut  charakterisiert  sich  ferner  meist  in  ausreichender  Weise 
als  „altes^,  entweder  dadurch,  daß  es  im  ganzen  statt  dunkelrot,  dunkel- 
braun ist,  oder  doch  ein  deutUches  braunes  Timbre  hat  (was  man 
sehr  deutlich  sieht,  wenn  man  das  Blut  in  ein  kleines  weißes  Porzellan- 
schälchen  spritzt)  oder  häufig  auch  dadurch,  daß  es  bräunliche  oder 
schwärzliche  Gerinnsel  resp.  Flocken  enthält. 

In  4  Fällen  wurden  in  dem  anscheinend  frischen  Blute  erst  bei 
genauerem  Zusehen  schwarze,  etwa  stecknadelkopfgroße  Körnchen  ent- 
deckt, die  sich  mikroskopisch  als  aus  rötlichgelben  resp.  bräunlichen 
Plättchen  (altem  Blutpigment)  zusammengesetzt  ergaben.  Auch  hieraus 
konnte  die  Diagnose  auf  eine  stattgehabte  Blutung  gesichert  werden  ^). 
In  einem  Falle  aspirierten  wir  bräunliches,  ofifenbar  aus  einem  alten 
Blutgerinnsel  ausgepreßtes  Serum;  in  einem  anderen  bräunlich- 
grünliches Serum. 

Außer  dem  Farbenton  kann  auch  die  Dünnflüssigkeit  des  alten 
Blutes  und  die  Menge  desselben  die  Herkunft  des  aspirierten  Blutes 
aus  einem  Extravasat  beweisen.  Wo  man,  wie  im  Falle  Adermann^ 
größere  Mengen  Blut  entleert,  kann  man  sicher  sein,  daß  dasselbe  aus 
einem  Extravasat  stammt,  auch  wenn  es  die  genannten  Charakteristiken 
alten  Blutes  nicht  zu  haben  scheint. 

Aus  dem  normalen  Gehirn  entleert  man  höchstens  V«  bis  allenfalls 
1  PRAVAZspritze  z.  B.  bei  Punktion  einer  Hirnvene;  nie  gelingt  es^ 
mehrere  Spritzen  Blut  hintereinander  zu  bekommen,  man  müßte  denn 
etwa  einen  Sinus  punktieren,  was  nicht  vorkommen  darf. 

In  klinischer  Beziehung  wird  sich  die  Punktion  bei  intrakra- 
niellen  Blutungen  verschieden  bewerten,  je  nachdem  es  sich  handelt  um : 

1)  Fälle,  die  wegen  ganz  typischer  Symptome  einer  intrakraniellen 
Blutung  (meist  aus  der  Meningea)  sowieso  operiert  werden.  (Wir  haben 
gerade  solche  Fälle  durch  Mißgunst  des  Schicksals  nicht  gehabt.  Der 
einzige  Fall  dieser  Art  auf  der  chirurgischen  Abteilung  des  Kranken- 
hauses konnte  leider  aus  äußeren  Gründen  nicht  punktiert  und  auch 
nicht  operiert  werden.  Die  Sektion  zeigte,  mit  welcher  Leichtigkeit 
und  Sicherheit  man  am  vorderen  KnöNLEiNschen  Punkt  altes  Blut  ober- 
flächlich aspiriert  hätte.)    Hierbei  erscheint  die  Punktion  ent- 

1)  Hierbei  mu£  man  sich  nur  vor  einer  Verwechselung  mit  feinsten 
schwärzlichen  bezw.  bräunlichen  Plättchen  hüten,  welche  z.  B.  von  den 
zum  Zerzupfen  benützten  Nadeln,  eventuell  auch  von  Teilen  der  Aspirations- 
spritze stammen  können  (Rost  u.  dergl.). 


Die  Hirnpunktion.  845 

behrlich.  Doch  dürfte  manchem  Chirurgen  die  durch 
unsere  kleine  Voroperation  leicht  zu  erlangende  Sicher- 
heit der  Diagnose  erwünscht  sein;  besonders  auch  die  dadurch 
ermöglichte  Differentialdiagnose,  ob  das  Hämatom  mehr  vorn 
(vorderer  KRÖNLEiNscher  Punkt)  oder  mehr  hinten  (hinterer  Krön- 
LEiNscher  Punkt)  sitzt.    (Fehlen  von  altem  Blut  schreckt  vielleicht  abV!) 

2)  Fälle,  in  denen  die  Diagnose  zweifelhaft  ist.  Hier  ist  die  Punktion 
-ein  sehr  angenehmes  Hilfsmittel.  Es  stellt  nicht  nur  die  Blutung,  sondern 
auch  ihren  Sitz  festi  Wie  oft  ist  die  falsche  Seite  zuerst  trepaniert 
worden ! 

Es  ist  ganz  auffallend,  daß  gerade  hierfür  noch  nie 
die  methodische  Punktion  empfohlen  ist  In  wenigen 
Minuten  ist  eine  Entscheidung  gefällt,  die  dem  Operateur 
Sicherheit  gibt,  ihm  Zeit  und  Mühe,  dem  Patienten  Blut 
erspart. 

3)  Benommene  mit  Hirndruck  und  fehlender  Anamnese. 

Hier  wird  man  beim  entferntesten  Verdacht  auf  eine  intrakranielle 
Blutung  punktieren.  Wir  führen  nur  unseren  Fall  Adermann  (17)  an, 
in  dem  zunächst  nicht  der  mindeste  Anhaltspunkt  für  eine  Blutung 
vorhanden  war,  und  der  der  Vornahme  der  Punktion  sein  Leben  dankt. 

Wie  aus  unseren  Fällen  hervorgeht,  ist  indessen  nicht  jede  durch 
die  Punktion  zu  Tage  geförderte  Spur  alten  Blutes  ohne  weiteres  als 
Indikation  zu  operativem  Vorgehen  anzusehen.  Wenigstens  bei  den 
in tra dural  gefundenen  Blutungen  muß  man  an  Hirnblutungen,  auch 
kleine  subpiale  Blutungen  denken,  die  im  Gefolge  aller  möglichen  Er- 
krankungen auftreten  können. 

In  Bezug  auf  die  Apoplexieen  wird  meist  die  Anamnese  bezw.  das 
klinische  Urteil  genügend  schützen;  auch  die  Tiefe,  aus  der  das  Blut 
entleert  wird,  gibt  einen  Anhaltspunkt 

Und  was  die  subpialen  Blutungen  betrifft,  so  sei  ausdrücklich  darauf 
hingewiesen,  daß  bei  allen  denjenigen  unserer  Fälle,  wo  ein  entfernbares 
Hämatom  vorlag,  stets  größere  Mengen  alten  Blutes  entleert  wurden; 
während  in  denjenigen  Fällen,  wo  wir  nur  Spuren  alten  Blutes  zu  Tage 
förderten  (und  wo  infolgedessen  keine  Operation  vorgenommen  wurde) 
die  Sektion  bezw.  die  Genesung  nach  Schmierkur  die  Abwesenheit 
größerer  entfernbarer  Blutungen  bewies. 

Schließlich  wird  natürlich  auch  hier  das  klinische  Bild  vielfach  von 
ausschlaggebender  Bedeutung  sein,  insbesondere  werden  die  Erschei- 
nungen des  progredienten  Hirndrucks  auch  bei  Entleerung  geringfügiger 
Blutungen  eine  Operation  rechtfertigen. 

Wo  extradural  Blut  oder  blutige  Flüssigkeit  entleert  wird  — 
hierzu  scheint  sich  unsere  abgestumpfte  bezw.  runde  Nadel  zu  be- 
währen —  wird  in  der  Regel  die  vorgenommene  Operation  keine  Ent- 
täuschung bereiten. 


846  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Daß  die  Punktion  therapeutisch  durch  Entleerung  von  Extra- 
vasaten und  Beseitigung  des  Hirndruckes  etwas  leisten  kann,  beweisen 
eindeutig  3  unserer  Fälle.  In  dem  einen  [Aderhann  (17)J  beseitigte 
eine  Entleerung  von  200  g,  in  dem  anderen  [Bahr  (23)  von  nur  10 !  jr 
die  schwersten  Symptome  und  führte  die  Heilung  herbei;  während  in 
einem  dritten  Fall  (15)  vorübergehend  der  Hirndruck  nach  Entleerang  von 
100  g  alten  Blutes  nachließ,  ohne  daß  der  Patient  gerettet  werden  konnte. 

Zur  Aufstellung  fester  Indikationen,  in  welchen  Fällen  operiert  und 
in  welchen  Fällen  nur  punktiert  werden  soll,  reicht  das  vorliegende 
Material  nicht  aus.  Immerhin  wird  man  unsere  Resultate  für  be- 
merkenswert genug  halten,  um  in  geeigneten  Fällen  ähnlich  vorzugehen. 
Die  Heilung  des  Falles  Adermann  durch  Punktion  an 
der  hinteren  Schädelgrube  —  einer  chirurgisch  so  schwer 
zugänglichen  Stelle  —  hat  gewiß  etwas  üeberraschendes. 

Von  der  Punktion  apoplektischer  Blutherde  möchten  wir  uns  nicht 
viel  versprechen. 

IL  Hämatoidin. 

Fall  Bork  (19).  Der  Pat.  kann  zur  Punktion  wegen  einer  typischen 
jACKSONSchen  Epilepsie  (beginnend  im  linken  Facialis),  die  sich  im  An- 
schluß an  einen  apoplectiformen  Anfall  entwickelt  hatte. 

Die  aus  einiger  Tiefe  entleerte  Gekimsubstanz  enthielt  massenhaft 
altes  Blutpigment  und  t3'^pi8che  Hämatoidinkristalle.  Danach  wurde 
die  Diagnose  auf  einen  nahe  der  Rinde  gelegenen  apoplektischen  Herd  ge- 
stellt und,  da  die  Anfklle  weiter  bestanden,  zur  Operation  geschritten 
(rechtes  Facialiszentrum).  Man  fand  nichts,  als  starkes  lokales  piales 
Oedem.  Punktionen  nach  allen  Richtungen  in  die  Himsubstanz  waren 
ohne  Resultat.  Trotzdem  wurde  ein  Einschnitt  gemacht  und  aus  ziemlich 
beträchtlicher  Tiefe  ein  kleines,  etwas  verändert  aussehendes  Stückchen 
Kirnsubstanz  zur  Untersuchung  herausgenommen.  Dasselbe  erwies  sich 
überraschenderweise  als  Teil  eines  Glioms  (Prof.  Lübabsgh).  Pat.  war 
seit  der  Operation  bis  jetzt  wenigstens  von  Anf&llen  verschont  und  gesund. 

Epikrise:  In  diesem  auch  sonst  interessanten  Falle 
hätte  dieOperation  keinen  Anhaltspunkt  für  die  Epilepsie 
ergeben.  Nur  weil  wir  auf  Grund  der  Punktion  mit  aller 
Bestimmtheit  einen  abnormen  Herd  unter  der  Rinde  ver- 
muteten, wurde  tiefer  eingeschnitten  und  das  kaum  vom 
normalen  Gehirn  sich  unterscheidende  Stückchen  ezstir- 
piert,  das  sich  nachher  als  Gliom  erwies. 

III.  CystenflOssigkeit. 

1)  Fall  Pahl  (4).  Dieser  klinisch  ungemein  interessante 
Pall|  der  der  Probepunktion  seine  Aufklärung  und  Hei- 
lung verdankt,  würde  ein  noch  größeres  praktisches  In- 
teresse beanspruchen,  wenn  er  nicht  zu  den  seltensten 
Fällen  zu  gehören  schiene. 

Pahl  kam  unter  den  Erscheinungen  eines  nicht  lokalisierbaren  Hirn- 
tumors herein  und  verschlechterte  sich  schnell.  Die  Anamnese  ergab 
nichts  Wesentliches,  als  allmähliche  Entwickelung  des  Leidens  seit  ^/^  Jahr. 


Die  Himpunktion.  847 

In  moribundem  Zustande  wird  nacheinander  der  linke  Stirn- 
lappen —  rechte  Stirnlappen  —  das  rechte  Kleinhirn  punk- 
tiert, ohne  Resultat 

Die  in  derselben  Sitzung  bei  dem  sterbenden,  mit  3 — 4  Atemzügen 
in  der  Minute  daliegenden  Fat.  gemachte  Punktion  des  linken  Kleinhirns 
resp.  der  linken  hinteren  Schädelgrube  entleerte  oberflächlich 
reichlich  klare,  intensiv  gelb  gefärbte,  spontan  gerinnende  und  außeror- 
dentlich eiweißreiche  Flüssigkeit  Wenige  Standen  naoh  der  Funktion 
waren  die  schweren  Srsoheiniingen  verBohwanden. 

Im  Verlauf  von  1*/^  Jahren,  während  der  Pat  im  wesentlichen  ge- 
sund und  in  Tätigkeit  war,  mußte  noch  6mal,  wegen  sich  wieder  ein- 
stellender Beschwerden  resp.  beängstigender  Erscheinungen  (Hirndruck!  etc.) 
an  derselben  Stelle  durch  den  alten  Bohrkanal  punktiert  werden;  wobei 
im  ganzen  gegen  200!  com  der  oben  beschriebenen,  bis  zu  4  Proz. 
eiweißhaltigen,  meist  gleich  nach  der  Entleerang  zu  einer  Gallerte  er- 
starrenden Flüssigkeit  entleert  wurden.  Sofort  nach  der  Punktion  ver- 
sohwanden  jedesmal  die  bedrohlichen  Brscheinangen« 

(Ueber  die  Komplikationen,  die  P.  alle  siegreich  überstand,  femer 
auch  über  die  unterstützende  Wirkung  der  im  Anschluß  an  die  Punktion 
vorgenommenen  Lumbalpunktionen  vergl.  die  Krankengeschichte.) 

Auf  Grund  der  Punktionen  und  des  Verlaufes  wurde  die  Diagnose 
auf  Meningealcyste^)  gestellt,  deren  Durchmesser  bei  der  letzten 
Punktion  zu  ca.  2^/^  cm  bestimmt  werden  konnte. 

Aus  dem  Fall  Pahl  geht  die  allgemeine  Bedeutung 
der  Hirnpunktion  für  die  Erkennung  des  Sitzes  von 
Cysten  bezw.  ihre  Entleerung  hervor. 

So  hätte  in  den  beiden  eben  erwähnten  Fällen  von  Morison  und 
Thiem  (s.  Anmerkung)  die  Punktion  diagnostisch  und  therapeutisch 
vermutlich  Ausgezeichnetes  geleistet! 

2)  Fall  Witt  (31);  vergl.  darüber  unter  VIb, 

IV.  Eiter. 
Bei  dem  ersten  Fall,  in  dem  wir  reinen  Eiter  bei  der  Punktion  er- 
hielten, handelte  es  sich  um  einen  jungen  Mann  (Nickel  [2]),  der  früher 
an  einer  rechtsseitigen  Otitis  media  gelitten  hatte  und  seit  einigen  Tagen 
schwer  erkrankt  war.  Bei  seiner  Einlieferung  bot  er  die  typischen 
Zeichen  einer  Meningitis  dar,  war  total  benommen,  anscheinend  in 
extremis!  Da  auffallenderweise  die  Lumbalfiüssigkeit  sich  als  völlig 
klar  erwies,  so  wurde  an  otitischen  Himabsceß  gedacht  und  erst  der 
rechte  Schläfenlappen,  dann  das  rechte  Kleinhirn  punktiert.  Aus  ziem- 
licher Tiefe    wurde    reiner    Eiter   entleert   und   danach   die  Diagnose   auf 


1)  Wir  erinnern  mit  Bezug  auf  die  Meningealcysten  an  die  neueren 
Befunde  von  Morison  (British  Medical  Journal,  1896,  VoL  II,  p.  114; 
Notes  on  two  cases  of  Jacksonian  Epilepsie  treated  by  Operation)  und 
Thibh,  Ueber  die  erfolgreiche  operative  Entfernung  einer  im  linken  Hinter- 
hauptslappen entstandenen  Hohlgeschwulst.  (Verhandl.  d.  dtsch.  Gesellsch. 
f.  Chir.,  XXXI.  Kongreß  1902.)  Thibh  deutet  seinen  Fall  als  um- 
schriebene Meningitis.  Die  Cystenflüssigkeiten  waren  in  beiden 
Fällen  ähnlich,  wie  in  unserem  Falle. 


848  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Kleinhirnabsceß  gestellt  Der  bald  darauf  eingetretene  Tod  machte  eine 
operative  Eröffnung  nicht  mehr  möglich.  Die  Sektion  ergab  keinen  Absceß, 
sondern  eine  eiterige  diffuse  Meningitis,  mit  besonders  reichlicher  An- 
häufung des  Eiters  zwischen  Tentorium  und  Groß-  resp.  Kleinhirn.  Von 
hier  war  der  Eiter  aspiriert  worden. 

Epikrise:  Die  Diagnose  einer  diffusen  eiterigen  Meningitis  ist  ja 
fast  immer  ohne  weiteres  durch  die  Lumbalpunktion  mit  Sicherheit  zu 
stellen.  Ein  Versagen,  wie  in  unserem  Falle,  gehört,  wie  bekannt,  zu 
den  Seltenheiten. 

Daß  Eiter,  aus  dem  Gehirn  entleert,  nicht  einem  Absceß  entstammt, 
sondern  aus  dem  Subduralraum  (zwischen  Kleinhirn  und  Tentorium),  ist 
gewiß  lehrreich,  aus  diesem  Falle  zu  erfahren,  und  man  wird  in  Zukunft 
daran  zu  denken  haben,  wird  aber  wohl  eine  ebensolche  Seltenheit  bleiben, 
wie  das  Versagen  der  Lumbalpunktion.  Genaue  Beachtung  der  Tiefen- 
verhältnisse —  es  wurde  erst  in  6 — 7  cm  Tiefe  Eiter  gefunden  —  würde 
in  ähnlichen  Fällen  vor  Verwechselung  schützen. 

Glücklicher  verlief  der  folgende  Fall  [Werner  (34)]: 

Ein  bis  dahin  gesunder  Mann,  der  erst  seit  2  Tagen  über  Schmerzen 
in  der  linken  Ohrgegend  klagte  und  seit  einem  halben  Tage  völlig  benommen 
war,  wurde  mit  hohem  Fieber  und  unter  den  Zeichen  einer  diffusen,  eiterigen 
Meningitis  eingeliefert.  Außerdem  bestand  Oedem  und  Druckschmerz- 
haftigkeit  im  Bereich  des  linken  Warzeufortsatzes  und  Zeichen  einer  zu- 
nehmenden, von  oben  nach  unten  fortschreitenden  rechtsseitigen  Hemiparese. 
Der  Fat.  schien  dem  Tode  so  nahe,  daß  man  sich  zu  einem  chirurgischen 
Eingriff  nicht  mehr  entschließen  wollte. 

Da  indessen  neben  den  Zeichen  der  Meningitis  deutliche  Symptome 
einer  örtlichen  Hirneiterung  vorhanden  waren  und  da  femer  die  eiterig 
getrübte  Lumbaiflüssigkeit  keine  Mikroorganismen  enthielt,  so  wurde  zur 
diagnostischen  Hirnpunktion  geschritten. 

Dieselbe  zeigte  in  klarer  Weise  (abgestumpfte  Nadel!\ 
daß  ein  unter  hohemDruck  stehendes  hämorrhagisch- eite- 
riges eztradurales  Exsudat  im  Bereich  des  linken  Schlä- 
fenlappens vorhanden,  das  darunterliegende  Gehirn  aber, 
sowie  auch  das  Kleinhirn  frei  war. 

Gestützt  auf  diesen  Befund  und  auf  die  Tatsache,  daß  auch  die  -wieder- 
holte Lumbalpunktion  eine  zwar  eiterig  getrübte,  aber  bakterien freie 
Flüssigkeit  zu  Tage  förderte,  während  es  im  extraduralen  Eiter  von 
Streptokokken  wimmelte,  wurde  trotz  des  hoffnungslosen  Zustandes 
die  Operation  versucht. 

Herr  Prof.  Häckel  legte  die  äußere  Mündung  des  Punktionskanals  am 
Schädel  frei:  sogleich  spritzte  hämorrhagischer  Eiter  offen- 
bar unter  hohem  Druck  aus  derselben  heraus.  Durch  Tre- 
panation wurde  ein  rein  extraduraler  Absceß  entleert;  derselbe 
stand  in  Zusanunenhang  mit  in  den  Mastoidzellen  enthaltenem  Eiter,  der 
durch  Aufmeißelung  des  Warzenfortsatzes  entfernt  wurde. 

Im  Laufe  der  nächsten  24  Stunden  besserte  sich  das  Befinden  auf- 
fallend. Die  rechtsseitige  Lähmung  ging  zurück,  Pat.  wurde  besinnlich, 
begann  zu  schlucken  und  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen.  Die  nun  ent- 
leerte Lumbaiflüssigkeit  war  fast  klar,  enthielt  im  Sediment  noch  Leuko- 
cyten.     Pat.  genas. 

Epikrise:  Im  vorliegenden  Falle  hat  die  Himpnnktion  in  einem 


Die  Himpunktion.  849 

ansoheinend  verlorenen  Falle  von  eiteriger  Meningitis  einen  entfem- 
baren  umsohriebenen  eiterigen  Prozeß  anil^edeokt  und  dessen  extra- 
dnralen  SitB  im  Bereiche  des  linken  Schläfenlappens  bestimmt.  Sie 
hat  so  trotB  vorhandener  Meningitis  zu  einem  chirurgischen  Eingriff 
gedrängt  und  eine  sonst  nicht  erreichbare  Sicherheit  des  chirurgischen 
Handelns  ermöglicht. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  erwähnt,  daß  man  sich  in  Zukunft  wohl 
hüten  wird,  durch  einen  durch  Punktion  gefundenen  extraduralen  Absceß 
hindurch  das  Gehirn  zu  punktieren,  um  einen  etwaigen  Hirnabsceß  zu 
finden.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  man  durch  ein  solches  Vorgehen 
schaden  kann.  Im  vorliegenden  Fall  geschah  das  Hindurchpunktieren 
aus  dem  Grunde,  weil  zunächst  eine  mehr  serös-hämorrhagisch  aussehende 
Flüssigkeit  extradural  entleert  wurde,  von  der  es  nicht  ausgeschlossen 
schien,  daß  sie  nur  der  Umgebung  eines  Himabscesses  angehörte,  und 
deren  rein  eiterige  Beschaffenheit  und  Bakterienreichtum  erst  nach  ab- 
geschlossener Punktion  mikroskopisch  festgestellt  wurde.  Uebrigens  hat 
das  Durchstechen   der  Dura   in  unserem  Falle  keinerlei  Schaden  gestiftet. 

Die  Punktion  zeigt  aber  auch,  daß  man  bei  Anwendung  unserer 
Technik,  insbesondere  Anwendung  der  abgestumpften  Nadel  nicht  zu  be- 
fürchten braucht,  einmal  ohne  es  zu  wollen  durch  einen  vorhandenen 
extraduralen  Eiterherd  hindurch  ins  Gehirn  zu  punktieren. 

Wenn  uns  auch  andere  cerebrale  Abscesse  bezw.  Hirnabscesse  im 
engeren  Sinne  versagt  geblieben  sind,  so  wird  doch  dem,  der  unseren 
Ausführungen  bis  hierher  gefolgt  ist,  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  gerade 
hier  Probepunktionen  durch  den  intakten  Schädel  hindurch  vielfach 
ein  vortreffliches  Hülfsmittel  der  Diagnostik  bilden  werden. 

Ein  Blick  in  die  Kasuistiken  von  von  Bergmann,  Körner  u.  a. 
zeigt  uns  reichlich  Fälle,  wo  zwischen  Tumor  bezw.  Tuberkel  und  Absceß 
nicht  unterschieden  werden  konnte,  wo  die  Kraniotomie  als  nicht  ge- 
nügend indiziert  bezw.  als  zu  großer  EingriJOT  abgelehnt  wurde;  oder 
Fälle,  wo  nach  vergeblicher  Trepanation  eine  zweite  nicht  gewagt  wurde, 
oder  wo  erst  nach  mehrfacher  Trepanation  der  Absceß  gefunden  bezw. 
nicht  gefunden  wurde.  Insbesondere  sprechen  wir  von  den  Fällen,  in 
denen  Kleinhirnsymptome,  aber  kein  Hinweis  auf  die  rechte  oder  linke 
Seite  vorlagen,  oder  wo  die  Diagnose  zwischen  Schläfenlappen  und 
Kleinhirn  einer  Seite  schwankte.  In  manchen  dieser  Fälle  werden, 
wie  wir  hoffen,  der  Probepunktion  durch  den  intakten  Schädel  Erfolge 
nicht  versagt  bleiben. 

V.  Serös  eiterige  Flüssigkeit. 
In  zwei  Fällen  erhielten  wir  bei  der  Punktion  am  Kleinhirnabsceß- 
pnnkt  (s.  d.  anatom.  Teil)  etwas  seröseiterige  Flüssigkeit  (von  einigen 
Tropfen  bis  etwa  zu  1  ccm). 

In  dem  einen  Fall  (20)  handelte  es  sich  um  eine  Frau,  die  zu  einer 
schon  längere  Zeit  bestehenden  linksseitigen  Otitis  media  schwere  Him- 
erscheinungen  hinzu  bekam,  welche  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf 
einen  Kleinhirnabsceß  hindeuteten.     Die  Operation  (Freilegung  des  Klein- 


850  £rn8t  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

hirus)  sollte  vorgenommen  werden;  vorher  wurde  uns  von  dem  betrefTen- 
den  Kollegen  die  Punktion  des  Kleinhirns  gestattet.  Es  fand  sich  eine 
kleine  Menge  serös-eiteriger  Flüssigkeit  oberflächlich;  und  wir  erklärten 
uns  dieselbe  gemäß  unseren  gemachten  Erfahrungen  (s.  Fall  Xickel)  zu- 
nächst als  meningeales  Exsudat!  Da  aber  die  Symptome  einer 
Meningitis  völlig  fehlten,  dagegen  klinisch  alles  für  einen  Absceß  sprach, 
gaben  wir  die  Möglichkeit  zu,  daß  es  sich  um  aus  der  ümgebang 
eines  Abscesses  aspiriertes,  in  Vereiterung  begriffenes 
Hirngewebe  handelte.  Leider  konnte  aus  äußeren  Gründen  weder 
die  Lumbalpunktion  gemacht,  noch  die  mikroskopische  Untersuchung  der 
aspirierten  Flüssigkeit  vorgenommen  werden. 

Das  Kleinhirn  erwies  sich  bei  der  Operation  als  frei;  die  Sektion 
deckte  eine  diffuse  eitrige  Meningitis  auf  (Patient  hatte  nicht  gefiebert)^ 
ausgehend  von  einer  Eiterung  im  linken  Canalis  caroticus.  Es  war  das 
meningeale  Exsudat  der  hinteren  Schädelgrube  bei  der  Punktion  gewonnen 
worden. 

Dieser  Fall  ist  zu  einer  weiteren  Beurteilung  nicht  verwendbar,  da 
die  Lumbalpunktion,  welche  Klarheit  gebracht  hätte,  nicht  gemacht 
werden  konnte. 

Der  andere  Fall  betrifft  einen  4  Jahre  alten  Knaben  [Bohl  (21)],  der 
^4  Jahre  nach  einer  Basisfraktur  (die  mit  Hinterlassung  dauernder  Xopf- 
schmerzen  geheilt  war)  mit  Krämpfen,  heftigsten  Kopfschmerzen,  Gbtng- 
Störung  etc.  (vergl.  Krankengeschichte)  erkrankte  und  in  8  Tagen  völlig 
erblindete. 

Die  Diagnose  schwankte  zwischen  Tumor  cerebelli  und  Meningitis 
serosa.  Die  Punktion  des  linken  Kleinhirns  ergab  gut  1  ccm  einer  trüben 
gelblichen  Flüssigkeit  (mikroskopisch :  Eiterkörperchen),  femer  einige  kleine 
Gewebspartikelchen,  die  mikroskopisch  (in  Paraffin  eingebettet)  sich  teils 
als  nonnale  Kleinhimrinde,  teils  aber  als  nekrotisches,  von  einzelnen 
Eiterkörperchen  durchsetztes  Hirngewebe  herausstellten.  (Die  Lumbal- 
pumktion  ergab  üeberdruck,  aber  klare  Flüssigkeit  und  kein  GerinDsel). 
Punktionen  der  Seitenventrikel  wiesen  eine  starke  Ausdehnung  derselben 
durch  vermehrten  Liquor  nach  und  wirkten  durch  Ablassen  des  letzteren 
entschieden  günstig. 

Es  bestand  also  eine  zirkumskript  serös-eitrige  Meningitis,  außerdem 
eine  Vermehrung  und  Drucksteigerung  des  Liquor  cerebrospinalis.  In 
letzterem  trat  in  den  letzten  Tagen  Gerinnselbildung  auf,  als  Ausdruck 
einer  —  wie  die  Sektion  lehrte  —  tuberkulösen  Meningitis.  Diese  war 
von  zwei  Kleinhirntuberkeln  ausgegangen  und  Material  von 
diesen  hatten  wir  in  Gestalt  des  nekrotischen  Gewebes  zu 
Tage  gefördert,  ohne  es  richtig  deuten  zu  können. 

Anhangsweise  muß  hier  noch  ein  dritter  Fall  erwähnt  werden 
[Lindner  (26)],  in  dem  wir  auch  am  Kleinhirn absceßpunkt  massenhaft  serös- 
eitrige Flüssigkeit  punktierten.  Dieselbe  wurde  sofort  nach  ihrer  Beschaffen- 
heit und  der  Lage  der  Nadel  als  meningitisches  Exsudat  erkannt,  was  die 
Sektion  bestätigte.  Mit  dem  Eiter  eines  Hirnabscesses  war  sie  nicht  zu 
verwechseln. 

VI.  Pathologisches  Gewebe. 
Krankhaft  veränderte  Hirnsubstanz  haben  wir  in  2  Fällen  bei  der 
Punktion  erhalten: 


Die  Hirnpunktion.  851 

a)  Nekrotisches  Hirngewebe  in  dem  eben  erwähnten  Fall  Rohl  (21), 
ohne  es  richtig  deuten  zu  können; 

b)  Tumorgewebe.  > 

Wir  waren  anfangs  wenig  geneigt,  anzunehmen,  daß  die  Probe- 
punktion zur  Auffindung  operabler  Tumoren  wesentlich  beitragen  könnte. 

Zwar  hatten  wir  Gelegenheit,  uns  zu  überzeugen,  daß  an  der  Leiche 
wenigstens  Gewebe  von  erweichenden  Tumoren  aspiriert  werden  konnte, 
derart,  daß  die  Probepunktion  die  Diagnosestellung  ermöglichte  [Fall 
Pietsch  (3)  und  Brandt  (7)].  Aber  an  der  Erreichung  eines  praktischen 
Resultates  hinderte  uns  die  Ueberlegung,  daß  die  weicheren  bezw.  er- 
weichten Tumoren  zum  Teil  wenigstens  gerade  diejenigen  sind,  die  der 
Operation  wenig  günstige  Chancen  bieten;  bei  der  verhältnismäßigen 
Geringfügigkeit  der  Aussichten  schreckten  wir  vor  einem  rücksichtslosen 
^Durchpunktieren"  anfangs  zurück.  Um  so  angenehmer  überrascht 
waren  wir  von  dem  unerwartet  glücklichen  Verlauf  und  Ausgang  des 
folgenden  Falles: 

Herr  W.  (31),  43  Jahre  alt,  Restaurateur,  war  4  Wochen  vor  seiner 
Aufnahme  ins  Krankenhaas  mit  einem  apoplektiformen  Anfall  erkrankt 
und  litt  seitdem  an  heftigen,  anhaltenden  Kopfschmerzen.  Unsere  anfäng- 
liche Diagnose  auf  Himlues,  die  zunächst  durch  eine  auffallende  Besserung 
nach  Hg-Behandlung  gestützt  zu  werden  schien,  wurde  fallen  gelassen, 
als  sich  der  Zustand  unter  Schmierkur  später  mehr  und  mehr  verschlech- 
terte (zunehmende  Benommenheit,  Erbrechen)  und  Tumor  cerebri  diagnosti- 
ziert. Da  außer  allgemeinen  Tumorsymptomen  (Kopfschmerz,  besonders  in 
der  rechten  Kopfhälfte,  zeitweise  Pulsverlangsamung,  Erbrechen,  schwere 
doppelseitige  Stauungspapille  mit  Retinalextravasaten,  Ueberdruck  bei  der 
Lumbalpunktion,  Schlafsucht,  Abnahme  der  psychischen  Fälligkeiten)  nur 
eine  leichte  (mimische)  Parese  des  linken  Facialis,  allenfalls  noch  des 
linken  Armes  vorhanden  war,  konnte  von  einer  Lokaldiagnose  auf  Grund 
der  klinischen  Erscheinungen  keine  Bede  sein.  Das  Fehlen  von  basalen 
Symptomen,  sowie  solchen,  die  auf  die  hintere  Schädelgrube  hinwiesen, 
der  ziemlich  ausgeprägte  Kopfschmerz  der  rechten  Kopfhälfte,  sowie  die 
leichte  Facialis-  bezw.  Armparese  linkerseits  liefen  uns  an  einen  Tumor 
der  rechten  Konvexität  denken,  wobei  der  ziemlich  scharf  umschriebene 
Klopfschmerz  für  den  Scheitellappen,  eine  deutlich  vorhandene  Witzelsucht 
für  den  Sitz  im  Stimlappen  verwertet  werden  konnte. 

Die  Lokalisation,  die  also  auf  Grund  des  klinischen 
Bildes  unmöglich  war,  gelang  durch  die  Hirnpunktion  in 
überraschender  Weise. 

Nachdem  wir,  gedrängt  durch  die  Erscheinungen  des  zunehmenden 
Himdruckes,  zuerst  im  Bereich  des  rechten  Scheitellappens  vergeblich  punk- 
tiert hatten,  wandten  wir  uns  dem  rechten  Stimlappen  zu  und  zogen  sofort 
am  oberen  Stirnpunkt  (vergl.  die  Figur,  F^ )  blutig  erweichte  Massen 
heraus,  in  denen  sich  mikroskopisch  außer  altem  Blut  und  massenhaften  Fett- 
körnchenzellen (!)  Konglomerate  von  großen,  ziemlich  protoplasmareichen,  en- 
dothelialen Zellen  nachweisen  ließen,  die  als  Tumorzellen  gedeutet  werden 
konnten.  Fünf  nahe  im  Umkreise  dieser  Stelle  gemachte  Punktionen 
(Punkt  IV — VIII)  ergaben  normale  Himsubstanz;  erst  die  sechste  (Punkt 
IX)  —  medial  von  dem  oberen  Stimpunkte  (schon  nahe  dem  Sinus  longi- 


852  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

tudinalis)  vorgenommenen  —  förderte  aus  etwa  2  cm  Gehirn  tiefe  eine 
gelbliche,  cystische  Flüssigkeit  zu  Tage,  in  der  sich  durch 
Sedimentieren  Fettkömchenzellen  und  Tumorzellen  nachweisen  ließen.  Wir 
stellten  danach  die  Diagnose  auf:  Zentral  erweichter,  maligner  Tumor 
des  rechten  Stimlappens  im  Bereiche  der  Ponktionsstelle  (III  und  IX) 
von  nicht  bedeutender  Flächenausdehnung. 

Ueber  die  Operabilität  der  Geschwulst  sprachen  wir  uns  sehr  zurück- 
haltend aus. 

Die  kurz  darauf  von  Herrn  Prof.  Haeckel  vorgenommene  Operation 
bestätigte  die  Diagnose  in  allen  Punkten;  es  handelte  sich  um  ein 
gut  ausschäl  bares,  etwas  über  walnußgroßes  Endotheliom  des  rechten 
Stimlappens  genau  an  der  Stelle,  wo  wir  es  durch  Punktion  nachgewiesen 
hatten.  Seine  eigentümliche  Form  (Kegel,  dessen  Basis  der  Himoberfläche 
entsprach)  erklärte  das  negative  Ergebnis  der  Punktionen  IV — VIII  (s.  die 
Krankengeschichte). 

Der  Fat.  war  bereits  wenige  Tage  nach  vorgenommener  Operation 
von  einem  Gesunden  nicht  zu  unterscheiden. 

Epikrise:  Die  Diagnose:  Hirntumor  war  in  diesem  Falle  schon  vor 
der  Probepunktion  sicher.  Auch  war  die  Vermutung  berechtigt,  daß  der 
heftigen  lokalen  Ellopfschmerzhaftigkeit  ein  mehr  oberflächlicher  Sitz  des 
Tumors  in  der  rechten  Hemisphäre  entsprechen  würde  (übrigens  saß  der 
Tumor  weit  ab  von  der  schmerzhaften  Stelle  und  wäre  durch  eine  Kra- 
niotomie  hier  ebensowenig  gefunden  worden,  wie  durch  die  Probepunktion). 
Auch  dafür,  daß  der  Tumor  mehr  den  vorderen  Partien  des  Großhirns  an- 
gehören mochte,  sprach,  wie  schon  erwähnt,  manches. 

Allein  welcher  Chirurg  oder  innere  Kliniker  würde  wohl  in  diesem 
Falle  und  bei  so  geringen  Herdsymptomen  den  Versuch  einer  Trepa- 
nation angeraten  haben  und  wo  hätte  eine  Trepanationsöffnung  angelegt 
werden  sollen,  um  diesen  bei  der  Ffeilegung  knapp  markstückgroß  zu 
Tage  tretenden  Tumor  zu  finden! 

Der  Probepunktion  allein  verdanken  wir  es,  daß  wir 
den  Tumor  gefunden,  seinen  Sitz  bestimmt,  seine  Be- 
schaffenheit in  mehrfacher  Hinsicht  erkannt  und  den 
chirurgischen  Eingriff  dadurch  ermöglicht  haben,  der 
den  Patienten  in  wenigen  Tagen  aus  einem  Sterbenden 
zu  einem  Gesunden  machte. 

Hierbei  soll  gewiß  nicht  verkannt  werden,  daß  einiges  Glück  dazu 
gehört  hat,  daß  2  von  unseren  9  Punktionen  den  Tumor  getroffen 
haben.  Wir  glauben  aber  doch  gerade  hieraus  schließen  zu  sollen,  daß, 
wenn  man  überhaupt  daran  geht,  durch  Probepunktion  einen  Tumor 
zu  suchen  —  und  der  hier  vorliegende  erste  Fall  muß  doch  hierzu 
auffordern  —  man  vor  einem  rücksichtsloseren,  systematischen,  auf 
verschiedene  Sitzungen  zu  verteilenden  Durchpunktieren  der  bearg- 
wöhnten Regionen  bezw.  der  betreffenden  Schädelhälfte  nicht  zurück- 
schrecken darf. 

Wir  haben  es  nachträglich  aufs  empfindlichste  bedauert,  daß  wir  in 
2wei  anderen  Fällen  [Büchel  (12)  und  Brandt  (7)J,  anstatt  dieses  Ver- 


Die  Hirnpunktion.  853 

fahren  anzuwenden,  uns  mit  einigen  negativen  Punktionen  begnügten; 
sonst  hätte  uns  das  höchst  operable  Endotheliom  der  Dura  (7)  und  das 
Oumma  der  Hirnoberfläche  (12)  nicht  zu  entgehen  brauchen. 

Auch  wird  man  sich  darüber  klar  sein  müssen,  daß  Punktionen,  die 
zur  Auffindung  eines  Tumors  gemacht  werden,  nur  einen  Sinn  haben, 
wenn  bei  jeder  einzelnen  Punktion  etwas  Substanz  ans  dem  Gehirn  zu 
Tage  gefördert  wird,  wie  man  dies  in  der  von  uns  angegebenen  Weise 
<s.  Technik)  mit  mehr  oder  weniger  Mühe,  aber  schließlich  doch  immer 
mit  Erfolg  erreicht  ^). 

Daß  hierbei  häufig  wiederholte  Punktionen  einen  größeren  Eingriff 
darstellen,  als  die  Entleerung  von  Flüssigkeiten,  ist  klar.  Demgegenüber 
steht,  daß  es  sich  in  der  Regel  um  verlorene  Fälle  handelt,  bei  denen 
wohl  einmal  alles   gewonnen,   aber  kaum  etwas  verloren  werden  kann. 

Selbstverständlich  wird  die  Punktion  nur  inderHand 
dessen,  der  die  klinische  Hirndiagnostik  richtig  zu  hand- 
habenweiß, Erfolge  habenundein  gedankenloses  „Durch- 
punktieren" wäre  das  geeignetste  Mittel,  um  die  Hirn- 
punktion bald  um  jeden  Kredit  zu  bringen. 

Andererseits  glauben  wir  sagen  zu  dürfen,  daß  die  von  dem  Alt- 
meister hirnchirurgischer  Diagnostik  mit  Bezug  auf  die  Tumoren  fest- 
gelegte Grenze  der  Diagnostik  durch  die  Hirnpunktion  weiter  hinaus- 
geschoben werden  dürfte: 

„Fasse  ich  zusammen,  so  hängt  die  Indikation  für  einen 
chirurgischen  Eingriff  bei  oberflächlich  gelegenen  Tu- 
moren des  Großhirns  ganz  und  gar  an  den  Zeichen  einer 
Affektion  der  motorischen  Region  in  den  Zentralwin- 
dungen. Nur  bei  solchen  halte  ich  die  temporäre  Schädel- 
resektion nach  Wagner  für  indiziert."  (v.  Bergmann,  die 
chirurgische  Behandlung  von  Hirnkrankheiten,  3.  Aufl.,   1899,  p.  276.) 

VII.  Blutiges  Hirnhaut-(Pia-)Oedem. 
Einen  eigen tümlichen  Punktionsbefund  hatten  wir  bei  einem  Manne 
[Fall  Ueck  (11)],  der  mit  schweren  Himerscheinungen  (Fieber,  Pulsver- 
langsamung  und  rasenden  Kopfschmerzen)  hereinkam  und  bei  dem  wir 
(Lumbalpunktion  ergab  Ueberdruck,  aber  klare  Flüssigkeit,  ohne  Gerinnsel) 
einen  Hirnabsceß  vermuteten.  Dem  intensivsten  Klopfschmerz  entsprechend, 
punktierten  wir  rechterseits  nacheinander  den  Schlafenlappen,  die  motorische 
Kegion  und  das  Stirnhim.  An  allen  3  Stellen  fand  sich  ganz  oberfläch- 
lich (subarachnoidal)  reichlich  intensiv  zitronengelbe,  klare 
Flüssigkeit  vor,  die  nicht  gerann  und  auch  nach  langem  Zentrifugieren 


1)  Die  Untersuchung  der  punktierten  Gewebspartikelchen  geschah  mit 
Vorteil  zunächst  im  frischen  mikroskopischen  Präparat ;  dann  folgte  Schnell- 
härtung und  Schnelleinbettung  in  Paraffin  nach  der  bewährten  Methode 
von  LuBABSCH  (s.  Deutsche  med.  Wochenschrift,  1903,  No.  48)  und  Unter- 
suchung der  mit  Hämatoxilinsäurebraun  oder  nach  van  Giesok  gefärbten 
Schnitte. 

Mitte»,  a.  d.  GrenzgeUeten  d.  Medizin  o.  OiinirKie.    Xm.  Bd.  55 


854  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

gelb  blieb;  ein  sich  dabei  absetzendes  Sediment  bestand  ans  Erythrocyten. 
Es  handelte  sich  also  um  ein  blutiges  Oedem  der  Arachnoidea-Pia  (nnd 
zwar  um  ein  anscheinend  umschriebenes,  denn  die  zu  gleicher  Zeit  durch 
Lumbalpunktion  gewonnene  Flüssigkeit  war  farblos  wie  Wasser  und 
ohne  morphotische  Elemente).  Eiter  wurde  nirgends  gefunden  und  daher 
die  Diagnose:  Absceß  fallen  gelassen.  Gleich  nach  der  Punktion 
ließen  die  furchtbaren  Kopfschmerzen  nach,  und  unter  fort- 
gesetzter Schmierkur  und  Jodipin  trat  später  völlige  Keilung  ein. 

Es  hat  sich  also  um  Laes  cerebri  resp.  leptomeningis  gehandelt^ 
als  deren  handgreiflichstes  Produkt  hier  ein  eigentümliches  Meningeal- 
ödem  festgestellt  ist,  dem  man  —  wie  ex  juvantibus  geschlossen  werden 
darf  —  eine  erhebliche  Rolle  bei  der  Erzeugung  des  charakterisüschen 
Kopfschmerzes  zuschreiben  muß. 

VIII.  Liquor  cerebrospinalis. 
Diagnostisch  verwertbar  war  die  Punktion  von  Liqaor  in  einem  Falle : 

Es  handelte  sich  um  ein  Fräulein  [Fall  Jäckel  (8)],  .bei  dem  die 
Diagnose  auf  Hirntumor  lautete,  und  zwar  bestand  besonderer  Verdacht 
auf  eine  Geschwulst  des  Stimhirns.  Die  nacheinander  an  beiden  Stirn- 
Kleinhim-Zentrallappen  ausgeführten  Punktionen  (7!  im  ganzen)  ergaben 
nirgends  Geschwulstpartikel,  sondern  an  allen  Stellen  gleichmäßig  in  ge- 
ringer Tiefe  der  Himsubstanz  massenhaft  Liquor  cerebrospinalis.  Darauf- 
hin wurde  die  frühere  Diagnose  fallen  gelassen  und  Hydrocephalus  intern  as 
chronicus  resp.  Meningitis  serosa  diagnostiziert    Die  Sektion  bestätigte  das. 

Hier  muß  auch  Fall  Berg  erwähnt  werden,  indem  eine  zu 
diagnostischen  Zwecken  gemachte  Hirnpunktion  ganz  unerwartet  einen 
starken  akuten  Hydrocephalus  des  Seitehventrikels  auf- 
deckte und  durch  Entleerung  von  20  ccm  Liquor  therapeutisch  Aas- 
gezeichnetes leistete. 

Ueberhaupt  hat  sich  die  wiederholte  Punktion  nach  der  angegebenen 
Methode  zu  therapeutischen  Entleerungen  von  Flüssigkeitsansammlungen 
in  den  Hirnventrikel  bei  chronischen  Ergüssen,  Tumoren  etc.  neben  der 
altbewährten  QuiNCKEschen  Lumbalpunktion  durch  die  direkte  Wirkung 
auf  die  Ventrikel  mehrfach  als  recht  vorteilhaft  erwiesen.  Man  punktiert 
am  besten  an  dem  von  Kocher  angegebenen  Punkt  seitlich  vom  Bregma 
(s.  d.  anatomischen  Teil). 

Den  bisher  besprochenen  Fällen  mit  „positiven''  Befunden  bei  der 
Punktion  reihen  sich  diejenigen  an,  bei  welchen  das  negative  Er« 
gebnis  der  Punktion  in  diagnostischer  Beziehung  wichtig  oder  ge- 
radezu ausschlaggebend  war. 

I.  Zunächst  eine  Reihe  von  Fällen,  in  denen  auf  Grund  der  Punktion 
die  Diagnose  Hirnabsceß  fallen  gelassen  wurde.    Dies  sind: 

1)  Fall  Hermann  (1),  in  dem  ein  gewisser  Verdacht  auf  einen  eiterigen 
Prozeß  der  linken  motorischen  Region  vorlag. 

2)  Fall  Maass  (5),  in  dem  an  einen  Abscefi  des  Kleinhirns  resp.  Stirn- 
hirns  gedacht  wurde. 


Die  Hirnpunktion.  855 

3)  Pall  Stark  (6),  der  schon  mit  beginnender  Meningitis  eingeliefert 
wurde,    daneben   aber   auf  einen    linksseitigen  Hirnabsceß  verdäohtig  war. 

4)  Fall  Schlie  (32)  (dessen  Elrankengeschichte  uns  nicht  vorliegt), 
der  einige  Zeit  nach  einem  Bevolverscbuß  in  die  rechte  Schläfe  unter  den 
Symptomen  eines  Himabscesses  erkrankte  und  bei  dem  die  Punktion  des 
rechten  Schläfenlappens  vorgenommen  wurde. 

5)  Fall  Hartmann  (25),  in  dem  an  einen  Absceß  des  rechten  Stirn- 
resp.  Zentrallappens  gedacht  wurde,  der  sich  später  aber  als  tuberkulöse 
Meningitis  entpuppte. 

Hier  würden  sich  noch  anschließen: 

6)  Fall  Ueck,  der  oben  unter  VIII  besprochen  worden  ist,  bei  dem 
wir  von  dem  Bestehen  eines  rechtsseitigen  Himabscesses  überzeugt  waren. 

7)  Fall  Fahl  (oben  unter  in  besprochen),  bei  dem  einmal  im  Laufe 
der  Erkrankung  an  einen  eventl.  bestehenden  Absceß  der  rechten  Hemisphäre 
(Scheitellappen)  gedacht  wurde  (vergl.  die  Krankengeschichte,  Punktion  8). 

8)  Fall  Lindner  (26),  wo  neben  einer  festgestellten  eiterigen  Meningitis 
noch  ein  Absceß  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  angenommen  wurde. 

In  allen  diesen  Fällen,  die  mehr  oder  weniger  auf 
Hirnabsceß  verdächtig  waren,  brachte  uns  die  Hirn- 
punktion von  dieser  Dilgnose  ab;  in  Fall  1,  3,  4,  5  und  8 
zeigte  die  Sektion,  in  2,  6  und  7  der  weitere  Verlauf,  daß  in  der  Tat 
eine  eiterige  Encephalitis  nicht  vorgelegen  hat. 

IL  Hieran  schließen  sich  noch  diejenigen  Fälle  an,  in  denen  auf 
Grund  der  Punktion  die  Diagnose  Tumor  cerebri  fallen  gelassen  resp. 
sehr  unwahrscheinlich  wurde,  da  es  nicht  gelang,  aus  den  vermutlich 
befallenen  Hirn  teilen  Geschwulstpartikelchen  durch  Aspiration  zu  ge- 
winnen. 

Es  sind  dies: 

1)  Fall  Pahnke  (14),  in  dem  die  Diagnose  zwischen  Kleinhirn-  und 
Stimhirntumor  schwankte.  Die  durch  Schmierkur  erzielte  völlige  Heilung 
der  schon  ganz  dementen  Patientin  stimmte  zu  dem  Besultat  der  Punktion 
und  klärte  den  Fall  völlig  auf. 

2)  Fall  Jäckel  (schon  oben  unter  VII  besprochen),  in  dem  die  Punktion 
keinen  Tumor,  dagegen  das  Vorhandensein  eines  starken  Hydrocephalus 
internus  nachwies. 

3)  Als  3.  Fall  würde  sich  wieder  Fall  Pahl  (s.  oben  III)  anschließen, 
in  dem  die  Diagnose  mit  Sicherheit  auf  Hirntumor  gestellt  war,  die 
Punktion  aber  statt  eines  solchen  eine  Cyste  in  der  hinteren  Schädelgrube 
aufdeckte. 

Nach  dem  oben  Gesagten  (s.  Abschnitt  VI)  brauchen  wir  hier  nicht 
noch  einmal  darauf  zurückzukommen,  daß  negativer  Ausfall  der  Punktion 
bei  einem  vermuteten  Hirntumor  mit  geringerer  Sicherheit  verwertet 
werden  kann,  als  bei  den  anderen  Affektionen  (Absceß,  Blutung,  Cyste). 

III.  Schließlich  hatte  die  Punktion  bei  einer  Reihe  von  Fällen  gar 
kein  Ergebnis,  weder  nach  der  positiven,  noch  nach  der  negativen  Seite, 
wie  das  bei  dem  Material  ja  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Auf  diese 
Fälle  können  wir  hier  nicht  weiter  eingehen. 

55* 


856  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

Tabelle  II:     UeberBicht  über  sämtliche  punktierte  F&lie. 


