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MÜNCHNER
HISTORISCHES JAHRBUCH
für
erausg^eg'ebexL W'fb^
von der|
Historischen Classe
der
K. Akademie der Wissooschaften.
Mttnolieii 1886
Xjiterariscli - artietisclie Anstalt
der J. G. CotWschen Buchhandlung.
J8^
Druck von F. Stranb in München.
/P^^/^^r' -/^D
Inhalt.
I. Das Rechtsverfahren bei König Wenzel's Absetzung von Seite.
Franz Löher 3.
II. Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga von
CA. Cornelius 130.
III. Die frankischen Königs-Annalen und ihr Ursprung von
W. Giesebrecht 186.
rV. Bauemland mit Bürgerrechten v. W. H. Riehl. . . . 239.
V. Die Säcularisation des Kirchengutes unter den Karo-
lingern von Paul Roth 275.
yi. Das Kaiserthum Karl's des Grossen und seiner Nach-
folger. Zwei Abhandlungen v. J. v. Döllinger . . 299.
I.
Das Rechtsverfahren
bei
König Wenzels Absetzung
von
Franz Loher.
Das Rechtsverfahren bei König Wenzels
Absetzung.
I. Fragen des Kechts und der Geschichte.
Das fünfzehnte Jahrhundert eröffiiete ein schwerer und
eigenthümlicher Vorgang. Von dem erhabensten unter den
weltlichen Thronen wurde ein Fürst herunter gestossen, der
deutsche König, Sohn des weitberühmten Kaisers Karl IV.,
Haupt des glänzendsten Fürstengeschlechts in Europa, dessen
Landbesitz sich von der Ostsee über Brandenburg Böhmen
die Oberpfalz Mähren Ungarn ausdehnte. Nicht von frem-
den Kriegsheeren wird Wenzel überfallen, nicht die wilden
Wogen des Aufetandes reissen ihn vom Throne, sondern seine
eigenen Unterthanen verfügen ruhig und wohlbedacht seine
Absetzung. Sie wird öffentlich auf Beichstagen verhandelt,
unter der Theilnahme von ganz Europa ; feierlich und förmlich
ist der Hergang; endlich verkündet der Kanzler des Beiches,
dass er mit seinen Mitkurfürsten auf den Bechtsstuhl gezo-
gen, der am Bhein bei Oberlahnstein am Wege nach Brau-
1)ach stehe, dass sie dortselbst zu Gerichte gesessen über König
Wenzel; dass sie ihn durch ürtel und Becht Freitags am
20. August 1400 kurz vor 10 Uhr als einen Versäumer Ent-
güederer und unwürdigen Handhaber des heiligen römischen
Beichs von demselben löwiacbeai Bddie und all der Würden
1*
4 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
Ehren und Herrlichkeit, welche dazu gehören, entsetzen; und
dass nun alle Fürsten Herren Kitter und Knechte Städte
Lande und Leute des Eeichs gänzlich ihrer Eide und Huld,
die sie Wenzel gethan, ledig seien.
Dieser ganze Hergang stellt sich dar wie ein Prozess,
der sich in feststehenden Formen des Gesetzes bewegt. Gab
es denn wirklich im deutschen Eechte des Mittelalters einen
so gefährlichen Prozess, der bei unserm ausgebildeten Staats-
wesen ebenso undenkbar als verwerflich wäre, dessen sich aber
auch damals jede böse Leidenschaft bemächtigen konnte, und
dessen Urtelsvollziehung der Bürgerkrieg war? Hatte wirklich
das deutsche Volk gemeint, man müsste, vorsichtig für etwaige
XJnglückszeiten 'einer unheilbaren Begierung, ein geordnetes
Vei&hren ausbilden, um auf ruhigem Kechtswege dasselbe
Ziel zu erreichen, für welches die Spartaner ihre Ephoren, die
Ungarn aber nichts Anderes in Thätigkeit zu setzen wussten,
als den bewaffneten Aufstand? Eine Frage, die nach jeder
Richtung hin des Eechts und der Politik wohl der Unter-
suchung werth ist.
Diese allein kann auch die Behandlung, welche Wenzel
widerfuhr, im richtigen Licht erscheinen lassen. Auffallend
ist es, mit welcher Einstimmigkeit fast alle neueren Historiker
sie verwerflich finden. Ludewig, ^) Schmidt,*) Häberlin,*)
Pfizer, *) greifen die Urtheilsgründe an, — die Heftigkeit stei-
gert sich bei Pelzel,^) Aschbach®) und Palacky,'') — bis
schliesslich Häusser ®) das Verfahren der Fürsten gegen Wenzel
(1) Ludewig, Rechtliche Erläuterung der Reichsgeschichte 251.
(2) Schmidt, Geschichte der Deutschen IV, 37—38.
(3) Häberlin, deutsche Reichsgeschichte 263 ff.
(4) Pfizer, Geschichte der Deutschen III, 346.
(5) Pelzel, Lebensgeschichte Königs Wenceslaus II, 411—426.
(6) Aschbach, Geschichte Kaiser Sigmunds I, 151.
(7) Palacky, Geschichte von Böhmen III 1, 124—126.
(ij Häusser, Geschichte der rheinischen Pfalz I, 214. 216.
Löher: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung, 5
Kabale und Empörung nennt. Und selbst Höfler, •) der über
die geschichtlichen Thatsachen jenes Zeitraums am gründ-
lichsten geforscht hat, bezeichnet Wenzels Absetzung als kur-
fürstliche Intrigue, als Complott und Bebellion gegen den
legitimen Herrn, als ein formell wie materiell rechtloses tumul-
tuarisches Verfahren. Palacky giebt die feierliche Erklärung:
^,in unsem Tagen falle es keinem besonnenen Historiker mehr
ein, das Verfahren der verschworenen Fürsten gegen Wenzel
zu entschuldigen, geschweige denn es zu vertheidigen."
Wären diese Historiker Wenzels Zeitgenossen und so ein-
stimmig in ihrem Urteil, so erschiene die Sache damit wohl -ab-
gemacht. Allein sie stehen mit Allem im Widerspruch, was wir
von Wenzels wirklichen Zeit- und Volksgenossen wissen, wo
diese irgend sich unparteiisch aussprachen. Woher dieser so
einhellige Widerspruch ? Allerdings hat unsere Geschichtschrei-
bung jetzt eine Eichtung, die abhold ist dem deutschen Für sten-
thum, welches die Keichseinheit zerriss, und jeder Akt, wo es
seine zerstörende Kraft gegen das Beichshaupt wandte, hat
mit Hecht bei uns scharfe Kritik zu erwarten. Doch das
allein erklärt nicht die so verschiedene Auflfassung, welche
zwischen dem fünfzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert
besteht. Sollte der Grund nicht auch darin liegen, dass es
neueren Historikern schwer Mit, sich in die sittliche, vor
Allem in die Kechts-Anschauung des deutschen Mittelalters zu
versetzen? Stösst man doch häufig genug bei der Erforschung
irgend eines Stücks vom damaligen Staatsleben auf die Be-
merkung, dass man es nur halb und obenhin verstehe, so
lange es nicht auf dem Boden der damaligen Bechtssitte be-
trachtet wird. In unserm Falle, werden nicht die Ansichten,
welche Wenzels forstlichen Gegnern so ungünstig sind, von
vornherein entwurzelt, wenn diese Fürsten als wirkliche Ge-
(9) Höfler, Kuprecht von der Pfalz, genannt Clem, römischer
König. Freiburg 1861. S. 167, 161, 167.
6 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
richtsschöflFen handelten? Stellt das Kecht eines Landes für
einen gewissen Fall den Criminalprozess auf, so müssen sich
wohl oder übel, wenn der Fall eintritt, die Schranken des
Gerichtes öffnen. Denn in den Gründen, an welche das Recht
den Prozess bindet, liegt nicht bloss eine innere, sondern,
wenn die Thatsachen darauf zutreiben, auch eine äussere Nö-
tiiigung, der sich Freund und Feind nicht entziehen kann.
Jene Geschichtschreiber legen das grösste Gewicht darauf, die
selbstsüchtigen Beweggründe, welche Wenzels Richter belebt
hätten, zu enthüllen und zu beleuchten. Ist denn das ent-
scheidend? Wenn ein schlechter Vormund Jahr ein Jahr aus
die Zucht und das Vermögen seiner Pflegbefohlenen gröblich
Terwahrlost, soll ihn darum minder die Strafe des Gesetzes
treffen, weil seine Richter ihn hassen, oder weil einer aus ihrer
Mitte sein Nachfolger zu werden denkt?
Das ist also die erste Frage: Gab es im fünfzehnten
Jahrhundert in Deutschland ein Gericht, welches den König
absetzen durfte? Darauf muss die Geschichte uns ebenso Ant-
wort geben, als die Vergleichung der Rechtsbücher und ge-
richtlichen Urkunden. — Ist diese erste Frage zu bejahen^
80 wird man gespannt, die Ursachen kennen zu lernen, welche
vorliegen mussten, damit Unterthanen sich als Kläger und
Richter gegen ihren Herni und König erheben durften? Eine
Frage des materiellen Staatsrechts. — Die dritte Frage, —
wie und wo der Gerichtshof gebildet wurde, wer das Amt
des Anklägers hatte, wie die Vorladung, das Verhör, die Be-
weisaufnahme, das Endurtel beschaffen sein mussten, überhaupt
an welche Formen und Fristen das Verfahren gebunden war?
— diese Untersuchung fällt lediglich in das Gebiet des for-
mellen Rechts.
Sobald eine dieser drei Fragen hinlänglich klar gemacht,
lässt sich ein Stück der andern Seite unserer Aufgabe lösen:
die Anwendung nämlich der gefundenen Regeln auf den Fall
des Königs Wenzel. Wenn der eine Theil, der theoretische,
höher: Bas Bechtsverfahren bei König Wemeig Absetztmg. 7
lediglich juristisch zu behaudeln, so können wir uns bei dem
andern, dem praktischen Theile, auch der historischen Erörte-
rung nicht entziehen. Wir müssen jede bedeutende Thatsache
in Wenzels Leben und ßegierung in's Auge fassen, weil jede
einen Stützpunkt bildet, sowohl um das Verfahren gegen ihn
zu begreifen, als auch, ob ihm recht oder unrecht geschah, zu
beurtheilen. Insbesondere wird uns das Verhalten der ver-
schiedenen Beichsstände beschäftigen, welche in diesem Drama
eine Rolle spielten.
Während nun, um die geschichtlichen Thatsachen in das
i-echte Licht zu rücken, die Quellen und Schriften uns aus-
reichenden Stoff bieten, verbreiten sie sich spärlich über die
Rechtstheorie. Das lag in der Natur der Sache. Ueber einen
so bedenklichen Casus, wie eine Königsabsetzung es war, Hessen
sich die alten Schöffen, welche ihres Volkes und Landes Recht
inne hatten, nicht gar gerne aus. Sie begnügten sich mit
Hinweisungeu auf Bekanntes, mit kurzen und gel^entlichen
Sätzen. Aus solchen Sätzen und Andeutungen in den Rechts-
büchern, femer aus historischen Nachrichten, hin und wieder
durch Rechtsanalogien — ist jetzt allein noch die Theorie
herzustellen. Bei dem Versuche dazu können wir freilich um
so leichter fehlgreifen, als diese Frage von Andern nur erst
dürftig erörtert ist. ^®)
IL Fürstengericht über den König.
Zunächst kann das wohl keinem Zweifel unterliegen, dass
in Deutschland ein lebendiges Bewusstsein bestand, man könne
in gewissen Fällen das Reichshaupt seines Rechts und An-
(10) Die einzige neuere Schrift darüber, welche den Gegenstand
jedoch keineswegs erschöpft, ist eine kleine, mit Geist und Interesse
geschriebene Dissertation: De jurisdictione principum gennamcorom
in imperatorem exercita scripsit Dr. Arm. Soholze. Jenae 1846.
8 Jahrh, der hiMor, Glosse der lt. Akad, der Wissenschaften.
Sehens entkleiden. In einem Zeitraum von hundert Jahren
schreitet ein Theil der Kurfürsten dreimal zu einer ibrmlichen
Absetzung des Königs, bei Adolf, Albrecht I., und Wenzel.
Dreimal in hundert Jahren wird dies Verfahren in den Schriften
von Zeitgenossen lebhaft erörtert; man streitet, ob die Ab-
setzung Eecht oder Unrecht sei: immer jedoch werden nur
die Gründe der Absetzung und das Verfahren dabei geprüft,
niemals heisst es , die Fürsten könnten überhaupt keinen König
vom Keiche entsetzen. ^ *) Die wiederkehrende Uebung lässt airf
eine Kechtsgewohnheit schliessen, der Ausspruch der Zeitge-
nossen greift ihren Kern nirgends an: beides nöthigt uns an-
zunehmen, dass wirklich im Bewusstsein der Nation einBecht
lebte, vermöge dessen man, wenn kein anderes Mittel mehr
helfe,* dem Könige seine Würde nehmen könne. Dies aber
stimmt mit allem Andern, was wir von der damaligen Eechts-
anschauung kennen. Sie fasst den König nicht als Herrn,
sondern als Vormund des Kelches auf, nicht als Eigenthümer
über dessen Güter und Eechte, sondern bloss als ihren Ver-
walter. Drei Dinge musste er, wenn er den Thron bestieg,
in seinen Eid nehmen: dass er das Becht stärke und das
Unrecht kränke, dass er das Beich vertrete in seinem Bechte,
dass er es alle Zeit mehre und nicht ärmer mache. ^^)
So spricht der Schwabenspiegel in Süd-, der Sachsen-
spiegel in Norddeutschland. Gleichmässig enthielten beide die
Grundzüge des allgemeinen deutschen Bechts. Kein Keichs-
beschluss hatte diesen Bechtsbüchem Gesetzeskraft verliehen,
wohl aber hatten alle deutschen Gerichte sie durch Brauch
und Uebung als den wahrhaftigen Ausdruck des ächten Bechtes
(11) Vgl. Trithemius Chron. Hirsaug. ad a. 1298. H. Rebdorfif
ad. a. 1300.
(12) Schwabenspiegel 101, 1 nach der kleinen Ausgabe von
Gengier. Erlangen 1863. Sachsenspiegel III 54,2.
Loher: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung, 9
anerkannt. Ihre Aussprüche aber über Eönigsabsetzung sind
klar und deutlich:
Der Schwabenspiegel sagt: Wer über den künic
urteil sprechen mac. Dem künige mac nieman
an den lip gesprechen, im werde daz riebe e verteilet
mit der fursten urteile. TJeber des küniges lip und
über sin ere mac nieman urteil sprechen, wan die
Fürsten. Und krieget er mit jeman umbe gut oder
umbe ander dinc, daz des riches ist, da suln über
sprechen lursten und graven und vrien und des riches
dienstmau. ^*)
Drei Fälle sind hier unterschieden: die Klage auf Ab-
setzung, die CriminaMage, die Klage um Keichsgut.
Der Sachsenspiegel sagt: Von des koniges rechte.
De koning scal hebben vrenkes recht, wan he ge-
koren is, van welker bord he is. Wen alse de vranke
sin lif nicht Vorwerken en mach, he en werde in der
handhaften dat gevangen, oder eme en si sin vrenkes
recht vordelet: also en mach deme koninge neman
an sin lif spreken, eme en si dat rike mit ordelen
vordelet. ^*)
Auch hier wird der Unterschied zwischen einer gewöhn-
lichen Criminalklage und der Absetzungsklage gemacht. Die
letztere muss vorher gehen und Erfolg gehabt; der König
muss also sein fränkisches Recht verloren haben, ehe die zweite
Klage ihm an den Leib gehen kann.
Die Kechtsbücher setzen also den Fall, dass der König
durch Urtheil des Reichs entsetzt werden könne, an diesen
wie an mehreren andern Stellen als bekannt voraus, gerade
so, wie die Chronisten berichten, König Adolf habe per sen-
(13) Schwaben-Sp. 104.
(14) Sachsen-Sp. III 54, 4.
10 Jahrb. der histai'. Classe der 1i. Akad. der WissemcJiaften.
tentiam, durch abjudicatio imperii, und Albrecht per Judicium
das ßeich verloren. ^^)
Noch ein anderes sprechendes Beispiel sei angeführt. Als
die Kurfürsten den Eeichsstädten schreiben, sie hätten Wenzel
abgesetzt und die Städte sollten ihn bei ihren Keichseiden
nicht mehr für einen römischen König halten, versammeln
sich Städteboten in Mainz zur Berathung. Sie ziehen befreun-
dete Eechtsgelehrte , „etliche wise gelerte phafifen in deme
rechten, die den Steten woil gutz günnen*', zu Käthe und
legen ihnen die Frage vor: wie sie sich zu der Absetzung des
alten Königs verhalten, und was sie thun sollten, wenn er
sie bei ihren Eiden um Hülfe mahne? Die Rechtsgelehrten
„hant yu in grosser früntschafft ire meynunge geseit, wie sich
die Stete ane straflfunge ire eide seien und eren in deme
rechten dar Inne halten mögen, als sie meynent, das sie das
clerlichen wisen wollen in Bebestlichem und Kaiser-
lichem rechte, wo man das beschriben finde". Nämlich:
„want die kurfürsten den altem könig umb solicher artikel
willen, als sie hant lassen luden, die man auch gemeinlich
voir wair heldet, von deme heiigen Eiche gesetzt hant, und
yn darum etwie dicke ersucht und ermant hant, by sie tzu
kommen, das zu wandeln und tzu verantworten, dartzu er
■
doch nit kommen sy, und einen andern tzu deme heiigen Eiche
gekorn hant*', — so erklären die Eechtsgelehrten : „dass die
kurfürsten des auch wol in deme rechten macht gehabt
haben zu dun, want das mererteil der kurfürsten die veran-
derunge getan haben und die andern kurfürsten verbot und
zu yn geladen betten zu kommen, die veranderunge an deme
Eiche mit yn zu dun und einen andern tzum Eiche mit yn
helflen zu kiesen, und want der kurfürsten eins deiles zu deme
dage, den sie doch wol gewist hant, nit kommen sin, so ha-
(15) Tritliemius 1. c. Siffridus Presb. 1. c. Chron. Colm. 1. c.
Rebdorflf 1. c.
höher: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung. 11
ben dieselben kurfursten, die da gewest sint, in deme rechten
woil macht gehabt, einen andern zu dem ßiche zu kiesen".
Sobald das geschehen, seien „datzu stunt alle forsten graven
herren stete lande und lüde ire eide gein deme alden
könige, die sie yme von des Kichs wegen gedan hatten, in
deme rechten gentzlich ledig und loisd gewest, und yme
ferbas von des Kichs wegen nimmermehr verbüntlich sin sollen,
und sollen und mögen yme auch alle fiirsten graven herren
stete etc. und allermeniclich , die yme von des Bichs wegen
verbunden gewest sint, ane alle straffunge irer consciencien
eiden und eren in deme rechten woil abesteen". Wenn
aber trotzdem der alte König die Städte bei ihren Eiden
durch Briefe um Dienst und Hülfe mahne und Antwort heische,
so solle, lautet das Bechtsgutachten weiter, „man die brieffe
nemen und entphaen, und die boten dugentlich mit worten
von yn wisen, und yme doch davon keine antwort schriben
und yn in den sachen nit anders achten gein deme heiigen
Bomschen Bich, want in glicher wiss als obe er doit
were". ^^) — Man sieht, die Städte so wenig, als die Bechts-
gelehrten, hatten irgend einen Zweifel daran, dass der König
von den Kurfürsten abgesetzt werden könne: es handelte sich
nur darum, ob die blosse Mehrheit der Kurfürsten dazu be-
fugt, und was die unmittelbare Folge ihres Spruches sei.
Die Bechtsbücher enthalten sich, über das Fürstengericht,
welches dem König das Beich nehmen kann, sich noch weiter
auszulassen. Ohne Zweifel bestand der Gerichtshof früher aus
allen Beichsgrossen, welche auf dem Beichstag Sitz und Stimme
hatten und, wenn der Thron erledigt war, einen neuen König
wählen konnten. Als sich aber das Wahlrecht auf die Kur-
fürsten zurückzog, gestand man auch diesen Sieben allein die
Befugniss zu, das Endm'theil über den König zu sprechen.
Wenigstens erscheint dieses Becht allgemein anerkannt, gleich
(16) Obrecht 64 ff.
12 Jahrb. der histor, Classe def" Tc. Akad, der Wissenschaften,
wie in dem ßechtsgutachten , welches eben ausgezogen wurde,
so bei den drei vorangegangenen Königsabsetzungen. Inwiefern
aber die übrigen Fürsten und Keichsfreien dabei mitzuwirken
hatten, ist später zu untersuchen, wo wir auf das Verfehren
selbst näher eingehen.
III. Stellung des ßheinpfalzgrafen.
Es sprechen aber die Rechtsbücher wiederholt von dem
Pfalzgrafen am Khein als des Königs Richter.
Schwabenspiegel: Der künic soll mit rechte diser
herschefke deheine in siner gewalt han jar und tac;
er sol si hin lihen. Und tut er des niht, daz klagen
die herren und anders daz in gebrist dem phalenz-
graven von dem Rine; wan der ist ze rehte rihter
über den künic, und davon hat die phalenz vil eren.
Und wirt der künic derselben schulde überkomen, so
ist er ze unrechte an dem riebe. Da sol man in
umb beklagen vor dem phalenzgraven von dem
Rine. i^)
Schwäbisch Lehn recht: Als die forsten den künic
wollent beklagen, ob er wider reht tut, daz solnt sy
tun vor dem phalenzgraven von dem Ryne: die Ere
hat er vor den andern forsten. ^®)
Diesem süddeutschen Recht gleichlautend heisst es im
norddeutschen,
im Sachsenspiegel: In de Verden haut en scal nen
len komen, dat gerichte si over hals unde over haut,
wenne sculthedom allene in de gravescap, dor dat de
greve en mach nen echt ding hebben ane scultheten.
(17) Schwabensp. 105,5. 100.
(18) Schwab. Lehnr. 42.
Lohet: Bas Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 13
wenne claget men over den greven, he scal antwor-
den vor deme scultheten, wenne de sculthete is rich-
tere siner scult. Also is de palenzgreve over den
keyser, unde de borghgreve over den markgreven. ^•)
Im Sächsischen Weichbildrecht: Nu vomemet,
wer über den kunic richten suUe, ab er diser dinge
überwunden wirt, als hy vorstehet. Das soll thun
der phaltzgrave, der dem kunige und dem lande zu
richter gesatzt wird von wilkur. *®)
Wir stehen hier bei der vielberührten Frage von des
Pfalzgrafen höchstem Gericht. Welches war sein Grund?
Wie ist es entstanden? — An eine Herübemahme des comes
sacri palatii vom griechischen Kaiserhofe ist nicht zu denken.
Wie soUte ein byzantinischer Hofrichter Macht und Gewalt
bekommen, über die Majestät zu richten? Vor seinen Stuhl
gehörten nur die Kechtsfalle, welche in des Hofes Burgfrieden
vorfielen, oder in welchen man an den König appellirte. Einen
solchen Hofrichter hatten alle Kaiser stets in ihrer nächsten
Umgebung, während die Halzgrafen in ihren Ländern sassen.
Die Herleitung des pfalzgräfiichen ßichteramts liegt viel
näher. Es ist ein Amt von rein germanischer Wurzel und
aus dem altdeutschen Gerichtswesen zu erklären. Der Sachsen-
spiegel weisst den Weg, indem er sagt: ganz wie der Schult-
heiss sich zum Grafen, so verhalte sich der Pfalzgraf zum
Kaiser oder König. Nun war der König Eichter über jedes
Mannes Lehen Eig^n und Leben, und wo er erschien, war
ihm alles Gericht ledig. ^^) Deshalb musste er in allen
deutschen Landen, wohin er kam, seinen Pfalzgrafen, das ist
seinen bestellten Schultheissen vorfinden, ohne welchen er
ebenso wenig Gericht halten konnte, wie der Graf. Denn der
(19) Schwabensp. HI 52, 3.
(20) Sachs. Weichbildr. 9.
(21) Saclisensp. lU 52, 2. m 26. I 58, 2.
14 Jahrh, der histor. Classe der k. Äkad. der Wissenschaften,
Vorsitzende des Gerichts, welcher die oberste Gewalt darstellte,
das Gericht eröflfhete und den Gerichtsfrieden gebot, an wel-
chen die Parteien ihre Fragen und Anträge richteten, der
dem Frohnboten die Weisungen ertheilte und dasürtheil ver-
kündete, dieser, welcher vorzugsweise den Namen „Kichter"
fahrte, musste inuner neben sich seinen Schultheissen haben,
seinen Sprecher und Bechtsweiser, gleichsam seine rechte Hand.
Der Schultheiss war es, der mit den Parteien verhandelte,
die Umfrage bei den Schöffen hielt und des Eichters An-
weisungen vollziehen liess. Er war der Bechtswissende , der
seines Landes und Ortes Becht genau inne haben musste:
der Graf dagegen zog umher, um in des Königs Namen das
Gericht bald in dieser, bald in jener Gegend zu hegen. Er
konnte unmöglich immer ihr Becht wissen, an dem Schult-
heissen fand er überall seinen Berather und Bechtsmund vor,
der auch zuerst aussprechen musste, was in einem Falle Bech-
tens sei. Der Graf erschien eigentlich nur als der Gerichts-
halter, der Schultheiss aber als die handelnde richterliche
Person. Vor ihm musste daher, weil er als des Grafen Ver-
treter handelte, dieser selbst Becht nehmen, wenn er verklagt
wurde. Dies Alles ergiebt sich deutlich, wenn man die Stellen
der Bechtsbücher mit den Ueberresten alter Gerichtsakten
vergleicht.
Desshalb hatte ursprünglich auch jedes der vier deutschen
Hauptlande, Franken Sachsen Schwaben und Bayern, seinen
Pfalzgrafen, weil ein jedes sein besonderes Stammesrecht hatte.
Der König aber erhielt, sobald er geboren war, fränkisches
Becht; denn an die fränkische Krone hatten sich die andern
Länder anschliessen müssen, und die deutsche Krone erschien
als ein Erbtheil des Frankenstammes. Also konnte der König
auch nur nach fränkischem Bechte gerichtet werden: er musste
Becht nehmen vor seinem fränkischen Schultheiss. Dieser aber
war der Pfalzgraf am Bheine.
Die geschichtlichen Nachrichten bestätigen uns die Ar-
Loher: Bas Bechtsverfahrm hei König Wenzels Absetzung. 15
tikel der Eechtsbücher. Pabst Urban belehrt den Kdnig
Kichard, er müsse mit seinem Nebenbuhler Alfons sich an den
rheinischen Pfalzgrafen wenden: dieser entscheide bei zwie-
spaltiger Wahl, wer der rechte König sei ; das sei in Deutsch-
land Rechtens vennöge gewisser consuetudines circa electionem
novi regis. ^2) Als die drei geistlichen Kurfürsten König
Albrecht absetzen wollten, beriefen sie den Pfalzgrafen Budolf,
eligentes ipsum Kudolfiim pro judice et asserentes, ad comitem
palatinum pertinere, quod sit officium palatinae dignitatis ex
quadam consuetudine , de causis cognoscere, quae ipsi regi
movebantur. ^^)
Nun ist es aber aufl'allend, dass gerade bei Wenzels Ab-
setzung von dieser consuetudo oder Bechtsgewohnheit abge-
wichen wird. In der Absetzungsurkunde *^) heisst es: „Wir
Johan Ertzbisschoff vorgenant, gots namen zu dem ersten an-
gerufen, in gerichtes stat gesessen, in namen und wegen unser
vorgenanteu herren und mitkurfürst^n des heiligen Komischen
Eichs und auch unser selbs, — umb diese egenante und vil
ander grosser gebresten und Sachen uns darzu bewegende, —
abetun und abesetzen mit diesem unserm orteil, das wir dun
und geben in dieser schrifift, den vorgenanten herrn Wentz-
lauw . . . von dem Romischen Riche und von aller der wirde-
keit und Eren und herlichkeid darzu gehörende^^ — Es hatten also
sowohl der PMzgraf, als die beiden andern Kurfürsten, welche
an dem Fürstengerichte theilnahmen, den Kurfürsten von Mainz
bevollmächtigt, in ihrem Namen das Endurtheil über den
König auszusprechen: — das aber hätte entschieden zum
Amte des Vorsitzenden, des pfalzgräflichen „Richters^^ gehört.
(22) Raynald. Ann. eccl. XIY ad a. 1263 §. 5.
(23) Henr. Rebdorff ad a. 1300 bei Freher. Nov. Germ. Script. 601.
(24) Acta depositionis Wenceslai et electionis Ruperti, qnae ülr.
Obrechtus edidit, denno emissa a. J. C. Fiichero. Franoof. «t
Lips. 1754. p. 48.
16 Jahrh, der histor. Classe der h Äkad, der Wissenschaften.
Gleichwohl sind alle vier Kurförsten, während der Mainzer
das Urtheil fällt und verkündet, noch gegenwärtig auf dem
Eönigsstuhl bei Bense, auf dessen Höhe sie das Gericht ge*
halten, denn die Urkunde schliesst: „Gelesen und ussgesprochen
ward das vorgenante orteil und Sentencie von uns Johan
Ertzbischoff zu Mentze vorgenant, also von unser und der
vorgenanten unser herren der mitkurfürsten wegen, an dem
Eine by Obern Laenstein, Trierer Bistums, gein Brubach zu-
gende, uf eyme Stule daseibist zu einem rechtstule erhaben,
als die vorgenante unser herren und mitkurfürsten und wir
daselbest zu gerichte sassen". Dann folgt die genaue Angabe
des Jahres, Datums, Wochentages und der Stunde, in welcher
das Urtheil ausgesprochen wurde, und es werden nur noch
die Namen der Fürsten und Herren beigelugt, welche „zu
Zeugen dieser Dinge geheischen und gebeteo waren."
Dieser ungewöhnliche Hergang, so Hesse sich denken, hätte
seinen Grund gehabt in einer gewissen sittlichen Scheu des
Pfalzgrafen Buprecht, eines im Grunde edlen und weichen Ge-
müths. Er wusste, wer statt Wenzels König wurde, und
mochte nicht selbst die Absetzung über den Fürsten aus-
sprechen, der für ihn vom Throne herunter sollte. Allein ein
so zartes Bedenken — konnte es wirklich so wuchtig sein, um
einen ernsten feststehenden Kechtsbrauch zu zerbrechen?
Schwerlich. Der Aufechluss findet sich leichter in einer
Stelle der Goldenen Bulle, die merkwürdig lautet.
Wenn irgend ein Keichsgesetz, musste gerade die Goldene
Bulle Kaiser Karl lY. entscheidende Artikel über die Ent^
thronung eines Königs enthalten. Denn gerade dieses Grund-
gesetz sollte dem fortwuchemden Unglück getheilter Königs-
wahl für immer ein Ende machen. Nun war aber dies Unheil
nicht minder aus parteiischer Absetzung des alten, als aus
zwiespältiger Wahl des neuen Königs entstanden. In der
Möglichkeit der Absetzung wurzelte eine Keihe von Thron-
streiten , welche unter den nächsten Eegierungen vor Karl IV.
Loher: Da» Rechtsverfähren bei König Wenzels Absetzung, 17
die traui-igen Belege zu dem Satze boten, mit welchem die
Goldene Bulle beginnt: omne regnum in se divisum desola-
bitur. Wollte der Kaiser dem Uebel auf den Leib gehen, so
musste er entweder die trübe Quelle verstopfen, indem er das
Absetzungsrecht für immer zerstörte, oder er musste sie klar
machen, indem er darüber deutliche und bestimmte Artikel
gab. Allein so förmlich und pünktlich sich Karl V. über
die Wahl verbreitet, von der Absetzung schweigt er. An dies
höchste Becht des Kurfürsten erlaubt sich der Kaiser, der
ihre Stelluiig so glänzend ausstattete, nirgends eine Andeu-
tung, es sei denn, man fände sie in den Worten :»necessitas
sive casus electionis«. *^) Nur über das Pfalzgrafengericht
enthält die Goldene Bulle einen einzigen kleinen Artikel,
wie folgt:
Quamvis Imperator sive Bex Eoman. super causis,
pro quibus impetitus fuerit, habeat, sicut ex consue-
tudine introductum dicitur, coram Comite Palatin.
Eeni, Sacri Imperii Archidapifero , Electore Principe
respondere: Ulud tamen Judicium Comes Palatin. ipse
non alibi, preterquam in Imperiali Curia, ubi Im-
perator seu Eoman. Bex presens extiterit, potent
exercere.*^)
Dieser Satz lässt deutlich genug zwischen den Zeilen lesen.
Der Kaiser wirft einen Schatten des Zweifels auf das Eichter-
amt des Pfalzgrafen: es ist ihm nicht, wife das Eeisen des
Kurfürsten zur Wahlstadt, eine antiqua laudabilis consuetudo, * ^)
sondern durch Herkommen angeblich eingeführt. Man sieht,
jenes Gericht war Karl IV.^ unangenehm und bedenklich, und
sein quamvis — obgleich es einmal da sei, — leitet die Be-
schränkung ein, unter welcher das Pfalzgrafengericht noch
(25) Cap. 1 au Anfang.
(26) Cap. 5.
(27) Cap. 1.
)8 Jahrk, der histor. Ckisse der k. Akad, der Wissenschaften.
geduldet werden soll. Diese Beschränkung ist eine doppeüie.
Der Ffalzgraf soll nur dann in Klagesaehen wider den Kaiser
XU Geeicht sitzen, wenn es erstens in imperiali curia, im £eich8-
hofe geschieht, wo Fürstai Grafen und Herren beisanunen
aind, *^) und wenn zw^iteüs der Kaiser persönlich gegenwärtig
ist. Vergeblich wArde man diese zweite Bedingung durch die
Sechtsfiction ausweiten: g^n den König, welcher auf ordeok-
Jiche Vodadung mcbt erscheine, müsse varhandelt werden als
,m er gegenwärtig. Denn wollte Karl lY. dies Contumacud-
lerMren, welchea sich vor der Goldenen Bulle Yon seldoett
verstand, weiter zulassen, wozu brauchte er dann die peisöa-
U^ Gegestwart so bestimmt zu fordern, und zwar in nächster
YerUndung mit dem Beichshofe? Denn imperiaUs curia ist
nur dann vorhanden, wenn der Kaiser den Hof beruft und «r
selb^ unter den Fairsten anwesend ist. £s erhellt also, Karl lY.
wollte das FMzgrafengericht auf solche Fälle herabdrücken,
iiR welchem darKjJser selbst es for angemessen hielt, vor ihm
Secbt zu aduoeu. IKamit löst sidb auch wohl der heftige
Streit, welchen die Staatsrechtsldirer des vorigen Jahrhunderts
über die Frage führten, ob der Kaiser bloss in Civilklagen,
odar auch in peinlichen Sachen vor dem Ffalzgrafen zu Becht
stehen müsste.^^)
lY. Gründe für Abse.tzaing eines Königs.
Das Pfabjg^m&ngariaht war also für d^ König unsohäc^
lieh giemaoht, dann die GtddMM BnUe war fömiliches Beidis-
gesete geworden. Doeh m leichten KaulsB Hessen aich die
(28) Vgl. Cap. 26.
(29) Olenschlager Erläuterung der Gk>ld. B. 154->I59. Dort und
bei Schulze Seite 60—66 sind die hierher gehörigen Schriftsteller in
den Noten angezeigt.
hoher: Da» Beckttverfahrm Im Kä^g Wtäeda Absetmng. 99
Fürsten ihre alte Befupiiss, in NothfUIen den EöJiig durch
{Jrtel und Becht vom Eeiehe va hmgeoi, nicht nehmen. Sie
))etrachteten jene Satzung der Ooldenen Bulle nur als einen
Artikel über den Pialzgrafen^ welcher ihn^ fiQls der Kaiser
skk nicht- stelle, nöthi^e, den Vorsitz des Gerichts aufzugeben.
Dann konnte sofort der fieichsdcanzler, der Korf&rst von Mainz, an
seine Stelle treten. Nichts hatte ja die Goldene Bulle über
Wes^ und Bestand des Gericbtee selbst yer(»rdnet: den Ur-
sachen, welche es in Thfttigkeit riefen, wüt Nidits von ihrer
Kraft benonmien.
Wdcber Art waren diese ürsacheaP
Am entscheidenden Orte ^®) sagen die Bechtsbaädier nichts
darüber. Man nmss also schMessea, d^ Thron koniite verwirkt
werden^ wenn der König, ausser seiner Voigtei über <Me Kirche,
die drei Pflichten nicht erfüllte, welche er in seineu
Eid genommen. *^)
Tria specialiter capitula in hujus regni administratione
speciaMter coQserventur : id est, ut defensio vel exaltatio vel
honor sanctae ecclesiae et servorum illius c(mgruu8 maneat, —
et pax , — et justitia in omni generalitate populi conservetur. ^ ^)
Diese Au&ählung der Pfliehteu, wie sie hier im neunten Jahr-
hundert gegeben wurde, kebrte auch später beständig wieder.
Bei König Konrnd II. Krönung sagte ihm der Ersbiscbof v(m
Mainz: Quum Dens a te multa requirat, hoc potisdmum desi-
derat: ut facias Judicium et justitiajn, ac pacem paArii^, quae
semper respicit in te, ut sis defensor ecclesiarum et .<toir
corum, .tutor viduarum et orphanorum. ")
Nur gel^gentlidi nennt der Sch^ab^ißpiegel einen Grund.
(30) Sachsensp. III 52. Schwabensp. 104.
(31)'Scliwabeh8p. 101,1. Sachsensp. III 54.2;
(82) Capit. Aquisgran. 825 c. 2.
(33) Wippo Vita Conr. Sal. ad a. 1024. Cf. Friderioi I. elec-
tio reg. 1152.
2*
20 Jahrb. der histor, Classe der k. Akad. der Wissenschaften,
£ daz die forsten (den künic) kiesen, so suln si uf
den heiligen sweren, daz si durch liebe, noch durch
leide, noch durch gutes miete, daz in geheizen oder
gegeben si, noch durch niht enwelen daz gevaerde
heize, wan als in ir gut gewizzen sage. Swer
anders weit, wan als an disem buche stet, der tut
wider got und wider reht. Und wird ir einer dar
nach uberreit, als reht is, daz er gut dar umbe ge-
lobet ze nehmen oder hat genomen: daz ist symonie.
Der hat sine Kur verloren, und sol si nimer mer
gewinnen, und ist zu meineide. — Man soll ihn drei-
mal vor des künics Hof laden, — und kumt er zem
dritten niht, so sol man in meineide sagen; und
swaz er von dem riche hat, daz ist dem riebe ledig,
und der künic sol in ze achte tun. — Dann aber
heisst es weiter: Und wirt der künic derselben
schulde überkomen, so ist er ze unrehte an
dem riche. Da sol man in umb beklagen vor dem
phalenzgraven von dem ßine. **)
König und Kurfürst werden in dieser Stelle sich ganz
gleich gestellt, der eine verliert durch Urtheil im Beichshofe
die Kur und alles Beichslehen, der Andere verliert durch Ur-
theil des Pfalzgrafengerichts die Krone und alles, was er vom
Eeiche hat, — der Grund aber ist für beide derselbe: sie
haben wider ihr gutes Gewissen gehandelt, sind meineidig
geworden.
Noch eine andere Stelle hat der Schwabenspiegel.
Der künic sol mit rehte diser herschefte (fahnlehen)
deheine in siner gewalt han jar und tac: er sol si
hin lihen. Und tut er des niht, daz klagen die
herren und anders, daz in gebrist, dem phalenz-
(34) Schwabensp. 109, 3.
LÖher: Boa Rechtwerfcihren hei König Wmgds Absetzung. 21
grayen von dem Bine, wan der ist ze rehte rihter
über den künic.**)
Hier also wird deutlich gesagt , dass man den König,
wenn er erledigte Fürstenlehen ans Eigennutz behalte oder
sonst eine Beichspflicht verletze, verklagen könne. Jedoch
auf Absetzung wird in dieser Stelle nicht hingedeutet, üeber-
haupt war eine Handlung des Königs, durch welche ein Beichs-
grundgesetz gebrochen schien, noch kein Grund, ihn des Beichs
verlustig zu erklären. Die Beichsgrundgesetze lebten meist nur im
Oewohnheitsrecht, dieses aber war in den meisten Fällen erst
durch das Weisthum des Pfalzgrafengerichts festzustellen.
Da also die Bechtsbücher keine bestimmte Theorie geben,
so sind die Thatsachen näher anzusehen, auf welche sich die
geschichtlich gewordenen Fälle der Absetzung gründen sollten*
Auch darin lässt sich zwar im Einzelnen keine feste Bechts-^
xegel finden, wohl aber blickt im Grossen und Ganzen ein
Grundsatz durch. Dem König wird die Beichsregierung ge-
nommen aus sittlichen Gründen, oder um vom Beiche grösseren
Schaden zu wehren: er wird entweder als der Krone un-
würdig, oder als dem Beiche verderblich bezeichnet.
Das Erste tritt ein, wenn er unköniglich lebt und Handlungen
verübt, welche ihm die Achtung der Nation rauben und ihr
Ehrgefühl verletzen. Das Zweite ist der Fall, wenn durch
den König das Beich an Ehre Bechten und Ländern Schaden
leidet, sei er dabei mit böser Absicht, oder mit grober Fahr-
lässigkeit betheiligt. Wir beginnen den Ueberblick über die
Fälle, in denen von des Königs Absetzung die Bede, von den
jüngsten Zeiten, um zu den ältesten aufzusteigen.
1. Um das fahrlässige Wesen, mit welchem der Kaiser
Friedrich III. sich in Beichssachen verhielt, zu brechen und
ihn zu nöthigen zu thun, »was die gemein Kristenlich, des
Beichs und Deutscher Lande Notdurft heischet«, insbesondere
(35) Schwabensp/ 100.
22 Jahrh. der histor. CUase der k, Akad. der Wissetischaften.
fes Eecht zu schirmen und den Frieden im Reiche herzu-
stellen, sandten die Kurfürsten, welche auf den Reichstagen
za Ktaiberg 1456 und 1461 versammelt waren, zweimal an
*en Kaiser ein Schreiben, worin sie ihm Ort und Tag be-
Minmrten, dass er mit ihnen zusammen komme, um die Reichs-
angelegenheiten zu ordnen. Komme er nicht, so drohten sie
fen, wurden sie sich »umb ein andir Haupt vorsehen«, danach
lÄÖge er sich wissen zu richten.'*)
2. Den König Wenzel setzten 1400 die Kurfürsten ab
»als einen unnützen versumelichen unachtbern entglieder und
unwirdigen handhaber des heiligen Römischen Richs«, und zur
Begründung wurden, wie später des Näheren zu erörtern ist,
die Thatsachen angeführt, dass der König die Kirche in Zvaespalt
lasse, das Reich mindere, in Reichssachen fahrlässig sei, des
Friedens im Innern sich nicht annehme, und mit eigener Hand
und mit andern Uebelthätem, die er bei sich habe, Geistliche
und achtbare Leute gefoltert und unmenschlich getödtet habe
Wider Recht, »das eime Römischen Könige unzemlich stet und
lüdet«.»»)
3. Das Verfahren gegen Kaiser Ludwig IV. im Jahre 1346
hatte zu seiner Grundlage nicht ein deutsches Fürstenurtheil,
welches den Kaiser absetzte, sondern die Kurfiirsten, welche
ihm den Gehorsam aufkündigten und einen Gegenkönig auf-
stellten, fussten auf der Thatsache des dauernden päbstlichen
B^-nnes. Aehnlich verhielt es sich mit Kaiser Friedrich 11.,
König Otto IV. und Kaiser Heinrich IV. Der Papst hatte
die Fürsten aufgefordert, zu einer Neuwahl zu schreiten. Diese
FäUe also lassen wir aus unserer Erwägung ausfallen.
4. üeber die Gründe und Thatsachen, auf weldie hin die
vier Kurförstep im Jahre 1300 zur Absetzung Königs Albrecht I*
(36) Müller, Reichstagstheater III c. II §. 3. — IV c. VII §. 2.
(37) Obrecht 48. 45.
Loher: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung, ^
sdireiten wollten, sind wir nur schlecht unterrichtet. Aventin
berichtet,*®) sie hätten ihn perfidiae et parricidii beschuldigt.
Der gldcfazeitige ChroBist Bebdorff sagt bloss: contra regem
poroposuerunt , quod dominum suum proprium scilicet regem
Aidolfum occidisset, ideo rex esse non posset- *^) Wir wissen nun,
dass die Fürsten besonders über zwei Sachen erbittert wareo^
nämlich, dass der König die Städte und Lande, welche Frank-
reich Yom deutschen Beiche abgerissen, nicht zurückforderte^
im Gegentbeil sich mit dem französischen Hofe innig verbün-
dete, und dass er ferner die fiheinzöUe, welche er bei seiner
Wahl de]i Fürsten förmlich versichert hatte, wieder an's Beicb
bringen wollte. Hierin dachten die Fürsten die Anklage des
Meineides zu begründen: sie behaupteten, der König sei gegen
das Beich, weil er seine Verminderung zugab, und gegen sie^
weil er seine Bestattungen widerrief, meineidig geworden.