Diagnose 
vor  der  Punktion 


Diagnose 
nach  der  Punktion 


Diasnose  auf  Grund 

der  Sektion 

oder  Operation  bezw. 

ex  juTantibus 


1.  Hermann 

2.  Nickel 

3.  Pietsch 

4.  Fahl 

5.  Maass 

6.  Stark 

7.  Brandt 

8.  Jaeckel 

9.  Lemcke 

10.  Krause 

11.  Ück 

12.  Büchel(nicht 
durchunter- 
sucht) 

13.  Handt 

14  Pahnke 

15.  Kielgas 

16.  Weber 

17.  Adermann 


Himblutg.;  sp&t  Ver- 
dacht auf  dterigen 
Prozeß 

Verdacht  auf  Himabsc. 

Menin^tis  serosa  (an- 
fängbch.  Verdacht  auf 
Tumor  d.  hint  Bchä- 
deigrube  fallen  gelass.) 

Tumor  des  Stimhims 
oder  Kleinhirns 

Lues  cerebri  od.  Him- 
absoeß 

Eiterige  Meningit. ;  Ver- 
dacht auf  Himabsceß 

Elanhim-  oder  Stirn- 
himtumor 

Verdacht  auf  Stimhirn- 

tumor 
Verdacht  auf  Blutung 

aus  der  Meningea 


Kein  Absoefi 


Kleinhimabscefi 

Punktion  ohne  Einfluß 
auf  die  Diagnose 


Cyste  d«Uiit.8ehädel- 
gmbe  (bcKw.  um- 
schriebene Meningitis) 

Kein  Absceß 

Kein  Absceß 

Vermutlich  kein  Klein- 
hirn- oder  Stimhim- 
tumor 

Meningitis  chronica  se- 
rosa 

Extradural.  Bluterguß; 
Contusio  cerebri 


N^hritis;  kleine  Blu- 
tungen in  der  inneren 
LinsenkapseL  Säofer- 
verandernngen 

Eiterige  Meningit  nach 
Otitis  media 

Tumor  oerebelli  (Sar- 
kom) und  sekundärer 
Hydroceplialns 

(Durdi  PmkiiiHi  s«- 
heUtl) 


Coma.    Pneumonie 

Lues  cerebri?  Verdacht 
auf  Himabsceß 


Lues    cerebri?   Tumor 
cerebri?  Hystene? 

jACKBONsche  Epilepsie 


Punktion  ohne  Einfluß 
auf  die  Diagnose 

Kein  Absceß.  Hämor 
rhagisehes  Menin- 
gealSdem 

Punktion  ohne  Einfluß 
auf  die  Diagnose 

Großes  Intraknmielies 
Hämatom 


Kleinhirn-  oder  Stirn-  Diagnose    auf   Tumor 
himtumor.    Lues   ce-i  sehr  erschüttert 
rebri? 

Großer  extra-  od.  intra- 
duraler Bluterguß 


Entfernter  Verdacht  auf 
Pachvmeningitis  hae- 
morrnagica  oder  Blu- 
tung aus  der  Menin- 
gea media 

Hirnblutung 


Früher:  Lues  cerebri 
oder  Paralysis  incip. 
Jetzt :  Zunehmender 
Himdruck  (ev.  infolge 
luetischen  Meningeal- 
ödems?  Vgl.  Fall  11) 


Hirnblutung 


Große  Blutung  in  der 
hinteren        Bchlldel 
gmbe  (vermutlich  in 
folge  Pachymeningitis 
haemorrhag.) 


ex  juvantibus :  Lues  ce- 
rebri 

Eiterijge  Meningit  nach 
Otitis  media 

Tumor  (^Elndothdiom)  d. 
motorischen  B^on 

Meningitis  chronica  se- 
rosa 

Geringer  extra-  u.  grö- 
ßerer intradural.  Blut- 
erguß. Starke  Hiro- 
zertrümmerung 

CSarcinoma  ventricoli 

ex  juvantibus :  Lues  ce- 
rebri. (Punktioo  lei- 
tet die  Heilung  du) 

Gumma  cerebri 


Intradurales  Hämatom 
(dnreh  sofortige  Ope- 
ration geheilt) 

ex  juvantibus :  Lues  «• 
rebri 

Großes  Hämatom  der 
Dura  (Pachymeningit 
haemorrhagica) 


Blutung  d.  inn.  Linseo- 
kapsel  mit  Durchbrucfa 
in  den  Seitenventrikel 

(Gelieilt  durch 
Ponktlon) 


Die  Himpanktion. 


857 


Diagnose 
nach  der  Punktion 


Diaffnooe  auf  Grund 

der  Sektion 

oder  Operation  bezw. 

ex  juTantibus 


18.  Wellnitz 

19.  Bork 

20.  R. 

21.  Bohl 

22.  Mallisch 

23.  Blhr 

24.  Freitag 

25.  Hartmann 

26.  Lindner 

27.  Trapp 

28.  Berg 

29.  Böhm 

30.  Nagel 


Hirntumor  (eT.  d.  link 
Facialis-  bezw.  Insel- 
gegend) 


ijACKSONsche  Epilepsie  Apoplektischer  Herd 


Kleinhirnabscefi 


Tumor  d.  hint.  Bchadel- 
grabe  oder  Meningitis 
serosa 


Verdacht  auf  H&matom 
der  Dura 


Verdacht  auf  trauma- 
tische Blutg.  d.  Hirn- 
oberflSche 

Verdacht  auf  Blutung 
aus  der  Meningea 


(rhinogener)  Himabsc. 
(später:  tuberkul.  Me- 
nmgitis) 

Eiterige  Meningit.  Ver- 
dacht auf  Himabsceß 

Himtum.  (ev.  Gumma) ; 
auch  Verid.  auf  pachy- 
meningitische  Blutung 


Möglichkeit  ein.  pachy- 
meningitischen  Blute. ; 
ev.  auch  Hlmabscä 


Blutung  aus  der  linken 
Meningea;  Basisfrakt. 


jACKBONsche  Epilepsie 


Funktion  ohne  Einfluß 
auf  die  Diagnose 


Meningitis  der  hinteren 
Schaaelg^ube;  ev.  aus 
der  Peripherie  eines 
Abscesses 

Basale  Meninffitis  der 
hinter.  Schfidd|grube ; 
nekrotisches  Himge- 
webe  daselbst 

Extra-  oder  intradurales 
H&matom 


Kleines  extradural.  Ex 
travasat  und  Contusio 
cerebri 


Glioma  apoplecticum  d. 
Basis  des  Schläfenlap- 
pens mit  nach  d.  Basis 
durchgebroch.  Blutg. 

Kleines  Glioma  apoplec- 
ticum (beginnende  Gli- 
ombildung)  u.  lokales 
Piaödem  (gebessert 
dueh  Operation) 

Eiterige  Meningit.  nach 
Otitis  media 


Kleinhirntuber- 
kel; tuberkul.  Menin- 
gitis spez.  d.hint.  Schä- 
delgrube ;  sekundär. 
Hydrocepbal.  int 

Subduraler  und  pialer 
Bluterg.  infolge  Durch- 
bruches einer  Blutung 
d.  inner.  Lansenkapsd 

(Punktloii  leitet  die 
Heilung  etat) 


Intradurale  Blutg.  von  Mäßig  grofi.  subduraler 
gering. In tensit; Hirn- 1  Bluterguß;    Hirnzer- 


kontusion 


Kein  Absceß 


trümmerung.  Degene- 
ration von  Herz  und 
Nieren 

Meningitis  tuberculosa 


Kein  Absceß;  eiterige 
Meningitis 

Punktion  ohne  wesent- 
lichen Einfluß  auf  die 
Diagnose;  kleine  Blu- 
tun^n  der  recht,  hint. 
Schädeigrube;  größere 
Blutung  ausgeSzhloss. 


Eiterige  Meningitis 

Glioma  apoplecticum  d. 
rechten  Hemisphäre; 
kleine  piale  Blutungen 
d.  recht  hint  Schädel- 
grube 


Keine  größere  Blutung;  ex  juvantibus:  Lues  oe- 
klein.  Blutung,  d.  hint  rebri  (Funktion  leitet 
Schädelgrube; akuter  die  Heünng  ein) 
Hjrdrocephalus  d. 
Seitenventrikel 


Blutung  aus  der  Me- 
ningea; Himzertrüm- 
merung 


Keine  Cyste 


Ausgedehnte  subdurale 
Blutergüsse  besonders 
der  linken  Seite;  Ck>n- 
tusio  cerebri ;  Basis- 
fraktur 


858 


Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 


Diagnose 
vor  der  Punktion 


Diagnose 
nach  der  Punktion 


Diagnose  auf  Grund 

der  Sektion 

oder  Operation  bezw. 

ex  juvan tibus 


31.  Witt 


32.  Buchholz 

33.  Schlie 


34.  Werner 


Erst:  LuescerebrL  Spa- 
ter: Tumor  cerebri  (der 
rechten  Hemisphäre?) 


Idiotin.    Himcyste? 

Verdacht  auf  trauma- 
tischen Himabscefi 

Eiterige  Meningit ;  Ver- 
dacht  auf  otitischen 
Hirnabscefi 


Sarkom  des 
Stlrnlappens  im  Be- 
reich unseres  ob.  Stim- 
Sunktes  7on  nidit  be- 
eutender  Flachenaus< 
dehnung  u.  zentr.  cyst. 
u.  blutiger  Erweichung 

Keine  Cyste 

Kein  Himabscefi 

Extradunder  Abseefi 
im  Bereich  d.  linken 
SehlAfenlappens ;  keio 
HimabsceU 


reehten  Entspricht  d.  Diagnose 
auf  Grund  der  J^ink- 
tion  in  allen  Punktoi! 
(Hellwig  dorek  Oiie- 
ratlon) 


Kein  HimabsceS 

Ektraduraler  Absceß 
(dnrek  Operation  ge- 
keUt) 


Vorstehend  geben  wir  eine  üebersicht  über  die  von  uns  punk- 
tierten FftUe.  In  der  ersten  Kolonne  die  Diagnose  vor,  in  der  zweiten 
die  nach  der  Punktion,  in  der  dritten  den  bei  der  Sektion  resp.  Ope- 
ration erhobenen  Befund  resp.  die  nach  dem  Verlauf  der  Krankheit 
wahrscheinliche  Diagnose. 

Dieser  Tabelle  lassen  wir  eine  kurze  üebersicht  über  die  wich- 
tigsten diagnostischen  Ergebnisse  der  Punktion  folgen: 

Tabelle  III:    Wichtigste  diagnostische  Ergebnisse. 


Nach  der  positiven  Seite 


Nach  der  n^ativen  Seite 


Fahl  (4)  gelbe  eiweißreiche  Cystenflüssig- 
keit 


Hermann  (1)  (kein  Abscefi) 

Pahl  (4)  (Funktion  8)  (kein  Absceß) 

Maas  (5)  (kein  Abscefi) 

Stark  (6)  (kein  Absceß) 


Lemeke  (9)  altes  Blut 


Jaeckel  (8) 
(Hydrocephalus  chronic,  kein  Tumor) 


Ück  (11) 
(Blutiges  Meningealödem ;  kein  Absceß) 
Handt  (13)  (altes  Blut) 
Kielgas  (15)  (altes  Blut) 
Adermann  (17)  (altes  Blut) 
Borek  (19)  (Hämatoidinkristalle) 
RoU  (21)  rserös-eiterige  Flüssiffkeit:  nekro- 

tiscnes  Gewebe;  gerinnselbildende  Veo- 

trikelflüssigkeit) 
Mallisch  (22)  (altes  Blut) 
Bttkr  (23)  (aus  altem  Blut  ausgepreßtes 

Serum;  zertrümmertes  Himgewebe) 
Böhm  (29)  (altes  Blut) 
Witt  (31)  (Tumorgewebe;  Cystenflüssigkeit) 
Werner  (34)  (Eiter) 


Fahnke  (14)  (wohl  kein  Tumor) 
Hartmann  (25)  (kein  Absceß) 
Lindner  (26)  (kein  Absceß) 
Nagel  (30)  (keine  Cyste) 
SchUe  (33)  (kein  Absceß) 


Die  Hirnpunktion.  859 

Unangenehme   Zwischenfälle  oder  Folgen  der  Punktion. 

Ehe  wir  kurz  im  Zusammenhange  die  wenigen  von  uns  bei  oder 
im  Anschluß  an  die  Punktion  beobachteten  unangenehmen  Nebenereig- 
nisse besprechen,  wollen  wir  anführen,  daß  wir  bisher  ISSmaP) 
punktiert  haben,  und  zwar  den  Stirnlappen  33mal,  den  Zentrallappen 
26mal,  den  Parietallappen  3mal,  den  Schläfenlappen  13mal,  den  Hinter- 
hauptslappen 3mal,  das  Kleinhirn  34mal,  die  Seitenventrikel  8mal  und 
an  den  KaÖNLEiNschen  Punkten  ISmal.  Da  diese  Punktionen  bei 
36  Patienten  vorgenommen  sind,  kommen  auf  einen  etwa  4  Punktionen. 

Die  am  häufigsten  punktierten  Fälle  sind:  Rohl  (mit  12  Punk- 
tionen), Pahl  (mit  12  Punktionen),  Witt  (mit  9  Punktionen),  Maass  und 
Freitag  (mit  je  8  Punktionen)  und  Jäckel  und  Lindner  (mit  je  7  Punk- 
tionen). 

Bei  der  Anwendung  der  von  uns  beschriebenen  Tecknik  haben  wir 
trotz  der  Anlegung  von  weit  über  100  Bohrkanälen  und  Punktion  durch 
dieselben  niemals  irgendwelche  Infektion  oder  auch  nur 
infektiöse  Reizung  der  Meningen  oder  Weichteile  erlebt. 

Eine  schnell  wieder  vorübergehende  Temperatursteigerung  beob- 
achten wir  ganz  vereinzelt  im  Anschluß  an  die  Punktion;  in  einem 
Fall  (Maass)  war  eine  Facialiskontraktur  damit  verbunden,  die  aber 
bald  wieder  verschwand. 

Zwischenfälle  bei  der  Punktion. 

Als  solche  kommen  nur  ganz  wenige  in  Betracht. 

Einmal  erlebten  wir  bei  einem  Patienten  [Wellnitz  (18)],  bei  dem 
wir  auf  einen  Hirntumor  fahndeten  und  der  in  der  Tat,  wie  die  Sektion 
lehrte,  an  einem  Glioma  apoplecticum  litt,  daß  es  bei  dem  starken 
Pressen  und  Sichsträuben  des  halb  benommenen  Mannes  augenschein- 
lich während  der  Probepunktion  zu  einer  Blutung  in  das  Gliom  mit 
Durchbruch  nach  der  Hirnbasis  kam,  an  deren  Folgen  der  Patient  bald 
starb.  Die  Punktion  war  aber  nicht  in  das  Gliom,  sondern  an  einer 
davon  ziemlich  entfernten  Stelle  gemacht  worden. 

Eine  Bedeutung  für  die  Hirnpunktion  kommt  unseres  Erachtens 
diesem  Ereignis  nicht  zu. 

Erwähnt  sei  noch  das  Auftreten  von  Geldzählbewegungen,  von 
Kaubewegungen,  sowie  Erbrechen  (das  aber  auch  vorher  schon  be- 
stand !)  gleich  nach  der  Punktion  bei  einem  Fall  von  chronischer  Menin- 
gitis [Jäckel  (8)]. 

Zweimal  unterbrachen  wir  die  Punktion,  als  wir  frisches  Blut 
aspirierten  (Weber  und  Kielgas).  In  beiden  Fällen  zeigte  die  Sektion, 
daß  es   sich  nicht   etwa   um   durch   die  Punktion  erzeugte  Blutungen 

1)  Dabei  ist  einige  Male  derselbe  Bohrkanal  für  mehrere  Punktionen 
benutzt  worden. 


860  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

handelte,  sondern  um  die  Aspiration  von  frischerem,  noch  nicht  ge- 
ronnenem Blute  aus  den  betreffenden,  absichtlich  punktierten,  prä- 
existenten Blutansammlungen  (das  eine  Mal  Apoplexie,  das  andere  Mal 
pachymeningitische  Blutung). 

Augenfällige  Verschlechterung  des  Zustandes  in  den  auf 
die  Punktion  folgenden  Stunden  sahen  wir  schließlich  bei  2  Fällen. 
Aber  in  dem  einen  Fall  (Pietsch)  von  Kleinhirnsarkom  und  mächtigem 
sekundärem  Hydrocephalus  war  offenbar  nicht  die  Punktion  als  solche. 
sondern  die  reichliche  Entleerung  von  Flüssigkeit  (100  ccm)  und  die 
damit  Hand  in  Hand  gehende  plötzliche  Druckänderung  die  Ursache 
der  Verschlechterung  (wie  das  bekanntlich  in  gleicher  Weise  auch  bei 
der  Lumbalpunktion  vorkommen  kann),  und  auch  in  dem  anderen  Fall 
{Weber  (16)],  wo  es  sich  um  einen  mächtigen  apoplektischen  Herd  mit 
schwersten  Hirndruckerscheinungen  handelte,  kann  man  die  Zunahme 
dieser  Symptome  nicht  auf  die  Punktion  schiebe,  die  sogar  durch 
Entleerung  von  etwas  Blut  druckvermindernd  wirkte. 

Es  ist  hier  der  Platz,  noch  etwas  über  die  von  uns  durch  Sektion 
resp.  Operation  erhobenen  Befunde  an  den  Punktionsstellen 
zu  sagen.  Schon  oben  (s.  Technik)  ist  die  prompte,  reaktionslose  Hei- 
lung betont  und  das  Wichtigste  über  das  Aussehen  der  Punktionsstelle 
gesagt  worden.  Zweimal  fanden  wir  einen  kleinen,  1  bis  höchstens 
2  mm  hohen  Hügel  aus  zusammengepreßtem  Bohrstaub  an  der  inneren 
Fläche  der  Dura,  der  einmal  noch  etwas  in  die  Hirnrinde  hinein  reichte. 
Neben  dem  Hügel  lag  in  dem  einen  Fall  noch  ein  winziger  Bohrsplitter. 
Durch  Vermeidung  von  unnötigem  Druck  beim  Bohren  kajon  man 
dieses  Hineindrücken  von  Bohrstaub  in  oder  durch  die  Dura  in  der 
Regel  vermeiden  (vergl.  Technik). 

Harmlos  und  ohne  jede  Bedeutung  sind  ferner  kleine  Suffusionen 
resp.  Extravasate  der  Haut,  des  Unterhautfettgewebes,  eventuell  auch 
des  Muskels  in  der  Umgebung  des  Bohrkanals,  wie  wir  sie  ganz  ver- 
einzelt bei  der  Sektion  antrafen;  ferner  Stecknadelkopf-  bis  linsengroße 
Suffusionen  der  Pia  in  der  Umgebung  einer  angestochenen  Hirnvene. 

Unangenehme  Befunde  erhoben  wir  in  folgenden  Fällen,  in  denen 
eine  größere  oder  geringere  Hirnhyperämie  bestand: 

1)  Fall  von  finaler  eiteriger  Meningitis  [Nickel  (2)] :  Etwas  flüssiges 
venöses  Blut  (im  ganzen  2  Fingerhut  voll)  extradural  an  der  Punk- 
tionsstelle. 

2)  Fall  von  schwerer  chronischer  Meningitis  serosa;  Erscheinungen 
eines  Hirntumors  [Jäckel  (8)J:  Von  7  Punktionsstellen  finden  sich  an 
vieren  zum  Teil  subdural,  zum  Teil  auch  im  Marklager  und  dem  ent- 
leerten Seitenventrikel  Blutextravasate,  deren  größtes  (im  Mark)  Hasel- 
nußgröße erreicht. 

Klinische  Erscheinungen  traten  trotzdem  nicht  auf  (außer  den  oben 


Die  Hirnpunktion.  861 

erwähnten  bedeutungslosen  Geldzähl-  und  Kaubewegungen).  Statt  eines 
80  häufigen  Durchpunktierens  in  einer  Sitzung,  wie  wir  das  in  diesem 
Falle  getan  haben,  wird  man  gewiß  gut  tun,  nach  einigen  vergeblichen 
Punktionen  abzubrechen  und  erst  dann  wieder  weiter  zu  punktieren^ 
wenn  man  sieht,  daß  keine  Folgeerscheinungen  auftreten. 

Außerdem  haben  wir  ab  und  zu  einmal  kleine  piale  bezw.  venöse 
Blutungen  von  Halberbsengröße  oder  dünne,  den  Stichkanal  begleitende 
Gerinnsel,  einmal  eine  größere  piale  Suffusion  gesehen,  niemals  irgend 
welche  darauf  zu  beziehenden  klinischen  Erscheinungen  beobachtet. 

Arterielle  oder  Sinusblutungen  sind  uns  nie  begegnet. 

ScUuB. 

Ueberblicken  wir  die  Resultate,  die  in  der  vorliegenden  Arbeit  zu- 
sammengestellt sind,  so  wird  folgendes  gesagt  werden  können: 

1)  Die  Punktion  und  Probepunktion  des  Gehirns  in  der  ange- 
gebenen Weise  stellt  sich  als  eine,  bei  einiger  Uebung  leicht  zu  hand- 
habende Vornahme  dar.  Sie  wird  bei  genügender  Vorbereitung  in 
wenigen  Minuten  und  ohne  Anwendung  der  Narkose  ausgeführt 

2)  Zu  ihrer  ersprießlichen  Ausübung  bedarf  es  erstens  der  An- 
wendung höchster  Rotationsgeschwindigkeit  und  eines  ganz  feinen, 
glatten,  platten  Bohrers;  ferner  neben  der  Benutzung  aller 
übrigen  Hülfsmittel  der  Hirndiagnostik  und  genügender 
Indikationsstellung,  der  Kenntnis  einer  Reihe  von  Punkten,  an 
denen  man  ohne  die  Gefahr  einer  Verletzung  größerer  Blutgefäße  oder 
sonstiger  lebenswichtiger  Teile  punktieren  kann. 

3)  Wir  haben  versucht,  eine  Reihe  solcher  Punkte  festzustellen, 
die  für  die  Zwecke  der  Probepunktion  besonders  geeignet  sind  und  ein 
möglichst  gefahrloses  Vorgehen  verbürgen  und  haben  an  diesen  eine 
große  Anzahl  von  Malen  punktiert 

4)  Bei  Einhaltung  gewisser,  von  uns  angegebener  Vorsichtsmaßregeln 
erschien  als  einzige  Gefahr,  mit  der  man  zu  rechnen  hat,  die  einer 
Blutung. 

Die  arterielle  (Meningea-)Blutung  konnte  durch  die  richtige 
Wahl  der  Punktionsstellen  mit  großer  Sicherheit  vermieden  werden. 
Wir  haben  bei  138  Punktionen  keine  arterielle  Blutung  gehabt  Der 
untere  Teil  der  motorischen  Region  in  der  Umgebung  der  SYLVischen 
Furche  muß  indessen,  wenn  möglich,  vermieden  werden  bezw.  muß  das 
höhere  Risiko  durch  eine  dringende  Indikation  gerechtfertigt  sein. 

Sinusverletzungen  können  unter  allen  Umständen  vermieden 
werden. 

Was  die  Verletzung  der  oberflächlichen  Hirnvenen  betrifft,  so 
gilt  für  die  untere  motorische  Region  und  die  Fossa  Sylvii  das  eben 
bei  der  arteriellen  Blutung  Gesagte ;  im  übrigen  ist  zwar  das  Anstechen 
von   Hirnvenen    nicht   mit   Sicherheit   zu   vermeiden,   in    der    weitaus 


862  Ernst  Neisaer  und  Kurt  Pollack, 

größten  Mehrzahl  aller  Fälle  handelt  es  sich  aber  um  kleine,  gänzlich 
unbedeutende  Extravasate. 

Leute  mit  starker  Himhjperämie  (Plethorische,  mit  stark  gerötetem 
Gesicht!  Pressen,  Jaktation)  neigen  stärker  zu  Blutungen;  bei  ihnen 
kann  unter  Umständen  einmal  die  Narkose  indiziert  sein. 

5)  Die  Punktion  hat  uns  bei  der  Diagnose  der  Art  und  des  Sitzes 
verschiedener  Hirnleiden  sowohl  durch  Ausschluß  von  Erkrankungen, 
die  eventuell  eine  Operation  erfordert  hätten,  wie  durch  Zutagefordern 
von  altem  Blut  in  verschiedenen  Formen,  Hämatoidin,  Cystenflüssigkeit 
Liquor,  Eiter,  serös-eiteriger  Meningealflüssigkeit,  sowie  Tumorpartikel- 
chen vorzügliche  Dienste  geleistet  und  hat  in  einer  Reihe 
von  Fällen  durch  rechtzeitige  operative  Entleerung  großer 
Blutergüsse,  eines  extraduralen  Abscesses,  Entfernung  eines  sehr  kleinen 
und  eines  walnußgroßen  Hirntumors  —  schließlich  auch  ohne  nach- 
folgende Operation  durch  Entleerung  von  Cystenflüssigkeit^  Blut. 
blutigem  Serum  —  abgesehen  von  sehr  günstigen  Wirkungen  gerin- 
gerer Art  —  lebensrettend  gewirkt. 

Knnkeiigescliiehteii, 

L  G.  Hermann,  37  J.,  24.  Jan.  1903  bis  31.  Jan.  1903  (f). 

Anamnese:  P.  arbeitet  viel  mit  Blei ;  war  früher  gesund ;  seit 
November  Schwindel,  Erbrechen,  Ohnmächten,  Appetitlosigkeit,  Lieib- 
schmerzen,  unregelmäßiger  Stuhl  (wegen  Bleivergiftung  ärztlich  behandelt). 
Gestern  nachmittags  Yj^  ^^^  ^^^^  ^  seinem  Zimmer  von  Nachbarn  ge- 
hört !  1 1  Uhr  abends  bewulitlos  aufgefunden ;  er  war  blaß  und  schnarchte. 
Sofortiger  Transport  ins  Krankenhaus.     P.  erbricht  dabei. 

Befund:  Auffallende  Blässe,  tiefes  Coma,  schnarchende  Atmung. 
Parese  im  rechten  Arm.  Patellarreflexe  gesteigert,  Puls  100,  sehr  klein, 
Pupillen  stecknadelkopfgroß.     Kein  Fieber. 

25.  Jan.  Temperatur  39,2;  sonst  Status  idem.  Leichte  Zuckungen 
im  rechten  Bein. 

26.  Jan.  Parese  des  rechten  unteren  Facialis.  Urin  frei  von  Eiweiß. 
Der  zweite  Aortenton  klappt  deutlich.  Puls  116.  Atmung  unregelmäßig, 
sehr  beschleunigt.  Starke  Schweiße.  Während  der  nächsten  Tage  hält 
das  Fieber  und  das  tiefe  Coma  an. 

Diagnose:  Zu  Anfang  an  Hirnblutung,  später  an  eiterigen  Prozeß 
in  der  Schädelhöhle  gedacht.  Daher:  29.  Jan.  Hirnpunktion;  Bereich  des 
linken  Facialis  resp.  Armzentrums.  Ohne  Ergebnis.  Also  kein  Hirnabsceß  hier. 

31.  Jan.  Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Kleine  Blutungen  in  beiden  Linsenkapseln, 
chronische  Nephritis,  Säuferveränderungen  in  den  verschiedensten  Organen. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Zwei  feine  perforierende  Kanäle 
am  Schädel,  an  der  Dura  entsprechen  ihnen  zwei  kaum  linsengroße  Flecken, 
deren  Peripherie  rot,  deren  Zentrum  grau  weißlich  gefärbt  ist.  In  letzterem 
eine  minimale  Stichöffnung.  Pia  hier  ohne  Besonderheiten,  speziell  keine  Spur 
von  Blutungen ;  auch  im  Gehirn  von  den  Stichkanälen  nichts  mehr  zu  sehen. 

2.  A.  Nickel,  19  J.,  1.  Febr.  1903  (aufgenommen  und  gestorben). 

P.  wird  vormittags  in  völlig  benommenem  Zustand  mit  hohem  Fieber 


Die  Himpunkiion.  863 

und  den  ausgeprägten  Zeichen  einer  Meningitis  eingeliefert.  Anamnestisch 
nur  zu  erfahren :  Früher  rechtsseitige  Mittelohrentzündung,  jetzt  seit  einigen 
Tagen  mit  Fieber  und  schweren  Allgemeinerscheinungen  erkrankt  und  bald 
bewußtlos  geworden« 

Lubalpunktion :  Wasserklare  Flüssigkeit^). 

Da  an  otitischen  Hirnabsceß  gedacht  wird: 

Punktion  I  des  rechten  Schläfenlappens;  ohne  Ergebnis. 

Punktion  II.  Rechtes  Kleinhirn :  Aus  ziemlicher  Tiefe  wird  reiner 
Eiter  entleert. 

Diagnose:  Rechtsseitiger  Kleinhirnabsceß.  Operation  nicht  mehr 
möglich,  da  Pat.  stirbt. 

Sektionsdiagnose:  Diffuse  eiterige  Meningitis  im  Anschluß  an 
eine  rechtsseitige  eiterige  Otitis  media. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll.  Die  zwei  Punktionskanäle  im 
Schädel  ohne  Besonderheiten.  An  der  temporalen  Punktionsstelle  extra- 
dural zwei  Fingerhut  voll  Cruormassen,  die  der  Dura  locker  aufliegen. 
Unter  der  Dura  an  dieser  Stelle  einige  flächenhafte  kleine  Blutgerinnsel . . . 
Zwischen  dem  Tentohum  und  Kleinhirn,  sowie  zwischen  ersterem  und 
dem  Hinterhauptslappen  findet  sich  eine  reichliche  Anhäufung  teils  festerer, 
teils  flüssiger  eiteriger  Massen  (hiervon  bei  der  Punktion  Eiter  aspiriert!). 

8.  E.  Pietsch,  6  J.,  8.  Okt.  1902  bis  6.  Nov.  1902. 

Anamnese:  Früher  gesund,  Kopf  seit  der  Oeburt  auffallend  groß; 
mit  5  Jahren  Pneumonie.  Seit  Mai  1902  allmählich  erkrankt  mit  Kopf- 
schmerzen, Erbrechen,  Schief  halten  des  Kopfes,  taumelndem  Gang,  Fallen 
nach  links. 

Befund:  Intelligenter  kräftiger  Junge,  gut  genährt,  Kopf  auffallend 
groß.  Kopf  umfang  54^5  cm  (statt  51  cm).  Kopf  immer  nach  links  ge- 
neigt (Zwangshaltung).  Schädelnähte,  besonders  Eli-anznaht,  verdickt. 
Pupillen  mittelweit,  reagieren.  Doppelseitige  schwere  Stauungspapille  mit 
Uebergang  in  Atrophie.  Taumelnder  spastischer  Gang.  Fallen  nach  links, 
Patellarreflexe  stark  gesteigert,  Fußklonus.     Sensibilität  normal. 

Lumbalpunktion:  Druck  sa  1360(!)  mm.  Wasserklare,  farblose 
Flüssigkeit,  die  kein  Gerinnsel  bildet,  von  ^/2Voo  Albumen;  spezifisches 
Gewicht  1008. 

Verlauf:  Häufige  leichte  Temperatursteigerungen;  ab  und  zu  Er- 
brechen. 

Diagnose:  Zu  Anfang  Tumor  der  hinteren  Schädelgrube,  später 
Meningitis  serosa  auf  der  Basis  eines  schon  länger  bestehenden  Hydro- 
cephalus  (mäßigen  Grades). 

Therapie:  Lumbalpunktionen.     Schmierkur.     Jodkali. 

Aufenthalt  IL     27.  Febr.  bis  13.  März  1903. 

Pat.  kommt  wegen  Verschlechterung  speziell  des  Ganges  wieder  herein. 
Status  wie  früher,  Kopf  noch  größer  geworden.  Umfang  58  cm.  Kein 
Fieber.  Da  durch  Lumbalpunktion  keine  Flüssigkeit  mehr  zu  entfernen, 
so  wird  am  4.  März  1903  die  Punktion  des  linken  Seitenventrikels  vor- 
genommen. Ganz  allmählich  ca.  100  ccm  Liquor  abgelassen.  5. — 11.  März. 
Status  idem.  12.  März.  Plötzlicher  Fieberanstieg  auf  39,2,  später  40,3, 
Puls  über  140.  Klonische  und  tonische  Beugekrämpfe  in  den  Extremitäten. 
Erbrechen,  Durchfälle,  Kopfschmerzen,  Nackenstarre  angedeutet. 

Diagnose:  Meningitis  infolge  Schädelpunktion. 


1)  Nach  24  Stunden  bildete  sich  ein  Gerinnsel  in  der  Flüssigkeit. 


864  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

Sektionsdiagnose:  KleichimBarkom  mit  enormem  sekandiren 
Hydrocephalus  intemas.     Keine  Spur  von  Meningitis! 

Ans  dem  Sektionsprotokoll:  ...  Stirn-  und  Scheitelbeine  in 
der  Eoronamaht  ganz  locker  verbunden,  lassen  sich  mit  leichter  Mühe 
gegeneinander  verschieben.  Schädeldach  papierdünn !  .  .  .  Der  Bohrkanal 
ist  an  seiner  äußeren  Mündung  durch  einen  kleinen  graugelben  Pfropf 
verschlossen  (Orsnulationsgewebe) ;  innere  Mündung  stecknadelspitzgroS, 
keine  Spur  von  Eiterung  oder  Entzündung  .  . .  Die  Großhirnhemisphären 
bilden  einen  großen  fluktuierenden  Sack,  Gyri  und  Sulci  ganz  verstrichen . . . 
Ventiikel  enorm  erweitert  mit  massenhafter,  fast  klarer  Flüssigkeit  an- 
gefüllt ...  Im  Kleinhirn  ein  zentral  sitzender,  kleinapfelgroßer  Tumor, 
weich,  grau-weißlich,  zentrale  Teile  völlig  erweicht  zu  bräunlichen  Massen. 
Der  Tumor  drückt  auf  die  Vena  magna  Galeni  und  reicht  noch  weit  in 
beide  Kleinhimhemisphären  hinein. 

4.  B.  Pahl,  47  J.,  Hülfsweichensteller.  Aufenthalt  I.  13.  Jan.  1903 
bis  22.  JuU  1903. 

Anamnese.  Oktober  1902.  Quetschung  der  rechten  Hand  zwischen 
zwei  Eisenbahnpuffem.  Zur  selben  Zeit,  kurz  darauf  oder  auch  vorher 
schon  mäßige  Stimkopfsch  merzen.  Neujahr  1902/1908  Verschlimmerung 
der  Kopfschmerzen,  unsicherer  Gang,  ab  und  zu  Erbrechen. 

Seit  2  Tagen  heftigste  Kopfschmerzen,  ganz  unsicherer  Gang,  Fat. 
konnte  sich  kaum  erheben.     Appetitlosigkeit,  Verstopfung. 

Befund:  13.  Jan.  £[räftiger,  großer  Mann,  schwankt  und  taumelt 
beim  Gehen,  klagt  über  intensive  Kopfschmerzen,  die  von  der  Stirn  ins 
Hinterhaupt  ausstrahlen.  Kein  Klopfschmerz,  Pupillen  ohne  Besonder- 
heiten, Patellarreflexe  vorhanden,  Puls  52,  mittelkräftig.  Kein  Fieber. 
Augenhintergrund  normal;  geringe  Albuminurie,  linker  Mundwinkel  hängt 
beim  Sprechen  etwas  herunter.  Gaumensegel  beim  Intonieren  gut  ge- 
hoben, Bomberg  stark  positiv.  Pat.  ist  auffallend  still,  doch  nicht  eigent- 
lich benommen.  Keine  Lähmungen.  Angabe  der  Prau:  Zwei  Abort«, 
ein  Kind  lebt,  Infectio  negatur. 

Verlauf:  20.  Jan.  Lumbalpunktion.  Starker  Ueberdruck,  klare 
Flüssigkeit,  kein  Gerinnsel. 

21.  Jan.  bis  28.  Jan.  Erbrechen,  Kopfschmerz,  Pulsverlangsamung 
halten  an,  Benommenheit  nimmt  zu.     Gehen  und  Stehen  unmöglich. 

2.  Febr.  Sopor. 

Punktion.  L  Bechtes  Stirnhirn,  ganz  oberflächlich  einige  Gubikcenti- 
meter  liquor  aspiriert. 

Punktion  IL     Linkes  Stirnhim:  ohne  Ergebnis. 

11.  Febr.  Punktion  III.  Bechtes  Kleinhirn,  etwas  normale  Him- 
substanz. 

14.  Febr.  Der  Sopor  geht  in  Coma  über.  Puls  enorm  ver- 
langsamt, aussetzend;  3  —  4  Atemzüge  pro  Minute.  Pat. 
macht  den  Eindruck  eines  Sterbenden. 

Punktion  IV.  Linkes  Stirnhim.  Alter  Stichkanal.  Ziemlich  ober- 
flächlich wird  Liquor  cerebrospinalis  entleert  (deutlicher  Ueberdruck; 
30  ccm  abgelassen). 

Punktion  V.  Linkes  Kleinhirn,  ganz  oberflächlich  wird  eine 
klare,  intensiv  gelb  gefärbte  Flüssigkeit  aspiriert,  die 
schon  nach  wenigen  Minuten  spontan  gerinnt  (25  ccm  werden  ent- 
leert). Sofort  darauf  Lumbalpunktion:  Klare,  farblose  Flüssigkeit  ent- 
leert   sich    ohne  Ueberdruck.     Sehr    bald   nach   der  Punktion    völliger 


Die  HimpunktioD.  865 

Umschwung  im  Befinden,  Benommenheit  verschwindet, 
Puls  hebt  sich,  Atmung  wird  regelmäßig.  Fat.  nimmt  an 
allem  teil,  lacht,  witzelt 

16.  Febr.  Erysipel^)  von  einem  vorderen  Bohrloch  ausgehend. 

Ende  Februar  nach  Ueberwanderung  des  rechten  Ohres  Abheilung 
des  Erysipels.  Otitis  media  dextra  purulenta.  Anfang  März  zunehmende 
Benommenheit,  doppelseitige  ausgesprochene  Stauungs- 
papille. 

Punktion  VI.  Linkes  Kleinhirn,  alte  Stelle:  ca.  20  ccm  spontan 
schnell  gerinnende  Flüssigkeit  entleert,  gelb,  klar.  Bald 
darauf  Besserung  des  Befindens,  Pat.  nimmt  wieder  gut  Nahrung 
zu  sich. 

7.  März.  Fieberanstieg  bis  40 ^  Lumbalpunktion:  Trübe  Flüssig- 
keit. Darin  massenhaft  Leukocyten  und  intracelluläre  Diplo- 
kokken. 

Pat.  ist  unklar,  klagt  über  ausstrahlende  Schmerzen  in  beiden  Beinen. 
Therapie:  EoUargol. 

11.  März.  Lumbalpunktion:  Flüssigkeit  klar,  setzt  kleines  Gerinnsel 
ab,  keine  Bakterien,  Fieberabfall,  Euphorie! 

13.  März.  Fieberanstieg,  Puls  100.  Temperatur  39,0.  Keinerlei 
Schmerzen.     Keine  Nackenstarre.     Augenhintergrund  fast  normal. 

Lumbalpunktion:  Erhöher  Druck,  trübe  Flüssigkeit.  Darin  massen- 
haft Leukocyten,  Diplokokken  in  Semmelform,  intracellulär,  auch  in 
Tetraden,  entfärben  sich  bei  starker  Oramentfkrbung. 

Therapie :  Kollargol.  15.  März.  Entfieberung.  Im  Verlauf  des  März 
gehen  alle  Symptome  zurück.  Das  Körpergewicht  steigt  auf  70,5  kg. 
Augenhintergrund  normal. 

April.  Ausgezeichnetes  Allgemeinbefinden,  kein  Fieber,  Puls  zwischen 
100  und  140. 

20.  April.     Körpergewicht:  85  kg! 

Anfang  Mai.  Eechtes  Ohr  läuft  wieder,  Senkung  der  oberen  Wand 
des  Meatus  acusticus ;  Kopfschmerzen  in  der  Stimgegend. 

4.  Mai.  Gewicht  89,5  kg.  Die  Ohrerscheinungen  gehen  ohne  Ein- 
griff zurück. 

In  den  nächsten  Tagen  Unsicherheit  aufden  Beinen,  dauernde 
Kopfs  ohmerzen. 

18.  Mai:  Lumbalpunktion:  normale  Verhältnisse. 

23.  Mai.  Unsicherheit  beim  Oehen  nimmt  zu.  Pat.  fällt  leicht 
nach  rechts;  Augenhintergrund  normal.  Puls  80,  kein  Fieber.  Starker 
Schwindel  beim  Aufsein. 

25.  Mai.     Starker  Kopfschmerz. 

26.  Mai.  Erbrechen.  Puls  geht  von  120  allmählich  auf 
70  herunter. 

27.  Mai.     Augenhintergrund  normal. 

Punktion  VII.  Linkes  Kleinhirn  punktiert.  40  ccm  der  früher 
beschriebenen  Flüssigkeit  entleert,  die  bald  erstarrt.  Eiweißgehalt 
3  Proz.;  spezifisches  Gewicht  1010.  Nach  der  Punktion  sinkt  der  Puls  zu- 
nächst  auf  50 — 60.     Brechneigung.     Nachmittags   fühlt  sich  Pat.  besser; 


1)  Zur  Anlegung  des  Bohrkanals  war  der  Thermokauter  benutzt 
worden,  eine  unzweckmäßige,  später  nicht  mehr  angewandte  Methode 
(vergl.  die  Technik). 


866  Ernst  Neisser  und  Enrt  Pollack, 

Puls   hebt  sich,   Pat.  kann  im  Bett  ohne  Schwindelgefühl  auf- 
sitzen! 

28.  Mai.    Pat  geht  mit  nur  leichter  Unsicherheit.    Puls  8<j. 

29.  Mai.  Schwindelgefühl  beim  Aufsitzen;  Kopfschmerzen  in  der 
rechten  Kopf-  bezw.  Stirnhälfte. 

Lumbalpunktion  (zum  Ausgleich  eines  vielleicht  nach  der  Himpunk- 
tion  entstandenen  negativen  Druckes):  Druck  145  mm,  Wasser,  ganz 
klare  Flüssigkeit,  42  ccm  entleert.     Euphorie! 

31.  Mai.     Befinden  ausgezeichnet.     Pat.  geht  normal. 

Bis  zum  28.  Juni  völliges  Wohlbefinden  bis  auf  geringe  Schmerzen 
in  der  rechten  Kopfhälfte.  Vom  28.  Juni  an  wieder  Schwächegefübl  in 
den  Beinen;  stärkere  Schmerzen  in  der  rechten  Scheitelgegend  (Verdacht 
auf  Abscefi). 

2.  Juli.  Punktion  VIII  des  rechten  Scheitellappens;  ohne  Ergebnis 
(also  kein  AbsceE).  In  der  nächsten  Zeit  gehen  die  Beschwerden  allmäh- 
lich ganz  zurück.  Pat  wird  am  27.  Juli  so  gut  wie  geheilt  ent- 
lassen. Er  stellt  sich  später  noch  mehrmals  vor,  ist  dauernd  bescbwerde- 
frei  und  hat  seine  Arbeit  in  vollem  Umfang  wieder  aufgenommen. 

Diagnose.  Vor  der  Punktion :  Verdacht  auf  Hirntumor,  nach 
der  Punktion:  Meningealcyste  der  linken  hinteren  Schädel- 
grube resp.  umschriebene  Meningitis  mit  einzelnen  allgemein  meningiti- 
schen  Schüben. 

Aufenthalt  IL  27.  Okt.  bis  12.  Dez.  1903.  Bis  vor  2  Wochen 
vollkommen  gesund,  seitdem  halbseitiger  Kopfschmerz  rechts,  taumeln- 
der Gang.     Zur  Zeit  heftiger  Kopfschmerz. 

Befund.  Pat.  ist  sehr  stark  geworden  (185  Pfund);  Augenbinter- 
grund  normal.  Druckschmerzhafügkeit  der  rechten  Supraorbitalgegend, 
Oang  unsicher.  Romberg  stark  positiv.  Kein  Fieber.  Puls  54.  Urin 
frei  von  Eiweiß  und  Zucker.     Subjektiv:  Kopfschmerz  und  Schwindel. 

28.  Okt.     Beschwerden  nehmen  zu. 

29.  Okt.  Punktion  IX.  Linkes  Kleinhirn  (alter  Kanal) ;  20  g  der 
bekannten  gelblichen  Flüssigkeit  entleert,  die  zum  Teil  gallertartig  gerinnt ; 
darin  Eiweiß  2  Proz. 

30.  Okt.  Schwindelgefühl  nimmt  zu,  daher  Lumbalpunktion  zum 
Druckausgleich  (17  ccm  abgelassen).  Abends  Schwindel  und  Kopf- 
schmerz verschwunden.     Puls  64. 

In  den  folgenden  Tagen  Verschlechterung.'  Kopfschmerz,  Schwin- 
del, Taumeln,  Druckpuls. 

12.  Nov.  Punktion  X.  Alte  Stelle  (neuer  Kanal).  Oberflächlich 
15  ccm  intensiv  gelber  klarer  Flüssigkeit  aspiriert;  sie  gerinnt  spontan; 
4  Proz.  Eiweiß.  —  Aus  der  Tiefe  20  g  farbloser,  hauchartig  getrübter 
Flüssigkeit  entleert,  die  nicht  gerinnt  und  nur  Spuren  Eiweiß  enthält 
(Liquor!).    Puls  steigt  auf  80,  Beschwerden  gehen  zurück. 

12.  Dez.     Beschwerdefrei  entlassen. 

Aufenthalt  II L  6.— 15.  April  1904.  Bis  vor  3  Tagen  gesund, 
dann  stellten  sich  die  alten  Beschwerden  wieder  ein  und  sind  im  An- 
wachsen begriffen.  Kopfschmerzen  jetzt  in  der  linken  Kopfhälfte, 
speziell  im  linken  Hinterhaupt.  Pat.  kommt  zur  Punktion  herein! 
Befund :  Mäßiges  Schwanken  beim  Gehen,  Augenhintergrund  normal,  kein 
Fieber,  Puls  70. 

Punktion  XI.  Alte  Stelle  (neuer  Kanal  angelegt).  35  g  der  be- 
kannten  gelben  Flüssigkeit    entleert  (nur  so  viel,  wie  von  selbst  abfließt). 


Die  Hirnpunktion.  867 

Tiefe  der  Cyste  zu  2«/^  cm  bestimmt.  Nach  ihrer  Passierung 
Stückchen  normaler  Hiinsubstanz  aspiriert 

Beschwerden  gehen  zurück,  sind  nach  4  Tagen  verschwunden. 

Vorstellung  auf  dem  Kongreß  für  innere  Medizin, 
Leipzig,  18.— 20.  April  1904. 

Aufenthalt  IV.  26.-— 30.  April.  Da  nach  dem  Kongreß  wieder 
alte  Beschwerden. 

26.  April.  Punktion  XII.  Durch  den  letzten  Kanal  entleert,  was  zu 
aspirieren  ist  (3  6  g  zeisiggelber,  spontan  gerinnender  Flüssigkeit).  Besse- 
rung des  Befindens.  Auf  Wunsch  des  Pat.  Lumbalpunktion:  Starker 
Ueberdruck;  30  g  Liquor  entleert.     Danach  ist  Pat.  beschwerdefrei. 

Als  geheilt  entlassen.     (Seitdem  völlig  gesund.) 

6.  H.  Maass,  Böttcher,  54  Jahre,  19.  März  bis  2.  Mai  1903. 

Anamnese:  Früher  immer  gesund.  Vor  8  Wochen  traten  heftige 
Kopfschmerzen  auf,  besonders  nachts,  die  in  den  letzten  2  Wochen  uner- 
träglich wurden.  Die  Schmerzen  beginnen  in  der  Stirn  und  strahlen  in 
den  Nacken  aus,  Pat.  hat  4  gesunde  Kinder,  mehrere  starben  im  jugend- 
lichen Alter,  keine  Aborte  der  Frau;  Infectio  negatur. 

Befund:  Leichte  Benommenheit.  M.  kann  sich  nur  mit  fremder 
Hilfe  aufrichten.  Gang  stark  schwankend,  M.  iUUt  nach  rechts.  Romberg 
positiv;  keine  Lähmungen,  Augenhintergrund  normal.  Puls  klein,  stark 
verlangsamt  48 !  Kein  Fieber,  Urin  frei.  Es  bestehen  unerträgliche  Kopf- 
schmerzen. —  Ord:  Jodkali,  Schmierkur. 

Diagnose:  Lues  cerebri,  jedoch  zeitweise  Verdacht  auf  Absceß. 

22.  März.     Lumbalpunktion,  normale  Verhältnisse. 
Punktion  I  und  II.     Beide  Kleinhirnhemisphären. 
Punktion  III  und  IV.     Beide  Stimhimlappen. 
Punktion  V  und  VI.     Beide  Seitenventrikel. 

Ergebnis  aller  6  Punktionen  negativ.  Befinden  nach  den  Punktionen 
etwas  besser;  Schlafsucht,  kein  Fieber. 

23.  März.  Abends  Temperaturanstieg  auf  39  <^;  Puls  80,  Kontraktur 
des  rechten  Facialis.  Verbandwechsel:  Punktionsöfihungen  ohne  Be- 
sonderheiten. 

Lumbalpunktion  wiederholt:  Normale  Verhältnisse. 

Punktion  VIL     Linkes  Facialiszentrum. 

Punktion  VIII.     Linker  Schläfenlappen. 

Beide  ohne  Ergebnis. 

Verdacht  auf  Hirnabsceß  endgültig  fallen  gelassen. 

In  den  nächsten  Tagen  gehen  die  Kopfschmerzen  zurück,  Pat.  wird 
klarer,  Fieber  verschwindet.  Puls  70.  In  den  letzten  Tagen  des  März 
noch  einmal  Verschlechterung,  Puls  52!  Kopfschmerzen,  Benommenheit. 
M.  läßt  unter  sich,  kein  Fieber.  Im  April  allmähliche  Besserung.  Kopf- 
schmerzen verschwinden.  Puls  hebt  sich  auf  80.  Pat  wird  völlig  klar, 
Gang  zuerst  noch  unsicher,  später  normal.     Starke  Gewichtszunahme. 

2.  Mai.     Geheilt  entlassen. 

Diagnose:  Lues  cerebri. 

e.  Karl  Stark,  Arbeiter,  42  Jahre,  14,-15.  Mai  1903.   f. 

Pat.  wird  aus  der  Polizeiwache  hereingebracht,  wo  er  Krämpfe  gehabt 
haben  soll.     Anamnese  fehlt. 

Befund:  Kräftiger  Mann,  leicht  ikterisch,  deliriert.  Temperatur  39,4, 
Puls  60.     Nackenstarre   und  Nackenschmerzhafdgkeit.     Pupillen  different, 


868  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

reagieren  träge.  Totale  rechtsseitige  Hemiplegie!  Augenhintergrund  nor- 
mal. Lumbalpunktion:  816  mm  Wasserdruck.  Spinalflilssigkeit  trübe, 
enthält  Eiter  und  Diplokokken. 

Diagnose:  Eiterige  Meningitis. 

15.  Mai.  Totale  Benommenheit.  Temperatur  40,2  <>.  Puls  70!  Lumbal- 
punktion wie  gestern.     Da  Verdacht  auf  linksseitigen  Himabsceß: 

Punktion  I  des  linken  Schläfenlappens. 

Punktion  II  des  linken  Zentrallappens. 

Punktion  III  des  linken  Kleinhirns. 

Alle  Punktionen  ohne  Ergebnis. 

Pat.  stirbt. 

Diagnose:  Meningitis  purulenta,  kein  Absceß. 

Sektionsdiagnose:  Diffuse  eiterige  Meningitis  im  Anschluß  an 
alte  Otitis  media  dextra.  Trübe  Schwellung  der  parenchymatösen  Organe, 
Lungenödem  etc. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Die  Stellen  der  Himpunktion 
«ind  nicht  mehr  aufzufinden. 

7.  Frau  A.  Brandt,  29  Jahre,  8.  Juni  bis  26.  Juli. 

Anamnese:  Als  junges  Mädchen  öfters  Kopfschmerzen.  Oktober 
1902  Partus,  seitdem  allmählich  mit  Nackenschmerzen  erkrankt.  Ende 
April  fiel  dem  Mann  zunehmende  Apathie  und  unsicherer  Gang  auf,  dann 
«teilte  sich  öfters  Erbrechen  ein  und  völlige  Appetitlosigkeit;  Frau  B. 
wurde  dauernd  bettlägerig. 

Befund:  Pat.  macht  dementen  Eindruck,  antwortet  auf  Fragen  erst 
nach  langem  Besinnen  mit  lauter  Stimme.  Beim  Versuch  zu  gehen  knickt 
sie  in  den  Knieen  ein  und  fällt  nach  hinten  und  rechts.  Der  Kopf  sinkt  in 
aufrechter  Haltung  nach  rechts  und  hinten.  Pupillen  reagieren  träge, 
rechte  Pupille  weiter  als  die  linke.  Deviation  conjuguee  nach  rechts. 
Doppelseitige  Stauungspapille.     Druckpuls  (40),  kein  Fieber. 

Diagnose:  Kleinhirn-  oder  Stirnhirntumor. 

12.  Juni.  Punktion  beider  Stimlappen  und  Kleinhirnhemisphären 
ohne  Ergebnis.  Schließlich  Punktion  des  linken  Seitenventrikels  (entleert 
«twas  Liquor). 

Diagnose  nach  der  Punktion:  Vermutlich  kein  Kleinhirn-  oder 
Stirnhirntumor.  —  In  der  folgenden  Zeit  nimmt  die  Apathie  zu.  Pat.  läßt 
dauernd  unter  sich,  ab  und  zu  Erbrechen,  kaum  merkliche  Parese  des 
linken  Facialis  und  der  rechten  Extremitäten  (?).  Pat.  hebt  öfters  den  linken 
Arm  hoch  und  hält  ihn  einige  Zeit  von  sich  gestreckt. 

29.  Juni.     Schlucken  unmöglich,  Fütterung  mit  der  Sonde. 

Vom  13.  Juli  an  Temperaturanstieg,  der  nach  einigen  Tagen  40^  er- 
reicht.    Puls  kaum  zählbar,  über  160. 

Exitus  am  20.  Juli. 

Sektionsdiagnose:  Apfelgroßes  Endotheliom  der  Dura  im  Bereich 
der  rechten  motorischen  Region. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Nach  Abnahme  des  Schädeldaches 
fällt  sofort  etwa  im  Bereich  der  rechten  motorischen  Region  eine  zwei- 
markstückgroße Delle  der  Dura  auf,  in  die  man  bequem  den  Daumenballen 
legen  kann.  An  der  Innenseite  des  Schädeldaches,  genau  in  die  Delle 
hineinpassend,  eine  flache,  hügelartige  Exostose  der^Lamina  interna!  So- 
fort wird  durch  die  Dura  hindurch  mit  einer  Punktions- 
spritze Substanz  aspiriert.  In  dem  schmutzig  grau  gelben 
Brei,     der    herausbefördert    wird,    finden    sich    mikrosko- 


Die  Himpunktion.  869 

pische  Nester  von  großen  Spindelzellen;  danach  Diagnose 
Spindelzellensarkom.  —  Sämtliche  Punktionsstellen  ohne  Zeichen 
von  Entzündung.  Bohrlöcher  durch  graurötliche  Massen  verschlossen. 
Beim  Abziehen  der  Dura  haftet  diese  im  Bereich  der  Delle  fest  der 
darunterliegenden  Substanz  an.  Diese  Substanz  ist  Tumormasse  von  grau- 
roter Farbe.  Der  Tumor,  konsistenter  als  die  umliegende  Hirnsubstanz 
und  scharf  von  ihr  abzugrenzen,  etwa  halbkugelig  (Basis  an  der  Hirn- 
oberfläche) mit  einem  Durchmesser  von  etwa  7  cm  schiebt  sich  im  Bereich 
der  unteren  und  mittleren  motorischen  Region,  die  Gjri  auseinander- 
drängend, etwa  im  Bereich  des  Sulc.  praecentralis  in  die  Himsubstanz  ein ; 
an  der  Oberfläche  etwas  über  sie  prominierend  und  mit  seinem  oberen 
Rand  noch  2  Finger  breit  vom  Sulc.  medianus  entfernt.  £r  läßt  sich 
leicht  aus  dem  Oehim  herausschälen  und  erscheint  von  der  Größe  eines 
mäßigen  Apfels  (reicht  4  cm  in  die  Tiefe). 

8.  Fräulein  A.  Jaeckel,  65  Jahre,  2.— 31.  Juli  1903.  f. 

Anamnese  (von  der  Schwester  erhoben): 

Fat  früher  kräftig,  bis  vor  2  Jahren  gesund.  April  1901  mit  Schwindel- 
anftllen,  Kopfschmerzen  und  häufigem  Erbrechen  erkrankt.  Krämpfe  oder 
Lähmungen  fehlten.  Die  Schwindelanflllle  dauerten  nur  einen  Augenblick, 
sie  selbst  wußte  nichts  davon,  auffiel  der  schleppende  Gung,  eine  gewisse 
Steifheit  des  Kopfes,  die  Veränderung  ihres  Wesens,  Verschlossenheit 
Später  Zurückgehen  der  Erscheinungen,  speziell  des  Erbrechens.  5.  März 
bis  5.  April  1902  im  Stadtkrankenhaus  zu  Stettin.  Sie  gab  hier  an,  eines 
Morgens  plötzlich  blind  gewesen  zu  sein,  femer  Schwindel,  Erbrechen  und 
Doppeltsehen  gehabt  zu  haben.  Damaliger  Befund :  geringe  EinschränkuDg 
des  Gesichtsfeldes,  geringe  Anästhesien. 

Diagnose:  Hysterie. 

Behandlung:  Hydriatisch.  Besserung,  speziell  des  Ganges  und 
der  SchwindelanfkUe.  Psychisch  unverändert.  Später  in  verschiedenen 
Anstalten;  trotzdem  Verschlechterung. 

23.  Juni  1903  fiel  sie  plötzlich  morgens  beim  Aufstehen  hin  und 
schlug  mit  der  linken  Kopfhälfte  gegen  die  Bettkante.  Ins  Bett  zurück- 
gebracht^ liegt  sie  seitdem  apathisch  da,  ist  sehr  vergeßlich,  kann  nicht 
gehen  oder  stehen,  läßt  unter  sich,  schläft  viel.  Erbrechen  fehlt.  Aus- 
fluß (?)  aus  der  Nase,  der  vorhanden  war,  hat  in  letzter  Zeit  aufgehört. 

Befund:  Fat  liegt  apathisch  im  Bett,  beantwortet  Fragen  sehr 
zögernd,  langsam  und  unvollständig.  Hört  mitten  im  Satz  auf  zu  sprechen. 
Gesichtsausdruck  starr,  keine  Lähmungen  oder  Zuckungen,  kein  Fieber, 
Augenhintergrund  normal,  Patellarreflexe  gesteigert.  Auf  die  Beine  gestellt, 
bricht  sie  sofort  zusammen.  Gut  gestützt,  geht  sie  wenige  Schritte,  f^llt 
dabei  nach  rechts  hinten.  Sie  muß  geftLttert  werden,  ißt  spontan  überhaupt 
nicht.  Läßt  unter  sich.  Ob  Kopfschmerzen  vorhanden,  nicht  festzustellen. 
Ernährungszustand  leidlich,  innere  Organe  gesund. 

Lumbalpunktion:  816  mm  Wasserdruck,  klare  Flüssigkeit. 

Diagnose:  Verdacht  auf  Stirnhimtumor. 

7.  Juli.  Puls  dauernd  zwischen  80-- 100.  Erbrechen  fehlt.  Kopf- 
schmerzen anscheinend  vorhanden. 

Pupillen  reagieren  träge.  Schädel  gegen  Beklopfen  unempfindlich. 
Während  der  Untersuchung  dreht  sich  plötzlich  das  rechte  Auge 
nach  außen,  die  rechte  Pupille  wird  weit,  das  rechte  Lid 
sinkt  herab!  Dies  Phänomen  geht  schnell  vorüber,  wiederholt  sich 
später  noch  mehrmals. 

MltMl.  ».  d.  OranigeUcten  d.  Uedida  n.  Chlraivl«.    Xm.  Bd.  56 


870  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

8.  Juli.  Punktion  I.  Linker  Stimlappen,  normale  Himsubstanz  und 
etwas  Blut  aspiriert. 

Punktion  ü.  Rechter  Stimlappen.  In  4  cm  Tiefe  entleert  sieh  etwas 
blutiger  Liquor.  Nach  der  Punktion  Erbrechen  und  eigentümliche  rhyth- 
mische Kaubewegungen  nebst  Oeldzfthlbewegung  der  rechten  Hand.  In 
den  nächsten  Tagen  zeitweise  benommen,  zeitweise  klar.  Appetit  gut 
Kein  Fieber,  Puls  um  96.     Mehrmals  Erbrechen. 

Diagnose  S tirnhirntnmor  fallen  gelassen. 

24.  JulL  Punktion  ITL  Linke  motorische  Region.  Ziemlich  oberfläch- 
lich werden  65  g  klaren  Liquors  entleert. 

Punktion  IV  und  V.     Beide  Kleinhimhemisphftren. 

Beide  Male  oberflächlich  Liquor  entleert,  ca.  80  g  entfernt.  Leichte 
Temperatursteigerungen  (38,1  ^). 

27.  Juli.  Punktion  VI  des  rechten  Stirnlappens.  Girka  50  g  leicht 
blutigen  Liquors  entleert. 

Punktion  VIT.  Rechte  motorische  Region,  15  g  Liquor  und  eine 
Spur  Blut  entleert. 

29.  Juli.     Exitus  unter  leichter  Temperatursteigerung. 

Wahrscheinlichkeitsdiagnose  auf  Grund  der  Himpunktion: 
Hydrocephalus  chronicus  (resp.  Meningitis  serosa). 

Sektionsdiagnose:  Hochgradiger  Hydrocephalus  internus  und 
extemus. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Bohrlöcher  und  Kanäle  ohne  Be- 
sonderheiten. Im  Bereich  des  linken  Stimlappens  subdural  etwas  halb- 
flüssiges Blut  ....  in  der  rechten  hinteren  Schädelgrube  etwa  2  Teelöffel 
voll  geronnenes  Blut  ....  im  linken  Seiten  Ventrikel  ein  etwa  3  cm  langes 
und  Y,  cm  dickes  Blutgerinnsel  ....  im  weilten  Marklager  nach  aufien 
vom  linken  Seitenventrikel  ein  haselnuEgroßes  Blutgerinnsel  .... 

0.  E.  Lemcke,  Schuhmacher.  9.  Juli  1903  bis  12.  Juli  1903  (f). 
Anamnese  unbekannt.  Soll  gefallen  sein;  dies  ist  aber  nicht  sicher. 
Soll  beim  Transport  doppelseitigen  Krampfanfall  gehabt  haben. 

Befund:  Mann  in  mittleren  Jahren.  Handbreit  ttber  dem  Ansatz 
der  linken  Ohrmuschel  Oedem  und  Schwellung  der  Haut  nebst  striemen- 
artiger Abschürfung.  Täuschendes  Gefühl  einer  Knochendepression.  Pat. 
ist  sehr  benommen,  macht  zitternde  Bewegungen  mit  dem  linken  Arm, 
läßt  unter  sich,  schluckt  aber.  Kein  Fieber.  Puls  90.  Rechtsseitige 
spastische  Hemiparese.  Rechter  Facialis  gelähmt,  rechter  Arm  in  Beuge* 
kontraktur.  Rechtsseitige  Hemianästhesie.  Rechter  Patellarreflex  erhöht. 
Babinsky  rechts  deutlich  positiv.  Sprachstörung.  Nystagmus.  Herz- 
arhythmio. 

Bei  Druck  auf  die  ödematöse  Stelle  in  der  linken  Scheitelgegend  hat 
Pat.  offenbar  Schmerzen  und  zuckt  mit  der  linken  Gesichtshälfte. 

Diagnose:  Verdacht  auf  linksseitige  Meningeablutung. 

10.  Juli.  Pat.  ist  klarer.  Keine  Hirndruckerscheinungen.  Fieber!  Puls 
gegen  100. 

11.  Juli.  Lumbalpunktion:  Ueberdruck.  Blutig  tingierter!  Liquor 
entieert     Augenhintergrund  normal. 

Abends:  Allgemeine  Unruhe.  Fieber.  Frequenter  Puls.  Eigentüm- 
liche Streckbewegungen  der  linken  Extremitäten. 

12.  JulL  Kein  Fieber.  Benommenheit  hat  zugenommen.  Puls  60! 
Verlangsamte,  tiefe  Atmung.     Pupillen  weit,  reagieren  kaum. 

Wegen  der  zunehmenden  Druckerscheinungen:  Himpunktion. 


Die  HimpunktioD.  871 

'^^      Punktion  I.    Links,  vorderer  KRöNiiBiKScher  Punkt.     Ergebnis:  nichts. 

Punktion  IL  In  der  Mitte  der  ödematösen  Hautpartie  (s.  oben). 
Sofort  nach  Abnahme  der  Spritze  tropft  braune  Flüssigkeit  aus  der  Nadel 
heraus.  Beim  Ansaugen  wird  reichlich  dunkelschwarzbraune,  blutige 
Flüssigkeit  entleert,  in  der  schwarze  GFerinnsel  schwimmen.  Auch  etwas 
zertrümmerte  Himmasse  aspiriert. 

Der  Puls  steigt  gleich  nach  der  Punktion  von  60  auf  841,  Pupillen 
verengen  sich;  der  Eoi\junktivalreflez  erscheint  wieder. 

Diagnose:  Extraduraler  resp.  extraduraler  -|-  intraduraler  Blut- 
erguß.    Himzertrtimmerung.     Y,  Stunde  später  Operation  (Dr.  Wkbbr). 

Bildung  eines  WAONEBSchen  Lappens  im  Bereich  des  hinteren  Krön- 
LBiNSchen  Punktes.  Nach  Aufklappen  des  Lappens  findet  sich  der  Rest 
eines  extraduralen  Extravasates,  stark  eingedrückte  Diu'a!  Nach  Eröff- 
nung der  Dura  vom  sichtbaren  Punktionsschlitz  aus  entleert  sich  altes 
teils  flüssiges,  teils  geronnenes  Blut  Hirnsubstanz  erscheint  gequetscht. 
Aestchen  der  Meningea,  das  durchs  Operationsfeld  zieht,  wird  unterbunden. 
Vemähung  der  Dura.  Zurückklappung  des  Lappens  etc.  Der  Puls  hebt 
sich  nach  der  Operation.     Pat.  stirbt  nach  einigen  Stunden  im  Coma. 

Sektionsdiagnose:  Extra-  und  intradurales  Hämatom.  Ausge- 
dehnte Hirnzertrümmerung  im  Bereich  der  unteren  motorischen  Region 
und  des  Schläfenlappens,  sowie  der  Spitze  des  rechten  Stimlappens  durch 
Contrecoup.  Ausgebreiteter  Bluterguß  der  Schädelweichteile  im  Bereich 
der  linken  Schläfen-  resp.  Scheitelgegend.     Intakter  Schädel. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Nach  Abheben  des  WAQNBRSchen 
Lappens  findet  sich  keine  (extradurale)  Nachblutung.  Dura  erscheint  hier 
stark  eingedrückt  und  hier  und  da  noch  mit  Spuren  geronnenen  Bluts 
belegt  Nach  Spaltung  der  Dura  strömt  reichlich  altes,  schwärzlich-rotes 
Blut  hervor.  Das  Gehirn  ist  hier  völlig  zertrümmert  und  weist  eine  klein- 
apfelgroße  Höhle  auf,  die  von  geronnenem  Blut  ausgefüllt  ist .  . .  An  der 
Basis  findet  sich  nah  der  Spitze  des  rechten  Stimlappens  eine  ausgedehnte 
Zertrümmerung  des  Oehims;  Himsubstanz  mit  Gruormassen  gemischt 

10.  C.  Krause,  Schuhmacher.  Alter  unbekannt.  14.  Juli  1903  bis 
16.  Juli  1903  (t). 

Anamnese:  Früher  inmier  gesund.  Seit  4  Wochen  mit  Husten, 
Auswurf,  Bruststichen  erkrankt.     Seit  2  Tagen  ist  er  völlig  unklar. 

Befund:  Völlige  Benommenheit.  Kraftloser  Husten,  rubiginöses 
Sputum,  Lähmung  des  rechten  Facialis,  Schwäche  des  rechten  Arms. 
Puls  110,  unregelmäßig.  Temperatur  leicht  erhöht.  Rechte  Pupille  weiter 
als  die  linke,  etwas  verzogen.  Augenhintergrund  normal.  Urin  frei  von 
Eiweiß   und  Zucker.     Hinten    links    unten  Dämpfung    und   Knisterrasseln. 

Diagnose:  Coma.  Pneumonie.  Himpunktion  an  3  Stellen  des 
linken  Gyr.  praecentralis ;  ohne  Ergebnis. 

Pat  stirbt  unter  zunehmendem  Coma. 

Sektionsdiagnose:  Magencarcinom  Lymphangitis  carcinomatos. 
pleurae.     Hypostat  Pneumonie. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Punktionskanäle  ohne  Besonder- 
heiten. Punktionsstellen  der  Dura  wie  beabsichtigt  1  cm  hinter  dem  vor- 
deren Ast  der  Meningea  media.  Ein  Stich  hat  eine  oberflächlicho  Him- 
vene  getroffen.  Hier  findet  sich  ein  halberbsengroßes  Blutgerinnsel.  Der 
Stichkanal  ist  hier  in  der  Gehirnsubstanz  durch  einen  schwärzlichen 
Strich  angedeutet,  der  durch  ein  fadenförmiges,  ganz  feines  Blutgerinnsel 
gebildet  wird  .  .  . 

56* 


872  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

U.  A.  üeck,  Blechschmied.     40  Jahre.    9.  Sept.  1903  bis  18.  Okt  1903. 

Anamnese  (von  der  Frau  erhoben).  Früher  gesund.  Vor  6  Jahren 
Kopftrauma  (Stück  Roheisen  fiel  ihm  auf  den  Kopf).  Er  arbeitete  weiter. 
Vor  6 — 6  Jahren  Schwindelanfall,  bei  dem  er  das  Bewußtsein  verlor. 
Kam  erst  nach  einiger  Zeit  zu  sich.  Ferner  litt  er  früher  öfters  an 
Nasenbluten  und  Schwindelgefühl.  Erbrechen  fehlte  stets.  Im  ganzen 
war  Ueck  in  der  letzten  Zeit  gesund;  ab  und  zu  klagte  er  über  Kopf- 
schmerzen.    Für  Lues  kein  Anhaltspunkt. 

Heute  Vormittag  fiel  er  bei  der  Arbeit  plötzlich  um,  sah  blauschwarz 
im  Gesicht  aus,  biß  sich  auf  die  Zunge  und  zuckte  mit  den  Gliedern. 
Daumen  waren  eingeschlagen.  Beim  Fallen  verletzte  er  sich  hinten  am 
Kopf.  Seitdem  ist  er  benommen,  gibt  keine  Antwort,  fkhrt  mit  den 
Armen  in  der  Luft  herum. 

Befund:  Ueck  ist  total  benommen,  sehr  erregt  Spricht  wirres  Zeug. 
Macht  ausfahrende  Bewegungen  mit  den  Armen  und  Abwehrbewegungen, 
wenn  man  ihn  anfaßt.  Hält  man  ihn  fest,  so  ruft  und  brüllt  er  laut, 
schimpft  und  flucht. 

In  der  linken  Hinterhauptsgegend  eine  4  cm  lange  Bißwunde.  Tem- 
peratur kaum  zu  messen,  aber  über  39,5  ^,  Puls  gegen  100.  Milzdämpfung 
vergrößert  Lippen  trocken,  rissig,  Zunge  trocken,  belegt.  Etwas  frisches 
Blut  im  Munde.     Erbrechen!  wässeriger  Flüssigkeit 

Diagnose:  Initialdelirium  bei  Typhus  (?). 

10.,  11.  Sept.  Fieber  verschwunden.  Pat  ist  klarer.  Klagt  über 
starke  Kopfschmerzen.     Puls  72. 

13.  Sept.  Temperatur  37,6.  Puls  geht  auf  60!  herunter.  Ueck  ist 
sehr  still,  leicht  stuporös,  Gesichtsausdruck  leidend.  Starker  Stirn-  und 
Hinterkopfschmerz.  Bei  Beklopfen  ist  die  Hinterhauptsgegend  sehr  schmerz- 
haft; weniger,  aber  deutlich  die  Stimgegend  Hyperästhesie  der  Stirn- 
gegend gegen  Nadelstiche.  Zeitweise  Zuckungen  im  rechten  Facialis. 
Beim  Umhergehen  fühlt  er  „Dröhnen'^  im  Kopf.  Er  hält  sich  den  Kopf  mit 
beiden  Händen ;  taumelt.    Antworten  gibt  er  einsilbig,  mit  klagender  Stimme. 

Pupillen  mittelweit,  reagieren. 

Augenhintergrund:  Hyperämie  der  Netzhaut;  Grenzen  der  rechten 
Papille  leicht  verwaschen.  Gesichtsfeld  frei.  Kein  Nystagmus.  Ohren 
ohne  Besonderheiten. 

Ord.:  Schmierkur.     Jodkali. 

In  den  nächsten  Tagen :  Abendliche  Temperatursteigerungon  bis  38  ® ; 
verbunden  mit  Senkung  der  Pulsfrequenz  bis  zu  60  Schlägen!  in  der 
Minute.  Heftigste  Kopfschmerzen,  besonders  in  der  rechten  Schläfen- 
gegend.    Stärkster  Klopfschmerz  dicht  über  der  rechten  Ohrmuschel. 

Keine  eigentliche  Stauungspapille. 

17.  Sept  Lumbalpunktion:  470!  mm  H,0-Druck.  Farblose  Flüssig- 
keit, klar.     Bildet  kein  GerinnseL 

Wegen  Verdacht  auf  Hirnabsceß: 

Punktion  I.    B.  Schläfenlappen  (Stelle  des  heftigsten  Klopfschmerzes). 

Punktion  IE.  R  motorische  Region  (Stelle  des  heftigsten  Klopüschmerzes). 

Punktion  IIL     R.  Stirnlappen. 

Bei  allen  3  Punktionen  oberflächlich  nach  Durchstechung  der  Dura 
reichlich  zitronengelbe  klare  Flüssigkeit  entleert.  Die- 
selbe enthält  reichlich  Erythrocyten,  bleibt  selbst  nach  langem  Zentri- 
fugieren  gelb  gefärbt  und  gerinnt  nicht     Eiter  nirgends  gefunden. 

Diagnose:  Kein  Absceßl  —  hämorrhagisches  Menin- 
gealödem. 


Die  Hirnpanktion.  873 

Beschwerden  gehen  nach  derEntleerungderFlüssigkeit 
auffallend  zurück,     üeck  ist  unruhig,  reißt  sich  den  Verband  ab. 

18.  Sept.  Lumbalpunktion :  340  mm  Wasserdruck.  Farblose  Flüssig- 
keit wie  oben. 

19.— 24.  Sept  Fat.  entfiebert  ly tisch.  Puls  hebt  sich  von  50  all- 
mählich auf  80  Schläge.     Fat  ist  klar.     Kopfschmerzen  gering. 

27.  Sept.  Puls  90.  Kein  Fieber.  Allgemeinbefinden  sehr  gut.  Ge- 
ringe Kopfschmerzen.     Kein  Klopfschmerz  mehr. 

Anfang  Oktober.  Völlig  beschwerdefrei.  Augenhintergrund  normal. 
Körpergewicht  hebt  sich. 

18.  Okt.     Nach  vollendeter  Sohmierkur  geheilt  entlassen. 

Diagnose:  Lues  cerebri  (Meningealödem !  ?) 

12.  Frau  A.  BüoheL  (Unvollständig!)  Gerichtsdienerfrau.  38  Jahr. 
17.  Aug.  1903  bis  23.  Aug.  1903. 

Anamnese:  Früher  gesund.  Vom  Gatten  mit  Lues  infiziert.  Mehr- 
fache Schmierkur.  Geschwürsbildung  an  den  Beinen,  die  strahlige  Narben 
zurückließen. 

Im  vorigen  Jahr  hatte  sie  „hohen  Leib",  der  bei  Berührung  schmerzte. 
Arzt  diagnostizierte  Leberschwellung.    Nach  '/^  Jahren  hob  sich  das  Leiden. 

Februar  1903  nächtlicher  Anfall.  Bewußtsein  verloren.  Kehrte  erst 
nach  Stunden  wieder.  Mund  war  nach  links  verzogen.  Linke  Seite  war 
gelähmt!     Lähmung  ging  nach  einigen  Tagen  zurück. 

4  Wochen  später:  Krampfanfall;  Zuckungen  in  der  linken  Hand  und 
Gesichtshälfte.  Aehnliche  Anflllle  zuerst  alle  2  Wochen,  dann  wöchent- 
lich einmal,  später  alle  2  Tage.  In  der  letzten  Woche  täglich  Zuckungen. 
Bewußtsein  während  der  AnfUlle  zeitweise  getrübt.  Einmal  Verletzung 
am  Ohr  im  Anfall. 

Kopfschmerzen  waren  vorhanden.     Erbrechen  fehlte. 

Arzt  verordnete  Jodkali,  wonach  die  Anfalle  noch  zunahmen. 

Befund:  Schwächliche  Frau.  Leidender  Gesichtsausdruck.  Augen- 
hintergrund normal.     Gesichtsfeld   frei.     Keine  Lähmungen.     Kein  Fieber. 

Am  linken  Unterschenkel  große  strahlige  Narben.  (Lues?!)  Moto- 
rische Kraft  beiderseits  gleich.  Sensibilität  scheint  links  um  ein  weniges 
herabgesetzt 

Verlauf:  AnftlUe  hier  nicht  zu  beobachten!  (während  sie  vorher 
täglich  vorhanden  gewesen  sein  sollen).  Fat.  liegt  zu  Bett,  stöhnt  über 
starke  Kopfschmerzen  (besonders  nachts!).  Klopfschmerz  im  Bereich  des 
ganzen  Schädels.     Kein  Druckpuls.     Kein  Erbrechen. 

Ord.:  Schmierkur.     Jodipin. 

Diagnose:  Lues;  oder  Hysterie;  ev.  auch  Tumor  cerebri. 

20.  Juli.     Himpunktion  an   den   auf  Klopfen    empfindlichsten  Stellen. 
Punktion  L     B.  Schläfenlappen. 

Punktion  II.     R.  Stirnhim. 

Ergebnis:  Etwas  normale  Himsubstanz,  sonst  nichts. 

21.  Juli.     Kopfschmerzen  heftiger.     Lautes  Schreien  nachts. 

23.  Juli.  Pat.  wird  gegen  den  Willen  der  Aerzte  von  ihrem  Mann 
herausgenommen!     Punktionsstellen  ohne  jede  Reaktion. 

Spätere  Schicksale: 

Oktober  1903  im  Krankenhaus  Bethanien  verstorben. 

Sektionsbefund:  Walnusgroßes  Gumma  der  Hirnrinde  im  rechten 
Parietallappen  neben  dem  Sulc.  centralis;  mit  der  Dura  verwachsen. 
Lebergummata.     Luetische  Endoaortitis  etc. 


874  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

18.  0.  Handt,  Arbeiter,  25  Jahr,  9.  Okt  1903  bis  Mitte  Nov.  1903. 
Anamnese:  H.  kommt  zu  Faß  ins  Krankenhaas.  Oibt  an,  früher 
immer  gesund  gewesen  zu  sein.  Am  2.  Oktober  sei  er  beim  Läufer- 
legen  aasgeglitten  and  mit  der  rechten  Seite  des  Hinterkopfes  auf  den 
harten  Parkettfaßboden  aufgeschlagen.  Er  empfand  dabei  einen  intensiven 
Schmerz  im  Hinterhaupt,  mußte  nach  Hause  gehen,  legte  sich  gleich  zu 
Bett,  wo  er  4  Tage  und  4  Nächte  angeblich  ohne  Schlaf  zubrachte.  Es 
qu&lten  ihn  heftige  Kopfschmerzen,  die  in  den  letzten  Tagen  noch 
zunahmen.     Sonst  kann  er  nichts  angeben. 

Später  erfuhren  wir  vom  Vater  folgendes:  "EL  hat  immer  viel  ge- 
truDken,  öfters  reinen  Spiritus;  war  oft  betrunken.  Am  2.  Okt  mittags 
sei  H  etwas  benommen  gewesen ;  er  (der  Vater)  habe  das  für  Betrunken- 
heit gehalten.  In  einer  der  nächsten  Nächte  war  H.  sehr  unruhig;  dies 
habe  er  auf  ein  beginnendes  Delirium  bezogen.  Am  9.  Okt.  früh  habe 
Schaum  vor  dem  Munde  gestanden.  Der  Vater  sorgte  dann  für  sofortige 
Ueberfdhrung  ins  Krankenhaus.  Von  Krämpfen  wußte  weder  Vater  noch 
Sohn  etwas  zu  berichten. 

Beschwerden  des  H.  zur  Zeit  der  Aufnahme:  Heftige  Kopfschmerzen 
und  Schlaflosigkeit. 

Befund:  Sehr  kräftiger  junger  Mann.  Temperatur  38,2,  Puls  85. 
Am  Kopf  viele  alte  Narben;  keine  frische  Verletzung.  Sensorium  frei, 
zeitweise  anscheinend  leicht  getrübt.  Die  Augen  starren  ins  Leere,  nur 
wenn  man  H.  anruft,  sieht  er  einen  an.  Kopf  und  Augen  sind  beständig 
nach  rechts  gedreht.  Doppeltsehen  bei  bestimmten  Augenstellungen. 
Linker  Arm  in  halbgebeugte  Stellung  gehalten  (Zwangshaltung).  H.  ge- 
braucht nur  den  rechten  Arm!  Linker  Facialis  völlig  gelähmt 
Die  herausgestreckte  Zunge  weicht  nach  links  ab.  Gaumensegel  nur 
rechts  innerviert.     Pupillen  reagieren.     Speichelfluß. 

Augenhintergrund  normal. 

Linksseitige  geringe  Hemianästhesie. 

Bauchdecken-,  Cremaster-,  Kniescheiben-Reflex  rechts  deutlich,  links 
fehlend.     Beim  Gehen  taumelt  H.  deutlich,    stößt   an  die  Gegenstände  an. 

Heftiger  Schmerz  bei  Beklopfen  der  rechten  Parietofrontalgegend. 

Während  der  Untersuchung  ca.  4  Krampfanfälle  im 
linken  Pacialis  von  5 — SO  Sekunden  Dauer;  verbunden  mit  Cyanose  und 
leichter  Bewußtseinstrübung.  Einmal  auch  (auf  der  Höhe  des  Anfalls) 
Zuckungen  in  der  linken  Hand. 

Gegen  Abend  häufen  sich  ähnliche  AnfUle  (ca.  12  in  l^s  Stunden). 
Auf  1  g  Chloral  ruhiger  Schlaf  von  mehreren  Stunden. 

10.  Okt.     Puls  80.     Temperatur  38,4  <>. 

Verschlechterung.  Pat.  ist  unklar,  unorientiert ;  glaubt  bei  sich  zu 
Hause  zu  sein.  Ruft  nach  seinen  Angehörigen.  Witzelt  zeitweise.  Setzt 
allen  Vornahmen  heftigen  Widerstand  entgegen ;  schimpft:,  schlägt  um  sich. 
Mehrmals  treten  die  erwähnten  Anfälle  auf.     Benommenheit  nimmt  zu. 

12  Uhr  mittags:  Hirnpunktion  (rechtes  Facialiszentrum) ;  ober- 
flächlich entleeren  sich  reichlich  dunkelbraune,  schoko- 
ladenfarbige, dünnflüssige  Massen,  in  denen  festere  schwärz- 
l[iche  Gerinnsel  schwimmen  (offenbar  altes  Blut). 

Diagnose:  Großes  intrakranielles  Hämatom.  Häufung 
der  AnfiLlle! 

1  Uhr:  Operation  (Prof.  Häckbl). 

Bildung  eines  5-Markstückgroßen  WAGNBRSchen  Lappens  im  Bereich 
der  Punktionsstelle.     (Auffallend  dicker!   Schädel)     Dura   pulsiert   kaum. 


Die  Hirnpunktion.  875 

Es  schisunert  bläulich  dorch.  Nach  Eröfinuog  der  Dura  und  Zurück- 
schlagen derselben  sieht  man  ein  anscheinend  über  handtellergroßes,  dem 
Hirn  kalottenförmig  aufsitzendes,  ziemlich  dickes  Blutgerinnsel.  Entfernung 
der  Cruormassen  mittels  scharfen  Löffels.  Hirn  intakt.  Verletztes  OeSiß 
nicht  zu  finden.     Pulsation  stellt  sich  allmählich  wieder  her. 

Naht  der  Dura  etc.  etc. 

Puls  nach  der  Operation  schlecht.     Starker  Blutverlust. 

Abends:  H;  ist  besinnungslos.  Zuckungen  in  beiden  Faciales.  Tem- 
peratur 380.     PqIb  108.     Kein  Erbrechen. 

11.  Okt.  Unaufhörliche  Krämpfe  im  linken  Facialis,  aber  auch  im 
linken  Arm  und  Bein.  Zunge  geschwollen,  blutet  aus  Bißwunden.  H.  ist 
benommen;  muß  zeitweise  gehalten  werden.  Temperatur  und  Puls  un- 
verändert. 

12.  Okt.  Kein  Fieber.  Pat.  ist  ziemlich  klar,  gibt  Antwort 
Keine  Krämpfe.     Kopf  nach  rechts  gedi*eht. 

Abends:  Fieber,  Zuckungen  im  linken  Facialis;  L&hmung  der  linken 
Extremitäten,  Sensorium  getrübt.  Ab  und  zu  Zuckungen  im  linken  Arm 
und  Bein.     Salivation. 

13.— 16.  Okt  Status  idem. 

16.  Okt.  Kein  Fieber,  keine  Krämpfe,  keine  Salivation,  kein  Kopf- 
schmerz.    Linke  Extremitäten  normal  beweglich.     Wunde  reaktionslos. 

18.  Okt.  Bis  auf  Parese  im  linken  Facialis  nichts  mehr  festzustellen. 
Pat  steht  ohne  Erlaubnis  auf. 

20.  Okt.  Nach  Vernehmung  durch  einen  Polizisten  ist  H.  erregt, 
klagt  über  Kopfschmerzen.  Es  werden  Streckkrämpfe  aller  4  Extremitäten 
beobachtet,  die  ganz  verschieden  von  den  früheren  Krämpfen  und  offenbar 
als  hysterische  aufzufassen  sind  (arc  de  cercle  angedeutet,  Verdrehen 
der  Augen).  Leichte  Temperatursteigerung.  Anfklle  nur  in  Gegenwart 
der  Aerzte! 

23.  Okt     Da  Pat  nachts  aufsteht,  die  übrigen  stört,  Isolierung. 

In  der  nächsten  Zeit  steht  er  zunächst  noch  öfters  nachts  auf,  irrt 
umher.  Bei  Tage  ist  er  völlig  verständig.  Objektiv  nichts  mehr  nach- 
zuweisen. Wunde  heilt  allmählich.  Dauernde  Fieberlosigkeit.  Nächtliche 
„AnfUle^*  verschwinden. 

Mitte  November  1903  völlig  geheilt  entlassen.  Noch  heute 
völlig  gesund. 

14.  Frau  A.  Pahnke,  60-jähr.  Kaufinannsfrau.  29.  Okt  bis  Anfang 
Dezember  1808. 

Anamnese  (von  einer  Verwandten  erhoben):  Früher  immer  gesund. 
Keine  Kinder.  Keine  Aborte.  Seit  einem  Jahr  Klagen  über  aufsteigende 
Hitze,  Kopfschmerzen,  Mattigkeit,  großen  Durst.     Ist  sehr  „nervös^. 

Seit  ^/j  Jahr  redet  sie  wirres  Zeug,  schreit  plötzlich  auf,  klagt  über 
blitzartige  Schmerzen.  Vor  einigen  Wochen  plötzlich  ganz  unmotivierte 
Verlobung  mit  vorher  unbekanntem  Herrn. 

Seit  4  Wochen  bettlägerig.  Seit  8  Tagen  sehr  unruhig.  Seit  6  Tagen 
ganz  unsicherer  Qang.  Sie  ißt  nicht  mehr  spontan,  muß  gefüttert  werden. 
Ist  gegen  alles  völlig  gleichgültig. 

Befund:  Gutgenährte,  ruhige  apathisch  daliegende  Frau.  Sie  ver- 
steht jede  Aufforderung,  kommt  jedem  Befehl  exakt  nach.  Auf  Fragen 
antwortet  sie  erst  nach  längerer  Zeit,  aber  verständig.  Muß  sich  häufig 
erst  auf  Ausdrücke  besinnen.  Manche  Fragen  wiederholt  sie.  Vorge- 
haltene Oegenstände  erkennt  sie.     Greift  sich  öfters  mit  der  linken  Hand 


876  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

nach  dem  Kopf.  Ab  und  zu  dementes  Lachen.  Einfache  Kopfrechnungen 
löst  sie  richtig,  aber  langsam.  Starke  Störung  der  Merkfähigkeit.  Plötz- 
liche schmerzhafte  Verziehungen  des  Oesichts,  infolge  blitzartiger  Schmerzen 
an  den  verschiedensten  Körperstellen.  Es  besteht  eine  Art  Akinesia  algera. 
Ißt  nicht  spontan,  muß  gefüttert  werden. 

Händedruck  kräftig.  Gaumensegel  beiderseits  gleio^  stark  innerviert. 
Beide  Arme  längere  Zeit  hochgehalten,  ebenso  rechtes  Bein,  das  linke 
f^Ut  gleich  wieder  herunter.     Hypotonie  der  Beinmuskulatur. 

Gang  schwankend,  Fallen  nach  rechts.     Komberg. 

Allgemeine  Hauthjrperästhesie.  Klopfschmerz  der  linken  Vorder- 
hauptsgegend. Schmerzhaftigkeit  bei  passiven  Bewegungen  des  Kopfes 
(speziell  bei  Beugen  des  Kinnes  gegen  die  Brust). 

Patellarreflez  gesteigert.  Pseudoklonus.  Pupillen  reagieren  prompt 
Augenhintergrund:  Doppelseitige  NeuritiB  optica  mäßigen  Grades. 

Fieber,  Erbrechen  fehlt.  Puls  96,  klein.  Herztöne  leise  rein.  Urin 
frei.     Gegen  8  1  täglich ! 

Ueber  handflächengroße,  strahlige  Hautnarbe  unten  innen  am  rechten 
Oberschenkel. 

Lumbalpunktion :  408 !  mm  Wasserdruck.  E^are  Flüssigkeit,  kein  Gre- 
rinnsel. 

Subjektive  Beschwerden:  Kopfschmerzen,  blitzartige  Schmerzen  im 
Körper,  Gedächtnisschwäche. 

Diagnose:  Verdacht  auf  Kleinhirn-  oder  Stirnhirntumor. 
Femer  auch  auf  Lues  cerebri. 

Ord.  Schmierkur.     Jodkali. 

SL  Okt.  1908.  Punktion  I  r.  £^einhirn  —  normale  Himsubstanz. 
Punktion  II  ].  Kleinhirn  —  normale  Himsubstanz  und  etwas  Liquor  cerebro- 
spinalis. 

4.  Nov.  1908.  Pat.  läßt  unter  sich!  Allgemeinzustand  eher  besser  als 
schlechter.     Sensorium  freier. 

Punkt  in  1.  Stimhim.  Einige  Tropfen  Liquors,  sonst  nichts.  Punkt  IV 
r.  Stimhim.     Einige  Tropfen  Liquors,  sonst  nichts. 

In  der  nächsten  Zeit  bessert  sich  das  Befinden  wesentlich.  Apathie 
schwindet,  das  Sensorium  wird  frei,  der  Gang  normal.  Selten  Schmerzen 
in  der  Brust. 

Auffällt  der  starke  Durst;  4600  ccm  Urin  in  24  Stunden. 

Nach  6-wöchentlicher  Schmierkur:  alle  objektiven  und  subjektiven 
Störungen  sind  verschwunden.  Bis  auf  Polyurie  und  leichte  Abnormität  (?) 
im  Wesen  („komische  Alte"). 

Geheilt  entlassen. 

Diagnose:  Lues  cerebri. 

15.  K.  Kielgas,  Arbeiter,  49  Jahre.  10—13.  Nov.  1903  (f).  K.  wird 
ohne  Anamnese  eingeliefert.  Antwortet  auf  Befragen  nur:  es  tue  ihm 
alles  weh.  (Wie  wir  später  hörten,  wegen  Delir.  trem.  schon  öfters  im 
Krankenhause  gewesen.) 

Befund:  Pat.  ist  ziemlich  benommen.  Arbeitet  mit  dem  rechten  Arm 
herum,  der  linke  liegt  still  da. 

Luxatio  subcoracoidea  sinistra.  Sugillationen  in  der  rechten  Knie- 
gegend. 

Am  Kopf  keinerlei  Verletzung;  viele  alte  Narben.  Parese  (?)  des 
linken  Facialis. 


Die  Hirnpunktion.  877 

Temperatur  36^,  Puls  110.  Urin  frei  von  pathologischen  Bestand- 
teilen.    Lungen,  Herz  etc.  gesund.     Pupillen  reagieren. 

1 1.  Nov.  Benommenheit  größer.  Pat.  stöhnt,  schluckt  leidlich,  rasselt 
etwas. 

Temperatur  37,6,  Puls  110,  kräftig. 

12.  Nov.     Benonunenheit  hat  zugenommen. 

Mit  Rücksicht  auf  die  entfernte  Möglichkeit  einer  Blutung  aus 
derMeningea  oder  einer  größeren  pachymeningitischen  Blutung 
wird  die  Himpunktion  vorgenommen: 

Punktion  I  1.  vord.  ERÖNLBiNScher  Punkt,  ohne  Ergebnis.  Punktion 
II  r.  vorderer  ERÖHLBiNscher  Punkt. 

Gktnz  oberflächlich  ohokoladenfarbige  Flüssigkeit  entleert,  in  der  braune 
Flocken  schwimmen  (offenbar  altes  Blut).     So  100  com  entleert. 

Diagnose:  Durale  Blutung. 

Nach  der  Punktion  ist  Pat  viel  klarer,  Temperatur  35^,  Puls  92; 
Pat.  erholt  sich  offenbar  (daher  von  Operation  Abstand  genommen). 

13.  Nov.  Früh  Temperatur  38,1,  Puls  112—120.  9  Uhr  vormittags: 
Pat.  ist  plötzlich  total  benommen,  rasselt;  11  Uhr:  Puls  fadenförmig, 
Lungenödem.     Da  Operation  nicht  mehr  möglich: 

Punktion  m  durch  den  gestern  angelegten  Kanal  (II):  fördert  etwas 
frisches  Blut  zu  Tage,  daher  sofort  unterbrochen. 

Einige  Stunden  später:  Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Pachymeningitis  haemorrhagica  interna  dextra 
mit  großem  subduralem  Bluterguß  und  ausgedehnter  Depression  der  rechten 
Hemisphäre.  (Leptomeningitis  chronica  sinistra,  Lungenödem,  Herzdilatation, 
Fettleber  etc.). 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Rechter  Muse,  temporalis  mit 
etwas  frischem  Blut  durchsetzt  (von  der  Punktion).  Bohrkanäle  ohne  Be- 
sonderheiten .  .  .  Schädeldach  völlig  intakt. 

Die  Dura  der  rechten  Hemisphäre  ist  zusammengefallen,  in  Falten  ge- 
legt, gibt  das  Oeföhl  der  Fluktuation.  Beim  Abziehen  der  Dura  fließt 
rechterseits  dunkles  flüssiges  Blut  zwischen  Hirn  und  Dura  hervor. 

Auf  der  Unterfläche  der  harten  Hirnhaut  sieht  man,  soweit  sie  der 
rechten  Hemisphäre  aufgesessen  hat,  schwarzrote  Cruormassen  zum  Teil 
auch  mehr  flüssiges  Blut,  überzogen  und  abgekapselt  durch  eine  glatte, 
durchsichtige,  spinnwebene  Pseudomembran.  Letztere  ist  zusammengesunken 
und  hat  offenbar  noch  viel  mehr  Blut  vorher  beherbergt  (das  zum  Teil 
bei  der  Sektion  abgeflossen,  zum  Teil  bei  der  Punktion  entfernt  war). 

Die  rechte  Hemisphäre  ist  total  platt  gedrückt,  Gyri  und  Sulci  sind 
verstrichen;  die  Oberfläche  ist  nicht  konvex,  sondern  plan!  .  .  .  Himsub- 
stanz,  Schädelbasis  völlig  intakt. 

.  .  .  Pia  im  Bereich  der  linken  Punktionsstelle  leicht  blutig  suf- 
fundiert  .  .  . 

le.  A.  Weber,  Töpfer,  51  Jahre  13.— 16.  Nov.  1903  (f). 

Anamnese  (von  seiner  Frau  erhoben) :  Früher  gesund,  heute  Nacht 
Schlaganfall.     Lähmung  der  rechten  Seite  und  Sprachstörung. 

Befund:  Benommenheit.  Rechtsseitige  Hemiplegie,  Aphasie,  Lähmung 
des  rechten  Facialis  und  Hjrpoglossus.  Kein  Fieber.  Puls  56!  Leicht 
arhythmisch. 

Hochgradige  Arteriosklerose;  2.  Aortenton  klappt,  Urin  frei. 

Diagnose:  Apoplexia  sanguinea  sinistra. 


878  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pol  lack, 

14.— 15.  Nov.  Temperatur  steigt  auf  38,2,  Puls  sinkt  auf  44  Schläge, 
ist  sehr  gespannt,  Benommenheit  nimmt  zu. 

16.  Nov.  Zeichen  des  progredient  zunehmenden  Himdruckes  (Puls  40, 
Atmung  verlangsamt,  Bewußtlosigkeit  etc.). 

Daher:  Therapeutische  Punktion  (I)  der  1.  Hemisphäre  (etwas 
nach  hinten  und  oben  vom  Schnittpunkt  der  Fissura  Sylvii  und  Sulc.  Bo- 
landi):  In  geringer  Hirntiefe  anscheinend  frisches  Blut  aspiriert;  Punktion 
sofort  unterbrochen. 

Nach  der  Punktion:  Weitere  Verlangsamung  des  Pulses.  Sopor  geht 
in  Coma  über.     Puls  40,  Atmung  stertorös. 

Nachmittags  Punktion  II  durch  denselben  Kanal ;  ca.  5  cm  tief  älteres 
mit  Frischem  vermischtes  Blut  gefunden ;  20  g  entfernt.  Atmung  und  All- 
gemeinzustand bessert  sich  etwas. 

Abends :  Stertor,  Pulsbeschleunigung,  Atemlähmung.  —  Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Gh*oße  linksseitige  Apoplexie  mit  Durchbruch 
in  den  linken  Seitenventrikel  und  ausgedehnte  Zertrümmerung  der  Hirn- 
Substanz. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Flacher  pialer  Bluterguß  im  Be- 
reich der  Fissura  Sylvii,  entfernt  von  der  durch  einen  kleinen  blaugrauen 
Fleck  noch  kenntlichen  Punktionsstelle  .  .  .  der  mächtige  Bluterguß  des 
weißen  Marklagers  der  linken  Hemisphäre  reicht  stellenweise  (auch  im 
Bereich  der  Punktionsstelle!)  bis  1  cm  und  weniger  an  die  Oberfläche 
heran  .  .  . 

17.  A.  Adermann,  Maschinist.  Auf  enthalt  I  17.  Okt.  bis  7.  Nov.  1902. 
Anamnese:    Früher    gesund.      Seit    1^/,    Jahren    Blasenstörungen: 

Abnahme  des  Gedächtnisses  und  der  geistigen  Fähigkeiten. 

Vor  4  Tagen,  als  er  trinken  wollte,  war  ihm  die  Kehle  plötzlich  wie 
zugeschnürt,  so  daß  er  die  Flüssigkeit  erbrechen  mußte. 

Vor  3  Tagen  plötzlicher  Bewußtseinsverlust,  er  stürzte  hin,  kam  bald 
wieder  zu  sich.  Er  hatte  Kopf-  und  Seitenstiche;  das  linke  Auge  war 
,,klein'*,  die  Hände  taub  und  kribbelten  wie  unter  Nadelstichen.  Später 
nahmen  die  Kopfschmerzen  (speziell  in  der  linken  Schläfengegend)  zu,  er 
mußte  erbrechen.  Ein  Arzt  stellte  starke  Pulsverlangsamung  fest  Beim 
Blicken  nach  links  zeitweise  Doppeltsehen. 

Aus  dem  Befund:  Kräftiger  Mann.  Fällt  beim  Gehen  nach 
links.  Linkes  Bein  paretisch.  Linksseitige  Ptosis.  Händedruck  links 
schwächer,  als  rechts.  Patellarreflex  links  erloschen,  rechts  schwach. 
Pupillen  reagieren ;  linke  etwas  enger  als  die  rechte.  Analgesia  totalis. 
Berührungsempfindlichkeit  nur  auf  der  linken  Gesichtshälfte  herabgesetzt. 
Quälender  S i n g u  1 1 u s !  Puls  verlangsamt.  Kein  Fieber.  Augenhinter- 
grund normal.  —  Psychisch:  leicht  absent.  —  Potenz  angeblich  erhalten. 
Lues  nach  den  Angaben  möglich. 

Diagnose:  Lues  cerebro  -  spinalis  oder  Paralysis  incipiens.  Ord. : 
Schmierkur. 

Verlauf:  Besserung  der  Beschwerden.  Der  Befund  geht  zurück  bis  auf 
Schwäche  der  linken  Seite,  besonders  des  Beines.     Gang  bleibt  breitbeinig. 

7.  Nov.  Auf  Wunsch  entlassen.  Fortsetzung  der  Schmierkur  zu 
Hause  ans  Herz  gelegt. 

Aufenthalt  11.     20.  Nov.  bis  16.  Dez.  1903. 

Seit  der  letzten  Entlassung  wieder  arbeitsfähig  gewesen.  Arbeitete  bis 
vor  2  Tagen.  Fühlt  sich  in  den  letzten  3  Wochen  abgeschlagen,  schwindelig, 
hat  Kopfschmerzen.     Erbrechen  fehlte. 


Die  Hirnpunktion.  879 

Klagen  zur  Zeit:  Schwindelgeflihl,  heftige  Kopfschmerzen  von  der 
linken  Schläfengegend  bis  ins  linke  Hinterhanpt  Ein  Trauma  hat  nicht 
stattgefunden. 

Befund:  Fat.  macht  müden,  kranken  Eindruck,  ist  still,  in  sich  ge- 
kehrt. Antwortet  langsam,  mühsam,  aber  sachgemäß.  Greift  sich  mit  der 
linken  Hand  öfters  nach  der  linken  Stimgegend.  Grimassiert.  Gang  un- 
sicher, Fallen  nach  links. 

Puls  66,  kein  Fieber. 