Doch wie konnten sie auch erklären, Albrecht habe seinen
eigenen Herrn und König erschlagen? Dem Nassauer war ja^
durch drei jener Kurffirsten am 23. Juni 1298 die Königs*
kröne genommen und am selben Tage dem Habsburger gege-
ben, und am 2. Juli darauf folgte die Schlacht bei Göllheim,
in welcher der Erste den Tod fand. Adolf war also am 2. Juli
far die Kurfürsten, wie für Albrecht, kein rechter König mehr.
Allein hier tritt ein anderer Umstand in die Beurtheilung ein.
Dasselbe, was Pabst Bonifez Vni. Albrechts Gesandten eiv
klärte: „Er ist des Beiches unwürdig, weil er durch Verrath
seinen Herrn erschlug", das rief das Volk aus, als es von
Adolfs Untergang hörte; denn dieser war gekrtoter König, er
war ritterlich gefallen vor Albrechts Augen, als sie mit ihrem
nächsten Gefolge persönlich auf einander rannten. Das war
geschehen noch nicht vierzehn Tage später, seit die Absetzung
aasgesprochen war, deren Vornahme die Einen, da nur drei
(38) Aventinus, Annal. Boj. lib. VII c. 13 no. 8.
(39) Henrie. Rebdorff.
24 JcUtrb, der histar. Classe der k, Akad, der Wissenschaften.
Kurfürsten daran Theil nahmen, mit Kecht för ungültig,
und deren Gründe die Andern, und zwar nicht bloss die
zahlreichen Getreuen des Königs, für unzureichend erklärten.
Albrecht musste sich vor dem allgemeinen Unwillen, der sich
«rhub, beugen, er entsagte der Krone und liess sich noch
«inmal wählen. Aber das blutige Andenken, dass er den ge-
krönten König erschlagen, blieb an seinem Namen haften und
brachte ihm Hass und Schande bei einem grossen Theile der
Nation. Als die Kurfürsten ihm zwei Jahre später an die
Krone wollten, griffen sie dahinter und erklärten: dass er als
ein parricida des Thrones unwürdig angesehen werde.
5. Bei der Erzählung des Verfahrens der drei Kurfiirsten
von Mainz Brandenburg und Sachsen gegen den vorgenannten
König Adolf, giebt die Kolmarer Chronik eine Art Absetzungs-
urkunde.*®) »Post electionem suam Adolfus rex sapienter se
tenuit, electoribus atque prudentibus acquievit. Post breve
tempus sapientum concüia sprevit, juvenum consiliis acquievit,
et regenda minime terminavit. Divitias per se non habuit,
nee amicos, qui eumvellent fideliter juvare. Electores videntes
hos defectus regis et plus quam viginti alios . . . auctoritate
igitur nobis commissa Adolfum regem insufficientem inve-
nientes, absolvimus eum a regimine dignitatis«. Hier wird
das Hauptgewicht darauf gelegt, dass Adolf ein unköniglicher
Mann sei, junge unerfahrene Leute zu seinen Ministem mache,
die Eeichsgeschäfte liegen lasse, sich weder Macht noch An-
hang zu verschaffen wisse, also kein königliches Ansehen habe,
ein rex insufficiens sei, unpassend für die dignitas regiminis.
Trithemius und andere Chroniken*^) fahren nun die That-
. Sachen, auf welche die Kurfürsten sich stützten, näher an:
1. dass Adolf kein Mehrer, sondern Minderer des Eeiches sei;
2. dass er Becht und Frieden im Inneren nicht stärke, son-
(40) Chron. Colmar. ad a. 1298 ap. ürstis. Rer. Genn.
(41) Chron. Hirsaug. — Siffridus Presb. II 59. — Albertus Argentin.
höher: D<m Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung, 25
dem verwirre und zerstöre, die Fehden aller Orten nicht unter-
drücke, sondern wüthender Kriege Urheber sei; 3. dass er
die Kräfte der Beichsstände durch unnütze Kosten, unerträg-
liche Steuern, und durch innere, nicht auswärtige Kriege auf-
zehre; 4. dass er Fürsten Adel und Klerus mit hochmüthiger
Verachtung behandle, alle Beichsgeschäfte, selbst die wichtig-
sten, bloss nach seinem Kopfe entscheide, und nicht den Bath
der Fürsten, sondern gemeiner Leute Anschläge befolge; 5. dass
er, was ganz besonders unwüi'dig, Geld vom englischen Könige
genommen und die beschworene Hülfe ihm dennoch nicht ge-
leistet habe; 6. dass er die Strassenräuber ihr Wesen treiben
lasse und es gelitten habe, wenn sie fast alle ihre Burgen,
die ihnen König Budolf zerstört, wieder aufbauten. Dieses
w'aren die Hauptgründe, zu welchen noch andere hinzu traten,
wie dass er durch seine Soldaten Frauen und Nonnen habe
entehren lassen, und dass er seine brieflichen Zusagen ge-
brochen. — Es erhellt aber deutlich aus dem Allen, dass die
drei Kurfürsten König Adolf als einen Mann hinstellten, der
dem Beiche Verderben zugleich und Schande bringe.
6. Ueber das Verfahren bei der Absetzung Karls des
Dicken 887 ist uns nichts Näheres berichtet. Dass aber ein
Absetzungsurtheil vorhergegangen, lässt sich sowohl aus dem
früheren Beispiele unter Ludwig dem Frommen, als aus der
Natur der Sache, weil vor der Neuwahl des Königs der Thron
erst musste erledigt sein, als endlich auch aus den Worten
der Quellen schliessen. »Ab illo ergo die« , heisst es in den
fuldischen Annalen, »male inito concilio, Franci et moresolito
Saxones et Thuringi, quibusdam Alamannorum ammixtis, cogi-
taverunt deficere a fidelitate imperatoris, nee minus perficere.
Igitur veniente Carole imperatore Franconofurt, isti invita-
verunt Amulftim, filium Carlmanni, ipsumque ad seniorem
elegerunt, sine mora statuerunt ad regem extolli«. Während
hier die Sache als ein Treubruch aufgefasst wird, heisst es in
den Annales Vedast.« : Franci vero australes videntes impera-
26 Jahrh. der histor, tlasse der k. Akad. der Wissetiscliaßen.
Wris vires ad regendum Imperium invalidas, ejecto
60 de regno, Amnlfum, fiüimL Garlmamii, qui ejus nepo&
etat, in regni solio ponunt«. Karl der Dicke wurde aLsonadi
dieser Stelle für einen rex insuffidens erklärt.
7. Ueber die Gründe, weniger über den Vollzug von
Kaiser Ludwig des Frommen Absetzuiig im Jahre 833 ver^
iNreiteten sich die Quellen ausführlich.^^) Er selbst brannte
zu Compiegne bei seiner öffentlichen Busse: »ministerium
sihi commissum satis indigne tractasse et ideo ob tan-
torum reatuum expiationem publicam et ecdesiasticam se ex-
petere velle dixit poenitentiam .... Post haue confessionem,
chartulam suorum reatuum et confessionis ob ftituram memo-
liam sacerdotibus tradidit, quam ipsi super altare posuerunt«.
Die Absetzung, als ein weltlicher Gerichtsakt, war schon
vorher gegangen: es war ihm »divino justoque judicio subito
imperialis subtracta potestas«. Die öffentliche Ejrchenbus93
sollte far den »adjudicatum absentemet inauditum, nee confi-
tentem neque convictum« '*^) nachfolgen, um den Kaiser för
immer bei dem Volke herabzusetzen. Deshalb erklärte er sich
auch, unter Ablegung seines Schwertgehänges, als einen un-
wehrhaften Mann.**) Schuld g^eben aber wurde ihm Vieles«
»Examinata suntmulta, quae per negligentiam in hoc imperio
contigerunt, quae ad scandalum ecclesiae vel ad ruinam popuM
vel regni interitum manifestis indicüs pertinebant . . . Begnum,
sicut Omnibus manifestum erat, per ejus improvidentiam vel
negligentiam, in tantam venit ignominiam et vüitatem, ut non
solimi amicis in moestitiam, sed etiam inimicis venerit in
derisionem«. In der cartula reatuum wird ihm Schuld gege-
ben: Missbrauch der Beligion und des Familienrechts, Zer-
(42) Episcoporum de exauctor. Hludow. imp. rel. Pertz Leg. I
366—369.
(43) Vita Hludowici imp. Pertz II 837.
(44) Vgl. H. Schnitze 10—16.
Loher: Da» Sedhüteffakren bei Kimig Wemek Ahseizunß. 27
Strang des Fmedensbrnuliiisses ^iner Söhne, Veracbtang d«r
heiligen Zeiten, Verleitung zu falschem Uiiheil wid Tödtong
Unschuldiger, schlechte fiechtspi^e, verderMiche Heereszüge,
Iraranmt eine Menge ungenamriter Thatsadien^ ans wddieii
nicht Uoss »regni periclitatio et regis dehonestatio« , s<Midern
zidetzt yp(q)uli communis interitos« hery(»:gehe.
Es war also bei der ersten Königsabeetzong dasselbe
Verfahren, wie bei der letzten. Es wurden Thatsachen ver*-
aeichnet, aus welciien hervorgehen sollte, dass der König d^
Krone unwerth sei. Nicht die Thatsache an sich war die
Ursache der AJasetzong, sondern insofern sie den Beweis liefetter
dass der König dem Keiehe Schaden und Schande bringe.
Alle solche Thatsachen Uessen aidi nicht zum Voraus theore^
tisch bestimme, das öffentliche Nati<»ial- und Ehrgefühl sprack
wtsenüich mit, wie die eine oder andere an&ufassen. Es ev^
Uärt sich daher auch, warum die Bechtsbücher sich enthalten,
Qivmde für die Absetzung eines Königs anzugeben, obwohl sie es für
geböte hielten, das Becht des Papstes, einen deutschen König
in den Bann zu tfaun, zum Voraus auf bestimmte Fälle zu
beschränken.
V. Fürsten- und Städtekrieg.
Ehe wir nun untersuchen, ob die Gründe, welche iur
Wenzels Absetzung angduhrt wurden, historisch und juristisch
haltbar sind, ist es nöthig, über Gang und Inhalt seiner Be-
gieiomg zuvor einen Ueberblick zu nehmen. Die Thatsachen,
welche hierbei in Betracht zu ziehen, m.i von Pelzel, Palackjy
insbesondere von Höfler, der in's Einzelne eingehend seine
Yergänger vieKach berichte, aus den Quellen im Ganzen ge^
BiBuaien fei^estellt. Dagegen erscheinen dieselben Thatsach^ai
bei allen drei Sduiftstellem etwas verschoben und im Einzelnen
B^pnchmal unrichtig aufgefasst. Wenn man sie in ihrer natür^
28 Jahrh, der histor. Cltisae der k. Akad. der Wissemchaften.
liehen Verbindung Zeitfolge und Bedeutung betrachtet, ge-
währen sie ein anderes Bild.
Die lange Begierung von Wenzels Vater erschien für
Deutschland als eine friedliche. Auf die heftigen Stürme,
welche unter dem tapfem Ludwig dem Bayer das Eeich er-
schüttert hatten, war ein Menschenalter gefolgt, in welchem,
die Menge der unvermeidlichen kleinen Fehden abgerechnet,
die tiefen Gegensätze zu ruhen schienen, welche Deutschland
innerlich bewegten. Kaiser Karl IV., der grosse Meister aller
Friedenskünste, hatte gedämpft und beschwichtigt nach jeder
Seite. Mit allen Mächten wusste er sich gut zu stellen: frei-
lich geschah das unter Einbussen des Reichs, aber es geschah
immer mit dem schönsten und würdigsten Anstände von der
Welt. Um die Kaiserkrone und den Frieden mit dem Papste
zu haben, unterschrieb er, was die Curie nur begehrte. Er
ging soweit, dass er den Fabst ersuchte, er möge doch seinen
Sohn Wenzel zum römischen König „ernennen". Die Freund-
schaft des französischen Hofes hielt Karl IV. des Opfers von
alten Eeichsrechten über einige Lande werth, die er doch ver-
loren glaubte. Was damals Glorreiches durch deutsche Waffen
gethan wurde, wie von den Hansestädten im Norden, begann
und erfolgte ohne den Kaiser. Der innere Frieden wurde
erkauft, indem der König den Fürsten die Eeichsgüter nicht
bloss, sondern auch, soweit es möglich war, die gemeinen
Freien preisgab. Wohl empfand Deutschland die Wohlthat
seines friedlichen Strebens, — allein geheilt, gründlich geheilt
war kein einziges der grossen Gebrechen in Staat und Kirche.
Das Hauptziel seiner Begierung, — Böhmen zum Stützpunkte
der deutschen Krone zu machen, und zum Hauptlande, an
welches deutsche Länder anzuschliessen , — hatte Karl IV.
allerdings beinahe erreicht. Dagegen sein grosses Eeichsprojekt,
in dem Verbände der sieben Kurfürsten eine ständige Ordnung
des Beichs zu begründen, ihren Landen möglichst viele an-
dere anwachsen zu lassen, darin die alten Nationalherzog^
Loher: Bas Rechtsüerfahren bei König Wenzels Absetzung. 29
thümer herzustellen, — dieses Project, das er in der Goldenen
Bnlle verfolgte, sah er nur zum kleinen Theile in Erfüllung
gehen. Unterdessen war die französische Politik, mitten unter
ihren englischen Bedrängnissen, gegen Deutschland kühner
und thätiger geworden. Das Fabstthum war den französischen
Einflüssen noch nicht entrückt: zwei Monate vor des Kaisers
Tode trat ein französischer Papst dem römischen gegenüber.
Auch der sociale Gegensatz, welcher Kaiser Ludwigs Begierung
in Deutschland so unheilvoll erfüllte, hatte nichts von seiner
Schärfe verloren. Je mehr der Kaiser den Fürsten zugestand,
um so höher stieg Macht- und Selbstgefühl in den handeis-
und wafifenreichen Städten; je glanzvoller die Eitterschaft ihr
Haupt erhob, um so grimmiger stiessen die derben Männer
der Zünfte das alte Patriziat aus den Städten hinaus. Hier
Fürsten und Herren, dort freie Bürgerschaften, — beide Mächte
waren noch im letzten Begierungsjahre des Kaisers mit wilder
Wuth über einander hergeiallen, mit Mühe hatte er sie be-
schwichtigt.
Unten solchen Umständen bestieg Wenzel den Thron, ein
sehr junger Mann, dessen Leben noch keinen andern Inhalt
aufzeigte, als grosse Jagdlust und Neigung für Gelage und
hübsche Bürgertöchter. Hohe Berge von Aufgaben lagen vor
ihm. Seine Kraft daran zu setzen, dazu hatte er guten Willen,
war auch nicht ohne natürlichen Witz und Verstand. Schon
frühe aber äusserte sich sein schlimmster innerer Feind: Mangel
an würdiger Haltung, laimiges Abspringen vom Ziel, Lust
wenn es drunter und drüber ging.
Die erste Aufgabe war, Ordnung im Heiligsten zu schaffen,
in der Kirche. Als keines der beiden romanischen Völker,
weder die Franzosen noch die Italiener, den Vortheil des
päbstlichen Primats aus den Händen geben wollte, da musst<e
der deutsche König dazwischen fahren, nach Eom ziehen, die
Ordnung herstellen, die Curie mit deutschen Kräften erfrischen,
die deutschen Bischöfe, welche den Cardinalshut ausschlugen,
so Jahrb. der JUstor, Classe der k, Aktid. der Wissenschaften.
aur Annahme der Würde und zur Erfüllung der Pflichten:»
welche sie enthielt, zwingen. Doch der König war ein siel>-
zehnjähriger Jüngling, und die Zeit der Ottonen und Sali»
längst vorbei. Die Politik seines Vaters hatte Wenzel Fern*
kalten von den römischen Händeln gelehrt. Er war überdies
durch die deutschen Wirmisse gebunden. Auf Anrathen der
riieinischen Kurfürsten that er wenigstens das Nöthige, um
dem römischen Pabste Urban durch das einmüthige Aner-
kenntniss Deutschlands einen mächtigen Halt zu geben, und ^
England zu seiner Obedienz herüberzuziehen. Es war insbe*
sondere der alte Kurf&rst von der Pfalz, der seine Genossen
von Köln und Trier im Jahre 1380 zu dem entschiedenen
Entschluss und Bündniss brachte : sie wollten Jeden im Beiche^
der Urban, »der ein rechter erweiter und gecroneter Babist
ist und auch in rechter Besitzunnge Bebsüichs Stols«, nicht
anerkenne, an seinen Landen Schlössern und Leuten angreifen,
schädigen und verderben, so stark sie es könnten, ihm auch
seine Zölle zu Wasser und zu Lande zerstören. ^*'^)
Auch in lleichssachen hörte der junge König auf den
Bath redlicher Männer. Es kam Alles darauf an, einen neuen
Kriegsausbruch zwischen Herren und Städtern zu verhüten.
Denn schon zogen hier und dort streitlustig die Banner und
Fähnlein, es entstanden ritterliche Gesellschaften und suchten
Anlehnung an mächtige Fürsten. Die Städteboten tagte»
unaufhörlich und berechneten die Massen ihrer Eeisigen und
Wagenburgen und die Tiefe ihrer Geldkassen. Me Fürsten
aber versicherten einander in^eheim ihres Beistandes. Konnte
das Eeichshaupt diese Alle noch im Schach halten ? Oder auf
welche Partei sollte es selbst sich stützen? Waizels Vater
hatte es mit den Fürsten gehalten, der Sohn neigte den
Städten zu. In der That, eine kluge Politik konnte, gestötet
(45) Wencker, Apparatus et instructus Archivormn. Strtis*^
bmg 1718. S. 224. 225. 226.
höher: Bus Bechtsverfahren hei König Wenzds ÄbseiMmug. 31
anf die Städte, noch immer Grosses erreiehen, noch immer
gründlicher durchgreifen, als Albrecht I. es fhat: ein starker
Neubau des Reiches war noch möglich. Die Bargergemeinden
brauchten Nichts, als einen königlichen Führer, der in ihse
von Natur langsamen Verbindungen Schwungkraft brachte,
der ihr halbes und unklares Wollen auf ein helles Ziel hift-
fahrte. Noch war die städtische Macht der forstlichen üb^-
legen, noch Hessen sich zahllose Städte mit leichter Mühe
reichsfrei machen, noch konnte das Pfal- und Äusbürgerwesen
d^ Fürstenherrschafk den Boden unter den Füssen unterhöhlen.
Und wie, wenn es weiter gelang, auch die freie Bitterschaft
um den König zu sammeln, auch ihr eine Stellung zu yer<-
jßhaffen, die ihrem Freiheitsgefühl und ihren Kräften entsprach!
Der Weg zu solcher Beform des Beiches war in den Land-
friedensbünden gegeben. Ganz Deutschlaaid musste sich mit
j9olchen Bünden bedecken, der König sich in jedem Bunde an
^ie Spitze stellen, in dessen Verwaltung aber mussten auch
idie Bischofs- und Fürstenstädte Sitz und Stimme erhalten:
Dann liess sich mit der G^sammtheit der Landfriedensbünde
und ihrer Glieder, denen nun thatsächlich ein bedeutender
Theil des Kriegswesens zu ordnen oblag, der Beichstag neu
bestellen.
Wenzel betrat diesen Weg und mit Glück. Der rasche,
immer grössere Gebiete umfassende Abschluss der Landfrieden^-
bündnis^e, welche unter des Königs Führung zu Nürnberg,
Heidelberg, Mergentheim zu Staude kamen, bewies, was zm
jerreichen stehe, üeberall, wo diese Bünde tagten, zeigte sieh
4sLS Uebergewicht der Städte. Schwieriger war es, die Bitteiv
«cbaft in die richtige Stellung zu den Städten zu bringea.
Das Ausbürgerwesen, das bereits emea ansehnlichen Theil dets
Landadels umfasste, liess sich jedoch trefflich dazu benutaen. Der
König begünstigfte einstweilen die Bitterbände, wie er ubeiv
haupt sich mit allem schien einzulassen, was der Fürstenherr-
schaft gefährlich war.
32 Jahrb, der histor, Glosse der h Äkad. der Wissenschaften.
In welchem Grade die Landesherren besorgt und erbittert
waren, zeigt sich darin, dass sie im Jahre 1386, — im Anblick
und Nachahmung dessen, was die westfälische Fehme damals
vermochte, — einen geheimen Bund geschlossen hatten, welchen
sie ihren Faym Messen. Wollten sie nun an Einen heran,
so wurde ein Eechtsvorwand gegen ihn gesucht und er vor-
geladen. »Wildenne«, so schrieben es dieülmer an die andern
Städte, »eyner den Faym nitsweren, oder wilsich nit verant-
worten, er sy uf dem Land oder in den Stedten gesessen, so
verfaymt man in. Item und wer denne verfaymt wirt, so hat
man Faym-Grrafen heimlich darüber gesetzt, dass nieman weiss,
wer die Faym -Grafen sint, denne sie selber unter einander,
und dieselben Faym-Grafen und auch alle die, die den Faym
geswom haben, sint des gebunden by iren Eiden, dass sie alle
die, die verfaymt sint, wo sie die ankomen, ane alle urteil
haben sollen«. Auf das Letzte kam es an: einen Verhasst^
den verschworenen Genossen als heimlich Verurtheilten zu be-
zeichnen, an welchem Jeder sich erholen könne, ohne ihn erst
vor ein Gericht zu fordern. Ganz besonders aber war der
Faym darauf angelegt, die Untersassen der Landesherren,
sowohl Edelleute als Bauern und Städte, durch geheime Eide
und Furcht so zu verstricken, dass sie es nicht wagten, als
Pfal- oder Ausbürger in der Städte Schutz und Scliirm zu
treten. **)
Soweit war es bereits in Deutschland gekommpn. Der
grosse Städtebund erhob sich zu einer furchtbaren Macht, die
Eittergesellschaften verstärkten sich, den Fürsten wurde bange,
wie sie sich der neuen Dinge erwehren könnten. Da — als
Alles sich drohend gegenüberstand — erlosch plötzlich des
Königs Wüle und Thätigkeit. Sein Geist schaute nicht in's
Weite, und noch früher ging ihm die Lust aus, eine ernste
Auigabe zu verfolgen. Nachdem er die Fürsten erbittert.
(46) Wencker 248—249.
Loher: Das Rechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung. 3S
Städte und Kitterschaft in Gährung gebracht liatte, ging er
taf zwei Jahre nach Böhmen und überliess Alles sich selbst.
Vergebens sandten ihm die Beichsstände Boten, dass er wieder
miter ihnen erscheine.
Nun entluden sich die Gewitter. Es verbürgerte sich
ein halbes Hundert deutscher Städte mit den Schweizern. Es
folgte die furchtbare Sempacher Schlacht, in welcher Leopold
von Oestreich fiel, der Löwe def Eitterschaft, und mit ihm so
viele Herren und Edle erschlagen wurden, dass Wehklagen
ersdioll auf allen Schlössern Süddeutschlands. Der König
kam jetzt nach Nüi*nberg, jedoch nur, um sich mit neunund-
dreissig Städten zu Schutz und Trutz zu verbünden. Wenzel
verhiess ihnen, ihren Bund und ihre Freiheiten aufiecht zu
kalten wider Jedermann, und die Städte schwuren : sie wollten
ihm helfen wider Jeden und besonders gegen den, welcher
sich zum römischen Könige aufwerfen und ihn vom Beiche
drängen wolle. *") Man sieht, wie schon damals die Fürsten
zmn Aeussersten entschlossen waren und Pläne machten, sich
des Königs durch Absetzung zu entledigen. Noch ein anderer
Vorgang beweist das. Der Kurfiirst von Mainz suchte sich
nrit Eheinstädten auf guten Fuss zu setzen und verlangte von
ihnen die Verpflichtung: wenn Wenzel mit Tod abgehe, oder
das Eeich sonst erledigt würde, nur den als König anzu-
erkennen, welchen der Kurfiirst mit zwei oder mehreren Kur-
ftrsten wählen werde. **)
Diese Eheinstädte lagen bereits in wildem Kriege mit
dem PfiUzer Kurfürsten. Noch einmal gelang es, zuMergent-
hdm am 5. November 1387, den Landfrieden, das hiess nur
noch den Waffenstillstand, auf zwei Jahre zu verlängern. Da
wollte es vierzehn Tage später das Unglück, dass Pfelzgraf
Enprecht an den Erzbischof von Salzburg, der mit den Städten
(47) LüDig, Spicileg. pars sp. cont. IV., Th. I p. 881.
(49) Schwab, Geschichte des rheinischen Städtebandes. 366 if.
3
34 Jahrb, der histor. Glosse der k, Akad. der Wissenschaften.
sich besonders verbündet hatte, Hand anlegte wider Kecht
und Geleit: sogleich stand Alles in Flammen. Wenzel rief
die Städte zum Kampfe auf wider den Landfriedensbrecher,
er selbst, der König, schickte ihm einen Fehdebrief. Man
musste erwarten, er werde sich an die Spitze der längst ge-
rüsteten Städtemacht stellen, das Beispiel König Albrechts
wiederholen, die Fürsten schrecklich zu Paaren treiben. Allein
Wenzel lag wieder verstrickt' in seinen böhmischen Händeln,
während ein entsetzliches Kriegswüthen Deutschland verheerte.
Vom Ehein bis an den Böhmer Wald und bis an die Alpen
sah man brennende Schlösser und Dörfer, zerstampfte Saaten,
ausgerodete Weinberge, zahllose Schlachtfelder voll Leichen.
Den Städten fehlte ein Oberhaupt: so waren sie hier und dort
besiegt, ehe sie im Plane einig und mit ihrer Heeresmacht
beisammen waren. lieber ihre Niederlagen erbittert, geriethen
sie unter einander in Aerger und Misstrauen. Jetzt unter-
handelten die geistlichen Fürsten eiMg den Frieden, und jetzt—
fiel Wenzel von den Städten ab. Die Fürsten und Herren
gelobten sämmtlich: sie wollten von ihren Bündnissen lassen
und einen Landfrieden schwören, welqhe Stadt das auch thue,
solle mit ihnen allen gesühnt sein. Da verkündigte der König
im Mai 1389 den Landfrieden zu Eger, und gebot allen
Städten, ihn zu schwören. Alle ihre Bündnisse sollten abge-
than sein, nur des Eeichs und Königs Landfriedensbund soUte
bestehen. Allerdings, das war das einzige und richtige Prin-
cip, wenn man einmal nichts mehr wollte, als das Keich lassen
wie es war. Doch woher sollte dann auf die Länge die Macht
kommen, den Frieden zu wahren? Zögernd und missmuthig
traten die Städte dem Landfrieden bei, jedoch nicht alle.
Diese Ereignisse liessen einen tiefen schweren Eindruck
zurück. So plötzlich, so frirchtbar hatte man sich in einem
allgemeinen Kriegswüthen befunden, mitten in Deutschland,
ohne dass, wie sonst, Gegenkönige das Eeich theilten. Alles
erkannte, dass Deutschland ge&hrlich erkrankt war, und dass
Löher: Das Bechtaverfahren bei König WenzeU Ahseteung. 35
sein Arzt ein leichtsinniger Pinscher war. Der Städtebund hatte
einen heillosen Stoss erlitten, vor den Augen der Fürsten hatte
sich plötzlich ein Abgrund aufgethan : Alles war aufs Aergste
gekränkt und erbittert. Der König aber war es gewesen,
welcher die Parteien wider einander au%estört, und als es
zum Schlagen kam, hatte er sich von jeder Partei fem gehal-
ten, und zuletzt so sehr allen Halt verloren, dass er nach
der Fürsten Willen die Städtebünde für unrecht und ungültig
erklärte. Von da an war Wenzels Ansehen so tief, so allge-
mein erschüttert, dass es sich niemals wieder erholte. Kein
Mensch traute ihm mehr. Der König, so schrieb der Nürn-
berger Patrizier Ebner, habe es gern gesehen, und allen Fleiss
angewendet, dass Fürsten und Städte einander geschwächt und
zu Nichts würden, damit er ihre gefürchteten Bündnisse als-
dann leichter auflösen, selbst aber des Reiches Szepter und
Krone behalten möge; deshalb habe es ihm auch behagt, dass
so viele Eitterbünde aufgestanden und an Macht und Gewalt
trefflich zugenommen, — wie er denn auch anfangs die Ge-
sellschaft der Schlegler auf eine gewisse Zeit bestellt und ihr
2000 Gulden zugeschickt, dass sie seiner warten und ihm
behülflich sein solle, wenn er ihrer bedürfen würde. *^) »Gott
gebe dem Beiche und der heiligen Christenheit dermaleinst ein
rechtes Haupt«, schrieben die ßegensburger in ihr Stadtbuch. *®)
Wenzel selbst, vor dessen Geiste jetzt erst die furchtbare Höhe
seiner Aufgaben und die eigene innere Leere klar wurde, dachte
an Abdankung. Sein ehrsüchtiger Vetter, Markgraf Jost, be-
warb sich bereits um die Kurstimmen. * ^) Die Kurfürsten
aber, welche sich nicht zum drittenmal einen Luxenburger
wollten aufdrängen lassen, verbündeten sich im Jahre 1390, sich
gegen Jedermann, der ohne ihren Willen nach dem römischen
(49) Wencker, Apparatus et instruct. archiv. 1713, p. 255.
(50) Gemeiner, Regensburger Stadtbuch. 261.
(51) Palacky, Gesch. von Böhmen. Ill 1. S. 51—52.
3*
36 Jähr^. äer higk)f: Cia>sH der k. Äkad, der Wissenschaften,
ftöiche imiit gewÄlt stellen oder darumb krigen wollte oneder
tiirfürsten willen«, getreulich zu helfen, »dnrchdass dasRiche
fe öeyme Wesen und Eren Wiben möge als das herkomen ist«. **)
VL Wachsende Erbitterung gegen Wenzel.
Die defütsche Geduld brachte indessen Alles noch einmal
in's Gleiche. Der König war jetzt siebenundzwänzig Jahre
alt geworden, und man durfte hoffen, so herbe Erfahrungen
hätten ihn gereift. Was that nun Wenzel? Gerade das
Schlechteste, was er thun konnte. Statt in tüchtiger Tätig-
keit Ansehen und Ruf herzustellen, ging er nach Böhmen und
kam in acht Jahren nicht wieder nach Deutschland. Die ver-
worrenen deutschen Geschichten waren ihm gründlich zuwider
geworden: nun liess er sie gehen, wie sie gehen wollten. Es
t^ar unerhört, dass ihr König das den Deutschen zu bieten
Wägte.
Da fanden denn fi-eien Spielraum all die schrecklichen
Gerüchte von des Königs Treiben und ünthaten. Man hörte,
dass er den Wucher der verhassten Juden beschütze, und die
Prager unter ihnen ein grässliches Blutbad angerichtet; dass
^r sich mit Günstlingen gemeiner Abkunft umgebe ; dass wüthen-
des Jagen seine einzige Lust und Freude; dass ein Vergif-
tungsversuch in seinem Innern einen brennenden Durst zurück-
gelassen, den er durch unmenschliches Trinken zu löschen
suche. Dies und vieles Andere wurde vom Gerüchte übertrie-
ben: eine fürchterliche Thatsache aber, die weltbekannt, war
nur zu wahr. Wenzel theilte den Hass gegen die GeistMchkeit,
der schon damals in den deutschen Städten sehr verbreitet
war. Einst, im Streit mit dem Prager Erzbischof, gerieth er
in Wuth, liess dessen Vicare ergrrifen, foltern, brannte ihren
(52) Wencker, 413.
-f.
Jjöher: Das Rechtsverfah'en bal König W&iizeh ÄbsetJ^ung. S7
Leib mit eigener königlicher Hand, und üess den einen von
ihnen, Johann von Pomuk, geknebelt in die Moldau werfeiL
Auch die hochberühmte Universität Prag litt schwer unter
«einen Eingriffen: Huss, der Führer der Czechen, erhielt diQ
Oberhand, die deutschen Studenten mit den vornehmsten Pxo^
fessoren fingen an auszuwandern und eifüllten Deutächlan4
mit ihren Klagen und Verwünschungen. Ihnen auf dem Fussa
folgte die Kunde: Wenzel liege in Haft, sein Bruder und diQ
böhmischen Landherren hätten Hand m ihn gelegt, ihn voq
Schloss zu Schloss und zuletzt nach Oestreioh geschleppt. Da
l^ber fühlte das deutsche Volk sich in seinem König misshan-*
delt, ein Reichsheer setzte sich nach Böhmen in Bewegung,
der verzagte Wenzel erhielt seine Freiheit wieder. Auf seiner
Ehre blieb ein gräulicher Flecken haften. Wei;in sein eigenes
Erbland stets voll Aufruhr und Verwirrung war, was liess sich
von Wenzel Durchgreifendes für Deutschland hoffen?
Jeder Einsichtige wusste zuletzt, was er an diesem Könige
hatte, und gab alle Hoffnung auf. Wenzel war nicht boshaft, son-
dern von Natur gutmüthig, wohlmeinend und leicht versöhnt.
Er war gebildet, sprach gut Latein, und wusste sich, wenii
er nüchtern war, freundlich und fürstlich zu benehmen. Allein
eine Eigenschaft hing ihm an: er war launig und charakterlos
aus Schwäche. Wenn sich vor ihm ernste Aibeit erhob, die
Muth verlangte, dann überfiel ihn plötzlich feige Trägheit,
dann wurde er unmuthig und störrig wie- ein eigensinniges
Kind, dann liess er sich von Zorn und Wein übermannen,
und konnte wüthen wie ein wildes Thier. ^*) Wenzels Charak-^
ter zeichnet der Brabanter Geheimsekretär Edmund Dyntey,
ein kluger weltgewandter und wahrhaftiger Mann, insoweit
höfische Rücksicht seine Feder nicht zurückhielt.^*) Dyu-
ter schildert unter Anderm, wie Weji^el ihn in Prag als
(53) Wencker 260.
(64) Dynter, Chronica nob. duc. Loth. et Brab. tom. III. oap. 88
p. 72—78.
>
38 Jährt, der histor. Glosse der k. AJcad, der Wissenschaften,
Gesandten empfing, und sagt dort: »Qui quidem Wenceslaus
diu vixit et suo tempore nichil aut modicum boni fecit neque
lande seu narracione dignum. Quando ad leticiam vel sobrie
bibit, tunc fuit optime conversacionis, prudens et discretus
princeps; comites et barones et oratores sive nuncios regum
et principum ad ipsum yenientes honorifice, sicut regalem decet
magnificenciam, receptavit benigne audivit et generöse pertrac-
tavit. . . Pari modo ambaxiatores ducis Anthonii (Brabant.),
cum quibus ego ad suam majestatem fui missus, in suis castris
Karlestyn, Toetzinck, et Nuwenhuse benigne recollegit et graciose
audivit et eipedivit. Et literas Serenissimi quondam Earoli
regis et aliorum principum Francie in latino scriptas, per nos
sibi presentatas, ipsemet aperuit, legit et continenciam ipsarum
nobis exposuit, et de statu eorundem affectuose per nos cer-
ciorari desideravit; similiter et de statu baronum ducatuum
Brabancie et Lucemburgis, quorum noticiam aliqualem habuit
ut asseruit; fuit enim bene literatus, latinum congrue loquens.
Meque postea per manum capiens duxit in quandam aulam,
in qua preciose imagines omnium ducum Brabancie sunt depicte,
dixitque ad me, quod illa sua esset genealogia. . . Quando vero
ipse rex Wenceslaus bibit excessive et ad ebrietatem, incurrebat
quandam furiam, et fiiit tunc multum perversus ap periculosus«.
Zur sittlichen Verachtung gesellte sich in Deutschland
mehr und mehr der politische Hass, denn Wenzel verdarb es
gründlich mit allen Parteien. Geschickt im Anzetteln der
Dinge, überliess er die Entscheidung dem Zufall. Er hatte
die Eitterbünde gefördert, und königlich gesinnt erwarteten sie
Viel von dem Könige. Als aber der grosse Schleglerbund
1395 in Krieg mit den Fürsten gerieth, liess We,^zel gerade
90 die Bitter im Stich, wie einst die Städte. Der Bund wurde
zersprengt. Die Bitter waren empört, aber die Fürsten groll-
ten nichtsdestominder über die neue Gefahr, welche ihnen der
König zugedacht hatte. Den Fürsten zum Gefallen erklärte
Wenzel den Eitterbund für reichswidrig, und um den Adel
Loher: Das Becktaverfahren hei König Wenzels Absetzung, 39
ZU begütigen, nahm er Bitter und Knechte des Schleglerbun-
des in seinen persönlichen Dienst. Die fränkischen Beichs-
städte aber verbanden sich mit benachbarten Fürsten wider die
Bäubereien der Schlegler, die kein Becht annehmen wollten.**)
War es zu verwundem, wenn jetzt funfeehn schwäbische Beichs-
städte sich mit dem Herzog von Oestreich verbündeten, und
ihm versprachen, sie wollten zu ihm stehen, dass er die Krone
bekomme, wenn das Beich erledigt würde?
Zu dieser Zersetzung des Beiches im Innern brachten die
nächsten beiden Jahre schwere Verluste nach Aussen. Die
Visconti hatten sich im Herzen von Oberitalien ein ansehn-
liches Fürstengebiet begründet, dessen Mittelpunkt Mailand
war, und das sich von Vercelli bis Brescia, von Como bis
Alessandria und Parma erstreckte. Johann Galeazzo, der sei-
nen Oheim vergiftet hatte, eroberte Verona Vicenza Padua
hinzu, machte die kleinen Fürsten, indem er sie in seine Bun-
desgenossenschaft hinein nöthigte, zu Vasallen, und hatte bald
nur noch in den Florentinern und Venetianem den einzigen
Widerstand zu bekämpfen, welcher der Ausdehnung seines
Beichs über ganz Ober- und Mittelitalien entgegen stand.
Schon fährte er schweren Krieg mit Florenz. Mit diesem
höchst schlauen kühnen und gewaltthätigen Mann hatte sich
Wenzel besonders befreundet. Erst hatte er ihn zum erblichen
Beichsstatthalter gemacht, im Mai 1395 aber erhob er ihn
far ein Gteschenk von 200,000 Goldgulden zum Herzog der
Lombardei, und gab ihm das Jahr darauf auch noch dieBeichs-
grafschaft Pavia. Beides geschah, ohne die Kurfürsten zu
fragen, und wahrscheinlich, nachdem sie bereits sich dagegen
erklärt hatten: nach der goldenen Bulle aber durfte eine so
wichtige Veränderung im Besitzstande des Beichs nicht erfol-
gen, ohne dass die Kurfärsten förmlich einwilligten. Zu gleicher
Zeit liess der König es zu, dass die französische Herrschaft
auf Kosten des Beichs vorrückte im Süden und Norden. Die
(55) Wencker 260.
40 Jalvrb. der histor. Glosse der k, Äkad, der Wissenschaften.
Franzosen besetzten 1396 Genua, und die Stadt musste sich
in Frankreich einverleibt erklären. Im selben Jahre reisete
Johanna, die Begentin von Brabant und Limburg, nach Fans
und setzte einen französisch-burgundischen Prinzen zum Erben
dieser beiden deutschen Herzogthümer ein.
Das Alles musste den Unwillen gegen Wenzel steigern,
Verdacht der schlimmsten Art gegen ihn aufkommen lassen.
Man wusste, noch von seinem Vater her standen sein Haus
und das französische Königshaus in einem innigen Familien-
bündniss. Nun war in Frankreich der Herzog von Orleans
der eigentliche Begent, dessen Schwiegersohn aber und Ver-
trauter war eben der gefürchtete Johann von Galeazzo. Schien
es nicht, als sei das Beich auf seiner Süd- und Westgränze
den Italienern und Franzosen preisgegeben?
Das deutsche Volk hätte vieUeicht noch lange dazu stiU-
geschwiegen, etwas Anderes aber griff stärker an seine Ehre
und sein Gewissen. In der heüigstßn Sache, in der Kirchen-
sache, liess Wenzel den Fremden freie Hand. So lange er
regierte, war die Christenheit in Zwiespalt und Unruhe des
Schisma wegen, und er that Nichts, dem [Tnheil zu steuern.
Offenbar waren französische Einflüsse thätig, ihn zurück-
zuhalten, und es kamen die verwirrten Händel in Deutschland
und in Böhmen, welche ebenfalls den König nicht losliessen.
Trotzdem öffnete sich doch mehrmals gute Zeit und Gelegen-
heit zum Bömerzug. Im Jahr 1390, als zu Eger derBeichs-
frieden besiegelt, in Böhmen die Buhe einigermassen hergestellt,
in Bom aber ein freundlicher und geschmeidiger Pabst gewählt,
und das grosse Jubeljahr der Christenheit verkündigt war,
sollte Wenzel endlich die Fahrt nach Italien antreten. Der
Pabst bewilligte zu den Kosten einen Kirchenzehnten, und die
Beisigen, welche den König über die Alpen begleiten sollten,
fingen an sich zu rüsten. Auf einmal hatte Wenzel wieder
die Lust verloren und blieb wieder in Böhmen sitzen. Vier
Jahre und noch einmal sechs Jahre später drang sein Bruder
höher: i>flw Bechtsc erfahren bei König Wenzds Absetzung. 41
Sigismuud auf das Emstlichste iu ihn, jetzt eudlich sich die
Kaiserkrone von fiom zu holen; geschehe es nicht, so werde
ihrem Hause auch die deutsche Krone verloren gehen. ^*)
Wenzel jagte unbektunmert in seinen böhmischen Wäldern
weiter, mochte auch der Pabst noch so dringend schreiben.
Jetzt nahmen Frankreich und England die Sache in die
Hand. Die Universität Paris forderte, der Avignoner Pabst
solle entsagen; Oxford verlangte dasselbe auch vom römischen.
Der französische Hof konnte zuletzt nicht mehr anders, als
sich dem Begehren der Abdankung beider Päbste anschliessen.
Da sah Deutschland das ärgerliche Schauspiel, wie französische
Gesandte nach Prag zogen, den deutschen König an seine
Pflicht zu mahnen, dass er zu der Kirche Heü sich regen
müsse. Wenzel aber wollte sie kamn vorlassen und liess ihnen
sagen: wenn sie predigen wollten, könnten sie in die Kirche
gehen. Nun liess der König von Frankreich selbst eine Auf-
•»forderung an die Päbste ausgehen, ihrer Würde zu entsagen;
die Könige von England, Castilien, Navarra schlössen sich
dieser Aufforderung an. Alle Deutschen mussten als eine
Schmach es empfinden, dass nicht mehr von ihnen, dem Kai-
servolke, Antrieb und Leitung ausging in den wichtigsten
Sachen der Christenheit. Auch die deutschen Fürsten fingen
an, selbstständig in der Kirchensache zu handeln und empfingen
die Gesandten der fremden Könige. Es stellte sich aber immer
deutlicher hei*aus, ohne das Haupt des römischen Keichs lasse
sich nichts Grosses und Allgemeines beginnen. Nun wurde
das letzte Auskunftsmittel ergriflfen. Es war ima dieselbe Zeit,
als Wenzels nächste VerwAdte Schiedsrichter werden mussten
zwischen ihm und seinen ünterthanen, und ihm einen Kegierungs-
rath von dreizehn Männern zur Seite setzten, ohne welchen
er nichts mehr thun sollte. Die deutschen Beichsstände waren
höflicher, sie forderten den König auf: er selbst solle einen
(56) Palacky 72 93.
42 Jahrb. der histar. Classe der Je. Äkad. der WissemchafUn.
Statthalter ernennen, der an seiner Stelle den fieichsgeschäften
vorstehe. Wenzel war eingeschüchtert: er bekleidete im März
1396 seinen Bruder Sigismund, der ihn damals beherrschte^
mit dem Beichsvicariat. Auch von diesem hatte Deutschland
keinen Trost. Er musste nach Ungarn eilen, um gegen die
Türken zu streiten. Ein grosser stattlicher Heerzug aus der
Bitterschaft aller christlichen Lande bewegte sich yoU Glanz
und Prunk nach der Donau: in dem grässlichen Gemetzel bei
Nikopolis besäeten die Banner und Leichen der Bitter die wei-
ten Gefilde. La seinem eigenen Königreiche Ungarn irrte
Sigismund umher wie ein Verbannter, und seine eigenen Un-
terthanen legten Hand an ihn.
VIIL Wenzels Aussöhnung mit den Fürsten.
.4
So weit war man zu Anfang des Jahres 1397 gekommen,
das heisst, Nichts war gebessert, und der König in Böhmen geblie-
ben. Jetzt aber folgten mehrere Ereignisse, welche ihn end-
lich zur Fahrt nach Deutschland trieben, wollte er anders
noch seine Krone retten.
Ln Januar hatte derPabst den Grafen Johann von Nassau
zum Erzbischof von Mainz ernannt und die Wahl des vom
Kapitel gewählten Grafen Leiningen vernichtet. Für den
letztem, der sich ihm völlig verschrieben hatte, war von Wenzel
alles Mögliche aufgeboten. Liessaber der Leininger in Mainz
sich Simonie zu Schulden kommeif, so wusste der Nassauer ,
der nach Italien eilte, die deutschen Goldgulden in Bom zu
brauchen. Für diesen war in der That auch die wahre Mehr-
heit der Stimmen im Kapitel, der Wunsch der Mainzer, und
der mächtige Beistand des Kurfürsten von der Pfalz, welcher
das Haupt der Fürstenpartei und die Säule der deutschen
Obedienz des Pabstes war. Gleich nach dem Tode des vorigen
Loher: Bca Bechtsverfahren hei Kimig Wenzels Absetzung. 43
Erzbischofs hatte Graf Johann sich mit den drei Fürsten des
pfalzgräflichen Hauses dahin yerbürgert: dass er ihnen, wenn
er zu einem Bisthume gelange, immer treue Freundschaft hal-
ten und ihnen zu »allen Eren und Würdekeiten, darnach si
stellen wollen, wenn di gesin mögen geistlich oder wemtlich,
mit all siner macht, mit all sinen magen und Fründen, die
er dazu erbitten und gehaben mag, beigestendig behulffen und
beraten sin. Es were denn, daz dieselbe, daz Gott verbiete,
pach solicher wirdikeiten wider Gott und wider Eecht stellen
wulten, oder daz er daz von Eren und von Rechts wegen nit
getun künde«. ^^) In diesen Worten lag zwar durchaus noch
keine Hindeutung, dass ein FMzer nach der Eönigskrone strebe,
allein in der innigen und festen Verbindung des vornehmsten
Kurfürsten, des Mainzers, mit seinem mächtigsten Genossen
am Rhein, dem Pfalzer, musste Wenzel einen Berg des Wider-
standes gegen all sein Beginnen errichtet sehen.
Bald zeigte sich, dass die deutschen Stände entschlossen
seien, eigenmächtig vorzugehen und dem Unwesen im Reich
ein Ende zu machen. *®) Im April eröflftieten sie zu Frank-
furt einen Reichstag. Dort erschienen die Gesandten des fran-
zösischen und englischen Hofes und der Universität Paris, und
man verhandelte ohne König mit ihnen, wie das traurige
Schisma zu beendigen. An Wenzel aber erliessen die Fürsten
die neue Aufforderung, einen Statthalter zu ernennen, welcher
in ihrer Mitte erscheine. Sie gaben deutlich zu erkennen, dass
sie seinen Bruder Sigmund nicht wollten. Wer aber war
geeigneter, des Königs Statthalter zu sein, als der altethätige
Kurfürst von der Pfalz, der geborne Reichsvicar?
Doch Wenzel war in den Händen seiner Günstlinge. Als
ein schwacher und doch eigensinniger Herr hatte er sich mit
(57) Gudenus Cod. dipl. III. 617.
(58) Vgl. Brief des Mathias Sobernheim vom 16. Dezbr. 1400 an
Wemher Spaeziger bei Wencker, 267 ff.
44 Jahrb. der hiiftor, CUisse der l'. Äkad, der Wissenschaften.
eiaem Kreise yoa Günstlingen aus niederu Sttnden umgeben.
Diese mochten ihn auf seinen böhmischen Schlöaaern wohl beherr-
schen, hatten sie doch auch in seinem Jäegierungsrathe Sit^
und Stimme: das hörte aber auf, wenn er unter den hohen
und stolzen Fürsten Deutschlands erscheinen musste. Deu
Bann zu zersprengen, in welchem sie den König gefangen
hielten, griff endlich der Obersthoöneister, Johann Herzog von
Troppau und Katibor, zu einem böhmischen Mittel. Es waren
neue wichtige Nachrichten au« Deutschland angelangt, da
wurde der Eegierungsrath des Königs zum 11. Juni auf den
Karlstein berufen. Während der Berathung trat der Herzog
mit ein paar Anderen in ein Nebenzimmer und Hess die Tier
am meisten Verhassten hereinrufen. Die Günstlinge kamen,
nichts Böses ahnend. Er aber fuhr sie an: „Ir Herren, ihr
seid, die Tag und Nacht unserm Hern Ktinig rathen, das ey
nicht gen deutschen landen soll, und wolt ihn bringen von
dem romischen Keichl" Damit rannte er dem Einen den
Degen durch den Leib, und auch die drei Andern wurden auf
der Stelle niedergemacht. Dann ritt der Herzog nut seinen
Helfern zum König, sie knieten vor dem Bestürzten nieder und
brachten ihm Briefe und Beweise, dass die Vier Verräther
gewesen. Und Wenzel liess sich vier Wochen später herbei,
einen öffentlichen Freibrief für die Mörder und die Erklärung
auszustellen: dass jene Vier, «den wir vil Gutes an Eren und
an Gute getan haben, gedient wider ihre geschworene Treue
und Eide, und haben uns an unsern Eren und umb unsern
leibe wollen vorraten, . . . und dovon, was In doi-um recht gesche-
hen, ist nochdem als sie verschuldet haben als unsre Vorreter.
Do werten das sich andere an solcher Geschieht selben straffen
in künftigen Zeiten« *^). Deutlich lässt diese Geschichte Wenzels
Wesen und Charakter kennen, die eigentlichen Anstifter aber
des gerichtslosen Bluturteils waren ohne Zweifel die luxembur-
(59) Wencker 395. Pelzel IL, ürk. B. 26.
Löher: Das Bechtscerfahiren hei König Wenzels Absetzung. 45
gischen Prinzen, welche wohl einsahen, dass Wenzel bei län-
gerem Zögern die deutsche Krone verliere.
Jetzt tauchte auch im Hintergrunde ein Kronbewerber
■auf, der englische König. Schon im vorigen Jahre hatte Sig-
mund seinem Bruder geschrieben: »Ad aures nostras veridica
nwper insinuatione pervenit, et ad vestras quoque pervenisse
non ambigo, Anglorum regem quibusdam subterraneis, ut ita
dixerim, viis ad hoc fastigium (imperialis dignitatis) aspirare,
multosque sibi ad hoc complices ascivisse, quorum nonnulli,
sub spe fallendi, vobis forte suadere moliuntur, nihil de im-
pimo agi. Videte, principum maxime, ad quem ex beneficio
patemo hujuscemodi rei cura principaliter spectat, ne aliquando
in diebus nostris hoc possit accidere, ut Imperium ex nostra
in alienam familiam transferatur« ^^). Bald kam vom Khein
eine neue Warnung über die unterirdischen englischen W^ege.
Im Sommer 1317 verbündeten sich die pialzischen Fürsten,
der Erzbischof von Köln, der Graf von Mors, der Herzog von
Berg und der freie Herr von Dalberg mit dem englischen Könige,
dass sie ihm mit einer Anzahl Lanzen im Felde dienen woll-
ten. Diese Verträge geschahen in der damals üblichen Form,
dass sich die Fürsten zu des Königs Lehnsleuten erklärten und
dieser ihnen Jahrgelder zusicherte. Das Bündniss war nicht
gegen Wenzel, sondern gegen den König von Frankreich ge-
riditet. Die Engländer rüsteten sich, wieder zu erobern, was
ihnen du Guesclin an französischem Boden entrissen hatte,
und in richtiger Würdigung der Gefahr, welche von dem fort-
währenden Vorrücken Frankreichs auf unseren Westgränzen
drohte, hatten sich die rheinischen Fürsten mit England ver-
hündet. Für Wenzel aber, dessen Familienverbindung mit dem
französischenHofe noch bestand, war jenes Ereigniss eine Mahnung,
dass die Fürsten sich nicht mehr an ihn kehren, sondern fortan
ihre eigene Beichspolitik verfolgen wollten.
(60) Palacky 93.
46 Jahrh, der histor. Clasae der k, Akad, der Wusemchaften,
Er erhielt jetzt vom König Yon Frankreich einen schar-
fen Brief, sich der Hebung des Zwiespalts in der Kirche an-
zunehmen. Auch die Frager Universität drängte, dass er
desshalb nach Deutschland gehe. Als nun alle seine Be-
mühungen, des Nassauers Ernennung in Bom rückgängig zu
machen, gescheitert waren, als dieser über die Alpen eilte, um
sich als Kurfürst und Beichskanzler seinen Verbündeten am
Bheine zuzugesellen, als diese Wenzel wiederholt zum Beichstage
entboten : ^ ^) da endlich sah er nach acht Jahren die andere
Seite des böhmischen Waldes wieder.
Im August erschien er in Nürnberg, und es war merk-
würdig, zu welcher Kraft und Entschiedenheit er sich jetzt
aufraffte. Er verkündete aufs Neue den Landfrieden, nahm
Kriegsvolk, erstürmte Baubschlösser und liess ihre Mauern
niederreissen und die Besatzung über die Klinge springen.
Er nahm eifrig seines königlichen Eichteramtes wahr und griff
entscheidend hier und dort ein in die Streitigkeiten der Stände
und Beichssassen. Wohin er kam, schneite es königliche Gnaden
und Frivilegien, besonders reichlich aber für die Städte. Ja
er that Etwas, das seit den Hohenstaufen unerhört war. Der
Würzburger Bischof war mit seinen Landständen in Händel
gerathen, Wenzel kam, 'den Streit zu untersuchen, und wie
lautete sein Entscheid? Den eilf Würzburger Landstädten
gehöre der Königsadler in's Wappen, sie seien fortan so gut
wie Beichsstädte. Das war ein Beispiel, dessen blosses Aus-
denken alle Fürsten vor Zorn und Furcht erbleichen liess.
Noch ein anderer Entschluss des Königs erfüllte sie mit
schweren Sorgen. Wenzel hatte sein Wort gegeben, er werde
nach Tours kommen, dort mit den Königen von Frankreich
und England über den Kirchenfrieden zu berathen. Kurfürst
Buprecht von der Pfalz hatte sich scharf dagegen ausgespro-
(61) Sobernheims Bericht bei Wencker 268.
Lohet: Das Eechtsverfdhren bei König Wenzels Absetzung. 47
chen, und als der König nun brieflich seine Bedenken verlangte,
sagte er ihm folgender Gestalt die Wahrheit.
»Wenn der König«, so schrieb der greise Fürst, »noch mit
Ehren fortbleiben könne, solle er nicht nach Frankreich reisen.
Denn nicht gezieme es dem deutschen Könige, an einen frem-
den Hof zu gehen und jenem Ehre zu bringen. Gehe Wenzel
dennoch, so würde man im Reiche und in Bom gegen ihn
misstrauisch werden. Auch sei er mit seinem Gefolge den
feinen Franzosen und ihren Listen nicht gewachsen, erst solle
er sich mit gelehrten und weisen Männern umgeben. Auf die
Erneuerung aber der Familienverbindung, welche sein Vater
mit dem französischen Hofe gemacht, solle er nur mit bleier-
nen Füssen eingehen. Denn die Franzosen trachteten nur da-
nach, das Kaiserthum zu sich herüberzuziehen, und sie rissen
in Italien ein Stück nach dem andern vom Eeiche ab. üeber-
haupt müsse er ihnen kraftvoll entgegentreten, er solle ihnen
sagen: »Ihr und die ganze Welt sollet wissen, dass ich nicht
weiter die Eechte des Eeichs vernachlässigen will, wie ich
bisher that! Und wenn ich mich vorher als ein Kind zeigte,
so will ich mich jetzt als einen Mann erzeigen!" — Das Schisma
in der Kirche aber hätten bloss die Franzosen angestiftet, also
müssten sie es auch wieder aus der Welt schaffen. Denn
Pabst Urban sei bereits im rechtmässigen Besitz des Pabstthums
gewesen, als seine Gegner sich anstrengten, ihn daraus zu ver-
treiben. Jetzt wollten sie auch Andere auf ihre Wege ziehen,
damit sie nicht allein die Schismatiker Messen: ein Kind könne
das begreifen. WoUfe man den rechtmässigen Pabst zur Ab-
dankung treiben, so werde dasUebel nur noch verschlimmert,
und der Willkühr der Cardinäle in Zukunft Thür und Thor
geöfl&iet. Der einzig richtige Weg sei, auf dem Eechte zu
beharren." ♦
Diesen beredten, wenn auch derben Worten musste Jeder
freudig beistimmeu, der noch Nationalgefähl und Einsicht in
die wirkliche Lage der Dinge hatte, Jeder, der noch hoffte.
48 Jahrb, der tustor. Glosse der k. Akad. der Wi^tsehschaften.
der König könne bestimmt werden, von jetzt an männlich nnd
zum wahren Besten Dentsdüands zu handeln. Die französisdie
Freundschaft seines Vata'S hatte dem Beiche nur Einbussen
gebracht, und offenbar geschah nur den Franzosen ein Gefallen
damit, wenn Deutschland den Pabst, den es bisher für den
rechten erkannte, fallen liess. Denn darin hätte das Bekennt»
niss gelegen, die Majorität habe nicht minder einem üaischen
Pabste angehangen, als die französische Minorität. Dass aber
das Schisma durch die blosse Aufkündigung der Obedienz nicht
gehoben werde, lag am Tage, man hätte drei Päbste für einen
"bekommen. Der Kurförst setzte hinzu: »Wenzel solle wohl
-sich hüten, dem rechtmässigen Pabst den Gehorsam aufzusagen.
Denn entweder sei dieser von Anfang an ohneBecht gewesen:
tdann sei es auch kraftlos gewesen, dass er einst Wenzel zum
Könige bestätigte; die ünterthanen könnten also sagen, Wenzel
sei noch kein König, und ihm den Gehorsam aufkündigen.
Oder — der König sei von einem rechtmässigen Pabste be-
stätigt: dann könnten, wenn er jetzt seinem Bestätiger den
Gehorsam weigere, auch ünterthanen denken : sie dürften sich
dem Könige ebenfalls versagen«. ^*) — Dies war allerdings nicht
im Sinne der deutschen Beschlüsse des Kurvereins vomBheine
geschrieben, wohl aber im Geiste Karl IV., welcher den Pabst
ersucht hatte, Wenzel zum Könige zu „ernennen.''
Der Kurfürst starb zwar schon am 6. Januar,^ doch sein
derber Brief blieb nicht ohne Eindruck. Seine fürstlichen Ge-
nossen thaten das Ihrige, um diesen Eindruck gehörig zu ver-
stärken. Auf dem Frankfurter Keichstage im selben Monat
Januar hielten sie Wenzel in's Angesicht seine grobe Fahr-
lässigkeit vor, sie lasen ihtn Punkt für Punkt die Artikel, auf
welche sie später seine Ahsetzimg gründeten, und gaben sie
ihm auch schriftlich zu lesen. Ernstlich ersuchten sie ihn,
nunmehr dazu zu thun, dass Kirche Beich und Christenheit
(62) Marlene et Durand Thes. Anecdot IL 1172.
Loher: Das Eechtscerfahren bei König Wenzels Absetzung. 49
nicht so jämmerlich verderbe. ^^) Wenzel war erschüttert,
er fürchtete die Eeichskrone zu verlieren, er versprach sich zu
ändern. Am 6. Januar verkündete er den Landfrieden auf
zehn Jahre, mit verstärkten und trefflichen Artikeln. Am
21. Januar verfügte er in der Würzburger Sache: es sollten
vorläufig Bischof Domkapitel und Städte, jeder Stand bei seinen
alten Eechten bleiben. ^*) Denn diese Sache hatte die Fürsten
besonders aufgebracht,^*) die rheinischen Kürfürsten hatten
schon vorher an den König ernstlich geschrieben: er solle sich
der Würzburger nicht wider ihren Herrn annehmen, sondern
sie zum Gehorsam anhalten. ^^)
Die Eeise nach Prankreich konnte Wenzel nicht wieder
aufgeben, er war vertragsmässig gebunden. ^^) Im März zog.
er in Bheims ein, glänzend vom Könige und dem ganzen Hofe
eingeholt, alle französischen Prinzen waren beisammen. Allein
Wenzels Neigung zu Trunk und täglichen Gtelagen, und das
rohe Lachen, mit welchem er die französischen Hofsitten
verhöhnte, machten ihn keineswegs beliebt, und so artig er auf
andere Gesuche seiner Gastfreunde einging, ^^) in der Haupt-
sache blieb er fest. Die Franzosen schlugen Neutralität in
Bezug auf beide Päbste vor: das verweigerte Wenzel entschie-
den. Nun bat ihn der französische König, er möge den rö-
mischen Pabst baldigst dahin bringen, dass er um der heiligen
Union willen abdanke. Darauf erwiederte Wenzel geschickt:
ganz gern wolle er ihm schreiben, er möge abdanken, wenn
er es thun könne, ohne seiner Sache und Ehre etwas zu ver-
geben, sonst aber nicht. So gingen beide Könige auseinander,
ohne dass es zur Einigung kam. ^^)
(63) Bericht des Mathias Sobernheim bei Wencker 268.
(64) Pelzel II 359.
(65) Sobernheim a. a. 0. 267.
(66) Höfler 142.
(67) Certo previo tractatu. Dynter p. 76.
(68) Palacky 113.
(69) Marlene et Durand Ampi. coU.YII, 431. Vgl. Dynter a. a. 0.
50 Jahrb. der histor. Clause der k. Akad. der Wissenschaften.
Als nun Wenzel nieder nach Deutschland kam, traten
ihm die füi'sten voll grösseren Vertrauens entgegen. Zwar
musste er vom neuen Pfälzer Kurfürsten zu Coblenz noch harte
Dinge hören. Doch wusste er sich jetzt gut mit den Fürsten
zu stellen. Er wollte ihnen zeigen, dass es ihm Ernst sei,
des Eeiches Rechte zu schützen. Das Stift Utrecht zog er
wieder straffer zum Eeiche, und öffentlich gab er seinem Lan-
deshauptmann zu Luxemburg Auftrag, das Gebiet von Toul
Verdim Kamerich und andern Städten von Frankreich zurück-
zufordern ^®-). Er bestätigte auch, dass die rheinischen Fürsten
den letzten allgemeinen Landfrieden von zehn auf fünf Jahre
herabgesetzt hatten. Dies war wohl aus dem Grunde gesche-
hen, weil man hadernde Herren und Städte, welche Ansprüche
wider einander erhoben, nicht dazu bringen konnte, auf eine
längere Zeit den Landfrieden anzunehmen. Als der König
sich wieder nach Böhmen zurückzog, schickte il^ Kurfürst
Euprecht, dem er vorher mehrere wichtige rheinische Orte
freundlich in Pfand gegeben, einen Brief nach, welcher lautete :
Als er sich zu Coblenz auf des Königs Beschwerden wohl ver-
antwortet, habe ihm der König seine Reden vergeben und
wollte wieder sein gnädiger Hen* sein: »darumb wollen wir
yem für unsem gnadigen herren haben und sinen gnaden ge-
truwelich dynen als billich ist« ^^). Noch am 13. Mai des
folgenden Jahres 1399 schickte Wenzel dem Mainzer Kurfürsten
eine Urkunde, worin er ihm für seine treuen Dienste schöne
Mainzölle verlieh ^^). Also schien er auch mit diesem einst
so Verhassten jetzt auf gutem Fusse zu stehen. Ein paar
Wochen später erfolgte sein Endbescheid über die eilf Würz-
burger Städte. Er erlaubte ihnen, eine neue Einung zu ma-
chen, in der Hauptsache jedoch gab er sie auf; denn das Stift
(70) Pelzel a. a. 0. ürk. 39—41.
(71) Daselbst S. 45.
(72) Höfler 126.
Loher: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 51
sollte bei seinen Kechten bleiben, und die Städte, sollten gleich-
wie es Unterthanen thun mussten, dem Bischof ihre Thore
offnen.
Vm. Absetzung Wenzels.
Allein schon am 2. Juni 1399 waren vier Kurfürsten zu
Marburg zusammengetreten und hatten einen Bund geschlossen,
dessen Spitze gegen Wenzel gerichtet war. Was war inzwi-
schen vorgegangen? Warum folgte jetzt so rasch, wohlbedacht
und unaufhaltsam ein Schritt nach dem andern, bis Wenzel
die Krone genommen und auf ein anderes Haupt gesetzt war?
In den Nachrichten und Urkunden lässt sich hier eine Lücke
merken, doch ist sie aus dem Vorhan'deuen zu ergänzen.
Die Kurfürsten verbünden sich auf drei Artikel, die sie
ihr Lebenlang wollten aufrecht halten und gegen Jedermann,
wer es auch sei, vertheidigen mit ihrer ganzen Macht. ^')
»Zum ersten, dass wir herren obgenant in allen Sachen
und handelungen, die die heilige Kirche und den heiligen Stule
von Eome als von des Babistdoms wegen, und die das heilige
Eömische Eyche und uns Kurfürsten als von des heiligen
Komischen Kychs und unser Kurfürstendome wegen antreffende
sind, vesteclichen und in gantzen truwen by einander bliben
und die sainentlichen handeln sollen, und unser eincher oder
yemand von sinen wegen sol da Inne nit werben, dun oder
einch fürteil suchen ane die andern, noch ane ire wissen willen
und Gutdüncken in eincher Wise«. — Es handelt sich also
darum, ein dreifaches Recht zu schirmen, das des römischen
Pabstes, des Reiches, der Kurfürsten.
Nun ist es höchst wahrscheinlich, dass Wenzel bei seiner
Rückkehr aus Frankreich den Kurfürsten und dem Pabste ver-
(73) Obrecht 1—3.
4*
52 Jäh/rb, der histor, Classe der k. Akad, der Wissenschaften,
heissen hatte, endlich seinen Bomerzug zu thun. Nahm der
deutsche König die Kaiserkrone vom Pabste in Rom, so war
dieser fortan über jede Anfechtung erhaben, die Obedienz des
französischen Pabstes musste dann, wenn sie überhaupt das
Schisma beseitigen wollte, nachgeben. Der Pabst hatte aber Wenzel
auf's Neue einen hohen Kirchenzehnten verliehen ^*), und schwer-
lich wäre das geschehen, als um der Kosten eines Kömerzugs
willen. Wie später sein Nachfolger Ruprecht, hatte Wenzel
schon früher zu diesem Zwecke einen Kleruszehnten erhalten:
sobald er aber vom Eömerzug abstand, zog der Pabst die
Gelder zurück. Dieser schrieb nun auf's Dringendste, Wenzel
oder wenigstens sein Bruder Sigismund sollten nach Italien
kommen. '*») Da aber kamen Nachrichten nach Deutschland^
der König liege wieder mit Kriegsvolk zu Felde gegen seine
empörten Landherren. Man wusste aus Erfahrung, dass Wen-
zel sich aus solchen böhmischen Händeln sobald nicht loswinde.
Aergeres Bedenken erregte sein neu erklärtes Eingehen auf die
französischen Pläne. Im vorigen Oktober hatte er dem König
von Frankreich noch ausweichend geantwortet, jetzt aber that
er, wovor ihn der greise Kurfürst von der Pfalz so dringlich
gewarnt hatte: er erneuerte im Juni 1399 eidlich das Fami-
lienbündniss zwischen den Gliedern seines und des französischen
Hauses: demzufolge erkannten sie ihren Besitzstand an und
versprachen sich gegenseitig zu fördern und zu schützen wider
Jedermann. '^) Später schrieb Wenzel nach Paris: er werde
mit seinem Bruder Sigismund eine grosse Versammlung in
Deutschland mit Kurfürsten und Fürsten halten, dort sollten
(74) Höfler 145.
(75) Pelzel a. a. 0. 46—47.
(76) Pelzel 41 — 42 setzt diese Erneuerung auf den 24. Juni des
Jahres 1498; schwerlich aber hätte sie damals in Zeit Ort und Um-
stände gepasst; denn am 23. Juni gab Wenzel zu Frankfurt Voll-
macht, die entrissenen Reichsstädte im Nordwesten von Frankreich
zurückzufordern.
Löher: Das Bechtscerfahren bei König Wenzels Absetzung, 53
die Kirchenschäden grundlich geheilt werden; der König werde
zeitig davon benachrichtigt, dass auch er seine Gesandten
schicke.''^) Schon wurden Befehle ausgefertigt, dass die Car-
dinäle beider Parteien mit sicherm Geleite sollten zu Wenzel
reisen.^®) Damit war Zweck und Ziel des grossen Tages deut-
lich ausgesprochen, Wenzel war auf die französischen Wege
eingegangen: beide Päbste sollten zur Abdankung getrieben
werden.
So sahen nun die Kurfürsten trotz Allem, was Wenzel
vorher gesagt und gethan hatte, die französische Politik den-
noch siegen, sie sahen eine Verdreifachung des Schisma kom-
men. Nicht minder erschien ihnen Ehre und Eecht des deutschen
Eeichs gekränkt, welches dem römischen Pabste von Anfang
an treue Obedienz gehalten hatte. Auch ihr eigenes Recht
und Ansehen im Eeiche wollten sie schirmen; denn sie fühlten
sich gröblich beleidigt, dass der König eine so grosse Sache
unternahm auf eines Fremden Betrieb, und ohne sie zu fragen,
welche doch die Goldene Bulle die Grundsäulen und sieben
Leuchter des Eeiches nannte. Sobald sie daher von Wenzels
Entschlüssen und Unterhandlungen erfuhren, beeilten sie sich,
ihm durch ihr Bündniss ein starres Veto entgegen zu setzen.
Der zweite Artikel, auf welchen die Kurfürsten sich ver-
banden, lautet: »Und weere es, dass yemand, wer der were,
nach deme heiligen Ryche stünde oder stende würde und sich
desunderwinden wolde, ane unser aller obgenannterherren sament-
lichen wissen willen und verhengnis, es were mit vicariate
oder anders in welcher wise das were, darwider sollen wir
obgenante herren samentlichen getruwelichen und vesteclichen
sin, und darzu sal unser einer ane die andern sinen willen
gunst oder verhengniss nit dun nochgeben.« — Dieser Artikel
(77) Pelzel Urk. B. S. 47. 49.
(78) Die Urkunde ist ohne Datum, gehört aber wie die bei Pelzel
vorhergehende ohne Zweifel in's Jahr 1399.
54 Jahrb. der histor. Classe der Je, Äkad. der Wissenschaften.
macht es höchst wahrscheinlich, dass Wenzel damals damit
umging, einem Andern, ohne sich um die Kurfürsten zu küm-
mern, die Eeichsregierung zu übertragen. Wer konnte dieser
anders sein, als Sigismund, mit welchem der König jetzt ein
Herz und eine Seele schien, in dessen Begleitung er auch bei
seinem nächsten Erscheinen in Deutschland auftrat? Gerade
Sigismund aber, der sich noch nirgends bewährt hatte, moch-
ten die Kurfürsten nicht, überhaupt keinen Luxenburger mehr,,
denn diese waren Alle mit den Franzosen innig verbündet.
Es folgte noch ein dritter'^ Artikel: ȟnderstunde auch
unser herre, der Eömisch König, oder jemand von sinen wegen,,
oder yemand anders, das heilige Kömische Eiche oder einche
sine zugehöTunge zu schmeelen abezubrechen oder dem Biche
zu entfremden oder das Eiche zu entleden, darwider sollen wir
samentlichen sin, und sollen unsem willen gunst undverheng-
nisse darzu nit dun noch geben in einche wyse. Und wer
des glychs yt gescheen vor datum diss Briefes ane unser wissen
willen und verhengnisse, darzu sollen wir herren obgenant
auch nu fürbas keine bestätigunge doyn, und sunderlichen die
Sachen von des vonMeylan wegen umbe das land vonMeylan
sollen wir nit bestetigen.« — Zu diesem Artikel war guter
Grund. Man konnte nicht wissen, was Wenzel noch Alles
seiner französischen Freundschaft opfern werde. In Eheims
hatte er bereits dem jungen Orleans di^ Hand der Erbin von
Luxemburg und die Anwartschaft auf Böhmen und Ungarn
zugesagt. Man musste annehmen, er habe Genua förmlich an
die Franzosen abgetreten, denn sie griffen von dort aus weiter
um sich. In den Klageartikeln, welche bei seiner Absetzung
zu Lahnstein verhandelt wurden, heisst es: »Zum ersten, hat
er die stad Yhenue yntphrommet dem ryche und hat sie ge-
halden dem konig zu Franckrich. Des haut die fursten bollen
von dem babiste.« '^) Aller Welt kund aber war Wenzels
(79) Aus dem Strassburger und Frankfurter Stadtarchiv, — bald
zu veröffentlichen in den Eeichstagsakten , welche die historische
Lölier: Das Bechtsc erfahr en hei König Wenzels Absetzung, 55
Verhältniss zu Galeazzo. Dieser hatte jetzt auch Pisa erobert^
Lucca und Siena seinem Bündniss und Befehl unterworfen.
Die Florentiner, in grosser Gefahr, schickten Gesandte nach
Deutschland und boten Alles auf, um sich von dorther Hülfe
zu verschaffen, und müsste auch die Absetzung Wenzels, von
der schon so häufig Eede gewesen, endlich vollzogen werden.
Dies waren also die Ursachen, wesshalb die Kurfürsten
sich feindselig und entschlossen gegen den König wandten,
nachdem es kurz vorher geschienen, Alles sei wieder auf gutem
Wege. Die Gründe waren: dass Wenzel, sobald er den Kur-
fürsten wieder aus den Augen war, auch die französischen
Wege wieder betreten hatte; dass er den Kömerzug aufgab
und grösseres Wirrsal in der Kirche anzustiften sich anschickte ;
dass er mit der Beichsregierung zu schalten und zu walten
drohte, ohne die Kurfürsten zu fragen; dass die Franzosen
und Galeazzo in Italien gefahrliche Fortschritte machten. Die
feinen und rastlosen Gesandten aus Florenz, die Alles erkun-
deten, alle Mittel spielen Hessen, waren die rechten Leute,
um die Sache wider Wenzel in rascheren Gang zu bringen.
Gewiss wirkten auch die Vorgänge in England darauf ein,
wo ein König entthront und die Aussicht eröfiftiet wurde, die
alten Kriege mit Frankreich wieder aufzunehmen.
In gedachter Weise hatten sich zu Marburg am 2. Juni
1399 die vier Kurfürsten Mainz Pfalz Köln und Sachsen ver-
bündet, am 15. September wurde das Bündniss bekräftigt zu
Mainz mit Zutritt des Kurfürsten von Trier. Zu diesem Main-
zer Tage waren die andern Fürsten des Keichs ebenfalls ge-
laden. Sehr zahlreich erschienen sie, und es verbanden sich
mit den fünf Kurfürsten zehn Fürsten aus den Häusern Bayern
Meissen Hessen Hohenzollern, »umbe einen andern Komischen
Commission bei der k. Akad. der Wissenschaften in München heraus-
gibt, »— vorläufig dem Verlasser mitgetheilt durch die Güte von
Dr. Weizsäcker.
56 Jdhrh. der histor, Classe der k. Akad. der Wissenschaftetu
König zu erwelen und zu setzen«, und dass sie sammt und
sonders dabei mit aller ihrer Macht und Treue einander schützen
und helfen wollten. ^^) Darüber war man jetzt einig, dass
Wenzel gestürzt werden sollte: auf den 19. November wurde
zu weiterer Verhandlung ein Reichstag nach Frankfurt ausge-
schrieben. Nicht einig waren die Fürsten, wen sie zu seinem
Nachfolger bestimmten.
Inzwischen hatten die Kurfürsten an den Pabst nach
Eom geschickt, dass er ihrem Beginnen beitrete. Dieser gab
ausweichende Antwort : von Eom aber ging an Wenzel eilends
die Nachricht von dem Vorhaben der Fürsten. Er schrieb
nun am 1. September selbst einen Eeichstag aus nach Nürn-
berg für den Oktober, erklärte, er werde hinkommen mit seinem
Bruder Sigismund, und warnte die Städte, sich auf Neuerungen
einzulassen. Schon nach Mainz hatte er den Burggraf Johann
von Hohenzollem als Gesandten geschickt, der sein Ausbleiben
mit den böhmischen Unruhen entschuldigte und die Kurfürsten
ersuchte, lieber zum König zu kommen: er wolle jetzt alle
Gebrechen nach ihrem Bathe abstellen. Die Kurfürsten aber
hatten erwiedert: »wie das ein gross Volck in das land tzuge,
dofür sie nicht zu unserm herre dem künige geritten künden
noch möchten«. ^^) Nun erschienen, als die Kurfürsten den
Eeichstag nach Frankfurt dennoch ausschrieben, zu Nürnberg
nicht der König selbst und sein Bruder Sigismund, wie
Wenzel es verheissen hatte, sondern nur des Königs fürstliche
Boten, sein Kanzler der Patriarch von Antiochien, der Her-
zog von Teschen, und der Landgraf von Leuchtenberg. Sie
kamen mit vollständiger Vollmacht, sie hatten mündlich zu
reden mit den Kurfürsten wie mit den Städten. Allein sie
spielten eine klägliche Eolle. Der Eeichstag zu Frankfurt
(8ü) Obrecht 6 — 8. Vgl. den bereits citirten Brief von Mathias
Sobernheim.
(81) Obrecht 12.
Löher: Dcus Rechtsv erfahren hei König Wenzels Absetzung. 57
wurde gehalten, der vom König nach Nürnberg ausgeschrie-
bene blieb leer. Selbst aber nach Frankfurt zu kommen,
wagten des Königs Boten aus demselben Grunde nicht, welchen
die Kurfürsten bezeichnet hatten: »denn zu Nürnberg seien
sie underweist unde gewarnet, wie das sie nicht wol sicher
zu dem tage gen Franckenfiird kommen konden«. ^^) Auch die
Kegensbürger erklärten: es stehe zu künunerlich und unfried-
lich in den Landen um und um, als dass sie ihre Gesandt-
schaft nach Prankfurt jetzt sobald aufbringen könnten. So
sah es bereits in Deutschland aus. Des Königs Boten aber
legten sich nun auf s Bitten. Der König, so schrieben sie, »bitet
die kurfürsten und auch ander fürsten und hern des ßichs
und begert von in fründlichen, das sie keine zwikeit oder
büntnisse icht machen, die wider In sin möchten und In hin-
dern an dem Eiche.« ®^) An die Städte schrieben des Königs
Boten: »Dorum so bitten wir euch von desselben unsersherren
des konigs wegen früntlich und mit fleisse, wer es sache, das
ichts uflf demselben tage an euch gesuchet und begert würde,
das wider denselben unsem herren den konige gesein möchte
und in hinderte an dem Eiche, das ir dorzu nicht treten noch
6wem willen geben woUet, sunder das nach ewern vermügen
wendet und widersteet, als uch das derselbe unser herre wol
gelawbet und ir Im des ouch pflichtig seit und virbunden.« **)
So woUte Wenzel nur Zeit gewinnen und konnte sich
doch zu nichts Durchgreifendem entschliessen. Er steckte
wieder in seinen böhmischen Unruhen. Die Fürsten aber gingen
ihren Weg weiter. Am 2. Febr. 1400 waren die fünf Kur-
fürsten mit ihren Verbündeten einig geworden, dass der König
»uss den gesclechten und geburten von den wapen von
Beyern, von Sahssen, von Missen, von Hessen, von dem Burg-
(82) Das. 13.
(83) Das. 13.
(84) Das. 14.
58 Jcüirb, der histar. Classe der Je. Akad. der Wissensclmften..
graven von Nürenberg oder den Graven von Wirtemberg« ge-
wählt werden solle. Wer aus diesen sechs Häusern gewählt werde,
dem müssten alle vertragsmässig beistehen; werde ein Anderer
gewählt, so stehe es noch in eines Jeden Willen, wie er sich
zu ihm verhalten wolle. Wer sich jedoch des Keichs als Gene-
ralvikar oder sonstwie unterwinde, gegen den wollten sie alle
beisammen stehen. Das wurde eidlich gelobt. Die Habs-
burger wurden vorläufig ebenso von der Wahlliste ausgeschlos-
sen, als die vier Prinzen des Luxemburger Hauses.
Nun wurde sofort ein grosser Keichstag nach Frankfurt
ausgeschrieben auf den 26. Mai. Selten sah Deutschland
eine glänzendere Versanmilung. Persönlich waren erschienen:
vier Kurfürsten, für den Fünften sein Bruder, die Gesandten
des Königs, vierzig fürstliche Herren, von achtunddreissig Fürs-
ten die Boten, eilf Keichsstädte, ferner von Fremden die Gesandten
der Könige von Frankreich Spanien England und der Pariser
Universität, unter ihnen der Titular-Patriarch von Alexandrien,
und ein Bischof von Spanien. ®^) Vor ganz Europa wurde
dort verhandelt über Wenzels Absetzung. Er hatte drei
neue Gesandte nach Deutschland geschickt: den Herzog von
Teschen und seine Käthe Peter von Wartenberg und Konrad
Kreyger. Vergebens hatten sie zu Mainz im Februar einen
Städtetag angesagt. Daraufhatte Wenzel wieder einen Eeichstag zu
Nürnberg auf den 4. April ausgeschrieben. ®^) Es war auch
vergebens, als seine Gesandten auf dem zweiten Frankfurter
Tage vier Stücke vorstellten: der Keichstag bestehe nicht zu
Recht ohne ihn, des Kelches Haupt ; man solle mit den Boten
einig werden um Tag und Ort, wo er kommen wolle, zu
rathen mit des Kelches Ständen; auf diesen Tag würden, um
der Kirche Zwiespalt zu heilen, König Sigismund von Ungarn
und Markgraf Jost von Mähren mit ihm kommen, und die
(85) Obrecht 28—29.
{^(o) Das. 24, 25.
Loher: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 59
Gesandten der Könige von Polen Dänemark Norwegen, Schwe-
den, die er besandt habe, und die es ihm versprochen hätten,
und er wolle femer alle Fürsten in deutschen und wälschen
Landen des römischen Eeichs dazu entbieten, weil sie billiger
Weise dabei sein müssten; — noch sei zwar der König
durch den grossen Krieg zwischen Sigismund Jost und Mark-
graf Procop gehindert, nach Deutschland zu kommen, jetzt aber
habe er Anstalt dazu gemacht.®^)
Allein die Fürsten Hessen sich nicht mehr irre machen.
Man beschloss, den letzten Schritt gegen Wenzel zu thun,
zugleich aber eine Gesandtschaft an den König von Frank-
reich zu schicken, die den Plänen beider nicht freundlich
war. ®®) Da erhob sich aber der Zwiespalt über die Person
dessen, der zum neuen König zu wählen sei, und man konnte
sich gar nicht einigen. ®^) Es scheint, dass Herzog Friedrich von
Braunschweig, ein angesehener und persönlich hoch geachteter
Fürst aus dem alten Weifenhause, von den meisten Nord-
deutschen, insbesondere auch von den Städten gewünscht wurde,
und dass die Norddeutschen erzürnt darüber, dass ihnen nicht
gewillfahrt wurde, vom Reichstag aufbrachen, ehe er geschlos-
sen war. Am 4. Juni nämlich, als Jene eben Frankfurt ver-
lassen hatten, erliessen bloss die vier rheinischen Kurfürsten
die Aufforderung an Wenzel, am 10. August in Oberlahiistein
zu erscheinen und sich entweder zu rechtfertigen oder seine
Absetzung zu erwarten. Die früheren Ausschreiben in dieser
Sache hatte dagegen der Kurfürst von Sachsen mit unterzeich-
net. ^®) Am selben 4. Juni erliessen seine vier rheinischen
Genossen auch an letzteren, sowie an Jost den Kurfürsten von
Brandenbm'g, die Aufforderung nach Lahnstein, mit dem Be-
(87) Obrecht 25—26.
(88) Obrecht 32.
(89) Sobemheim.
(90) Obrecht 23 und 42 im Briefe Heinriclis von Brauuschweig.
60 Jahrb. der histxyi'. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
merken, im Falle ihres Nichterscheinens werde man ohne sie
vorgehen.
Nun war des Tages darauf, am 5. Juni, der Eeisezug
der norddeutschen Fürsten bis vor Fritzlar gekonunen: da
fielen plötzlich Mainzer Dienstmannen darüber her, an ihrer
Spitze des Kurfürsten von Mainz Schwager und Amtmann,
der Graf von Waldeck. Die Schwerter flogen heraus, es ent-
stand ein Gefecht, Mehrere retteten sich durch die Flucht:
aber Herzog Friedrich und einige andere Kitter wurden er-
schlagen, und der sächsische Kurfürst mit dem Fürstbischof
von Verden wurden mit vierhundert Bossen gefangen abge-
führt. Der Mainzer Kmfärst war ohne Zweifel an der Sache
unschuldig: Graf Waldeck hatte eine Privatfehde mit Herzog
Friedrich. Weil aber die That von Mainzer Dienstmannen
geschehen war, so erhob sich grosser Zorn und Verdacht gegen
ihren Herrn. Des Erschlagenen Bruder forderte die Städte
auf, in seinem Namen von dem Kurfürsten Ehrenerklärung,
dass ihm die Sache leid thue, und Genugthuung zu verlangen.
Auf der Stelle leistete der Kurfürst jede Erklärung, gab die
Gefangenen frei, und reinigte sich von dem Verdachte durch
feierlichen Eid vor einer grossen Versammlung von Fürsten
und Herren.
Die Städte glaubten nun, da Herzog Friedrich erschlagen,
würde aus dem Lahnsteiner Tag nichts mehr werden, und
zögerten, sich öffentlich auf Seite der Fürsten zu stellen.
Wenzel belobte sie desshalb und schrieb ihnen, er werde zur
Stunde nach Deutschland kommen und seine und des Beichs
Sachen mit ihrem und anderer Getreuen Bathe ordnen, als
sich das heischen würde. Zugleich gab er jetzt, am 15. Juni,
seinem Bruder Vollmacht, satt seiner nach Italien und zum
Pabste zu ziehen. Die vier rheinischen Kurfürsten jedoch
thaten keinen Schritt wieder zurück. Sie erschienen am
10. August zu Lahnstein, warteten zehn Tage lang, und als
Niemand von des Königs wegen erschien, beschlossen sie seine
Loher: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Ähsetzimg. 61
Absetzung auszusprechen. Vorher jedoch musste Kuprecht
erklären, er wolle die Krone annehmen. Dann fuhren alle
Vier über den Ehein, bestiegen den Königsstuhl bei Eense,
sprachen am 20. August die Absetzung aus und Uessen das
Urteil mit lauter Stimme verkündigen vor Fürsten Herren
Eittem Städteboten und einer grossen Volksmenge. Andern
Tages begaben sie sich wieder zum Königsstuhl, da wurde
die hl. Geistmesse gesungen, dann schwuren die Kurfürsten
den Wahleid, stiegen die Stufen hinauf und wählten Pfalzgraf
Euprecht zum Könige.
IX. Das Urteil.
Wir sind nun im Stande, die Urteilsgründe zu prüfen.
Es fragt sich, ob drei Stücke sich bewähren: ob diese Gründe
an sich selbst, das heisst rein theoretisch genonunen, juristisch
statthaft waren? ob die Thatsachen wirklich? ob sie Wenzel
Schuld zu geben?
Wir beantworten zuerst die mittlere Frage. Das Urteil
beginnt:
»In Gottes Namen Amen. Wir Johan von Gots
Gnaden der heiligen Kirchen zu Mentze Ertzbisschoflf,
des heiligen Eichs durch Dutschland Ertzkanzler, allen
lüten verkündigen wir dyss, beide den geinwurtigen
und den zukunflftigen: Wie vil und mancherley grosser
elegelicher gebresten Irrunge und misshell von langen
Jaren und Zyten in der heiligen Kirchen ufferstan-
den und noch werent sint, und tegelichen schedelichen
uffersten, — davon (dass) das heilige Eomische Eiche, von
dem die heilig Kirch und Christenheit tro'st schirme
und hulffe haben solde, leider also schedelich en1>-
gliedet und gemynret und also sumelich gehanthabt
ist, — das nit allein unser schriben, sunder die kuntlich
€2 Jahrb. der histor, Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
schiübar dat und tegelich böse leüflfe dass clerlich
bewysent.«
Der objektive Thatbestand beruht also, wie damals der
juristische Ausdruck lautete, in kundlich scheinbarer That. ^^)
Alles peinliche Verfahren jener Zeit aber strebte zunächst da-
hin, die handhafte, oder die kundlich scheinbare That zur
Unterlage zu bekommen. Nun bestand das Schisma, ent-
sprungen km-z vor Wenzels Thronbesteigung, seine ganze
Begierungszeit hindurch ungemindert, und der Grund, dass
es so lange bestehen konnte, lag allerdings in den Zuständen
des Keichs. Wäre das deutsche Eeich an Haupt und Glie-
dern stark und willenskräftig gewesen, so hätte es längst ein-
gegriffen und dem Unheil in der Kirche ein Ende gemacht.
Doch es war »entgliedert« , das heisst Haupt und Glieder
waren nicht ineinandergefügt, »gemindert«, es hatte an inner-
licher wie an äusserlicher Stärke unter Wenzels Eegierung
beständig verloren, es war »säumlich«, das heisst fahrlässig
gehandhabt, da Wenzel öfter Jahre lang dem Reich und sei-
nen Pflichten fern blieb.