Doppelseitige  Ptosis,  links  stärker,  als  rechts.  Lähmung  der  Blick- 
bewegung nach  oben  und  unten!  Seitliche  Beweglichkeit  frei.  Augen- 
hintergrund normal.  Pupillen  gleich  weit,  reagieren.  Heftiger  spontaner 
Kopfschmerz  und  di£Puse  Klopfschmerzhaftigkeit.  Kein  Erbrechen.  Keine 
Lähmungen,  Paresen,  Spasmen  etc.     Linker  Patellarrefiex  aufgehoben. 

Urin  frei.     Entleerung  von  Stuhl,  Urin  in  normaler  Weise. 

Diagnose:  Lues  cerebri. 

Ord.:  Schmierkur,  Jodkali. 

Verlauf:  22. — 23.  Nov.  Pat.  ist  völlig  somnolent;  geht  zeitweise 
aus  dem  Bett  heraus,  halluziniert,  verschluckt  sich  beim  Trinken.    Puls  54. 

Lumbalpunktion:  260  mm  Wasserdruck;  normale  Flüssigkeit. 

24.  Nov.  Völlige  Benommenheit.  Pat.  läßt  unter  sich, 
schluckt  nicht  mehr.  Quälender  Singultus.  Herzschwäche. 
Keine  Herdsymptome. 

Da  Zustand  sich  rapide  verschlechtert.  Druckpuls  zunimmt, 
Trachealrasseln  auftritt,  wird  mittags  bei  dem  fast  moribunden 
Patienten  die  Himpunktion  vorgenommen. 

Punktion  I  rechtes  Facialiszentrum  (da  der  linke  Facialis  eine  Spur 
paretisch  erscheint):  ohne  Ergebnis. 

Punktion  II  (da  -heftigster  Singultus  und  Fallen  nach  links)  in  der 
rechten  hinteren  Schädelgrube  (an  unserem  Punkt  k,):  ganz  oberfläch- 
lich Blut  gefunden,  das  dunkelblaurot  geförbt,  auf  Porzellan  ein 
deutlich  braunes  Timbre  zeigt. 

Diagnose:  Subduraler  (pachymeningitischer)  Bluterguß  in 
der  rechten  hinteren  Schädelgrube. 

So  werden  130  g  teils  älteren,  teils  frischen  Blutes 
entleert 

Der  Puls  steigt  während  der  Punktion  von  52  auf  64!  Schläge. 
Rasseln  besteht  fort. 

Abends:  Bassein  geringer.     Somnolenz.     Puls  76,  mittelkräftig. 

26.  Nov.     Kein  Fieber.     Puls  72.     Benommenheit  besteht  fort. 

Mittags:  Temperatur  38,6^.     Puls  98.     Benommenheit  läßt  nach. 

Punktion  III  (alter  Kanal  11  benutzt):  noch  60  g  Blut  aspiriert 
(Aussehen  desselben  wie  gestern). 

26.  Nov.  Pat  ist  viel  klarer.  Schluckt!  Puls  84.  Tempe- 
ratur kaum  erhöht. 

27.  Nov.  Pat  plaudert  mit  den  Nachbarn.  Witzelt  (sägt 
auf  den  Arzt:  Siehste  woU,  da  kimmt  er  etc.)  Beklagt  sich  über  das 
Essen.  Puls  96.  Kein  Fieber.  Keine  Kopfschmerzen  mehr. 
Gang  noch  etwas  taumlig.  Ptosis  rechts  geht  zurück.  Heben  und  Senken 
der  Bulbi  schon  etwas  möglich.  Antworten  präzise.  Aufforderungen  strikt 
befolgt.     Ab  und  zu  noch  Grimassieren. 

28.  Nov.  Urinretention.  Leichte  Parese  des  rechten  Facialis,  abends 
Erbrechen.  Puls  621  aussetzend.  Singultus.  Starker  Schweiß.  Dabei 
gutes  Allgemeinbefjiden ! 


880  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

29.  Nov.  Erbrechen  verschwunden.  Befinden  gut.  Puls  54.  Kein 
Fieber. 

30.  Nov.     Leichte  Kopfschmerzen.     Puls  gegen  80. 

1.  Dez.  Völliges  Wohlbefinden.  Es  besteht  noch  leichte  Parese 
des  rechten  Facialis,  Fallen  nach  rechts,  linksseitige  Ptosis. 

2.  Dez.  Pat.  geht  ganz  sicher!  Befinden  vorzüglich.  In  den 
nächsten  Tagen  noch  eine  leichte  Temperatarsteigerung  und  leichte  Kopf- 
schmerzen. 

10.  Dez.  Linksseitige  Ptosis  geht  zurück,  l'uls  80.  Wohlbefinden 
bis  auf  leichten  Kopfdruck. 

16.  Dez.  Linke  Lidspalte  noch  etwas  enger  als  die  rechte.  Blick- 
bewegang  frei.     Facialis   normal.     Oanz   geringer  Kopfdruck.     Entlassen. 

Am  29.  Dez.  stellt  er  sich  wieder  vor :  beschwerdefrei  bis  auf  leichten 
Schwindel. 

Objektiv:  absolut  nichts!  (bis  auf  leichte  Arhythmia  cordis). 

6.  April  1904.  Stellt  sich  wieder  vor:  in  allerletzter  Zeit  leichte 
Verschlechterung:  Doppeltsehen,  Kopfschmerzen  in  der  linken  Seite, 
Schwindelgefühl. 

Objektiv :  Leichtes  Schwanken  beim  Gehen.  Augenhintergrund  normal. 
Gesicht  gerötet     Sonst  nichts  zu  finden. 

Therapie:  Venäsektion.     Laxieren. 

Die  leichten  Beschwerden  gehen  allmählich  ganz  zurück.  (Dauernd 
geheilt) 

Diagnose:  Pachymeningitis  haemorrhagica  besonders  im 
Bereiche  der  rechten  hinteren  Sohädelgrube.  [Auch  bei  dem  ersten  Auf- 
enthalt im  Krankenhaus  (s.  oben  1902)  lag  offenbar  eine  solche  pachy- 
meningitisohe  Blutung  vor.] 

18.  A.  Wellnitz,  48  Jahre,  Landwirt.     26.-28.  Nov.  1903  (f). 

Anamnese:  Früher  immer  gesund.  Seit  Y^  Jahr  epileptiforme  An- 
falle und  Kopfschmerzen  später  abgelöst  durch  psychische  Veränderung, 
(Unklarheit,  Vergeßlichkeit,  weinerliche  Stimmung,  Verminderung  der 
geistigen  Fähigkeiten)  Schlafsucht,  Veränderung  der  Sprache. 

Keine  Lues.     Kein  Potatorium. 

Befund:  Pat.  ist  etwas  benommen.  Auffallend  still.  Gesiohtsaus- 
druck  starr.  Parese  des  rechten  unteren  Facialis,  der  rechten  Hand. 
Klopfschmerz  der  linken  Schläfengegend.  Doppelseitige  Neuritis  optica 
(rechts  mehr,  als  links).     Leitnngsaphasie  (exquisite  Paraphasie!). 

Kein  Druckpuls.  Kein  Fieber.  Kein  Erbrechen.  Pupillen  reagieren. 
Patellarrefleze  +.     Sensibilität  normal. 

Lumbalpunktion:  250  mm  Wasserdruck.     Klare  Flüssigkeit. 

Diagnose:  Hirntumor,  möglicherweise  der  linken  Bindenfacialis- 
oder  Inselgegend. 

28.  Nov.  Punktion  bei  dem  sehr  unruhigen  Mann,  der  um  sich  schlägt 
und  kaum  zu  halten  ist: 

Punktion  I.  Linkes  Facialiszentrum.  1  cm  hinter  dem  unteren  Drittel- 
punkt: Spur  Blut  aspiriert. 

W.,  der  bis  dahin  um  sich  geschlagen,  laut  gerufen  hat,  wird  plötzlich 
somnolent,  schnarcht,  der  Puls  sinkt  auf  44! 

Darauf  schnell: 

Punktion  11  1.  I  Temporalwindung. 

Punktion  III  1.  Stirnlappen,  hinterster  Teil,  etwas  nach  vorn  zwischen 
1.  und  2.  Drittelpunkt    Beide  Punktionen  ohne  Ergebnis. 


Die  Himpunktion.  881 

Fat  stirbt  einige  Stunden  nach  der  Punktion. 

Sektionsdiagnose:  Großes  Olioma  apoplecticum  der  basalen  Par- 
tien des  linken  Schläfenlappens ;  frische  Blutung  in  dasselbe  und  Durch- 
bruch der  Blutung  nach  der  Basis. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  .  .  .  An  der  Hirnbasis  fällt  im 
Bereich  des  linken  Ojr,  hippocampi  nach  außen  von  den  Corpora  mamillaria 
ein  ca.  5-pfennigstückgroßes  aus  der  Himsubstanz  vorquellendes,  frisches 
Blutgerinnsel  auf.  Dasselbe  bildet  das  Zentrum  einer  5-markstückgroßeu, 
fast  zerfließenden,  weichen  Partie  der  EUmsubstanz,  in  deren  Bereich  die 
Zeichnung  der  Gyri  und  Sulci  völlig  verwischt  ist  Ein  Durchschnitt  zeigt 
eine  ziemlich  scharf  umschriebene  taubeneigroße,  hämorrhagisch  erweichte 
Geschwulst,  die  etwa  3  cm  in  die  Tiefe  reicht  und  noch  durch  eine  Brücke 
gesunden  Gewebes  von  dem  Unterhorn  getrennt  ist  ...  Im  Bereich  des 
linken  Stimlappens  findet  sich  ein  flacher,  subduraler  resp.  pialer  Blut- 
erguß, der  sich  in  seinen  Ausläufern  bis  zur  Basis  (Chiasma,  Pons,  Gyr. 
Hippocampi)  erstreckt. 

Tumor  mikroskopisch:  Zellreiches  Gliom  von  kleineren  älteren  und 
großen  frischen  Blutungen  durchsetzt 

18.  O.  Bork,  Arbeiter,  60  Jahre.     22.  Okt  bis  81.  Dez.  1903. 

Anamnese:  Pat  war  früher  stets  gesund.  Keine  Lues.  Kein  Pota- 
torium. 

Vor  3  Monaten  fiel  er  plötzlich  auf  der  Straße  um  und  blieb  ca. 
^/^  Stunde  bewußtlos  liegen.  Dann  kam  er  wieder  zu  sich  und  konnte 
idlein  nach  Hause  gehen.  Seitdem  leidet  er  an  anfallsweise  auftretenden 
Zuckungen,  die  in  der  linken  Gesichtshälfte  beginnen  und  sich  dann  auch 
noch  auf  die  linke  Hand  erstrecken.  Die  kurz  dauernden  Anfälle  treten 
ca.  12 mal  täglich  auf.  Bewußtsein  dabei  nicht  getrübt  Aura: 
SLribbeln  in  der  linken  Augengegend. 

Seit  2  Wochen  Verschlechterung  der  Sprache. 

Befund:  Schlecht  genährter,  ganz  intelligenter  Mann.  Sprache 
anarthrisch,  skandierend.  Parese  des  linken  Facialis  (und  Gaumensegels). 
Motorische  Kraft  in  der  linken  Hand  beträchtlich  herabgesetzt  Be- 
wegungen mit  derselben  ungeschickt,  steif.  Sensibilität^  Reflexe,  Augen- 
hintergrund normal.  Schmerz  bei  Beklopfen  in  der  rechten  Schläfen-  bezw. 
Scheitelgegend.     Augenbewegungen  frei. 

Puls  80 — 100,  klein ;  Arterie  geschlängelt  Kein  Fieber.  Keine  Kopf- 
schmerzen. 

Es  werden  täglich  etwa  5 — 6  Anfalle  beobachtet :  Beginn  der  Krämpfe 
im  linken  Mundfacialis,  es  folgen  Augenfacialis,  Platysma ;  dann  Zuckungen 
im  linken  Daumen  (Flexor  hallucis),  2.  Finger  und  den  Pronatoren  des 
Vorderarms.  Zum  Schluß  wird  der  Unterarm  spastisch  gegen  den  Ober- 
arm gebeugt  In  derselben  Reihenfolge  verschwinden  die  Krämpfe  wieder. 
Bewußtsein  völlig  ungestört  dabeL  Dauer:  ^/,  bis  mehrere  Minuten. 
Oberarm  und  Bein  ganz  frei. 

Diagnose:  jAOKSONSche  Epilepsie. 

26.  Okt     Himpunktion. 

Punktion  I  r.  oberes  FacialiszentrunL  Punktion  11  r.  unteres  Facialis- 
zentrum.     Punktion  III  r.  Hypoglossuszentrum. 

Bei  I  und  II  Hirnsubstanz  aspiriert  Darin  mikroskopisch:  massen- 
haft echte  ^ämatoidinkrystalle. 

Diagnose:  Apoplek  tisch  er  Herd  (Ursache  der  jACKsoNschen 
Epilepsie). 


882  Ernst  Neisser  und  Eurt  Pollack, 

27. — 28.  Okt  Leichte  Temperatorsteigerung,  die  schnell  wieder  ab- 
klingt. 

In  der  nächsten  Zeit  Anfillle  etwas  seltener.  Linke  Hand  besser  be- 
weglich, bei  den  Anfallen  frei.     Sprachstörung  geringer. 

Loa  November  nimmt  die  Zahl  der  AnfUle  wieder  zu,  die  linke  Hand 
und  der  Vorderarm  werden  wieder  mitbefallen.  Schließlich:  alle  Stunde 
1  Anfall!  Besonders  durch  Sprechen  ausgelöst.    Sonst  Status  idem. 

8.  Dez.  1903.  Operation  (Prof.  Häckbl).  Bildung  eines  5-markstück- 
großen  WAONBRSchen  Lappens  im  Bereich  des  rechten  Facialiszentrums 
(Punktionsstellen!)  ... 

Nach  Eröffiaung  des  Schädels  wölbt  sich  das  Gehirn  mit  seinen  Häuten 
wenig  pulsierend  in  die  Knochenlücke.  Auf  der  Tabula  interna  an 
einer  Punktionsstelle  ein  ca.  2  mm  hoher  Hügel  von  Knochenstaub,  der 
durch  die  Dura  bis  in  die  Hirnrinde  reicht.  Keine  Spur  entzündlicher 
Reaktion.  An  einer  Stelle,  wo  es  bläulich  durchschimmert,  wird  die  Dura 
kreuzförmig  gespalten.  Punktionsstellen  als  kleine  Flecke  an  der  Hirn- 
Oberfläche  sichtbar.  An  einer  —  abgetrennt  von  dem  oben  erwähnten 
„HügeP^  —   ein  kleiner  Hügel  von  Bohrstaub. 

Sehr  starkes  Oedem  der  Pia,  geringe  Hirnpulsation. 
Es  entleert  sich  massenhaft  Serum!  Sonst  nichts  Besonderes  zu 
sehen.  Probepunktion  in  die  Himsubstanz  ergibt  nichts.  Incision  (2  cm 
lang)  im  Bereich  der  Punktionsstellen  wird  bis  zu  etwa  1,5  cm  vertieft. 
Jetzt  erscheint  eine  rötliche,  weiche,  etwa  kirschkerngroße 
Partie  in  der  weißen  Substanz.  Hiervon  etwas  mit  dem  scharfen  Löffel 
entnommen. 

Am  Ende  der  Operation  (nachdem  sehr  viel  Serum  abgeflossen),  ist 
das  Hirn  eingesunken  und  pulsiert  gut!,  so  daß  die  Dura  ohne  Spannung 
leicht   vernäht  werden   kann.     WAONiBRScher   Lappen   zurückgeklappt  etc. 

Mikroskopische  Diagnose  des  ausgekratzten  Stückchens  (Prof.  Dr. 
Lubarsch):  Gliom! 

Klin.  Diagnose:  Beginnendes  Gliom  (Glioma  apoplecticum)  und 
lokales  Piaödem  als  Ursache  der  jACKSONschen  Epilepsie. 

In  der  folgenden  Nacht  noch  angeblich  2  Anfälle. 

10.  Dez.  Leichter  Temperaturanstieg.  Leichte  Kop&chmerzen. 
Puls  76.  Keine  Anfälle  mehr.  Facialisparese  wie  vorher.  Sprechen 
ungehindert 

12.  Dez.     Völlige  Euphorie.     Keine  Krämpfe  mehr.     Kein  Fieber. 

13.  Dez.  Schüttelfrost.  Temperaturanstieg  auf  38,8 •.  Später:  Kein 
Fieber.  Keine  Beschwerden.  Lähmung  der  Dorsalflektoren  der 
Hand!  Taubes  Gefühl  im  Vorderarm.     Sonst  nichts  festzustellen. 

15.  Dez.  Wunde  heilt  per  primam.  Kein  Fieber.  Keine  Zuckungen. 
Strecklähmung  besteht  fort. 

26.  Dez.  Strecklähmung  plötzlich  verschwunden.  Ob- 
jektiv nur  noch  die  geringe  Facialisparese  vorhanden. 

31.  Dez.     Da  Pat.  völlig  beschwerdefrei,  entlassen. 

(3  Monate  später  geht  es  ihm  noch  unverändert  gut.  Keine  Anfalle 
mehr  aufgetreten.) 

20.   Frau  B>.     (Fall    eines   befreundeten   Ohrenarztes;    unvollständig!) 
Anamnese:  Seit  September  1903  ohrenleidend.     Zeichen  von  Otitis 
media  und  Warzenfortsatzeiterung  links. 

11.  Nov.  1903.     Operation:    Granulationen    im  Processus   und   wenig 

Eiter. 


•Die  Himpunktion.  883 

Besserung. 

Später  Kopfschmerzen,    unsicherer  Oang,    Ohnmächten.     Kein  Fieber. 
Fötide  Ohreiterung.     Wechselndes  psychisches  Verhalten. 
22.    Nov.     Badikaloperation.       Granulationen    unterhalb    der    Tuben- 
mündnng  in  der  Gegend  der  Carotis  interna. 


Dann  andauernde  Kopfschmerzen,  psychische  Depressiouszustände. 
Fötide  Eiterung  aus  der  Gegend  der  Tubenmündung. 

27.  Nov.  Leichtes  Oedem  über  der  Squama.  Temperatur  37,6^. 
Verdacht  auf  eztraduralen  Absceß. 

3.  Operation:  Kleiner  subperiostaler  Absceß  an  der  Wurzel  des  Proc. 
zygomaticus.  Eröffnung  der  mittleren  Schädelgrube  und  Punktion  des 
Schläfenlappens.     Ergebnis  nichts.     Temperatur  abends  38,6^. 

In  den  nächsten  Tagen:  Kein  Fieber.  Heftige  Stirnkopfsohmerzen 
links.  Kein  Erbrechen.  Unruhe  der  Gesichtsmuskeln.  Kniescheiben- 
reflexe gesteigert,  besonders  rechts,  Fufizittern.  Romberg  -f.  Keine  Nacken- 
starre. Puls  84.  Angeblich  Zuckungen  im  rechten  Arm  und  Bein.  ELlopf- 
schmerz  über  der  linken  Kleinhimgegend !     Augenhintergrund  normal. 

Diagnose:  Linksseitiger  Kleinhimabsceß.  Von  dem  Kollegen  zu- 
gezogen punktierten  wir  am  linken  Kleinhimabsceßpunkt  und  erhielten 
trübe,   serös-eiterige  Flüssigkeit     (Lumbalpunktion  leider  nicht    möglich!) 

Diagnose:  Entweder  Peripherie  eines  Abscesses  angestochen  oder 
Meningitis  purulenta. 

Operation  (da  Meningitis  klinisch  kaum  denkbar):  ergiebt  normales 
Kleinhirn,  Sinus  etc.     Trübes  Meningealödem ! 

Bald  darauf  Exitus. 

Sektion:  Diffuse  eiterige  Meningitis,  ausgehend  vom  linken  Canalis 
caroticus;  besonders  entwickelt  in  der  linken  mittleren  und  vorderen 
Schädelgrube. 

Li  den  Cistemen  trübe,  serös-eiterige  Flüssigkeit,  die  bei  der  Punktion 
aspiriert  war. 

Otitis  media  sinistra. 

2L  E.  Bohl,  4  Jahre  alter  Knabe.     26.  Jan.  1904  bis  8.  März  1904  (f). 

Anamnese:  Früher  immer  gesund.  Vor  1  ^/^  Jahr  Fall  von  einer 
Treppe  auf  das  linke  Ohr ;  darauf  Bewußtlosigkeit,  Blutung  aus  dem  linken 
Ohr.  Arzt  diagnostizierte  Basisfraktur.  Darauf  eine  Zeitlang  hohes 
Fieber  (?).  Dann  Heilung  bis  auf  Stirnkopfschmerzen.  Michaelis  1903 
so  heftige  Kopfschmerzen,  daß  er  sich  legen  mußte;  seitdem  dauei-n  die- 
selben an.  Kurz  vor  Weihnachten  Krampfanfall:  fiel  mit  einem  Schrei 
hintenüber,  lag  steif  zurückgebogen  da  (keine  Zuckungen),  sah  sehr  blaß 
aus.  Erholte  sich  erst  nach  Y^  Stunde  wieder.  Anfang  Januar  1904: 
Zweiter  Anfall,  der  nur  einige  Minuten  dauerte;  vor  8  Tagen  dritter 
Anfall  (10  Minuten  lang).  Femer  seit  Weihnachten  Verschlechterung  des 
Sehvermögens:  innerhalb  von  8  Tagen  völlige  Erblindung!  Auch  der 
(}ang  verschlechterte  sich.  Die  Sprache  soll  seit  dem  Fall  „langsam" 
geworden  sein.  Eine  Zeitlang  ließ  B.  unter  sich;  in  den  letzten  Wochen 
nicht  mehr. 

Befund:  Kleiner,  ganz  intelligenter,  schlecht  genährter  Knabe. 
Völlig  erblindet.  Oreifb  sich  öfters  nach  dem  Kopf.  Kein  Fieber.  Puls 
zwischen  110  und  140!  Weinerliche  Stimmung,  aUgemeine  Hanthyper- 
ästhesie. Lähmung  des  ganzen  linken  Facialis  (peripherisch),  Zunge 
weicht  nach  links  ab.     Pupillen  ad  maximum  erweitert,    fast  reaktionslos. 


884  Ernst  Neisser  und  Eart-Pollaok, 

Parese  des  linken  Beines.  Gehen  unmöglich.  Patellarrefleze  rechts  eben 
noch  ausisulösen,  links  fehlend.  Babinsky  -f"*  Es  bestehen  offenbar  heftige 
Kopfschmerzen.  Augenhintergrund:  schwere  doppelseitige  Stauungspapille 
mit  Uebergang  in  Atrophie  (keine  Extravasate). 

Lumbalpunktion :  Druck  von  780  mm  Wasser.  Klare  Flüssigkeit,  die 
kein  Gerinnsel  bildet 

Diagnose:  Tumor  der  hinteren  Schädelgrube  oder  Meningitis  serosa. 

Verlauf:  28.  Jan.  Himpunktion  I,  rechtes  Kleinhirn  (ohne  Er- 
gebnis); Himpunktion  U,  linkes  Kleinhirn,  oberflächlich  etwas  gelbliche, 
trübe  (anscheinend  serös-eiterige)  Flüssigkeit  aspiriert  (ca.  1 — 2  ccm),  die 
kleine  Partikelchen  enthält. 

Mikroskopisch:  a)  in  der  Flüssigkeit  viele  zerfallene  Leukocyten; 
b)  in  den  Partikelchen  (in  Paraffin  eingebettet):  normale  Kleinhirnrinde 
und  etwas  nekrotische,  von  Leukocyten  durchsetztes  Himgewebe. 

29.  Jan.     Tachycardie.  Euphorie. 

Punktion  III  hinten  links  an  der  alten  Stelle:  ohne  Ergebnis. 

30.  Jan.  Erbrechen,  Kopfschmerzen  dauern  an.  Sehr  unregelmäßige 
Atmung. 

1.  Febr.  1904.  Punktion  IV  hinten  links  alte  Stelle.  Oberflächlich 
wieder  ein  paar  Tropfen  trüber,  eiteriger  Flüssigkeit  herausgezogen,  die 
zerfallene  Leukocyten  enthält.     Tuberkelbacillen  darin  nicht  gefunden. 

Diagnose:  basale  Meningitis  der  hinteren  Schädelgrube. 

Punktion  V  des  1.  Seitenventrikels :  aus  2  cm  Gehirntiefe  quillt  massen- 
haft Liquor  hervor;  23  ccm  abgelassen  (dann  kein  üeberdruok  mehr). 
Liquor  klar,  ohne  Besonderheiten. 

2.  Febr.  1904.  Große  allgemeine  Hyperästhesie,  firbrechen.  Pat 
läßt  unter  sich.    In  den  nächsten  Tagen  deutliche  Besserung. 

13.  Febr.  1904.  Punktion  VI,  1.  Eleinhim  weiter  nach  hinten  punk- 
tiert; Punktion  VII,  ebenso  r.  Kleinhirn;  ohne  Ergebnis. 

Punktion  VIII  r.  Seitenventrikel;  13  com  Liquor  entleert. 

Bedeutende  Besserung  des  Allgemeinbefindens  nach  der  Punktion. 
Ende  Februar  wieder  Verschlechterung.  Fieber  fehlt  andauernd.  Puls 
zwischen  120  und  150. 

27.  Febr.  1904.  Punktion  IX,  1.  Stimhim.  Punktion  X,  r.  Stimhirn. 
In  4  cm  Tiefe  beiderseits  Liquor  gefunden,  der  herausspritzt.  So  werden 
55  ccm  abgelassen.     Die  Pupillen  verengen  sich  während  der  Punktion. 

Diagnose:  Meningitis  serosa ?I 

Nach  der  Punktion  bedeutende  Besserung! 

Später  wieder  Kopfschmerzen,  Erbrechen.  Cheyne  Stokes.  Puls  um 
160.     Pupillen  dilatiert.     Schreit:  „ich  falle,  ich  falle". 

Mehrfache  Lumbalpunktion :  starker  Ueberdruck.  Flüssigkeit  zu- 
nächst klar,  später  leicht  getrübt,  dann  wieder  klar,  aber  mit  einem  Stich 
ins  Gelblichgrüne.     Begelmäßig  Bildung  eines  zarten  Gerinnsels! 

Verdacht  auf  tuberkulöse  Meningitis  (eventuell  Schub  einer 
serösen  Meningitis),  obgleich  keine  Tuberkelbacillen  gefunden. 

Zeitweise  Fiebersteigerungen.  Zunehmende  Benommenheit.  Eigen- 
tümliche Anfälle  von  Zittern  des  Bumpfes  und  der  Extremitäten  bei  Be- 
rührung, auch  spontan.     Erbrechen. 

Anfang  März  noch  eine  Remission;  erhebliche  Besserung.  Dann 
rapide  Verschlechterung. 

7.  März  1904.  Punktion  XI.  L.  Seitenventrikel  von  vorn  durch  den 
alten  Kanal  punktiert:  16  ccm  Liquor  entleert,  in  dem  sich  zartes  Ge- 
rinnsel bildet     Vorübergehende  Besserung. 


Die  Hirnpunktion.  885 

8.  März  1904.     Punktion  Xu,  desgl.  r.  Seitenventrikel.    Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Zwei  Tuberkel  der  1.  Kleinhirnhemisphäre; 
sekundärer  Hydrocephalus  internus  mit  starker  Erweiterung  der  Hirn- 
ventrikel.   Basale  tuberkulöse  Meningitis  speziell  der  hinteren  Schädelgrube. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll: 

1.  Betreffend   die  Punktionsstellen: 

a)  außen  am  Schädeldach:  keine  Besonderheiten. 

b)  innen  am  Schädeldach:  einige  Bohrkanäle  leicht  aufgeworfen, 
andere  glatt 

c)  an  der  Außenfläche  der  Dura :  beide  Stimpunktionsstellen  zu  sehen ; 
rechts  eine  linsengroße  flächenhafte  Blutinflltration ;  links  eine  leicht  er- 
habene, rötlichgelbe,  kömige  Auflagerung  (Blutfarbsto£F  ^-  Bohrstaub). 

d)  an  der  Innenseite  der  Dura,  r.  Stimpunktionsstelle :  linsengroße 
BlutsufiPusion ;  1.  Seitenventrikelpunktionsstelle :  kleiner  Schlitz  in  der 
Dura,  ohne  jede  Reaktion ;  r.  Seitenventrikelpunktionsstelle :  kein  Loch  in 
der  Dura,  sondern  kleiner,  1 — 2  mm  hoher  Hügel  aus  Knochenstaub. 

e)  an  der  Himoberfläche :  ohne  jede  Reaktion  oder  Blutung;  größten- 
teils nicht  wiederzufinden. 

2.  Betreffend  den  übrigen  Befund.  Gehirn  von  schwappen- 
der Konsistenz  ...  In  den  Cistemen  der  Basis  reichlich  trübe,  grau- 
gelbliche Flüssigkeit .  . .  Pia  der  Basis  getrübt,  sukkulent,  gelblichgrün 
verfärbt,  stellenweise  rein  eiterig  infiltriert.  Hie  ufid  da  —  speziell  im 
Bereich  der  Gefäße  —  grauweißliche,  submiliare  Knötchen.  Pia  im  Be- 
reich der  hinteren  Schädelgrube  größtenteils  eiterig  infiltriert ...  In  der 
1.  Kleinhimhemisphäre  dicht  unter  der  Rinde  2  fast  walnußgroße,  harte 
Knoten,  von  den  der  eine  sich  in  den  4.  Ventrikel  hineinwölbt.  (Der 
äußere  Knoten  ist  bei  der  Punktion  offenbar  getroffen  worden)  . .  .  Auf 
dem  Durchschnitt  bestehen  beide  Knoten  aus  einer  trockenen,  käseähnlichen 
Masse  von  gelblicher  Färbung,  die  in  ihren  zentralen  Partien  erweicht 
ist  .  . .  Ventrikel  stark  erweitert  mit  massenhaft  leicht  getrübtem  Liquor 
erfüllt.  In  das  Unterhom  kann  man  mit  Leichtigkeit  einen  Finger  hinein- 
führen. 

Diagnose  mikroskopisch  und  makroskopisch:  Kleinhimtaberkel. 

22.  K.  Mallisch,  Brunnenmacher,  37  Jahre.     17.— 20.  Febr.  1904  (f). 

Anamnese  (von  der  Frau  erhoben):  Seit  6  Jahren  leidend  (morgend- 
liches Erbrechen,  Schwäche  in  den  Beinen).  Alcoholica  hat  er  viel  ge- 
nossen. Im  Herbst  1903  wurde  er  hier  schon  einmal  behandelt  (Diagnose : 
Potator.  Neuritis!).  Nach  der  Entlassung  trank  er  wieder  viel.  Seit 
2  Wochen  heftiges  Erbrechen.  Seit  3  Tagen  konnte  er  nicht  mehr  auf- 
stehen. Heut  zum  erstenmal  etwas  unklar;  sah  doppelt;  fuhr  mit  den 
Händen  in  der  Luft  herum.  (Frau  hatte  2  Aborte ;  keine  lebenden  Kinder ; 
seit  2  Jahren  ist  der  Mann  impotent.) 

Bef un  d :  Schlecht  genährter  Mann ;  völlig  comatös !  „Große  Atmung." 
Keine  Verletzungen.  Keine  Lähmungen  (Parese  des  1.  Facialis  ?).  Spasmen 
in  Armen  und  Beinen.  Befleze  normal.  Kein  Druckpuls,  kein  Fieber, 
keine  Nackenstarre.  Augenhintergrund  normal.  Urin  frei  von  Eiweiß, 
Zucker,  Aceton.  Zunge  trocken.  Herz,  Lungen  gesund.  Leber  nicht  ver- 
größert    Pat.  schluckt  einigermaßen.     Brechneigung. 

Lumbalpunktion:  klare  Flüssigkeit,  246  mm  Wasserdruck. 

Diagnose:  Verdacht  auf  Hämatom  der  Dura.     Ord. :  Schmierkur. 

19.  Febr.  1904.  Verschlechterung  des  Zustandes.  Cheyne-Stokes. 
Puls  90.     Kein  Fieber. 

HittefL  a.  d.  GTenz«:ebietcn  d.  Medldn  o.  Chlrargie.    Xm.  Bd.  57 


886  Ernst  Neisser  and  Kurt  Pollack, 

Hirnpunktion  I,  rechter  vorderer  KRÖNLEiKscher  Pankt.  Entleerung 
von  20  com  dunklen  Blutes,  das  anscheinend  frisch  ist.  Erst  bei  ge- 
nauerer Betrachtung  sieht  man  darin  einige  etwa  stecknadelkopfgroße^ 
schwarze  Körner,  die  sich  mikroskopisch  als  aus  amorphem  und  kristalli- 
nischem Blutpigment  zusammengesetzt  erweisen. 

Punktion  II.  1  cm  nach  hinten  von  der  vorigen  Stelle.  Erst  Liquor^ 
dann  10  ccm  ziemlich  helles  Blut  entleert. 

Punktion  III,  rechte  hintere  KRöNLEiNSche  Punkt:  ohne  Ergebnis. 

Diagnose:  extra-  oder  intradurales  Hämatom. 

20.  Febr.  1904.  Puls  65.  Temperatur  38,2.  Unter  Kleinerwerden 
des  Pulses  txitt  allmählich  der  Tod  ein. 

Sektionsdiagnose:  Ausgedehnte  Blutung  in  das  Marklager  der 
r.  Hemisphäre  mit  Durchbruch  nach  außen  in  den  pialen  nnd  subduralen 
Raum.  Chronische  Nephritis,  Fettleber,  beginnende  Pneumonie,  Herz- 
dilatation, Lungenemphysem  etc. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Nach  Eröffnung  der  Dura  fließt 
rechterseits  reichlich  flüssiges  dunkles  Blut  ab.  Innenfläche  der  Dura 
glatt,  feucht,  ohne  Beläge.  Pia  im  Bereich  des  r.  Stirn-,  Zentral-  und 
Schläfenlappens  blutig  suffundiert.  Auch  weiter  nach  der  Basis  zu  sub- 
piale  und  subdurale  Blutergüsse  .  .  .  Ventrikel  ganz  leer  . .  .  Das  Mark- 
lager der  rechten  Hemisphäre  ist  zum  größten  Teil  zertrümmert  und  von 
flüssigem  und  geronnenem  Blut  durchsetzt.  Diese  Blutmassen  gehen  kon- 
tinuierlich in  die  oben  beschriebenen  subpialen  resp.  subduralen  Blut- 
ergüsse über. 

Betreffend  die  Punktionsstellen:  No.  1  und  2  treifen  die  subduralen 
Blutergüsse  (dahier  hier  Blut  bei  der  Punktion  aspiriert!);  No.  3  trifft 
die  Stelle,  wo  nur  subpiale  Blutsuffusion  ist,  eine  größere  subdurale  Blut- 
ansammlung dagegen  fehlt  (daher  hier  nichts  aspiriert  I). 

23.  F.  BShr,  Knabe  von  ly^  Jahren.   Aufgenommen  den  29.  Febr.  1904. 

Anamnese:  Vor  14  Tagen  flel  das  Dienstmädchen  mit  dem  Kinde 
eine  Treppe  herunter.  Dieses  schlug  heftig  mit  der  rechten  Kopfhälfte 
auf.  (Keine  offene  Verletzung.)  Es  war  völlig  besinnungslos  und  lag 
3  Tage  lang  mit  geschlossenen  Augen;  die  Sprache  war  fast  ganz  fort. 
Ab  und  zu  stellte  sich  Fieber  ein;  femer  war  das  Kind,  das  vorher  gut 
sah,  seit  dem  Unfall  blind.  Ein  zugezogener  Arzt  diagnostizierte  Oe- 
himerschütterung  und  Schädelbruch  und  konstatierte  Schwäche  des  linken 
Armes. 

In  den  letzten  Tagen  wurde  das  Kind  immer  unklarer,  machte  einen 
schwer  kranken  Eindruck. 

Befund:  Kleines,  ganz  gut  genährtes  Kind,  sehr  weinerlich,  deut- 
lich benommen.  Schädel  (Knochen,  Weichteile)  intakt.  Kein  Fieber.  Puls 
über  160!  sehr  klein,  fadenförmig.  Allgemeine  Hauthyperästhesie.  Linker 
Arm  in  Beugekon traktur,  scheint  leicht  paretisch;  auch  das  linke  Bein 
bleibt  bei  Bewegungen  deutlich  zurück.  Linker  Facialis  eine  Spur  pare- 
tisch (?).  Deutliche  Deviation  der  Augen  nach  links.  Augenhintergrund : 
rechterseits  etwas  nach  außen  von  der  Papille  ziemlich  ausgedehnte, 
subretinale  Blutung;  links  normal. 

1.  März  1904.     Status  idem.     Sehr  schlechter  Allgemeinzustand. 

Diagnose:  Verdacht  auf  traumatische,  extra-  oder  intradurale 
Blutung. 

Punktion  I,  rechte  motorische  Region  (1  cm  hinter  dem  oberen 
Drittelpunkt).     Sofort  nach  der  Perforation  des  Schädeldaches 


Die  Himpunktioo.  887 

quillt  eine  dünne  bräunliche  Flüssigkeit  aus  dem  Bohr- 
loch. Einführung  der  stumpfen  Nadel ;  Entleerung  von  lOccm  bräun- 
lich tingierten  Serums.  Nun  erst  wird  die  Dura  mit  der  spitzen 
Nadel  durchstochen  und  aspiriert,  jedoch  ohne  Ergebnis. 

Diagnose:  extradurales  Extravasat. 

Punktion  IT,  rechte  hintere  EBöNLEiKSche  Punkt.  Ergebnis:  Extra- 
dural (stumpfe  Nadel)  nichts!  Intradaral  (spitze  Nadel):  zertrümmerte 
Himsubstanz  mit  schwärzlich-bräunlichen  Massen  (altem  Blut)  durchmischt 
(also  Contusio  cerebri  an  dieser  Stelle). 

2.  März  1904.  Bedeutende  Besserung  des  Zustandes  bald 
nach  der  Punktion.  Puls  geht  auf  110,  dann  100  Schläge  herunter. 
Kein  Fieber.  Der  Knabe  schreit  noch  viel,  ist  noch  etwas  unruhig.  Er- 
kennt den  Vater  an  der  Stimme.     Fixiert  aber  nicht. 

4.  März.     Viel  ruhiger.     Spricht  einzelne  Worte. 

5.  März.     Ist  ganz  ruhig,  spielt  mit  dem  Löffel. 

7.  März.  Wohlbefinden.  Puls  zwischen  90  und  100.  Lacht  im  Bade. 
Spricht. 

10.  März.  Puls  90.  Knabe  spielt,  ist  munter.  Dauernd  normale 
Temperatur. 

In  der  nächsten  Zeit  völlige  Genesung,  bis  auf  eine  sich  entwickelnde 
doppelseitige  Opticusatrophie.     (Folge  einer  Basisfraktur?!) 

Geheilt  entlassen. 

24.  G.  Freitag,  Kutscher.     18.  März  1904  (f). 

Junger  Mensch,  der  morgens  ohne  Anamnese  eingeliefert  wird. 

Befund:  F.  riecht  nach  Schnaps.  Gesicht  gerötet.  Ziemlich  starke 
Benommenheit.  Temperatur  35^.  Puls  96.  Hautabschürfungen  am  linken 
Oberschenkel,  beiden  Knien,  am  rechten  Auge.  Schädel  intakt.  Lähmungen 
nicht  feststellbar. 

12  Uhr  mittags  Anfall.  F.  wird  blau,  zuckt  mit  dem  rechten  Arm; 
Mund  nach  links  verzogen,  linkes  Auge  zugekniflFen  (Angaben  der  Schwester). 
Dauer  des  Anfalles  1 — 2  Minuten.  Danach  völlige  Benommenheit,  tiefe 
Atmung.  Springende  Pupillen.  Patellarreflexe  gesteigert.  Augenhinter- 
grund normal. 

Lumbalpunktion  ergibt  ganz  geringen  Ueberdruck,  sonst  normale  Ver- 
hältnisse. 

1  Uhr  mittags:  Puls  102,  gespannt;  Atmung  aussetzend.  Rasseln! 
Deutliche  Zeichen  von  Hirndruck  fehlen! 

Da  aber  doch  Verdacht  aufMeningeablutung:  Himpunktion  I. 
linke  vordere  KRöNLBiNsche  Punkt:  ohne  Ergebnis. 

Punktion  II,  linke  hintere  KRöNLBiNsche  Punkt,  anscheinend  subdural 
einige  Kubikzentimeter  dunkles  Blut  von  bräunlichem  Timbre  entleert,  in 
dem  kleine  schwärzliche  Partikelchen  schwimmen,  die  mikroskopisch  aus 
kristallinischem  und  amorphem  Blutpigment  bestehen. 

Größere  Mengen  Blut  können  nicht  entfernt  werden. 

Diagnose:  vermutlich  intradurales  Hämatom. 

Punktion  III,  rechte  vordere  KRöNLBmsche  Punkt,  ohne  Ergebnis. 

Punktion  IV,  rechte  hintere  KRöNLEiEsche  Punkt,  ohne  Ergebnis. 

Punktion  V,  da  Krämpfe  im  rechten  Arm :  linkes  Armzentrum :  einige 
Kubikzentimeter  Blut  von  der  obigen  Beschaffenheit  punktiert. 

Befinden  nach  der  Punktion  unverändert.  Ab  und  zu  Zucken  im 
rechten  Arm. 

Operation    nicht   vorgenommen,    da  1)  Fehlen  von  Hirndruck;    2)  er- 

57* 


888  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

haltene  Blatmenge  sehr  geriog,  somit  umschriebener,  größerer,  entfembarer 
Bluterguß  unwahrscheinlich ! ! 

Nachmittags  3  Uhr :  Temperatur  37,9.  Völlige  Benommenheit.  Schluckt 
nicht  mehr. 

4  Uhr:  2  epileptiforme  Anfalle.  Beim  ersten  zuckt  die  ganze  rechte 
Seite;  beim  zweiten  nur  linker  Arm  und  linker  Facialis. 

Atmung  aussetzend,  Bassein,  weicher  frequenter  Puls. 

Punktion  VI,  rechte  motorische  Region  (hinter  dem  unteren  Drittel- 
punkt) ohne  Ergebnis. 

Punktion  VII,  hintere  KRöNLSiNSche  Punkt  links  (alter  Kanal):  etwas 
altes  Blut. 

Punktion  VIII,  zwischen  Punktionsstelle  11  und  V  (an  denen  beiden 
altes  Blut  gefunden) :  sofort  quillt  bräunliche  Flüssigkeit  —  offenbar  altes 
Blut  —  aus  dem  Bohrloch.  Einige  Kubikzentimeter  altes  Blut  lassen  sich 
noch  aspirieren  und  etwas  zertrümmerte  Himsubstanz. 

Abends  doch  noch  zur  Operation  geschritten.  Kurz  vorher  noch  ein 
epileptiformer  Anfall,  bei  dem  die  ganze  rechte  Seite  zuckt. 

7  Uhr  Operation  (Dr.  Dbblin).  Bildung  eines  WAONBRschen  Lappens, 
der  Punktionsstelle  11  und  VIII  noch  mit  in  seinen  Bereich  nimmt  Extra- 
dural findet  sich  nichts.  Die  Dura  zeigt  keine  Pulsation,  auch  schimmert 
es  blau  durch.  Nach  Eröffnung  der  Dura  fließt  mäßig  viel  teils  älteres, 
teils  frisches  Blut  ab.  Das  vorliegende  Gehirn  erscheint  hier  leicht  ge- 
quetscht. Stillung  der  Blutung  durch  Tamponade,  Zurückklappung  des 
Lappens. 

Bald  nach  der  Operation:  Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Subduraler  Bluterguß  mäßigen  Grades  der 
linken  Hemisphäre;  Contusio  cerebri  im  Bereich  des  linken  Schläfen- 
lappens. Hochgradige  potatorische  Veränderungen  (Degeneration  von  Herz 
und  Nieren).     (Schädel  intakt     Punktionsstellen  ohne  Besonderheiten.) 

Wie  wir  später  erfuhren,  war  F.  ein  Vagabund,  der  sich  lange  ar- 
beitsscheu umhertrieb  und  völlig  verkommen  war! 

26.  O.  Hartmann,  Schreiber,  16  Jahre.    19.  März  bis  22.  März  1904  (f). 

Anamnese:  Bis  vor  14  Tagen  ganz  gesund  gewesen.  Dann  er- 
krankte er  mit  Schnupfen  und  Appetitlosigkeit.  Seit  5  Tagen  legte  er 
sich,  hatte  heftigen  Stirn kopfschmerz.  Seit  gestern  ist  er  unklar,  be- 
nommen. Kopfschmerzen  dauern  heftig  an.  In  den  letzten  Tagen  häufiges 
Erbrechen ! 

Befund:  Sehr  blasser,  magerer  junger  Mann.  Völlig  benommen. 
Es  besteht  starke  Bhinitis.  Puls  60,  unregelmäßig.  Temperatur  37®. 
Linker  Facialis  (unterer)  gelähmt.  Zunge  schwer  beweglich,  weicht  beim 
Vorschieben  nach  links  ab;  ist  trocken.  Sonst  keine  Lähmungen  oder 
Paresen.  Herz,  Lungen  ohne  Besonderheiten.  Rechts  hinten  unten  Schall- 
verkürzung. Atemgeräusch  kaum  hörbar.  Milz  klein.  Augenhintergrund 
normal.  Ohren  gesund.  Lumbalpunktion:  Druck  400  mm  Wasser,  klare 
Flüssigkeit,  die  kein  Gerinnsel  absetzt. 

Diagnose  schwankt  zwischen  (rhinogenem)  Himabsceß  und  eventuell 
tuberkulöser  Meningitis. 

20.  März.     Linke  Hand  leicht  paretisch  und  anästhetisch. 

Punktion  I,  rechtes  Facialiszentrum. 

Punktion  II,  rechter  Stirnlappen  (Pol). 

Punktion  III,  rechtes  Annzentrum. 

Punktion  IV,  rechter  Schläfenlappen  (Absceßpunkt). 


Die  Hirapunktion.  889 

Panktion  V,  rechter  Stimlappen  (Zentrum). 

Alle  Punktionen  ohne  Ergebnis  (etwas  normaler  Liquor,  Blut  und 
Hirnsubstanz  entleert). 

Diagnose:  Kein  Himabsceß. 

Nach  der  Punktion  ist  H.  viel  klarer,  verlangt  zu  essen.  Deviation 
conjugu^e  nach  rechts.  Puls  70 — 80.  Temperatur  37— 38<>.  Abends  Be- 
nommenheit. Lumbalpunktion  (II):  136  mm  Wasserdruck.  Fltlssigkeit 
opalesziert  leicht.  Im  Sediment  reichlich  Lymphocyten  und  Tuberkel- 
bacillen! 

Diagnose:  Tuberkulöse  Meningitis. 

22.  März.     Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Tuberkulöse  Meningitis  speziell  der  Basis  und 
Sylvischen  Furche. 

Tuberkulöse  Bronchitis  und  Peribronchitis.  Bronchopneumonien.  Be- 
ginnende Hepatisation  des  linken  Unterlappens. 

Disseminierte  Tuberkulose  des  ganzen  Peritoneums.  Herzdilatation. 
Stauungsorgane  etc. 

[Punktionsstellen  an  Schädel,  Dura,  Hirn  ohne  Besonderheiten;  kaum 
noch  aufzufinden.     An  einer  eine  kleine  SufFusion  der  Pia.] 

ae)  W.  Lindner,  8-jähr.  Mädchen.     12.  April  1904  (f). 

Anamnese:  Früher  immer  blutarm  gewesen.  Am  I.April  plötzlich 
erkrankt  mit  Mattigkeit,  Appetitlosigkeit ;  darauf  stellten  sich  Schmerzen  in 
der  Nasen-  und  Stirngegend,  sowie  heftige  Kopfechmerzen  ein.  Der  Stuhl- 
gang war  angehalten.  —  An  den  Ohren  hat  L.  nie  gelitten,  auch  nie  ge- 
hustet. —  Vor  5  Tagen  traten  Schmerzen  im  rechten  Fußgelenk  auf.    Seit 

2  Tagen   ist  sie  besinnungslos,   bohrt  den  Kopf  in  die  Kissen,   zieht  den 
Leib  ein. 

Befund:  Sehr  blasses  Kind,  völlig  benommen.  Nackensteifigkeit, 
Opisthotonus,  eingezogener  Leib.  Deviation  conjugu^e  nach  links.  Bechts- 
seitige  Hemiplegie  (links  leichte  Spasmen).  Pupillen  ad  maximnm 
dilatiert.  Puls  124.  Kein  Fieber.  Schwellung  und  Bötung  der  rechten 
äußeren  Knöchelgegend. 

Etwa  alle  10  Minuten  Zuckungen  im  rechten  Facialis,  Arm 
und  Bein,  die  schließlich  auch  auf  die  linke  Seite  übergreifen. 

Ohren,  Herz,  Lungen  ohne  Besonderheiten. 

Lumbalpunktion:  680  mm  Wasserdruck;  Flüssigkeit  trübe,  enthält 
reichliches  eiteriges  Sediment  mit  massenhaften  Streptokokken. 

Diagnose:  Eiterige  Meningitis.     Da  Verdacht  auf  Himabsceß: 

Punktion  I  1.  Schläfenlappen  (Absceßpunkt)  ohne  Ergebnis ;  Punktion  II 
nach  vom  und  oben  davon,  ohne  Ergebnis ;  Punktion  III  nach  hinten  und 
oben  davon,  ohne  Ergebnis;  Punktion  IV  1.  Kleinhirn  (Absceßpunkt): 
80  com  serös-eiteriger  Flüssigkeit  aspiriert  (offenbar  aus  dem  Subarachnoidal- 
raum) ;  Punktion  V  1.  Armzentmm,  ohne  Ergebnis ;  Punktion  VI  1.  Stirnhirn 
(Pol),  ohne  Ergebnis ;  Punktion  VII  1.  Stimhim  (Zentrum),  ohne  Ergebnis. 

Also  kein  Absceß. 

Exitus  letalis. 

Sektionsdiagnose:  Diffuse  eiterige  Meningitis.  Metastatische  Eite- 
rung des  rechten  Fußgelenkes. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  An  der  Dura  einzelne  Punktions- 
stellen durch  kleine,  bis  höchstens  linsengroße  Blutextravasate  gekenn- 
zeichnet ....  Ein  Punktionsstichkanal  noch  durch  ein  strichförmiges,  etwa 

3  mm  dickes  und  2  cm  langes  Blutgerinnsel   in  der  weißen  Substanz  an- 


890  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

gedeutet.  Im  rechten  vorderen  Nucleus  candatus  ein  kleiner  Bluterguß 
von  der  Größe  einer  halben  Erbse  ....  In  den  großen  Cistemen  der 
Basis  massenhaft  schmutzige,  bräunlichgelbe,  eiterige  Flüssigkeit  .... 
Knochen,  Sinus  intakt,  beide  Mittelohren,  Nasenhöhle  frei  ....  Eiteriger 
Erguß  im  Fußgelenk. 

Brust-  und  Bauchsektion  verboten. 

27)  K.  Trapp,  Schiffsstauer,  52  Jahre,  2.— 14.  April  1904  (f). 

Anamnese:  Früher  an  Polyarthritis,  Herzerweiterung  gelitten. 
Potatorium!  (Trinkerheilanstalt).  In  den  letzten  Jahren  bis  auf  leichte 
Attacken  von  Schwindel,  Unwohlsein,  gesund. 