Darum hätten also, fährt das Urteil fort, die Kurfiirsten,
— fleissig angerufen von der heiligen Kirche, die eines Schir-
mers, von den Fürsten Herren Städten Landen und Leuten
des Reichs, die eines fürsichtigen Handhabers, das heisst sorg-
lichen Verwalters inniglich begehrend seien, — den durch-
lauchtigsten Fürsten, Herrn Wenzlaw, Römischen König und
König von Böhmen, von langer Zeit her (zehn Jahre lang,
aeit er von 1389 an in Böhmen festsass), oft und ernstlich
darüber ermahnt und ersucht, sowohl durch sich selbst (münd-
lich), als durch ihre Freunde (Beauftragten), als auch durch
ihre Briefe. Sie hätten ihm auch eigentlich (deutlich) vorge-
halten, heimlich und offenbar (im verschlossenen Rathszimmer
und im offenen Reichstag), sein unwürdiges und schreckliches
(91) Sachsenspiegel II 65.
Loher: Das Hechtsverfaliren hei König Wenzels Absetzung, 63
Leben und Eeichsverfahren , sowohl die Kirchennoth als die
schwere Entkräftung und Verkleinerung des Eeichs, die er
»schedelich und wider die wirdikeit sins tytels getan und
verhenget hat:
I. Nemlich, das er der heiligen Kirchen nie zu Frieden
geholffen hat, das der Christenheit ein gross notdorfft gewesen
und noch wer, das yme als eime Vogt und ein Schirmer der
heiligen Kirche zugehorte, und wir yn dicke und vile darumb
gebeten ermanet und ersucht han«.
Allerdings war des römischen Königs oder Kaisers hei-
ligstes Amt, advocatus patronus et defensor ecclesiae zu sein,
und oft genug halten die Kaiser bei zwiespältiger Pabstwahl
eingegriffen und selbst Concilien berufen. Es war eine schreiende
Thatsache, dass Wenzel, mit dessen Kegierung der grosse
Zwiespalt in der Kirche entstanden war, volle zwanzig Jahre
hindurch so gut wie gar Nichts gethan hatte, der Kirche zum
Frieden zu helfen. Alles Volk musste ihn dieser Gleichgültig-
keit wegen anklagen. Der französische König durfte ihm
sogar vorhalten: »er solle doch nicht meinen, Macht und
Ansehen der weltlichen Fürsten büssten etwas ein, wenn die
Kirche nicht mehr schwach und zwiespältig sei«.^*) Das
nächste Mittel, die Einheit in der Kirche anzubahnen, war
der Eömerzug. Der Pabst, welcher den Kaiser krönte, stieg
im selben Augenblick hoch über seinen Nebenbuhler, und es
fragte sich dann, ob dessen Obedienz ihm noch anhängen würde.
Wenzel hatte wiederholt Zeit und Mittel zum Eömerzug, er
unterliess ihn, trotz der dringendsten Antriebe von allen Sei-
ten, aus Scheu vor durchgreifender That, wohl auch aus klein-
licher Berechnung. Denn allerdings musste er dann das An-
sehen des Pabstes, von dem er sich krönen liess, wider den
Gegenpabst geltend machen. Aber hierin lag seine zweite
Schuld, dass er nicht einmal eine Erklärung wagte gegen den
(92) Martene et Durand Ampi. coli. VII 625.
64: Jdh/i'b, der hiaior. Classe der k. Akad. der Wissemduiften.
französischen Hof, welchem die Christenheit hauptsächlich das
Schisma verdankte. Schon eine offene entschiedene Erklärung
gegen die französischen Cardinäle, als ihr Pabst in Avignon
starb, hätte nutzen können. Grobe Fahrlässigkeit, — das
war die juristische Bezeichnung für Wenzels Benehmen in Be-
zug auf seine Reijßhspflichten gegen die Kirche. Als er zuletzt
Anstalten machte, etwas zum Frieden der Kirche zu thun,
wie unklar und schwankend waren seine Schritte! War denn
irgend zu hoffen, dass ßr nicht im nächsten Monat wieder
erlahmte und wieder Alles liegen liess? Und wohin lenkte
er seine Schritte ? Gerade auf die Wege, welche die Urheber
des Schisma, die Franzosen, ihm zeigten, statt dass er gerade
sie hätte nöthigen müssen, den rechtmässigen Pabst anzuer-
kennen, der gewählt und im Besitz der päbstlichen Hechte
und Würden war, ehe der Gegenpabst gewählt wurde. Den
Krieg g^en Frankreich bezeichnete Dietrich von Nieheim als
das einzige Mittel, das Schisma zu tilgen, ^^) — wie aber wäre
Wenzel dazu zu bringen gewesen, nur den Gedanken dieses
Kriegs zu fassen!
IL »So hat er auch das heilige Komische Eich swerlich
und schedelich entgliedet und entglieden lassen, Nemlich mey-
lan und das laut in Lamperten, das dem heiligen Biche zu-
gehorte und das Biche grossen nutze und urbe davon gehabt
hat, dar ynne der von Meylan ein Diener und Amptmann
wass des heiligen Bichs, den er nu daruff einen hertzogen und
zu Pafey einen graven gemacht hat, und hat darumb wieder
sinen tytel und glymph gelt genommen«.
Zum zweitenmal wfrd hier darauf Gewicht gelegt, dass
der König wider seinen Titel und seine Ehre gehandelt. Der
Titel war semper Augustus, allzeit Mehrer des Keichs, — der
einzige, den der König führte. Nichts war daher für sein
Ansehen empfindlicher, als wenn es hiess: er sei ein Beichs-
(93) Historiae Theod. a Niem, Basel 1566. p. 367.
Loher: Das Sechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung, 65
minderer. Mochte er wider Unglück und Gewalt nicht mehr
ringen können, wenigstens durfte er nicht leichtfertig Beichs*
Verminderung zulassen. König Budolf hatte dem Pabste ge-
^hrieben, er wolle ihm Alles versprechen und thun, nur keine
Minderung des Beiches. Gegen Adolf und Albrecht war als
Hauptgrund der Absetzung geltend gemacht, dass sie des
Beiches Bechte nicht wahrnähmen. Wenzels Grossvater, Kai-
^r Heinrich, hatte Alles aufgeboten, des Beiches Bechte und
Würde in Italien wieder herzustellen. Auch Ludwig der
Bayer war mit kaiserlicher Kraft und Hoheit wieder in Italien
aufgetreten. Wenn er den Fürsten von Lucca zum Herzog
erhob, so durfte er, vor Erlass der Goldenen Bulle, das thun,
ohne der Kurfiirsten Bewilligung einzuholen, und Lucca war
nicht Mailand. Dieses war das Herz von Oberitalien: wer
auf Mailand die Hand legte, hatte die Herrschaft von Ober-
und Mittel -Italien. Mailand war Kammergut des Königs,
man betrachtete es mit Becht als meliorem partem in Italia
imperii ad ejus cameram pertinentem, •*) — quam provinciam
ipse Otto Magnus Augustus viridarium imperii appellavit, et
eidem imperio singulariter incorporavit, ut per Imperatores et
reges Bomanos, qui essent pro tempore, jure proprietatis per-
petuo regeretur, ***) — »wovon das Bich«, sagen desshalb die
Kurfürsten, »grossen nutze und urbe gehabt hat«. Mochte
immerhin der Visconti bereits erblicher Statthalter des Beichs
sein, er bestand immer nur noch als blosser »diener und ampt-
mann des richs«. Gross war dagegen der Unterschied, wenn
ihm Mailand mit der Lombardei und der Beichsgrafschaft
Pavia zu erblichem Herzogsgute in Lehen gegeben wurde.
Im ersten Falle behielt das Beich seine Eigenthumsrechte, die
OS bei (Jelegenheit geltend machte ; im zweiten Falle war ihm
^ neuer Lehnsfürst entstanden, über welchen das Beich rechte
(94) Brief des Mathias Sobemheim.
(95) Theod. a Niem. Lc. 366—367.
04i Jahrb. dtr bistor Gaim den k, JAmii^ dbr Wisaemchaften,
Mßbar Weise Bocb so wenig: zu aagje» hatte,, als über den
H<ȧzagi ^(Ok Sa^ojem Was Wenzel in Obeikalien that ,. wair
gecade so«, sJa weim ei wil&ürlielL eine AneaU yoit KekW
stäidteE und fieichsvoigteieBi i& Deuteeldand zufiannaengesokfer
gen und sie einem Fürsten, zum ei\blicli«n.Eeszogthum g^egeben
hatte. Selbst dea Eurförsten hatte die Goldene BuUe £ih
Werbungen nur gestattet »sub taUum terrarum castrorum ffda*
sessLonum predioruni seu bonorum condicione consueta, ut
videlicet propria recipiantur vel c^nparentur ut propria, libeva
velut libera, et ea quae depend^ iu feudom similiter emaiH
tur in. feudum seu compaxa^iar taliter teneantur, ita tamenv
quod ipsi (eleetores) de hüs^ quae hoc modo comparaverint vel
reeeperint et (territono suo) duxeidnt applicanda, ad pristina
ac consueta jura de talibus sacro ea^plenda et reddendailmperio
siut astricti«. ^•) Diese Vorschrift verletzte Wenzel auf da»
Gröblichste, und zwar nicht zu Gunsten eines Euxiffirsteint^
sondern eines Italieners, der die machiavellistische Politik in
grossem Stile übte. Galeazzo besass einen fürstlichen hoch^
strebenden Geist und wusste sein Volk zu fassen und zu heben.
Er war es auch, welcher den mailändischen Dom und die
Karthause bei Favia erbaute. Was war von einem solchen
Manne, der schon früher vomFabste die lombardische Königs^
kröne verlangte, zu erwarten, da er den schwachen Wenzel;
der zu ihm eine confidentia specialis trug, ^^) mit seiner Gei-
stesgrösse leicht beheiTschte? — Welchen Eindruck die mit
aller Fracht gefeierte Erhebung des Galeazzo zum Herzog von
Mailimd damals auf die Welt machte, darüber sei noch ein
Beispiel von einem unparteiischen Zeitgenossen angeführt«
Dynter, der sich ausführlich über Wenzels Wesen und Trei-
ben verbreitet, erwähnt von» seinen Segentenhandlungen nur
drei: die Zusammenkunft zu Bheims,, die Mailänder und die
(96) Aurea bulla cap. 10 de monetis.
(97) Palacky 104, Note 117.
I^M: Das BechUcerfdhten hei König Wenzels Absetzung, 67
gleidli ztr erWähniende Bl^ainter Sache, und von jener sagt er:
»Iste Wenceslaus rex domfamm Galleacran, comitem Papie et
Virtiittim a(i domintiin Mediölanelisim , in ducem Mediolanen-
sem cröavff et sibi civitatöm Mediolaiiiensem üha cum tota'
LiloiHb^ib^ in feüdhim concessit, et sie dominiuln iibperii aliena-
vit, irrequisitis electoribns et sine conseäsu ei voluntate eorun-
dem«.*®)
in. »Er hat auch vil Stötte und lande in dütschen und
webfehen landen, dem Eich zugehörende, und der ein i&ä
verfallen sint dem heiligen Eiche, übergehen, und der nit ge-
achtet, noch an dem heiligen Eeich behaltene.
Ein Zeitgenosse Wenzels spricht die Anklagen folgender Ge-
stalt aus: »Wenceslaus rex, licet tunc robustus corpori, dives
axrfb et argento, ac etiam potens in populo admödüni foret,
tarnen infra XX annos et ultra, quibus reipublicae praeftdt,
— quod dictum schisma tolleretur, vel saltem Imperium hujus-
ihodi reformaretur, — in aliquo instare seu efficere non curävit,
— impugnantibus etiam vi fideles imperii et jura illius sibi
vendicare conantibus in diversis provinciis non restitit verbo,
Scripte, vel fecto, ac si eum hoc non tangeret, nisi forsan ab
oppressis injuste fidelibus ejusdem imperii praesidium ab ipso
pretio emeretur.« ^*)
Die Städte und Länder, welche man meinte, sind indem
Urteil nicht genannt, offenbar aus juristischer Vorsicht. Denn
man konnte kaum übersehen, welche alten Eechte des Eeiches
während Wenzels langer Fahrlässigkeit in Italien und auf der
ganzen französischen Gränze missachtet und eingebüsst waren,
um dadurch, dass man einige nannte und andere nicht, keinen
Grund zur Behauptung zu geben, als habe das Seich durch
Verschweigung der letztem seine Ansprüche darauf stillschwei-
gend fallen lassen, wählte man lieber die Form, überhaupt
(98) Dynter Chron. Brab. duc. 1. c. 75.
(99) Thedd. a Niem 366.
5*
68 Jahrb, der hi^tar. Claase der k. Akad. der Wissenschaften,
keine Stadt und kein Land zu ben^inen. Ausserdem war es
schwer, einen juristischen Beweis zu liefern. Wenn auch der
Augenschein für die üebergabe sprach, liessen sich doch die
Urkunden, worin der König sie vollzogen, nicht herbeischaffen.
In den Berichten, welche die Stadteboten vom Lahnsteiner
Tage über die Urtelsgründe der Absetzung nach Hause sandten,
ist von vielen Städten und Schlössern in deutschen Landen
die Bede: z. B. »Item territoria et castra, causa divoludonis,
(bei Gelegenheit des Heimfalls), quae pertinerunt ad Imperium,
dedit alienis et abstraxit imperio.c ^^^) Welches diese Beichs-
güter waren, wird auch hier nicht angegeben. Dagegen wis-
sen wir Näheres von zwei bedeutenden Fällen.
Genua war, wie schon erinnert, dem französischen König-
reich einverleibt, und die französischen Waffen hatten mehrere
benachbarte Städte besetzt. lieber dies Eindringen der schis-
matischen Franzosen in Oberitalien, während Unteritalien
ebenfalls an einen französischen Prinzen gerieth, entstand nicht
geringe Aufregung. Der Pabst sah bereits ganz Italien ver-
loren und schrieb nach Deutschland: man möge die Fürstin
und Lehrerin der Welt, Italien, retten und das Kaiserthum
schützen. ^®^) Ob Wenzel wirklich Genua den Franzosen ab-
getreten, darüber liegt keine Urkunde vor: jedenfalls hatte er
nicht öffentlich gegen das Abreissen eines Stückes von deutsch-
italienischem Beichsgebiete protestirt. In den Lahnsteiner
Berichten der Städteboten wird meist obenan der Artikel ge-
setzt; »Janvam ab imperio alienavit et regi Franciae assig-
navit.c 102)
Noch wichtiger war die Brabanter Sache. Die deutschen
Herzogthümer Brabant und Limburg waren dem Beiche oder
dem Könige als Oberlehnsherrn verfallen, da nach dem Tode
(100) Aus dem Frankfurter Stadtarchiv.
(101) Höfler 110.
(102) Aus dem Strassburger und Frankfurter Stadtarchiv.
Lohet: Das BecMsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 69
des letzten Herzogs Wenzel kein legitimer Erbe mehr da war.
Ebenso gut, als König Albrecht bei einem ähnlichen Falle des
Beiches Rechte auf Holland und Seeland behauptet, als Kaiser
Ludwig ähnlich gehandelt hatte, als später Wenzels Bruder
Sigismund wiederholt des Reichs und Königs Rechte über das
erblose Holland und Seeland vertheidigte : ebenso gut musste
König Wenzel die Reichsrechte inBrabant und Limburg wahr-
nehmen. Statt dessen geschah es mit seiner Zulassung, dass
seine Verwandte, die Wittwe des letzten Brabanter Herzogs,
nach Paris ging und den Sohn ihrer Schwester, einen franzö-
sischen Prinzen von der Burgunder Linie, zu ihrem Erben
einsetzte. Wenzels Vater, Kaiser Karl IV., hatte urkundlich
bestimmt: bei kinderlosem Absterben des letzten Herzogpaares
sollte Brabant an den nächsten Erben aus seinem, dem Luxem-
burger Hause, fallen. ^^*) Dieser Erbe war Wenzel. Er aber
hatte sich wenig darum gekümmert, ja es war wohl mit förmr
lieber Einwilligung geschehen, als Johanna nach Paris reisete und
ihre Länder einem französischen Prinzen verschrieb. Schon
auf dem zweiten Frankfurter Tage Hessen die Kurfürsten den
Städten insbesondere vorstellen, dass durch Wenzels Schuld
Flandern und Brabant dem Reiche abgezogen würden. ^®*) Die
Kurfürsten aber Hessen den neugewählten König Ruprecht sich
sofort darauf verpflichten, dass er* alle Macht anwenden solle,
ebenso Brabant mit seinen Zubehörungen , als Mailand und
Pavia wieder zum Reiche zu bringen. In der That versprach
Ruprecht, als er später in Aachen einzog, dem Herzog von
Geldern, der mit Brabant im Kriege lag und zu ihm nach
Aachen kam: er werde im nächsten Jahre mit einem Kriegs-
heer kommen und Brabant zum Reiche zurückfordern. Bereits
rüsteten sich die Burgunder Fürsten, um mit all ihrem und
dem französischen Kriegsvolk den deutschen König zu be-
(103) Dynter cap. 69 p. 144.
(104) Obrecht 27.
7;9 Jahrb. der histor» Clässe d^r l'. Akad. der Wissenschaften.
kämpfen. *®*) Als Wenzel sich im folgenden Jahre gegen
Buprecht zum Vergleich erbot, hatte dieser unter Anderen
verlangt, Wenzel solle ihm sogleich alle Ur^nden über Tra-
bant abliefern.
Wie aber Wenzel wirklich mit des Beiches Eechtejf und
Interessen umsprang, zeigte sich noch im J^hre 1411, alf er
dem Burgunder nicht nur urkundlich erklärte, (illum) »ad do-
minum ducatus Brabancie rite bene et juste legitima sijpces-
sioue pervenisse,« sondern auch, wozu er gar keinEecht hatte.
Folgendes hinzusetzte: »Ac etiam, si et in qu^ntim op^s est,
opme jus, quod nobis tamquam Bomanorum et l^pbemie r^,
l^cione diicatus Luxemburgeußis , ac alia^, in et ^uper ducati^
Brabancie, per modum devoluciopi§ seu alio ^uopfunqp, cQm-
j^tit ac competere potest, et ^jimil|ter oiijf^e jus, quod jiobis
in castris fortaliciis inter Mosam et Benuni aitis, ad ducatmn
Ljjcemburgensem spectantibus, que idei][^ ^^thonius (duxBrab.)
ad preseins tenet et possidet, competere dicitur, eidem A|i|iiQniQ,
i^eredibus et successoribu3 suis, dedimus et donavimus ac in
ipsos transferimus plenarie etintoto.« — So gewissenlos kqnnte
4|eser König Deutschlands Eepht und Vortheil preisgaben.
^as half es dem Eeich^, wenn der französische Prinz die
^^^tsche Belehnung epipfing? Als Weiizel xoii seinem Yater
ki^^-z vor dessqn To4e am «glänzenden P^fi^er Hofe auf das
Glanzvollste bewirthet wurde, hatte Kaiser Karl IV. den fran-
zösi$chen Kronprinzen zum Generaly^ar des arelatischQiiEeichs
und insbesondere der Grafschaft Dauphi^^ erklärt un^ Sfeinö
Gewalt bedeutend erweitert, und zwar unwiderruflich un^ auf
Lebenszeit. Damals wurden ebenfalls die Eech|;e de^ cf^ut^chen
Beichs förmlich vorbehalten : wurden ajper jene l^Lu^er darum
etiya miniier Theile Frankreichs ? — Die^^ [^u^epibu^ger li^)).eu
f^ Deutschland naancheSaat desp^nh^s auag^9ä.et. ^rlfV'.
verlegte den Schwerpunkt des Beichs vom Bheine weg weit
(105) Dynter 140—141.
Löher: Das Bef'ktsvcrfahren hei König Wenzels Ahsetmng. 7t
naeh Ogten, biiiter den Böhmer Wald, und tiess in den west«
liehen GräQxlsuQden Kec^t and Schirm des Belizes vermg^a*
Wenzel folgte ihm nach, und was sein ¥a*efr in Franibrei^h
getiian, das wiederholte er m verstärkter W«ise dort wfe m.
Italien. Nur einmal, als er vom französischen Hofe, der selM
Trunkenheit geschaut hatte, ärgerlidi ziHxlckkehrte und einm
Augenblick der Hoffnung Baum gab, er sei jetd; ein andemr
Mensch geworden, hatte er einea Auftrag gegeben, die loUni^ft-
gisdien Städte von Frankreidi zurückzufordern. Kaum wsn*
er wieder in seinen böhmischen Gewohnheiten, so schien AUm
das rein vergessen und wurde das Familienbündniss mit den
französischen Prinzen em^ert. Dass das Herzogthum Burgmid
80 mClchtig heranwuchs, dass es Deutschlands Machtstellimg
gegen Praakreidi wesentüch verrückte, dass es die Niederlande
uns entfremdete und sie, so weit das möglich, französirte, —
WeDzds Verfahren trug keinen geringen. Tbdl d^ Schuld
daran.
IV. »So hat er audi um gelts willen dicke und vile sine
frunde gesant mit imgeschrieben brieffen, die man nennet
membranen, die doch mit siner Majestad Ingesiegel besiegelt
waren, und mochten die frunde, oder den die membranen wur-
den, under dem königlichen Ingesiegel schribenwas sie w<dten.
Davon ein gross sorge ist, das dass heilige Rieh an sinen wir-
den und nutzen schedelich beraubet und entgliedet sy worden«.
Wenn der König für gewisse dnzelne Fälle vertrauten
und gewissenhaften Dienern solche offene leere Briefe mitgab,
an welchen sein Majestätssiegel hing, und ihnen erlaubte, nach
Befund eine Urkunde darauf zu setzen , so liess sich dagegen
nichts erinnern. Einen hohen Grad von Fahrlässigkeit aber
bewies es, wenn der König solche Membranen in Menge aus-
gab, und wenn er es gar um Geld that, so war es empörender
Frevel. Diese schwere Beschuldigung musste in sdhreienden
Thatsachen begründet sein, sonst hätten die Kurfürsten sie
nicht als »landkondig und offenbahr« bezeichnen können. In.
72 Jahrb, der histor, Classe der k, Akad. der Wissenschaften.
einem Städtebericht aus Lahnstein heisst es: »Item hat er viel
membraen gegeben myt des grossen majestates ingesiegel, und
hat viel landis da midde verkauft, ane wissen willen undver-
hengnisse der fursten«. ^^^) Selbst in des Galeazzo Händen
sah man solche Membranen. ^^^) Sobemheim behauptet, ea
sei ein förmlicher Handel damit getrieben. Wahrlich, die
Furcht war berechtigt, die Käufer könnten mit der Würde^
mit den Eechten und Gütern desBeichs ärgerlich umspringen.
Als die Städte später von Euprecht Bestätigung ihrer Privilegien
forderten, wurde erwiedert: man müsse erst gewiss sein, das»
keine von Wenzel verkauften Membranen unter den Urkunden
seien. ^®®) Die Nürnberger verzichteten sofort auf alle neue
Privilegien, die von Wenzel herrührten. *®^) König Euprecht
verkündigte öffentlich, dass er alle Wenzerschen Membranen
widerrufe. ^^®)
V. »So hat er auch nye kein acht gehabt der missehell
und kriege, die leider manich zyt in dütschen und in andern
landen des heiligen Eichs swerlich und verderblich gewesen
und noch werende sind; deshalb gross Eaup Brand undmort
off erstanden sind und teglich schedelicher offerstent ; und haut
noch Pfaffen noch leyen, noch Ackermann noch kauflüte, beide
man oder wyp, frieden uff dem lande oder uff dem wasser;
und werdent auch Kirchen Clöster und ander gotshüser, die
das heilige rieh hanthaben und beschirmen solte, verderblich
geraubt gebraut und gentzlich sunder gotsforchte gewüstet und
verdrieben«.
In den Eechtsbüchem ^^^) heisst es: »Alle dage scolen
vrede hebben papen undgeistlike lüde, megedeunde wif, unde
(106) Aus dem Strassburger Archiv.
(107) Höfler 108.
(108) gchwab no. 280.
(109) Chroniken der deutschen Städte I 194.
(110) Chmel Kegesten Ruprechts no. 195.
(111) Sachsensp. II 67,1.
Löher: Das Rechtaverfahren hei König Wenzels Absetzung, 73
Juden an erme güde und an erme Kve, korken unde kerkhove,
unde jowelk dorp binnen siner grove unde tune. Ploge unde
molen, unde des koninges strate in watere unde in velde, de
scolen steten vrede hebben.« — Man aielit, die Sentenz über
Wenzel ninunt ihre Sätze aus den Eechtsbüchern auf, gleich-
wie auch das hier wiederholte »raup brand und mort« damals
ein stehender Ausdruck war. Nun war der Frieden, welchen
die genannten Personen und Sachen schon nach den ältesten
Volksrechten (sg. leges barbarorum) hatten, ganz insbesondere
ein KönigsMeden, ^^^) und es musste schlecht mit demÄns^
hen des Königs stehen, wenn nicht einmal diejenigen, welche
unter seinem besondem Schutze standen, vor den ärgsten An-
griffen sicher waren.
Aber hatte denn Wenzel nicht genug Landfrieden yerkün-
digt? Ja wohl, — nur Schade, dass der Gesetzesverkündiger
ein so schlechter öesetzesvollzieher war. Nur einmal war er
den Landfriedensbrechem auf das Haupt gefahren und hatte
ihnen ein paar Burgen niedergebrochen. Sonst aber war es
seine Gewohnheit, wenn die Landfriedensartikel fertig geschrie-
ben waren, die Eeichsstände sich selbst zu überlassen, und,
wie die Chronik »der hilligen. Stad van Collen« sich ausdrückte,
gemeiniglich in Böhmen zu liegen, »as eyn swyn in synem
staUe.« Der königliche Schirmherr des Friedens sollte aber
nicht nur den Friedensgesetzen mit dem Schwerte Achtung
verschaffen, sondern er soUte, das war nach des Volkes Mei-
nung seine heilige Pflicht, dem Ausbruch von Krieg und Fehde
zuvorkonmien. Er musste überallhin wachsam sein, und wo
sich Streit erhub, die Eifernden vor sein Gericht ziehen, ihnen
Eecht sprechen, oder wenn sie nicht hören wollten, dazwischen
fahren, ehe das Unheil ausbrach. Desshalb sollte der König
im Reiche umherziehen, und deshalb waren ihm, wo er erschien,
alle Gerichte und alle Gefangenen ledig. Ueberhaupt konnten
(112) Waitz Yerfassangsgeschichte II 142 ff.
74 Jahrb. der histor, GkiBse der k. Äkcul. der Wissenschaften,
diB LandMedensrichter immer nur die kleinen Friedensbrüche
Saiden, und die allmählige Y erlängenmg und Aasdehnnng des
Landirieden war es, welche hauptsächlid;i die alte Fehdegewobn-
heit einengte und erstickte. Das grössere üebel waren die grossen
¥;efdier))lädien Kriege, die mitten im Eeiche ausbrachen: diese
hMte der König um jeden Prds verfaindem müssen, wenigstens
mm Bestes dazu thun. Jedoch gerade unter Wenzel hatte
der urilde Fürsten- und Städtetaieg Deutschland verheert, nie-
mals erlosch das Andenken daran. Und wie viele andere £aiü>-
und Küegszüge waren hinzugekommen! Aber Wöozel küm-
merte sich so wenig um die räuberischen Yitalienbrüdar und
Liaiarts im Norden, als dass die schreckliche Schlacht bei
Berchtheim das Freiheitsstreben der Würzburger Städter, wel-
ches gerade Wenzd recht angefacht hatte, in ihi*em Blute
i auslöschte. Ganz gewiss konnte er allän nicht allem Unbdl
; steuern, -r- dass er jedoch so selten und so wenig Anstrengungen
dazu machte, das war s^ne schwere Schuld. Hatte er doch
den Beichsständen , die gerade deshalb ihn nach Deutschland
v^Iangten, einmal schnöde geantwortet: König sei er dbimai,
und wer ihn beschauen wolle, könne nach Prag kommen.
VI. »Es hat auch yederman deshalben sinen mutwillen,
wieder glimph und recht, mit dem andern getriben und noch
tribet, sunder besorgunge und achte des heiligen Biches, das
also versumelich gehalden is worden; und enweiss auch jetzund
nyman, für wene er das recht bieden möge, das er von des
heiligen Bichs wegen daby behalten und beschirmet werde.«
Dieser Artikel bezieht sich auf die fahrlässige Verwaltung
des obersten Gerichts im Beiche, des königlichen Hofgerichts.
Wurde ein Beichsstand von Andern bedrängt, so musste auf
sein Anrufen der König das Becht darlegen. Insbesondere
wurde das erwartet, wo es sich um Bechte des Beiches han-
delte. Wenzel aber hatte, worauf Dietrich von Nieheim be-
sonderes Gewicht legt, geduldet, dass der Trierer Erzbischof
ein Jahr lang die Beichsstadt Wesel hart belagerte und ihrer
Loher: Das Rechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 75
Freiheit beraubte, und dass der König von Frankreich einen
Pieichsfürsten , ^m Herzog von Geldern, wider ftecht mit
^gem Krieg heimsuchte.
Dfe Berichte der Städteboten enthalten noch zwei beson-
.dpre Ar^kel gegen Wenzel, welche am Lahnsteiner Tfige
j^rwogen wurden. »Zum achten«, heisst es in dem einen,
»daz die herren von dem dutschen orden yme dicke und vil
geclaget hant voi^ dem Konige von Crakaw (Polen), daz in
?iye recht enkünde widerfaren ; derselbe von Crakau heldet me
^t; den beiden dann mit den Cristen«. ^^^) In Ulman Stro-
Qjßrs ^eitbüchlein wird unter den fünf vornehmsten AbsetzungSr
gr^pdeii als einer angeführt: »Auch beten sich die dewtzen
herren von im erclagt, wi daz er dem litawissen Kung (Gross-
fürst Jagello yon Lithauen, auch König von Polen) wider die
Kristenbeit zugelegt hed, daz der kristen vil ermord und 911
tiOd erslagen bürden, und di kristcD dez streitz der nieder
lagen«. ^^*) Der andere Artikel wird verschieden gegeben,
»Zum nünten, daz er erbere lüde (freie Leute von Eittersart)
vor das hoffegericht hat geheischen in Sachen die nit dariur
gehörten.« — »Item extorsit minis juste pecunias abhominibus
per Judicium curie imperialis, citando ipsos causa extorsionis
pecunie«.^^^) — »Item so hat er manchen erbern man gehey-
sphen vor syn hoffegeriechte , da wenig yemant recht künde
gescheen, und hat dicke gelt genomen von den, die unrecht
varen gewest widder recht, aue w'issen der andern partyen«. ^^^)
Dies bezeichnet hinlänglich, wie übel es mit dem höchsten
Gericht imEeiche bestellt war. Die Absetzungssentenz glaubte
alle diese und ähnliche Fälle am besten unter dem allgemei-
nen Satze zu fassen: es werde unter des Königs Regierung
das Eecht nicht gestärkt und das Unrecht nicht gekränkt.
(113^ Au9 dem Frankfurter Stadtarchiv.
(114) Cbroniken der deutschen Städte (Leipzig 1862) 1 52.
(115) Aus dem frankfurter Stadtarchiv.
(U6) Aus d^oi Strassburgev Stadtarchiv.
76 Jahrb. der histor. Classe der Je, Akad, der Wissenschaften.
Vn. »Er hat auch, das erschröckelich und unmenscWich
ludet, mit sin selbs haut und auch mit ander ubelteter, die
er by im hat, Erwirdige biderbe Prelaten pfaflFen und geistlich
lüte und auch vil ander erbar lüte ermordet, ertrencket, ver-
braut mit Fackeln, und sie jemerlichen und unmenschlich ge-
tödtet wieder Recht, — das eime Römischen Künige unzemlich
stet und ludet«.
Es ist hierin nicht allein an die entsetzliche Geschichte
des Johann von Pomuk gedacht, sondern auch an andere
Fälle, deren die böhmischen Chronisten eine Menge, und zwar
unter vielem Uebertriebenen auch genug in glaubhafter Weise,
erwähnen. Das Alles war freilich nur in Böhmen geschehen.
War aber der böhmische König nicht deutscher Reichsfurst?
Und hätte es der deutsche König in der Türkei gethan, er
hätte sich dadurch zu einem indignus imperii gestempelt. Denn
es blieb eine Schmach für das deutsche Volk, wenn solche
Gräuel von seinem Könige in aller Welt erzählt wurden.
Die Aufzählung der ürtelsgründe schliesst:
»Und sint auch diese vorgenante artickel und vile ander
grosser siner Übeltat und gebresten als so sehr landkondig
und oflfenbahr, das sie nit zu beschönen noch zu bedecken
sind«.
Sie sind auch nirgends widerlegt worden, sondern, wie
das oben berufene Rechtsgutachten der den Städten befreun-
deten Juristen sagte, hielt man die Artikel, wegen deren der
König abgesetzt wurde, »gemeinlich voir wair«.
X. Formeller Gang des Verfahrens.
Es bleibt noch übrig, zu untersuchen, ob bei Wenzels
Absetzung kein Verstoss gegen das formelle Recht gemacht,
ob es ein tumultuarisches Verfahren war, oder ob »Domini
Löher: Das Recktsverfäliren bei König Wenzels Ahsetzwng, 77
«
principes electores multum solerter, rite, sancte, et juste pro-
cesserunt«, wie Soberuheim sagte. Ehe wir dies prüfen kön-
nen, sind erst die Grundsätze und Begeln selbst aufzusuchen,
nach welchen das Bechtsverfähren bei Absetzung eines Königs
seinen Gang nehmen musste.
I. Es wuirde bereits dargelegt, in welcher Weise seit der
Goldenen Bulle der Gerichtshof zusammengesetzt war,
welcher bei Absetzungsfragen über den König zu richten
hatte. 11^)
Damit dieser Hof als gesetzmässig gebildet anzusehen,
mussten zunächst aUe sieben Kurfürsten geladen und wenig-
stens die Mehrheit erschienen sein. Dies ging nach der Eechts-
analogie aus dem zweiten Kapitel der Goldenen Bulle hervor,
und wurde auch, wie aus dem früher erwähnten Gutachten
der juristischen Eathgeber der Städte erhellt, so im Reiche
angenommen. ^^®)
In dem Verfahren nun, welches zu Wenzels Absetzung
führte, waren von vorn herein fünf Kurfürsten thätig, die
beiden fehlenden Kurstimmen fährten Wenzel selbst und sein
Vetter Jost von Brandenburg. Am letzten Gerichtstage er-
schienen zwar nur vier Kurfürsten, jedoch waren, ausser dem
Angeklagten selbst, die zwei andern Kurfürsten, Sachsen und
Brandenburg, förmlich und unter dem gültigen Präjudiz ge-
laden, dass im Falle ihres Nichterscheinens der Prozess gleich-
wohl vor sich gehe.
Indessen, war denn schon mit den Kurfürsten allein der Ge-
richtshof bestellt? Das wäre ein geschlossenes heimliches
Gericht gewesen und wider alle deutsche Eechtssitte. Ueberall
mussten die Schöffen öffentlich zu Gerichte sitzen vor dem
ganzen Umstände, das heisst vor allem Volke, und Jeder aus
dem Umstände, welcher des Angeklagten und der Schöffen
(117) Oben im Abschnitt H und HI.
(118) Obrecht 65.
78 Jdlki. ätr histor. Glosse der k, Äkaä. der Wissekschaftm.
Genosse, das heisst, ihnen ebenbürtig war, konnte das Ürtefl
streiten, * *^) das heisst, er konnte vortreten und erkläf eü :
das Urteil sei nicht in des Landes nnd Volkes K^hte begrftn-
det. Dann aber inusste er selbst ein besseres Urteil finden
und darlegen. Denn welcher Mann der Schöffen Genosse T^ai^,
der war ebenso wie sie Wisser und Wahrer de^ Kechtes. Er
konnte als Kläger, als Zeuge, als Fürsprecher auftreten: das
Prinzip der Ebenbürtigkeit war strenge durchgeführt.
Es ergiebt sich also, dass die Kurfürsten in unserm Falle
keine andere Stelle einnehmen konnten, als die Schöffen im
gewöhnlichen Gericht, und dass ihren Umstand zunächst Alle
die bildeten, welche ebenbürtige Genossen des Königs waren,
d. h. die Fürsten und die altfreien Herren, welche Fürstenrang
hatten, von denen Jeder als Kläger, als Fürsprecher, als Ur-
teilschelter auftreten konnte.
»Ueber des küniges lip und sin ere mac nieman
urteil sprechen wan die forsten. ^*^) Nieman mac
geziuc über in sin umbe die Schulde, wan die Fürsten,
sie sin geistlich oder wertlich. ^*^)
Also wurde auch Wenzel vorgeladen, zu erscheinen, wie
es im Ausschreiben hiess, »by uns den Kurfürsten und den
andern Fürsten, die auch aldar zu uns werden kommen.« ^**)
fin Urteil heisst es dann, dass die Kurfürsten die Absetzung
beschlossen, »mit wolbedachtem mute mit vile und mancherley
handelunge (Verhandlung) und Kate, die wir darumb imter
uns und mit vil andern fürsten und herren des heiligen Richs
ernstlich gehabt han;« *^') oder wie in den Ausschreiben kür-
zer gesagt wird: »mid rads ander fürsten und herren zu dem
(119) Sachsensp. HI 69., SchWabensp. 96.
(120) Schwabensp. 104.
(121) Das. 109, 5.
(122) Obrecht 35. 38. 40.
(123) Das. 47.
Läiker: Bc» Mechtgverfc^en bei König Wenzels Absetevng^ 19
hefligen Bich gehörig«. "*) De^alb werden- auch am Ende
des^ AbsetzuDggiirteils ans dem Umstände als gegenwärtig äü^
gißfiihrt: zwei Fürst^, vier edle Herren von Färstenrangy vief
öörafcn, vier Doctoren^ zwei wirkliche Eitter ^**^), und- sechif
andeie Edelleute (Knechte), und »ander vü herren, Bittorf,
knechte, Inte geistliche und weltlichen, in grosser unmerclict^
zale zu gezügen zu den vorgenanten dingen geheischen \mäi
gßbetten.« **•) Vor allem Volke der Freien ging die Sache
vor sich, sie alle waren, wenn auch keine Eichter des KöiiigSy
ZeugBU der öffentlich rechtlichen Verhandlung wider ihn.
Die Seichsstädte waren von den Kurfürsten ausdrücklich eis
sucht, zum Lahnsteiner Tage »ir Fründe mit gantzer macht« (äu:
Alkon Bevollmächtigte) zu senden. Sie wurden auch zu den vor-^
hergehenden Reichstagen mit denselben Worten wie die Ftbrsteti'
geladen, und in der That waren jedesmal mehrere Städteboteü
gegenwärtig. ^*^) Die Fragen ergingen an die Städte
so gut, wie an die Fürsten: auch die Städte hatten zu
befinden, ob die Verantwortung des Königs ihnen »duncket
g^nug sin.« ^**) Denn in allgemeinen Beichsangelegenheiten
haifaten sie ebensogut mitzusprechen, als die Fürsten. Bei der
eigentlichen Absetzung dagegen betheiligten sich allein die Für-
sten und Herren des Beichs. ^^^) Das Urteil selbst aber wird von
aeht Öffentlichen Notaren (Offenschriber) ausgefertigt, unter
welchen zwei des Erzbischofs und Kanzlers von Mainz »geswoni'
Schriber« waren.
(124) Das. 62. 68.
(125) Ueber die Bedeutung der wirklichen Ritter und ihr Ver-
hSHniss zu' den Doktoren des Rechts, den Rechtsrittem, und den
finappeti odfer Knechten — die Abhandlung' > Ritterschaft und Adfel'
im späteren Mittelalter von Franz Löher« in den Sitzungsberichten •
der k. bayer« Akad. d. Wissensch. 1861, Band I, Keit lY.
. (126) Obrecht 48—49.
(127) Das. 28: 34! 27. Ai. Gudenüs IH 652J
(128) Obrecht 27. 28.
(129) Das. 47.
80 Jahrb. der higtor. Clcksne der k, Akad, der Wisaenschaftm.
n. Wo war nun die Gerichtsstätte? Der Fürsten-
hof konnte dort tagen, wohin der König selbst seinen Hof
gebieten konnte; dies waren nicht nur die Beichs-, sondern
auch die Bischofsstädte, und überall wo eine königliche Pfalz
war. ^*®) Denn das Gericht über den König konnte nur da
sein, wo eine »curia imperialis oder regiac statt finden
konnte. ^'^) Es trat hier aber die Beschränkung ein, dass
der König, weU er immer fränkisches Becht hatte, nur auf
fränkischem Boden gerichtet werden konnte. Jedenfalls musste
das Endurteil ausgesprochen werden in Franken. Bei erlauch-
ten Personen wurde das uralte Stammes- und Personenrecht
noch gewahrt, wenn es in den untern Kreisen längst abgestorben
war. Die Absetzung Adolfs wurde in Mainz ausgesprochen,
und als man dasselbe gegen Albrecht unternehmen wollte, war
der Kurfürst von der Pfalz dazu »ad Ehenum vocatus.c i**)
König Wenzel wurde ebenso wie Kaiser Friedrich nach
der alten Wahlstatt Frankfurt, zuletzt nach Lahnstein, wo
eine königliche Pfalz, vorgeladen. Wenn aber seine Absetzung
von der Höhe des uralten Königsstuhls zu Khense verkündigt
wurde, so geschah dies der Feierlichkeit und des grösswen
Eindruckes wegen. Denn auf eben diesem Königsstuhl war
Wenzel bei seiner Wahl erhoben worden.
III. Es erhebt sich nun die Frage nach Gang und Ziel
der Verhandlungen.
Zuerst musste man die Anschuldigung prüfen,. ob auf
deren Grund das Verfahren sich einleiten liess. Es ist möglich,
dass der Kurfürst von der Pfalz zuerst das Wort ergriff, weil
er der gesetzliche Verweser des Reiches war, wo der König
nicht selbst handeln konnte. Indessen ist darüber bloss die
eine Nachricht in Ottokars Reimchronik vorhanden, dass der
Pfalzgraf wider König Adolf den Ankläger gemacht habe. *'•)'
(130) Schwabensp. 114. 113. Sachseiisp. UI 62.
(131) Goldene Bulle cap. 5 §. 3.
(132) H. Rebdorff ad a. 1300.
(133) Im Cap. DCCXXm.
höher: Da8 Rechisverfahren bei König Wenxds Äbaetgung. 81
<S«wi8S aber konnte Jeder aus der Versammlung als Ankläger
auftreten.
Fand der (jerichtshof die Anschuldigung ernst und schwer
genug, so handelte es sich um den Beweis. In der Begd
mnssten wohl, wenn es einmal soweit gekommen war, die
Thatsachen, wie in Wenzels urteil gesagt wurde, »landkondig
imd offenbahr«, durch die »kuntlich schinbar dat und tegelich
l)dse leuffe clerlich bewysen« sein.« Waren sie das nicht, und
inirden sie von des Königs Bevollmächtigten oder einem Für-
sprecher geleugnet, so blieb nur die Beweisaufiiahme übrig
durch ebenbürtige und unbescholtene Zeugen, durch besiegelte
einwandfreie Urkunden, durch Beinigungseid. Zweifellos hätte
noan auch das Gottesurteil des Zweikampfes für und wider an-
rufen können.
Wurde nun die Anschuldigung nicht als falsch dargethan,
so folgte — ganz wie in andern Criminalfallen — entweder
die compositio, die Sühne unter Genugthuung, oder die
sententia der Absetzung. Beides wurde von yornherein in
Aussicht genommen. Als Johann von Dalberg, Bitter, auf
4em Frankfurter Beichstage im Juni 1400 im Aufbrag der
Kurfürsten vor der Städtebank seinen Vortrag hielt und den
iStädteboten darlegte, dass dem Könige nochmal ein Tag gen
Lahnstein beschieden werden solle, sagte er: »Und ist es
Sache, das er dar kumpt und solich gebresten der heiligen
Cristenheit und des Bömischen Biches ableit und wendet, alse
«das unser herren die kurfursten und andere forsten und die
Stette zu dem heiigen Biche gehörig das duncket genug sin,
— das ist gut. Keme er aber dar zu dem tage und leite
soliche gebresten nit abe, als vorgeschriben stet, oder das er
nit dar keme, — so meinent unser Herren die Kurlursten
und vil ander fürsten und herren, eineandemnge zu tundean
dem heiigen Biche und einen andern zu dem heiigen Biche
2u setzen.« ^^^) So erging denn an Wenzel die Ladung, in.
(134) Obrecht 28.
6
82 Jahrb, der histor, Classe der 1c, Akfid, der Wissenschaften,
Lahnstein zu erscheinen, die ihm genannten »gebrechen zu recht-
fertigen, und auch zu bessern, und das riche wider zubringen,,
als der heiligen Kirchen, dem heiligen Römischen Bich und
der gemeinen cristenheit des ein gross notdurfft ist. Und
quement ir nit uff diese vorgeschriben Stad und dag, zu thun
in der masse, als fürgeschriben stet: so .müsten wir von
Anruffunge des gemeinen Landes und auch von solicher eide
wegen, damit wir dem heiligen Römischen Rieh verbunden sin^
darzu gedenken, dun und bestellen, das dass heilige Rych
nutzlicher und redelicher gehandelt wurde, und wolteu darumb
solicher eyde, als wir uwer personen getan han, gentzlich ledig^
und uch fürbas nit me verbunden sin, bebeltnis uns doch
solicher eyde, damit wir dem heiligen Romischen Riche ver-
bunden sin, daby wi verliben wollen«. ^^^) Aehnlich lauten
die Vorladungen an Kaiser Friedrich III., und ganz richtig
wurde bei König Adolf die Verhandlung auch ein Verhör oder
:&colloquium« genannt. »Colloquium seu curiam infesto sanc-
torum Philippi et Jacobi pro regni negotiis edixerunt et regem
Adolfum et ducem specialiter vocaverunt.« ^^^) Kam also der
König und rechtfertigte sich, — oder gestand er seine Schuld zu^
gab aber durch sein ganzes Benehmen und je nach der Lage
der Dinge Bürgschaft, dass er die Schäden imd üebel, welche
ihm zur Last gelegt wm-den, bessern wolle und könne, — und
hierbei hatten, wie gesagt, auch die Reichsstädte mitzureden,
— kurz gelobte er Genugthuung: so war, wie Dalberg sich
ausdrückte, die Sache »gut«. Der König blieb in Ehren und
Würden, und die Stände halfen ihm, sein hohes Amt gedeih-
licher zu fuhren. Erschien der König aber nicht zum Sühne-
und Gerichtstage, oder verwaif er das Ansinnen, das ihm
gestellt wurde: so erklärten die Stände den heiligen Vertrags
den sie bei seiner Huldigung mit ihm errichtet, für durch ihn
(135) Obrecht 35. Ebenso Sobernheim bei Wencker 268.
(136) Chron. Colmar. ad a. 1298.
Löher: Bw Rechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung, 83
selbst gelöst und kündigten ihm ihre Eide auf. Deshalb wird
in der Sentenz gegen Wenzel so , viel Gewicht darauf gelegt :
dass er so oft ermahnt sei, sein unziemliche^ Leben abzulegen,
und dazu sich zu stellen und zu arbeiten, wie die Kirche wieder
zu Frieden und Einigkeit, das Reich wieder zu seinen Würden
Landen und Gütern komme; — dass aber, nachdem ihm all
die Beschwerdepunkte bestimmt vorgelegt seien, man aus kei-
ner Verhandlung mit ihm jemals befunden habe, er gebe oder
stelle sich dazu, als einem römischen König bUlig zugehöre;
— dass er endlich auf die letzte scharfe Vorladung gar nicht
gekommen und auch Niemand, von seinetwegen Etwas vorzu-
legen, gesandt habe; — dass also die Fürsten und Herren
nicht anders merken und prüfen könnten, als dass er der Kir-
che und des Beichs fortan kein Acht oder Sorge mehr haben
wolle: — weshalb er als ein Versäumer, Entgliederer, Unwür-
diger vom Keiche abgesetzt werde.
Es liegt am Tage, wie ein solches Verfahren zu ganz
ungeheuerlichen Dingen führen, wie es dazu dienen konnte, die
niedrigste Selbstsucht und jede Leidenschaft der Bache und
des Hasses, die klare Bebellion und den Bruch der heiligsten
Eide zu bedecken und zu beschönigen. Indessen wir haben
hier es nur mit derBechtsanschauung jener Zeit zu thun: diese
ist wieder zu geben, wie sie uns in den Quellen entgegentritt.
IV. Wenzel hat nun verschiedene Wege eingeschla-
gen: anfangs hat er sich verantwortet und Sühne geleistet,
später hat er vorgezogen, auf die Ladung nicht zu erscheinen.
Ehe wir das auseinander setzen, ist noch die dreimalige Vor-
ladung zu erörtern.
In allen schweren Fällen musste der Angeschuldigte, wenn
er in der ersten öffentlichen Gerichtsversammlung nicht erschien,
zur nächsten, — und kam er auch hier nicht, noch zur dritten
vorgeladen werden. Erst dann konnte man in seiner Abwesen-
heit über ihn urteilen. Auch ein Vormund, — und ganz wie
eine Vormundschaft über das Beich wurde das königliche Amt
6*
84 Jahrb. der histor, Glosse der k, Akad. der Wissenschaften,
aufgefasst, — wurde, wenn er seine Pflichten vernachlässigte,
dreimal vor Gericht geladen: »unde en kümt nicht vore an
deme dridden dage, rechtes to plegene, men scal ene balemunden,
dat is, men scal eme vordelen alle vormuntscap.« ^*^) Ebenso
erwähnt der Schwabenspiegel, ***) welcher Kurfürst und König,
die an ihrem Amte meineidig werden, sich gleichstellt, bei dem
ersten, wie man ihn zu des Königs Hof gebieten solle: »Und
kumet er niht dar, man sol imanderstunt zeinem andern ho ve
gebieten. Und kumt er zem dritten niht, so sol man in
meineide sagen, und swaz er von dem riebe hat, daz ist dem
riebe ledig.« Dies ist denn auch durch Beispiele erhärtet.
Heinrich der Löwe wurde im Jahre 1179 vom Kaiser dreimal
nach verschiedenen sächsischen Pfalzen vorgeladen. Er erhub
aber den Einwand: er sei schwäbischer Herkunft und müsse
auf schwäbischer Erde gerichtet werden. Jetzt wurde er im
nächsten Jahre nach einander nach Ulm, Nürnberg, Eegens-
bürg vorgeladen, zwischen jedem Gerichtstag lagen immer ein
paar Monate. König Adolf war von den Kurfürsten ebenfalls
dreimal vorgeladen : erst, als er auch das letztemal nicht erschien,
wurde seine Absetzung ausgesprochen.
Auch Wenzel ist mehremal vorgeladen. In der Absetzungs-
sentenz sagten die Kurfürsten: ^^^) »sie hätten ihm die ge-
bresten, yn selber und die heiige Kirch grosslich antreffend,
zu zyten (wiederholt) clerlich gesagt und beschrieben geben«,
(also waren ihm, wie schon erinnert wurde, auch schriftlich
die Klagepunkte zugestellt); doch hätten sie »noch sinen ent-
wurten und noch unser Widerrede und ernstlich ersuchen«, (es
war also hin und her verhandelt, wie zwischen Kläger und
Ankläger), nicht ersehen können, dasser seinen Beichspflichten
nachkonmien wolle. Darum hätten sie ihm »nu lest ander-
(137) Sachsensp. I 41.
(138) Schwabensp. 109.
(139) Obrecht 46—47.
Loher: Dm BecMsverfäfiren hei König Wenzels Ähseteung, 85
warbe (noch einmal) geschrieben und yn auch unser forderst
ersuchunge ermanet (ihre früheren Anklagepunkte ihm wieder
zu ¥QSsen gethan), begerende und heischende, das er« zu ihnen
komme nach Oberlahnstein. In der Benachrichtigung an die
Cardinäle heisst es ebenfeUs, Wenzel sei »ad diversa parlia-
menta« geladen, ^*®) und deshalb ist in König Ruprechts Aus-
schreiben von Wenzels »depositio rite ad finem executa« und
von der »düfinita sententia principum electorum« die Kede. ^**)
Welche verschiedene Tage sind nun Wenzel gestellt wor-
den? Verfolgen wir jetzt den Gang des eigentlichen Prozesses,
gleichMrie früher den historischen Verlauf dieser Dinge.
Wie Mathias Sobernheim berichtet, entschlossen sich die
Kurfürsten zu durchgreifenden Massregeln damals, als sie ohne
den König einen grossen Fürstentag nach Frankfurt beriefen,
zu welchem auch Herzog Leopold von Oestreich kam. Dort
wurde man zunächst darüber einig, an den König Boten und
Briefe zu schicken, dass er einen B.eichsvikar bestellen solle.
Dies geschah, wie wir aus andern Nachrichten wissen, im
April 1397. Da Wenzel, fährt Sobernheim fort, sich um der
Fürsten Verlangen nicht kümmerte, gingen sie jetzt einen
Schritt weiter, sie stellten ihm das bestimmte Begehren: er
selbst solle vor ihnen zu Frankfurt erscheinen, »instabant,
quod personaliter venit in Franckenfordiam.« Wenzel kam,
»et dicti principes electores, secum ibidem existentes, fecerunt
sibi in faciem pretactos articulos et plures alios recitari et
eciam sibi in scriptis dari, petentes iterum emendacionem.«
Dies war also die erste persönliche Vorladung Wenzels, und
zwar auf den Beichstag im Januar 1398. Weil er erschien
und sich mit den Fürsten wieder auf einen erträglichen Fuss
stellte, also seine Sühne und Genugthuung angenommen wurde,
so war damit das Verfahren far diesmals beendet. Auch Kai-
(140) Obrecht 69.
(141) Das. 72.
86 Jährh. der histor. Clanse der k. Akad. der Wissenschaften.
ser Ludwig dem Frommen war zuerst eine »paterna admonitio
et terribilis contestatio, sub divina invocatione ante sanctum
altare, in praesentia sacerdotum et maxima populi multitudine
facta,« und er hatte darauf feierlich seine »promissio« gegeben,
das ihm Vorgehaltene zu bessern. **^)
Da aber alle Hoffnung, Wenzel werde seinen neuen Ge-
löbnissen nachkommen, sich bald als eitel erwiess, wurde das
Verfahren wider ihn von neuem aufgenommen. Nachdem die
Kurfürsten zu Marburg sich erst unter einander, dann auf dem
grossen Fürstentage zu Mainz mit Andern zu des Königs Absetzung
geeinigt hatten, — was natürlich nur heissen konnte, man
wolle es im Kechtsverfahren bis dahin treiben, — erfolgte die
erste neue Vorladung auf den 19. November 1399, wo Reichs-
tag gehalten werden sollte zu Frankfurt. Dorthin waren auch
die Städte geladen und gekommen. **^) Wenzel hatte Bevoll-
mächtigte abgeordnet, welche aber, statt selbst zu erscheinen,
Verhinderungsgründe (oder wie man es nannte, Ehehaften)
einschickten : sie könnten nicht kommen wegen Unsicherheit der
Strassen mid wegen anderer »notlicher« Sachen und Geschäfte.
Damit es aber nicht heisse, der König habe sich auf die Be-
schwerdepunkte der Fürsten nicht erklärt, — »und uff die rede,
das sulche unsers egenanten herren des küniges Botschafft an
üch nit ungeworben blibe,« — so sandten sie die Klagebeant-
wortung ein nebst ihrer Vollmacht, den Prozess für den König
zu führen. Wenzel antwortete aber in drei Artikeln: 1. er
sei, wie er den Kurfürsten schon vorher zu wissen gethan,
verhindert zu kommen, habe aber sie selbst vergebens gebeten,
zu ihm zu konunen; 2. der Eeichstag sei ohne sein Wissen
und Wollen und ihm zur Feindschaft berufen; 3. er wolle auf
einem Eeichstage nach Ostern Alles, worüber man sich beschwere,
nach der Fürsten Eathe ordnen und bessern. ^**) Die Kur-
(142) Pertz Mon. Leg. l 367 unten 1.
(143) Obrecht 10.
(144) Das. 11—14.
Löher: Das BeclUaverfahren bei König Wenzels Absetzung. 87
fürsten aber erklärten darauf: 1. Ehehaften und Klagebeant-
wortung seien zu spät nach Frankfurt gekommen, nämlich am
Sonntag den 22. Mittags, als derBeichstag schon geschlossen
gewesen und man sich vorbereitet habe, andern Morgens früh
abzureisen. Es ist zu dabei zu merken, dass im Gericht, wenn
der Angeklagte bis Mittag nicht erschienen war, angenonunen
wurde, er wolle nicht kommen. 2. Wenn aber, fahren die Kur-
farsten fort, die Gesandten die Sache nun weiter besprechen
wollten, so sollten sie dazu einen Tag in Frankfurt bestimmen:
dann wollten die Kurfürsten ihre Bevollmächtigten dazu sen-
den. ^*^) Es erklärten also die Kurfürsten den ersten Eechts-
tag fär versäumt und verstrichen; nur um das weitere Verfahren
vorzubereiten (zu instruiren), wollten sie Bevollmächtigte be-
glaubigen. Darauf erwiederten des Königs Gesandte ganz
richtig: auf ein solches Verhandeln mit Bevollmächtigten Hessen
sie sich nicht ein, sie hätten mündlich mit den Kurfürsten
selbst zu sprechen, und wenn diese das hinderten oder nicht
einen neuen Beichstag nach Frankfurt oder Nürnberg bestellen
Avollten, so sei es klar, dass nicht an dem Könige, sondern
an den Kurfürsten die Schuld liege, wenn die Eeichssachen
»unbestalt und in irresal bliben.« ^*^) So glaubte man von
Wenzels Seite sich richtig und vorsichtig zu benehmen: einem
eigentlichen Bechtsverfahren wurde ausgewichen, für alle Fälle
aber Entschuldigungen und Versprechungen gemacht, und Alles
auf die Zukunft verwiesen.
Indessen die Fürsten Hessen sich nicht irre machen. Sie
einigten sich jetzt unter einander , aus welchen Häusern der
künftige König zu wählen sei, und schrieben dann den zweiten
Beichs- u. Bechtstag aus nach Frankfurt auf dem Meyer zum22 .May .
König Wenzel beeilte sich dagegen seinerseits einen Beichstag
(145) Obrecht 15.
(146) Da8. 16.
88 Jahrb. der lUstor, Glosse der k. Äkeid, der Wissenschaften.
auf den 4. April in Nürnberg anzukündigen. Da aber die
Stände nicht darauf hörten, so hielt er für's Beste, wie-
derum seine Bevollmächtigten nach Frankfurt zu schicken, imd
zwar jetzt mit dem Auftrage: gegen das ganze Verfahren zu
j^otestiren und den Eeichstag für incompetent zu erklären,.
ohne den König die Eeichs- und Kirchensachen zu bestellen.
Freilich folgte dann wieder die Entschuldigung, warum er nicht
selbst nach Deutschland konmie, und das Versprechen, welche
grosse Dinge er vorhabe, um den Kirchenfrieden herzustellen.
Nun folgte die dritte Vorladung auf den 10. August
nach Oberlahnstein. Wenzel hatte jetzt, was wiederum von
seinem Standpunkte aus richtig gehandelt war, vorgezogen^
das ganze Verfahren als ungültig, als nicht vorhanden anzu-
sehen, und hatte nicht einmal einen Protest eingeschickt.
Nachdem zehn Tage lang auf ihn, oder wer statt seiner auf-
trete, gewartet war, wurde er für geständig angenommen der
beiden Stücke : dass die Beschwerden gegen ihn in der Wahr-
heit begründet seien, und dass er ihnen nicht abhelfen wolle^
oder nicht könne, ^*') und das Absetzungsurteil erfolgte.
Es erklärt sich nun, wesshalb sich das Verfahren gegen
Wenzel so lange hinauszog. Die Fürsten waren längst einig
zu seiner Absetzung, aber sie hatten noch die drei förmlichen
Kechtstage zu wahren, zwischen denen jedesmal ein Zwischen-
raum von ein paar Monaten liegen musste. Die Kurfürsten
waren nicht säumig in der Ausschreibung. Sobald sie mit
dm übrigen Fürsten am 15. September 1399 sich verbunden
hatten, es solle gegen Wenzel das Absetzungsverfahren einge-
leitet werden, erfolgte am 20. Sept. das Ausschreiben zum
Beichstag auf den November. Als der Fürstentag am 2. Febr.
festgesetzt hatte, welche Geschlechter auf die neue Wahl
kommen sollten, erging schon Tags darauf die allgemeine
Einladung zur Reichsversammlung im Mai. Unmittelbar aua
(147) Sobernheim bei Wencker 269.
LÖher: Das BetMsfoerfahren hei König Wenzels Absetzung, 89
dieser selbst, am 4. Juni, dem Tage vor dem Schluss Am
Beichstags, erging dann die Ladung zum dritten Keehtstag
bei Lahnstein, wo die Absetzung erst konnte ausgesprochen
werden.
V. Ehe das Letztere geschah, bestürmten die drei geist-
liehen Kurförsten noch einmal ihren Genossen Buprecht von
der Pfalz, der sich noch immer nicht erklärt hatte, er solle
sich jetzt entscheiden, Wenzels Nachfolger zu werden. Ruprecht
war ein redlicher und gebildeter Herr, von weichem und tief
religiösem Gemüthe. Sie hielten ihm vor: es sei Gewissens-
sache für ihn, die Erone anzunehmen, weU sonst die heilige
Kirche und das deutsche Reich in's Verderben gingen. »Do-
minus bene pensans, Imperium fere totaliter esse desolatum,
vii vel nunquam reformandum, et quod esset desolacio sui
proprii dominii et consumpcio virium suarum, et quietum diem
per totam suam vitam numquam haberet, — dictis dominis
suppUcare non cessantibus, — dominus perplexus, dei omni-
potentis indignacionem timens incurrere, si non assumeret, dee
Yolente animum suum revolvens in adjutorium altissimi sperans,
consentit in sue persone eleccionem«. ^*®) Wohl wusste der edle
Ruprecht, dass er eine schwere Dornenkrone aimehme. Das
nächste harte Gewicht, welches daran hing, war eben die
Vollziehung des Absetzungsurteils. Denn hierin lag^
die schwächste Seite des ganzen Rechtsverfahrens. Wohl nahm
man, als sich dasselbe in der Rechtsanschauung des Volkes
entwickelte, in Aussicht : dass der rechtmässig abgesetzte König
sofort von Allen verlassen werde. Wenn er aber noch irgend
etwas Macht und Anhang hatte, so endigte das Absetzungs-
verfahren im Bürgerkrieg, und das war, wie es nicht andera
sein konnte, sein regelmässiger Ausgang.
(148) Sobernheim
90 Jahrb. der Imtor, Classe der k. Akad, der Wissenschaften.
XI. Wenzel und die Fürsten.
König Kuprecht hatte einen noch verhältnissmässig leich-
ten Krieg gegen den Abgesetzten: denn so gross auch die
Macht des Hauses Luxemburg, sein Haupt Wenzel war doch
von Gott und aUer Welt und von sich selbst verlassen. Frei-
lich, als der Frankfurter Stadtbote ihm zehn Tage nach dem
Lahnsteiner Gericht die erste Kunde brachte, da schäumte er
auf in Wuth, »und fragete, wo Clemme were, der sich einen
romsschen könig schriebe, und sprach: »ich will das rechen
odir wil tot darumb sin, und er müss als difif herabe, als er
je hoch uff den Stul gesast wart«, und swüre by sant Wenczile,
er wulde in dot stechen odir er muste in dot stechen. Da
sprach marggi-ave Jost von Merern: »wir wollen daz rechen,
odir ich enwil nirgen ein haar in myme harte behalden«. ^*^)
Bald folgte ein zorniger Brief nach dem andern an die Städte:
Wenzel werde kommen mit einem furchtbaren Heer und schreck-
liche Rache nehmen. Die gesammte Luxemburgische Macht
rüstete: Brandenburg Böhmen die Lausitz Schlesien Mähren
das ganze halbslavische Ostdeutschland und die Ungarn dazu
sollten in's Eeich einfallen. Was noch mehr bezeichnend,
war der dringliche HüKeruf, den Wenzelf eiligst an den
König von Frankreich abschickte. Er beschwor ihn bei aller
Treue und Aufopferung, die sein Haus für die französischen
Interessen bewiesen, bei der Liebe, die er vor allen seinen
Verwandten zu ihm trage, bei der gegenseitigen Liga, deren
Urkunden er in Händen habe, bei diesem Allem beschwor er
ihn, den lügnerischen Ausstreuungen seiner Feinde nicht zu
glauben, — »quinpotius pro reprimenda eorum rebellium nos-
trorum temeritate et exquisitis caliditatibus conculcandis tota
vestra potentia nobis constanter assistere consiliis et auxiliis
oportunis, prout super hiis ac aliis arduis negotiis." ^^®) Der
(149) Bericht des Stadtboten aus dem Frankfurter Stadtarchiv.
(150) Pelzel II. Urk. B. 71.
Löher: Das Bechtwerfahren bei König Wenzels Absetzung. 91
deutsche König rief den französischen um Hülfe wider Deutsch-
land an.
Indessen von Alledem geschah nichts. Wenzels Bruder
Sigismund verlangte für seine Hülfe erst Sclüesien, die Lausitz^
und die Verwaltung von Böhmen; seine Vettern Jost und
Prokop von Mähren und die böhmischen Herren verlangten erst
Abstellung ihrer Beschwerden. Darauf verbündeten sich Wen-
zels nächste Verwandte und vornehmsten Barone mit seinem
heranziehenden Feinde Buprecht. Endlich nahm ihn Sigismund
mit sich in die Gefangenschaft nach Oestreich. Palacky, der
Wenzels Absetzung so bitterlich verdammt, erzählt, dass der
arme Fürst damals die Himmelskönigin anflehte, ihm doch
etwas Muth einzufiössen ; dass er wie ein Unmündiger in Allem
geleitet und unterstützt sein wollte; dass er ein willenloses
unbehülfliches altes Kind gewesen; dass er in seinen lateini-
schen Knittelversen voll trübseliger Laune sich selbst einen
armen Bettelstudenten nannte. "^)
War es nun wohl zu wundern, dass über einen solchen
König, gegen welchen seine nächsten Verwandten und Unter-
thanen jede ehrlose und niederträchtige Behandlung für erlaubt
hielten, dem in halblichten iStunden seiner Trunksucht selbst
die Wahrheit seiner Elendigkeit aufdänunerte, — war es zu
verwundern, dass über ihn nur eine allgemeine Stimme der
Entrüstung in Deutschland erschallte? Nirgends erhob sich
für ihn ein Vertheidiger , alle Chroniken jener Zeit bedecken
ihn nur mit Schmach, und alle Welt findet die Absetzung
dieses Unwürdigen und Unfähigen nicht anders als recht und
billig. ^^^) Der Visconti' sehe Itathgeber Therunda zeigt sich
in einem Trostschreiben an Wenzel über die Kurfürsten na-
türlich höchst erbosst, allein er kann sich doch nicht enthalten,
dem Gönner Galeazzos viele Vorwürfe über seine Nachlässig-
(151) Palacky 126 Note 145. 137. 145.
(152) Pelzel II 426—428.
92 Jahrb, der histor, Classe der k. Akad. der Wissenschaften.
keit zu machen, und der feine Italiener setzt in Bezug auf
Wenzel naiv hinzu: »irasei liceat, precor, non odisse.« i**) Der
vorsichtige Hofmann Dynter, der bei Wenzels Brabanter Ver-
wandten im Dienst stand, schreibt: »Qui quidem rex Wences-
laus diu vixit et suo tempore nihil aut modicum boni fecit
neque laude seu narracione dignum. Propter demerita et alia
maleficia a regno Eomanorum privatus.« ^**) Schwerlich wird
man einen andern Schriftsteller jener Zeit nennen können, der
es so ehrlich mit der Kirche und mit Deutschland, und vor
Allem es so ehrlich mit der Wahrheit meinte, als Dietrich
von Niem (Nieheim bei Paderborn). Dieser aber sagt von
Wenzel: mit Eecht habe man ihn dem unvernünftigen Vieh
verglichen; ein Gottesgericht sei es, dass er von seinen eigenen
Verwandten so misshandelt worden ; ein Gottesgericht, dass er
abgesetzt worden; ein Gottesgericht, dass er zuletzt so lahm
geworden, dass man ihn wie ein Stück Holz von einem Platz
auf den andern tragen musste. ^**)
Niemals waren daher bei irgend einer Thronfrage in
Deutschland beinahe sämmtliche Fürsten so fest und einig,
als in dem urteil, dass Wenzel vom Throne müsse. Ohne
äussere Nöthigung, im vollen Frieden einigen sich die Fürsten,
um einen König, dessen Legitimität fär Alle unzweifelhaft,
dessen Eegierung keinem für sich allein bedrohlich ist, die
Krone zu nehmen.
Ausser den beiden luxemburgischen Kurstimmen betreiben
sämmtliche Kurfürsten die Absetzung, und mit Recht wurde
diese beständig als eine einstimmige geltend gemacht, obgleich
sie nur von vier Stimmen ausgesprochen war. Denn nach
den Regeln der Goldenen Bulle galten bei einer Wahlhandlung
die Ausbleibenden für beistimmend, wenn sie gehörig vorge-
(153) Palacky 125, Note 143. 136, Note 158.
(154) Dynter Chron. duc. Brab. 78. 75.
(155) Nemoris ünionis labyrinthus 368.
Loher: Das Bechtsverfahren bei König WeMds AbseUmnf. 98
laden waren: die Anwesenden aber waren einstinunig gewesen.
Den Kurfürsten stimmten bei die langen Reihen der Biscköfe
und Prälaten , sowie die weltlichen Fürsten. Die Meisten dar
letzteren waren ausdrücklich und förmlich bei der Absetzung,
die wenigen andern stillschweigend dabei betheiligt. Trotz
des heillosen Zwischenfalls, dass unter verdächtigen Umständen
der Herzog von Braunschweig erschlagen und der sächsische
Kurförst gefangen wurde , konnte das Verfahren gegen Wenzel
seinen Gang gehen bis zum Schlüsse. Unter all den zahl-
reichen fürstlichen Genossen Wenzels erhebt sich nicht eine
Stimme zu seinen Gunsten. Obgleich manchem Fürsten Eup-
rechts Wahl gar nicht recht war, obgleich Einzelne, wie die
von Meissen Hessen Würtembergsich mahnen Hessen, zur Lehna-
huldigung zu konmien, erklärte doch auch jetzt keiner das
Verfahren gegen Wenzel für ungesetzlich, es wären denn seine
nächsten Verwandten. Und von diesen waren die Bayern
gleich Anfangs sämmtlich gegen ihn, nur einer, Herzog Ernst,
fiel im Hader mit seinem Bruder später wieder ab; von den
Oestreichem trat der Mächtigste, Herzog Leopold, als Helfer
auf Seite König Ruprechts; und von den drei Luxemburgern
verbündeten sich mit diesem die Markgrafen Jost und Prokop,
und dazu die Vornehmsten unter den böhmischen Landherren.
Wenzel hatte, als man über seine Absetzung verhandelte, auf
den 15. März 1400 die Krönung seiner Gemahlin in Prag
ausgeschrieben, sehr herrlich sollte die Feier sein. Er dachte,
deutsche Fürsten, ganz gewiss die bayerischen Brüder und
Vettern der Königin, nach Prag und an sich zu ziehen. Nicht
ein Einziger kam zum Krönungsfeste.
Woher eine so seltene Einmüthigkeit in der gesanmiten
deutschen Fürstenwelt? Es lässt sich in der That keine
andere durchgreifende Ursache denken, als dass die Fürsten
in der Person eines Königs wie Wenzel eine Schmach für
ihre fürstliche Ehre, in seiner Regierung schreiende Schäden
für Beich und Kirche erblickten.
94 Jahrb, der hütor, Classe der k. AJcad. der WiMgemchaften,
Am meisten schienen die geistlichen Fürsten ihr beson-
deres Interesse zu haben , baldmöglichst eines Königs, wie
Wenzel es war, entiedigt zu werden. Es herrschte schon
damals in Deutschland eine bittere Stimmung gegen Alles,
was zum vornehmen Klerus gehöre. Auch Wenzel hasste ihn,
seine wiederholten Wuthausbrüche gegen Geistliche gaben
Zeugniss. Und musste es nicht gerade die geistlichen Fürsten
aufregen, als der König neun Würzburger Städten auf einmal
den Eeichsadler verlieh? War doch seit uralter Zeit her so
oft hin und hergestritten, welche Hoheitsrechte der König in
der Bischöfe Städten, die unter seinem ganz besondern könig-
lichen Rechtsschutz standen, ausüben könne. ^*^) Indessen,
die Sache sah schlimmer aus, als sie war. Wenzel hatte bei
Gelegenheit der Würzburger Städte nur eben blicken lassen,
was zu thun er allenfalls im Stande sei. Was er aber nicht
that, wusste man sofort, als er bald darauf die alten Rechte
des Bischofs Domkapitels und Adels im Würzburger Lande
wieder herstellte. Die blutige Schlacht bei Berchtheim hatte
bereits zu Anfang des Jahres 1400 die Freiheitshoffnung der
Würzburger Städte ausgelöscht. Der hohe Klerus fürchtete
Wenzel nicht sonderlich mehr. Auffallend aber blieb es, dass
nun unter all den deutschen Prälaten, als man den gekrönten
König vom Throne reissen wollte, sich nirgendwo eine war-
nende Stimme hören liess. Die Geistlichkeit hält doch sonst
gerne fest an den legitimen Gewalten und schreckt zurück
vor schroffen Neuerungen. Jedoch unter all den Fürstbischö-
fen und Fürstäbten in Nord- und Süddeutschland, unter den
zahlreichen geistlichen Publizisten fand keiner ein Wort für
Wenzel: sie alle hielten um der Kirche und des Reiches willen
das Verfahren gegen ihn für recht und billig. Verträge, wie
sie der Fürstbischof von Bamberg am 23. September 1400
(156) Vgl. Schwabensp. 94.
Lohet: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 95
mit Ruprecht abschloss, ^*^) enthalten nur die Bestimmung:
den König sofort anzuerkennen, als er in Frankfurt eingezogen
sei; dagegen solle dieser dem Bischof täglich mit 70 Gleven
und wo es sonst Noth thue helfen, und ihn für etwaige ganz:
besondere Dienste nach dem Ausspruch von Schiedsrichtern
entschädigen.
Was aber hätte die weltlichen Fürsten dazu bringen sol-
len, mit persönlichem Hass über Wenzel herzufallen? Aerger
über die Grösse des Luxemburger Hauses konnte all die Her-
zoge und Grafen wahrlich nicht bis zum äussersten Schritt
aufstacheln. Die vier Prinzen dieses Hauses, Wenzel Sigis-
mund Jost und Prokop, erregten ihres jämmerlichen Beneh-
mens wegen keine Furcht, sie gaben nur Aussicht auf Selbst-
zerstören und Aussterben der ganzen Linie. Aber die Hoffnung»
selbst König zu werden, konnte diese etwa die Fürsten in Be-
wegung bringen? Doch diese Hoffnung war, da ihrer so Viele
waren, für den Einzelnen sehr gering. Hatten sich doch von
vom herein sechs Fürstenhäuser verbunden. Jedem der unter
ihren zahlreichen Prinzen gewählt wurde, wer es auch sei, mit
gewaffneter Hand beizustehen. Und auch die übrigen Fürsten
wurden nicht von der Wahl ausgeschlossen, das erhellt deut-
lich aus dem Zusatz zu dem Mainzer Bündniss. üebrigen&
gab es nur noch ein Fürstenhaus, welches jenen Sechs an
Macht und Ansehen gleichstand. Dies war das östreichische,.
und wir finden nirgends bemerkt, dass es sich durch Ausschluss
von den Sechs beleidigt gefühlt hätte. Die Herzoge Leopold
und Wilhelm von Oestreich waren vielmehr auf dem letzten
grossen i^eichstage zu Frankfurt ebenfalls, wenn ^auch nur
durch Boten, vertreten.
Doch endlich die Kurfürsten, welche die eigentlichen
Prheber und Leiter des Verfahrens gegen Wenzel waren^
verfolgten sie denn nicht ganz besondere eigensüchtige Zwecke i-
(157) Aus dem Würzburger Archiv.
^6 Jahrh, der histor, Glosse der k, Akad, der Wissenschaften,
Auch bei ihnen können wir keine entdecken. Weil die Stim-
mung unter den Fürsten gegen Wenzel allgemein gereizt war,
desshalb mussten die Kurfärsten, denen es zunächst oblag,
für das verlassene und geschändete Beich zu sorgen, damit
den Anfang machen : das allein erscheint als ihr Antrieb. Hatten
sie denn unter Wenzels Regierung für sich selbst etwas zu
leiden oder zu fürchten? Dachten sie denn durch Euprecht
für sich selbst etwas Besonderes zu gewinnen? Geschichte
und Urkunden antworten auf beide Fragen ein klares Nein.
Unter einer so säumigen haltungslosen käuflichen Beichsge*
walt, wie Wenzel sie führte, blühte ja der Waizen aller
selbstsüchtigen Fürsten. Die Beichsgüter waren bei ihm wohl-
f(ril, und wenn er einmal etwas zum Besten der gemeinen
Eeichsfreien unternahm, immer machte er es in seinem Un-
verstände so, dass es zum Vortheil der Fürsten ausschlug.
Was Hessen sich nun die Kurfürsten von Buprecht vor seiner
Wahl versprechen und nach der Wahl ertheilen? ^^^) Es
waren vier Stücke. Erstens musste er die in der Goldenen
Bulle den Kurfürsten verliehenen Eechte bestätigen und ver-
sprechen, ihre Länder zu schirmen und sie nicht wider Becht
zu bedrängen. Das aber verstand sich von selbst. Zweitens
sollte er die ganze Bheinstrasse von Basel bis zur See von
allen Zöllen freimachen, die seit einem Menschenalter darauf
gewälzt seien, und bei hoher Strafe sollte kein neuer Zoll
errichtet werden; wo aber Wenzel oder sein Vater neue
Bheinzölle widerrufen hätten, da sollte es dabei bleiben, die
Zölle der Kurfürsten ausgenommen. Das erschien dodi nur
als eine grosse Wohlthat zum allgemeinen Besten, und die
fär die Kurfürsten gestellte Ausnahme hinsichtlich der wider-
rufenen neuen Zölle war nichts Bedeutendes, wenigstens sind
keine Urkunden dafür da. Die beiden andern Stücke aber,
worauf sich der neue König den Kurforstoi verpflichten moaste.
(168) Obrecht 57—59.
Löher: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung, 97
l)estanden bloss darin, dass er sich des Eirchenstreits ernstlich
;annehme, und dass er die Lombardei nnd nach dem Tode d^
letzten Erbförstin Brabant wieder an's Beich bringe.
Dass gerade diese beiden Hauptbedingongen dem neuen
König gestellt werden, beweist, wie darin auch der Hauptan-
lass für die Absetzung des alten Königs lag. Wohl zu beachten
ist hier ein Zusatz. Euprecht muss den Kurfürsten versprechen,
4iese Länder »dann auch by dem Biche getruwelich (zu) be-
halden, und soliche koste und schaden, die daruf geen werden
und darumb geschehen (für ihre Wiedererwerbung), darumb
mögen wir an dieselben land griffen und die davon ussrichten
tmd widemehmen mit rade der kuriursten.« Der König soll
ülso diese wichtigen und reichen Länder nicht wieder verleihen,
«r soll sie als unmittelbare Besitzungen, als Kammergüter des
Beichs behalten und benutzen. Damit war ein Schritt gethan,
der für das Beich höchst wohlthätig werden konnte. Es war
die entschiedene Umkehr von den Wegen Kaiser Karl IV.
Die Beichsgüter soUten nicht mehr verschleudert, sondern es
^Ute dem Könige und Beiche wieder ein grosser Bestand von
unmittelbarem Beichsland gewonnen werden. Ein trefflicher
Oedanke, von der äussersten Wichtigkeit, und durchaus nicht
im Interesse fürstlicher Landvermehrung! Schade nur, dass
die Kurfürsten nicht auch die nächsten Mittel boten, damit
•der König das Beich wieder zu Kräften bringe: diese Mittel
bestanden in flüssigen Steuern, um tüchtiges Kriegsvolk zu
bezahlen.
Als geheime Gründe, weshalb die Kurfürsten von Mainz
mid von der Pfalz es hauptsächlich gewesen, die Wenzel ge-
stürzt, wird von neueren Geschichtschreibem noch Folgendes ange-
führt. Der Mainzer habe es aus Bachsucht und aus Furcht, der
Pfälzer habe es aus Ehr- und Habsucht gethan. Ob wohl
Johann von Nassau es Wenzel so grimmig nachtrug, dass
dieser ihm anfangs den Mainzer Kurhut nicht gönnte? Das
lag nicht im Charakter des Mannes. Und erschien denn ein.
7
98 Jahrh, der histor, CHasse der k, Äkad, der Wissenschaften,
Wenzel hassenswerth oder erschien er bloss verächtlich ? üeb-
rigens hatte er sich selbst ja längst mit dem Mainzer Kur-
fürsten wieder gut zu stellen gesucht. Wenn dieser aber für
den Fall, dass Bonifaz zur Abdankung genöthigt wurde, noch
für seinen Kurhut zu furchten hatte, dann waren alle Prälaten
mit ihm im gleichen Falle, die ihre Infuln von Eom geholt
hatten. Die Gründe endlich, auf welche man den Verdacht
gegen den Pfölzer stützt, sind doch gar zu hinfällig. Der
Vertrag des Mainzers vor seiner Wahl mit Kuprecht enthält
nur eine allgemeine Formel der gegenseitigen Unterstützung,
wie sie in tausend Urkunden jener Zeit vorkommt. Den viel-
berufenen Brief, der Wenzel von der französischen Eeise so
derb abrieth, hat, wie Höfler nachgewiesen, der spätere König
Euprecht gar nicht geschrieben. Dieser hatte auch durchaus
noch keine sichere Aussicht, gewählt zu werden. Noch auf
dem letzten Frankfurter Tage konnten, wie Sobemheim berich-
tet, die Fürsten über den Neuzuwählenden nicht einig werden.
Die Frankfurter schrieben noch am 20. Juli an Wenzel, die
Fürsten seien einig, »einen dessen namen sie doch nit wissen,«
am 10. August auf den Königsstuhl zu Ehense zu heben. ^^*)
Die Städte glaubten sogar: nachdem Herzog Friedrich erschla-
gen sei, werde man wohl nicht mehr zur Wahl schreiten;
also war Jener von einer überwiegenden Anzahl Kurstim-
men ausersehen. Endlich spricht Alles, was wir von Euprechts
Charakter wissen, dafür, dass Sobemheims Bericht, den er
auch nicht für die OeflFentlichkeit schrieb, wahr ist. Nach
diesem aber erklärte sich Euprecht erst im letzten Augenblick
bereit, die Wahl anzunehmen, und zwar that er es mehr aus
Gewissenspflicht als aus Ehrgeiz.
Es haben sich nun noch einige andere Verträge, welche die
Kurfürsten vor und am Absetzungstage schlössen gefunden. ^^^)
(159) Aus dem Frankfurter Stadtarchiv.
(160) Im Würzburger Archiv.
Loher: Das Bechtsverfähren bei König Wenzels Absetzung. 99
Man erwartet in ihnen geheime Verabredungen, allein sie be-
zeugen nichts Anderes, als dass die Fürsten ehrlich und rück-
haltslos in so ernster Sache wollten zusanunenhalten , deshalb
räumen sie jeden Anlass weg, der Misshelligkeit unter ihnen
schaffen konnte. Am 10. August, als der Eeichstag zu Lahn-
stein eröffnet wurde, glichen die Kurfürsten von Köln und
Mainz alte Irrungen unter einander aus. Am 20. August,
dem Tage wo Euprecht sich endlich erklärte, die Wahl anzu-
nehmen, unterschrieb er Verträge mit seinen Genossen von
Mainz und Köln, in welchen sie sich verpflichteten, ihr Le-
benlang keinen Krieg unter einander zu dulden, und all die
Streitigkeiten zwischen ihnen, um die Gerichtsgränzen zu
Handschuhsheim Nauenheim Bacharach, um Forstrechte Vi^ild-
bann Eigenleute u. s. w., sofort durch Schiedsrichter zu be-
endigen.
Stimmen för Wenzel erschallten nur aus Italien. Dort
nahm der Pabst eine seltsame Haltung an. Die Kurfürsten
hatten ihm gleich anfangs Botschaft gesandt, er soUe sich
ebenfalls gegen Wenzel erklären. Nun berechnete der Pabst,
wie auf der einen Seite Wenzel stehe mit den Königen von
Ungarn und Polen, auf der andern Seite ganz Deutschland
soweit es nicht luxemburgisch, und wie Wenzel in bedrohlicher
Weise zu Frankreich hinneige, und das Verfahren der Kurfürsten
ihm Einhalt thue. Also gab ihnen der Pabst ausweichende
Antwort. Seine Cardinäle aber schickten eilends nach Prag
einen kuriosen Brief. »Gleichwie einen Wanderer,« so schrie-
ben sie an Wenzel, »wüthende Hunde anfallen, oder wie der
betrügerische Jakob Esau um sein Erstgeburtsrecht brachte,
so wollten gewisse Leute das arme zerbrechliche Eeichsszepter
an sich reissen. Diese bestürmten den Pabst, er solle ihnen
beistehen. Wenzel aber solle sich aufmachen in der Stärke
des Pyrrhus, der Macht des Julius, der Schönheit des Paris,
und in Rom die Kaiserkrone empfangen, ehe sie ihm Jemand
raube. Dann werde er leicht erreichen, was seine Neider
7*
100 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschafteil,
hätten." ^^^) Auch der Pabst dringt nun beständig in Wenzel,
dass er über die Alpen komme, er woUe ihm die Krönung
sogar nach Mailand entgegen bringen; ja er woUe wie der
zärtlichste Vater über seiner Krone wachen und selbst sein
Blut dafür vergiessen. ^®*) Unterdessen ging aber, wie der
Pabst wohl wusste, das Eechtsverfahren gegen Wenzel seinen
Gang. Obwohl er nun beständig behauptete, nur ihm stehe
es zu einen römischen König abzusetzen, und obwohl es noch
drei Jahre dauerte, ehe er sich für Ruprecht erklärte, so erhob
er sich doch niemals zu einer Vertheidigung Wenzels. Endlich
bestätigte er das ganze- Absetzungsverfahren. Eine so unwi-
derstehliche Kraft lag in der allgemeinen Ueberzeugung von
Wenzels Nichtswürdigkeit.
XII. Politik der Städte.
Hören wir noch die treuesten Zeugen dafür, ob ein Vor-
gang recht und heüsam war, oder ob er der Macht und Ein-
heit Deutschlands Schaden brachte. Diese, welche es am red-
lichsten mit dem Vaterlande meinten, waren die deutschen
Städte. Seit der Hohenstaufenzeit gab es tausend und tausend
Thatsachen, welche den Fürsten in's Angesicht davon Zeugniss
ablegten, dass hauptsächlich sie es seien, welche an der Zer-
splitterung der Reichsmacht, an der Entfremdung seiner Güter,,
an der Ohnmacht seines Königs die Schuld trugen. Die
Reichsstädte, soviel auch ihre Langsamkeit und ihre Kirch-
thurmspolitik verschuldeten, hatten wenigstens stets ein leben-
diges Gefahl für Deutschlands Ehre und Wohlfahrt bekundet :
beständig waren sie des Königs treueste Unterthanen, wieder-
holt hatte ihr einmüthiges und kraftvolles Handeln die Würde
und Einheit des Reiches gerettet. Wie benahmen sich nun
(161) Pelzel ürk. B. 57.
(162) Das. 70.
LÖher: Das Eeclitsverfdhren bei König Wenzels Absetzung, 101
diese Keichsbürger, als die Fürsten den König absetzten? —
Nichts könnte Wenzel stärker verdammen.
Allerdings hatten die Städte unter ihm und seinen Vater
keine gute Zeit gehabt. Ihr freies Wesen war Karl IV. in
der Seele verhasst. Wo es anging, hatte er ihm in der Gol-
denen Bulle Abbruch gethan; alte Reichsstädte hatten ihre
Freiheit eingebüsst; ja man legte ihm den Plan unter, dasa
et- noch eine Menge von freien Städten den Fürsten in die
Hände spielen wollte. ^^') Sein Sohn schlug, wie das so häufig
in der Eegentengeschichte vorkommt, entgegengesetzte Wege
ein. Wenzel hatte ein bürgerfreundliches Gemüth, er gönnte den
Städten alles Gute, und wäre es auch nur gewesen, um die
Fürsten zu ärgern, die er hasste als seine ewigen Hofineister.
Freilich hatte Wenzels Regierung die Stadtchroniken mit
Unglücksblättem bereichert. Soviel Gescheidtes er mit dem
freien Bürgerthum hatte beginnen wollen, immer sahen sich
die Städte vom König im Stich gelassen. Ihre besteij Männer
hatten sie als Leichen heimgeführt von den Schlachtfeldern
bei Mainz, Döfi&ngen, Eschborn, Berchtheim; ihre Bünde waren
vernichtet; ihre Macht hatte einen harten Stoss erlitten, daa
Fürstenthum aber einen mächtigen Aufschwung genommen.
Tiefes Misstrauen beseelte alle freien Städte gegen die Fürsten.
Wo Diese etwas unternahmen, fürchteten Jene, es stecke ein
Anschlag wider ihre Freiheit dahinter. Wenzel aber blieb
den Städten geneigt. Konnte er im Nothfalle nicht doch ein-
mal ihre Stütze werden? Jedenfalls besserten sie durch ihn
aufs Reichlichste ihren alten Stock an Privilegien und Freiheiten.
Es gab keine Reichsstadt, die sich nicht der Fülle seiner Gnaden
zu erfreuen hatte. Konnten sie doch am tiefsten in den Säckel
greifen und die Membranen vergüten in blanken Goldgulden.