Am  21.  Febr.  1904  fiel  T.  kurz  hintereinander  zweimal  hin.  Seine 
Frau  bemerkte,  daß  er  die  Augen  verdrehte,  das  Öesicht  schief  stand  und 
der  linke  Arm  gelähmt  war.  T.  sah  eigentümlich  aus  und  klagte  über 
Kopf-  und  Bückenschmerzen.  Er  lag  4  Wochen,  stand  dann  auf;  die 
linke  Seite  war  dauernd  gelähmt;  T.  war  sehr  unruhig,  verstört,  redete 
wirres  Zeug,  griff  nach  einem  Bevolver,  wollte  unbekleidet  fortgehen 
u.  dergl.  Der  Gang  war  taumelnd.  Kopfschmerzen  —  die  schon  seit 
Ende  Februar  ab  und  zu  auftraten  —  wurden  unerträglich.  Daher  über- 
wies ihn  ein  Arzt  dem  Krankenhaus.  —  Alcoholica  in  den  letzten  Jahren 
angeblich  kaum  genossen.  —  Für  Lues  kein  Anhaltspunkt. 

Befund:  Großer,  starker  Mann  mit  mächtigem  Fettpolster.  Kein 
Fieber.     Puls  80,  regelmäßig.     Urin  frei  von  Eiweiß  und  Zucker. 

Allgemeine  Unruhe,  heftige  Kopfschmerzen,  leichte  Benommenheit. 
Fat.  gibt  verkehrte  Antworten,  redet  wirres  Zeug.  Innere  Organe  gesund. 
Leib  stark  aufgetrieben.  Urinretention.  Reflexe  vorhanden.  Stark  schwan- 
kender Gang.  Doppelseitige  Neuritis  optica.  Leichte  Parese  im  linken 
Facialis  und  Arm.     Keine  Lähmungen. 

Diagnose:  Tumor  cerebri  (eventuell  Gumma)  oder  Pachjmeningitis 
haemorrhagica. 

Ord.:  Schmierkur.     JodkalL 

3.  ApriL     Erbrechen. 

4.  April.  Parese  der  linken  Abducens !  Erbrechen.  Leichte  Temperatur- 
steigerung. 

9.  April.  Benommenheit  nimmt  zu.  Parese  des  linken  Hypoglossus. 
Stauungspapille  stärker.     Pat.  läßt  unter  sich. 

11.  April.  Lumbalpunktion:  Starker  Ueberdruck.  Flüssigkeit  klar, 
bildet  kein  Gerinnsel. 

Punktion  I.  R.  hintere  Schädelgrube:  Spuren  altes  Blut  (mikrosko- 
pisches Blutpigment) !  Punktion  II.  B.  Hinterhauptslappen,  ohne  Ergebnis. 
Punktion  lEL  L.  hintere  Schädelgrube,  ohne  Ergebnis.  Punktion  IV. 
Durch  den  Kanal  I:  etwas  venöses  Blut  (wohl  aus  Vene).  Danach 
Besserung  des  Befindens. 

Diagnose:  Punktion  läßt  größere  pachymeningitische  Blutung  im 
Bereich  der  Punktionsstellen  ausschließen.  Sonst  ohne  Einfluß  auf  die 
Diagnose. 

12.  April.     Leichte  Temperatursteigerung.     Totale  Benommenheit 

13.  April.     Fieber.     Rasseln.    Völlige  Bewußtlosigkeit.    Exitus  letalis. 
Sektionsdiagnose:   Mächtiges  Glioma  apoplecticüm   der  rechten 

Großhirnhemisphäre   mit  roter  Erweichung  in  seiner  Umgebung.  —  Piale 

Blutungen   speziell   im   Bereich    der   hinteren  Schädelgrube.    —    Fettherz, 

Stauungsorgane,  chronische  Nephritis,  enorme  allgemeine  Adipositas. 
[Punktionsstellen  ohne  Besonderheiten.] 


Die  Hirnpunktion.  891 

28.  F.  Berg,  Versicherungsbeamter,  44  Jahr,  6.  April  bis  Mitte  Mai  1904. 

Anamnese  (von  der  Frau  erhoben):  Als  Kind  2-mal  an  Nasen- 
polypen operiert.  Vor  8  Jahren  Diphtherie.  Vor  4  Jahren  heftige  rechts- 
seitige Qesichtsneuralgie.  In  den  letzten  Jahren  sehr  nervös,  reizbar. 
Reiste  vor  5  Wochen  gesund  ab,  kehrte  vor  ly,  Wochen  anscheinend 
erkältet  zurück  (Husten,  Schnupfen).  War  psychisch  angeblich  ganz  nor- 
mal. In  den  letzten  Tagen  heftige  Kopf-  bezw.  Genickschmerzen.  Arzt 
schickte  ihn  ins  Krankenhaus  mit  der  Diagnose  Influenza  und  Mandel- 
entzündung. —  Frau  ist  gesund,  hatte  2  Aborte. 

Befund:  Riesiger  Mann.  Rechtsseitiger  Nasenrachenpolyp,  der  hinter 
dem  Gaumenbogen  hervorguckt. 

Fat.  ist  unklar,  spricht  verworren.  Fällt  beim  Gehen  nach  rechts. 
Es  bestehen  offenbar  heftige  Kopfschmerzen.  Kein  Fieber.  Puls  72. 
Zunge  belegt.  Reflexe  vorhanden.  Augenhintergrund  normal  (linke  Papille 
etwas  hyperämisch). 

8.  April.  Benommenheit  stärker.  Puls  64!  Cheyne-Stokes !  Lumbal- 
punktion ergibt  normale  Verhältnisse.     Ohren  gesund. 

Da  Möglichkeit  einer  pachymeningitischen  Blutung,  und 
auch  Hirnabsceß  nicht  auszuschließen: 

Punktion  I  1.  hintere  Schädelgrube;  Hirnmasse  und  schwärzliche 
Kömchen  aspiriert,  die  krystallinisches  Blutpigment  enthielten. 

Punktion  II  1.  hintere  KitöNLBiN-Punkt :  In  ca.  2  cm  Hirntiefe  spritzt 
Liquor  hervor.  Davon  20  ccm  abgelassen  (derselbe  ist  ganz  klar,  farblos). 
Danach  hebt  sich  der  Puls  auf  90  Schläge;  die  Atmung 
wird  regelmäßig. 

Diagnose:  Keine  größere  Blutung  im  Bereich  der  Punktionsstellen ; 
akuter  Hydrocephalus  des  Seitenventrikels. 

Punktion  III  1.  Schläfenlappen,  ohne  Ergebnis.  Punktion  IV  1.  Stirn- 
hirn, ohne  Ergebnis.  Punktion  V  r.  Kleinhirn,  ohne  Ergebnis.  Punktion  VI 
alter  Kanal  I  benutzt,  ohne  Ergebnis. 

Danach:  Kein  Fieber.     Puls  zwischen  80  und  92. 

Unter  Schmierkur  bessert  sich  der  Zustand  weiter.  Es  bleibt  nur 
leichte  Witzelsucht  und  kaum  merkliche  Gangstörung. 

Diagnose:  Lues  cerebri. 

Ende  Mai  stellt  sich  Pat  als  gesund  vor. 

29.  W.  Böhm,  Schneider,  24.-26.  Mai  1904  (f). 

Anamnese  (von  der  Frau  erhoben):  Vorgestern  abend  stürzte  er 
die  Treppe  herunter.  Er  blutete  aus  dem  linken  Ohr,  erholte  sich  bald, 
ging  umher  bis  gestern  abend.  Da  wurde  er  benommen.  Die  Benommen- 
heit nahm  immer  mehr  zu;  Erbrechen  stellte  sich  ein. 

Befund:'  Kräftiger  Mann,  komatös.  Linker  äußerer  Gehörgang  und 
Ohrmuschel  mit  weichen  Cruormassen  ausgestopft,  ly,  c°^  lange  Biß- 
wunde am  Hinterkopf.  Gesicht  gerötet.  Atmung  schnarchend.  Tempe- 
ratur 37,8.  Puls  64!  Geringe,  aber  deutliche  rechtsseitige  Hemiparese. 
Reflexe  normal.     Pat.  läßt  unter  sich.     Erbricht  ab  und  zu. 

Diagnose:  Basisfraktur  und  Blutung  aus  der  linken  Art  men.  med. 

Operation  von  chirurgischer  Seite  abgelehnt. 

2  Stundeb  später:  Tiefes  Coma,  rechtsseitige  Hemiparese  ausgesprochen. 
Bechte  Backe  aufgeblasen,  linke  nicht  Es  sickert  frisches  Blut  aus  dem 
linken  Ohr  heraus.     Puls  gespannt,  60.     Pupillen  eng. 

Hirnpunktion  (um  die  Anwesenheit  einer  größeren  entfembaren  Blu- 
tung zu  demonstrieren): 


892  Ernst  Neisser  und  Kart  Pollack, 

Punktion  I.  Linke  vordere  Krönlbin -Punkt :  reichlich  teils  älteres^ 
teils  frischeres  Blut  entleert. 

Punktion  ü.  Linke  hintere  KRöNLEiH-Punkt :  bräunliche,  schmutzig» 
Flüssigkeit  entleert,  die  zum  Teil  einen  Stich  ins  Orüne  hat  und  zer- 
trümmerte Himsubstanz. 

7  Uhr  abends:  Operation.  WAONBRScher  Lappen  gebildet,  der  den 
vorderen  und  hinteren  KRöNZ^iNSchen  Punkt  noch  fast  mitnimmt.  Extra- 
dural;  einige  Eßlöffel  voll  flüssiges,  ziemlich  frisches  Blut.  Keine  Pulsation 
der  Dura.  Spaltung  den  Dura:  über  1  cm  dickes  und  über  handteller- 
großes schwarzrotes  Blutgerinnsel,  das  calottenförmig  der  Himsubstanz. 
aufsitzt  und  in  einzelnen  Portionen  herausgeschafft  wird.  Auch  in  der 
Umgebung  der  freigelegten  Partie  zwischen  Dura  und  Hirn  Kruormassen^ 
die,  soweit  möglich,  durch  Finger  und'  scharfen  Löffel  hervorgeholt  werden. 
Hirn  anscheinend  intakt.  Pulsiert  gegen  Ende  der  Operation  gut.  Tam- 
ponade etc.     Puls  nach  der  Operation  gegen  80. 

Am  nächsten  Tage  Besserung,  dann  zunehmende  Benommenheit  und 
Tod  nach  2  Tagen. 

Sektionsdiagnose:  Linksseitige  Basisfraktur  mit  Eröffnung  des 
Mittelohres  und  Blutung  in  dasselbe.  Ausgebreitete  subdurale  Blutung 
speziell  der  Konvexität  der  linken  Hemisphäre.  Kontusion  des  linken  und 
des  rechten  (Contre  coup!)  Schläfenlappens. 

[Punktionsstellen  olme  Besonderheiten.] 

80.  0.  Nagel,  Buchdruckerlehrling,  16  Jahre,  20.  April  bis  20.  Mai  1904. 

Anamnese:  Seit  dem  10.  Lebensjahr  leidet  er  an  häufig  auftreten- 
den Anfällen.  Dieselben  bestanden  früher  in  einer  4 — 5mal  wöchentlich 
auftretenden  Lähmung,  die  in  den  Fingerspitzen  der  linken  Hand  und  im 
linken  Fuü  begann  und  sich  dann  auf  die  ganze  linke  Seite  erstreckte. 
Er  war  dabei  bewußtlos  und  kam  erst  nach  2  Stunden  zu  sich.  Voran 
ging  Kribbeln  in  der  linken  Seite;  nach  dem  Anfall  waren  noch  1  Tag 
lang  Kopfschmerzen  vorhanden. 

In  der  Zwischenzeit  zwischen  den  Anfällen,  die  in  letzter  Zeit  seltener 
wurden,  blieb  allmählich  eine  Schwäche  der  linken  Seite  zurück  und  eine 
Herabsetzung  des  Gefühls. 

Später  traten  an  Stelle  der  Lähmungen  Krampfanfälle  von  10  Minuten 
Dauer,  während  welcher  das  Bewußtsein  erhalten  blieb.  Es  waren  klo> 
nische  Krämpfe  der  linken  Seite,  die  bald  im  linken  Fuß,  bald  in  den 
Fingern  der  linken  Hand  begannen.  Die  Finger  waren  während  des  An> 
falles  tonisch  gebeugt.     Häufige  Zungenbisse! 

Schließlich  hatte  N.  in  neuester  Zeit  schwerste  Anfälle  von  Krämpfen 
mit  sich  anschließenden  Lähmungen  und  erloschenem  Bewußtsein.  (Li 
diesem  Jahr  schon  9  solcher  Anfälle.) 

Aus  dem  Befund:  Sensibilität  und  motorische  Kraft  am  linken  Arm 
und  Bein  herabgesetzt.  Patellarreflexe  links  gesteigert.  Fußklonus  links. 
Pupillen  reagieren.     Kein  Fieber  etc. 

Ein  leichter  Anfall  hier  beobachtet:  Zuckungen  der  linken  Seite,  die 
in  der  linken  Hand  beginnen,  ohne  Bewußtseinstrübung. 

Diagnose:  jACKSONSche  Epilepsie. 

Um  eine  eventuelle  Cyste  als  Ursache  der  Epilepsie  auszuschließen : 
Hirnpunktion. 

Punktion  I.  R.  Zentrallappen  (Zwischen  Zentrum  der  Finger  und 
der  Zehen). 

Punktion  IL     R.  Zentrallappen  (Zentrum  der  Finger). 


Die  Himpunktion.  893 

Beide  Punktionen  ohne  Ergebnis.  Also  keine  Cyste!  Nach  der 
2.  Punktion  einmaliges  ^brechen. 

81.     Herr  Witt,  Bestaurateur,  43  Jahr.     25.  Mai  bis  Ende  Juni  1904. 

Anamnese  (zum  Teil  von  der  Frau  erhoben):  Pat.  ist  seit  17  Jahren 
Restaurateur.  Starkes  Potatorium  wird  zugegeben;  besonders  im  letzten 
halben  Jahr! 

Er  war  bis  vor  4  Wochen  gesund.  Damals  stürzte  er  plötzlich  am 
Büffet  um  und  lag  eine  halbe  Stunde  besinnungslos  da.  Dann  kam  er 
zu  sich  und  klagt  seitdem  über  andauernde  und  heftige  Kopfschmerzen, 
besonders  in  der  rechten  Kopfhälfte,  die  nachts  ezacerbieren.  Er  lag  die 
letzten  Wochen  größtenteils  zu  Bett,  schlief  viel;  die  Denkkraft  nahm  ab. 
Appetit  und  Stuhlgang  waren  in  normaler  Weise  vorhanden.  Erbrechen 
und  Schwindelgefühl  fehlte.  Abends  fröstelte  er  ab  und  zu.  Die  Kraft 
in  den  Beinen  ließ  nach,  während  die  Arme  kräftig  blieben.  Eine  In- 
fektion wird  strikt  negiert.  Er  hat  3  gesunde  Kinder.  Die  Frau  hat  nie 
Aborte  oder  Fehlgeburten  gehabt. 

Zur  Zeit  klagt  er  nur  über  heftige  Kopfschmerzen  in  der  rechten 
Kopfhälfte  speziell  der  rechten  Scheitelgegend ! 

Befund:  Out  genährter  Mann.  Klar,  gibt  verständige  Antworten 
auf  Befragen ;  dieselben  sind  teilweise  leicht  humoristisch  gefkrbt  (W  i  t  z  e  1  - 
sucht?) 

Fieber  fehlt.  Puls  regelmäßig,  gegen  80.  Deutlicher  Klopfschmerz 
der  rechten  Kopfhälfte,  am  intensivsten  in  der  rechten  unteren  Scheitel- 
gegend, ca.  4  Finger  breit  oberhalb  des  Ansatzes  der  Ohrmuschel ;  weniger 
stark  in  der  rechten  Stirngegend.  Schwere  doppelseitige  Stauungspapille 
mit  Netzhautblutungen. 

Mimische  Parese  des  linken  (unteren)  Facialis;  motorische  Kraft  der 
Extremitäten  anscheinend  gut,  doch  ist  der  linke  Arm  vielleicht  leicht 
paretisch.  Sensibilität  an  der  ganzen  linken  Körperhälfte  leicht  herab- 
gesetzt. 

Pupillen  reagieren  auf  Licht,  „springen"  zeitweise,  sind  meist  sehr 
weit.  Patellarreäexe  gesteigert,  besonders  links.  Oang  etwas  zögernd 
und  langsam,  sonst  ohne  Besonderheiten. 

Kein  Erbrechen,   kein  Schwindel,  keine  deutliche  Puls  verlangsamung. 

Diagnose:  Lues  cerebri  oder  Tumor  cerebri. 

Ord.  Schmierkur  und  Jedipin. 

Verlauf:  Zu  Anfang  Besserung ;  Kopfschmerzen  gehen  zurück;  Pat 
steht  auf. 

Später  Verschlechterung:  Erbrechen  stellt  sich  ein;  Pat  ist  leicht 
benommen,  ja  ganz  unklar.  Die  Kopfschmerzen  werden  heftiger.  Der 
Puls  geht  zeitweise  auf  60!    in  der  Minute  herunter.     Fieber  fehlt  völlig. 

14.  Juni.  Lumbalpunktion:  Druck  500  mm  Wasser.  Klare 
Flüssigkeit,  die  kein  Oerinnsel  bildet.  Pat  ist  völlig  benommen, 
läßt  unter  sich:  Puls  56,  gespannt 

15.  Juni.     Pat  ist  comatös. 

Punktion  I.  An  der  Stelle  des  stärksten  Druckschmerzes  (rechte 
Scheitelgegend):  ohne  Ergebnis  (normale  Hirnsubstanz  aspiriert). 

Punktion  IL  Etwas  nach  vom  von  Punktion  L  Ergebnis  wie  bei 
Punktion  L 

In  den  nächsten  Tagen  leichte  Besserung.     Puls  hebt  sich  etwas. 

18.  Juni,  Puls  geht  auf  56  herunter.  Pat.  ist  wieder 
ganz  comatös. 


894  Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack, 

Punktion  IIL  Am  oberen  Stirnpunkt  rechts  (F^).  Extra- 
dural: nichts. 

Intradural:  aus  3  cm  Tiefe  (»s  ca.  1,5  cm  Oehimtiefe)  entleert 
sich  blutige  Flüssigkeit  bezw.  blutige  Massen.  Bräunliche  Flocken 
und  Stückchen  zeigen  altes  Blut  an.  Darin  schwimmen  femer  Ge- 
webspartikelchen  von  grauer  bis  grau-gelblicher  Farbe. 

Mikroskopisch  frisch:  massenhaft  Fettkörnchenzellen;  femer 
polygonale  und  polymorphe  Zellen. 

In  Paraffin  eingebettet:  a)  normale,  weiße  Substanz ;  b)  Haufen 
von  ziemlich  großen,  protoplasmareichen  Zellen;  heben  sich  deutlich  von 
der  Himsubstanz  ab.     Werden  als  Tumorzellen  gedeutet. 

Weitere  Punktionen,  um  die  Ausdehnung  des  vermuteten  Tumors 
festzustellen : 

Punktion  IV.  Etwas  nach  hinten  und  außen  von  Punktion  III:  nor- 
male Hirnsubstanz  aspiriert. 

19.  Juni.  Starkes  Erbrechen.  Die  Benommenheit  nimmt  zu.  Kein  Fieber. 
Punktion  V.     Nach  vorn,  von  Punktion  in. 

Punktion  VI.     Nach  vorn  und  außen,  von  Punktion  III. 
Punktion  VII.     Nach  hinten,  von  Punktion  III. 
Ergebnis  bei  allen  3  Punktionen :  normales  Hirngewebe. 

20.  Juni.     Fat.  schluckt  nicht  mehr. 

Punktion  VIII.     Am  unteren  Stimpunkt  {F^):  normale  Himsubstanz. 

Punktion  IX.  Medial  von  Punktion  III  (oberer  Stirnpunkt): 
die  Nadel  wird  erst  senkrecht  zur  Oberfläche  eingeführt:  kein  Ergebnis. 

Nadel  dann  etwas  schräg  nach  außen  dirigiert;  man  fühlt  einen 
Widerstand,  der  durchstochen  wird.  Sofort  quillt  (in  etwa  2  cm  Him- 
tiefe),  gelbe,  leicht  getrübte  Flüssigkeit  heraus,  die  sich  später 
blutig  tingiert.     So  5  g  entleert,  dann  Punktion  unterbrochen. 

Im  Sediment  der  Flüssigkeit:  altes  Blut  (Hämosiderin),  Fett, 
Detritus,  Leukocyten  und  Tumorzellen  (s.  oben). 

Diagnose:  Tumor  (vermutlich  Sarkom)  des  rechten  Stirn- 
lappens im  Bereich  unseres  oberen  Stirnpunktes  und 
medial  davon,  von  nicht  bedeutender  Flächenausdehnung 
und  zentraler  cystischer  und  blutiger  Erweichung. 

Nach  der  Punktion:  Puls  hebt  sich  bis  96!  Pat.  ist  viel 
klarer.     Er  witzelt! 

Pat  wird  zur  Operation  auf  die  äußere  Abteilung  verlegt. 

Operation  am  22.  Juni  1904  durch  Herrn  Prof.  Häckel.  Bildung 
eines  WAONERschen  Lappens  im  Bereich  von  Punktionsstelle  HI  und  IX. 
Dura  sehr  stark  gespannt!    Keine  Hirnpulsation! 

Dura  durch  Kreuzschnitt  eröffnet:  es  liegt  leicht  blutig  suffundierte 
Pia  vor.  Im  Zentrum  der  freigelegten  Himpartie  fällt  sofort  eine  runde, 
circa  markstückgroße,  veränderte  Hirnpartie  auf,  die  leicht 
über  die  Umgebung  erhaben  ist  und  sich  fester  anfUhlt.  Es 
handelt  sich  um  die  Oberfläche  eines  ziemlich  harten  Tumors,  der  sich 
leicht  aus  der  umliegenden  Hirnsubstanz  herausschälen  läßt;  er  hat 
die  Gestalt  eines  Kegels,  dessen  Basis  der  Hirnoberfläche  entspricht 
und  die  Größe  einer  großen  Walnuß.  EEie  und  da  ist  die  graugelb- 
liche Tumorsubstanz  durch  Blutungen  rot  gesprenkelt.  Auf  dem  Durch- 
schnitt sieht  man  in  dem  unteren  Teil  der  Geschwulst  (nahe  der  Spitze 
des  Kegels)  die  zusammengesunkene,  fast  ganz  durch  die  Punktion 
entleerte  Cyste  bezw.  cystische  Erweichung. 

Nach  Herausschäl ung   des  Tumors  sinkt  die  Hirnsubstanz  zusammen, 


Die  Hirnpunktion.  895 

die  Bänder  legen  sich  gut  aneinander.  Schließang  der  Dura  ohne  Schwierig- 
keiten.    Zurückklappung  des  Lappens. 

Weiterer  Verlauf  auffallend  schnell  und  günstig.  Die  Beschwerden 
verschwinden  fast  mit  einem  Schlage.  W.  macht  nach 
wenigen  Tagen  den  Eindruck  eines  ganz  gesunden  Mannes. 
Völlige  Heilung  (auch  die  leichte  Facialisparese  schwindet). 

Mikroskopische  Untersuchung  des  Tumors  ergibt:  ein  alveoläres 
Sarkom  bezw.  Endotheliom.  (Ausgangspunkt  vermutlich  die  Pia.) 
Die  kegelförmige  Gestalt  des  oberflächlichen  Tumors  erklärt^  daß  man 
rings  herum  vergeblich  punktiert  hat. 

32.  E.  B.,  12-jähr,  Mädchen.     Idiotisch.     Verdacht  auf  Hirncyste. 

Funktion  I,  linker  Hinterhauptslappen. 

Punktion  II,  linker  Hinterhauptslappen. 

Punktion  III,  linke  motorische  Eegion. 

Punktion  IV,  linke  motorische  Begion. 

Ohne  Ergebnis.     Beaktionsloser  Verlauf. 

88.  Schlie,  Mann.  Kopfeiterung  nach  Schußverletzung.  Verdacht  auf 
Schläfenlappenabsceß.  3  Punktionen;  ohne  Ergebnis.  Also  kein  Absceß! 
Beaktionsloser  Verlauf.  Spätere  Sektion  bestätigt  das  Fehlen  eines  Hirn- 
abscesses. 

84.  Bmü  Werner»  28  Jahr,  20.  Juli  1904. 

Anamnese:  Vor  2  Tagen  erkrankt  mit  Schmerzen  im  linken  Ohr. 
Das  Ohr  lief  nicht.  Seit  heute  mittag  besteht  hohes  Fieber,  Fröste, 
völlige  Benommenheit     Kein  Erbrechen,  keine  Krämpfe. 

Befund:  Völlig  benommener  Mann.  Oedem  und  Druckschmerzhaftig- 
keit  in  der  Gegend  des  linken  Warzenfortsatzes.  Temperatur  38,3^,  Puls 
gegen  70,  dikrot.  Nackensteifigkeit.  Rechtsseitige  Facialisparese.  Un- 
regelmäßige Atmung  (Cheyne-Stokes !).  Pupillen  eng,  reaktionslos,  Patellar- 
reflexe  erloschen. 

Lumbalpunktion :  472  mm  Wasserdruck ;  leicht  getrübte  Flüssigkeit,  in 
der  sich  massenhafte  Leukocy ten,  keine  Bakterien  finden.  Gleich  darauf  er- 
weitern sich  die  Pupillen;  der  Puls  steigt  auf  80. 

Augenhintergrund:  erweiterte  Venen,  keine  Stauungspapille. 

Diagnose:  Eiterige  Meningitis  im  Anschluß  an  Otitis  media  sinistra. 
Verdacht  auf  otitischen  Himabsceß. 

21.  Juli.  Temperatur  37,7,  später  38<>.  Puls  64  Rechtsseitige  Parese 
von  Arm,  Bein  und  Facialis.  Cheyne-Stokes.  Pat.  liegt  in  ex- 
tremis. 

Hirnpunktion  I.     Linkes  Kleinhirn:  ohne  Ergebnis. 

Hirnpunktion  II.  Linker  Schläfenlappen  (Absceßpunkt) :  Nach  Durch- 
bohrung des  Schädels  wird  extradural  reichlich  blutig-seröse,  leicht  eiterig 
getrübte  Flüssigkeit  aspiriert.  Darin  massenhafte  Leukocyten  und  Strepto- 
kokken.   Nunmehr  Dura  durchstochen  und  wieder  aspiriert:  ohne  Ergebnis. 

Diagnose:  Extraduraler  Absceß  im  Bereich  des  linken 
Schläfenlappens;  kein  Himabsceß. 

Die  gleich  darauf  wiederholte  Lumbalpunktion  ergibt  wieder  eiterig 
getrübte,  aber  bakteiienfreie  Flüssigkeit. 

Während  der  Punktion:  völlige  Atemlähmung;  Einleitung  künstlicher 
Kespiration!  Allmählich  stellt  sich  die  Atmung  wieder  her. 

Sofort  Operation  angeschlossen  (Prof.  Häckel). 

Nach  Freilegung  der  Punktionsstelle  sieht  man   aus   der   äußeren 


896       Ernst  Neisser  und  Kurt  Pollack,  Die  Hirnpunktion. 

Bohröffnung  reichlich  eiterig-blutige  Flüssigkeit  hervor- 
spritzen! 

Trepanation.  Die  Dura  ist  eiterig  belegt,  es  finden  sich  noch  etwa 
2  Teelöffel  Eiter  vor.     Probepunktion  durch  die  Dura  ergibt  nichts. 

Darauf  Aufmeißelung  des  linken  Warzenfortsatzes:  Zellen  desselben 
mit  Eiter  angefüllt. 

Direkter  Zusammenhang  mit  dem  extraduralen  Absceß. 

Verlauf:  Nach  der  Operation  bedeutende  Besserung.  Das  Fieber 
verschwindet     Pat.  ist  viel  klarer.     Die  Lähmung  geht  zurück. 

24.  Juli.  Eieberschub.  Lumbalpunktion:  kein  Ueberdruck  mehr;  klare 
Flüssigkeit     Im  Sediment  Leukocyten;  keine  Bakterien. 

Fieber  und  die  übrigen  Erscheinungen  gehen  allmählich  zurück.  Nach 
12  Tagen  völlige  Entfieberung.  —  Heilung. 

Anhang. 

1.  G.,  dementer  Knabe  mit  chronischer  Encephalitis. 
Punktion  des  linken  Seitenventrikels.    Reaktionsloser  Verlauf. 

2.  N.,  Frau;  Fall  von  Tetanus. 

Punktion  des  Seiten  Ventrikels  nach  Kocher  und  Injektion  von 
Behrings  Heilserum.     Exitus. 

Aus  dem  Sektionsprotokoll:  Im  linken  Seiten  Ventrikel  ein 
wurmartiges,  mehrere  Centimeter  langes  Blutgerinnsel;  ein  kleineres  im 
4.  Ventrikel.  Stichkanal  durch  die  Himsubstanz  als  feiner,  blauschwarzer 
Strich  zu  sehen. 


Inhaltsverzeichnis.  gelte 

Literatur 807 

Technik 815 

Anatomischer  Teil  (Wahl  der  Punktionsstelle) 821 

Punktion  der  einzelnen  Lappen       822 

Stirnhim  822  —  Kleinhirn  823  —  Zentrallappen  824  —  Schlafenlappen  827 
Scheitel-  und  Hinterhauptslappen  828,  829 

Punktion  der  typischen  Abscesse  und  Blutungen 830 

Absceßpunkte ► 830 

Schl^enabscefipunkt  831  —  Eleiohirnabsceßpunkt  834  —  Andere  Ab- 
scesse 835 

Blutungspunkte 836 

Tiefe  der  Punktion 837 

Zusammenfassung 838 

Klinischer  Teil 838 

Positive  Ergebnisse  der  Punktion 839 

Altes  Blut  (intrakranieile  BlutuDg)  839  —  Hämatoidin  846  —  Cystenflüiwig- 
keit  (Cyste,  Tumor)  846  —  Eiter  (Absceß,  Meningitis)  847  —  Serös-eiterige 
Flüssigkeit  849  —  Pathologisches  Gewebe  (Tuberkel,  Tumor)  850  —  Hämor- 
rhagisches Oedem  853  —  Liquor  cerebrospinalis  (Meningitis  serosa)  854 

Negative  Ergebnisse  der  Punktion 854 

Kein  Absceß  854  —  Kein  Tumor  855 

Uebersicht  über  sämtliche  punktierte  Fälle 856 

Zahl  der  Punktionen 859 

Unangenehme  Zwischenfälle  bezw.  Folgen  der  Punktion  ....  859 

Befunde  an  den  Punktionsstellen 860 

Schluß 861 

Krankengeschichten 856 


Aus  der  Breslauer  chirurgischen  Klinik  (Prof.  v.  Mikulicz). 


Nachdruck  verboten. 


XXXL 

tJeber  peptische  Geschwüre  des  Jejimums 
nach  Gastroenterostomie. 

Von 
Dr.  Max  Tiegel» 

Volontärarzt  an  der  Klinik. 


Zu  den  nach  Gastroenterostomie  beobachteten  Komplikationen  ist 
in  den  letzten  Jahren  eine  neue  hinzugetreten :  das  Ulcus  pepticum 
jejuni.  Seitdem  Braun  als  erster  1899  auf  dem  Chirurgenkongreß 
einen  solchen  Fall  mitgeteilt  hat,  haben  sich  derartige  Beobachtungen 
gemehrt.  Und  wenn  sie  auch  immerhin  noch  zu  den  seltenen  Ausnahmen 
gehören,  so  sind  sie  doch  gerade  häufig  genug,  daß  der  Chirurg  bei 
der  Anlegung  einer  Gastroenterostomie  mit  ihnen  rechnen  muß. 

Die  bisher  beobachteten  Fälle  sind  meist  vereinzelt  auf  Kongressen 
mitgeteilt  worden  ;  eine  zusammenfassende  Darstellung  haben  sie  meines 
Wissens  nach  noch  nicht  gefunden.  Bei  dem  Interesse,  das  von  selten 
der  Chirurgen  diesen  Beobachtungen  entgegengebracht  wurde,  bei  der 
Wichtigkeit,  die  sie  für  das  Gebiet  der  Abdominalchirurgie  gewinnen,  er- 
scheint es  angezeigt,  die  bisher  gemachten  Erfahrungen  einmal  zu 
sammeln  und  zusammenzustellen. 

In  der  Breslauer  Klinik  kamen  seit  dem  Jahre  1899  5  Fälle  von 
Ulcus  pepticum  jejuni  zur  Operation,  also  Fälle  mit  absolut  sicherer 
Diagnose.  Dazu  kommt  ein  sechster  Fall,  in  welchem  auf  Grund  der 
vorliegenden  Symptome  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  ein  Ulcus  jejuni 
angenommen  werden  mußte.  Ich  lasse  zunächst  die  Krankengeschichten 
dieser  6  Fälle  folgen  i). 


1)  Die  3  ersten  Fälle  sind  bereits  von  Kaüsch  auf  den  Chirurgenkon- 
gressen 1899,  1900  und  1902,  sowie  im  Handbuch  der  praktischen  Chirurgie, 
von  V.  Bergmann,  v.  Bruns  und  v.  Mikulicz  (II.  Aufl.,  Bd.  3,  p.  110) 
erwähnt.  Femer  findet  sich  eine  Mitteilung  der  ersten  5  Fälle,  versehen 
mit  einer  Abbildung  des  anatomischen  Präparates  des  ersten  Falles  von 
Herrn  Oeheimrat  v.  Mikulicz  in  dem  Boston  Medical  and  Surgical  Journal 
(No.  23,  1903). 


Max  Tiegel, 

Fall  II).     Klara  W.,  2  Monate  alt. 

Am  28.  Sept  1900  als  ausgetragenes  Kind  geboren;  erhielt  Matter- 
brüst;  entwickelte  sich  während  des  ersten  Lebensmonates  völlig  normal. 
Mit  Beginn  des  2.  Lebensmonates  stellt  sich  einige  Male  Erbrechen  ein; 
die  Nahrungsmengen  steigen  nicht  an;  das  Körpergewicht  nimmt  ab. 
Gegen  Ende  des  2.  Lebensmonates  treten  nach  etwa  einwöchentlicher  Re- 
mission diese  Symptome  wieder  auf.  Bei  täglicher  Nahrungsaufnahme  von 
300  g  mehrere  Male  am  Tage  Erbrechen,  meist  unmittelbar  nach  dem 
Trinken,  bisweilen  aber  erst  3 — 4  Stunden  nach  der  Mahlzeit.  Die  Unter- 
suchung mit  GüNZBTTROschem  Reagens  ergab  fast  stets  freie  Salzsäure. 
Bisweilen  trat  sichtbare  Peristaltik  auf;  die  Welle  verlief  von  links  nach 
rechts.  Die  Falpation  des  Abdomens  ergab  nichts  Besonderes.  Die  Diagnose 
lautete  auf  angeborene  Pylorusstenose. 

Da  trotz  interner  Therapie  der  Zustand  sich  nicht  änderte,  das  Körper- 
gewicht mehr  und  mehr  abnahm,  wurde  das  Kind  unserer  Klinik  zur  Ope- 
ration tiberwiesen.  (Bis  dahin  war  es  in  der  Univ.  Kinderklinik  behandelt 
worden.) 

Am  27.  Nov.  1900:  Operation  (Prof.  v.  Mikulicz).  Nach  Eröffnung 
der  Bauchhöhle  fand  sich  in  der  Pylorusgegend  ein  etwa  walnußgroßer 
solider  Tumor,  dessen  Längsdurchmesser  auf  ungefähr  3,5  cm,  dessen 
Dickendurchmesser  auf  l^/j — 2  cm  geschätzt  wurde.  Es  wurde  eine 
Gastroenterostomia  antecolica  anterior  mit  Enteroanastomose  mittels  Naht 
ausgeführt.     Dauer  der  Operation  35  Min.     Narkose  ohne  Zwischenfall. 

Heilungsverlauf  war  völlig  fieberfrei.  In  der  ersten  Woche  nach  der 
Operation  wurde  die  Nahrungsaufnahme  erheblich  eingeschränkt;  dann 
wieder  unbeschränkte  Nahrungsaufnahme  wie  früher.  Die  tägliche  Nahrungs- 
menge und  auch  das  Körpergewicht  nahmen  zu;  Erbrechen  stellte  sich 
nicht  wieder  ein:  die  bestehenden  Störungen  waren  durch  die  Operation 
völlig  behoben  worden. 

Die  weitere  Rekonvaleszenz  wurde  durch  einen  heftigen,  3  Wochen 
nach  der  Operation  einsetzenden  und  3—4  Wochen  anhaltenden  Bronchial- 
katharrh  gestört;  dann  wieder  Wohlbefinden. 

In  der  Nacht  vom  2.  zum  3.  Febr.  traten  zwei  schwarze  Stuhlent- 
leerungen auf;  in  der  Frühe  eine  profuse  Magen blutuug.  Ein  chirurgischer 
Eingriff  wurde   für  aussichtslos  gehalten.     Das  Kind  erholte  sich  wieder. 

Am  10.  Febr.  trat  noch  einmal  schwarzer  Stuhl  ein.  Auf  mehrere 
Injektionen  von  2-proz.  Oelatinelösnng  keine  Blutung  mehr. 

Unter  hohem  Fieber  entwickelte  sich  eine  Phlegmone  der  Kreuzbein- 
gegend. 

Am  17.  Febr.  stellten  sich  Symptome  von  Peritonitis  ein;  an  dem- 
selben Tage  Exitus.  In  der  Zeit  nach  der  Operation  ließ  sich  keine 
H3'perchlorhydrie  nachweisen ;  es  fand  sich  häufig  keine  freie  Salzsäure  im 
Mageninhalt. 

Bei  der  Obduktion  ergab  sich  folgender  Befund :  Bei  Eröffnung  des 
überaus  gespannten  Abdomens  hört  man  deutlich  eine  reichliche  Menge 
Luft  entweichen.  Im  kleinen  Becken  finden  sich  ca.  25  ccm  einer  gelb- 
grauen, gröbere  Bröckel  enthaltenden  Flüssigkeit,  der  ganz  zweifellos 
Darminhalt  beigemischt  ist.  Die  Serosa  allgemein  leicht  getrübt,  aber  ohne 
besondere    Injektion.      Die    Leberoberfiäche    ist    deutlich    trocken.      Nach 


1)  Bereits  publiziert:  Freund,  üeber  Pylorusstenose  im  Säuglingsalter. 
Mitteilungen  aus  d.  Grenzgeb.,  Bd.  11,  p.  309. 


Ueber  pep tische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie. 

Lösung  einiger  leicht  lösbaren  Adhäsionen  zeigt  es  sich,  daß  an  den  ver- 
größerten Magen  eine  Jejuniunschlinge  herangezogen  ist,  die  mit  ihm  in 
der  Mitte  der  großen  Kurvatur  durch  eine  Gastrojejuno- Anastomose  kom- 
muniziert. Die  beiden  Schenkel  der  Jejunumschlinge  sind  außerdem  durch 
eine  Enteroanastomose  verbunden. 

An  beiden  Stellen  ist  die  Verklebung  der  Serosafiächen  eine  ganz 
feste.  Ueber  den  Sitz  der  Perforationsöffnung  läßt  sich  zunächst  nichts 
bestimmtes  aussagen;  man  sieht  indessen,  daß  sie  sich  offenbar  im  Ope- 
rationsgebiet befinden  muß.  Bei  Druck  auf  den  Magen  quillt  Inhalt  hinter 
einer  kleinen  Falte  der  vorderen  Begrenzungsmembran  der  Possa  omentalis 
hervor.  £rst  nachdem  der  Magen  bis  zur  Anheftungsstelle  des  Jejunums 
aufgeschnitten  ist,  ebenso  die  beiden  Schenkel  der  Jejunumschlinge,  werden 
die  Verhältnisse  klar.  In  der  Jejunumschleimhaut,  welche  sich  etwas  blasser 
von  der  mehr  rosa  gefärbten  Magenschleimhaut  gut  absetzt,  finden  sich 
mehrere  Substanzverluste:  im  abführenden  Schenkel  ein  größerer  und  ein 
kleinerer;  desgleichen  im  zuführenden.  Dieselben  liegen  in  unmittelbarer 
Nähe  der  Gastroenteroanastomose.  Die  kleineren  Defekte  betreffen  nur  die 
Schleimhaut;  die  größeren,  rund,  terassenförmig  in  die  Tiefe  gehend,  legen 
die  Muscularis  bloß.  Im  zuführenden  Schenkel  findet  sich  nun  die  erbsen- 
große Perforationsöffnung,  die  den  Grund  des  größeren  Ulcus  darstellt.  Die 
ganze  Auskleidung  der  Bursa  omentalis  ist  mit  Ingestis  bedeckt  und  mit 
ßbrinÖB-eiterigen  Niederschlägen  besät.  Außer  einer  mäßigen  Intumeszenz 
der  Mesenterialdrüsen  und  einer  extremen  Blässe  sämtlicher  Unterleibs- 
organe findet  sich  bis  auf  den  Magen  nichts  Besonderes.  Der  Magen  er- 
weist sich  im  ganzen  sehr  muskulös,  besonders  stellt  aber  die  Pars  pylo- 
rica  einen  sehr  festen  Cylinder  dar,  der  eine  sehr  starke  Muscularis  be- 
sitzt. Vom  Duodenum  aus  betrachtet,  stülpt  sich  der  Pylorusteil  portio- 
artig  in  das  Darmlumen  vor. 

Fall  II.     Markus  W.,  32  Jahre,  Kürschner. 

Familienanamnese  ist  ohne  Belang.  Als  Kind  von  5  Jahren  wurde 
er  wegen  einer  Anschwellung  des  rechten  Ellenbogengelenkes  operiert; 
seitdem  Steifheit  dieses  Gelenkes.  Mit  7  Jahren  war  Pat.  vorübergehend 
halskrank.  Seine  Magenbeschwerden  fingen  vor  12  Jahren  mit  Schmerzen 
in  der  Seite  an.  Vor  6  Jahren  stand  Pat.  in  poliklinischer  Behandlung 
eines  hiesigen  Krankenhauses.  In  dieser  ganzen  Zeit  bestand  vorüber- 
gehendes Erbrechen.  Am  2.  Sept.  1898  wurde  Pat,  in  eben  demselben 
Hospital  operiert.  Bei  der  Operation  fand  sich  der  Magen  sehr  groß,  der 
Pylorus  eng  (deutlicher,  narbiger  Schnürring).  Es  wurde  die  Gastroentero- 
stomia  antecolica  anterior  an  der  großen  Kurvatur  vorgenommen.  Die 
Stelle  am  Darm  lag  50  cm  unterhalb  des  Duodenums. 

Nach  der  Operation  bestand  vorübergehende  Besserung.  Im  Januar  1899 
erfolgte  wiederum  Aufnahme  wegen  Schmerzen  und  Abmagerung.  Die 
Untersuchung  des  Mageninhaltes  ergab  damals :  etwas  verminderte  Motilität^ 
Acidität  90—110,  keine  Milchsäure. 

Am  24.  Januar  1899  wurde  Pat.  wiederum  operiert.  Nach  Eröffnung 
des  Leibes  in  Medianlinie,  im  alten  Schnitt,  liegt  die  Gastroenteroanastomose 
vor;  oberhalb  derselben  der  dilatierte  Magen;  links  von  ihr  Verwachsungen 
des  Magens  und  der  Anastomose  mit  der  vorderen  Bauchwand.  Nach 
Lösung  derselben  befindet  sich  hier  eine  Perforation  an  der  Stelle  der 
Anastomose.  Die  genauere  Untersuchung  zeigt,  daß  an  dieser  Stelle  ein 
runder  Defekt  von  lYj  cm  Durchmesser  der  Schleimhaut  und  der  übrigen 
Wand  vorliegt ;  etwa  zur  Hälfte  dem  Magen,  zur  Hälfte  dem  Jejunum  an- 


900  Max  Tiegel, 

gehörend.  Rings  herum  befinden  sich  Verwachsungen.  Das  bestehende 
Ulcus  greift  noch  ein  wenig  in  die  vordere  Bauchwand  hinein.  Die  festen 
Verwachsungen  haben  offenbar  die  Anastomose  und  den  nächstliegenden 
Teil  des  Darmes  verengt.  Die  Perforationsstelle  durch  2-reihige  Naht  — 
im  Sinne  der  Gastroenterostomie,  also  in  frontaler  Nahtlinie  —  geschlossen. 
10  cm  unterhalb  derselben  wird  eine  Enteroanastomose  mittels  Naht  an- 
gelegt. Jodoformgazetamponade.  Am  8.  Febr.  völliges  Wohlbefinden. 
8  Tage  später  fingen  die  Schmerzen  wieder  an  und  wurden  oft  äußerst 
heftig.     Gewichtszunahme  in  dieser  Zeit  um  4  Pfd. 

Am  29.  Juni  1899  erfolgte  wiederum  Aufnahme  in  unsere  Klinik. 

Status:  Mittelgroßer  Mann,  leidend  aussehend.  Muskelatrophie  des 
rechten  Oberarms.  Bechtes  Ellenbogengelenk  in  Beugestellung  fixiert; 
nur  wenig  beweglich.  Innere  Organe  ohne  pathologischen  Befund.  Urin: 
sauer,  frei  von  Albumen  und  Zucker.  Die  funktionelle  Magenuntersuchung 
ergibt  folgendes:  L  Frtlh  in  nüchternem  Zustande  ist  der  Magen  leer. 
n.  *|4  Stunden  nach  Probefrühstück  (400  Hafermehlsuppe)  findet  sich  Ge- 
samtacidität  (Phenolphth.)  44,  freie  HCl  (Kongo):  32.  III.  12  Stunden 
nach  Probemahlzeit  (125  g  Beefsteak,  1  Semmel,  300  g  Wasser).  Menge: 
42  com.     Gesamtacidität  (Phenolphth.).  34     Keine  Milchsäure. 

7.  Juli  Operation.  Ruhige  Chloroformnarkose.  Die  Narbe  am  Bauche 
wird  excidiert,  wobei  das  Peritoneum  eröffnet  wird.  Es  zeigt  sich,  daB 
die  Stelle  der  Gastroenterostomie  mit  der  Bauchwand  verwachsen  ist.  Bei 
der  Ablösung  derselben,  wird  ein  an  dieser  Stelle  bestehendes  Geschwür 
freigelegt;  Magen  und  Darm  sind  nun  an  der  Vorderseite  der  Verbindungs- 
stelle geöffnet  Es  wird  nun  der  zuführende  Schenkel  durchtrennt  und 
der  nach  dem  Duodenum  zu  liegende  Teil  desselben  nach  Doyen  geschlosseu. 
Die  hierbei  freigelegte  Enteroanastomose  erweist  sich  ftlr  3  Finger  durch- 
gängig. Der  an  dem  Magen  fixierte  Teil  des  zuführenden  Schenkels  wird 
aus  demselben  herausgelöst;  die  Vorderseite  der  Anastomose  zwischen 
Magen  und  abführendem  Schenkel  vernäht.  Zur  gröiieren  Sicherung  wird 
diese  Stelle  noch  mit  Netz  übemäht.  Schlui!  der  Bauchwunde  bis  auf  eine 
kleine  Stelle  in  der  Mitte,  wo  ein  nach  der  übernähten  Netzpartie  fiihrender 
Jodoformgazestreifen  herausgeleitet  wird. 

In  den  folgenden  Tagen  mehrere  Male  geringes  Blutbrechen.  Am 
9.  Juli  Tampon  entfernt;  Schluß  der  Bauchwunde.  Am  1.  Aug.  1899 
gebessert  entlassen.  Noch  vor  seiner  Entlassung  stellten  sich  wieder 
Schmerzen  in  der  Magengegend  ein.  Diese  änderten  später  ihren  Sitz 
und  traten  hauptsächlich  in  der  rechten  Seite  und  im  Bücken  auf.  Nur 
wenn  sie  sehr  heftig  wurden,  nahmen  sie  die  ganze  Magengegend  ein. 
Die  Schmerzen  wurden  stärker  ly^  Stunden  nach  der  Mahlzeit,  sowie 
Abends  beim  Liegen.     Im  September  3  Tage  lang  blutiger  Stuhl. 

Wiederaufnahme:  12.  Dez.  1899.  Status:  Blasser  Mann  in  schlecht 
tem  Ernährungszustande. 

Innere  Organe  ohne  Befund. 

I.  Im  nüchternen  Zustande  ist  der  Magen  leer;  IL  nach  Probefrühstück 
(nach  */^  Stunden  ausgehebert)  Menge  300  ccm;  keine  Milchsäure; 
IIL  5  Stunden  nach  der  Probemahlzeit  300  ccm,  Rest  130,  Gesamt- 
acidität 99;  freie  HCl  65.  Pat.  klagt  über  Schmerzen  in  der  rechten 
Seite,  unter  dem  Rippenbogen,  die  hauptsächlich  in  der  Nacht  auftreten. 
2 — 3  Stunden  nach  dem  Essen  stellen  sich  Schmerzen  in  der  Magengrube 
ein,  die  auf  Magenspülungen  und  Gebrauch  von  Karlsbader  Salz  und 
Magnes.  usta  nachlassen. 

9.  Jan.  1900.     Operation. 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroeuterostomie.     901 

Nach  Excision  der  alten  Narbe,  wobei  das  Peritoneum  eröffnet  wird, 
und  nach  Er  weiterang  des  Schnittes  auf  12  cm  ergibt  sich,  daß  zwischen 
Darm  und  Magen  einerseits  und  der  Bauchwand  andererseits  keine  Ver- 
wachsungen bestehen.  Die  Oeffnungen  der  Gastroenteroanastomose,  sowie 
der  Enteroanastomose  sind  reichlich  für  2  Finger  durchgängig.  Die  Pal- 
pation der  Magenwand  ergibt  zwei  Knoten  in  der  Nähe  des  Pylorus,  die 
für  Ulcera  angesprochen  werden.  Es  wird  nun  an  dem  blindsackartigen 
Teil  des  Dünndarms,  der  bei  der  vorigen  Operation  durch  Durch  trenn  ung 
des  zuführenden  Schenkels  entstanden  ist,  eine  WiTZBLsche  Fistel  ange- 
legt. Das  eingelegte  Drain  führt  durch  die  Enteroanastomose  in  den  ab- 
führenden Schenkel. 

Vollständige  Primaheilung. 

Einige  Tage  nach  der  Operation  klagt  Pat.  noch  über  starke  Schmerzen. 
Dieselben  lassen  jedoch  bald  nach;  nach  einer  Woche  ist  Pat.  völlig 
schmerzfrei.  Seine  Ernährung  erfolgt  ausschliei^lich  durch  die  Fistel. 
Per  OS  nimmt  Pat.  nur  Bismuth.  subnitr.  (tägl.  4,0)  mit  Wasser. 

Am  9.  Febr.  wird  Pat.  in  ausgezeichnetem  Wohlbefinden  aus  der 
Klinik  entlassen.  Am  12.  Febr.  stellt  sich  Pat.  wieder  vor  mit  heftigen 
Schmerzen  im  Kreuz  und  in  der  Lebergegend,  die  seit  dem  10.  Febr. 
bestehen,  hauptsächlich  nachts,  jedoch  auch  bei  Tage,  anfallsweise  vor 
und  nach  dem  Essen  auftreten.  Pat.  hat  Stuhlgang  gehabt,  der  voll- 
kommen schwarz  aussah. 

Am  13.  Febr.  Wiederaufnahme.  Die  Schmerzanfälle  bestehen  fort. 
Pat  hebert  sich  selbst  den  Magen  aus,  was  die  Schmerzen  jedoch  nur 
etwa  V2  Stunde  verschwinden  läßt.  Beim  Aushebern  entleeren  sich 
Speiseteile  in  einer  Menge  von  600 — 700  ccm  aus  dem  Magen.  Der  in 
der  anfallsfreien  Pause  ausgeheberte  Mageninhalt  wies  eine  Gesamtacidität 
von  60 — 72;  freie  HCl  36  auf,  der  während  des  Anfalls  gewonnene  da- 
gegen eine  solche  von  80 — 112,  freie  HCl  (Kongo)  64 — 90.  Milchsäure 
stets  negativ. 