Als nun die Kurfürsten sie zum ersten Frankfurter Reichs-
tag auf den November 1399, um »grosser Nothduift« willen^
(163) Theod. a Niem Xem. Union. Labyr. 366.
102 Jakrb, der higtar. Ckuse der k. Akad. der Wüaenschaften.
emlnden, als sie — mit ernstlichem Bitten und Beehren, sich
nicht >anf andere Wege nnd Laufte ziehenc zu lassen, da sie
Ton den Kurfürsten bald solche Wege vernehmen sollten, die
der Kirche und dem Bdche »nütdich gut und bequemüch« sein
and auch den Städten »wohl gefallene sollten, — zum zweiten
Frankfurter Tage im Mai 1400 geladen wurden: — beidemal
Terhielten sich die Städte weniger als Mithandelnde, denn als
Zuschauer. Sie widersprachen nicht, betheiligten sich aber
auch nicht sonderlich. Wäre Wenzel irgend nur ein rechter
E^iig, wäre das Verfahren der Fürsten gegen ihn irgendwie
ungerecht gewesen, gewiss, die Städte hätten ihn einhellig auf-
gerufen, zu kommen mit seiner und mit ihrer Macht und
königlich seine Krone zu behaupten. Es wäre schon von Be-
deutung gewesen, hätten die Städte ihm bloss ihren moralischen
Beistand geliehen. Doch sie konnten die Scheu nicht über-
winden, mit ihm sich tiefer einzulassen. Sie kamen trotz der rüh-
renden Ermahnungen seiner Gesandten nicht auf den Beichstag,
den er auf den October nach Nürnberg ausgeschrieben hatte;
rie Hessen nicht minder, als des Königs Boten an den Bhein
kamen und einen Städtetag nach Mainz auf den 14. Februar
ausschriebe, den ganzen Tag vergeblich auf sich warten. ^^^)
Als auf dem zweiten Beichstage die Kurfürsten ihnen
erklärten: sie hätten den König jetzt oft genug, aber vergebens
ermahnt; sie seien bei ihren heiligsten Beichspflichten gezwun-
gen^ jetzt wider ihn vorzuschreiten; sie meinten es lauter und
ehrlich und suchten nicht ihren eigenen Nutzen dabei; sie
würden ihm jetzt zum letzten und entscheidenden Bechtstag
nach Lahnstein bescheiden: ^^^) — jetzt mussten auch die
Städte sich entscheiden und erklären, ob sie für oder wider
den König sein wollten. Ihre Lage war bedenklich. Wussten
ne denn wirklich, was AUes gesponnen und gebraut wurde?
(164) Obrecht 24.
(166) Daselbst 27—27.
Lohet: Das Bechtsverfahren hei König Wenzels Absetzung. 103
Wie, wenn am Ende plötzlich ein neuer König an die Spitze
des Fürstenbundes trat, der mit neuen Gesetzen und vereinten
WaflFen über ihre Freiheit herfiel? Auf der andern Seite war
die Luxemburger Macht doch sehr bedeutend. Wenn es nun
zum Kriege kam, wenn Wenzel Sigismund Jost und Prokop
mit starkem Heer heranzogen, und sie die Städte hatten es
mit des Königs Feinden gehalten, gewiss ging es am ersten
gerade über sie her, sie wären sicherlich von der einen, wie
der andern Partei geopfert. Ihre ganze Stellung hätte sie
jetzt auf Wenzels Seite ziehen müssen. — Allein ihr Gewissen
sagte ihnen, dass er ein Unheil bliebe für Deutschland und die
Christenheit, und ihr Verstand sagte ihnen, dass keiner anders
auf ihn bauen könne, als auf weichenden Sand.
Also hielten die Städte Mainz Strassburg Worms Speyer
Frankfurt und Friedberg einen besondern Tag zu Mainz und
wurden einig, folgende Politik einzuschlagen: 1. Sie wollten
sich noch nicht aussprechen. Aus dem Tage zu Lahnstein
werde, da Herzog Friedrich von Braunschweig erschlagen wor-
den, doch wohl nichts werden. Dann könne, was die Städte
jetzt erklärten, da doch Nichts verschwiegen bleibe, ihnen bei
dem Könige, welchem die eine Stadt noch stärker als die an-
dere verbündet sei, übel angerechnet werden, oder andern Falls
bei den Fürsten. 2. Den Tag zu Lahnstein wollten sie be-
schicken, um zu sehen, was dort vor sich gehe. Wenn aber
in Lahnstein die Fürsten sie fragten, ob sie ihnen beiständen,
so wollten sie einmüthig antworten: das sei eine schwierige
Sache, die Fürsten hätten sie zu lange heinüich unter sich
behandelt und sich gegenseitig darauf zur Hülfe verpflichtet,
jetzt sogleich könnten sich die Städte noch nicht erklären.
Sie wüssten ja nicht, wer König werde, nicht, welche Hülfe
sie im Kriege von den Fürsten hätten, nicht, ob sie bei ihren
Freiheiten blieben, und die Fürsten hätten sie auch noch nicht
unterwiesen, wie sie mit Ehren und Glimpf vom Könige Wenzel,
dem sie Gehorsam gelobt, loskämen, üeber das Alles sollten
104 Jährb, der histor, Cktsse der k, Akad. der Wissenschaften,
die Fürsten ihnen erst reinen Wein einschenken. 3. Unter
einander aber wollten die Städte, so beschlossen sie ferner^
sich von Allem, was sie erfahren, stets in Kenntniss setzen,
stets verschwiegen handeln und einträchtig auftreten. ^•^) —
Ohne Zweifel dachten und handelten die übrigen Beichsstädte
ebenso, wie die vorbenannten am Bheine. Die schwäbischen
Städte beeilten sich, mit ihrem gefürchtetsten Gegner, dem
Grafen von Württemberg, einen neuen festen Landfrieden auf
sieben Jahre zu machen, einerlei ob der König bleibe oder
abgesetzt werde. Was wollte es bei einer solchen Haltung^
der Städte viel bedeuten, wenn der Frankfurter Rath am 20.
Juli vertraulich an Wenzel schrieb: dass die vier Kurfürsten
eine Botschaft an den König von Frankreich geschickt hätten^
wessen Inhalts, wisse man nicht; dass sie entschlossen seien,,
einen neuen König, wenn sie auch seinen Namen selbst noch
nicht wüssten, zu wählen, und mit ihm zur Stunde vor Frank-
fiirt zu ziehen, sich dort drei Tage und sechs Wochen zu
lagern ; dass sie, die Frankfurter, sich zu Wenzel »trostes und
hulffe virzehen, sie gnediclich in den Sachen zu versorgen, und in
dann von uwer und des heiligen richs wegen geraten und beholffen
zu sin, daz sie by eren und gelimph bliben mögen c "7)
Mit der Nachricht, Wenzel sei abgesetzt, erscholl nun
die andere, Buprecht sei zum König gewählt, — ein Fürst,
dessen Milde und Edelmuth Jeder gern anerkannte, der aber
doch gerade das Haupt von demjenigen Geschlechte war, von
welchem die Städte im letzten grossen Kriege mit den Für-
sten die härtesten Wunden erlitten hatten. Die schwäbischen
Städte trauten gar nicht, die ostfränkischen hielten in Nürn-
berg, die Bheinstädte in Mainz ihre Berathungen.
Die Frankfurter Hessen am 22. August Wenzel wissen ,
sie seien »solicher sache von ganczem hertzen inneclichen und
sere erschrocken, als das billich« sei. Allein bald genug
(166) Obrecht 31—33.
(167) Aus dem Frankfurter Stadtarchiv.
Löher: Das BechUverfdhren hei König Wenzels Absetzung. 105
kamen auch sie mit den andern Bheinstädten zom Schlüsse:
der alte König sei rechtmässig abgesetzt, der neue rechtmäs-
sig gewählt; ehe sie diesem aber huldigten, müsse er erst
nach altem Brauche sechs Wochen und drei Tage vor Frank-
furt sein Lager gehabt haben und in Aachen gekrönt sein,
das heisst, er sollte erst unbestritten von seinen königlichen
Eechten Besitz ergriffen haben, — so lange wollten sie war-
ten, dann seien sie nach jeder Seite hin gedeckt. ^^*) Wäre
Kuprechts Wahl im ganzen Keich unbeanstandet gewesen, so
hätte er das Lager vor Frankfurt nicht erst nöthig gehabt.
Als die sämmtlichen Kurfürsten Wenzel gewählt hatten, woll-
ten sie gleich mit ihm zur Krönung nach Aachen ziehen:
»dann man saget, dass der König vor Franckenfurt nit ligen
wolle, wan man noch nit weyss von ynaan sagen, der wider
In sin woUe«. ^*^) Ruprecht schlug drei Wochen nach seiner
Wahl das Träger vor Frankfurt auf. Der Rath schickte an
den »alten König« Botschaft, wenn er nicht binnen sechs
Wochen und drei Tagen mit mächtiger Hülfe käme, würde
die Stadt den neuen König einlassen. Am 22. Oktober zog
Ruprecht in Frankfurt ein. Die Strassburger, auf welche
Wenzel besonders gerechnet, empfingen jetzt, da die Sache
einmal entschieden war, Ruprecht gar herrUch und in Freu-
den, und nachdem es wegen Bestätigung der Privilegien der
Städte, weil die Fürsten überall Wenzersche Membranen
fflrchteten, noch hier und da Anstände gegeben, wurde dem
neuen König noch im selben Jahre in allen Städten der
Rheinlande gehuldigt, nur nicht in der alten Krönungsstadt
Aachen. Die Aachener Rathsherren beharrten darauf: sie
hätten Wenzel zugeschworen, desshalb könnten sie Ruprecht
nicht einlassen, ehe er nicht sechs Wochen und drei Tage
vor ihren Mauern sein Lager gehabt. Nur mit einem tüch-
tigen Kriegsheer hätte Ruprecht dies Lager vor Aachen be-
(168) Obrecht 64.
(169) Wencker 220.
1 106 Jahrb. der hisior, Classe der k. ÄJcad, der Wissenschaften.
ziehen können. Denn der Herzog von Geldern hatte die
Aachener bedroht, wenn sie Kuprecht einliessen, und ihnen
seine Hülfe zugesagt, wenn er Gewalt brauchen wolle. Dieser
Herzog von Geldern stand aber in engem Bündniss mit dem
Herzog von Orleans, der damals Frankreich regierte und Ru-
prechts schlimmer Gegner war. Aachen lag ohnehin der bur-
gundischen i^id französischen Macht nahe genug. Nicht ganz
mit Unrecht klagte Ruprecht die Aachener an: sie wollten
sich dem Reiche entfremden.
Unterdessen langte bei ihm aus Frankreich eine Gesandt-
schaft an, den Erzbischof von Aix an der Spitze. Der fran-
zösische Hof schmeichelte sich, jetzt könne er kaiserlich nach
jeder Seite hin auftreten. Er verlangte nicht weniger als:
beide deutsche Könige sollten WalBfenstillstand machen, sich
zum Könige von Frankreich begeben, seinen Schiedsspruch
annehmen. Zu diesem frechen Ansinnen gesellte sich ein
zweites: Deutschland solle, wenn der römische Pabst nicht
abdanken wolle, ihm den Gehorsam aufkündigen. Endlich
wurde die Vermittlung mit Galeazzo angeboten. Ruprecht
hätte den französischen Hof leicht von Wenzel abziehen kön-
nen; seine Verwandtin, Königin Isabella, bot ihre Mitwir-
kung an. Er aber hielt deutsche Pflicht imd Ehre höher.
Er verwarf den sich aufdrängenden Schiedsrichter und erklärte:
der rechte Pabst, und das sei olBfenbar der römische, müsse
erst in vollen Besitz seiner Rechte über aUe christlichen Länder
gesetzt werden, dann wolle er, der deutsche König, ein Concil
berufen. Wenzel aber hatte natürlich das französische Schieds-
gericht, so schmachvoll es war, angenommen.
Was Ruprecht die Thore Aachens verschloss, waren be-
sonders die französischen Einflüsse. Um ihnen eine starke
Thatsache entgegenzusetzen, den Reichsstädten aber jeden
Vorwand zum ferneren Zögern zu benehmen, entschlossen sich
die Kurfürsten, die feierliche Krönung solle in Köln geschehen.
Der Kölner Erzbischof erklärte: weil ihm das Recht, den
hoher: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 107
König zu krönen, zustehe, könne er es in jeder Stadt seines
Sprengeis ausüben. Also geschah am 6. Januar 1401 die
Krönung Eupreehts unter grosser Pracht und Lustbarkeit zu
Köln am Shein. Eine Beichsstadt nach der andern brachte
nun dem Könige die Huldigungsgaben dar. Die fränkischen
waren die ersten, welche den rheinischen Städten folgten;
dann kamen die schwäbischen ; im August schickte seine Boten
auch Eegensburg, welches am längsten die Sache hinhielt,
weil es sich seinen Handel in Böhmen und Ungarn nicht
wollte verderben lassen. Aachen aber ergab sich noch lange nicht,
obgleich Euprecht die Beichsacht wider die Stadt verhängte.
Nehmen wir aus allen diesen Städten eine, um ihr Ver-
fahren näher zu betrachten: es sei die reiche und rüstige
Grossstadt Nürnberg. ^^®) Bald nach seiner Wahl musste
Buprecht, wenn ihn die Nürnberger anerkennen sollten, fol-
gende Artikel förmlichst versprechen. Alle ihre Freiheiten
und Privilegien wolle er bestätigen, und keinen Artikel davon
abbrechen oder mindern, »ausgenomen ob künig Wentzlaw
. von dheinerley newer sache wegen, seit er künig ist gewesen,
brief het geben«. All die Wenzel'schen Privilegien bestätigt
. zu erhalten, — das verlangten selbst die Städte nicht, sie
wussten wohl warum. — Der König sollte die Nürnberger
niemals und in keiner Weise vom Beich weggeben, desshalb
auch ihre Beichssteuer von 200Ö Gulden inuner zu seinen
eigenen Händen nehmen, die Beichsfeste in der Stadt keidem
Andern anvertrauen, als dem Bathe selbst, und den Bann
über das Gericht zu Nürnberg nur demjenigen verleihen, wel-
^ chen die Stadt ihm dazu stelle. Wer ihre Bechte antaste,
der solle gleich mit einer Busse von 50 Gulden vor das Hof-
gericht gezogen werden. Die Schmälerung ihrer Beichsfreiheit,
auf geradem oder krummem Wege, das war es, was die Städte
am meisten fürchteten, als sie hörten, die Fürsten wollten mit
(170) Die Chroniken der deutschen Städte I 193—202.
108 Jahrb, der histar. Classe der l. Akad. der Wissenschaften.
Wenzel ein Ende machen. — »Darnach sol er nns geben
einen brief, was übergriffe geschehen sein nnd sich yerloffen
haben, da forsten herren nnd stete mit einander kriegten^
nnd was anch übergriffe geschehen wem in den lantMden^
e3rnnngen nnd püntnüzzen, die wir mit den fnrsten nnd herren
gehabt haben, daz wir dammb für das ho^richt noch fnr
dhein ander gerichte geladen nodi beUagt snilen werden;
würden wir aber dammb beklagt, daz soll nns dheinen scha-
den bringen. € Das war die andere Besorgniss d^ Städte, die
Fürsten möditen jetzt Yorwände brauchen, nm die Städte den
Sehaden büssen zu lassen, den sie Yon ihnen in dem grossen
Kri^ erlitten. — Endlich liessen sich die Nümberger noch
Tersehiedene Yortheüe bestätigen, ihr eigenes Umgeld, die
Hälfte T<Mi den Jndengeldem, die grossen Landkänfe, nnd dass
die Burgen, welche im Landfinedausbmch niedeargerissm, nicht
wieder anfgebant werden dürften. — Die Nümberger gingen
80 Torsiehtig zn Werke, dass des Königs Bot^i, an ihrer
Spitze der Burggraf T<m H(dienz(dlem, sich verpfliehten mns»-
ten, wenn zor bestinnnten Zeit die Pergamente nicht in Nürn-
bergs Besitze wären, persdnlieh einzoreiten nnd im Stadtarrest
zn bleib«!, bis sie die Pergamente beschafft hätten.
Als sieh nnn zn Ende des Januars Ruprecht der Stadt
Bahnte, sagt» die Nümbetger Wmzel ihre Treue förmlich
anf, da ^ trotz Bht^is und Wartms nicht fimdm, dass er
adi sdner Sache annehmen wolle. Allen Bürgern aber liess
der Batfa fidgend« Yorfaalt machen: König Wenzri sei mit
Becfat entsetit, wefl er in Sachen des Sachs und insbesondere
in der Kirdienmtzwriung >laz ist gewesm und darzu niefats
getffiihat«. Mit den Fürsten undHmren, die mit ihren SdiK^
sem lii^sun gesessen seien, dürfe man sieh um Wenzris
w^en niekt in Krieg und Y«deftaiss einlassMi, da »der
kn^ also hz in den saehen, dat wir dhein^ trost nodi
zBfn^eht zn im können noch mügen gehaben, daz er kkts
darzu tu^ als im und uns aU» des ein noitaift wer.« l^ange
Loher: Das Bechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 109
Zeit habe der Bath bedacht, was zu thun, und habe sich
vorgestellt: käme Wenzel heraus mit grossem Volk, so könne
6r sich nirgends halten als in Nürnberg, werde sie nöthigen
wie er wolle, ihnen die Zufuhr wegzehren und sie in den
Krieg bringen; >und wenn er denn nymmer bey uns fünde
und daz ez im nicht gieng nach seinem willen, so breche er
auf imd Züge wider gen Beheim und liez uns also stecken in
dem krieg«, und dann müsste Nürnberg, da all die Fürsten
ringsum gegen ihn seien, verderben und zuletzt doch dem
neuen Könige huldigen.
So aber dachten alle Beichsstädte. Es erfüllte sie tiefes
Misstrauen gegen die Fürsten, sie sorgten ernstlich, man werde
ihre Freiheit jetzt verkümmern. Allein sie konnten nicht
leugnen, dass Wenzel die Absetzung verdient habe, dass er
gar )»also laz,« gar zu grob fahrlässig gewesen, und dass er
sie ganz gewiss wieder in der Noth stecken lasse. All ihr
Misstrauen gegen seine Bichter überwog endlich die üeberzeu-
gung von seiner Nichtswürdigkeit.
Xni. Wenzel und Buprecht.
Es ist dargelegt: dass die Absetzung Wenzels nach dem
bestehenden Becht zulässig war; dass in dem Verfahren weder
nach der materiellen noch nach der formellen Seite Verstösse
vorfielen; dass. das sittliche Urteil der Zeitgenossen, selbst
wider Willen, die Sentenz unterschrieb. Doch da drängt sich
noch eine Frage heran, eine historisch-politische, die Frage:
war seine Absetzung denn auch heilsam? Streng genonmien
fällt diese Frage nicht in den Kreis unserer Aufgabe, welche
sich bloss mit dem Bechtsverfahren beschäftigt. Allein wer
kann sagen, wo in Dingen, welche ein Staatswesen erschüttern,
die Politik anfängt und das Becht aufhört? Ein schwerer
politischer Prozess giebt schon durch seine Benennung zu erken-
nen, wie eigenthümlich hier Becht und Politik verwachsen sind.
110 Jahrb, der histor. Glosse der k, Äkad. der Wissenschaften.
Wir wollen daher mit wenigen Worten auch auf jene
Frage eingehe; allein es sei erlaubt, sie umzudi-ehen. Wenn
König Wenzel nicht abgesetzt wurde, stand es dann besser
um Eeich und Kirche ? — Keine Thatsache, die auf den Lahn-
steiner Gerichtstag folgte, berechtigt, mit Ja zu antworten.
Es ist möglich, dass ein Mann, welcher in Trunksucht
gefallen, sich wieder aufrafft, dass er seine unwürdigen Fesseln
zerbricht und wieder frei und männlich um sich schaut. Doch
etwas gehört dazu: es muss in ihm noch eine starke Willens-
kraft wohnen. Gerade Willenskraft fehlte Wenzel am aller-
meisten. Wenn irgend Etwas ihn grundlich erschüttern konnte,
war es seine schimpfliche Absetzung, seine Schande vor ganz
Europa. Jetzt musste er zeigen, dass er ein besserer Mann
sei, als das Urteil von ihm sagte: noch hatte er reiche Mittel,
seinen Kichtern mit dem Schwerte entgegen zu treten, das
Eeich mit Hülfe der treuen Städte auf einen andern Fuss zu
setzen. Was erfolgte bei ihm? Wüthendes Aufflammen —
verdoppeltes Trinken — Keue und Schwäche, die an sich selbst
verzweifelt. In diesem Manne war jeder Keim sittlicher Kraft
ertödtet. Er hat noch lange genug gelebt, um es zu bewahrheiten.
Wäre Wenzel nicht abgesetzt, was wäre für die Kirche
^erfolgt ? Wahrscheinlich hätte er nochmal zwanzig Jahre hin
und her geschwankt zwischen dem römischen Pabst und der
französischen Politik. Weil er selbst sich fürchtete vor einem
grossen Entschlüsse, hätte er gehindert, dass ein fremder Ent-
schluss zur That wurde. Wer konnte denn noch Hoffnung
hegen, die Kurfürsten könnten den König auf den einzig rich-
tigen Weg nöthigen, welcher darin bestand, dass der franzö-
sische Pabst isolirt und seine Obedienz von ihm abgedrängt
wm-de? Nachdem Wenzel sich von Neuem tief in die franzö-
sischen Netze verstrickt hatte, war jene Hofl&iung eitel für
immer. Und gesetzt, irgend ein noch unbekannter Anstoss,
der Wenzel wirklich erfasste, hätte ihn zum Handeln getrie-
ben, gesetzt, er hätte wirklich einConcil aller Völker berufen,
Loher: Das Beclitsverfahren bei König Wenzels Absetzung. 111
SO hätte er wieder geschürt und gearbeitet, und nach ^len
Seiten hin aufgeregt, und im entscheidenden Augenblick hätte
er sich wieder zurückgezogen und Alles in Eifer und Zwietracht
zurückgelassen. Das war ja seine Art so.
N«>ch unglücklicher wäre Wenzels längere Kegierung für
Deutschland geworden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte
er fortgewirthschaftet wie bisher, d. h. die Stände sich selbst
überlassen, for Geld Privilegien ausgeschüttet, hier und da
den König gespielt ohne Ernst und ohne Würde. Es gehörte
Heldenkraft dazu und geduldiges Arbeiten, um aus dem grossen
Reichswirrwarr, wo jede grosse und kleine Macht so fest ge-
wurzelt, so störrig und ungefügig war, eine wohlgeordnete und
leicht bewegliche Gliederung zu schaffen. Wenzel aber besass
Nichts von jener Ejraft und Geduld, er hatte nur von Zeit zu
Zeit einen Blick für das, was allenfalls geschehen sollte. Aber
über diesen hellen Augenblick fielen gleich wieder die Nebel
des Trunkes, der Wuth, der trüben Angst. Verharrte Wenzel
nun in seiner gewohnten Fahrlässigkeit , die ihm schon zur
zweiten Natur geworden, so konnte kein Mensch dafür einste-
hen, ob nicht zum zweitenmal ein allgemeiner Brand Deutsch-
land ergriff, der ärger wurde, als in den Jahren 1388 und
1389. Denn die Furcht und Erbitterung, welche Fürsten und ^
Städte und Ritterschaften entzweite, war im täglichen Wach-
sen» Das konnte geschehen, wenn Wenzel die Dinge sich
selbst überliess: gewiss aber geschah es, wenn er einmal durch-
greifen wollte. Seit er die ersten Landfriedensbündnisse ge-
stiftet hatte, war Alles, was er im Reiche anfing, zum Gegen-
theil dessen ausgeschlagen, was er erstrebte und zum Verderben
derjenigen, die erfordern wollte. Kein Beispiel leuchtete greller
in die dunkle Zukunft hinein, als das Schicksal der Würzburger,
welche bei Berchtheim den Reichsadler, den sie von Wenzel er-
hielten, mit ihrem Blute bezahlen mussten.
Was aber, denkt man nun natürlich, was hat denn Wenzels
Nachfolger erreicht? Dieser König wollte ja das Beste aus
112 Jdhrb, der hifttor. Glosse der k, Akad. der Wissenschaften,
redlichem Herzen, er erkannte ja seine Aufgabe in ihrer Höhe
und ihrer Tiefe, er hat dafür geduldet und gerungen, er hat
sich keine Kühe und East gegönnt, bis er vor der Zeit zu-
sammenbrach unter den furchtbaren Last einer Aufgabe, die
nicht erfüllt wurde. Ja wohl, ein tragisches Geschick! Viel-
leicht, wenn König Euprecht zu seinem edlen Willen, zu seinem
mühevollen Fleiss noch etwas stählerne Härte, etwas soldati-
sche Eücksichtslosigkeit, kurz wenn er etwas mehr von einem
Albrecht I. und Heinrich VI. gehabt hätte, so konnte es ihm
gelingen, aus der falschen Stellung, in welcher ihn die Fürsten
gefangen hielten, sich herauszureissen und auf seine hohen Ziele
loszugehen. Als er auf bestem Wege dazu war, starb er. Das
Schisma in der Kirche war ärger geworden, die Eeform des
Eeiches kaum angebahnt.
und dennoch war Euprechts zehnjährige Eegierung für
Deutschland von hohem Werthe. Nicht zu gedenken, dass er
die französischen Netze zerriss und Deutschland auf seinen
eigenen Vortheil stellte, dass er des Eeiches Eecht und Frieden
im Innern wieder zur Geltung brachte, des Eeiches Eecht und
Ehre nach aussen wieder näx^hdrücklich betonte, dass überhaupt
er wieder Gerechtigkeit auf den Schild hob und eine sittlich-
ende Kraft vom Throne ausging, — dessen nicht zu gedenken,
hatte dieser König noch ein anderes Verdienst. Er hatte die
Sehnsucht nach gründlicher Eeform in allen ehrlichen Herzen
angefacht, er hatte die Ideale wieder hell gezeigt, welchen
man in Eeich und Kirche zustreben müsste, und langsam be-
gann die Zeit, sich ihnen zuzuwenden. König Euprecht nimmt
eine ähnliche Stelle in der Geschichte ein, wie einst der edel-
herzige Konrad I. Schade nur, dass auf Euprecht kein
Heinrich I., sondern n\ir ein leichtherziger Sigismund, und auf
diesen kein Otto der Grosse, sondern nur ein unbehüMicher
Friedrich IE. folgte.
L6her: Das Bechtsverfähren hei König Wenzels Absetzung, 113
N A C H T K A E G E.
Als der Drijck dieser Abhandlung bei dem vorletzten Bogen
stand, erhielt der Verfasser den ersten Band von »Frankfurts Reichs-
oorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1876 —
1519 herausgegeben von Dr. Johannes Janssen. < (Freiburg im
Breisgau 1863.) Ein Theil der darin enthaltenen Urkunden, welcher
schon von Obrecht, Wencker, Martene und Andern edirt wurde, liegt
nun in correcterem Abdruck vor, konnte aber leider nicht mehr
benutzt werden. Andere Urkunden, welche in vorstehender Abhand-
lung als mitgetheilt aus dem Frankfurter Reichsarchiv bezeichnet
sind, finden sich bei Janssen vollständig. Ein dritter und umfang-
reicher Theil aber war dem Verfasser noch unbekannt geblieben.
Auch diese Urkunden bestätigen zwar durchgehends nur dasjenige,
was sich ihm über Lage und Gang der Dinge bei Wenzels Ab-
setzung bereits herausgestellt hatte. Da aber viele Stücke der werth-
voUen Janssen'schen Sammlung über Beginn und Verlauf der Sache
noch helleres Licht verbreiten, so schien es angemessen. Einzelnes
hier nachzuholen. Zugleich konnte dabei noch ein Vortrag von
Wegele benutzt werden, welcher bisher dem Verfasser ebenfalls un-
bekannt geblieben war und welcher den Titel fahrt < Fürstbischof
Gerhard und der Städtekrieg im Hochstift Würzburg mit Bemer-
kungen und urkundlichen Beilagen. < (Nördlingen 1861).
8
114 Jahrb, der hi9tor, Ciasee der Je. AMad^ der Wisgemchaften,
I. Von Wenzels Absetzung war schon 1384 die
Bede. Am 5. Februar dieses Jahres schreibt ^''^) Kaplan
Heinrich Weider aus Mainz an einen Freund: »Und wisze,
das ich in grosser heimelikeit vimomen han alz von viran-
derunge am ryche wegin von eczlichin herren den fursten zu
tunde, und wullen einen kung in dutsche lande han. Und
sint frunde uz Nurberg hie und weren vaste irschrocken und
sagent: >Daz wird stosze gebin und uns stedtin nu vaste
schedelich sint.» Und meynent, iz komme von dem, der nu
nit hie is, und eczwaz swach am libe, jedoch alliz ergert.
Und sagent auch: »Is is des augenknippers schuld. c Und
sint herteclic verschrocken, und wullent nache Beheim schicken
zum kung, und wullent czu alle iren heymlichen schicken,
und des ir&m.« — Als Grund, warum die Fürst^ an des
Königs Absetzung dachten, wird also angegeben, dass er ausser
Deutschland weile. Es mochte aber auch wohl die Furcht
mitwirken, dass die Städter und die Bitterbünde den Fürsten
übermächtig würden. Sie suchten sich durch die stärksten
Gegenbündnisse zu schützen. "*) — Welcher Fürst den Spitz-
namen »Augenkneifer« hatte, ist nicht zu ersehen, vielleicht
Kurfürst Adolf von Mainz. Der aber, »der nu nit hie is« (der
in Deutschland hätte sein sollen) »und eczwaz swach am
Übe« (jung und von schwacher Gesundheit), jedoch alliz ergert,«
ist ohne Zweifel Wenzel selbst. Wie man über ihn schon
damals in Deutschland dachte, zeigt sich deutlich durch einen
Bericht, den ein »Heimliche« (vertrauter Agent) der Boten-
burger an seine Auftraggeber schickte, und der nach Frank-
furt mitgetheilt wurde. Die böhmischen Landherren, heisst
es darin, wären voll Zorn dem König unter die Augen ge-
ritten und hätten ihn von Einem, der auf sein Geheiss gegen
einen Landherren gezogen wäre, geradezu gesagt: »wo sie den
(171) Janssen 12 no 37.
(172) Oben S. 23. Janssen 13--15.
Läktr: Das Rechtaverfahren hei König Wetuek Äbseieung, 115
qual ankoimneni, sie woUen yme daz heubt abeslahin.c Und
also sei der König »vast bekommert mit vil wunderlicheit
Sachen.« Den Städten giebt ihr Heymlicher den Batii: sie
sollten jedenfalls trachten» mit den Fürsten zu einem glimpf-
lichen Frieden zu kommen; denn auf König Wenzel sei gar
kein Yerlass. »Wan der herre wil mit nihte r^t. Er meynt,
als ich virstanden han, daz er gerne sehe, daz herren und
steit zu nichte worden. So wer gud, daz man daz undirfture,
daz er damuder zusehen zwien stukken niedersasze, wan ir wöl
wiszt, dazBehe^rm undTewsch nicht obir ein sind«. Geradeso
sprach der Nürnberger Patrizier über den bösen Willen des
Königs "»)•
IL Die Gefahr der Absetzung drohte Wenzel
ernstlicher in den Jahren 1387 und 1388. Er suchte
sich dagegen durch Bündnisse mit den Städten sicher zu
stellen. Im Jahre 1387 liess er sich von einer grossen An-»
zahl Städte im Elsass, in Schwabs, Franken und am Main
Yttrbürgen: ihm gegen jeden zu helfen, der ihn vom Beiehe
cbrängen wolle. ^^^) Im Jahre 1388 am 30. Oktober liess da^
gegen der Mainzer Kurfürst sich von den Städten Mainz
Worms Speyer versprechen: wenn Wenzel sterbe oder dae
Beich anderswie erledigt werde, wollten sie denjenigen fSr
ein^ römischen König halten, den der Kurforst von Mainz
mit zwei oder mehr Kurfürsten erwählen werde. ^''^)
in. Für den König war der Pfalzgraf bereits
eingetreten, als Wenzel in Böhmen von seinen Unterthanen
gefangen gehalten wurde. Pfalzgraf Buprecht der Aeltere
erliess am 20. Juli 1394 an den Bath zu Frankfurt, und
ohne Zweifel auch an andere Städte, ein Ausschreiben, worin
(173) Oben 35.
(174) Oben 33. Lehmann, Speyr. Chron. 766. Böhmer, Cod. dipL
Moenofr. 764.
(176) Wurdtwein, Nova snbs. IX, 307. 827.
8*
116 Jdhrb, der histor: Glosse der k. Akad, der, Wissenschaften,
er sagte: er mit den drei geistUchen Kurfürsten und andern
Beichsständen hätten auf dem Reichstage zu Frankftirt be-
schlossen, jetzt, wo der KOnig seiner selbst nicht mächtig sei,
solle jeder Beichsstand, »umb daz daz rieh nit warlose und
in sumenisse stee,« um so fleissiger dazu sehen, »und wir
als ein pfalc^rave by Byn von unsers kurfiirstentums und
wirdekdt wegen, nachdem als ez leider zu dieser zyt umb
unsem hären den konig und daz rieh gestalt ist, sollen ein
vicarius und fiirseher des richs sin, als auch daz unsere alt*
vordem pfalczgraven by Byn, kurfursten des richs, gebruchet
und off uns bracht han.c ^7®) Dieser Vorgang, dass schon
einmal ein Anderer für Wenzel die Beichsregierung über-
ndmien musste, blieb gewiss nicht ohne nachhaltigen Eindruck.
IV. Schon im Jahre 1397 erschien Wenzel that-
sächlich wie des Beiehes entsetzt. Er schrieb am
15. Februar einen Beichstag aus nach Nürnberg auf den
29. April, wo er schon am 22. eintreffen werde. Die Kur-
fürsten von Köln Trier Pfalz aber beriefen den Beichstag am
18. Februar nach Frankfurt auf den 13. Mai. "^) — Der
Beichstag zu Nürnberg aber kam so wenig zu Stande, dass
der dortige Bath am 30. April an den Frankfurter schrieb:
keine einzige Stadt sei erschienen, der König selbst sei aus-
geblieben, es sei weder für ihn noch fiar Andere Herberge
bestellt. »Man hat uns abir wol virschriben und empoten
von Beheim, daz sich unser herre der kunig darczu schick
und bereit, daz er ve herawz woUe, aber ab daz geschiht und
wenn ez geschehe, daz kunnen wir euch niht eygentlichen
verschriben«. ^^®) So wenig Ansehen und Glauben genoss
schon damals Wenzel im Beiche. — Der von den drei Kur-
fürsten ausgeschriebene Beichstag war dagegen sehr zahlreich
(176) Janssen 36—39 no. 96 und 97.
(177) Janssen 39 no. 103 und 104.
(178) Das. 42 no. 112.
hoher : Das Becfttwerfahren bei König Wensds Absetzung. 1 17
und glänzend besucht. Es waren anwesend: 32 Herzoge und
Pursten, mehr als 150 Grafen und Herren, 450 andere vor-
nehme Leute, 1300 wirkliche Bitter und 3700 gemeine Edel-
leute, dazu die Boten der achtzehn vornehmsten Beichsstädte.
Bloss der Herzog Leopold von Oestreich hatte Ifir 2500 Pferde
meines Gefolges, der Thüringer Landgraf, Markgraf Wilhehn
von Meissen, für 300 Pferde Quartier bestellt. Eine so un-
geheure Anzahl Volks kam damals zu einem deutschen Beicha-
tag zusammen. ^^^) — Der Frankfurter Bath hatte dem Könige
im April Nachricht geschickt, welch ein Beidbstag bevorstehe,
und noch am 8. May zu bedenken gegeben: wenn er selbst
herkomme, stehe zu hoffen, »daz dann aUe sache sich gnedig-
lieh czu frjden und gnaden kerende wurdenc ^^<')
Wenzel aber kam nicht, und die Fürsten und horrendes
Beichstags beschlossen: an den König eine grosse und statt-
liche Gesandtschaft zu schicken, »daz w umb grosse notdorfft
und gebreston willen einen heubtman seczen und geben wulle,
der von des heiigen richs wegen Mde und gnade in den lan-
d^ mache und bestelle«. Die Städte, — allezeit vorsichtige
Anhänger des rechtmässigen Königs , allezeit in Besorgniss .
vor den Unternehmungen der Fürsten und Herren, — hatten
^ich ihre Erklärung vorbehalten, jedoch sich verpflichtet, auf
einem zweiten Beichstag, der am 25. Juli zu Frankfurt eröff-
net werden solle, bestimmte Antwort zu geben, ob sie bei
dem Beichshauptmann , welchen alsdann der König gesetzt
haben werde, sowie bei den Fürsten und Herren bleiben und
beiständig sein wollten. Würde aber der König, dessen sich
die Fürsten und Herren doch zu ihm nicht getrauten, keinen
Statthalter des Beichs bestellen, so wollten dennoch Fürsten
und Städte auf dem genannten Tage »mitein zu raden werden
(179) Das. 44 no. 117. 40—41 no. 107 und 108. Limburger
Chronik ad. a. 1397. Wencker 268.
(180) Janssen 41 no. 109. 43 no. 115.
118 Jakrb, der histor, Cktsse der k, Äkaä, der WissenschafU»,
und ubirkomen, alsdann fridde und gnade und alle sachmi^
die notdorfftig gin, fiirbass zu dem besten zu versorgen und
zu bestellen». Dies Letztere stellte ernste Schritte in Aus-
sicht, um Wenzels Säunmissen abzuhelfen. ^^^)
Wenzel aber machte es schon jetzt geradeso, wie spät^^
als sein Absetzungs-Prozees wirklich im Gange war: er mochte
oder kiMinte nicht nach Frankfurt kommen, und wollte mit
den Beichsstilnden , auf d^en besondere Anhänglichkeit er
rechnen durfte, einzdn und in der Nähe von Böhmen verhan-
ddn. Die schwäNschen Städte hatte er zu sich auf den
14. Juli nach Nürnberg beschieden: er kam aber nicht. Dann
hiees es, er werde nach Eger kommen und habe dahin etliche^
Fürsten und Herren berufen.***)
Der Frankfurter Beiohstag yom 25. Juli ging unverrich-
teter Sache auseinander, weil, wie die Fürsten erklärten^
»flirsten und gtede nit als voUioh hie gewest sine. Wahr-
scheinlich lag ab^ der Grund daiin, dass die Städte gegen
den König, — der immer schrieb, er werde gewiss kommen
und bald kommen, ***) — noch keine bestimmte Erklärung
abgeben wollten. Die Fürsten bestellten nun einen neu^
Beichstag auf den 11. November, wo sie dann Durchgreifen-
des vorzunehm^ dachten. *®^) Inzwischen wurde es gewiss^
dass jetzt endlich der König nach Deutschland kommen werde.
Im Oktober war er in Nürnberg, und am 5. Dezember be-
stellte er fOr ein Gefolge von 1500 Pferden in Frankflui
Herberge, ***) wo er sich mit den Fürsten wieder auf besseren
Fuss stellte.
V. Wie Wenzels Landfrieden von 1398 vielem
Yolke ein Spott war, lässt sich aus dem auch von Janssen ^*^)
(181) Das. 44 no. 117,
(182) Das. 45 no. 121.
(183) Das. 45 no. 122. 123.
(184) Das. 46 no. 125.
(185) Das. 46 no. 126.
(186) Das. 47—49.
IMer: Das Rechtsverfahren bei König Wenzels Ahsetsun§, 119
mii^ethcdlten Spottgedichte deutlich erkennen. Der Beimer
trayestirt die Landfnedensartikel:
Zu erstem, daz nod) kein kn — ir rechten meister
haben sol: — das gevellet uns armen gesellen wol. —
Wo man di riehen gebuien vindet, — sü habent
kuege ros oder rinder, — sü süllent es teilen als*
gligh, — daz die airmen onch werdent rieh. *— So
sol de pflng euch fride han, — wo man in siht zu
acker gan: — die pfert und euch der ackerman —
mag man yohen und denne triben, — alz daz der
pflüg sol belibe, — als daz der kunig gebotten habe,
— man breche ime denne die isen abe. — etc.
VI. Die Sache 4er Würzburger Landstädte war ohne
Zweifel von Bedeutung in Wenzels Absetzungsgeschichte.
Würzburg hatte mit seinem Bischof Gerhardt, einem energi-
schen und auf sein Interesse wohlbedachten Fürsten, schon
harte Stösse gehabt. Da erwarb er sich, um seiner Finanz*
noth abzuhelfen, von Wenzel einen hohen Zoll auf allen Wein,
üeber diese drückende Steuer gerieth das Land in Erbitterung,
Aufstand und offnen Krieg gegen seinen Fürsten. Eilf Städte
verschworen sich miteinander. Grerhardt sammelte ein Heer
und fing an, die Städte zu belagern. Der gesammte Adel
zog ihm zu mit seinen Beisigen und Fähnlein, und die Auf-
ständischen kamen in Bedrängniss. Basch entschlossen ei^
griffen sie einen Gedanken, der ohne Zweifel damals in den
meisten Städten der geistlichen Fürsten umging. ^®^) Sie
schickten Gesandte nach Prag an den König und baten: sie
für Beichsstädte zu erklären, dann sei den Ansprüchen des
Fürstbischofs ein- for allemal ein Biegel vorgeschoben. Dies
war in der Zeit, als Wenzel höchlich über die Fürsten erbit-
tert war, welche zu Frankftirt Beichstage hielten und ihn
nöthigen wollten, statt seinereinen Beichshauptmann zu schicken»
(187) Oben 94
120 Jahrh, der histor, CUisae der k, Äkad. der Wissenschaften.
Er rüstete sich jetzt selbst zu seiner Fahrt in's Beich, und
wenn er an die Beichsstände dachte, so waren nur die Städte
und Bitterbünde nicht feindselig gegen ihn gesinnt. Vielleicht
half auch Würzburger Gold mit, welches die Städteboten zu
Bestechungen nicht sparten. Also bejahte Wenzel das Ver-
langen der Würzburger Städte und schickte ihnen seinen ver-
trauten Bath Borziboy von Swinar. Da jubelten die Würz-
burger, an allen Thoren wurden die Beichsadler angeschlagen,
und in der Hauptstadt unter Ffeifenklang und Saitenspiel ein
goldglänzender Adler hoch am Giebel des Bathhauses befes-
tigt. Bald darauf kam Wenzel nach Nürnberg, und dort
fertigte er wirklich die Urkunde der Beichsfreiheit für neun
Würzburger Städte aus am 17. Oktober 1397.
Darin erklärt der König: Bischof Gerhardt habe ohne
Königs und Beiches Verlaub so viele von seinen Schlössern
Kärkten und Einkünften versetzt, dass es König und Beich
merklichen Schaden bringe an Lehen Diensten und Gebühren;
^ habe die Städte und das Stift schwerlich angegriffen und
beschädigt, und wolle den Schiedsspruch, den der König nach
Bathe der Fürsten thun wolle, nicht annehmen; er sei seiner
selbst nicht mächtig. Damit nun das Stift nicht zu ewigem
Untergang und Verderben komme: so habe der König Bür-
germeister Bäthe und Bürger der Städte Würzburg Karlstadt
Neustadt MeUrichstadt Meiningen Sesslach Ebern Hassfurt
und Gerolzhofen mit ihrem Leib und Gut »in unsern und des
heiligen Bichs schucz und schirme gnediclic genomen , . . . sie
2U uns unser leptag in kraft dicz brieffes von Bomischer
kunigliche mehte, also dacz sie ims furbas mer in allen
Sachen undertenig und gehorsam seyn und sweren und hulden
sollen, als ander des heiligen riches stete, und uns auch alle
jare eine gewonliche stiure und hilffe tun sullen; und wen
geschee, daz wir in dem Biche here betten und ein felde
machten und uns andere des heiligen riches stete ir volk uff
daz felde schickten, so sollen sie... uff ire kosten dyenen an
Löher: Das Eechtaverfahren bei König Wenzels Absetzung, 121
sai]|apiiisse«. Zuletzt wurden, wie sich vou selbst verstand,
dem Bischof alle Eechte vorbehalten, die er von Alters her
wirklich hatte, wie dergleichen auf Gericht Zoll Gülten
auch den Bischöfen in andern Beichsstädten, unbeschadet der
Beichsfreiheit, noch zustanden.
Dieser Freibrief enthält zwar die eigenthümliche Zeitbe-
stimmung »unser leptag«: immerhin aber war er eine förm-
liche Aufiiahme unter die Beichsstädte. Hatte dies Beispiel
Bestand, so konnte es von unberechenbaren Folgen werden.
Allein was folgte, war ganz in Wenzels Weise. Im Oktober
wurde er in Würzburg mit höchsten Ehren und Freuden ge-
feiert. Als er aber nach Frankfurt kam, war auch Bischof
Gerhardt da, und wusste ihm mit den übrigen Fürsten derart
zuzusetzen, dass Wenzel schon am 21. Januar 1398 den vor-
läufigen Bescheid gab: es solle im Würzburger Stift jeder
Stand bei seinen Bechten bleiben. Und am 17. Januar 1399
erliess er zu Prag den Endbescheid: die Würzburger Städte
sollten ihre Einung auflösen, dem Bischof wieder huldigen,
ihm die Schlüssel zu Thor und Thürmen ausliefern und allen
Schaden ersetzen: dagegen sollte die Weinsteuer und das
Interdikt, mit welchem die Städte belegt waren, aufhören,
und ein kaiserlicher Hauptmann fünf Jahre lang die Steuern
erheben. ^*^)
VII. Das erste Fürstenbündniss, welches weiter zu
Wenzels Absetzung führte, war nicht das der vier Kurfürsten
vom 2. Juni 1399, sondern schon am 11. April dieses Jahres
hatten sich die drei Kurfürsten von Mainz Köln . und Pfalz
zu denselben Artikeln verbunden. ^^^) Wenzel hatte seinen
Mundschenk und andere Vertrauten an den Bhein geschickt.
(188) Wegele 22—32. 44—45. 55—57. Vgl. oben 94. 46. 49. 50.
Auf Seite 50 (unten) ist also das Datum des Endbescheides zu be-
richtigen.
(189) Janssen 487 no. 870.
122 Jahrb. der histar, Glosse der k. Äkad, der Wissenschaften.
van auszuforschen, was die Fürsten rathschlagten. Sie wen-
deten sich an die kundigen Frankfurter, diese aber mussten
am 10. August 1399 an Wenzel schreiben: dass sie ihre
Agenten zwar zweimal dort gehabt hätten, wo mehrere Fürsten
beisammen gewesen, dass aber keiner habe erfahren können»
»waz der heimelichkeit oder ratslagunge were«. So geheim
hielten die Fürsten ihre Verabredung. Wenzel glaubte, wie
es scheint, damals, sie wollten nur einen Eeichsvikar be-
stellen. ^^^)
YIII. Den ersten entscheidenden Reichstag hatten
die Fürsten am 20. September 1399 auf den 19. November
nach Frankfurt, Wenzel den seinigen schon am 1. September
auf den 13. Oktober nach Nürnberg ausgeschrieben ^^^). Am
19. Oktober als er selbst in Nürnberg nicht erschienen war»
schrieb er an die Städte : er werde nun bald mit Sigismund
dahin kommen, sie sollten ihr Volk in Bereitschaft halten und
sofort, als er aus Böhmen komme und es befehle, mit ihrer
Macht zu ihm stossen*^*). Am 11. November schrieb er
wieder ab und schickte Gesandte *^*), mit denen man zu Nürnberg
am 7. Dezember unterhandeln solle. — Jetzt wurde der Frank-
furter wichtige Tage eröffnet. — Die schwäbischen Städte
hatten sich wegen allerlei ünfiüle entschuldigen lassen *®*).
— Es ging in jenem Jahre in der That in Deutschland wild
und bunt durcheinander; alle Gegenden waren so voll Fehde
und räuberischem Kriegsvolk, dass Keiner aus den Frankfurter
Käthen es wagte, zum Könige zu reisen und ihm über die
Verhandlungen des Reichstages Bericht zu geben: man schickte
lieber einen Schreiber und Diener. Gerade so und aus den-
(190) Janssen 50 no. 134.
(191) Das. 60 no. 135. 136.
(192) Das. 492 no. 874.
(193) Das. 51 no. 139.
(194) Das. 51 no. 141.
Lohet: Dm Bechtwerfahren bei König Wenzels Absetzung, 123
selben Gründen geschah es noch am 20. Juni 1400 ^**). — Auf
dem genannten Beichstag zu Frankfurt wurde von ^ea Städten
verlangt: bei dem römischen Pabst stehen zu bleiben, dess*
gleichen zu den Fürsten zu halten und keinen von Wenzel
bestellten Beichsvikar anzuerkennen, wenn ihn die Fürsten
nicht annehmbar fönden. Sie sollten, da sie nicht gleich sidi
erklären wollten, bis zum Ende des Jahres Antwort schicken ^^^).
Aber auch die Städte, welche Wenzels Verlangen folgten und
sich in Nürnberg im Dezember versammelten, — nämlidi
Köln Segensburg Botenburg Weissenburg Augsburg Ulm und
die schwäbischen Städte, — woUten sich nicht gleich er-
klären, als die königlichen Gesandten verlangten: die Städte
sdlten zum König halten, der ihnen einen rechten Haupt-
mann geben wolle, sie zu vertheidigen. Es wurden deshalb
von des Königs wegen die Beichsstädte auf den 17. Januar
1400 nach Esslingen geladen ^•^),
IX. Von sprechender Bedeutung sind die Bünde
der hohen und niedern Freien. Als die Fürsten ihren
zweiten Tag zu Frankfurt am 2. Febr. 1400 hatten, hielten
m ihre Beschlüsse wiederum vor den Städten verborgen ^®®).
Als Grundlage und Gewähr für ihr ferneres Vorgehen machten
sie aber einen festen Bund unter einander, dass ein neuer
König gewählt werden solle, und dass sie in dieser Angelegen-
heit gegen Jedermann einander helfen wollten. Es erweiterte
sich der Bund, welchen zuerst drei, dann fSnf Kurfürsten ab-
schlössen, am 2. Februar zu Frankfurt auf den Markgrafen
von Meissen und Landgrafen von Thüringen, den Landgrafen
von Hessen, und den Bur^rafen von Nürnberg, und traten
am 80. Mai die Herzoge von Braunschweig, Herzog Albrecht
(195) Janssen 52 no. 146. 61 no. 178. Vgl. oben 56. 57.
(196) Das. 52 no. 148.
(197) Das. 58—54 no. 161. 152. 158.
(198) Janssen 55 no. 157.
124 Jdhrb» der histor. Classe der k, Akad, der WissenscJuxften,
von Sachsen und Fürst Sig&mond von Anhalt, am 8. Juni
Herzog Leopold von Oestreich, Herzog Wühelm von Geldern
und Jülich, Graf Adolf von Cleve, Herz<^ Albrecht von
Bayern "^) bei. So war ein grosser mächtiger Fürstenbund ent-
standen, der so ziemlich durch ganz Deutschland reichte, ein Bund
mit bestimmtem Ziel und zu Schutz und Trutz wider Jeder-
mann, der die Erreichung dieses Zieles hindern wollte. Bi-
schöfe und Prälaten wurden von dem Bündniss nicht um-
schlossen: ihrer waren die and^n Fürsten ohnehin sicher.
Wenzel suchte diesem hohen Fürstenbund einen Bund der
niedem Freien des Beiches entgegen zu setzen, und zwar nicht
allein einen Städte,- sondern auch einen Bitterbund. S^en
Abgeordneten trug im März 1400 der Frankftirter Bath insbe-
sondere auf: »zu werben umb die heimlichen Sachen derstede,
und besundem als man sagit, daz' ädi viel graven herren
ritter und knechte zu ein virbunden wurden odir virbunden
haben.« ^^^) So schienen sich zwei grosse Mächte feindlich
zu gruppiren, die Fürstlichkeit und die gemeine Freiheit, und
ihr Feldgeschrei drohte zu werden »hie Fürsten!« und »hie
König!« Neben der andern Besorgniss, der König werde sich
in der Kirchensache unrettbar in die französischen W^ ver-
stricken, trieb die Fürsten zum entschiedenen Vorgehen gegen
Wenzel die Furcht, er könne in seinem Unbedacht und Fürstenhass
einen noch schrecklicheren Brand entzünden, als der letzte
grosse Fürsten- und Städtekrieg gewesen. Gewiss, wäre Wenzel
ein anderer Mann gewesen als er war, &c hätte Stürme err^n kön-
nen, welche alles Fürstenthum niederwälzt^i. Doch kam noch ein
anderer Umstand den Fürsten zu Gute. Sie hatten ein Prinzip,
das der Landesherrlichkeit. Die Städte und Bitter hatten
diesem kein anderes ebenso klares und bestimmtes Princip
entgegenzusetzen: waren sie doch selbst kleine Landesherren.
(199) Das. 503—504 no. 886. 888--893.
(200) Janssen 55 no. 158.
JMmi Dt» BeOamferfahitm bei Känig WengOs ÄlweUsmtg. 125
X. Die Yerhsudlnngen zum zweiten Beichstagglei»
ehen ganz denen zum ersten. Wenzel wollte seinen Oegen-
Beichstag wieder zu Ndmberg halten und zwar erst am
2. Mai, und, da er wieder selbst nicht kam, am 6. Joni'^^).
Seinem Gesandten und Agenten gingen und warben von einer
Stadt zur andern ; allein die Bürgerschaften wollten sich nidit
so mit ihm einlassen, wie er es wünschte. Köln Mains
Strassburg Speier Worms und Frankfurt kamen zwar zu
seinen Abgesandten nach Frankftirt am 31. Mai, erklftrton
jedoch: wenn die Fürsten sie zum Beichstage einlüden, kton*
ten sie billi^r Weise nicht wegbleiben; gern und gewi»
wollten sie aber auch des Königs Beichstag beschicken.*®*) Ebenso
wenig Hessen sich die Städte aus ihrer diplomatischen Beobach-
terrolle von den Fürsten herausreissen. Sie hielten ihnm be»
ständig vor, dass man sie nicht in's volle Vertrauen zöge:
»in welchir masse odir wie die anderunge (am Beiche) gescheen
sulle, und mit welchem fursten odir andern harren daz bestalt
sulle werden, noch in welchir masse odir wie unser herre der
könig daran erkannt odir sust entseczit sulle werden, odir in
welcher masse yme ein heubt als ein virwesir odir pleger ge-
seczt sulle werden, odir in welcher andern masse die virande-
runge an dem riebe gescheen odir zügeen sulle.« *®*) Nachdem
Mainz Strassburg Worms Speyer Frankfurt und Friedeberg
diesen Beschluss am 8. Juli auf dem Städtetage zu Mainz
gefasst hatten, wurde auf Wunsch der Kölner ein neuer
Städtetag zu Coblenz am 8. August gehalten und von dort
den Fürsten geantwortet: die Städte seien dem römischen
Könige, »der yeczunt is,< verpflichtet und könnten deshalb
den Fürsten jetzt nicht antworten. Das möchten die Fürsten
aber fär »untfencklich« ansehen. Würden sie den Städten
(201) Janssen 56—57 no. 160. 167.
(202) Das. 57—58 no. 170.
(203) Das. 508 no. 897. Oben 103.
126 Jahrb. der fUgtor. CUme der k. Akad. der Wissenachaften,
weitere AufUämng geben , so wollten jene sich wohl darauf
besinnen und getrauten sich, darauf »bescheidelich zu ant-
worten«, da sie gern den Fürsten thäten, was sich »nüt eren
und mit bescheide gebürte.« *^^) Wenzels yertrauteste Diener
zogen unterdessen fortwährend im Beiche umher, und er selbst
schrieb ein über das anderemal, dass er zur Stunde kommen
werde. '^^) Und damit kam der letzte Oerichtstag zu Lahn-
stein heran, ohne dass sich ein fester und bewusster Wider-
stand gegen das Unternehmen der Fürsten gebildet hatte.
Hätten die Städte nur irgendwie ein Vertrauen zu Wenzel
&ssen können, so hätte sich noch die ganze Sache wenden
lassen.
XL lieber die Verknndung des Urteils durch
den Kurfürsten von Mainz heisst es in einem Ausschrei-
ben König Buprechts^^^): »Item und wie der erczbisschof zu
Mencze als ein dechann undir den andern kürfursten uffin-
berlich lasz und Tirkundete, wie daz unser herre der Konig
sich gehalten hette und sich des richs unwirdig gemacht, darum
si in entseczit hau, und wie dann die küre darnach er-
gangen ist«.
Xn. König Buprecht zog alsbald nach seiner Wahl mit
den drei Kurfürsten ins Lager vor Frankfurt. An alle Beichs-
stände ergingen Ausschreiben, dass man dem neuen Könige
sofort huldige. Um dem Begehren Nachdruck zu geben, traten
jetzt die Fürsten öffentlich mit ihrem grossen Bunde und
seinen Artikeln hervor und erklärten: dass sie einander »nit
lassen und lib gut slosz lande nit von ein zu scheiden.« Jeder
musste sich, ehe er es mit einem so furchtbaren Bunde au&ahm,
wohl bedenken, ob er gegen das Absetzungsurteil Wenzels noch
protestiren solle. Von den Frankftirtem wurde verlangt: »daz
(204) Janssen 516 no. 502.
(205) Das. 60 no. 174. 175.
(206) Das. 535 no. 918 art. 9.
Löher: Das BechUverfahren bei König Wenzels Absetzung, 127
man in (den König) und die forsten mit den iren wulle zu
Franckenfurt zu stunt ynlassen und dainne ligen, umb grosses
schaden und zügriffens willen uzwenig der stad zu vermydeUf
und wulle ansehen, daz er einmüdeclich von dem korfiirsten
€trkom sy, und darumb solich spann nit sy, als obe die Kür-
forsten ein teil einen konig gekom betten und die andern
eynen andern.« Der Frankfurter fiath aber erbat sich Bed^ik-
2eit auf neun Tage, und obgleich die Fürsten erklärten : »das
Beich ginge sie so nahe und näher an, als die Frankfurter, und
sie begdbrten noch weniger wider ihre fieichseide zu handeln«,
— so blieb der Bath doch dabei stehen, dass die Stadt, »uf
das sie eide und eren bewaren mögen«, den neuen König
aicht vor 6 Wochen und 3 Tagen Frist einlasse.*®^) Am
8. Septbr. erfolgte das schon oben hergesetzte *^^) entscheidende
Bechtsgutachten auf dem Mainzer Städtetag. Am 10. Sept. kamen
die drei geistlichen Kurfürsten,, die ihre Fahnen schon auf dem
Felde vor Frankfurt hatten aufstecken lassen, mit dem Könige,
dem Herzoge von Lothringen und vielen Herren Orafen
Sittem und Knechten, sich dort zu lagern, und täglich kam
neuer Zuzug. ^®^) Die Stadt aber liess Keinen herein, der
ihr nicht zuvor Sicherheit und gutes Betragen schwor. *^^)
Am 4. Oktober waren indessen schon Städteboten von Köln Mainz
Worms und Speyer im Lager und erklärten Buprecht: sie
wollten, wenn er ihre Freiheiten bestätige, ihn je eher je
lieber zur Huldigung einlassen, und da sie nun auch die
Frankfurter angingen, das Gleiche zu thun, brachte der Bath
die Sache an die Gemeinde, welche einstimmig das Lager
nicht wollte abgekürzt wissen. Um sich vollends zu decken,
Uess sich der Bath nach Ablauf der gesetzmässigen Lagerzeit
(207) Janssen 534—537 no. 918—920.
(208) Oben 10—11.
(209) Janssen 538 no. 924. 68 no. 202. 71 no. 207. 72 no. 209.
76 no. 217.
(210) Das. 539 no. 925.
128 Jdhrb. der histar» Clasae der k, Akad, der Wissenschaften.
von den Eurförsten im Beichshof ein Weisthum geben , dass
FrankAirt nach Becht den neuen König zor Huldigung
anpfangen dürfe.*")
Xin. Das Benehmen Wenzels nach seiner Ab-
setzung war seines übrigen Lebens würdig. Anfangs war
er Feuer und Flamme, und in voller Thätigkeit. Er entbot
Sigismund Jost und Prokop zu sich, und seine Boten, um
schleunige Eriegshülfe zu werben, flogen in alle Welt, zu dem
Meissner, dem Oestreicher, dem Mailänder, dem Geldern und
Brabanter, dem Polen, insbesondere auch zujn Könige von Frank-
reich. Die Städte liess er aufbieten, auf den 13. Oktober in
Nürnberg mit ihrer Macht bei ihm zu sein; denn er werde
mit grossem Heere erscheinen, alle zu strafen, die an ihm
gefrevelt.*") In Nürnberg beriethen sich im September die
Boten von Eotenburg Windsheim Weissenburg und Schwein-
furt, ob aus Wenzels Büstung wirklich eti^ras werde. *^*)
Allein die vertrauten Agenten der Städte berichteten sehr
bald aus Böhmen: der König werde wohl nicht herauskom-
men; er habe kein Geld; der Meissner und der Oestreicher
und Keiner wolle ihm h'elfen ; man erwarte sicher , dass er
auch des Königreichs Böhmen entsetzt werde; Wenzel sei
ohne ohne allen Muth und Entschluss: »was des morgens ja
ist, daz ist des abends nayn ; kayn aygenschaft kan man von
in nicht irfam.« *^*) Ein Agent schrieb im Oktober nach
Frankfurt in Geheimschrift, und gleichsam als berichte er von
Universitätssachen: ihr Freund (Sigismund) sei wohlauf, alle
gelehrten Leute seien ihm hold und es zögen jetzt viele Stu-
denten zu ihm: er werde nicht hinaus (nach Deutschland)
kommen, sondern bald ein Vordermann (böhmischer König)
(211) Janssen 588—640 no. 926—928.
(212) Das. 67 no. 200. 68 no. 204.
(213) Das. 73 no. 211.
(214) Das. 76 no. 214. 73—76 no. 211—215. 79 no. 219.
Loher: Das Rechtaverfdhren bei König Wenzels Absetzung, 129
werden. »Aber der Knabe (Wenzel) der da behemisch sol
lernen, daz tut nynuner gut. Er wil nicht lernen; so wil
er auch keinen seinen schulern (Käthen) folgen, und sie sehen
gern allesampt, daz er widder drawssen were. Er wil y nicht
hinawss, . . . und ist iczunt dahayme , und in kan nymant us
dem huse bringen, und macht grubelin umb sich, als die
Kinder an der sonnen.« *'*) Es war zu natürlich, dass einen
solchen »Knaben« auch seine letzten Anhänger in Deutsch-
land aufgeben mussten.
XIV. Erwähnung verdient noch, wie die italienischen
Beichsvikare sich verhielten. Gonzaga in Mantua erklärte
sich für Wenzel; Este in Modena, Carrara in Padua, die
GasaU in Cortona, die Grafen von Monte Dalio, der Herr von
Lucca, die Städte Florenz Lucca Verona traten Ruprecht
bei.***) Wie es scheint, machte selbst Graleazzo einen Ver-
such, ob er sich nicht zu dem neuen Könige freundlich stellen
könne. «17)
(215) Janssen 76 no. 215.
(216) Das. 541 no. 930. 931. 935. 542 no. 934. 545 no. 940. 941.
548 no. 944. 559 no. 959.
(217) Das. 548 no. 945.
Eapitelverzeichniss.
1. Das Verfahren bei Königsabsetzungen.
I. Fragen des Rechts und der Geschichte Seite 3
II. Fürstengericht über den König „ 7
III. Stellung des Rheinpfalzgrafen „ 12
lY. Gründe fär Absetzung eines Könige „ 18
2. Die Geschichte König Wenzels.
V. Fürsten- und Städtekrieg „ 27
VI. Wachsende Erbitterung gegen Wenzel „ 86
yn. Wenzels Aussöhnung mit den Fürsten ..... ,, 42
Ylll. Wenzels Absetzung ,, 51
3. Das Bechtsverfahren gegen Wenzel.
IX. Das Urteil „ 61
X. Formeller Gang des Verfahrens „ 77
4. Die Urteile der Zeitgenossen.
XI. Wenzel und die Fürsten „ 90
Xn. PoUtik der Städte „100
5. Die geschichtlichen Folgen.
XIII. Wenzel und Ruprecht „ 109
Nachträge „ 113
n.
Zur Gteschichte
der
Gründung der deutschen Liga
von
C. Ä. Cornelius.
9*
II.
I
Zur Geschichte der Oründung der deutschen
Liga.
Ueber die Gründung der deutschen Liga hat zum ersten
Mal Wolf in seiner »Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit,€
im zweiten Band, Mönchen 1807, authentische und ausführ-
liche Kunde gegeben. Stumpf in der »diplomatischen Geschichte
der teutschen Liga,« Erfurt 1800, um von andern Vorgängern
Wolfs zu schweigen, musste sich darauf beschränken, den In-
halt der Urkunde des Münchner Vertrags von 1609 Jul. 10
und die Notiz mitzutheilen, dass zu Mainz 1609 Aug. und
zu Würzburg 1610 Febr. zu demselben Zweck wie vorher zu
München Versammlungen stattgefunden haben. Wolf dagegen
durfte die Acten des Bundes der katholischen Beichsstände
benutzen, welche das fieichsarchiv zu München in einer langen
Beihe von Bänden bewahrt, und aus diesen ist nicht nur seine
ausführliche Darstellung der Gründung der Liga geschöpft,
sondern es stammt aus derselben Quelle auch der grösste Theil
der übrigen so reichhaltigen Mittheilungen, die er und sein
Fortsetzer Breyer für die Geschichte der Jahre 1608*— 1620
gegeben haben.
Leider fand Wolf die genaimte Sanmilung nicht voll-
ständig vor. Grade in Betreff der Gründung der Liga ergaben
sich zwei bedeutende Lücken. Er selbst klagt, ^) dass die
(1) Wolf II 513.
134 Jahrb. der histor. Gasse der k. Akad. der Wissenschaften,
Verhandlungen der drei ersten Monate des Jahrs 1610 fehlen,
-weshalb er nicht angeben könne, was auf dem Tag zu Würz-
l)urg beschlossen worden sei. Die andere Lücke hat er nicht
«rwähnt, wahrscheinlich weil er sie weniger schmerzlich em-
pfand. Es fehlen nämlich auch die Verhandlungen aus der
ersten Hälfte des Jahrs 1609 bis zu dem berühmten Münchener
Tag vom Juli jenes Jahrs, diesen mit eingeschlossen. Beide
Lücken giengen demzufolge auch in die geschichtliche Darstel-
lung über, nicht bloss bei Wolf, sondern auch bei allen Nach-
folgern, welche sänuntlich auf die Benutzung der Wolfschen
Actenauszüge sich beschränkten. Nur Aretin macht eine Aus-
nahme, wie überhaupt, so auch für unsem besondem Gegen-
stand: ihm verdanken wir eine werthvoUe Erweiterung de&
urkundlichen Materials durch den Abdruck des von ihm auf-
gefundenen Abschieds des Würzburger Tages. *) Im übrigen
blieb die Sache bis heute auf dem Standpunkt stehen, auf den
Wolf sie gebracht hatte.
Erst das Jahr 1862 hat diesem Uebelstand abgeholfen.
Zuerst dadurch, dass der Vorstand des k. Archivs zu Würz-
burg, mein College Herr Professor Contzen, als ich im Auf-
trag der historischen Commission Würzburg im Sommer be-
suchte, mir unter andern einen Band mit bairischen Gorrespon-
denzen des Jahrs 1609 vorlegte, der sich als ursprünglich in
die Reihe jener Bundesacten des Reichsarchivs gehörig erwies.
Derselbe war in den dreissiger Jahren von dem Vorgänger
Contzens aus Privatbesitz für das Würzburger Archiv erworben
worden, ist also wahrscheinlich vor Wolfs Zeit, mithin vor
länger als sechzig Jahren, dem Reichsarchiv entfremdet worden.
Dann, im vorigen Spätherbst, überraschte der Secretär des
Reichsarchivs, Herr Dr. Häutle, dessen Gefälligkeit und Amts-
eifer alle Besucher des Reichsarchivs zum höchsten Dank ver-
(2) V. Aretin, Chronologisches Verzeichniss der bayrischen Staats-
verträge p. 134.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 135
pflichten, mich mit der Nachricht, dass er einen Band Liga^
acten zwischen Papieren des Ansbacher Kirchenraths versteckt
gefunden habe. Diese beiden Bände füllen die bezeichneten
Lücken vollständig aus.
Die Sache liegt denmach so. Von den vier ersten Bänden
der Acten des katholischen Bundes, welche die Zeit vom An-
fang 1608 bis* in den Sonuner 1610 umfassen, hat Wolf den
ersten und dritten benutzt, von welchen der eine das Jahr
1608, der andre die zweite Hälfte des Jahrs 1609 enthält.
Dagegen sind der zweite Band, der die erste Hälfte des Jahrs
1609, und der vierte, der die ersten Monate des Jahrs 1610
umfasst, weder von Wolf noch von irgend jemand anders bis-
her zu literarischen Zwecken gebraucht worden. Um den
Werth des Fundes vorläufig äusserlich zu bezeichnen, erwähne
ich, dass von den ungefähr 1 700 Blättern der vier Bände über
1100 auf die beiden neuen Bände fällen, und dass dieselben
unter andern die Protokolle der grundlegenden Versammlungen
zu München und Würzburg enthalten. Mit Ausnahme einiger
im vierten Band fehlenden Blätter besitzen wir nun die Liga-
acten für die Zeit der Gründung des Bundes vollständig.
Wenn ich nun die Besultate mittheile, welche aus der
Durchforschung dieser vier Bände sich ergeben haben, ') ge-
schieht es mit dem Vorbehalt, dass man mir nicht die Mei-
nung unterstelle, im Folgenden, eine Geschichte der Gründung
der Liga zu geben. Meine Absicht geht lediglich dahin, einen
Actenauszug gleich dem Wolfschen, nur kürzer und vollstän-
diger als dieser, zu liefern. Allerdings habe ich ausser den
Bundesacten andere gleichzeitige bairische Papiere, so weit sie
mir bis jetzt erreichbar waren, zu Bathe gezogen: aber eine
Erkenutmss des Gegenstands, wie der Versuch historischer
(3) Mit AoMchloss deijenigen Acten, namentlich des vierten
Bands, deren Inhalt über mein Thema hinaosgreifb.
136 Jahrb. der histor. Claase der k. Äkad. der Wissenschaften.
Darstellung sie fordern würde, müsste sich auf Forschungen
von viel weiterer Ausdehnung gründen.
1.
Die Bundesacten beginnen mit einem Schreiben des Her-
zogs Maximilian von Baiern vom 9. Januar 1608 an seine
Gesandten zum Reichstag in Regensburg, in welchem er ihnen
Weisung ertheilt, wie sie eine zu erwartende Anfrage der Ge-
sandten der drei geistlichen Churfärsten wegen Errichtung einer
Union der katholischen Reichsstände zu beantworten haben.
Der Herzog erklärt sich geneigt zur Theilnahme, doch mit
einiger Zurückhaltung: es sei besser, sollen die Abgeordneten
sagen, die Sache bis nach dem Reichstag zu verschieben.
Bald darauf aber ist er es, welcher die Anregung gibt.
Febr. 28. fordert Max Bericht, und die Gesandten antworten
März 7.: man habe ihnen vertraulich geäussert, es sei Behut-
samkeit nothwendig, darum besser bis nach dem Reichstag zu
warten. Also die Antwort, welche ursprünglich Max hatte
geben wollen. Die bairischen Abgeordneten haben hierauf des
Herzogs Gedanken den Chur-Cölnischen und Würzburgischen
oflFenbart, später mit den Salzburgischen darüber gesprochen.
Man muss also vor dem 28. Februar einen etwas ver-
änderten Befehl des Herzogs ergänzen.
Nachdem sich Max nun mit dem Churfursten von Cöln
und dem Bischof von Würzburg brieflich in Verbindung ge-
setzt, *) folgt ein neuer Anstoss. Einer der bairischen Reichs-
tagsgesandten, Dr. GailMrcher, ist bei dem Herzog gewesen
und wird mit einer Instruction vom 28. April von Dachau nach
Regensburg zurückgeschickt. Die bairischen Gesandten sollen
(4) Vgl. Bischof von Würeburg an H. Max 1608 Jul. 12. I 77.
Max hat an Würzburg geschrieben Apr. 1., die Antwort ist vom 25. Apr.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 137
sich an die Chur-Cölnischen wenden und sie daran erinnern,
was sie in ihrer Instruction haben und was sie dem Herzog
gesagt haben: nämlich dass die drei geistlichen Churfürsten
entschlossen seien, einen Bund unter den Katholischen ins
Werk zurichten, »und was sich Chur-Mainz deshalb anerpoten.«
Diess mit dem Brief des Herzogs vom 9. Januar zusam-
mengenommen ergibt: dass vor dem Beichstag, also etwa
gegen Ende 1607, Verabredung von den geistlichen Churfürsten
getroffen worden, auf dem Beichstag die Errichtung einer
katholischen Union anzustreben, dass Chur-Mainz die Initiative
zu übernehmen versprochen, und dass der Herzog durch Chur-
Cöln Mittheilung über das Vorhaben erhalten hat. Als dann
Chur-Mainz seiner Zusage entgegen in Unthätigkeit verharrt,
so tritt Max hervor, zuerst im Februar, dann entschieden und
kräftig in der genannten Instruktion vom 28. April. Denn
jetzt ist das Lager der Gegner in voller Bewegung, der evan-
gelische Bund so gut wie fertig, der Beichstag in offner
Spaltung begriffen und dicht vor seiner Zertrennung.
Der Herzog verlangt in jener Instruktion, dass die Chur-
Cölnischen und Chur- Mainzischen die andern katholischen Ab-
geordneten bearbeiten, so dass dieselben von ihren Herrschaf-
ten jetzt gleich Instruktion einholen und noch während des
Beichstags in Gesammtberathung treten und die Sache wenig-
stens soweit i&rdem, dass man eine Zusammenkunft mit VoU-
machten zum Zweck der Errichtung eines Bundes verabrede.
Er erwartet den Einwurf, wie es scheint von Chur-Mainz, dass
man vorher die Genehmigung des Kaisers einholen müsse, und
lehnt denselben mit Hinweisung auf die bedrängte Lage des
Kaisers ab. Auch jetzt noch wünscht er den Schein zu ver-
meiden, als ob Baiern vorzüglich die Sache betreibe; doch
soll Gailkircher auf Begehren der Cölnischen und Mainzischen
neben ihnen mit den andern katholischen Ständen verhandeln,
und die Unlustigen mit der Drohung schrecken, dass Baiern
später die Hand von ihnen abziehen werde.
138 Jdhrb, der histar. Classe der k, Akcid. der Wissenschaften,
Dieser Schritt des Herzogs hat zur Folge, dass 1608 am
5. Mai zu Eegensburg in der Wohnung der Mainzischen Ge-
sandten und auf deren formale Veranlassung, *) die erste Be-
rathung einer grössern Anzahl katholischer Seichsstände über
Errichtung eines Bundes stattfindet. ^) Zugegen sind die
Käthe der drei Churfürsten, Oestreichs Baiems Salzburgs Würz-
burgs. ^) Das Besultat ist, aus den folgenden Actenstücken
zu schliessen, kein anderes gewesen, als Austausch der Mei-
nungen und der Entschluss der Abgeordneten, an ihre ver-
schiedenen Herrschaften darüber zu berichten.
Betrachtet man die erwähnten Schritte des Herzogs im
Zusammenhang, so kann man daran nicht wohl zweifeln, dass
am wenigsten er einer fremden Anregung bedurfte, um den
Gedanken eines katholischen Bundes zu fassen und an seiner
Ausführung zu arbeiten. Aber er hält es, entweder für die
gemeine Sache oder für seine eigne Stellung oder für beide,
för angemessener und zuträglicher, wenn statt seiner die Chur-
fürsten in der Ausfahrung sich voranstellen. Darum, als er
erßlhrt, was die Churfürsten beschlossen, und dass Chur-Mainz
sich erboten hat zu thun, was seiner amtlichen Stellung im
Beich zukommt, nämlich den andern Ständen gegenüber auf
dem Beichstag die Initiative zu ergreifen, so wartet er ab,
dass seinen Gesandten der Antrag gestellt werde, und die Ant-
wort, zu der sie für diesen Fall angewiesen sind, ist berechnet
den Schein zu behaupten, dass Baiem nicht anregt und treibt^
sondern eher hemmt und sich treiben lässt. Dann erst, als
Mainz der Erwartung nicht entspricht, lässt Max den Schleier
fallen und gibt seinen Abgeordneten Auftrag zu selbständiger
Anregung. Aber auch jetzt behält er als nächstes Ziel im
(5) Erzb. Salzburg an H. Max. 1608 Sept. 17. I 93.
(6) Gailkircher an H. Max. 1608 Mai 11. I 16.
(7) H. Max Instruction für Wensin an Chur-Mainz. 1608 Mai 24.
T 00
Camelitis: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 139
Auge, die Churförstliclien, namentlich Mainz, zu dem verspro-
chenen Schritt anzutreiben: ist das geglückt, so sollen seine
Baiem in die zweite Linie zurücktreten.
Es liegt darnach die Vermuthung nahe, dass auch der
ursprüngliche Beschluss der Churfürsten durch niemand anders
als Maximilian selbst, dem sein Oheim Ernst von Cöln als
Hebel diente, veranlasst worden sei. Einer meiner jungen
Freunde, Herr Max Lossen, mit der Sammlung des Materials
zu einer Geschichte der Donauwörther Irrung und Execution
beschäftigt, hat mir ein Actenstück mitgetheilt, welches eine
ausdrückliche Bestätigung dieser Vermuthung zu bieten scheint.
Es ist ein Briefconcept vom 3. Juli 1607, *) für den Churfür-
sten von Cöln und für den Coadjutor von Cöln, Maximilians
Bruder, bestimmt, in welchem der Herzog den bisherigen Ver-
lauf des Donauwörther Ereignisses berichtet, und unter Hin-
weisung auf den Beistand, der dem Ungehorsam der Stadt
von Seiten der protestantischen Nachbarn in Aussicht steht,
und auf die Gefahr, dass andere Beichsstädte mit gemischter
Bevölkerung, durch diess Beispiel ermuthigt, sich ähnliches
gegen ihre katholischen Einwohner erlauben möchten, dieNoth-
wendigkeit hervorhebt, »das unter den Katholischen ainest ain
solcher verstaut gemacht werde, damit ain jeder wisse, was
er sich auf den andern zu verlassen; dan ausser dessen bei
so beschafnen dingen nit wol und fueglich der Sachen änderst
zu helflfen.« Aber, während allerdings durch diesen Brief be-
stätigt wird, dass Maximilian unabhängig von den Churfürsten
den Plan der Liga aufgefasst hat und seinerseits die Churfür-
sten für seinen Gedanken zu gewinnen trachtet, so weist wie-
derum die Antwort des Coadjutors auf einen, wie es scheint,
vorhergehenden und also möglicher Weise von Maximilians
Einwirken unabhängigen Schritt der Churfärsten in derselben
Angelegenheit hin. Weil an dem Donauwörthischen Handel,
(8) RA. Donauwörther Executionsacten I 145.
140 Jahrh, der histor, Claase der k, Äkad, der Wisaenschaften,
schreibt der Coadjutor Ferdinand, ^) das Wohl der katholi-
schen Eeligion im ganzen Keich hängt und alle Katholischen
dadurch in die grösste Gefahr gesetzt werden, indem die Pro-
testanten sich ungescheut zusanunenthun, Conventikel und
andere verbotene Conspirationen unter sich anstiften und den
Donauwörthern in ihrer Verwegenheit offen beistehen, »so acht
ich meinem darvorhalten nach hoche notturft sein, das alle
Katholische diser sachen wol warzunemen hetten und nicht
aus henden zu lassen, was hiebevom die drei geistlichen chur-
fürsten wolmainent bedacht und der Eo. kai. Mt. zugeschrieben
haben, das alle katholische stende vor dem anstehenden reichstag
diser der Protestirenden anstellungen erinnert und ein jedweder
dahin disponirt werden solle, seine gesanten mit notturftiger
Instruction zu versorgen, das man sich bei der vorstehenden
reichsversamlung einer gewissen Verfassung vergleichen möchte,
wie die Katholischen mit gesambtem zuthun solchem und der-
gleichen der Protestirenden eintringen, und da einer oder der
ander mit gewalt überfallen werden sol, zu begegnen, einzig
und allein dahin gemeint, wie man bei dem hochverpönten
religions und prophanfriden rüebig verbleiben und dagegen nit
möchte beschweret werden.«
So weicht der ITrsprung des Gedankens der Liga vor dem
Forscher Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurück, und
da die ganze Lage des Beichs seit Jahren auf die Nothwen-
digkeit einer engeren Vereinigung der katholischen Stände wies,
so sollte es mich nicht Wunder nehmen, wenn es sich ßlnde,
dass schon vor 1607 derselbe Gedanke und zwar öfter und
nicht bloss von einem einzigen der Betheiligten ausgesprochen
worden. Doch wird uns das nicht hindern körinen, den Herzog
von Baiern, wie er immer die Seele des Unternehmens war,
auch als den eigentlichen Urheber desselben anzusehen. Was
(9) Poppeisdorf 1607 Aug. 5. RA. Donauwörther Executionsacten
I 259.
Comdius: Zur Gesduchte der Gründtmg der deutschen Liga, 141
er im Anfang vor den Augen der Welt zu verhüllen bestrebt
war, hat er ein Jahr später offen ausgesprochen in einem Brief
an den Papst, ^^) wo er sich allein und niemand anders neben
sich als den Stifter des Bundes bezeichnet.
An den ersten schwachen Erfolg auf dem Reichstag knüpfte
Max unverweilt weitere Schritte nach verschiedenen Seiten hin.
Als das wichtigste fär seinen Zweck erschien ihm fortwährend,
den Churfürsten von Mainz vorwärts zu bringen und in die
ihm zugedachte Rolle zu schieben. Die Haltung desselben,
zögernd und matt, flösste ihm wenig Vertrauen ein. Noch
im Mai 1608 wechselten Chur-Cöln und der Herzog Klagen, ^^)
»dass Mainz desfals etlicher massenkül und villeicht aus aller-
hand geschöpftem nachdenken und tragender beisorg nicht so
gar willig und gern an diess werck kommen oder doch dasselbe
mit keinem solchen eifer und nachdruck möge promovieren
wollen, wie es die hohe notturft erfordert.« Aber die Theil-
nahme des Erzkanzlers, an sich von Gewicht, war nicht bloss
unumgänglich, wenn man einen umfassenden Bund der katho-
lischen Reichsstände anstrebte, sondern, wie sich aus späteren
Aeusserungen des Herzogs ergibt, ohne sie war nicht einmal
auf den Beitritt der bedeutendsten oberländischen Fürsten, unter
andern des Bischofs von Würzburg, zu rechnen.
Ende Mai schickt Max seinen Rath und Jägermeister
Lorenz Wensin, einen Mann, der das besondere Vertrauen
seines Oheims besass, an den Rhein, um ausser andern Ge-
schäften die Verständigung mit Mainz in Sachen des Bundes
zu betreiben. ^^) Chur-Cöln wird zur hülfreichen Einwirkung
(10) Vgl. unten §. 7.
(11) H. Max Instruction für Wensin an Chur-Cöln 1608 Mai 25.
I 26.
(12) H. Max Instruction für W^ensin an Chur-Mainz 1608 Mai 24.
Desgl. an Chur-Cöln Mai 25.
142 Jahrb, der histor, Classe der k, Akad. der Wissenschaften.
aufgefordert. Auf Veranlassung des Churlursten von Mainz,
mit dem er am 11. und 12. Juni verhandelt, dehnt Wensin
seine Eeise auch auf den Trierschen Hof zu Wittlich aus, und
findet hier wie zu Mainz und Bonn die Herrschaften willig.
Chur- Mainz äussert, am besten mache der Herzog mit den
oberen Ständen, die der Gefahr minder ausgesetzt seien als die
Bheinischen, einen Anfang zu Errichtung des Bundes; aber
er selbst wolle schon jetzt mitwirken, und habe sogar bereits
eine Zusammenkunft der drei Churfürsten, zum Theil um der
Bundessache willen, angestrebt; bisher durch Chur-Cölns Lütti-
cher Geschäfte verhindert, solle sie demnächst stattfinden. ^')
Wirklich treffen am 5. Juli die drei geistlichen Chur-
fürsten und der Coadjutor von Cöln zu Andernach zusammen,
vornehmlich allerdings wegen der viel verhandelten Frage der
Succession im Beich, aber daneben auch in Sachen des Bunds.
Der Coadjutor schreibt noch am 7. Juli an seinen Bruder:
»Moguntinus est timidus, wil der katzen die schellen nicht
anhangen«. Aber wider sein Erwarten^*) »hat Mainz sich
so eürig und so erzeigt, das er für diess mal nicht mer hat
thuR können«. Es erfolgte zu Andernach von Seiten der
Chmiürsten eine Eröf&iung an den anwesenden Wensin: »sie
seien entschlossen zum Bund; das Ziel müsse sein, einen
Geldvorrath zu bilden zum Unterhalt eines Heeres von 15000
zu Fuss und 5000 Pferden auf Jahr und Tag; der Herzog
möge mit den oberländischen Ständen die Sache berathenund
begutachten, worauf sich die Churfürsten weiter erklären wür-
den«. ^*)
3.
Schon bevor diese Verhandlungen am Bhein im Gang
waren, hatte Max auch in seiner Nähe, im Oberland, An-
(13) Wensin an H. Max. Bonn 1608 Juni 21. I 40.
(14) Ferdinand Coadj. v. Cöln an H. Max. Brül 1608 Juli 13. I 61.
(15) Wensin an H. Max Bonn 1608 JuU 13. I 72.
CJomelius: Zur Geschichte der Gründung der deutsciien Liga, 143
knüpfungen versucht; zuerst bei dem Erzbischof von Salz-
burg, ^^) dann bei Stadt Augsburg durch eine Sendung Gail-
Wrchers an den Stadtpfleger Marx Welser; *') er meinte sogar
im Juni schon eine Zusammenkunft zu Eichstett zu veran-
stalten. ^®) Aber diese Bestrebungen waren erfolglos geblieben.
Salzburg hatte ausweichend sich Unterhandlung mit Mainz
vorbehalten, von welchem die erste Anregung in der Sache
ihm zugekommen sei. Welser eröffnete Aussichten und machte
Vorschläge, aber nach Eichstett einen Abgeordneten der Stadt
zu schicken, sei schon wegen der Kürze der Zeit unmöglich;
besser, der Herzog theile die dort gefassten Beschlüsse mit.
Von der Zusammenkunft ist keine Kode weiter.
Im Hinblick auf die folgenden Thatsachen dürfen wir
annehmen, dass es jeder Zeit in Maximilians Macht stand,
seine kleinen geistlichen Nachbarfürsten zum Bunde mit sich
zu vereinigen, und dass er diesen Schritt also freiwillig und
absichtlich verschob. Die rheinischen Erfolge aber benutzte
er jetzt zunächst, um auf Würzburg zu wirken. Schon die
erste Mittheilung Wensins von den günstigen Aeusserungen
des Churfürsten von Mainz berichtete er sofort an den Bischof, ^^)
namentlich, dass der Churfürst wünsche, die oberen Stände
möchten den Anfang machen. Als der Bischof zwar freund-
lich dankte, *®) aber naob den Aeusserungen der andern in
Kegensburg versammelt gewesenen Stände, also der geistlichen
Churfürsten und Oestreichs und Salzburgs sich erkundigte, wartete
Max, bis sein Gesandter Wensin, der vom Khein aus zu dem
auf Ende Juli anberaimiten Churiurstentag zu Fulda wegen
eines andern Geschäfts zu gehen Befehl hatte, zurückgekommen
imd mündliche Kelation über seine Verhandlungen mit Mainz
(16) H. Max an Erzb. Salzburg. 1608 Mai 21. I 18.
(17) Gailkircher an H. Max. Augsburg 1608 Juni 6. I 30.
(18) ibid.
(19) H. Max an B. Würzburg. 1608 Juli 2. I 53.
(20) B. Würzburg an H. Max. 1608 JuH 12. I 77.
144 Jahrb. der histor. Glosse der k, AJcad. der Wissenschaften.
und den andern zu Andernach abgestattet hatte. Dann schickte
er den Probst von Landshut, Dr. Balthasar König, nach
Würzburg, *^) um ausführliche Mittheilung zu machen: der
Hauptpunkt war, dass die Churfürsten Baiem aufgefordert^
zunächst die oberländischen Stände um sich zu versanMneln.
Die Antwort, welche er jetzt erhielt, dünkte ihm willfahrig
genug zu sein, um ihr weitere Folge zu geben. Anfang Sep-
tember richtete er an die benachbarten Bischöfe des bairischen
Kreises, an Salzburg Begensburg Passau, und an den Bischof
von Augsburg, unter Erzählung des bisher in der Sache Vor-
gefallenen, die Einladung zur Theilnahme an der Errichtung
des Bundes; indem er dem Bischof von Würzburg anheim-
stellte, das gleiche seinen fränkischen Kreisverwandten gegen-
über zu thun. **) Mit Ausnahme des Erzbischofs von Salz-
burg, der sich wieder hinter die nicht zu verletzende churfürst-
lich Mainzische Präeminenz versteckte, erfolgten von allen
Seiten freudige Zusagen, in den wärmsten Ausdrücken von
dem ßegensburger Bischof. ^*) Der von Augsburg übernahm
es ausserdem, die übrigen geistlichen Fürsten des schwäbischen
Kreises zu bearbeiten, und konnte am 14. November seinen
Bath Dr. Johann Leonhard Bot nach München schicken, um
über den glücklichen Erfolg der durch ihn so wie durch den
Bischof persönlich geführten Unterhandlungen zu berichten. **)
Unerspriesslich dagegen blieb auch jetzt noch das Verhältniss
(21) H. Max an B. Würzburg. 1608 Sept. 1. 1 85.