16.  März.  Operation. 

Laparotomie;  an  der  großen  und  kleinen  Kurvatur  werden  etwas 
rechts  von  der  Mitte  alle  sichtbaren  Ge£&&e  und  Nerven  doppelt  ligiert 
und  durchgeschnitten.  Die  Schmerzanfölle  bestehen  auch  nach  der  Operation 
fort.  Seit  dem  24.  März  nimmt  Pat.  auch  per  os  Nahrung  zu  sich  (Hafer- 
mehlsuppe, Kakao,  Kaffee). 

1.  April  wurde  Pat.  entlassen.  Er  nahm  nun  den  größten  Teil  seiner 
Nahrung  per  os  zu  sich;  den  kleinern  Teil  durch  die  Fistel,  ohne  sonder- 
lich Schmerzen  zu  haben.  2 — 3mal  am  Tage  heberte  und  spülte  er  sich 
den  Magen  aus;  der  Appetit  war  mäßig;  häufig  bestand  schlechter  Ge- 
schmack im  Munde.  Am  1.  Mai  ließ  er  sich  wieder  in  die  Klinik  auf- 
nehmen. Allgemeinstatus  gegen  früher  nicht  geändert.  Pat.  war  stark 
abgemagert.  Im  Unterleib  ist  nirgends  eine  Besistenz  fühlbar.  5  Stunden 
nach  der  Probemahlzeit  werden  460  ccm  einer  trüben,  grünlich-braunen, 
Speisereste  enthaltenden  Flüssigkeit  gewonnen;  Gesamtacidität  118,  freie 
HCl  75.  Es  werden  häufige  MagensptQungen  vorgenommen.  Pat.  wird 
wiederum  ausschließlich  durch  die  Fistel  ernährt.  Trotzdem  ist  im  Magen 
stets  Inhalt  enthalten,  der  grünlich  gefärbt  ist  und  reichlich  Gallen- 
farbstoff enthält.  Ob  er  auch  Speisereste  enthält,  ist  nicht  sicher  nach- 
zuweisen. Um  festzustellen,  ob  ein  retrograder  Transport  von  der  Fistel 
aus  in  den  Magen  stattfinde,  wird  durch  dieselbe  eine  Aufschwemmung 
von  fein  geriebener  Holzkohle  eingegossen.  Nach  1^/^  Stunden  finden 
sich  Kohleteilchen  im  ausgeheberten  Mageninhalt.     8.  Mai  1900  gebessert 

MlttoU.  a.  fl.  üreas«eMeten  d.  Medlztn  u.  Ctdroiri«.    Xm.  Bd.  58 


902  Max  Tiegel, 

entlassen.  5  Wochen  lang  nach  seiner  Entlassung  goß  sich  Pat.  seine 
Nahrung  ausschließlich  durch  den  Schlauch  ein;  er  hatte  in  dieser  Zeit 
keinerlei  Beschwerden;  nahm  4  Pfund  zu.  Nach  Wechseln  und  Ver« 
kürzung  des  Schlauches  gelangten  die  durch  denselben  eingegossenen 
Speisen  wieder  in  den  Magen;  die  Schmerzen  traten  von  neuem  auf; 
Pat.  mußte  sich  wieder  den  Magen  ausspülen  (2 — 8mal  täglich).  Im 
August  1900  Blutbrechen.  Nach  einer  Kur  in  Salzbrunn  trat  geringe 
Besserung  seines  Zustandes  ein.  Pat.  entfernte  nun  den  Schlauch  aus 
der  Fistel  und  nahm  alle  Nahrung  per  es.  Gegen  die  Schmerzen  öfters 
Magenspülungen,  sowie  starke  Morphiumdosen.  Aus  der  Fistel  entleerte 
sich  Mageninhalt  in  wechselnder  Menge. 

Wiederaufnahme:  17.  Mai  1901.     Allgemeinstatus  unverändert. 

I.  Aus  nüchternem  Magen  werden  160  ccm  hellgrüner  Flüssigkeit 
ausgehebeit:  Gesamtacidität  37 ;  freie  HCl  20;  Milchsäure  0.  ü.  5  Stunden 
nach  Probemahlzeit  werden  600  ccm  mit  reichlichen  Speiseresten  aus- 
gehebert. Gesamtacidität  109;  freie  HCl  62.  Der  Magen  ist  stark 
dilatiert;  bei  Aufblähung  reicht  die  große  Kurvatur  4  Pinger  breit  unter 
den  Nabel.  Die  Sondierung  der  Fistel  mittels  eines  Schlauches  gelingt 
nicht.     10.  Juni.     Patient  wird  auf  Wunsch  entlassen. 

Fall  ITT.  W.,  August,  26  J.  alt,  Arbeiter.  Aufgenommen  am  26.  Juli  1 899. 

Anamnese.  Pat.  stammt  aus  gesunder  Familie.  Im  Februar  1898 
wurde  Pat.  in  einem  hiesigen  Krankenhaus  4  Wochen  an  Blinddarm- 
entzündung behandelt.  Vor  ungefähr  1  Jahre  erkrankte  er  an  Durchfall^ 
der  ca.  Vs  J&hi*  anhielt.  Der  Stuhl  war  manchmal  schwarz.  Es  stellte 
sich  in  dieser  Zeit  öfters  am  Tage  Erbrechen  ein,  das  nach  Y,  J&^^^ 
nachließ.  An  einem  Tage  war  das  Erbrochene  schwarz.  Appetitlosigkeit 
hat  damals  nicht  bestanden.  In  letzter  Zeit  hat  der  Appetit  abgenommen. 
Pat.  leidet,  wenn  er  viel  trinkt,  an  Aufstoßen;  kein  Erbrechen.  Wenn 
er  viel  Flüssigkeit  im  Magen  hat,  was  Pat.  an  Plätschergeräuschen  merkt^ 
hat  er  auch  Schmerzen.  Urinmengen  trotz  reichlichem  Flüssigkeitsgenuß 
nur  gering.     Seit  1  Jahr  hat  er  ca.  60  Pfund  abgenommen. 

Status:  Sehr  großer,  kräftig  gebauter  Mann ;  Muskulatur  nur  mäßig 
entwickelt.  Innere  Organe  ohne  Befund.  Urin  ohne  Eiweiß  und  Zucker. 
Baucbd ecken  schlaff.  Beim  Schütteln  des  Leibes  deutliches  Plätscher- 
geräusch. Bei  Aufblähung  des  Magens  kommt  die  große  Kurvatur  in 
Nabelhöhe  zu  stehen.  Gleich  nach  Ankunft  des  Pat.  wird  der  Magen 
ausgehebert.  Pat.  preßt  mit  Leichtigkeit  1  Liter  Flüssigkeit  aus  von 
folgender  Beschaffenheit:  Gesamtacidität  99;  freie  HCl  66;  Milchsäure 
negativ.  I.  ^j^  Stunden  nach  400  g  Schleimsuppe  (Boas)  werden  400  ccm 
ausgehebert.  Gesamtacidität  65;  freie  HCl  48.  U.  Probemahlzeit, 
abends  verabreicht,  früh  ausgehebert,  Menge  26  ccm;  Gesamtacidität  68; 
freie  HCl  42;  Milchsäure  negativ. 

27.  Juli  Operation.  In  ruhiger  Chloroformnarkose  wird  ein  Ein- 
schnitt in  der  Medianlinie  gemacht  Der  vorliegende  Magen  ist  sehr  groß. 
Der  Pylorus  in  die  Höhe  gezogen  und  als  kleiner  Tumor  in  der  Gegend 
der  Porta  hepatis  fühlbar;  sein  Lumen  ist  nicht  festzustellen.  Kein  Ulcus 
zu  fühlen.  Keine  Drüsen.  Es  wird  eine  Gastroenterostomia  anterior  ante- 
colica  und  eine  Enteroanastomose  (beide  mittels  Naht)  angelegt.  Schluß 
der  Bauchwunde  in  typischer  Weise.  Die  Wunde  heilt  per  primam. 
Heilungsverlauf  durch  Pneumonie  kompliziert.  Pat.  wird  am  9.  Aug.  ge- 
heilt entlassen. 

Nach    seiner    Entlassung   war    sein   Zustand    zunächst    ein    ziemlich 


Ueber  peptische  Oeschwüre  des  Jejonums  nach  Gastroenterostomie.     903 

guter;  nur  merkte  Fat.,  wenn  er  abends  viel  Getränke  zu  sich  genommen 
hatte,  am  nächsten  Morgen  Plätschern  und  Gui-ren.  Auch  hatte  er  das 
Gefühl,  als  ob  der  Magen  stets  angefüllt  sei.  Später  verspürte  er  von 
Zeit  zu  Zeit  stärkere  Uebelkeit ;  steckte  er  sich  dann  einen  Finger  in  den 
Schlund,  so  kam  schwarze,  sehr  bitter  schmeckende  Flüssigkeit  heraus; 
Fat.  fühlte  sich  dann  etwas  erleichtert ;  der  Stuhl  war  stets  schwarz  oder 
sehr  dunkel.  Am  7.  Okt.,  abends,  wurde  er  bei  der  Arbeit  schwindelig; 
es  entleerte  sich  wieder  schwärzliche  Flüssigkeit  Als  er  sehr  schnell 
nach  Hause  lief,  stellte  sich  Erbrechen  ein,  wodurch  eine  schwarze  Masse 
entleert  wurde,  deren  Menge  Fat.  auf  2 — 3  Liter  schätzt.  Er  fühlte  sich 
danach  sehr  schwach;  Wiederaufnahme  am  8.  Okt. 

Status:  AUgemeinstAtus  ohne  Besonderheiten.  Bei  Bewegungen 
hört  man  im  Abdomen  deutliches  Flätschern.  Der  Stuhl  ist  schwarz. 
Kein  Erbrechen.  Bei  Flüssigkeitsaufnahme  hat  Fat.  Schmerzen  unter  dem 
Eippenbogen,  etwas  links  von  der  Mittellinie.  Eine  Untersuchung  des 
Magens  unterbleibt  wegen  Verdacht  auf  Ulcus.  Bei  völliger  Bettruhe  und 
Milchdiät  erholt  sich  Fat.  bald  und  nimmt  an  Gewicht  zu.  Der  Stuhl  ist 
schon  am  Tage  nach  seiner  Aufnahme  wieder  von  normaler  Farbe.  Am 
25.  Dez.  steht  er  auf  und  erhält  mit  Vorsicht  feste  Nahrung.  Seine  Be- 
schwerden —  Flätschern  und  drückende  Schmerzen  im  Magen  nach  reich- 
lichem Flüssigkeitsgenuß  —  bestehen  fort.  4.  Nov.  (ca.  4  Wochen  nach 
der  letzten  Blutung).  Untersuchung  des  Mageninhalts:  I.  7i  Stunden 
nach  Frobesuppe  (400  com  Haferschleim)  85  ccm  Inhalt;  Gesamtacidität 
42;  freie  HCl  30.  IL  3  Stunden  nach  Frobemahlzeit  200  ccm  Inhalt; 
Gesamtacidität  110;  freie  HCl  75,  Nach  der  Ausheberung  treten  heftige 
Magenschmerzen  auf,  die  jedoch  unter  Bettruhe  und  Milchdiät  bald  wieder 
verschwinden.  Seine  alten  Beschwerden  bestehen  zunächst  unverändert 
fort;  nach  Gebrauch  von  Karlsbader  Salz  bessern  sie  sich  jedoch,  so  daß 
Fat.  am  15.  Nov.  in  relativem  Wohlbefindem  auf  seinen  Wunsch  ent- 
lassen wird. 

Am  22.  Jan.  1901  Wiederaufnahme.  Fat.  klagt  wieder  über  starke 
Schmerzen,  die  besonders  in  der  Nacht,  wenn  Fat  zu  Bett  liegt,  so  heftig 
werden,  daß  er  schreien  muß.  Erbrechen  hat  er  nicht.  Es  sind  keine 
Blutungen  vorgekommen.  Die  funktionelle  Magenuntersuchung  ergibt 
folgendes:  I.  Nach  Frobesuppe  230  ccm  Inhalt;  Gesamtacidität  64;  freie 
HCl  53.  II.  Nach  Frobemahlzeit  (abends  gegeben)  wird  am  anderen 
Morgen  der  Magen  leer  gefunden.  lU.  6  Stunden  nach  der  Frobemahlzeit 
100  ccm  Inhalt;  Gesamtacidität  62;  freie  HCl  43;  Milchsäure  negativ. 
Mikroskopisch  nichts  zu  finden.  Unter  dem  linken  Eippenbogen  fühlt  man 
bei  Druck  eine  größere  Besistenz  als  an  der  gleichen  Stelle  rechts. 

25.  Jan.  1 901.  Operation.  In  ruhiger  Chloroformnarkose  Excision 
der  Narbe.  Dieselbe  ist  sehr  fest.  Eröffnung  des  Feritoneums  im  Be- 
reich des  Hautschnittes :  Hier  bestehen  keinerlei  Verwachsungen.  Dagegen 
bestehen  solche  weiter  oberhalb  des  Schnittes,  weshalb  derselbe  nach 
oben  verlängert  wird.  Dabei  wird  die  Serosa  des  Magens  an  einer  Stelle 
angeschnitten.  Erst  nachdem  dem  Medianschnitt  noch  ein  zweiter,  senk- 
recht zu  ihm,  nach  links  zu  führender  Schnitt  hinzugefügt,  läßt  sich  die 
Situation  überschauen.  Der  Magen  ist  mit  der  Gastroenterostomiestelle 
an  der  Bauchwand,  links  von  der  Mittellinie,  fixiert.  Beim  Loslösen  wird 
der  Magen  eröffnet.  Es  ergibt  sich  dabei,  daß  an  der  Gastroenterostomie- 
stelle ein  Ulcus  entstanden  ist,  das  die  Magenwand  perforiert  hat.  Bei 
näherer  Betrachtung  nach  Ablösung  des  Magens  stellt  sich  heraus,  daß 
das  Ulcus  nicht  in  der  Magenwand  sitzt,  sondern  lediglich  dem  zuführen- 

58* 


904  Max  Tiegel, 

den  Schenkel  der  Jejunumschlinge  angehört.  Die  Gastxoenteroanastomose 
ist  bequem  für  3,  die  Enteroanastomose  für  2  Finger  durchgängig.  Die 
Palpation  des  Mageninnern  ergibt  ein  frisches  zirkuläres  Ulcus  am  Pylorus, 
das  denselben  so  stenosiert  hat,  da£  nur  noch  die  Spitze  einer  Komzange 
hindurchgeht.  Nach  Excision  des  Ulcus  im  Jejunum  wird  der  Defekt 
durch  innere  fortlaufende  Catgutnaht  und  durch  äußere  Einzelseiden  nähte 
geschlossen.  Serosariß  am  Magen  durch  Seidennaht  verschlossen.  Darauf 
wird  eine  Jejunostomie  angelegt  und  zwar  derart,  daß  im  zufUhi-endeu 
Schenkel  direkt  neben  der  Enteroanastomose  eine  WiTZELSche  Fistel  an- 
gelegt wird,  durch  welche  dann  ein  Drain  in  den  abführenden  Schenkel 
(durch  die  Enteroanastomose)  geleitet  wird.  Das  Drain  wird  in  die  Mitte 
des  Medianschnittes  eingelegt.    Schluß  der  Bauchwunde  in  typischer  Weise. 

Dieselbe  heilte  völlig  per  primam.  Sofort  nach  der  Operation  ver- 
schwanden die  früheren  Magenbeschwerden.  Fat.  nahm  zu.  Die  Er- 
nährung erfolgte  ausschließlich  durch  die  Fistel.  Am  11.  Febr.  1901 
wurde  Fat.  ohne  jegliche  Beschwerden  entlassen. 

Nach  Verlassen  der  Klinik  fühlte  sich  Fat.  völlig  wohl.  Der  Schlauch 
blieb  noch  ^/^  Jahr  in  der  Fistel  liegen,  und  die  Nahrung  wurde  aus- 
schließlich durch  denselben  genommen.  Nach  der  Entfernung  desselben 
heilte  die  Fistel  in  14  Tagen  zu.  Die  Speisen  wurden  nun  per  os  ohne 
Beschwerden  genommen.     Fat.  konnte  alles  essen. 

Anfang  September  1901  stellte  sich  nach  Essen  und  Trinken  heftiges 
Drücken  und  Brennen  in  der  Magengegend  ein.  Der  Schmerz  war 
gut  an  einem  Funkte  lokalisiert,  vergrößerte  sich  bei  Berühren  dieser 
Stelle,  beim  Husten  oder  Fressen.  Fat.  litt  häufig  an  Uebelkeit,  Auf- 
stoßen, Kollern  im  Leibe;  jedoch  niemals  an  Erbrechen.  Um  das  Ge- 
fühl der  Uebelkeit  zu  lindem,  suchte  Fat  Erbrechen  herbeizuführen,  was 
jedoch  nie  gelang;  es  kam  stets  nur  etwas  stark  sauer  schmeckender 
Schleim  heraus.  Appetit  war  die  ganze  Zeit  über  gut.  Stuhl  regelmäßig; 
nie  schwarz.     Gewichtsabnahme  ca.  15  Ffd. 

Wiederaufnahme  am  17.  Okt.  1901.  Allgemeinstatus  ohne  Besonder- 
heiten. Eine  kleine  Stelle  (ca.  5  cm  unterhalb  des  linken  Rippenbogens, 
3  cm  links  von  der  Mittellinie),  ist  auf  Druck  oder  Berührung  sehr 
schmerzhaft.     Nirgends  am  Abdomen  eine  Dämpfung. 

Die  funktionelle  Magenuntersuchung  ergibt:  I.  In  nüchternem  Zu- 
stande, früh  morgens,  ist  der  Magen  leer.  II.  ^/^  Stunden  nach  der  Probe- 
suppe:  Inhalt  18,5;  berechneter  Rest  10;  Milchsäure  0.  Gesamtacidität 
45;  freie  HCl  32.  III.  5  Stunden  nach  Frobemahlzeit  ausgehebert:  130  ccm. 
berechneter  Rest  22  ccm.     Gesamtacidität  75;  freie  HCl  60. 

31.  Okt.  1901.  Operation.  Ruhige  Morphium-Aethernarkose.  Haut- 
schnitt links  von  der  Mittellinie;  dazu  senkrecht  ein  Schnitt  medianwärts 
geführt.  Man  kommt  sofort  in  festes,  infiltriertes  Gewebe.  Nach  Aus- 
einanderziehen der  Wundränder  wird  lateral  von  der  infiltrierten  Stelle 
das  Peritoneum  eröffnet  und  dann  dieses  unter  Kontrolle  des  Fingers  mit 
der  Schere  von  der  Bauchwand  losgelöst.  Dabei  wird  an  zwei  Stellen 
der  Darm  eröffnet;  die  Löcher  werden  sofort  mit  Hakenklemmen  zuge- 
klemmt. Beim  Hervorziehen  der  nunmehr  vollständig  freigemachten,  etwa 
6-Markstückgroßen,  infiltrierten  Stelle  und  bei  Palpation  derselben  zeigt 
sich,  daß  derselben  ein  über  markstückgroßes  Geschwür  entspricht  Die 
ganze  infiltrierte  Stelle,  etwa  1 — 2  cm  vom  Geschwürsrande  entfernt,  wird 
exstirpiert.  Das  herausgenommene  Geschwür  stellt  sich  als  eine  ovale, 
über  markstückgroße,  tiefgreifende  Einsenkung  mit  stark  gewulsteten 
Rändern   dar.     Der  Sitz   entspricht   dem  vorderen  und  oberen  Rande  der 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     905 

Enteroanastomose.  Die  Gastroenterostomie  ist  für  2  Finger  durchgängig. 
Die  Oeffnung  im  Darme  durch  Seidennaht  geschlossen.  Schluß  der  Bauch- 
wunde in  typischer  Weise. 

In  den  nächsten  Tagen  nach  der  Operation  stellt  sich  sehr  heftiges, 
reichliches  Erbrechen  ein.  In  dem  Erbrochenen  finden  sich  schwärzliche, 
Kaffeesatz-ähnliche  Massen.  In  der  Annahme,  daß  durch  die  Excision  des 
Ulcus  und  die  Vernähung  eine  Stenose  oder  ein  Circulus  vitiosus  ent- 
standen ist,  wird  am  7.  Nov.  zu  einer  nochmaligen  Operation  geschritten. 
Morphium-Aethernarkose.  Nach  Entfernung  der  Hautnähte  zeigt  sich  das 
darunterliegende  Gewebe  schmierig,  rötlich-grau.  Verschorfung  dieser 
Partie  mit  Paquelin.  Die  Stelle  des  excidierten  Ulcus  ist  mit  der  Bauch- 
wand leicht  verklebt;  sie  wird  gelöst  und  hervorgezogen.  Es  wird  nun 
etwa  5  cm  unterhalb  der  alten  Enteroanastomose  eine  neue  mittels  Naht 
angelegt ;  oberhalb  derselben  eine  neue  Gastroenterostomie  mittels  Murphy- 
knopf.  Dieselbe  gelingt  nur  mit  größter  Schwierigkeit.  Da  der  Knopf 
nicht  gut  liegt,  werden  noch  eine  Anzahl  Serosanähte  darüber  gelegt. 
Bauchwunde  bis  auf  eine  kleine  Oeffnung  geschlossen,  in  welche  ein  Jodo- 
formgazetampon eingefühet  wird. 

In  den  nächsten  Tagen  nach  der  Operation  wiederum  Erbrechen  von 
stark  saurer  Flüssigkeit.  Am  14.  Nov.  stellen  sich  Schmerzen  in  der  linken 
Bauchseite  ein.  Am  folgenden  Tage  Temperatursteigerung  auf  38.  Die 
Druckempfindlichkeit  des  Abdomens  hat  zugenommen;  aus  der  Tampon- 
öffnung  entleert  sich  Eiter.  Fat.  verfällt  sichtlich;  schließlich  stellt  sich 
Benommenheit  ein.     Am  17.  Nov.  Exitus. 

Die  Obduktion  ergibt  als  Todesursache  Peritonitis  infolge  einer 
Perforationsöffnung  in  der  Magenwand,  an  der  Stelle,  wo  der  Knopf  liegt. 
Der  übrige  Befund  ist  hier  nicht  von  Interesse. 

Fall  IV.  Christian  M.  53  Jahr.  Kaufmann.  Aufgen.  (Privatklinik) 
13.  Okt.  1898. 

Anamnese:  Familien anamnese  ohne  Belang.  Als  Kind  war  Pat. 
gesund;  als  junger  Mann  hat  er  Typhus  durchgemacht.  Vor  9  Jahren 
angeblich  ein  Gichtanfall,  der  seitdem  nicht  wiederkehrte.  Im  Januar 
1897  stellten  sich  ganz  plötzlich  Schmerzen  in  der  rechten  oberen  Bauch- 
seite ein,  die  nicht  nach  den  Schultern  oder  dem  Rücken  ausstrahlen; 
kein  Schüttelfrost,  kein  Fieber,  keine  Gelbfärbung.  Die  Schmerzen  waren 
unabhängig  von  der  Nahrungsaufnahme.  Zu  Beginn  der  Erkrankung  nur 
geringes  Erbrechen;  etwa  4  Wochen  später  wurde  das  Erbrechen  häufiger, 
fast  täglich.  Das  Erbrochene  bestand  aus  farbloser  Flüssigkeit;  gelegent- 
lich in  sehr  großer  Menge.  Bei  dem  Erbrechen  selbst  keine  Schmerzen; 
vorher  saurer  Geschmack.  Hatte  Pat.  einmal  viel  erbrochen,  so  wurde 
das  Erbrochene  dunkelbraun  (blutig);  etwa  alle  paar  Tage  einmal.  Aerzt- 
licherseits  wurden  Magenspülungen  vorgeschlagen,  aber  nicht  gemacht. 
Mai  1897  wurde  eine  Leberschwellung  konstatiert,  welche  wieder  zurück- 
ging (Jodgebrauch).  Im  August  1897  stellte  sich  Bluterbrechen  ein,  das 
auf  Magenspülungen  nachließ;  Pat.  erholte  sich  sehr  gut.  Februar  1898 
Blutung  ohne  Erbrechen;  der  Stuhl  war  teerartig  schwarz.  Pat.  machte 
eine  14-tägige  Karlsbader  Kur  durch,  die  ihn  sehr  herunterbrachte.  Es 
bestanden  heftige  krampfartige  Schmerzen  in  der  rechten  Magengegend; 
Erbrechen  ohne  Blut.  Auf  Magenspülungen  erholte  sich  der  Pat.  wiederum 
bald.  Im  August  1898  stellte  sich  wiederum  ein  Anfall  mit  heftigen 
Schmerzen  und  Blutbrechen  ein.  In  der  Folgezeit  dann  noch  öfters 
derartige   Anfälle,    bis    Pat.    sich    am    13.   Okt.    1898    in    die  Klinik   auf- 


906  Max  Tiegel, 

nehmen  lielS.  Der  Stuhl  war  stets  angehalten;  zur  Zeit  der  AnftUe  nur 
auf  Klysma. 

Status:  MittelgroISer,  schlecht  genährter  Mann,  mit  leidlich  gesunder 
Gesichtsfarbe.  Innere  Organe  ohne  Befund.  Bei  Bewegungen  lautes 
Plätschergeräusch  in  der  Magengegend.  Bei  der  Aufnahme  werden 
700  ccm  trübe,  nicht  blutige  Flüssigkeit  ausgehebert,  Gesamtacidität  75, 
freie  Salzsäure  46.  I.  «/^  Stunde  nach  Boas  Probefrühstück  (400  ccm) 
ausgehebert  420  ccm;  Gesamtacidität  81;  freie  Salzsäure  60.  IL  Morgens 
nüchtern  ausgehebert,  150  ccm  trübe  Flüssigkeit  von:  Gesamtacidität  91; 
freie  Salzsäure  70.     Aufblähung  des  Magens  unterbleibt. 

Am  14.  Okt  1898:  Operation.  In  ruhiger  Chloroformnarkose  13  cm 
langer  Medianschnitt  mit  Excision  des  Nabels.  Der  Magen  wird  hervor- 
gezogen. Er  ist  stark  dilatiert;  Muscularis  kräftig.  Der  Pyloras  ist  ver- 
engt von  einer  dicken,  derben,  den  vorderen,  oberen  und  unteren  Teil  des 
ümfanges  einnehmenden  Narbe.  Die  Fingerkuppe  dringt  unter  Einstülpung 
der  vorderen  Magenwand  gerade  noch  in  den  Pylorus  ein.  Es  wird  eine 
Gastroenterostomia  anterior  antecolica  mit  einer  70  cm  vom  Duodenum 
entfernten  Darmschlinge  gemacht.  10  cm  von  dieser  entfernt  wird  eine 
Enteroanastomose  angelegt.  Ein  frisches  Ulcus  wird  nicht  gefunden. 
Schluß  der  Bauchwunde  in  typischer  Weise. 

Die  Wunde  heilte  per  primam.  Heilungsverlauf  durch  Pleuritis 
kompliziert  In  den  folgenden  Tagen  nach  der  Operation  (bis  25.  Okt.) 
öfters  blutiger  Stuhl;  kein  Erbrechen. 

Am  2.  Nov.  1898  wird  Pat.  entlassen.  Bis  zum  12.  Nov.  1899  be- 
stand (laut  eingezogenem  Bericht)  ausgezeichnetes  Befinden;  die  Ver- 
dauung war  vorzüglich;  Pat.  konnte  alles  essen. 

Am  12.  Juni  1899  stellte  sich  wiederum  heftige  Magenblutung  ein, 
die  sich  in  den  folgenden  Tagen  (bis  20.  Juni)  wiederholte. 

Im  Juni  1902  ließ  sich  Pat.  zur  Untersuchung  kurze  Zeit  aufnehmen. 
Es  wurde  damals  eine  Hypersekretion  und  Hyperacidität  des  Magens 
festgestellt.     Auf  Magenspülungen,  Alkaligebrauch  trat  Besserung  ein. 

Wiederaufnahme:  29.  Jan.  1903.  Seit  seiner  Operation  (am  14.  Okt. 
1898)  hat  Pat.  4  Magenblutungen  durchgemacht,  die  ihn  sehr  herunter- 
brachten. Die  erste  davon  am  12.  Juni  1899,  die  letzte  und  schwerste 
am  30  Nov.  1903.  In  dieser  Zeit  bildete  sich  links  in  den  Bauchdecken 
(etwa  auf  der  Grenze  zwischen  mittlerem  und  oberem  Drittel  des  Rectus 
abdom.)  eine  üach  vorgewölbte,  etwa  apfelgroße,  schmerzhafte  Härte,  welche 
für  einen  luetischen  Prozeß  (Gumma,  Myositis)  gehalten  wurde.  Da  sich 
gleichzeitig  eine  Leberanschwellung  fand,  wurde  Jodkalium  und  eine 
Schmierkur  verordnet,  die  jedoch  wegen  Stomatitis  unterbrochen  werden 
mußte.  Der  Tumor  und  die  Leberanschwellung  gingen  auf  Jodkalium 
zurück. 

Die  Anschwellung  in  den  Bauchdecken  ist  in  der  Folgezeit  bald  größer, 
bald  kleiner  geworden ;  immer  jedoch  war  dieselbe  schmerzhaft ;  besonders 
nachts.  Zur  Zeit  vor  der  Blutung  war  sie  angeblich  regelmäßig  größer, 
um  nach  derselben  langsam  zurückzugehen  (wie  das  besonders  bei  der  letzten 
Blutung  beobachtet  werden  konnte). 

Zur  Zeit  bestehen  Schmerzen  auf  der  Höhe  der  Verdauung. 

Status:  Geringer  Ernährungszustand ;  Turgur  der  Haut  herabgesetzt ; 
Gesichtsfarbe  leidlich  gut.  Innere  Organe  ohne  Befund.  Linkerseits  be- 
steht auf  der  Grenze  zwischen  mittlerem  und  oberem  Rectusdrittel  eine 
fast  kreisrunde  Resistenz  in  den  Bauchdecken,  deren  medialer  Rand  ziem- 
lich scharf  zu   umgreifen   ist,    die  im  übrigen  jedoch  nicht  deutlich  abzu- 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Oastroenterostomie.    907 

grenzen  ist.  Die  Haut  ist  darüber  verschieblich.  Es  besteht  lebhafte 
Druckempfindlichkeit  an  dieser  Stelle. 

3.  Febr.  1903.  Operation.  12  cm  lauger  Schnitt,  über  die  Geschwulst, 
parallel  der  Medianlinie.  Man  gelangt  nach  Durchtrennung  der  Fascie  in 
ein  hartes,  sehr  gefäßreiches  Gewebe.  Das  Zentrum  dieser  indurierten 
Partie  wird  umgangen  und  so  ein  zweimarkstückgroßer  Teil  derselben  um- 
schnitten. Am  Rande  desselben  gelangt  man  in  die  Peritonealhöhle.  Nach 
Eröffnung  derselben  zeigt  sich,  daß  die  Schwiele  genau  dem  vorderen  Um- 
fange der  Gastroenterostomie  aufsitzt.  Die  Schwiele  wird  an  ihrem  Rande 
umschnitten,  und  zwar  zuerst  an  dem  dem  Magen  angehörenden  Teil.  Da- 
bei wird  ein  größeres  Gefäß  verletzt,  das  umstechen  wird.  Nachdem  die 
Schwiele  vollends  umschnitten  ist,  zeigt  sich  an  ihrer  Innenfläche  ein 
pfenniggroßes,  perforierendes  Ulcus,  das  zur  Hälfte  in  der  Magenwand, 
zur  Hälfte  in  der  des  angehefteten  Darmes  sitzt.  Bei  der  Abtastung  des 
Mageninneren  ist  nichts  zu  finden. 

Die  entstandene  Lücke  in  2  Etagen  in  querer  Richtung  vernäht.  An 
die  Nahtstelle  wird  ein  Jodoformgazebeutel  gelegt. 

In  den  folgenden  Tagen  nach  der  Operation  stellen  sich  Zeichen  von 
Peritonitis  ein. 

Am  6.  März  erfolgte  Exitus  im  Kollaps.  Sektion  der  Bauchhöhle  er- 
gibt folgenden  Befund :  Eibrinös-eiterige  Beläge  an  den  tieferen  Dünn- 
darmschlingen. An  der  Operationsstelle  keine  Perforation;  die  Naht  ist 
in  allen  Teilen  dicht  und  intakt.  Magen  außerordentlich  groß ;  kein  frisches 
Ulcus.     Pylorus  kaum  für  Federkiel  durchgängig. 

Fall  V.     Robert  P.,  33  Jahre,  Schlosser.    Aufgenommen  1.  März  1903. 

Anamnese:  Familien-  und  Voranamnese  ohne  Belang. 

Vor  ungefähr  12 — 13  Jahren  bekam  Pat.,  nachdem  er  sich  angeblich 
gegen  die  Magengegend  stark  gedrückt  hatte,  Magenbeschwerden:  Druck- 
und  Völlegefühl,  Uebelkeit,  starke  Schmerzen  manchmal  Yg — ^  Stunden 
nach  dem  £ssen,  brennendes  Aufstoßen.  Pat.  mußte  oft  mit  Hilfe  des 
Fingers  Erbrechen  herbeiführen,  wonach  immer  Besserung  einti*at.  Besondere 
Beschwerden  hatte  er  nach  sauren,  fetten  und  sonstigen  schwer  verdaulichen 
Speisen.  Diät  half  nichts.  Magenausspülungen,  Gebrauch  von  Bismuth. 
subnitr.  und  Ernährung  per  rectum  brachten  eine  Zeitlang  Besserung.  Im 
Jahre  1899  wurde  in  einem  Berliner  Hospital  wegen  Magenerweiterung 
eine  Gastroenterostomia  antecolica  anterior  mit  Enteroanastomose  vorge- 
nommen. Nach  der  Operation  ging  es  dem  Pat.  ly,  Jahre  lang  gut;  er 
konnte  alles  ohne  Beschwerden  essen.  Dann  begannen  wieder  allmählich 
zunehmende  Schmerzen ;  sehr  heftige  Krampf  anfalle,  gegen  die  Pat. 
Morphium  bekam.  Der  auch  früher  schon  oft  angehaltene  Stuhl  erfolgte 
nun  noch  schwerer;  Pat.  mußte  oft  Abführmittel  einnehmen.  Pat.  wurde 
dann  1901  nochmals  in  einem  Krankenhause  mit  warmen  Umschlägen, 
Massage,  Einlaufen  behandelt,  was  eine  vorübergehende  Besserung  herbei- 
führte. Schließlich  mußte  er  sich  jedoch  einer  zweiten  Operation  unter- 
ziehen. Da  bei  derselben  der  Magen  an  der  Bauch  wand  flächenhaft  ad- 
härent  gefunden  und  eröffnet  warde,  so  wurde  von  der  weiteren  Operation 
Abstand  genommen.  Seitdem  wurde  er  mit  Atropinpillen,  Oelklystieren 
behandelt.  Seine  Beschwerden  aber  haben  sich  sehr  stark  gesteigert.  Seit 
etwa  6  Monaten  fühlt  er  eine  Anschwellung  in  der  Gegend  der  Operations- 
wunde. Stuhl  erfolgt  ohne  Einguß  oder  Abführmittel  überhaupt  kaum; 
besteht  meist  aus  kleinen  Knollen.  Erbrechen  hat  Pat.  nicht:  auch  kein 
Aufstoßen. 


908  Max  Tiegel, 

Status:  GroISer,  kräftig  gebauter  Mann  in  leidlichem  Ernährungs- 
zustände. Innere  Organe  ohne  Befund.  Abdomen  nicht  aufgetrieben, 
nicht  eingezogen.  Links  vom  Nabel  eine  ungeföhr  apfelgroße,  rundliche 
Vorwölbung,  umgrenzt  von  3  langen,  strahligen  Narben.  An  dieser  Stelle 
starke  Druckempfindlichkeit,  namentlich  in  ihrem  unteren  Teile.  Die  Vor- 
wölbung fühlt  sich  derb  an,  ist  respiratorisch  nicht,  passiv  nur  wenig  seit- 
lich verschieblich.  Bei  Aufblähung  des  Magens  bleibt  der  Tumor  an  seiner 
Stelle  und  liegt  dann  im  Bereich  des  Magenschalles.  Per  rectum  nichts 
zu  fühlen.  Untersuchung  des  Mageninhalts :  I.  Bei  Ausheberung  frühmorgens^ 
in  nüchternem  Zustande,  nachdem  Fat  am  Abend  vorher  1  1  Haferschleim- 
suppe genossen  hat,  wird  der  Magen  leer  gefunden.  11.  ^/^  Stunden  nach 
400  ccm  Haferschleimsuppe  werden  115  ccm  ausgehebert;  Gesamtacidität 
55,  freie  Salzsäure  47,  Milchsäure  negativ.  III.  5  Stunden  nach  Probe- 
mahlzeit (125  g  gehacktes  gebratenes  Fleisch,  1  Semmel,  1  Glas  Wasser) 
werden  130  ccm  ausgehebert;  Gesamtacidität  62,  freie  Salzsäure  45,  Milch- 
säure negativ.  Auf  reine  Milchdiät,  Alkalien  werden  die  Schmerzen  geringer, 
die  Anschwellung  wird  weicher  und  kleiner,  kaum  noch  schmerzhaft. 

16.  März  1903  Operation.  Nach  Eröffnung  des  Abdomens  stößt  man 
sofort  auf  sehr  ausgedehnte  Adhäsionen,  welche  anscheinend  sowohl  Magen 
wie  Darm  betreffen  und  eine  genaue  Untersuchung  der  Bauchhöhle  un- 
möglich machen.  Der  vorliegende  Tumor  wird  umschnitten.  Seine  Ab- 
lösung vom  Darme  erweist  sich  als  unmöglich;  der  vorliegende  Darmteil 
wird  dabei  öfters  angeschnitten.  Der  Tumor  wird  daher  excidiert.  E» 
zeigt  sich  nun,  daß  er  die  Vorderwand  des  vorliegenden  Darmstückes  ein- 
genommen hat,  und  daß  es  sich  um  ein  typisches  Ulcus  jejuni  handelt  Ob 
das  Ulcus  dem  zuführenden  oder  abführenden  Schenkel  angehört,  läßt  sich 
nicht  sagen.  Ebenso  ist  wegen  der  allzuvielen  Adhäsionen  nicht  zu  er- 
mitteln, wie  weit  das  Ulcus  vom  Pylorus  entfernt  ist,  d.  h.  welche  Jeju- 
numschlinge  seinerzeit  zur  Gastroenterostomie  verwendet  wurde.  Die 
Oefinung  im  Darm  quer  (im  Sinne  der  Pyloroplastik)  vernäht.  Bauchwunde 
bis  auf  eine  kleine  Stelle  geschlossen,  an  welcher  ein  Jodoformgazestreifen 
eingelegt  wird. 

Der  Heilungsverlauf  ist  ungestört.  Am  6.  April  1903  wird  Pat.  ohne 
Schmerzen  entlassen« 

Am  20.  Nov.  1903  stellt  sich  Pat.  wieder  in  der  Klinik  vor.  Er  war 
seit  seiner  Operation  bis  vor  6  Wochen  (also  ca.  6^2  Monate)  völlig  be- 
schwerdefrei. Er  konnte  in  dieser  Zeit  alles  essen,  hatte  keine  Schmerzen^ 
verrichtete  seine  Arbeit.  Vor  6  Wochen  stellten  sich  zwickende  Schmerzen 
in  der  Operationsnarbe  ein,  die  in  den  Rücken  ausstrahlten.  Die  Schmerzen 
bestehen  andauernd  mit  zeitweisen  Verschlimmerungen,  die  jedoch  nicht 
von  der  Nahrungsaufnahme  abhängig  sind,  vielmehr  eher  nach  körper- 
lichen Bewegungen  auftreten.  Es  bildete  sich  in  der  Operationswunde 
ein  fester  Knoten,  der  auf  Druck  schmerzhaft  war.  Pat.  ging  sogleich  zu 
seinem  Arzte,  der  Kicinusöl  und  später  Opium  tropfen,  sowie  warme  Um- 
schläge verordnete.  Die  Schmerzen  steigerten  sich  zuerst  und  nahmen 
einen  kolikartigen  Charakter  an,  ließen  dann  aber  bald  etwas  nach.  Seit 
10  Tagen  macht  Pat.  jede  Nacht  warme  Einpackungen.  Er  hat  nie  er- 
brochen, nie  schwarzen  Stuhl  gehabt  Seine  Gewichtsabnahme  in  dieser 
Zeit  schätzt  er  auf  10  Pfd. 

Der  gegenwärtige  Befund  ist  folgender:  Im  Bereich  der  Operations- 
narbe fühlt  man  eine,  nicht  deutlich  abgrenzbare,  auf  Druck  schmerzhafte 
Verhärtung.  I.  4Y2  Stunden  nach  Probemahlzeit  finden  sich:  Menge  230, 
reichliche  Speisereste,  Gesamtacidität  42,  freie  HCl  22.    Bei  einer  wieder- 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     909 

holten  Vorstellung  am  19.  Dez.  ist  der  Befund  derselbe.  Die  funktionelle 
Magenuntersuchung  ergibt  folgendes:  I.  Nüchtern:  Menge  128,  ohne  Speise- 
reste, Gesamtacidität  22,  freie  HCl  9.  II.  Nach  Probefrühstück:  Menge 
241,  verdaute  Speisereste,  Gesamtacidität  20,  freie  HCl.  10.  III.  Nach 
Probemahlzeit:  Menge  240,  geringe  Speisereste,  Gesamtacidität  75,  freie 
HCl.  38. 

Außer  diesen  5  operierten  Fällen  wurde  noch  ein  weiterer  Fall, 
welcher  nicht  zur  Operation  gelangte,  beobachtet.  Das  ganze  Symptoraen- 
bild  desselben  spricht  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  für  die  Diagnose 
Ulcus  pepticum  jejuni,  so  daß  ich  seine  Krankengeschichte  den  obigen 
hinzufüge. 

VI.  Robert  M.,  41  Jahr,  Hausmeister.     Aufnahme:  17.  Juni  1901. 

Pat.  war  bis  vor  10  Jahren  gesund.  Damals  stellten  sich  plötzlich 
ziehende  Schmerzen  in  der  Magengegend  ein,  die  nach  der  Seite  und  dem 
Eücken  zu  ausstrahlten;  zugleich  bildete  sich  in  der  Magengegend  eine 
Auftreibung,  die  sich  lebhaft  peristaltisch  bewegte.  Pat.  mußte  dann  er- 
brechen und  zwar  große  Mengen  übelriechender  Flüssigkeit.  Nach  dem 
Erbrechen  hatte  er  Erleichterung;  das  Erbrechen  war  von  wechselnder 
Häufigkeit ;  mitunter  blieb  es  auch  einige  Tage  aus.  Nach  2-jährigem  Be- 
stand des  Leidens,  während  dem  Medizin  keine  Besserung  brachte,  wurde 
er  mit  Magenspülungen  behandelt,  die  Pat.  in  den  nächsten  Jahren  regel- 
mäßig fortsetzte.  Auf  diese  Spülungen  und  auf  strenge  Diät  besserten 
sich  die  Beschwerden ;  die  Schmerzen  verschwanden ;  das  Erbrechen  hörte 
auf.  In  den  letzten  Jahren  trat  jedoch  wieder  Verschlimmerung  ein.  Es 
stellten  sich  dieselben  Beschwerden  wie  zu  Anfang  ein:  Schmerzen,  übel- 
riechendes Aufstoßen,  Erbrechen.  Die  Behandlung  bestand  wiederum  in 
Magenspülungen,  strenger  Diät  und  Gebrauch  von  Pulvern  (?).  In  den 
letzten  6  Wochen  10  Pfund  Gewichtsabnahme. 

Status:  Mittelgroßer,  mäßig  kräftig  gebauter  Mann,  in  geringem  Er- 
nährungszustande und  von  blasser  Gesichtsfarbe.  Innere  Organe  ohne 
Befund.  Puls:  regelmäßig,  nicht  gespannt,  Arterienrohr  weich.  Abdomen 
weich.  Rechts  und  oberhalb  vom  Nabel  auf  Druck  eine  geringe  Schmerz- 
haftigkeit.  Unmittelbar  unterhalb  des  Proc.  ensif.  eine  leichte  Einsenkung. 
Darunter  eine,  bis  weit  unter  den  Nabel  reichende,  nach  unten  bogenförmig 
abgeschlossene  Vorwölbung,  die  bei  Palpation  lebhafte  Peristaltik  zeigt. 
Bei  Hin-  und  Herschütteln  hört  man  lautes  Plätschern.  Perkussion  ergibt 
überall  t3rmpani tischen  Schall.  Bei  Aufblähung  des  Magens  tritt  die  untere 
Grenze  der  Vorwölbung  bis  2  Querfinger  über  die  Symphyse.  An  keiner 
Stelle  fühlt  man  irgend  welche  Resistenz.  Funktionelle  Magenüntersuchung : 
I.  Nüchtern,  nachdem  Pat.  abends  vorher  400  g  Hafermehlsuppe  und 
1  Semmel  gegessen :  Menge :  185,  hellgrau,  mit  klumpigen,  leicht  grün- 
lichen Massen  vermischt,  fr.  HCl  0,  Milchs.  0,  Ges.-Acid.  15.  II.  Probe- 
frühstück, 400  g  Hafermehlsuppe,  nach  ^/^  Stunden  ausgehebert;  Menge: 
360;  fr.  HCl  10;  Ges.-Acid.  34,  Milchs.  0.  III.  Probemahlzeit:  125  g 
gehacktes  Fleisch,  gebraten,  100  Wasser,  1  Semmel,  nach  5  Stunden 
ausgehebert;    Menge:  250;  fr.  HCl  25;  Ges.-Acid.  98,  Milchs.  0. 

Diagnose:   Gutartige  Pylorusstenose  mit  Dilatation   des  Magens. 
22.  Juni  Operation  in  Morphium- Aethernarkose.     Längsschnitt  in  der 
Medianlinie,  mit  Excision  des  Nabels,  7 — 8  cm  lang.   Der  Magen  ist  sehr 
diktiert,    die  Muskulatur  hypertrophisch.     Der  Pylorus   ist   nicht  verengt. 


910  Max  Tiegel, 

eher  etwas  erweitert;  dagegen  findet  sich  4  cm  unterhalb  desselben  eine 
ringförmige  Stenose  des  Duodenums,  die  so  eng  ist,  daß  nicht  einmal  eine 
Klemme  durchgehen  würde.  An  der  Stenosenstelle  finden  sich  leicht  lös- 
liche Adhäsionen.  Es  wird  an  der  Vorderfiäche,  nahe  der  großen  Kurvatur, 
eine  Gastroenteroanastomose  und  unterhalb  eine  Enteroanastomose  zwischen 
zu-  und  abführendem  Dünndarmschenkel  mittels  Naht  angelegt 

Der  Heilungsverlauf  war  ein  völlig  normaler.  Fat.  wurde  am  4.  Juli 
ohne  Beschwerden  entlassen,  mit  der  Weisung,  noch  längere  Zeit  strenge 
Diät  innezuhalten. 

Nach  seiner  Entlassung  fühlte  sich  Fat.  völlig  wohl;  er  hatte  keine 
Schmerzen;  der  Appetit  war  gut.  In  der  ersten  Zeit  beobachtete  Fat. 
noch  strenge  Diät:  nach  und  nach  aß  er  wieder  alle  Speisen  ohne  jede 
Beschwerden.  Er  wurde  kräftiger,  nahm  an  Gewicht  20  Ffund  zu,  konnte 
wieder  vollauf  seine  Arbeit  verrichten.  Dieses  Wohlbefinden  hielt  bis 
August  1903  an.  Um  diese  Zeit  stellten  sich  heftige,  stechende  und 
schneidende  Schmerzen  in  der  Gegend  unterhalb  des  rechten  Rippenbogens 
ein,  die  nach  hinten  in  die  Weiche  ausstrahlten.  Die  Schmerzen  traten 
in  Anfällen  auf,  zwischen  denen  bisweilen  tage-  bis  wochenlange  schmerz- 
freie Fausen  lagen,  bisweilen  aber  auch,  besonders  in  letzter  Zeit,  traten 
täglich  2 — 3  solcher  Anflllle  auf.  Die  Anfalle  waren  unabhängig  von  der 
Nahrungsaufnahme,  dauerten  ^/^  bis  */,  Stunde.  Nach  Hinlegen,  Genuß 
heißer  Getränke  und  auf  warme  Umschläge  ließen  die  Schmerzen  zuerst 
stets  nach.  In  letzter  Zeit  haben  auch  diese  Maßnahmen  wenig  oder  gar 
nicht  geholfen.  Erbrechen,  Uebelkeit,  Aufstoßen  hat  nie  bestanden.  Der 
Appetit  war  stets  gut.  Fat.  hat  alle  Speisen  gegessen.  Der  Stuhl  war 
stets  angehalten,  unregelmäßig,  meist  auf  Abführmittel.  Blut  im  Stuhl 
oder  Schwarzfkrbung  hat  Fat.  nie  bemerkt. 

Bisherige  Behandlung:  Bald  bei  Beginn  der  jetzigen  Beschwerden 
begab  sich  Fat  zum  Arzt,  der  Morphiuminjektionen  verordnete ;  ein  anderer 
Arzt  verschrieb  Fulver  und  ölartige  Medizin.  Da  sich  die  Beschwerden 
etwas  besserten,  blieb  Fat  bald  aus  der  ärztlichen  Behandlung  weg.  Er 
behalf  sich  in  der  Folgezeit  selbst  mit  warmen  Umschlägen,  heißen  Ge- 
tränken und  vorübergehendem  Gebrauch  von  Natrium  bicarb. 

Status:  Mittelgroßer  Mann,  in  leidlichem  Ernährungszustande,  von 
blassem  Aussehen.  Herz  und  Lungen  sind  ohne  Befund.  Unter  dem 
linken  Kippenbogen  findet  sich  eine  nicht  deutlich  abgrenzbare,  vielleicht 
handtellergroße  Resistenz,  welche  schon  auf  den  leisesten  Druck  sehr 
schmerzhaft  ist.  UngefUhr  in  Nabelhöhe  eine  quer  verlaufende,  geblähte 
Darmschlinge.  Keine  Feristaltik  zu  sehen.  Aufblähung  des  Magens  ge- 
lingt nicht,  da  die  Luft  sofort  durch  die  Gastroenteroanastomose  in  den 
Darm  entweicht.  Am  Rücken,  in  der  Höhe  des  10.  Brustwirbels,  3  Quer- 
fingerbreit links  von  der  Mittellinie,  eine  fünfmarkstückgroße,  auf  Druck 
schmerzhafte  Stelle. 

Funktionelle  Magen  Untersuchung:  I.  Nüchtern  (abends  vorher:  400  g 
Hafermehlsuppe,  125  g  Fleisch,  2  Butterbrote);  frühmorgens  ausgehebert; 
Menge:  26,  ohne  Speisereste;  fr.  HCl  12,  Ges.-Acid.  28,  Milchs.  0. 
n.  Frobefrühstück :  400  g  Hafermehlsuppe  nach  */^  Stunden  ausgehebert; 
Menge:  140,  enthält  angedaute  Stärkekörner;  fr.  HCl  33,  Ges.-Acid.  49, 
Milchs.  0.  m.  Frobemahlzeit ;  125  g  gehacktes  gebratenes  Fleisch,  100  g 
Wasser,  90  g  Semmel;  5^/,  Stunden  nachher  ausgehebert  Menge:  130, 
enthält  wenig  gut  verdaute  Speisereste;  fr.  HCl  9,  Ges.-Acid.  31,  Milchs.  0. 

Therapie:  Bettruhe.  Fer  os  erhält  Fat  nur  Milch,  und  zwar  täg- 
lich anfangs  ca.  1*/^,  später  2^/^  1.   Im  übrigen  Rektalernährung  (täglich 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     911 

6  Nährklystiere  k  200  g  Wasser,  50  g  Wein).  Bismuth.  subnitr.  täglich 
6  X  1)0.  Permanent  heiße  Breiumschläge.  Unter  dieser  Therapie,  die  vom 
12.  Dez.  bis  11.  Jan.  1904  strikt  durchgeführt  wurde,  besserte  sich  der 
Zustand  bedeutend.  Pat.  wurde  völlig  schmerzfrei.  Nur  bei  Druck  be- 
stand noch  eine  Empfindlichkeit  unterhalb  des  linken  Rippenbogens.  Hier 
ist  noch  eine  undeutliche,  vielleicht  dreimarkstückgroße  Resistenz  zu  fühlen. 
Pat.  wurde  auf  seinen  Wunsch  entlassen,  trotzdem  ihm  geraten  wurde,  die 
Behandlung  noch  einige  Zeit  lang  fortzusetzen. 

Nach  seiner  Entlassung  gebrauchte  Pat  noch  4  Tage  lang  Bismuth, 
dann  keine  Medikamente  mehr.  Er  hielt  noch  Diät  (meist  flüssige  Kost), 
über  Nacht  heiße  Umschläge.  Pat.  fiihlte  sich  wohl,  blieb  schmerzfrei  bis 
18.  März  1904.  Dann  stellten  sich  wiederum  dieselben  Schmerzanf^Ue 
ein.  Kein  Erbrechen,  keine  Uebelkeit.  Stuhl  nie  schwarz  gefärbt.  Vor- 
stellung am  28.  März  1904.  Unter  dem  linken  Rippenbogen  ist  wiederum 
eine  etwa  handtellergroße  Resistenz  zu  fühlen,  die  auf  leisesten  Druck 
sehr  schmerzhaft  ist. 

In  der  Literatur  habe  ich  noch  eine  Reihe  Veröffentlichungen  ge- 
fanden, die  ich  in  folgendem  zusammenstelle.  In  Anbetracht  dessen, 
daß  dieselben  meist  vereinzelt  in  Kongreßberichten,  klinischen  Jahres- 
berichten mitgeteilt  sind,  soll  die  Wiedergabe  derselben  mit  genügender 
Ausführlichkeit  erfolgen. 

Fall  11).  [BRAUN-Göttingen,  Chirurgenkongreß  1899.] 
C.  D.,  25-jähr.  Maurer.  Seit  vielen  Jahren  magenleidend.  Seit 
1  Jahre  wesentliche  Verschlimmerung:  Pat.  erbrach  fast  täglich  (nie  Blut). 
Bei  seiner  Aufnahme  am  11.  Nov.  1897  bestanden  starke  Retentions- 
erscheinungen  (bei  einer  Ausheberung  wurden  3  1  Flüssigkeit  entleert). 
Am  17.  Nov.  1897  wurde  wegen  dieser  Beschwerden  eine  Gastroentero- 
stomia  retrocolica  posterior  mittels  Naht  ausgeführt.  In  den  folgenden 
Tagen  nach  der  Operation  noch  täglich  Erbrechen,  dann  Wohlbefinden. 
Pat.  konnte  am  29.  Dez.  1897  in  gutem  Zustande  entlassen  werden.  In- 
folge mangelnder  Diät  stellten  sich  wiederum  Magenbeschwerden  ein,  die 
zu  einer  nochmaligen  Krankenhausbehandlung  führten  (26.  Jan.  1898). 
Es  wurde  damals  folgender  Befund  erhoben :  der  aufgeblähte  Magen  reicht 
mit  seiner  groüen  Kurvatur  bis  2  Querfinger  breit  unter  den  Nabel.  Am 
2.  Febr.  wurden  morgens  nüchtern  120  ccm  Mageninhalt  ausgehebert,  der 
sauer  reagierte,  aber  keine  freie  HCl  enthielt. 

Die  Beschwerden  besserten  sich  wieder;  Pat.  wurde  am  8.  März  ent- 
lassen. Am  18.  Okt.  1898  erkrankte  er  plötzlich  ohne  besondere  Ursache 
unter  äuiSerst  heftigen  Schmerzen  in  der  Magengegend  und  häufigem  Er- 
brechen. Mit  den  Zeichen  einer  Peritonitis  wurde  er  am  20.  Oktober 
wiederum  in  das  Krankenhaus  zu  Kassel  eingeliefert,  wo  er  in  der  fol- 
genden Nacht  starb.  Sektion:  Peritonitis.  Pylorus  durch  alte  Narbe 
hochgradig  verengt.  In  dem  abführenden  Schenkel  der  an  den  Magen 
gehefteten  Jejunumschlinge,  etwa  1  cm  von  der  Gastroenteroanastomose 
entfernt,  findet  sich  eine  Oeffnung,  etwa  1  cm  lang  und  */,  cm  breit,  die 
oberhalb  des  Colon  transv.  in  die  freie  Bauchhöhle  führt.  Die  Ränder 
dieser  Oeffnung  sind  vollkommen  glatt,  wie  mit  einem  Locheisen  ausge- 
schlagen. Die  Anastomose  ist  weit,  die  Schleimhaut  von  Magen  und  Darm 
geht  glatt  ineinander  über,  ohne  den  geringsten  Substanzverlust. 


1)  Kongreßbericht,  1899,  II,  p.  94. 


912  Max  Tiegel, 

Fall  n.  [HAHN-Berlin,  Chirurgenkongreß  1899  *).]  Wegen  gutartiger 
Pylorusstenose  war  vor  1  Jahre  eine  Oastroenterostomia  antecolica  anterior 
ausgeführt  worden.  Der  Pat.  erfreute  sich  nach  der  Operation  einer 
„auÜerord entlich  guten  Gesundheit ^^  bis  er  nach  einem  Jahre  plötzlich  beim 
Wegschieben  eines  schweren  Gegenstandes  einen  sehr  heftigen  Schmerz 
im  Leibe  verspürte  und  bald  unter  Erscheinungen  einer  Perforationsperi- 
tonitis  erkrankte.  Nach  24  Stunden  Exitus.  Bei  der  Sektion  fand  sich 
ein  Geschwür  im  Anfangsteil  des  Jejunums,  1 — 2  cm  von  der  Gastro- 
enterostomie entfernt.  Obgleich  anfangs  an  eine  Darmruptur  gedacht 
worden  war,  ergab  die  Sektion  unzweifelhaft,  daß  es  sich  um  den  Durch- 
bruch eines,  wahrscheinlich  durch  den  Einfluß  des  Magensaftes  entstandenen 
Geschwürs  im  Jejunum  handelte. 

Pall  m.  [KöRTB-Berlin,  Chirurgenkongreß  1900«).]  W.,  30-jähr, 
Schuhmacher,  litt  seit  einem  Jahre  an  Magenbeschwerden :  Schmerzen  nach 
dem  Essen,  Erbrechen  (nie  Blut).  Abmagerung.  Hyperacidität  66 — 76. 
Der  Magen  war  dilatiert,  enthielt  viel  Reste.  Tägliche  Magenspülungen. 
Da  die  Kachexie  zunahm,  wurde  am  23.  Febr.  1897  eine  Gastroenterostomia 
antecolica  anterior  ausgeführt.  Der  Heil ungs verlauf  war  ein  glatter.  Am 
13.  April  1897  wurde  Pat.  entlassen.  Das  Befinden  blieb  nun  ein  gutes; 
Pat.  konnte  alle  Speisen  ohne  Beschwerden  genießen  und  war  arbeitsfähig. 
Er  stellte  sich  in  dieser  Zeit  mehrere  Male  vor.  Dieses  Wohlbefinden 
hielt  bis  zum  15.  März  an.  An  diesem  Tage  erkrankte  er  abends  plötz- 
lich, ohne  bekannte  Ursache,  an  Leibschmerzen,  Aufstoßen,  Stuhlverstopfung. 
Am  19.  März  wurde  er  in  das  Krankenhaus  Am  Urban  aufgenommen,  wo 
die  Diagnose  Peritonitis  gestellt  und  am  20.  März  eine  Laparotomie  vor- 
genommen wurde.  Dabei  fand  sich  eine  diffuse  Peritonitis,  als  deren  Aus- 
gangspunkt der  stark  gerötete  Wurmfortsatz  angesprochen  wurde.  Ex- 
stirpation  desselben.  Tamponade  der  Bauchhöhle.  Am  21.  März  trat 
Exitus  ein.  Sektionsbefund:  Im  linken  subphrenischen  Baume  ein 
Absceß,  der  durchgebrochen  war  und  zur  Peritonitis  geführt  hatte.  Die 
Anastomose  weit  offen;  die  Bänder  glatt,  Schleimhäute  glatt  vereinigt. 
An  der  Vorderwand  der  mit  dem  Magen  verbundenen  Jejunumschlinge, 
ca.  7  cm  von  der  Gastroenterostomie  entfernt,  liegt  ein  über  markstück- 
großes, scharfrandiges,  rundes  Geschwür,  welches  die  dünne  Darmwand 
bis  auf  die  Subserosa  durchsetzt.  An  dieser  Stelle  finden  sich  fibrinös- 
eiterige  Auflagerungen.  Eine  offene  Perforation  ließ  sich  nicht  nachweisen. 
Pylorus  ist  verdickt,  starrwandig.  Im  Duodenum  alte  strahlige  Ulcusnarbe. 
Man  nahm  an,  daß  der  subphrenische  Absceß  von  dem  Ulcus  jejuni  aus 
entstanden  war. 

Fall  IV.  [STBiNTHAL-Stuttgart,  Chirurgenkongreß  1900  8).J  44-jähr.  Wirt. 
Seit  9  Jahren  Zeichen  einer  chronischen  Gastritis,  in  letzter  Zeit  öfters 
Erbrechen  blutiger  Massen.  Wegen  Pylorusstenose  wurde  eine  hintere 
Gasti-oenterostomie  mit  dem  Murphyknopfe  in  typischer  Weise  ausgeführt. 
Beim  Zudrücken  des  Knopfes  wurde  nicht  auffällig  gequetscht  Nach 
10  Tagen  Exitus  an  Perforationsperitonitis.  Sektionsbefund:  Es 
fanden  sich  einige  cm  von  der  Anastomose  zwei  fünfzigpfennigstückgroße, 
wie    mit    dem  Locheisen    herausgeschlagene    Substanzverluste    in    der  ab- 


1)  Kongreßbericht  1899,  p.  74. 

2)  Kongreßbericht  1900,  p.  137. 
8)  Kongreßbericht  1900,  p.  139. 


Ueber  peptische  Geschwlire  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     913 

ftihrenden  Schlinge,  zwei  ebensolche,  dem  Durchbruch  nahe,  gleichgroße 
Defekte  in  der  zuführenden.  In  der  Umgebung  derselben  blutige  Suf- 
fusionen.  Es  bestand  starke  Atheromatose.  Das  Mesenterium  war  durch 
eigentümliche  Lagerung  der  Schlinge  etwas  geknickt. 

Fall  V.  [KocHKR-Bern,  Chirurgenkongreß  1902 1).]  Wegen  Magenbe- 
schwerden Gastroenterostomia  antecolica  anterior  (nach  der  Y-Methode). 
Nachdem  Fat.  zuerst  sich  vorzüglich  befunden,  erkrannte  er  nach  3  Monaten 
wiederum  an  Schmerzen,  die  durch  die  Mahlzeit  zunächst  gemildert  wurden, 
2  Stunden  aber  nach  derselben,  sowie  in  der  Nacht  sehr  intensiv  auftraten. 
Es  fand  sich  eine  Geschwulst  in  der  Bauchwand,  am  linken  Bectusrand. 
Magenuntersuchung  ergab  Verringerung  der  Salzsäure,  etwas  Milchsäure(?) 
Bei  der  Operation  zeigte  sich  ein  perforiertes  Ulcus  jejuni,  welches  excidiert 
wurde.     Pat.  wurde  geheilt. 

Fall  VI.  [Hbidbnhain- Worms,  Chirurgenkongreß  1902«).]  Bei  einem 
Manne  in  mittleren  Jahren  wurde  im  Jahre  1898  wegen  blutenden  Ulcus 
und  starker  Stenose  eine  Gastroenterostomia  antecolica  anterior  ausgeführt. 
Nach  einigen  Monaten  kam  der  Pat.  wieder  und  klagte  über  starke 
Schmerzen.  Es  bestand  eine  Infiltration  im  linken  Bectus.  Bei  der  Ope- 
ration erwies  sich,  daß  ein  Ulcus  perforans  an  der  oberen  Umrandung 
der  Gastroenterostomieöffnung  bestand.  Das  Ulcus  wurde  vernäht,  Pat. 
entlassen.  Nach  einigen  Monaten  wiederum  Aufnahme.  Es  fand  sich  wieder 
ein  Ulcus  perforans,  welches  diesmal  im  Jejunum,  einige  Centimeter  von  der 
Gastroenterostomie,  saß.  Das  Ulcus  war  am  Bectus  adhärent.  Vernähung 
des  Ulcus.  Wegen  Störungen  an  der  Gastroenterostomie,  welche  zu  Be- 
tention führten,  wurde  nach  8  Tagen  eine  nochmalige  Operation  vorge- 
nommen. Es  wurde  eine  neue  Gastroenterostomie  links  ganz  hoch  oben 
am  Fundus  angelegt.  Pat  wurde  geheilt  entlassen.  Eine  auffällige 
Hype  roh  lorhydrie  hat  nicht  bestanden  (nach  Probefrühstück  0,22  Proz. 
freie  HCl).  Nach  einer  Beobachtungszeit  von  4  Jahren  noch  völliges 
Wohlbefinden.  Irgendwelche  Symptome  eines  Ulcus  haben  in  dieser  Zeit 
nicht  bestanden. 

Fall  VII.  [GoBPBL-Leipzig,  Chirurgenkongreß  1902  3).]  Gastroenterostomia 
antecolica  anterior  wegen  gutartiger  Pylorusstenose  mit  sehr  bedeutender 
Magen  er  Weiterung  und  hohem  Gehalt  des  Magensaftes  an  freier  Salzsäure. 
Nach  13  Monaten  Perforationsperitonitis,  der  Pat.  innerhalb  2  Tagen  erlag. 
Als  Ursache  derselben  fand  sich  bei  der  Obduktion  ein  perforiertes  Ulcus 
im  Jejunum  durch  einen  2 — 3  mm  breiten  Streifen  Darm  wand  von  der 
Gastroenterostomienarbe  getrennt. 

Fall  Vm.  [GoEPEL-Leipzig,  Chirurgenkongreß  1902*).]  Vordere 
Gastroenterostomie  wegen  gutartiger  Pylorusstenose,  mit  Magenerweite- 
rung und  sehr  viel  freier  HCl.  4  Monate  später  wurde  Pat.  beim  Zeitungs- 
lesen plötzlich  von  starken  Leibschmerzen  und  Uebelkeit  befallen,  mit 
einer  solchen  Heftigkeit,  daß  der  Verdacht  auf  Perforation  sofort  erweckt 
wurde.  Die  objektiven  Veränderungen  waren  kurz  vor  der  Operation  sehi: 
gering,    das    subjektive   Befinden    gebessert.     5  Stunden  nach  dem  Anfall 


1)  Kongreßbericht  1902,  p.  103. 

2)  Kongreßbericht  1902,  p.  108. 

3)  Kongreßbericht  1902,  p.  108. 

4)  Kongreßbericht  1902,  p.  108. 


914  Max  Tiegel, 

Operation.  Nach  EröfEaung  der  Bauchhöhle  lag  ein  perforiertes  Ulcus 
jejuni  vor  Augen,  aus  dem  sich  Mageninhalt  entleerte.  Das  Ulcus  wurde 
durch  einige  Catgutnähte  verschlossen.  Tamponade  der  Bauchhöhle. 
Heilung  ohne  Zwischenfall.  Das  Ulcus  saß,  wie  im  vorigen  Falle,  2 — 3  nmi 
von  der  Gastroenterostomie  getrennt. 

Fall  IX.  [GoBPEL>Leipzig  ^).]  34-jähr.  Mann.  Oastroenterostomia 
antecolica  anterior,  ohne  Enteroanastomose.  Nach  9  Monaten,  in  denen 
keinerlei  Symptome  bestanden  haben,  Perforation  eines  Ulcus  jejuni.  Heilung 
durch  baldige  Operation. 

Fall  X.  [KRÖNLBiN-Zürich,  Chirurgenkongreß  1902  2).]  Mann,  wegen 
Erscheinungen  eines  Ulcus  pepticum  duodeni  vor  5  Jahren  operiert.  Es 
wurde  eine  Gastroenterostomie  ausgeführt,  auf  welcher  die  schweren  Ulcus- 
erscheinungen  zurückgingen.  Fat.  wurde  vollständig  geheilt.  Nach  4  Jahren 
kam  er  wieder.  Es  war  ein  größerer  Tumor  der  Bauchdecken  zu  fühlen. 
Die  Symptome  waren  ungefähr  dieselben  wie  in  Kochers  Fall :  Schmerzen 
nach  dem  Essen.  Bei  der  Operation  fand  sich  ein  Ulcus  jejuni,  welches 
excidiert  wurde.  Anlegung  einer  Enteroanastomose.  Pat  wurde  voll- 
ständig geheilt.  Nach  einem  Jahre  stellten  sich  die  alten  Beschwerden 
wieder  ein. 

Fall  XL  [NBUMANN-Berlin  3).]  24-jähr.  Mann.  Seit  6  Jahren  Magen- 
beschwerden. Aufstoßen,  Drücken,  Schmerzen.  Hochgradige  Dilatation^ 
Retention,  abnorm  viel  freie  HCl,  stark  verengter  Pylorus.  Am  29.  Mars 
1897  Gastroenterostomia  antecolica  anterior,  zuerst  ohne  Enteroanastomose. 
Wegen  eintretender  Circuluserscheinungen  wurde  am  10.  Mai  1897  eine 
Enteroanastomose  angelegt.  Mageninhalt  noch  stark  sauer.  29.  Juni  ge- 
heilt und  beschwerdefrei  entlassen.  Schon  nach  einigen  Monaten  neue 
Störungen,  kolikartige  Schmerzen,  meist  im  Anschluß  an  Mahlzeiten.  Es 
bildet«  sich  rechts  vom  Nabel  ein  derber,  schmerzhafter,  etwa  apfelgroßer 
Tumor.  2.  Mai  1898  Spaltung  des  Tumors.  Man  gelangt  auf  eine  in 
den  Magen  führende  Fistel,  welche  ausgekratzt  und  tamponiert  wurde. 
Durch  Granulation  Verschluß  der  Fistel.  Zunächst  Besserung  der  Be- 
schwerden. 

Da  dieselben  sich  wiederum  steigerten,  wurde  im  Nov.  1899  eine  neue 
Operation  vorgenommen.  Nahtlinie  zwischen  Magen  und  Jejunum  völlig 
frei  von  Verwachsungen.  Der  der  Gastroenterostomie  direkt  anliegende  An- 
fangsteil der  abführenden  und  ein  kleiner  Teil  der  zuführenden  Jejunumschlinge 
mit  der  vorderen  Bauchwand  flächenhaft  festverwachsen.  Bei  Loslösung 
dieser  Verwachsungen  wurde  der  Darm  3  cm  lang  und  2  cm  breit  eröfinet. 
Es  fand  sich  ein  Geschwür  von  dieser  Ausdehnung  in  der  vorderen  Bauch- 
wand. Excision  des  Geschwürs,  Oeffnung  im  Darm  durch  2-reihige  Naht 
geschlossen.  Nach  12  Wochen  beschwerdefrei  entlassen.  ^/^  Jahr  lang 
völliges  Wohlbefinden.  Am  29.  Juli  1900  bildete  sich  in  der  Naht  plötz- 
lich ohne  Schmerzen  wiederum  eine  Fistel.  Vergeblicher  Versuch,  dieselbe 
durch  Anfrischung  zu  schließen.  Es  wurde  wiederum  laparotomiert :  Ulcus 
an  der  Gastroenteroanastomosenstelle.  Dasselbe  wurde  excidiert,  wodurch 
in  der  Magenwand  ein  etwa  dreimarkstückgroßes  Loch  entstand,  die  Ver- 
bindungsbrücke auf  ca.  1  cm  Breite  reduziert  wurde.    Da  der  Magen  nicht 


1)  Nach  einer  Privatmitteilung. 

2)  Kongreßbericht  1902,  p.  110. 

S)  Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie,  Bd.  58,  p.  270. 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     915 

mehr  dilatiert  war,  der  Pylorus  sich  für  einen  Pinger  durchgängig  erwies, 
wurde  die  Verbindung  zwischen  Magen  und  Darm  vollends  gelöst.  Magen- 
öffnung vernäht.  Die  Verbindungsbrticke  zwischen  zu-  und  abführendem 
Schenkel  wurde  reseziert,  die  beiden  Jejunumlumina  jedes  für  sich  ver- 
schlossen. Der  Weg  ging  nun  wieder  durch  den  Pylorus  und  die  Entero- 
anastomose.  Nach  12  Wochen  in  völligem  Wohlbefinden  entlassen.  Mäßige 
Hyperacidität,  keine  motorische  Störung. 

Fall  Xn.  [Jahresbricht  der  Heidelberger  Klinik  für  1902 1).]  59-jähr. 
Mann.  Im  Jahre  1893  Gastroenterostomia  post.  retrocolica,  mit  Naht,  wegen 
Ulcusstenose.  Heilung.  Ueber  8  Jahre  beschwerdefrei.  Nach  einem  Viertel- 
jahr Schmerzen  in  der  Magengegend  und  Aufstoßen.  Magen  stark  dilatiert. 
Resistenz  am  Nabel  fühlbar.  Hyperacidität.  14.  Mai  1902.  Operation. 
Spaltung  der  alten  Narbe.  Pylorus  wenig  verengert.  An  der  Gastro- 
enterostomie saß  ein  großes,  buchtiges  Geschwür.  Starke  Darm  Verwach- 
sungen werden  gelöst.  Die  Dünndarmenden  der  Anastomose  münden  in 
die  Geschwürsfläche.  Eesektion  derselben  und  eines  Teiles  des  Geschwürs- 
grundes. Abführender  Schenkel  in  die  Magenöffnung  eingenäht;  zuführen- 
der mit  ersterem  weiter  unten  durch  Knopf  verbunden.  Naht  der  Wunde 
am  Pylorus.  Tamponade.  Zunehmende  Schwäche;  Peritonitis.  Exitus 
nach  4  Tagen  an  Peritonitis.     Es  bestand  beginnende  Atheromatose. 

Fall  Xm.  [Jahresbericht  der  Heidelberger  Klinik  für  1902  2).]  42.jähr. 
Mann.  Wegen  Ulcusstenose  Gastroenterostomia  retrocolica  post.  mit  Knopf. 
Nach  1/^  Jahre  wegen  erneuter  Stenosenerscheinungen :  Gastroenteroplastik 
an  der  Anastomosenstelle.  Nach  '/^  Jahren  wiederum  heftige  Schmerzen^ 
keine  Hyperacidität  (?).  13.  Juli  1902.  Operation.  Pylorus  stark  stenosiert. 
Ulcus  am  Pylorus.  Resektion  eines  Stückes  vom  Duodenum  und  Magen. 
Peptisches  Geschwür  an  der  Gastroenterostomiestelle ,  das  bis  an  die 
hintere  Bauchwand  reichte;  erscheint  nicht  exstirpabel.  Nahtanas tomose 
zwischen  Magen  und  Duodenalende.  Exitus  nach  6  Tagen  an  Peritonitis. 
Der  Choledochus  endet  blind  in  der  Anastomosennaht ;  er  ist  hier  lädiert^ 
wodurch  Galle  in  den  Bauch  floß. 

Fall  XIV.  [Jahresbericht  der  Heidelberger  Klinik  für  1902  »).]  36-jahr. 
Mann.  Wegen  Magenulcus,  verbunden  mit  Dilatation  und  Hyperacidität,  wurde 
im  November  1 900  eine  Gastroenterostomia  posterior  mit  Knopf  ausgeführt. 
Bis  zum  Juni  1902  war  Pat.  beschwerdefrei.  Dann  stellten  sich  Schmerzen 
ein.  Es  fand  sich  Kot  im  Magen.  Geringe  Hyperacidität,  8.  Nov.  1902. 
Operation.  Von  der  Gastroenterostomiestelle,  welche  nahe  der  großen 
Kurvatur  lag,  ausgehend,  hatte  ein  peptisches  Geschwür  auf  die  Vorder- 
wand des  Magens  übergegriffen,  zur  Verlötung  mit  dem  Colon  trans- 
versum  und  schließlich  zur  Perforation  in  dasselbe  geführt.  Colon  ab- 
getrennt und  vernäht.  Gastroenterostomie  gelöst;  Magen  vernäht.  Gastro- 
enterostomie an  neuer  Stelle  des  Magens  mittels  Knopf  angelegt.  Glatte 
Heilung. 

Fall  XV.  [BRODNiTZ-Frankfurt  a.  M.,  Chir.  Kongr.  1903*).]  58-jähr. 
Mann.     Wegen    narbiger  Pylorusstenose    mit  Magendilatation    und  Hyper- 


1)  Beitr.  z.  klin.  Chir.  v.  P.  v.  Bruns,  Bd.  39,  p.  98. 

2)  Beitr.  z.  klin.  Chir.  v.  Bruns,  Bd.  39,  p.  99. 

3)  Ibid. 

4)  Kongreßbericht  1903,  p.  77. 


916  Max  Tiegel, 

acidität  wurde  am  25.  Jan.  1894  eine  vordere  Gastroenterostomie  aus- 
gefltthrt.  Guter  Heilungsverlauf.  Völliges  Wohlbefinden  bis  3  Jahre  und 
9  Monate  nach  der  Operation.  Damals  stellten  sich  nachts  anfall weise 
heftige  Schmerzen  ein,  die  Fat.  in  den  Magen  verlegte.  In  der  Mitte  der 
Narbe  fand  sich  ein  etwa  kirschkerngroßer,  harter,  auf  Druck  schmerz- 
hafter Tumor,  der  zuerst  für  einen  Netzbruch  angesehen  wurde.  Inner- 
halb 4  Wochen  vergrößerte  sich  dieser  Tumor  etwas.  Operation:  Um- 
schneidung des  Tumors,  der  mit  dem  Darm  adhärent  war.  Bei  Lösung 
dieser  Adhäsionen  zeigte  sich  ein  ausgedehntes  Ulcus  an  der  Vorderwand 
des  Jejunums,  das  in  die  Bauchwand  vorgedrungen  ist.  Ein  zweites  kleineres 
Geschwür  fand  sich  an  dem  hinteren  Rande  der  AnastomosenöfPnung. 
Resektion  eines  Teiles  des  Magens  samt  Anastomose  und  eines  Stückes 
der  zu-  und  abführenden  Jejunumschlinge.  Verschluß  des  Magens  und 
der  zuführenden  Darmschlinge ;  abführende  in  den  Magen  implantiert ; 
finteroanastomose  zwischen  dieser  und  der  zuführenden.  Sobald  Fat. 
wieder  Nahrung  per  os  erhielt,  stellte  sich  Druckschmerz  in  der  Magen- 
gegend ein  (14.  Tag).  Am  19.  Tage  bildete  sich  eine  feine  Fistel,  durch 
welche  getrunkene  Flüssigkeiten  sich  sofort  entleerten.  8  Tage  lang 
Rektalernährung;  subkutan  Atropin  zur  Herabsetzung  der  Magensekretion ; 
die  Fistel  schloß  sich  wieder.  Fat.  nahm  nunmehr  vor  und  nach  jeder 
Mahlzeit  eine  Messerspitze  Magnesia  usta,  um  die  Acidität  des  Magen^ 
Saftes  zu  vermindern.  Fat.  nahm  an  Gewicht  zu;  war  nunmehr  5  Monate 
lang  völlig  beschwerdefrei,  dann  stellten  sich  wieder  Schmerzen  ein;  es 
fand  sich  eine  markstückgroße,  druckempfindliche  Infiltration  im  linken 
Rectus,  die  auf  einen  neuen  ulcerativen  Frozeß  bezogen  wurde.  Salz- 
säuregehalt nach  Frobefrühstück :  1,8  pro  mille.  Durch  interne  Behand- 
lung (übliche  Ulcustherapie)  gingen  die  Schmerzen  zurück ;  die  Infiltration 
auf  Druck  nicht  mehr  empfindlich. 

Fall  XVI.  [ScHLOFFER-Frag  1).]  33-jähr.  Frau.  Wegen  Ulcus  ventri- 
culi  am  Fylorus  Gastroenterostomie.  Es  kam  zur  Entwickelung  eines  Ulcus 
pepticum  jejuni  an  der  Stelle  der  Gastroenterostomie.  Auch  eine  neue 
Gastroenteroanastomose  wurde  bald  wieder  in  gleicher  Weise  verengt, 
80  daß  eine  dritte  Operation  notwendig  wurde.  Es  handelte  sich  jedesmal 
um  Geschwüre  mit  Ausbildung  beträchtlicher  entzündlicher  Tumoren. 

Wie  wir  aus  dieser  Zusammenstellung  von  22  Fällen  ersehen, 
handelt  es  sich  fast  durchweg  um  Fatienten  männlichen  Geschlechtes. 
Nur  ein  Fall  betrifft  ein  Weib  (Schloffer)  ;  ein  Fall  einen  weiblichen 
Säugling  (unser  Fall  I). 

Das  Alter  der  Fatienten  schwankte  zwischen  4  Monaten  und 
59  Jahren;  die  überwiegende  Mehrzahl  gehört  jedoch  den  höheren 
Altersstufen  an. 

Es  standen  im  Alter  von 

4  Monaten  1  Fall 
20-30  Jahren  3  Fälle 
30-40      ,                     6     „ 
40-50      „                     5     , 
50—60      „                     3     „ 

1)  Wien.  klin.  Wochenschr.,   1903,  No.  16,  p.  492. 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     917 

Bei  4  Fällen  fehlen  Altersangaben. 

Die  Gastroenterostomien,  nach  denen  ein  Ulcus  jejuni  ent- 
standen war,  waren  stets  wegen  gutartiger  Magenaffek- 
tionen ausgeführt  worden.  Es  handelte  sich  meist  um  narbige 
Pylorusstenosen  infolge  Ulcus,  die  zu  hochgradiger  Magendilatation 
mit  starken  Retention^erscheinungen  geführt  hatten.  Einmal  war  die 
Stenose  angeboren  und  funktioneller  Natur  (unser  Fall  I);  einmal  lag 
ein  Ulcus  pepticum  duodeni  mit  starker  Infiltration  des  Pankreaskopfes 
Tor  (Krönlein). 

Die  Methoden  der  Gastroenterostomie,  die  zur  Anwendung  ge- 
langten, waren  in  unseren  6  Fällen  die  typische  Gastroenterostomia 
antecolica  anterior  nach  Wölfler  mittels  Naht.  Zur  Anastomose 
wurde  eine  50  cm  von  der  Plica  duodeno-jejunalis  entfernte  Darm- 
schlinge gewählt.  Um  einen  Circulus  vitiosus  zu  vermeiden,  wurde 
stets  zwischen  den  beiden  Jejunumschenkeln,  etwa  10  cm  von  der 
Fixationsstelle  am  Magen  entfernt,  eine  Enteroanastomose  mittels  Naht 
angelegt.  (In  einem  auswärts  operierten  Fall  [II]  wurde  eine  Entero- 
anastomose erst  bei  der  zweiten  Operation  hinzugefügt,  die  wegen  eines 
bereits  bestehenden  Ulcus  jejuni  vorgenommen  wurde.)  In  derselben 
Weise  wurde  noch  ein  Fall  von  Neümann  operiert. 

Kocher  führte  in  seinem  Falle  die  Gastroenterostomia  antecolica 
mit  Implantation  des  zuführenden  Schenkels  in  den  abführenden  aus 
<Y-förmige  G.E.).  Bei  8  weiteren  Fällen  findet  sich  nur  die  Angabe, 
daß  eine  Gastroenterostomia  antecolica  ausgeführt  wurde;  in  5  Fällen 
gelangte  die  Gastroenterostomia  retrocolica  posterior  zur  Anwendung. 

Wir  finden  also  angewandt: 

die  G.E.  antecolica  anterior  16mal 

davon  mit  Enteroanastomose      7  „ 
nach  der  Y-Methode  1  „ 

die  G.E.  retrocolica  posterior         5  „ 

In  einem  Falle  fehlt  die  Angabe  der  Operationsmethode. 

Der  Zeitraum,  der  zwischen  der  ersten  Operation  und  der  Bildung 
des  Geschwürs,  resp.  dem  Auftreten  der  ersten  Symptome  liegt,  schwankt 
zwischen  10  Tagen  (Steinthal)  und  8  Jahren  (Czerny). 

Die  Zwischenzeit  betrug: 

10  Tage  in  1  Falle  2—3  Jahre  in  1  Falle 

2—  6  Monate  in        7  Fällen  3-4      „      „  3  Fällen 

6-12       ,,         3      ,  8         ,      ,  1  Falle 

1—2  Jahre      „         5      «  Keine  Angaben  in      1     „ 

Wenn  wir  nun  den  klinischen  Verlauf  betrachten,  so  lassen  sich 
•deutlich  zwei  Gruppen  von  einander  unterscheiden.  Die  eine  Gruppe 
zeichnet  sich  durch  den  völligen  Mangel  vorhergehender 
klinischer  Symptome  aus.  Die  Patienten  scheinen  durch  die 
«rste  Operation  von  ihrem  Leiden  geheilt  und  erfreuen  sich  des  besten 

MttML  a.  d.  OmxfBMeteo  d.  Madidn  u.  Chlrarffle.    XIIL  Bd.  59 


918  Max  Tiegel, 

Wohlbefindens.  Sie  können  wieder  alle  Speisen  ohne  Beschwerden  zu 
sich  nehmen;  verrichten  ihre  Arbeit  wie  früher.  Ganz  plötzlich,  wie 
ein  Blitz  aus  heiterem  Himmel,  überrascht  sie  in  diesem  Zustand  schein- 
barer Gesundheit  ein  Anfall  heftiger  Leibschmerzen,  verbunden  mit 
Erbrechen.  Bald  gesellen  sich  auch  die  übrigen  Symptome  einer  Per- 
forationsperitonitis  hinzu.  Die  Perforation  erfolgte  meist  ohne  jede 
äußere  Veranlassung  und  ohne  die  geringsten  Vorboten» 
Ein  Patient  wurde  beim  Zeitungslesen  von  ihr  überrascht  (Goepel). 
Nur  in  einem  Falle  (Hahn)  trat  sie  im  Anschluß  an  schweres  Heben 
ein,  weshalb  zunächst  eine  Darmruptur  angenommen  wurde. 

Die  Perforation  erfolgte  in  diesen  Fällen  meist  direkt  in  die  freie^ 
Bauchhöhle.  Nur  einmal  führte  sie  zunächst  zur  Bildung  eines  sub- 
phrenischen  Abscesses,  der  dann  später  in  die  freie  Bauchhöhle  durch- 
brach. Auch  in  diesem  hatten  bis  zur  Perforation  des  Abscesses  keine 
Beschwerden  bestanden. 

Wir  hatten  Gelegenheit,  nur  einen  derartigen  Fall  zu  beobachten 
(Fall  I),  dessen  Verlauf  von  dem  oben  geschilderten  allerdings  etwa& 
abweicht.  Die  Geschwürsbildung,  die  zur  Perforationsperitonitis  führte,, 
hatte  sich  hier  schon  Wochen  vorher  durch  blutige  Stühle  und  Magen- 
blutung angekündigt. 

Mit  Einschluß  dieses  Falles  sind  es  im  ganzen  8  Fälle,  in  denen 
das  Ulcus  zu  plötzlicher  Perforation  in  die  freie  Bauchhöhle  führte^ 
darunter  6  Fälle  mit  letalem  Ausgang  wegen  Peritonitis. 

Anders  verhalten  sich  die  Fälle  der  zweiten  Gruppe,  welche  14 
Beobachtungen  umfaßt.  Bei  diesen  stellen  sich  nach  einer  mehr  oder 
weniger  langen  beschwerdefreien  Zwischenzeit  wiederum  Be- 
schwerden ein,  ähnlich  denjenigen,  wie  sie  durch  ein  penetrierendes^ 
Magenulcus  herbeigeführt  werden.  Zunächst  setzen  wiederum  Schmerzen 
ein,  die  jedoch  kein  konstantes  Verhalten  zeigen.  Bald  werden  sie  als 
mehr  kontinuierlich,  weniger  intensiv  angegeben,  bald  als  sehr  heftig, 
krampfartig,  anfallsweise  auftretend;  bald  tritt  während  der  Mahlzeiten 
eine  Steigerung  der  Schmerzen  ein;  bald  werden  dieselben  durch  da& 
Essen  gemildert  und  es  erfolgt  eine  Exacerbation  erst  IVs — 2  Stunden 
nach  demselben.  Die  Schmerzen  werden  bisweilen  in  die  Magengegend^ 
meist  jedoch  in  die  Gegend  unterhalb  des  linken  Rippenbogens  bis  zum 
Nabel  abwärts  lokalisiert.  In  einem  unserer  Fälle  (II)  wurden  Schmerzen,, 
die  anfangs  in  der  Regio  epigastrica  bestanden,  später  in  die  rechte  Seite 
verlegt.  Bei  einer  wiederholten  Operation  erwies  sich  die  Annahme 
eines  rezidivierenden  Jejunalgeschwürs  als  irrig;  vielmehr  fanden  sich 
zwei  Knoten  in  der  Nähe  des  Pylorus,  die  als  UIcera  angesprochen 
wurden.  In  dem  Falle  Neümann  gingen  die  Schmerzen  von  einem- 
Punkte  rechts  vom  Nabel  aus. 

Im  Bereich  jenes  Bezirkes  zwischen  linkem  Rippenbogen  und 
Nabelhöhe,  der  ungefähr  der  oberen  Hälfte  des  linken  Rectus  entspricht^ 


lieber  peptische  Oeschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     919 

bilden  sich  dann  oft  äußerst  druckempfindliche  Infiltrationen  der  Bauch- 
decken, die  bald  nur  als  undeutliche  Resistenzen  imponieren,  bald  als 
prominente,  bis  apfelgroße  Tumoren  sich  gut  abgrenzen  lassen.  Wir 
selbst  haben  in  4  Fällen  die  Bildung  solcher  entzündlicher  Tumoren 
gesehen;  die  Zahl  anderweitiger  Beobachtungen  dieser  Art  beläuft  sich 
auf  7. 

In  2  Fällen  zeigten  sich  von  neuem  Symptome  von  Stauung  im 
Magen:  Dilatation.  Plätschergeräusch,  Gefühl  von  Vollsein,  Neigung  zu 
Erbrechen  (Gzernt,  unser  Fall  II).  In  beiden  Fällen  sind  wohl 
diese  Beschwerden  als  Folgen  der  Ulcerationen  aufzufassen,  die  sich 
an  der  Gastroenterostomie,  resp.  im  abführenden  Jejunumschenkel  fanden. 

Blutbrechen  und  blutige  Stühle  haben  wir  4mal  gefunden.  Da 
jedoch  in  2  von  diesen  Fällen  zugleich  frische  Ulcerationen  in  der 
Pylorusgegend  bestanden,  so  werden  wir  die  Blutungen  zum  Teil 
wenigstens  auf  diese  beziehen  müssen  (Fall  II  und  III).  In  den  beiden 
anderen  Fällen  war  die  Magenschleimhaut  intakt  (Fall  I  und  IV). 
Andere  Autoren  berichten  nichts  über  Blutungen  aus  Magen  oder  Darm. 

Als  Kuriosum  verdient  hier  noch  der  eine  Fall  aus  der  Heidel- 
berger Klinik  erwähnt  zu  werden.  Es  fand  sich  bei  diesem  Kot  im 
Magen,  ohne  daß  sonst  etwa  Erscheinungen  von  Ileus  bestanden.  Eine 
Erklärung  hierfür  fand  sich  bei  der  Operation :  Durch  Perforation  eines 
Ulcus  in  das  Colon  transversum  war  eine  Kommunikation  mit  diesem 
entstanden. 

Auch  prognostisch  unterscheiden  sich  die  Fälle  der 
zweiten  Kategorie  von  jenen  der  ersten  durch  ihren  gün- 
stigeren Verlauf.  Eine  Perforation  in  die  freie  Bauchhöhle  mit  folgen- 
der Peritonitis  ist  in  keinem  dieser  Fälle  zu  verzeichnen.  Diese  Ver- 
schiedenheit des  klinischen  Verlaufs  und  Ausgangs  findet  ihre  Begründung 
in  den  anatomischen  Verhältnissen.  In  den  zuerst  aufgezählten  Fällen 
finden  wir  keinerlei  Verwachsungen,  die  die  PerforationsölSfnung  von  der 
freien  Bauchhöhle  abschließen ;  der  Magendarminhalt  kann  sich  ungehindert 
in  dieselbe  ergießen.  Anders  bei  den  Fällen  der  letzten  Art  Hier  haben 
sich,  wahrscheinlich  infolge  langsameren  Fortschreitens  der  Geschwürs- 
bildung, bevor  es  zur  Perforation  kommt,  Verwachsungen  gebildet,  welche 
die  Bauchhöhle  vor  Infektion  schützen.  Durch  diese  Verwachsungen 
kommt  es  nun  leicht  zu  einem  Uebergreifen  des  Geschwürs  auf  andere 
Teile  (auf  die  Bauchwand,  auf  das  Kolon). 

Auf  diese  Mitbeteiligung  der  Bauchdecken  ist  wohl  auch 
der  größte  Teil  der  klinischen  Erscheinungen  zurückzuführen.  Solange 
das  Geschwür  nur  auf  die  Darm  wand  beschränkt  bleibt,  scheint  es 
keine  Symptome  hervorzurufen:  darum  auch  das  unvermutete  Ein- 
treten der  Perforation.  Erst  wenn  es  zu  Verklebungen  und  zur 
Entzündung  des  empfindlichen  Peritoneum  parietale  geführt 
hat,  beginnt  es  die  geschilderten  Beschwerden  (Schmerzen  etc.)  zu  ver- 

59* 


920  Max  Tiegel, 

nrsachen.  Es  entspricht  dieses  Verhalten  völlig  den  Grundsätzen, 
welche  Lennander  für  die  Sensibilität  der  Bauchhöhle  aufgestellt  hat  ^). 

Nach  Lennander  besitzen  Magen  und  Darm  keine  Schmerz  per- 
zipierenden  Nerven,  während  das  Peritoneum  parietale  sehr  empfindlich 
ist  Erkrankungen  dieser  Organe  verursachen  darum  nicht  eher  Schmerz, 
als  bis  sie  auf  die  Bauchwand  übergegriffen  und  hier  eine  begrenzte 
Peritonitis  erzeugt  haben. 

Besonderes  Interesse  beansprucht  der  rezidivierende  Verlauf 
in  einer  Anzahl  der  Fälle.  Wir  haben  in  3  Fällen  diese  Neigung  zu 
Bezidiven  beobachten  können.  Bei  Fall  II  wurde  bei  einer  späteren 
Operation  ein  neues  Geschwür  an  der  Gastroenterostomiestelle,  bei 
Fall  III  ein  solches  an  der  Enteroanastomose  gefunden.  Der  letztere 
kam  bald  nach  der  Rezidivoperation  zum  Exitus.  Bei  dem  ersteren 
Fall  wurden  nach  der  ersten  Rezidivoperation  wegen  der  wiederkehrenden 
Beschwerden  noch  wiederholt  Operationen  ausgeführt,  bei  denen  sich 
Ulcera  am  Pylorus,  nicht  im  Jejunum  fanden.  Pat.  wurde  seinerzeit 
(10.  Mai  1901)  mit  seinen  Beschwerden  entlassen  und  ist  seitdem  unserer 
Beobachtung  entschwunden.  Bei  einem  dritten  Fall  fV.J  sind  nach  6V2 
Monate  langem  Wohlbefinden  die  alten  Beschwerden  wiedergekehrt 
(Schmerzen,  druckempfindliche  Resistenz  im  linken  Rectus),  die  wir  auf 
ein  rezidivierendes  Geschwür  im  Jejunum  zurückführen.  Die  Diagnose 
ist  allerdings  nicht  durch  eine  Autopsie  in  vivo  sichergestellt,  jedoch 
nach  dem  ganzen  klinischen  Bild  sehr  wahrscheinlich.  Der  Pat.  wurde 
intern  weiter  behandelt  und  steht  noch  unter  unserer  Beobachtung. 

Zu  diesen  3  kommen  noch  5  von  anderer  Seite  mitgeteilte  Fälle. 
Es  sind  dies  die  Fälle  von  Heidenhain  und  Neumann,  in  denen  das 
Ulcusrezidiv  noch  einen  einmaligen  Eingriff  erforderte;  der  Fall 
Schloffer,  in  welchem  das  Rezidiv  noch  ein  zweites  Mal  wiederkehrte 
und  deswegen  2mal  operiert  werden  mußte;  ferner  der  Fall  Krön- 
lein, in  welchem  wiederum  Symptome  aufgetreten  waren,  die  auf  ein 
Ulcusrezidiv  schließen  Ueßen,  in  welchem  jedoch  zur  Zeit  der  Publi- 
kation ein  Operationsbefund  noch  nicht  vorlag;  schließlich  der  Fall 
Brodnitz,  in  welchem  das  Rezidiv  durch  interne  Behandlung  zur 
Heilung  gebracht  wurde. 

lieber  das  Verhalten  des  Magensaftes  vor  der  ersten 
Operation  (Gastroenterostomie)  habe  ich  nur  wenige  Angaben  gefunden. 

In  dem  Falle  Braun  bestanden  starke  Retentionserscbeinungen ; 
der  Magensaft  reagierte  sauer;  es  fand  sich  keine  Milchsäure,  Sarcine. 
Körte  fand  Retention  und  eine  Hyperacidität  von  66—77.  In  den  3 
von  GoEPEL  mitgeteilten  Fällen  war  sehr  viel  freie  Salzsäure  vorfeanden. 


1)  Lennander,  Ueber  Sensibilität  der  Bauchhöhle  und  über  lokale 
und  allgemeine  Anästhesie  der  Bruch-  und  Bauchoperationen.  CentralbL 
f.  Chir.  1901,  S.  209. 


lieber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     921 

Von  unseren  Fällen  haben  wir  nur  3  vor  der  ersten  Operation 
selbst  untersucht;  in  2  davon  (III,  IV)  fand  sich  geringe,  in  einem 
(VI)  keine  Hyperacidität.  Ein  Fall  [I.]  war  in  der  hiesigen  Kinderklinik 
vorher  beobachtet  worden.  Es  wurde  hier  bei  dem  2-monatlichen 
Säugling  stets  freie  HCl  festgestellt.  Die  beiden  übrigen  Fälle  wurden 
auswärts  operiert;  es  fehlen  uns  daher  diesbezügliche  Angaben. 

Da  es  sich  jedoch  in  fast  all  diesen  Fällen  um  Pylorusstenose 
mit  Dilatation  handelte,  so  werden  wir  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  auch 
da,  wo  genauere  Mitteilungen  fehlen,  eine  abnorme  Beschaffenheit  des 
Magensaftes  (Hypersekretion  und  Hyperacidität)  annehmen. 

Auch  über  das  Verhalten  des  Magensaftes  naohderGastroenter- 
ostomie,  also  zu  jener  Zeit,  in  welche  die  Entstehung  des  Ulcus  jejuni 
fällt,  sind  die  Angaben  sehr  lückenhaft.  Hier  scheiden  zunächst  schon 
alle  Fälle  der  I.  Gruppe  aus,  in  welchen  in  dieser  Zeit  keine  Be- 
schwerden bestanden  und  aus  diesem  Grunde  auch  eine  Untersuchung 
unterblieb.  Nur  in  1  Falle  dieser  Kategorie  (Braün)  führten  Magen- 
beschwerden in  der  Zwischenzeit  zu  einer  Untersuchung  des  Magen- 
saftes, durch  welche  keine  freie  HCl  in  demselben  festgestellt  wurde. 
Diese  Untersuchung  lag  jedoch  bereits  7^2  Monate  vor  der  Perforation 
zurück. 

Außerdem  habe  ich  noch  folgende  Angaben  gefunden: 

Heidenhain  konstatierte  keine  auffällige  Hyperchlorhydrie  (nach 
Probefrühstück  0,22  Proz.).  Bei  dem  Falle  Kocher  war  die  Salzsäure 
vermindert,  während  sich  Milchsäure  in  Spuren  fand  (fraglich).  In  den 
3  Heidelberger  Fällen  fand  sich  2mal  Hyperacidität  (1  mal  nur  gering) ; 
1  mal  keine. 

Brodnitz  stellte  nach  Probefrühstück  1,8  pro  mille  freie  HCl  fest. 

In  unseren  Fällen  verfügen  wir  über  zahlreiche  genaue  Unter- 
suchungen, die  ich  im  wesentlichen  bereits  in  den  Krankengeschichten 
mitgeteilt  habe.  Ich  will  hier  die  Ergebnisse  derselben  nur  kurz  zu- 
sammenfassen. 

In  3  Fällen  (II,  III,  IV)  konnten  wir  eine  stärkere  Hyperacidität 
konstatieren,  die  bisweilen  Werte  von  90 — 118  Gesamtacidität  und 
60 — 75  freie  Sabssäure  erreichte.  In  einem  Falle  (V)  sahen  wir  nur 
eine  geringe  Hyperacidität;  in  einem  weiteren  (VI)  fanden  wir  normale 
Aciditätsverhältnisse.  Bei  dem  Falle,  welcher  in  der  Kinderklinik  be- 
handelt wurde  (I)  konnte  in  dieser  Zeit  der  Nachweis  der  Hyperchlor- 
hydrie nicht  erbracht  werden. 

Soviel  wir  aus  diesen  Angaben  ersehen  können,  ist  also  das  Ver- 
halten des  Magensaftes  durchaus  kein  konstantes:  Neben  Fällen 
mit  hochgradig  gesteigerter  Addität  finden  wir  solche,  wo  sie  nur  wenig 
vermehrt  oder  normal  ist,  ja  sogar  einen,  wo  der  Säuregehalt  des 
Magensekrets   vermindert   erschien.     Auch   bei   demselben   Falle   sind 


922  Max  Tiegel, 

die  Aciditätsverhältnisse  bei  den  verschiedenen  Untersuchungen   sehr 
wechselnd. 


Die  Geschwüre  des  Jejnnums  gleichen  sowohl  in  ihrer 
äußeren  Form,  wie  in  ihrem  mikroskopischen  Bau  vollkommen 
den  peptischen  Geschwüren  des  Magens  und  Duodenums,  so  daß  wir  sie 
als  diesen  völlig  analoge  Prozesse  auffassen  müssen.  Als  die  ersten  An- 
fangsstadien finden  sich  kleine  Blutergüsse  in  der  Schleimhaut  und  daraus 
sich  entwickelnde  hämorrhagische  Nekrosen,  wie  sie  Steinthal  beob- 
achtet hat.  Durch  Verdauung  des  nekrotischen  Gewebes  entstehen  nun 
Substanzverluste,  die  zuerst  nur  die  Schleimhaut  betreffen  (unser  Fall  I), 
schließlich  aber  in  die  Tiefe  gehen  und  alle  Schichten  der  Darmwand 
ergreifen.  Die  Ränder  sind  in  einem  Teil  der  Fälle  glatt  und  steil  ab- 
fallend; das  Geschwür  ist  öfters  kreisrund  und  wie  mit  einem  Loch- 
eisen herausgeschlagen.  Diese  Art  findet  sich  besonders  bei  den  ganz 
akut  verlaufenden  Fällen  und  deutet  auf  einen  sich  rasch  abspielenden 
Prozeß  hin.  Bei  anderen  Fällen  finden  wir  die  Substanzverluste  der 
Schleimhautschicht  größer  als  in  den  tieferen  Schichten  (Muscularis), 
so  daß  ein  terrassenförmiger  Abfall  der  Geschwürsränder  resultiert 
Es  spricht  dies  für  ein  mehr  allmähliches,  successives  Vordringen  in  die 
tieferen  Schichten.  Schließlich  treten  sekundäre,  entzündliche  Erschei- 
nungen hinzu,  die  die  ursprüngliche  Gestaltung  mehr  oder  weniger 
verwischen.  Die  Ränder  werden  entzündlich  infiltriert,  starr,  gewulstet. 
Die  Form  der  Geschwüre  wird  unregelmäßiger.  Bei  längerem  Bestände 
kommt  es  dann  zu  Verwachsungen  mit  Nachbarorganen,  und  die  Ge- 
schwüre greifen  schließlich  auch  auf  diese  über.  Wir  haben  dann  jene 
tiefen,  kraterförmigen  Substanzverluste,  wie  sie  sich  in  den  meisten 
chronisch  verlaufenden  Fällen  finden,  und  die  dann  schließlich  zur  Aus- 
bildung von  größeren  entzündlichen  Tumoren,  eventuell  zur  Entstehung 
einer  Fistel  führen. 

In  2  unserer  Fälle  hatte  trotz  des  chronischen  Verlaufes  das  Ge- 
schwür eine  kreisrunde  Form  bewahrt.  Von  der  Schleimhautseite  ge- 
sehen, stellte  es  sich  als  eine  pfennigstückgroße  runde  Oeffnung  dar, 
mit  wenig  gewulsteten  Rändern,  durch  welche  man  in  eine  Höhle  ge- 
langt, deren  Lumen  den  Umfang  der  Perforationsöfihung  übertrifft. 
Die  Höhle  wird  durch  den  Defekt  in  der  vorderen  Bauchwand  gebildet, 
den  das  Geschwür  gesetzt  hat. 

Mikroskopisch  bieten  diese  Geschwüre  keinen  besonderen  Befund : 
Defekte  in  der  Schleimhaut,  und  je  nach  der  Tiefe  der  Geschwüre  auch 
in  den  übrigen  Schichten  der  Darmwand  und  eventuell  auch  in  den 
Bauchdecken;  in  der  Umgebung  derselben  mehr  oder  weniger  ausge- 
sprochene Erscheinungen  entzündlicher  Infiltration. 

Vernarbungsvorgänge  oder  fertige  Narben  wurden  nicht  beobachtet, 
was  für  die  geringe  Heilungstendenz  dieser  Ulcerationen  spricht. 


lieber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     923 

Der  Sitz  der  Geschwüre  war  lOmal  die  Gastroenterostomiestelle 
und  einmal  die  Enteroanastomose.  In  den  übrigen  Fällen  lagen  die 
Geschwüre  in  der  Jejunalwand,  meist  in  unmittelbarer  Nähe  der  Gastro- 
«nteroanastomose.  Sie  waren  von  derselben  meist  nur  durch  schmale 
Streifen  intakter  Schleimhaut,  von  2  mm  bis  2  cm  Breite  getrennt. 
Nur  einmal  betrug  die  Entfernung  von  der  Gastroenterstomiestelle 
7  cm  (Körte). 

Die  Geschwüre  traten  meist  in  der  Einzahl  auf,  nur  in  3  Fällen 
wurden  mehrere  nebeneinander  beobachtet :  Imal  2  Ulcerationen  (Brod- 
NiTz),  2mal  4  (Steinthal,  unser  Fall  I).  Diese  Multiplizität  steht  in 
unserem  Falle  vielleicht  mit  dem  sehr  geschwächten  Allgemeinzustand 
des  kleinen  Patienten,  dessen  Rekonvaleszenz  nach  der  ersten  Operation 
schwere  Störungen  erlitten  hatte,  in  einem  gewissen  kausalen  Zusammen- 
hange, in  dem  Falle  von  Steinthal  vielleicht  mit  der  hochgradigen 
Arteriosklerose. 

Mehrfach  bestanden  neben  den  Ulcerationen  des  Darmes  auch 
solche  des  Magens. 

Die  Stellung  der  Diagnose  bietet  gewisse  Schwierigkeiten.  In 
den  Fällen  der  ersten  Gruppe  liegen  zwar  klare  und  deutliche  Sym- 
ptome vor,  die  sofort  die  Diagnose  Peritonitis  ermöglichen ;  der  Verlauf 
vor  dem  Eintreten  derselben  bietet  jedoch  keinerlei  Anhaltspunkte,  aus 
denen  sich  im  einzelnen  Falle  auf  die  Ursache  der  Peritonitis  schließen 
ließe.  In  der  Tat  ist  man  auch  nie  über  die  allgemeine  Diagnose 
Peritonitis  hinausgegangen.  Wo  dies  versucht  wurde,  bewegte  sie  sich 
in  falscher  Richtung:  einmal  wurde  eine  Appendicitis  (Körte),  einmal 
eine  Darmruptur  (Hahn)  als  Ursache  angesprochen. 

Es  ist  dies  leicht  erklärlich.  Bei  den  ersten  derartigen  Fällen  hat 
man  überhaupt  nicht  an  die  Möglichkeit  eines  Ulcus  jejuni  gedacht. 
Heute  indessen  verfügen  wir  über  eine  Reihe  von  8  Beobachtungen, 
die  sich  alle  durch  einen  gleichartigen  Verlauf  auszeichnen  und  uns 
eine  festere  Grundlage  für  diagnostische  Schlüsse  abgeben. 

Wir  werden  künftig  in  allen  Fällen,  wo  längere  Zeit  nach  einer 
Gastroenterostomie  wegen  gutartiger  Magenaffektion,  plötzlich  ohne  be- 
kannte Ursache  und  ohne  vorhergehende  Erscheinungen  Peritonitis  auf- 
tritt, in  erster  Linie  ein  perforiertes  Ulcus  jejuni  als  Ausgangspunkt 
der  Peritonitis  ins  Auge  fassen  müssen.  Gerade  auf  den  Mangel 
jeglicher  Symptome  vor  der  Perforation  ist  Wert  zu  legen,  da 
die  anderen  Erkrankungen,  die  zu  einer  Perforationsperitonitis  führen 
können,  doch  meist  nicht  so  symptomlos  verlaufen. 

Für  die  Behandlung  ergeben  sich  hieraus  die  Forderungen,  den 
chirurgischen  Eingriff  sofort  vorzunehmen  und  bei  demselben  zuerst 
die  Gastroenterostomiestelle  und  die  zur  Anastomose  verwandte  Darm- 
schlinge genau  abzusuchen.  Die  beiden  Erfolge  Goepels  sprechen 
sehr  zu  Gunsten  eines  solchen  Vorgehens. 


924  Max  Tiegel, 

Auch  bei  den  chronisch  verlaufenden  Fällen  ist  eine  sichere 
Diagnose  nicht  möglich.  Die  Symptome  decken  sich  hier  vollkommen 
mit  denen  eines  penetrierenden  Magenulcus,  welches  auf  die  vordere 
Bauchwand  übergegriffen  und  zur  Infiltration  derselben  geföhrt  hat. 
Während  man  früher  ein  derartiges  Symptomenbild  ohne  weiteres  auf 
diese  wohlbekannte  und  beschriebene  Erkrankung  als  Folge  eine& 
offenen  Ulcus  ventriculi  bezog,  wird  man  nunmehr  die  Diagnose  offen 
lassen  müssen  zwischen  einem  penetrierenden  Ulcus  des  Magens  und 
einem  solchen  des  Jejunums.  Die  letztere  Annahme  wird  an  Wahr- 
scheinlichkeit gewinnen,  wenn  die  infiltrierte  Stelle  der  Bauchwand  link& 
und  tiefer  unten  liegt,  also  ungefähr  der  Lage  der  Anastomose  oder 
der  dazu  verwandten  Schlinge  entspricht  oder  wenn  sich  längere  Zeit 
nach  der  ersten  Operation  wieder  Stenosenerscheinungen  einstellen,  die 
auf  eine  Verengerung  der  Anastomose  oder  des  abführenden  Schenkels* 
durch  geschwürige  Prozesse  hinweisen.  Für  die  Therapie  ist  jedoch  in 
diesen  Fällen  eine  genaue  Differentialdiagnose  ohne  wesentliche  Be- 
deutung. 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  sehr  wahrscheinlich,  daß  das  Vorkommen 
von  peptischen  Geschwüren  im  Jejunum  nach  Gastroenterostomien 
häufiger  ist,  als  es  den  Beobachtungen  entspricht;  daß  ein  Teil  dieser 
Fälle,  wie  wir  auf  Grund  der  Beobachtungen  der  Gruppe  I  annehmen 
können,  völlig  latent  verläuft  und,  wenn  es  nicht  zur  Perforation  kommt,, 
ausheilt  und  sich  so  überhaupt  der  Beobachtung  entzieht,  daß  ein 
anderer  Teil,  in  dem  keine  neue  Operation  Klarheit  schaffte,  früher 
unter  falscher  Diagnose  (perforiertes  oder  penetrierendes  Magenulcus) 
geführt  wurde  und  vielleicht  auch  heute  noch  wird.  So  erklärt  sich 
auch  die  Tatsache,  daß,  seitdem  Braun  zuerst  darauf  aufmerksam  ge- 
macht hat,  also  innerhalb  von  5  Jahren,  so  zahlreiche  Fälle  bekannt 
wurden,  meist  als  überraschende,  nicht  vermutete  Befunde  bei  Operationen 
oder  Autopsien,  während  in  einer  weit  längeren  Periode  vor  1899  keine 
derartigen  Beobachtungen  zu  verzeichnen  sind. 

Was  die  Therapie  des  Ulcus  jejuni  anbelangt,  so  besitzen  wir 
über  die  interne  Behandlung  desselben  bisher  nur  geringe  Erfahrungen. 

Ein  Teil  der  Fälle  scheidet  hier  von  vornherein  aus,  nämlich  alle 
diejenigen,  in  denen  keine  Beschwerden  bestanden,  die  zu  einer  ärzt- 
lichen Behandlung  Anlaß  gegeben  hätten,  wo  die  Perforationsperitoniti& 
plötzlich  im  Zustande  des  Wohlbefindens  einsetzte.  Bei  den  übrigen 
Fällen  können  wir  annehmen,  daß  erst  eine  innere  Behandlung  versucht 
wurde,  bevor  die  Patienten  sich  zu  einer  Operation  entschlossen.  Da 
die  Diagnose  meist  auf  rezidivierendes  Magenulcus  gestellt  wurde,  so 
wird  auch  die  Behandlung  eine  dementsprechende  gewesen  sein.  Eine 
einzige  genauere  Mitteilung  hierüber  verdanken  wir  Brodnitz.  Eine 
Fistel,  welche  bei  einem  Patienten  durch  ein  rezidivierendes  Ulcus  ent- 
standen war,   heilte  unter  8-tägiger,  ausschließlicher  Rektalemährung^ 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Gastroenterostomie.     925 

Anwendung  von  subkutanen  Atropininjektionen  (zur  Herabsetzung  der 
Magensekretion)  und  Gebrauch  von  Alkalien  (Magnes.  usta)  wieder  zu. 
Als  sich  nach  5  Monate  dauerndem  Wohlbefinden  von  neuem  Be- 
schwerden einstellten,  die  auf  ein  Ulcusrezidiv  zurückgeführt  wurden, 
gingen  diese  wiederum  auf  die  übliche  Ulcustherapie  zurück. 

ßei  vier  von  unseren  Fällen  finden  sich  teils  diesbezügliche  anam- 
nestische Angaben,  teils  sind  die  Fälle  in  unserer  Klinik  mit  internen 
Mitteln  behandelt  worden.  In  Fall  III  führten  Bettruhe,  Gebrauch  von 
Karlsbader  Salz  zu  einer  vorübergehenden  Besserung  des  Zustandes. 
In  Fall  IV  wurden  Magenspülungen  und  Gebrauch  von  Alkalien  mit 
dem  gleichen  Erfolge  angewandt.  In  einem  weiteren  Falle  (V)  wurden 
die  Beschwerden  durch  warme  Umschläge,  Milchdiät  und  Darreichung 
von  Alkalien  gebessert  Die  interne  Behandlung  dieser  Fälle  wurde 
jedoch,  soweit  wenigstens  die  Behandlung  in  der  Klinik  in  Betracht 
kommt,  nur  kurze  Zeit  durchgeführt.  Nur  in  einem  Falle  (VI)  wurde 
sie  längere  Zeit  fortgesetzt,  um  uns  ein  Urteil  über  den  Wert  derselben 
zu  gestatten.  Der  Patient  mußte  zu  Bett  liegen,  bekam  auf  die  In- 
filtration in  der  Bauchwand  heiße  Breiumschläge.  Die  Ernährung  erfolgte 
zum  Teil  per  rectum  durch  täglich  6  Nährklystiere  ä  200  g  Wasser, 
50  g  Wein,  während  er  per  os  nur  172»  später  2*/,  1  Milch  erhielt. 
Von  Medikamenten  gebrauchte  er  täglich  6mal  1,0  Bismuth.  subnitr. 
Unter  dieser  Behandlung,  die  einen  Monat  lang  strikte  durchgeführt 
wurde,  besserte  sich  der  Zustand  des  Patienten  so,  daß  wir  hofften,  ihn 
ganz  geheilt  entlassen  zu  können.  Die  Schmerzanfälle  verschwanden, 
die  äußerst  schmerzhafte  Resistenz  unter  dem  linken  Rippenbogen 
wurde  kleiner  und  nur  noch  leicht  druckempfindlich.  Das  Körper- 
gewicht blieb  unverändert  Leider  mußte  auf  Wunsch  des  Patienten 
die  Behandlung  vorzeitig  abgebrochen  werden.  Nach  der  Entlassung 
blieb  Patient  2  Monate  beschwerdefrei,  dann  setzten  wieder  die  alten 
Beschwerden  ein.  Zu  einem  wiederholten  Versuch  mit  interner  Be- 
handlung will  sich  Patient  nun  nicht  mehr  entschließen. 

Zahlreicher  sind  die  Erfahrungen,  die  wir  über  operative  Eingriffe 
besitzen.  Da  wo  das  Ulcus  zur  Perforationsperitonitis  führte,  waren  es 
die  Symptome  dieser,  die  die  Operation  veranlaßten.  Goepel  laparo- 
tomierte  in  zwei  Fällen  schon  frühzeitig  nach  der  Perforation.  Es  ge- 
lang ihm,  die  Perforationsstelle  am  Darm  sogleich  zu  finden  und  zu 
vernähen  und  auf  diese  Weise  die  beiden  Patienten  zu  retten.  Einmal 
wurde  noch  von  Körte  aus  derselben  Veranlassung  operiert.  Der 
Proc.  vermif.  wurde  als  Ausgangspunkt  der  Peritonitis  angesehen  und 
entfernt.  Erst  bei  der  Obduktion  stellte  es  sich  heraus,  daß  die 
wirkliche  Ursache  ein  perforiertes  Ulcus  jejuni  war. 

Die  übrigen  operativ  angegangenen  Fälle,  13  an  der  Zahl,  sind 
solche  mit  chronischem  Verlauf.  Die  andauernden  Beschwerden,  vor 
allem   die  Schmerzen,  sowie  die  objektiv  sichtbaren  entzündlichen  Tu- 


926  Max  Tiegel, 

moren  gaben  hier  die  Indikation  zum  Eingriff  ab.  Derselbe  bestand 
teils  in  der  bloßen  Vernähung  des  Geschwürs,  nachdem  die  Verwach- 
sungen mit  den  Bauchdecken  gelöst  waren,  teils  in  der  Excision  des- 
selben und  Vernähung  des  gesetzten  Defektes  in  der  Darmwand,  wobei 
die  infiltrierte  Partie  in  der  Bauchwand  mitentfernt  wurde.  Die  oft 
ausgedehnten  Verwachsungen  zwischen  Magen,  Darm  und  Bauchwand 
erschwerten  die  Orientierung  sehr.  Bei  der  Lösung  derselben  ließ  sich 
öfters  eine  Verletzung  des  Darmes  nicht  vermeiden. 

Die  Erfolge  der  Operationen  sind  recht  ungünstige.  Von  den 
13  Fällen  endeten  3  letal  im  Anschluß  an  die  Operation  (Peritonitis), 
in  8  Fällen  stellte  sich  nach  einer  mehr  oder  weniger  langen  beschwerde- 
freien Zwischenzeit  ein  Rezidiv  ein,  und  nur  in  2  Fällen  brachte  die 
Operation  Heilung,  soweit  die  Beobachtung  reichte.  Dieser  günstige 
Ausgang  verliert  jedoch  an  Wert,  da  er  nicht  durch  eine  längere  Nach- 
beobachtung bestätigt  ist.  Auf  eine  solche  aber  dürfen  wir  keineswegs 
verzichten,  wenn  wir  bedenken,  wie  spät  erst  in  manchen  Fällen  das 
Rezidiv  aufgetreten  ist.  Ebensowenig  liegen  Nachbeobachtungen  vor  von 
jenen  Fällen,  die  wegen  Rezidiv  nochmals  operiert  werden  mußten,  so 
daß  wir  keine  Kenntnis  besitzen,  ob  diese  nun  endgültig  rezidivfrei 
geblieben  sind,  resp.  bleiben  werden.  Nur  Heidenhain  hat  bei  seinem 
Patienten  nach  der  letzten  Operation  (Gastroenterostomia  anterior  im 
Fundusteil  des  Magens)  während  einer  4-jährigen  Beobachtungszeit 
Rezidivfreiheit  konstatiert.  Soweit  wir  Gelegenheit  zu  Nachunter- 
suchungen hatten,  haben  wir  keine  dauernden,  befriedigenden  Resultate 
feststellen  können. 

Die  immer  wiederkehrenden  Beschwerden  veranlaßten  uns  in 
zwei  Fällen  schließlich  eine  Jejunostomie  auszuführen,  um  die  Magen- 
tätigkeit eine  Zeitlang  völlig  auszuschalten  und  so  die  Geschwüre  zur 
Heilung  zu  bringen,  resp.  Rezidiven  vorzubeugen.  Der  eine  dieser 
Fälle  (II)  scheidet  für  diese  Frage  aus,  da  sich  hier  Darm  und 
Anastomosenstelle  intakt  zeigten,  dagegen  frische  Ulcera  am  Pylorus 
bestanden.  Die  ^  Beschwerden,  die  nunmehr  auf  diese  zurückzuführen 
waren,  wurden  durch  die  Jejunostomie  nur  vorübergehend  gebessert 
In  dem  zweiten  Falle  (III)  lag  ein  Ulcus  an  der  Gastroenterostomie- 
stelle  vor.  Dasselbe  wurde  exzidiert,  und  um  nun  ein  Rezidiv  zu  ver- 
hüten, wurde  eine  Jejunumfistel  angelegt.  Der  Schlauch  blieb  ^4  J^^r 
lang  liegen  und  die  Ernährung  erfolgte  ausschließlich  durch  denselben. 
Während  dieser  Zeit,  sowie  noch  3^2  Monate  nach  Entfernung  des 
Drains,  blieb  Patient  beschwerdefrei,  dann  zeigten  sich  wieder  Sym- 
ptome, als  deren  Ursache  sich  ein  neues  Ulcus  an  der  Enteroanastomose 
herausstellte.  Trotz  des  vorübergehenden  Erfolges  hat  hier  also  die 
Jejunostomie  auf  die  Dauer  doch  nicht  gehalten,  was  man  sich  von 
ihr  versprochen  hatte.  Es  wird  sich  darum,  entgegen  dem  Vorschlage 
Schloffers,   empfehlen,  in  derartigen   Fällen  von  der  Jejunostomie 


lieber  peptische  Geschwüre  des  Jejanums  nach  Gastroenterostomie.     927 

ganz  abzusehen  und  an  ihrer  Stelle  die  vorübergehende  Ausschaltung 
des  Magens  durch  Rektalernährung  herbeizuführen.  Wenn  diese  auch 
für  die  Ernährung  geringeren  Wert  besitzt,  so  werden  wir  ihr  doch, 
in  Anbetracht  dessen,  daß  es  sich  nur  um  vorübergehende  Maßnahmen 
handelt,  daß  wir  dem  Patienten  eine  eingreifende,  in  ihrem  Erfolge 
zweifelhafte  Operation  ersparen,  sowie  daß  auch  bei  der  Jejunostomie 
die  Ernährungsverhältnisse  durchaus  keine  idealen  sind,  den  Vorzug 
geben. 

Wenn  wir  die  Resultate  der  internen  Behandlung  denen  der 
chirurgischen  gegenüberstellen,  so  müssen  wir  zu  dem  Schluß  kommen, 
daß  der  ersteren  ein  größeres  Gebiet  eingeräumt  werden  sollte.  Die 
wenig  ermutigenden  Erfolge  der  chirurgischen  Eingriffe,  auf  der  anderen 
Seite  die  günstige  Beeinflussung  des  Leidens  durch  interne  Behandlung 
(allerdings  auch  nicht  durch  Nachuntersuchungen  kontrolliert)  sollten 
uns  jedenfalls  veranlassen,  bei  der  Therapie  des  Ulcus  jejuni  in  erster 
Linie  die  interne  ins  Auge  zu  fassen,  zum  mindesten  aber  erst  einen 
ausgedehnten  Versuch  mit  derselben  zu  machen.  Die  innere  Behand- 
lung muß,  wenn  man  sich  von  ihr  Erfolg  versprechen  will,  konsequent 
und  längere  Zeit  durchgeführt  werden,  etwa  in  derselben  Art  und  Weise 
wie  in  unserem  Fall  VI  (Bettruhe,  Milchdiät,  Rektalernährung,  heiße 
Breiumschläge,  Bismuth.  subnitr.).  Erst  wenn  dann  kein  Erfolg  zu 
erkennen  ist,  sollte  man  zur  Operation  schreiten. 

In  jenen  Fällen,  in  denen  das  Ulcus  in  die  freie  Bauchhöhle  per- 
forierte, ist  selbstverständlich  nur  nach  chirurgischen  Grundsätzen  zu 
verfahren.    (Sofortige  Laparotomie;  Aufsuchen  der  Perforationsstelle.) 


Die  Aetiologie  des  Ulcus  pepticum  jejuni  ist  ebenso  wie  die- 
jenige der  analogen  Geschwürsbildungen  im  Magen  und  Duodenum 
als  keine  einheitliche  aufzufassen;  vielmehr  müssen  wir  annehmen,  daß 
die  verschiedensten  Ursachen  und  Bedingungen  bei  der  Entstehung 
derselben  zusammenwirken. 

Die  wichtigste  ätiologische  Rolle  ist  jedenfalls  der  Einwirkung  des 
Magensekretes  zuzuweisen.  Für  diese  Annahme  spricht  zunächst  der 
Sitz  der  Geschwüre  an  der  Gastroenterostomiestelle  selbst  oder  in  deren 
nächster  Nähe,  also  an  Stellen,  wo  der  Magensaft  unmittelbar,  mit  un- 
vermindeter  Acidität  hingelangt.  Nach  Kocher  ^)  wird  die  Geschwürs- 
bildung an  diesen  Stellen  noch  dadurch  begünstigt,  daß  sich  der  Darm 
unterhalb  der  Gastroenteroanastomose  kontrahiert,  so  daß  es  also  in  dem 
obersten  Darmabschnitt  zur  Stagnation  und  verlängerten  Einwirkung 
des  Magensekretes  kommt  Diese  Vermutung  stützt  sich  auf  die  Be- 
obachtung eines  Falles,  wo  nach  einer  Gastroenterostomie   eine  Re- 


1)  Kongr.-Ber.,  1902,  p.  104. 


928  Max  Tiegel, 

laparotomie  vorgenommen  wurde;  ein  Ulcus  jejuni  lag  in  diesem  Falle 
nicht  vor.  In  den  der  Anastomose  entfernteren  Abschnitten,  wo  die 
Acidität  des  Mageninhaltes  durch  Vermischung  mit  dem  alkalischen 
Darmsaft  bereits  herabgesetzt  ist,  finden  wir  keine  derartigen  Ulce- 
rationen  mehr.  Wie  wir  schon  hieraus  schließen  können,  ist  also  in 
dem  Säuregehalt  des  Magensaftes  ein  Hauptfaktor  zu  suchen. 

Dieser  Schluß  wird  uns  noch  nahe  gelegt  durch  die  Tatsache,  daß 
peptische  Geschwüre  des  Jejunums  bisher  nur  beobachtet  wurden  nach 
Gastroenterostomien ,  die  wegen  einer  gutartigen  Magenerkrankung 
(Pylorusstenose)  ausgeführt  worden  waren.  Es  sind  dies  zumeist  Fälle, 
die  mit  einer  erhöhten  Acidität  des  Magensaftes  einhergingen.  Dagegen 
sind  derartige  Geschwüre  nie  beschrieben  nach  Gastroenterostomien 
wegen  Carcinom,  also  bei  stark  verminderter  oder  fehlender  Acidität. 

Nur  einige  abweichende  Beobachtungen  sind  hier  zu  verzeichnen: 
Unser  Fall  I,  in  dem  sich  keine  freie  HCl  fand,  sowie  der  Fall 
Kochers,  wo  die  Acidität  vermindert  war.  Diese  Fälle  sind  insofern 
bemerkenswert,  als  sie  darlegen,  daß  unter  gewissen  Bedingungen  auch 
ein  subacider  Magensaft  peptische  Geschwüre  im  Darm  hervorzubringen 
vermag.  Wir  müssen  jedoch  diese  Erscheinung,  die  ja  auch  in  ein- 
zelnen Fällen  von  Ulcus  ventriculi  bekannt  ist,  ebenso  wie  dort  als 
Ausnahme  ansehen  und  als  Regel  festhalten,  daß  in  erster  Linie  der 
Salzsäuregehalt  des  Magensaftes,  vor  allem  eine  Vermehrung 
desselben,  für  die  Geschwürsbildung  verantwortlich  zu  machen  ist. 

Als  ein  weiteres  ätiologisches  Moment  kommen  Zirkulations- 
störungen in  Betracht.  Bereits  Virchow  ^  hat  in  Bezug  auf  die  Ent- 
stehung des  Magengeschwüres  die  Ansicht  vertreten,  daß  Zirkulations- 
störungen der  Ausgangspunkt  der  Geschwürsbildung  seien.  Es  liegt  nun 
nahe,  diese  Anschauung  auf  die  analogen  Erscheinungen  des  Jejunum 
zu  übertragen.  Auch  hier  begünstigen  Anomalien  in  der  Blutversorgung 
die  peptische  Wirkung  des  Magensaftes  oder  geben  für  dieselbe  über- 
haupt erst  eine  notwendige  Vorbedingung  ab.  Der  von  ihnen  be- 
troffene Bezirk  wird  unter  schlechtere  Ernährungsverhältnisse  gesetzt 
und  büßt  so  von  seiner  normalen  Resistenz  gegen  die  verdauende  Kraft 
des  Magensekretes  ein  oder  er  fällt  bei  gänzlicher  Unterbrechung  der 
Blutzufuhr  der  Nekrose  anheim  und  wird  dann  wie  ein  fremdes  ein- 
geführtes Fleischstück  verdaut.  Besteht  venöse  Stauung,  so  kommt  es 
leicht  zu  Hämorrhagien  der  Schleimhaut,  aus  denen  sich  dann  Nekrosen 
und  Ulcerationen  entwickeln. 

Derartige  Zirkulationsstörungen  können  nun  auf  die  verschiedenste 
Art  im  Jejunum  zu  stände  kommen.    Einmal  bei  der  Operation  selbst: 


1)  RuD.  Virchow,   Historisches,   Kritisches   und   Positives   zur  Lehre 
der  Unterleibsaffektionen.     Virch.  Arch.,  Bd.  5,  p.  862. 


lieber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Oastroenterostomie.     929 

durch  Verletzung  und  Ligatur  von  Gefäßen,  durch  die  Naht,  durch  Zu- 
sammendrucken des  Knopfes  oder  durch  Zerrung  und  Knickung  des 
Mesenteriums.  In  dem  Falle  von  Steinthal  werden  wir  nicht  fehl- 
gehen, wenn  wir  einen  solchen  Zusammenhang  annehmen.  Die  Kürze 
der  Zeit  (10  Tage),  nach  der  die  Geschwürsbildung  auftrat,  das  Be- 
stehen noch  frischer  Hämorrhagien  neben  bereits  fortgeschrittenen  und 
perforierten  Ulcerationen,  die  beobachtete  Abknickung  des  Mesenteriums, 
weisen  darauf  hin.  In  allen  anderen  Fällen  spricht  der  lange  Zwischen- 
raum, der  zwischen  Operation  und  Geschwürsbildung  liegt,  scheinbar 
gegen  eine  solche  Annahme.  Wenn  wir  jedoch  in  Erwägung  ziehen, 
daß  bei  dem  Einsetzen  der  ersten  klinischen  Erscheinungen  das  Ge- 
schwür in  seinen  Anfangsstadien  vielleicht  schon  längere  Zeit  symptom- 
los bestanden  hat,  so  dürfen  wir  auch  hier,  selbst  nach  Monaten,  nicht 
absolut  einen  direkten  kausalen  Zusammenhang  mit  der  Operation  von 
der  Hand  weisen.  Nach  der  Ansicht  des  Herrn  Geheimrat  v.  Mikulicz 
hat  auch  die  Richtung,  in  welcher  das  Jejunum  an  den  Magen  ange- 
heftet wird,  auf  die  späteren  Zirkulationsverhältnisse  Einfluß.  Die  Ge- 
fahr der  Umschnürung  einer  größern  Zahl  von  Darmgefäßen,  unmittelbar 
an  ihrem  Austritt  aus  dem  Mesenterium,  ist  bei  longitudinaler  Anheftung 
größer  als  bei  querer,  wenn  nicht  darauf  geachtet  wird,  daß  der  Darm 
genau  gegenüber  dem  Mesenterialansatz  in  den  Magen  implantiert  wird. 
In  unserer  Klinik  wird  bei  der  vorderen  Gastroenterostomie  der  Darm 
in  der  Regel  longitudinal  implantiert,  bei  der  hinteren  transversal. 
Vielleicht  erklärt  dies,  warum  wir  das  Ulcus  jejuni  nach  der  hinteren 
Gastroenterostomie  noch  nicht  beobachtet  haben. 

Sodann  sind  auch  nach  der  Operation  noch  Zirkulationsstörungen 
zu  befürchten,  die  aus  der  abnormen  Lagerung  und  Fixation  der  zur 
Anastomose  verwandten  Darmschlinge  herzuleiten  sind.  Der  Möglich- 
keiten sind  hier  viele :  Uebermäßige  Anspannung  der  Darmschlinge  und 
des  Mesenteriums  derselben,  Abknickung,  Druck  benachbarter  Organe, 
denen  die  fixierte  Schlinge,  resp.  deren  Mesenterium  nicht  auszu- 
weichen vermag  (z.  B.  von  selten  des  Magen,  des  Colon  transv.,  des 
wieder  mehr  Fett  ansetzenden  Netzes). 

Besonders  schwer  werden  alle  diese  Schädlichkeiten  ins  Gewicht 
fallen,  wo  schon  von  vornherein  pathologische  Zirkulationsverhältnisse 
vorliegen  (bei  Herz-  und  Lungenleiden,  bei  Stauung  im  Pfortadergebiet 
infolge  Lebererkrankungen  etc.)  oder  wo  bereits  atheromatöse  Ver- 
änderungen der  Gefäßwände  bestehen.  In  dem  Falle  von  Steinthal  ist 
es  höchst  wahrscheinlich  die  hochgradige  Arteriosklerose,  die  im  Verein 
mit  einer  geringen  Abknickung  des  Mesenteriums  den  überaus  pro- 
gredienten Verlauf,  das  Auftreten  multipler  Geschwüre  bedingt  hat.  In 
einem  weiteren  Falle  aus  der  Heidelberger  Klinik  wurde  ebenfalls  be- 
ginnende Atheromatöse  festgestellt.  Sonst  habe  ich  hierüber  keinerlei 
Angaben  gefunden.   Trotzdem  möchte  ich  annehmen,  daß  bei  dem  Alter, 


930  Max  Tiegel, 

in  welchem   ein    großer  Teil   der  männlichen  Patienten  gestanden  hat, 
atheromatöse  Veränderungen  häufiger  vorgekommen  sind. 

Fernerhin  bieten  direkte  Verletzungen  der  Schleimhaut  dem 
sauren  Magensekret  geeignete  Angriflfspunkte.  Diese  können  nun  leicht 
während  der  Operation  entstanden  sein :  durch  Instrumente  (Klemmen* 
druck),  durch  Zusammenpressen  des  Knopfes,  durch  die  länger  anhaltende 
Druckwirkung  des  bereits  fixierten  Knopfes  u.  s.  w.,  oder  sie  können  erst 
später  zu  stände  kommen,  durch  harte,  scharfe  Speiseteile  (Brotkrusten), 
die  die  enge  Gastroenterostoanastomose  oder  die  kontrahierte,  abführende 
Schlinge  passieren.  Denselben  Effekt  werden  natürlich  kleine  Schleim- 
hautlücken haben,  die  infolge  mangelnder  Exaktheit  bei  Vereinigung  der 
Schleimhautränder  bei  Gastroenterostomie  und  Enteroanastomose  be- 
stehen bleiben  oder  später  durch  Versagen  der  Naht,  schlechten  Sitz 
des  Knopfes  entstehen. 

Schließlich  müssen  wir  bei  der  Frage  der  Aetiologie  auch  noch  einer 
gewissen  individuellen  Disposition  Rechnung  tragen,  wenn  wir 
auch  über  das  Wesen  derselben  noch  keine  klaren  Vorstellungen  be- 
sitzen. Die  Tatsache,  daß  bei  derartigen  Individuen  schon  vorher  Ge- 
schwüre des  Magens  oder  Duodenums  bestanden,  daß  sich  öfters  gleich- 
zeitig neben  den  Ulcerationen  im  Jejunum  vriederum  solche  des  Magens 
entwickelt  haben,  sowie  das  häufige  Auftreten  von  Rezidiven  deuten 
darauf  hin. 

Sehr  interessant  für  diese  Frage  ist  eine  Beobachtung  von  Stephan 
Watts,  (John  Hopkins  Hosp.  in  Baltimore),  über  welche  v.  Mikulicz 
berichtet  ^).  Es  traten  bei  einem  Hunde  nach  einer  vorderen  Gastroen- 
terostomie, welche  mittels  Naht,  ohne  Anwendung  mechanischer  Hilfs- 
mittel (Klemmen)  ausgeführt  worden  war,  2  peptische  Geschwüre, 
mehrere  Millimeter  von  der  Nahtlinie  entfernt,  im  Jejunum  auf.  Dieselben 
lagen  gegenüber  der  Anastomosenstelle ;  eines  war  perforiert  und  hatte 
nach  3-monatlichem  vollkommenem  Wohlbefinden  des  Tieres  den  Tod 
herbeigeführt.  Die  Schlinge  war  etwa  20  cm  vom  Pylorus  entfernt  und 
isoperistaltisch  in  die  vordere  Magenwand,  unmittelbar  über  der  großen 
Kurvatur,  implantiert. 

Der  Fall  steht  bisher  vereinzelt  da,  so  daß  sich  weitergehende  Schlüsse 
an  ihn  nicht  knüpfen  lassen.  Von  Bedeutung  ist  er  jedoch  insofern, 
als  er  die  Möglichkeit  beweist,  daß  auch  bei  Hunden  nach  Gastroentero- 
stomie peptische  Geschwüre  im  Jejunum  vorkommen  können.  Eine 
experimentelle  Erzeugung  derselben  wird  bei  der  Resistenz  des 
Intestinaltraktus  des  Hundes  gegen  die  peptische  Wirkung  des  Magen- 
safts jedenfalls  auf  große  Schwierigkeiten  stoßen  *). 


1)  v.  Mikulicz,   Small  Contribution  to    the    Surgery  of  the  Intestinal 
Boston  Med.  and  Surgical  Journal,  1903,  No.  23,  p.  608—611. 

2)  Nach  Erkundigungen,  die  ich  von  fach  wissenschaftlicher  Seite  ein- 


lieber  peptische  Geschwüre  des  Jejunums  nach  Oastroenterostomie.     931 

Aus  all  diesen  rein  theoretischen  Erwägungen  ergibt  sich  nun  für 
den  Chirurgen  die  praktisch  wichtige  Frage,  inwieweit  können  durch 
Operationsmethoden  und  Technik  diese  schädlichen  Einflüsse  vermieden 
werden,  inwieweit  sind  wir  in  der  Lage,  ihnen  bei  der  Nachbehandlung 
der  Gastroenterostomie  mit  internen  Mitteln  entgegenzuarbeiten.  In 
erster  Linie  interessiert  hier  die  Frage,  welche  Operationsmethoden  am 
geeignetsten  erscheinen,  derartige  Geschwüre  zu  vermeiden.  Eine  be- 
friedigende Antwort  hierauf  vermag  nur  eine  ausgedehnte  Statistik  zu 
geben.  Da  wir  bei  der  geringen  Zahl  von  Beobachtungen  zur  Zeit  über 
eine  solche  noch  nicht  verfügen,  auch  die  bisherigen  Beobachtungen,  meist 
als  Kuriosa  vereinzelt  mitgeteilt,  oft  eine  genaue  Untersuchung  aller  in 
Betracht  kommenden  Momente  vermissen  lassen,  so  werden  wir  auch 
hier  wieder  zum  Teil  auf  theoretische  Erwägungen  angewiesen  sein. 

Das  Ulcus  pepticum  jejuni  ist  bisher  5  mal  nach  hinterer,  16  mal 
nach  vorderer  Gastroenterostomie  beobachtet.  Dieses  Zahlenverhältnis 
scheint  zu  Gunsten  der  ersteren  Methode  zu  sprechen.  Ein  sicheres 
Urteil  gestattet  uns  dasselbe  indessen  nicht,  da  wir  nicht  wissen,  wie 
oft  die  betreflfenden  Operateure  die  vordere  und  die  hintere  Gastro- 
enterostomie überhaupt  ausgeführt  haben.  In  unserer  Klinik  wurde  das 
Ulcus  pepticum  jejuni  nach  der  Gastroenterostomia  retrocolica,  welche, 
in  den  letzten  Jahren  bei  gutartigen  Affektionen  fast  ausschließlich 
angewandt  wurde,  noch  nicht  beobachtet.  Ich  glaube,  daß  die  Chancen 
bei  beiden  Operationsmethoden,  insoweit  es  sich  bei  der  vorderen  Gastro- 
enterostomie um  die  ursprüngliche  Methode  ohne  Enteroanastomose 
handelt,  in  einem  Punkte  ähnliche  sind.  Bei  der  hinteren  Gastro- 
enterostomie kommt  es  vielleicht  öfters  durch  das  absichtliche  straffe  An- 
spannen des  zuführenden  Schenkels  zu  einer  Dehnung  von  Mesenterium 
und  Darmwand.  In  den  vorliegenden  Fällen  von  G.E.  retrocolica 
scheint  der  zuführende  Darmschenkel  möglichst  kurz  genommen  zu  sein. 
Braun  verwandte  zur  Anastomose  den  Anfangsteil  des  Jejunums. 
Steinthal  1)  nahm  den  zuführenden  Schenkel  etwa  handbreit,  doch 
hatte  er  weder  bei  der  Operation  noch  bei  der  Autopsie  den  Eindruck, 
daß  er  straff  angezogen  war.  In  den  3  Fällen  der  Heidelberger  Klinik 
wurde  jedenfalls  nach  den  Regeln  verfahren,  wie  sie  Petersen  *)  auf 
Grund  der  Erfahrungen  dieser  Klinik  empfiehlt,  nämlich  die  zuführende 
Schlinge  nur  so  lang  zu  nehmen,  daß  sie  gerade  verläuft  und  keinen 
Bogen  macht  (etwa  10—12  cm).  Bei  der  vorderen  Gastroenterostomie 
wird  dieses  zwar  zu  vermeiden  gesucht,  indem  man  eine  möglichst  weit 
unten  liegende  Schlinge  (in  unseren  Fällen  50  cm  von  der  Plica  duo- 


gezogen habe,  sind  peptische  Geschwüre  des  Magens  und  Duodenums  bei 
Hunden  bisher  nicht  beobachtet  worden. 

1)  Nach  einer  Privatmitteilung. 

2)  Kongreßbericht  1902,  p.  113. 


934  Max  Tiegel, 

werden  diese  bei  Gastro-  und  Enteroanastomosen  überhaupt  nicht  ver- 
wandt, auch  in  der  Literatur  habe  ich,  abgesehen  von  der  Mitteilung 
KÖRTEs,  welcher  in  seinem  Falle  federnde  Klemmen  nadi  Doyen  an- 
wandte, keine  Angaben  hierüber  gefunden,  so  daß  ich  diese  Frage  offen 
lassen  muß.  Denkbar  ist  es  natürlich,  daß  bei  Anwendung  von  der- 
artigen Kompressorien  durch  zu  festes  Zusammendrücken  derselben 
eher  Lasionen  von  Gefäßen  und  Darmwand  entstehen. 

Die  glänzenden  Erfolge  der  Gastroenterostomie  bei  gutartigen 
Magenerkrankungen  und  die  darauf  beruhende  ausgedehnte  Anwendung 
derselben  erleiden  durch  das  Auftreten  von  Jejunalgeschwüren  eine 
gevrisse  Einschränkung,  solange  wir  es  nicht  in  der  Hand  haben,  die 
Entstehung  derselben  sicher  zu  verhüten.  Die  sich  mehrenden  Beob- 
achtungen solcher  Geschwüre,  der  häufige  tödliche  Ausgang,  der  lang- 
wierige, oft  rezidivierende  Verlauf,  die  Schwierigkeit  der  Heilung,  das 
alles  muß  uns  veranlassen,  die  Indikation  zur  Gastroenterostomie  bei 
benignen  Magenerkrankungen  auf  jene  Fälle  zu  beschränken,  bei 
welchen  sie  strikte  indiziert  ist.  Zu  diesen  Fällen  gehören  vor  allem 
die  Fälle  mit  hochgradiger  Pylorus-  oder  Magenstenose.  Dagegen 
werden  wir  bei  allen  gutartigen  Affektionen  ohne  Stenose,  zumal  wenn 
sie  mit  Hyperacidität  des  Magensaftes  verbunden  sind,  äußerst  zurück- 
haltend sein.  Hierher  gehört  das  nicht  komplizierte  frische  Magenulcus, 
die  Mageninsuffidenz,  die  auf  atonische  Zustände  zurückzuführen  ist, 
die  funktionelle  Pylorusstenose  (Pylorospasmus)  und  der  Magensaftfluß. 

Ist  aber  einmal  ein  chirurgischer  Eingriff  angezeigt,  so  sollte  man 
suchen,  die  Gastroenterostomie  durch  Operationsmethoden  zu  ersetzen, 
die  den  physiologischen  Verhältnissen  näher  kommen,  dadurch  einen 
Teil  der  oben  angedeuteten  Schädlichkeiten  vermeiden  und  uns  größere 
Sicherheit  gewähren.  Eine  solche  Methode  besitzen  wir  in  der  Pyloro- 
plastik  nach  Heinecke  und  v.  Mikulicz,  und  deren  Modifikation,  der 
FiNNYschen  Operation.  Nach  der  Pyloroplastik  sind  übrigens  peptische 
Geschwüre  im  Darm  noch  nicht  beobachtet  worden.  Die  Pyloroplastik 
müßte  darum,  wo  sie  ausführbar  ist,  die  Operation  der  Wahl  sein. 
In  zweiter  Linie  käme  dann  noch  die  Gastroduodenostomie  nach  Henle 
und  Kocher  in  Betracht  Erst  wenn  die  lokalen  Verhältnisse  die 
genannten  Operationen  unmöglich  machen,  soll  die  Gastroenterostomie, 
und  zwar  die  retrocolica,  gemacht  werden.  Es  liegt  natürlich  nahe, 
die  Gefahren  dieser  Operation  durch  eine  Aenderung  der  Operations- 
technik herabzusetzen.  Eine  solche  Aenderung  schlägt  Goepel^)  vor. 
Von  der  Erwägung  ausgehend,  daß  die  übliche  Gastroenterostomie  ge- 
wöhnlich im  Pylorusteil  des  Magens,  also  dem  „Quellgebiet  der  Salz- 
säure", angelegt  wird,  daß  dazu  meist  einer  der  tiefeten  Punkte  an  der 
großen  Kurvatur  gewählt  wird,  so  daß  das  Magensekret  kontinuierlich. 


1)  Bericht  des  Chir.-Kongr.  1902,  p.  109. 


Ueber  peptische  Geschwüre  des  Jejanums  nach  Gastroenterostomie.     935 

gewissermaßen  in  die  Oeffnung  hineinßJlt,  verlegte  er  die  Stelle  der 
Anastomose  in  den  Fundus  des  Magens,  möglichst  hoch  nach  der  Gardia 
zu.  Dadurch  entfernt  er  einmal  die  AnastomosenöfFnung  aus  den  be- 
sonders salzsäurereichen  Partien  des  Magens;  sodann  bewirkt  diese 
Lage,  daß  das  Magensekret  nicht  mehr  permanent  abfließt  und  den 
Darm  berieselt,  sondern  sich  in  den  tieferen  Partien  ansammelt  und 
mit  dem  Speisebrei  vermischt  durch  die  Peristaltik  hinausbefördert 
wird.  GoBPEL  hat  diese  Methode,  die  er  Gastroenterostomia  fundosa 
nennt,  erst  in  wenigen  Fällen  von  Sanduhrmagen  angewandt,  so  daß 
ein  abschließendes  Urteil  darüber  noch  aussteht. 

Eine  Beobachtung  Heidenhains  scheint  jedoch  sehr  zu  Gunsten 
dieser  Methode  zu  sprechen.  Bei  einem  Fall  von  wiederholt  rezidi- 
vierendem Jejunalulcus  sah  sich  Heiden hain  genötigt,  eine  neue 
Gastroenterostomie  anzulegen,  und  zwar  wählte  er  hierzu  eine  Stelle 
hoch  oben  am  Fundus.  Patient  ist  seit  dieser  Zeit  während  einer 
4-jährigen  Nachbeobachtungszeit  von  Bezidiven  verschont  geblieben. 

Es  erübrigt  sich  nun  noch,  zu  erörtern,  welcher  prophylaktische 
Wert  einer  internen  Behandlung  nach  ausgeführter  Gastroenterostomie 
beizumessen  ist.  Nach  den  günstigen  Erfahrungen  derselben  bei  bereits 
bestehendem  Ulcus  wird  es  sich  empfehlen,  auch  bei  der  Prophylaxe 
die  innere  Behandlung  mehr  zu  berücksichtigen.  Man  sollte  bald  nach 
der  Gastroenterostomie,  besonders  wenn  vor  derselben  Hyperacidität 
bestanden,  mit  der  Darreichung  von  Alkalien  beginnen  und  diese  längere 
Zeit  hindurch  fortsetzen.  Ich  schließe  mich  hierin  einem  bereits  von 
KÖRTE  *)  gemachten  Vorschlage  an.  Auch  der  Diät  ist  noch  längere 
Zeit  nach  der  Operation  eine  größere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 

Zusammenfassung. 

1)  Das  Ulcus  pepticum  jejuni  ist  bisher  nur  nach  Gastroenterosto- 
mien wegen  gutartiger  Magenerkrankungen  beobachtet  worden;  es  be- 
vorzugt das  männliche  Geschlecht  im  mittleren  und  höheren  Alter. 

2)  Im  klinischen  Verlauf  sind  2  Gruppen  voneinander  zu  unter- 
scheiden :  einmal  Fälle,  die  völlig  symptomlos  verlaufen  und  dann  plötz- 
lich zur  Perforation  in  die  freie  Bauchhöhle  führen,  sodann  Fälle  mit 
chronischem  Verlauf,  durch  die  heftigsten  Beschwerden  (besonders 
Schmerzen)  gekennzeichnet,  wo  es  zu  allmählicher  Penetration  des  Ge- 
schwüres, zu  Adhäsionen,  Uebergreifen  auf  benachbarte  Organe  und 
Ausbildung  beträchtlicher  entzündlicher  Tumoren  kommt  Letztere 
Fälle  bieten  klinisch  das  Bild  des  penetrierenden  Magenulcus  und  sind 
von  diesem  diagnostisch  kaum  zu  unterscheiden.  Es  besteht  bei  ihnen 
große  Neigung  zu  Rezidiven. 

3)  Die  bisherigen  Erfolge  der  operativen  Therapie  sind  (besonders 


1)  Bericht  d.  Chir.-Kongr.  1900,  p.  139. 

60* 


936     Max  Tiegel,  Ueber  peptiBche  Geschwüre  des  Jejunums  etc. 

quoad  Rezidivfreiheit)  keine  guten,  während  die  wenigen  Erfahrungen, 
die  wir  Aber  interne  Therapie  besitzen,  günstig  lauten.  Es  sollte  daher 
bei  den  chronischen  Fällen  stets  in  erster  Linie  eine  längere,,  energische 
innere  Behandlung  (wie  bei  Magenulcus)  versucht  werden,  ehe  man 
sich  zur  abermaligen  Operation  entschließt.  Bei  den  akuten  Perfo- 
rationsfällen ist  selbstverständlich  ein  sofortiger  chirurgischer  Eingriff 
am  Platze. 

4)  Die  Entstehung  der  Geschwüre  ist  in  erster  Linie  auf  die  pep- 
tische  Wirkung  des  nicht  immer  stark  aciden  Magensaftes  zurück- 
zuführen, die  durch  Zirkulationsstörungen  (Arteriosklerose),  Läsionen 
der  Schleimhaut  und  vielleicht  auch  durch  eine  gewisse  individuelle 
Disposition  unterstützt  wird.  Inwieweit  ein  Einfluß  der  Operations- 
methode oder  Technik  besteht,  läßt  sich  nach  den  bisherigen  geringen 
Erfahrungen  noch  nicht  sicher  beurteilen. 

Auf  Grund  theoretischer  Erwägungen  empfiehlt  es  sich,  die  hintere 
Gastroenterostomie  der  vorderen  mit  querer  Anheftung  der  Schlinge 
vorzuziehen. 

5)  Die  sich  häufenden  Beobachtungen  peptischer  Jejunalgeschwüre 
sind  dazu  geeignet,  zu  einer  Einschränkung  der  Gastroenterostomie  bei 
gutartigen  Magenaffektionen  zu  Gunsten  der  internen  Therapie  zu 
führen.  Wo  ein  operativer  Eingriff  streng  angezeigt  ist  (Pylorusstenose), 
ist  die  Gastroenterostomie  in  allen  geeigneten  Fällen  durch  die  Pyloro- 
plastik,  eventuell  Gastroduodenostomie  zu  ersetzen. 

Wo  nur  eine  Gastrojejunostomie  ausführbar  ist,  erscheint  eine  von 
GoEPEL  angegebene  Modifikation  derselben,  die  G.  E.  fundosa,  ganz 
aussichtsreich  und  zu  weiteren  Versuchen  ermutigend. 

6)  Auch  bei  der  Prophylaxe  ist  auf  interne  Therapie  ein  größerer 
Wert  zu  legen.  Es  ist  nach  jeder  Gastroenterostomie  wegen  gutartiger 
Magenaffektion  durch  längere  Zeit  Gebrauch  von  Alkalien  und  strenge 
Diät  zu  empfehlen.  ;^^ 


FrommAimsch«  Bachdruckerei  (Hermann  Fohle)  in  Jena.  -    2764 


DAT£    OUE    SLIP 

ÜNTVERSITY   OF  CALirORKlA   WEDICAX  8CH00L  LIBEABY 


THIS  BOOK   IS  DUE    ON   T^   iJkST  DATB 
STAMPED  BEIiOW 


i 


H 

■■■■-■     •'^ 

^"  -^^  «yv 

m 

V 

f 

• 

• 

1.