(22) H. Max an B. Passau, B. Eegensburg, B. Augsburg. 1608
Sept. 1. I 83 — H. Max an B. Würzburg. 1608 Sept. 1. I 85. -—
H. Max an Erzb. Salzburg. 1608 Sept. 2. I 87.
(23) B. Regensburg an H. Max 1608 Sept. 6. I 90. — Erzb.
Salzburg an H. Max. 1608 Sept. 17. I 93. — Erzh. Leopold an H.
Max. Wien 1608 Sept. 20. I 95. — B. Augsburg an H. Max. 1608
Sept. 25. I 108.
(24) B. Augsburg an H. Max. Dillingen 1608 Nov. 14. I 144.
Chrnelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 145
ZU dem Würaburger Bischof, **) der nicht allein sich darauf
beschränkte, unter den kreisverwandten Ständen nur mit dem
Bischof von Eichstett eine, wie sich bald zeigte, erfolglose
Anknüpfung zu versuchen, sondern auch für sich selbst immer
wieder die Frage nach dem Zutritt der drei Churfürsten und
Oestreichs und Salzburgs aufwarf und den eignen Zutritt von
der Antwort abhängig zu machen schien. Auch eine Sendung
Balthasar Königs im November scheint den Bischof nicht
eifriger gestimmt zu haben. Hierin wird wohl der Grund
oder doch einer der Gründe dafür zu suchen sein, dass Her-
zog Max nun zwei Monate die Sache ganz ruhen liess und
erst Ende Januar 1609 seine Bemühungen wieder au&ahm.
Diessmal griff er die Angelegenheit von einer andern Seite
an. Er legte den Gedanken zu Grund, welchen Leonhard
Bot bei seiner Anwesenheit zu München im November ge^
äussert hatte;**) nämlich zuerst zwischen Baiem und den
schwäbischen geistlichen Fürsten, den Bischöfen vonAugsburg'
und Constanz, dem Abt von Kempten und dem Propst von
MwMigen, die Sache ins reine zu bringen, in der Hoffnung,
später Würzburg und andere leichter und rascher zur Nach-
folge bewegen zu können. Und durch Eots Bemühungen und
des Bischofs von Augsburg gutwilligen Eifer kam es dahin,
dass am 19. März Dr. Kot und Dr. Götz von Augsburg nach
München reisten, um im Namen der vier schwäbischen Für-
sten die gewünschte Vereinbarung zu schliessen. *') Nachdei][i
(25) H. Max an B. Würzburg. 1608 Sept. 14. I. 97. — B. Wntz-
bürg an H. Max. Sept. 9. I 98. — H. Max an B. Würzburg. Sep-
tember 21. I 100. — B. Würzburg an H. Max. Oct. 1. I 117. —
H. Max an B. Würzburg. Oct. 9. I 119. — B. Würzburg an H. Max.
Oct. 30. I 136. — H. Max Instruction für Dr. König an B. Würz-
burg. Nov. 8. I 129. — Desgl. Nebenmemorial. Nov. 19. I 133.
(26) Bot an Donrsperg. Augsburg 1609 Febr. 7. 11 '6.
(27) Kot an Donrsperg. Augsb. 1609 Febr. 1. II 4. — DesgL
Febr. 7. II 6. — H. Max an B. Augsburg. München 1609 Febr. ^
10
146 Jahrb. der histor. Clasae der k, Akad. der Wissenschaften.
in dieser Zusammenkunft die nothwendigsten Punkte, unter
Vorbehalt der Batification der schwäbischen Füi-sten, festge-
stellt worden, wandte sich der Herzog wieder an Würzburg
und schickte ihm die Vereinigungsnotel zur Einsicht und Be-
gutachtung. *®) Auch jetzt hatte er die alten Bedenken des
Bischofs zu bekämpfen, der nicht gern ohne Oestreich und
vor dem Beitritt der Churfürsten die Hand zum Bunde bieten
wollte. *^) Die Bücksicht auf Oestreich machte zuletzt sogar
die schwäbischen Fürsten noch einmal unschlüssig. ^®) Der
Herzog Hess nicht nach. Seine Gründe wurden von dem
Eindruck unterstützt, den die neuerdings gegen die Bis-
thümer Speier und Worms geübten Gewaltthätigkeiten der
Chur- Pfalz auf alle geistlichen Fürsten machten. Doch war
er noch mit Würzburg nicht völlig im reinen, als er die
Zusammenkunft der oberländischen Stände, die er schon An-
fang Oktober in nahe Aussicht genommen hatte, im Juni
endlich ausschrieb. Am 15. Juni ergingen die Einladungen,
und am 5. Juli erschienen die Gesandten im Namen der
geistlichen Fürsten von Würzburg Augsburg Passau Eegens-
n 8. — B. Au^burg an H. Max. Dillingen 1609 Febr. 28 H. 10.
--Desgl. März 19. II 32.— H.Max an B. Augsburg. März 23. 1134.
— Rot an Donrsperg. 11 41 (ist April gezeichnet, scheint aber in
d^i Januar zu gehören).
(28) H. Max an B. Würzburg. München 1609 April 10. II 35.
(29) B. Würzburg an H. Max. Schloss Frauenberg 1609 April 24.
Ö 37. — H. Max an B. Würzburg. 1609 Mai 4. II 39. — B. Würz-
burg an H. Max. Frauenberg Mai 14. II 89. — H. Max an B. Würz-
burg. Mai 27. n 91. — B. Würzburg an H. Max. Juni 11. II 134.
— Desgl. Juni 27. II 170.
(30) H. Max an Rot. München 1609 Mai 2. II 43. — Rot an
H. Max. Augsburg Mai 17. II 48. — H. Max an Rot. Juni 3. II 50.
— Donrsperg an H. Max. München Mai 22. II 55. — B. Augsburg
an H. Max. Dillingen Juni 8. II. 93. ' — H. Max an B. Constanz.
Juni 3. n 107. — B. Constanz an H. Max. Mersburg Juni 13. II 110.
— H. Max an Erzh. Leopold. Juni 16. II 138. — £rzh. Leopold
Ä5 H. Max. Prag Juni 22. H 164.
Cor»di%i8: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 147
bürg Constauz Kempten Elwangen zu München. Salzburg
war nicht eingeladen; der Bischof von Eichstett,. an welchen
der Herzog noch am 15. Juni seinen geheimen Bath GaU-
kiicher schickte, hatte eine aufschiebende Antwort gegeben, ^^)
und mit den schwäbischen Prälaten waren die Verhandlungen,
obwohl Erfolg verheissend, noch nicht über den Anfang ge-
diehen. '^) Die wichtigste Lücke aber bestand darin, dass
unter den zusammentretenden geistlichen Ständen der vor-
nehmste, der Bischof von Würzburg, seine Abgeordneten nicht
zum Beschliessen , sondern nur zum Berathen und Berichten
bevollmächtigt hatte.
Am 10. Juli wurde der Vertrag von München vollendet,
der den Grund zur Liga legte.
4.
Folgendes waren die wichtigsten Grundsätze, welche man
zu München feststellte. ^^)
Der Bund ist bestimmt zur Vertheidigung der katholischen
Beligion und des Friedens im Beich. Gegen einander dürfen
die Bundesgenossen nie zur Gewalt greifen; ihre Streitigkeiten
werden entweder innerhalb des Bundes, sei es durch gütlichen
Vergleich, sei es durch rechtlichen Austrag, geschlichtet, oder
auf den ordentlichen Weg Bechtens gemäss den Beichsgesetzen
gewiesen. Gegen aussen tritt der Bund in Thätigkeit, wenn
«in Bundesstand mit Gewalt angegriffen oder ihm der Bechts-
weg gesperrt wird. Der Bund hat in solchen Fällen erst die
(31) H. Max Instruction für Gailkiroher an B. Eichstett. Mün-
chen 1609 Juni 15. TL 114. — Gailkirchers Relation. Juni 24. 11.122.
(32) Rot an H. Max. Augsburg 1609 Mai 17. U 48.
(33) Das neben dem bekannten Vertrag diesem Paragraphen zu
Grunde liegende Protokoll, im 2. Band der Bundesacten, ist leider
sehr flüchtig abgefasst und dabei so ausserordentlich schlecht ge-
schrieben, dass man hinterdrein eine Abschrift hat beilegen müssen,
die mit Lücken besäet ist.
10*
148 Jahrb. der histor, Classe der k, Äkad, der Wissenschaften.
Oüte ZU versuchen, indem er den Gegner ersucht abzustehen
und ihm den Vergleich anbietet; wenn diess nichts fruchtet^
soll zu thätlicher Vertheidigung geschritten werden. Ist ein-
mal die Bundeshülfe ins Leben getreten, so darf der bedrängte
Bundesstand keinen Vertrag mit dem Frevler schliessen, als
mit Genugthuung for die Bundesgenossen überhaupt.
Die Verfassung betreffend kam man über folgende Punkte
überein. An der Spitze steht der Bundesoberst, ein Amt, das
dem Herzog von Baiern übertragen wurde. Neben ihm je
ein Adjunct far jeden der drei oberländischen Kreise: man
wählte die Bischöfe von Würzburg Augsburg Passau. . Der
Bundesoberst vertritt den Bund und handelt in seinem Namen
in äussern und innern Angelegenheiten, ist aber an den Kath
der Adjuncten gebunden; im Krieg dagegen hat er volle und
freie Gewalt, nur dass er von den Adjuncten Kriegsräthe an-
nehmen muss, über deren Person er sich vorher mit ihnen
verständigt hat. Von allgemeinen Bundesversammlungen wie
von Adjunctenversammlungen ist die Eede, doch ohne irgend
welche nähere Bestimmung, die eine ausgenonmaen, dass in
beiderlei Versammlungen bei Stinmiengleichheit das Votum
des Bundesobersten den Ausschlag gibt. Für die Bedürfnisse
des Bundes wird eine gemeinsame Gasse aus Beiträgen der
Mitglieder gebildet.
Bei der Berathung wurde die Zeit des Bundes auf neun,
nicht wie vorgeschlagen auf fünfzehn Jahre festgesetzt, aber
innerhalb dieser Zeit die Verpflichtung auch auf die etwaigen
Nachfolger ausgedehnt. Der Geldbeitrag sollte für jetzt in
30 Monaten nach der Seichsmatrikel bestehen, einzuzahlen in
zwei Terminen, auf Bartholomäi und Andrea. Hiermit wollte
man jedoch über den Antrag nicht entscheiden, welcher von
Würzburg gestellt wurde: dass nämlich, nach dem Beispiel
des weiland Landsberger Bundes, eine bestimmte Summe be-
zeichnet werden solle, deren Zahlung zu Führung einer Stimme
im Bund berechtige, so dass den minder vermögenden Ständen
Cornelius: Zur Geschichte der Ch'midung der deutschen Liga, 149
freistehe, sich zu gemeinsamer Erlegung dieses Geldbetrags
und in Folge dessen auch zur Führung einer einzigen Stinmue
zu vereinigen. '*) Ausser diesem tief eingreifenden Vorschlag,
bei welchem es sich offenbar weniger um die bekannte Man-
gelhaftigkeit der ßeichsmatrikel als um den Machtanspruch
der Mittelstaaten, wenn der Ausdruck erlaubt ist, handelte,
konnte man auch andere wichtige Punkte nicht zur Erledigung
bringen. Baiem forderte Festsetzung eines jährlichen Beitrags
an Geld, Verpflichtung der einzelnen Stände zur Bereithaltung
von Geschütz und Zubehör gemäss einer vorgelegten Liste,
femer eine Entschädigung des Bundesobersten far den Fall
seiner persönlichen Theilnahme an einem Feldzug, Geld für
die Bestellung und den Unterhalt der vornehmsten Offiziere
und Beamten des Bundesheeres. Alle diese Funkte wurden,
künftiger Berathung vorbehalten. Sogar über die Legstatt der
Bundesgelder, welche Baiem nach München forderte, die übri-
gen lieber nach Augsburg liefern wollten, blieb einstweilen die
Entscheidung ausgesetzt, und damit die wirkliche Einlieferung
der Beiträge vorläufig ins ungewisse gestellt.
Andre Punkte von nicht geringerer Wichtigkeit kamen
gar nicht zur Sprache. So fehlte jede Bestimmung über die
innere Ordnung der Bundesversammlung, so wie über ihr
Becht gegenüber den ausgebliebenen Mitgliedern. Man hatte
nicht gefragt, ob das künftige Bundesheer aus Gontingenten
der Stände zusammen zu setzen oder allein durch Werbung
des Bundesobersten aufzubringen sei; geschweige dass man an
ein gemeinsames Vertheidigungssy stem , etwa mit Berücksich-
tigung der vorhandenen festen Plätze, gedacht hätte. Es gab
kein Mittel des Zwangs, keine Strafe für säumige Bundes-
(34) Würzburg, welches noch auf dem Bundestag im Februar 1610
diesen Antrag aufrechterhielt, wollte den Beitrag auf 20 — 25,000 fl.
normiren, Regensburg und Passau einerseits, anderseits die vier
flchwäbischen Fürsten zusammen legen. B. Würzburg Instruction
für Joh. Servatius Yon Diemantstein an H. Max. 1609 Juli 24. III 51.
150 Jahrb. der histor. Glosse der h Akad, der Wissenschaften.
genoaseü. Ein weiterer Uebelstand war der Mangel an Schärfe
in der Besrtinmiung des Eechts der Adjuncten und des Obersten.
Dann hatten Artikel in die Vertragsurkunde Eingang gefunden,
die den Bundesorganismus durchbrechen und lähmen mussten:
der eine, welcher dem bedrängten Bundesstand die Selbsthülfe
erlaubte und die Kosten derselben dem Bunde auferlegte; der
andere, der jeden Stand ermächtigte, eigne Büstungen zu ver-
anstalten und in Bechnung zu bringen, also von seinen Beiträgen
zur Bundeskasse abzuziehen. Neben dem Widerstreben der
Einzelherrlichkeit gegen die strenge Unterordnung, welches sich
in diesen Punkten verräth, wirkte auch die Scheu vor Krieg
und jeder ungewöhnlichen Anstrengung, aus welcher die oben
angeführte Vorschrift hervorgieng, dass der wirklichen Ver-
*theidigung in jedem Fall, also auch nach erfolgtem Einbruch
des Gegners, der Versuch gütlichen Abkommens vorangehen
sollte. Wenn man hinzu nimmt, dass vor und nach bis zum
Ausbruch des Kriegs der Bundesoberst bei jedem Schritt mit
den Adjuncten sich zu verständigen hatte, ohne dass von einer
dauernden Vertretung derselben bei der Person des Vorstands
irgendwo die Bede ist, so hatte man in der That wenig Grunde
in der Stunde der Gefahr von den Einrichtungen dieses Bun-
des das Heil zu erwarten.
Herzog Max hat ohne Zweifel die Mangelhaftigheit des
Vertrags sehr wohl erkannt, und grade deshalb wiederholt
und nachdrücklich den Bundesgliedem die Geheimhaltung,
nicht des Bundes, aber der Artikel desselben eingeschärft-
Seine meisten Wünsche waren unbefriedigt geblieben. Bei
den Acten befindet sich eine Denkschrift Viepecks, in welcher
eine lange Keihe von Anträgen für die Münchner Versamm-
lung aufgezeichnet ist, deren Annahme viele Lücken der Bun-
desurkunde ausgefüllt und namentlich die Machtvollkommenheit
des Bundesobersten in hohem Mass gestärkt haben würde.
Aber sie ist nicht zur Berathung gekommen, schwerlich über-
haupt vorgelegt worden. Was hatte Maximilian mit der
I
Corndius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 151
Müh« von anderthalb Jahren erreicht, als die Abgeordneteii
jetzt München verUessen? Einen Bund mit wenigen und ün-
mächtigen Ständen — Würzburg hatte noch seinen Beitritt nidA
endgültig erklärt — ; einen Bund, der jeden Augenblick den Ein-
satz von Baiems Macht und Ansehen zum Schutz der Schwa*
chen fordern konnte, während er Baiem iur jetzt und unmü^
telbar nicht einmal den verhältnissmässigen Vortheil sichertöi
Dennoch giebt die Correspondenz des Herzogs nichts von
Missmuth kund: die Gründung eines Bunds unter baierischer
Leitung war an sich ein Erfolg und grade im gegenwärtigen
Augenblick unentbehrlich.
5.
Ich vermuthe, dass Maximilian die Wirkung im Auge
hatte, welche die Nachricht, erst von dem nahen Bevorstehen
der Münchener Zusammenkunft, dann von dem glücklich er**
folgten Abschluss des Bundes, so locker und schwach dieser
anfangs inunerhin sein mochte, in der Feme sicher hervorbrin^
gen musste. Vornehmlich nach zwei Seiten hin.
Schon gegen Ende Mai, zu der Zeit als der Herzog nahe
daran war die Zusammenkunft der oberländischen Stände ins
Werk zu setzen, hatte er Wensin zur Mittheilung des Gre-
schehenen und einer erneuten Anregung der Sache bei den
geistlichen Churfürsten angewiesen. ^^) Er zweifelte damals mebr
als je an dem guten WiUen des Churfürsten von Mainz, der
all den erzählten Bemühungen des Herzogs gegenüber fast
seit Jahresfrist nichts als eine Besprechung der Churfürsten zu
Coblenz ohne Besultat aufzuweisen hatte, und nicht einmal
die von Max erbetene und ihm zugesagte Einwirkung auf
Salzburg ausgeführt hatte. Aber er rechnete auf den Eindruck^
den die churpfälzischen Gewaltthaten auf die rheinischen kath^
(35) H. Max Instruction für Wensin an Chur-Cöln. Straubing 1609,
Mai 24. II 58.
152 Jahrb. der histor, Classe der k. Akad, der Wissenschaften,
lischen Fürsten so gut wie auf die oberländischen gemacht
haben würden, und trieb Ghur-Cöln an, mit diesem Mittel die
Zögerungen seines CoUegen aus dem Feld zu schlagen. »Und
ob uns gleichwol gnugsamb bewust, wie kül und schlecht des
von Mainz 1. dise ding bishero in obacht genomen, nur immer-
dar mit vergebentlichem vorwort von sich und zu langer haut
geschoben, und niemals über öfteres von uns beschehenes erin-
nern und ersuchen dises werk würklich angreifen wollen, so
wollen wir doch darfür halten, i. 1. werden die in neuligkeit
von der Chur-Pfalz wider den stift Speir im reich unerhörte
verübte gewaltthätigkeit etlicher massen die äugen öfnen, und
weil derselben etwan dergleichen bölder alsbald auch begegnen
mechte, sich diser sachen mit mererm eifer untememen und
einen entlichen schluss machen helfen. Dan einmal dise der
Chur-Pfalz thathandlung genugsamb zu erkennen gibt, da man
der Catholischen seits zu disen sachen nit änderst thut, die
Protestierenden disem exempel nachfolgen und algemach ain
catholischen stand nach dem andern angreifen werden, bis sie
alles under sich gebracht.«
Die Berechnung erwies sich über Erwarten richtig. Schon
um den 26. Mai, zu einer Zeit, da der Befehl des Herzogs
an Wensin noch unterwegs war, verhandelte der Chur-Main-
zische Canzler mit dem Coadjutor von Cöln aufs eifrigste
über eine Versammlung der Säthe aller geistlichen Churfursten
zur Besprechung der Bundessache. ^^) Ueberallher kommen,
meldete er, Zeitungen, dass die protestierenden Fürsten immer
unruhiger werden und weitaussehende Händel anfangen; so
habe Chur-Pfalz neulich verschiedene Gewaltthaten gegen Speier
und Worms geübt; deshalb müsse man mit Ernst zur Sache
thun, wenn man nicht fortwährend in Sorgen vor einem ur-
plötzlichen Ueberfall stehen wolle. Sogleich machte der Coad-
jutor seinem Oheim, dem Churfursten, Mittheilung nachArns-
(36) Coadjutor von Cöln an H.Max. Bonn 1609 Mai 31. 11 312.
Cornelius: Zur Geschichte der GriJmdung der deutscJien Liga. 153
berg.^^) Diese Cölnischen Herren hatten noch einen weiteren
Anlass zur Eile an der damals grade im Entstehen begriffenen
Jülichschen Verwirrung. Und so traten zu der von Chur-
Mainz vorgeschlagenen Zeit, auf Trinitatis 1609 Juni 14, die
Gesandtfti der drei Churförsten zur Vorberathung über die von
Chur-Mainz proponirten Punkte, betreffend das Unionswerk,
zusanmien.
Die gemeinsamen Vorschläge,'^) zu denen sie am 18. Juni
sich vereinigten, setzten die Zahl der Truppen des künftigen
Bundes auf 20000 Mann fest, die Höhe des zu erstrebenden
Beitrags auf 300000 Gulden monatlich^ als Maasstab der Um-
lage die Beichsmatrikel. Als Mitglieder habe man ausser den
drei Ghurfürsten zunächst Baiem und die Bischöfe von Salz-
burg, Würzburg, Bamberg ins Auge zu fassen; dann solle
die Sache allen andern katholischen Beichsständen mitgetheilt
werden. Als Director dachten sie sich den Herzog von Bai-
em, eventuell ausserdem einen der drei Ghurforsten neben dem
Herzog. Man gieng die einzelnen katholischen Fürsten des
Auslands durch, und bestimmte durch welches Bundesglied
jeder von ihnen um Hülfe für die Union zu ersuchen sei.
Ausserdem nannte man die möglichen Mittel, säumige Glieder
zur Erlegung ihres Beitrags anzuhalten, und zählte die vor-
läufigen Anstalten zur Eriegsrüstung auf, die in jedem der
drei Erzstifter schon jetzt und vor Errichtung des Bundes
möglich und nothwendig seien. Zuletzt wurde eine baldige
Zusammenkunft der Churiursten in Person zum Abschluss des
Vertrags, unter Umständen in Monatsfrist, in Aussicht ge-
(37) Ernst, Ghurf. v. Cöln, Instruction zom Communicationstag zu
Cöln. Arnsberg 1609, Jun. 2. II 314.
(38) Coadjutor von Cöln an H. Max. Brül 1609 Jun. 21. II
324. — Extraet der Verabredung der Räthe der drei geistlichen Chur-
försten zu Cöln 1609 Jun. 18. II 327. — Chur-Cöhi an H. M. En-
dorf Jun. 25. III 2. — Abschied des Communicationstags zu Cöln.
Jun. 18. III 4.
154 Jahrb. der hisior. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
nommen. So eingehend und nachdrücklich wie diessmal war
der Bundesplan hier am Khein noch nie erörtert worden.
^Gott gebe ferners sein sogen darzu,« schrieb Ferdinand an
seinen Bruder nach München, als er ihm einen Auszug des
Protokolls zuschickte, »es ist einmal die höchste Zeitf dan die
Protestierenden uns mit gewalt an die haut wollen.«
Diess alles wusste Max bereits, als seine Münchener
Versammlung zusammentrat. Einige Zeit später erhielt er
Nachricht, dass Mainz zu der bewussten persönlichen Zusam-
menkunft die Einladungen wirklich erlassen habe, und zwar
auf den August.*^) So eröffnete sich also die Aussicht auf
den nahen Anschluss der Kurfürsten an den zu München ge-
schlossenen Bund, und weiter auf die Vereinigung des katho-
lischen Deutschlands unter Baierns Führung.
6.
Nach einer andern Seite fesselten nicht minder wichtige
Erwartungen Maximilians Aufmerksamkeit.
Als man zu Cöln nur erst die Frage, ob und wie man
den Beistand auswärtiger Potentaten gewinnen möge, erwog,,
hatte der Herzog schon die Hand ans Werk gelegt und die
Versuche, solche Hülfe dem entstehenden Bund zu sichern,,
begonnen. Zuerst im Herbst 1608, indem er durch seinen Eath
Dr. Forstenhauser in Prag an den dortigen Nuntius vertrau-
liehe Mittheilung über die bevorstehende Gründung eines ka-
tholischen Bundes mit der Bitte gelangen liess, den Papst
zu dem Versprechen seiner Unterstützung zu vermögen. Als
damals der Nuntius, sei es auf Befehl des Papstes, sei es aus
eignem Antrieb, auf wiederholte Anregung der Sache mit nicht
viel mehr als Erkundigungen über die Absichten der Prote-
stanten und über die Verhältnisse des katholischen Bundea
(39) Chur-Cöln an H.Max. Hirschberg 160J> Jul. 21. III 21. ~
Desgl. Jul. 22. III 25.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 155
^nviederte, brach Maximilian diese Verhandlung ab, Ende
November, zur selben Zeit als er auch im übrigen einen Still-
stand in seinen den Bund betreffenden Bemühungen eintreten
Hess. *«)
Es dauerte nicht lange, so bot sich ungesucht eine bes-
sere Gelegenheit.
Im Mai 1609, als die Noth des Kaisers aufs höchste
gestiegen, sahen alle, denen die Erhaltung des Hauses Oestreich
und der katholischen Keligion im Keich am Herzen lag, auf
Baiem, und so verschieden die Mittel sein mochten, zu denen
sie riethen, so stimmten sie doch darin überein, von Maximi-
lians Eingreifen die Bettung abhängig zu denken. Der Kaiser
selbst schickte damals seinen Kath Hegemüller und den Erz-
herzog Leopold zu ihm,*^) um ihn sofort zur Reise nach Prag
zu bereden: auf welchen Wegen er vom Herzog sich helfen
zu lassen gedachte, sprach er nicht aus. Dagegen legte Leopold
einen fertigen Plan vor, den der Herzog ins Leben führen soUte:
die Versöhnung des Kaisers mit Mathias war das Mittel , mit
dem der junge Erzherzog Oestreich retten, sich selbst den
Weg zum Kaiserthron und zur Hand von Maximilians Schwe-
ster Margaretha bahnen wollte. In denselben Tagen sah der
Herzog den Bath des Churfürsten von Cöln, Botger Henot, bei
sich,**) der seine Ansicht über eine gemeinsam zu unterneh-
(40) H. Max Instruction für Forstenhauser 1608 Sept. 17. I 103.
— Forstenh. an H. Max. Oct. 11. I 120. — H. Max an F. Oct. 16.
I 124. — F. an H. M. Nov. 22. 1 146. — H. Max an F. Nov. 1 148.
(41) Kaiser Rudolf an H. Max. Prag 1609 Mai 16. StA. Cöl-
nische Corr. 39/7 f. 71. — Kaiser Rudolf an Erzh. Leopold. Prag
1609 Mai 16. ib. f. 76. — H. Max an Donrsperg. Leonsperg Mai 17.
ib. f. 79. •— H. Max an Chur-Cöln. München Jun. 2. ib. f. 120. —
H. Max Memorial für Erzh. Leopold. Cancell Mai 27. ib. f. 74. —
H. Max, Memorial für Donrsperg nach Prag. Jun. 6. ib. f. 129. —
Khuen , Vicedom zu Straubing, an H. Max. Straubing Jun. 2. RA.
Böhmische Händel 25/3. f. 9.
(42) Die anheimba gelassenen geh. Räthe an H. Max. München
156 Jaltrb, der histor. Clause der l\ Akad. der Winsenachaften,
mende Beise nach Prag einholen sollte; es scheint, dass Chur-
fürst Ernst mit seines Neffen Hülfe den Kaiser zur Bezeich-
nung eines Nachfolgers zu bewegen und dadurch der Noth
ein Ende zu setzen dachte.
Maximilian liess durch dergleichen Pläne und Anliegen,
die den Umständen nach alle schliesslich dahin führen muss-
ten, seines Landes Kraft vereinzelt und vorzeitig aiifs Spiel
zu setzen, sich von dem selbstgewählten Weg nicht abfahren.
Die Wirren in Oestreich waren auch ihm gefährlich und kei-
nem mehr als ihm in tiefster Seele zuwider: aber sein Heil-
mittel war die Liga und nichts als die Liga. Mit Bezug-
nahme auf die Cölnische Anfrage spricht er in einem vertrau-
lichen Schreiben an seinen Oberstcanzler Donrsperg den
Grundgedanken seines politischen Systems aus:**) »Ich wolt
das man auf ain rechten nachtruck und zusamensetzung ge-
dacht were und sich dasselbig so hoch als dergleichen Sachen
angelegen sein liesse; wurde dem hauptwerk vil mer geholfen
werden, die rebellischen underthanen vil eher als durchs chur-
fursten von Cöln raiss abgeschreckt, der kaiser darvon merem
trost empfangen, und diess werck zu allem vorhaben beförder-
lich sein. Wolt der kaiser sein fundament auf die reconci-
liation sezen, so mieste sein bruder wol sich zum brödt legen,
wan seine Oestreichische kezer miesten diser union halber in
sorgen leben. Wolte er dan allein itzmals dahin trachten,
wie er die Behem zur gebür brächte, quid utilius als wan sie
wisten, das die Catolischen inen gewachsen und dem kaiser
kinden nit allein durch rat sondern mit der tat helffen? Wil
man dan auf die konftig succession sehen, und vermainen das
daran das hau gelegen, was ist abermal nützlicher, als sich
durch dise union also gefast zu halten, das, wan die succession
1609 Mai 19. ib. f. 85. — H. Max an Chur-Cöln. Straubingen Mai 21.
ib. f. 88. — H. Max Resolution. Mai 21. ib. f. 89.
(43) H. Max an DonrBperg. Leonsperg 1609 Mai 17. Cölnische
Corresp. 39/7 f. 79.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 157
mit ir Mt. wiln nit richtig ze machen, man desto weniger
der Catolischen seits sich auf ain ergebenden fal zu befaren?
Dahero villeicht wol so gut were, nit allein dise consilia, son-
dern auch den uncosten, so auf dergleichen reisen und negotiem
aufleuft, an diess notwendig werck anzelegen.«
Zum Glück für Maximilians Bestrebungen fand sich da-
mals an entscheidender Stelle ein Staatsmann, der Einsicht
genug besass, um seine Politik richtig zu würdigen. Diess
war der spanische Gesandte am kaiserlichen Hof, Don Baltasar
de Zuniga, der kurz vor den erwähnten Gesandtschaften des
Kaisers und des Churfüi-sten den Herzog in München aufge-
sucht hatte,**) gewiss auch er im wesentlichen in keiner an-
dern Absicht, als um auf irgend eine Weise für die östreichische
Noth Hülfe zu schaffen. Dieser Mann hatte zu Prag einsehen
gelernt, dass es bei der Sinnesart des Kaisers vergeblich sei,
während seiner Lebzeiten auf die Wahl eines Komischen Kö-
nigs zu hoffen, und dass ebensowenig an die Möglichkeit einer
Versöhnung zwischen ihm und König Mathias zu denken. Die
vertraulichen Mittheilungen, welche ihm jetzt der Herzog über
den politischen und religiösen Zustand des Eeichs und über
seine eignen Bestrebungen machte,*^) erweckten entweder oder
reiften in seiner Seele den Gedanken, dass das dritte und
unter den gegenwärtigen Verhältnissen das einzige Mittel, dem
unheilbar gespaltenen Haus Oestreich gegen die Angriffe seiner
inneren und äusseren Feinde, der rebellischen Stände und des
churpfälzischen Anhangs, Schutz zu gewähren, in der Ver-
einigung der katholischen Kräfte Deutschlands zu einer starken
Hülfsmacht liege, und dass mithin unter die Aufgaben der
spanischen Politik gehöre, Maximilians Unternehmen mit aller
(44) Zuniga an H. Max. Prag 1609 Mai 20. StA. Span. Cprresp.
292/9. f. 177.
(45) H. Max Memorial für Wensin an Chur-Cöln. München 1609
Aug. 7. III 30.
158 Jährb, der hifitar. Glosse der k, Akad, der Wissenschaften,
Kraft zu befördern.**) Die beiden Männer schieden ohne ir-
gend eine Verabredung, aber von da an rechnete einer auf
den andern. Zuniga hatte dem Herzog angedeutet, dass Spa-
nien den Abschluss des niederländischen Friedens mit Kück-
sicht auf die Bedürfhisse der katholischen Sache in Deutschland
herbeigeführt habe und dass er von seinem Hof schon jetzt
in den Stand gesetzt worden, im Fall der Noth sofort Trup-
pen aufzubringen. Als nun am 6. Juni der Canzler Donrs-
perg mit der Antwort auf Erzherzog Leopolds Werbung nach
Prag gieng, nahm er den Befehl des Herzogs mit,*^) sich
der Hülfe des Gesandten gegen einen unversehenen Angriff
der Protestanten auf Baiern zu versichern. »I. f. d. wolle
von im gern vememen, wessen i. f. d. sich, auf den fal die-
selbe unfursehens von den Protestierenden mit der that und
Kriegsmacht angegriffen werden solte, ob er auch auf solchen
M so weit gevolmechtigt, das Interim, und bis verner Pro-
vision von i. k. w. volgte, i. f. d. wirklich und was gestalt
beispringen künde.« Aber schon vor der Ankunft Donrs-
pergs hatte Zuniga eine Massregel ergriffen, die Maximilians
Erwartungen überholte. Am 8. Juni unterzeichnete er die
Instruction*®) für einen Abgeordneten an den König von
Spanien, in welcher, unter kurzer Darlegung der gegenwärtigen
Verhältnisse des Ileichs und der drohenden Gefahren als ein-
ziges Bettungsmittel die im Werden begriffene Vereinigung
der katholischen Fürsten Deutschlands und ihre Unterstützung
durch den Papst, durch Spanien und die flandrischen Erz-
herzoge bezeichnet wird. Vorher hatte er sich mit dem Nun-
tius ins Einverständniss gesetzt und beide wählten zur Besor-
gung des wichtigen Geschäfts, so ungern man in Prag ihn
(46) Zuniga Instruction für Lorenzo da Brindisi. Prag 1609 Jun. 8.
StA. Span. Corresp. 292/9. f. 285.
(47) H. Max Instruction 1609 Jun. 6. Span. Corresp. 292/9 f. 281.
(48) Span. Corresp. 292/9 f. 285.
Cornelius: 2^r Geschickte der Gründung der deutschen Liga, 159
entbehren mochte,*^) den Pater Laurentius von Brindisi, weil
er sowohl durch seine Ergebenheit gegen das bairische Haus
als durch seinen geistlichen Eifer und den Kuf seiner Fröm-
migkeit der geeignetste Mann war, um auf die Entschlüsse
des Madrider Hofs einzuwirken. P. Lorenzo da Brindisi, so
bezeichnet ihn Max,^®) capuccino predicatore apostolico, reli-
gioso di Santa vita, di singolare integritä et molto valore, et
suggetto tale, che per la qualitä del negotio datrattarsi con-
cemente il ben comune de la religion nostra nell' Imperio
non si possa trovar alcuno di lui piü a proposito. Er sollte
zuerst nach München gehen, seine Instruction dem Herzog zur
Durchsicht und Besseining vorlegen, sich von ihm über den
Status rerum Germanicarum informiren lassen und seine be-
sonderen Befehle in Empfang nehmen. Darauf hatte er in
Mailand den spanischen Statthalter Grafen Fuentes, auf dessen
willigen Beistand im Fall des Kriegs viel ankam, für die
Sache zu gewinnen. Zuletzt waren ihm seine Wege am spani-
schen Hof und die einflussreichen Männer desselben bezeichnet.
7.
In der Zeit, als Max die Einladungsschreiben zu der
Münchner Versammlung ausfertigen liess, mag er die erste
Kunde von den Prager Entschlüssen erhalten haben. Wenige
Tage darauf, den 22. Juni oder etwas später, langte Pater
Lorenzo am herzoglichen Hofe an. Er empfing dort zwei
Denkschriften zur Unterstützung seines Antrags bei dem König
von Spanien.
(49) Erzh. Leopold an H. Max. Prag 1609 Jun. 14. KA. Böhm.
Händel 25/3 f. 64. >£. L kinnen nicht glauben, wie ungern diser
man hie verloren wirt; dan jedermeniglich soUichs vir ein ubels
praesagium augurirn thut. Wir bederfen hie gewiss gutter leit, dan
propter perversitates horum temporum und sonderlich huius aulae
wol zu besorgen, das, da der gnedig Got nicht sonderlich zuschauen
wirt, man noch ein selzame tragediam sehen mechte.«
(50) H. Max an Grossherzog v. Florenz 1609 Dec. III 296.
16Ö Jahrb. der histor. Classe der k, Akad, der Wissenschaften,
Die erste und Hauptschrift**) schildert die wachsende Be-
drängniss der katholischen Beligion im fieich, und bezeichnet
als das einzige Mittel der Bettung die Vereinigung zum Bund.
Abör, fährt sie fort, die Katholischen in Deutschland sind zu
schwach. »Die reichsstet, deren eben vil und bei denen nit
ein schlechts, sondern das maiste vermögen an gelt, die sein
vast alle sambt kezerisch; die andern aber, so theils noch
catholisch oder bei denen die catholische religion noch etlicher
massen in esse, haben die forza und macht nit, ja durffen
aus forcht der andern reichsstet sich zu den Catholischen nit
schlagen.« Daher müssen der Papst und andere katholische
Potentaten helfen. Für Spanien liegen noch besondere Gründe
zu diesem Entschluss in der Gefahr Oestreichs, das Käiser-
thum an die Protestanten zu verlieren, in dem protestantischen
Character der Unruhen in den östreichischen Erbländern, und
in der Bedrohung der ans Keich anstossenden spanischen Be-
sitzungen durch das Wachsthum der protestantischen Macht
im Beich. Deshalb möge der König mit den katholischen
deutschen Fürsten sich in eine Liga einlassen und andere
katholische Potentaten zum Beitritt vermögen, schon jetzt aber,
und bis der Bund seine Vollendung erreicht hat, den katho-
lischen Beichsständen gegen Angriffe mit Geld und Truppen
beistehn, und »weü der protestierenden stende toben undwie-
ten auf ein eil gestelt«, dem Gubemator zu Mailand und dem
Gesandten zu Prag Befehl und Mittel zukommen lassen, »auf
das sie aisgleich, wan sie von den catholischen fürsten, so
i. Mt. befelchen werden die mit iren ministris correspondieren
sollen, erindert, und sie mit derselben für ain notturft befin-
den werden, aisgleich zu ainer defension und volkwerbung
wirklich schreiten derflfen.«
Die andre Schrift**) wird als memorial segreto bezeich-
(51) StA. Span. Corresp. 292/9 f 352. — Dasselbe Actenstück,
etwas geändert, italienisch, f 375.
(52) ib. f 368.
CorneHus: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 161
net, geheimer als die erste insofern, als sie nicht wie jene
dem Nuntius in Prag mitgetheilt werden soll. Sie fordert
den König auf, alles daran zu setzen, dass der Papst mit
geiner Autorität und allen gebührenden Mitteln, auch durch
offne Gesandtschaft, den König von Prankreich ersuche, den
Protestanten keine Gunst zu gewähren, et se gia s. Mta.
christianissima havesse in qualche maniera data la parola,
che in questo caso procuri il rimedio. Es werden Nachrichten
angeführt, die für ein bestehendes Einverständniss zwischen
Frankreich und den Protestanten sprechen. Daher müsse man
auf alle mögliche Weise dafflr sorgen, dass die Franzosen,
wenn sie dem katholischen Theil keine Gunst erweisen wollen,
wenigstens neutral bleiben, und auch nicht unter der Hand
den Protestanten Vorschub leisten. II che oltra l'autorita
s^ostolica tanto maggiormente e tenuto di farquel re, essende
obligato in conscientia di procurar Tessaltatione della s. fede
cattolica et salute dell' anime, quanto egli e stato molt'anni
causa della deskuttione della s. chiesa et perdita di cosigran
numero di povere anime, oltre tante ingiurie fatte alli luoghi
et persone sacre et spargimento di sangue cattolico. — Ein
zweiter Theil derselben Schrift nimmt den spanischen Schutz
ffir Baiem insbesondere in Anspruch. Indem der Herzog dem
Beispiel seiner Vorfahren, die jeder Zeit der Erhaltung und
Ausbreitung der katholischen Beligion all ihr Vermögen ge-
widmet haben, zu folgen beflissen war, und unter anderm sich
nicht gescheut hat, durch die Unternehmung gegen die Ketzer
von Donauwörth, auf eigne Hand, ohne Unterstützung, allen
protestantischen Fürsten und Beichsstädten Trotz zu bieten,
ist er der vornehmste Gegenstand des Hasses der Protestanten
geworden. Sie sehen ihn für das Hindemiss ihrer teuflischen
Pläne an, und es steht darum ausser allem Zweifel, dass ihr
Sinnen und Trachten vor allem andern darauf gerichtet ist,
Baiem anzugreifen und den Herzog zu Grund zu richten, um
sich dadurch den W^ zur Vemichtong der übrigen Katho-
h
162 Jahrh, der htstor, Glosse der k. AJkad, der Wissenschaften.
liken zu bahnen. Der König möge daher seinen Vetter und
Diener und das ihm ergebene und blutsverwandte und von
ihm abhängige Haus Baiem in seinen besondem Schutz neh-
men, und dem Statthalter von Mailand und dem Gesandten
in Prag Befehl ertheilen, mit Bath Geld und Truppen, je
nach dem BedürMss und im Yerhältniss zu der Stärke des
Feindes, aus eigner Entschliessung dem Herzog Hülfe zu
leisten. Et sua Mta., so schliesst der Herzog, ne conservara
non altro che il stato suo proprio, che insieme con la persona
mia sara prontissimamente impiegato in ogni tempo ad ogni
suo servitio et ad ogni suo real comandamento.
Ausserdem sandte Maximilian durch einen Eilboten die
Bitte an den Papst,*') dem Pater Lorenzo sofort, noch wäh-
rend seiner Beise, nach Genua hin einen Brief an den König
zur Unterstützung seines Antrags zuzuschicken. Hinzu fugte
er ein besonderes Schreiben,**) in welchem er die gegenwär-
tige Lage des Beichs und die Gefahren schilderte, welche das
siegreiche Vordringen der protestantischen Stände nicht bloss
für die Existenz der katholischen Beligion in Deutschland,
sondern in der Folge auch für Italien und für den h. Stuhl
selbst mit sich bringe. Der Herzog habe sich bemüht, die
katholischen Beichsstände zu einem Bund zu vereinigen, übi,
etsi nondum is omnino est successus quem res postularet,
nonnullis tamen, ut auderent vellentque, persuasi, estque
aliqua spes, futurum ut sensim alii super alios eodem accedani
Verum quando haec consilia et occulto egent et mature facto,
neque tamen ob procerum quorundam segnes moras ea maturari
satis possunt: ego animadvertens , hostem in foribus haerere
nostraque cunctatione in dies valescere, nimium quantum metuo,
ne illum citius sentiamus quam opperiamur, eaque tunc con-
silia optima iudicemus quorum tempus effugerit. Sein Antrag
geht dabin, dass der Papst selbst, und durch ihn angeregt
(58) H. Max an den Papst. Juni 25. 11 172.
(54) H. Max an den Papst Juni 22. U 177.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 163
Spanien und Toscana nnd andere auswärtige Färsten, den
Bund mit Geld und wo nöthig mit Truppen unterstützen.
Ohne das sei keine Hülfe för die Beligion; denn die katholi-
schen Stände stehen den protestantischen an Zahl und Kräf-
ten weit nach, zumal wenn die katholischen der auswärtigen
Hülfe entbehren, auf Seiten der protestantischen dagegen
Dänemark Schweden England Holland, utinam non alii, sich
befinden. Quod ad me attinet, schliesst der Herzog mit
Nachdruck, non dissimulo, fixum mihi ratumque esse religioni
per Imperium conservandae fortunas meas vitam sanguinemque
onmem impendere. Atqui tantam interim haereticorum vio-
lentiam firangere, ut summe cupiam, fateor nee mearum yirium
esse, nee eos, qui se mihi paucuU adiunxere, praestituros.
Ita tandem, nolim velim, extreme clamans ac lamentans, cum
patria a& religiöne peribo.
Auf beide Briefe erfolgte umgehend die Antwort des
Papstes, ^^) welcher mittheilte, dass er dem Verlangen des
Herzogs entsprochen und dem Pater einen Brief an den König
?on Spanien zugeschickt, auch den spanischen Gesandten in
Som um seine Dienste in derselben Sache gebeten habe, im
übrigen mit warmen Worten die Betrübniss des h. Vaters
über den Zustand des B^chs, seine liebe zu den Katholiken
Deutschlands und seine ^reitwilligkeit zur Hülfe versichert
8.
Diese frohen Nachrichten, mit den Hoffnungen, welche
sich daran knüpften, soUte Wensin an den Bhein und zu der
Churfurstenversammlung bringen, ^^) die am 23. August zu
Mainz begann. Ausserdem das Nähere über die jüngste
(55) Der Papst an H. Max. Rom 1609 IV non. JuL in 1.
(56) H. Max an Ghur-Cöln. Dachau 1609 Juli 29. III 21. — H.
Max Memorial für Wensin an Ghur-Cöln. München 1609 Aug. 7.
in 30.
11*
164 Jahrb, der hi8U)r, Classe der k. Äkad. der Wissenschaften,
Münclmer Zusanunenlniiift , und über die Bemühungen der
dort Vereinigten um die Erwerbung neuer Mitglieder. Der
Herzog setzte nämKch die Verhandlung mit dem Bischof von
Eichstett fort, ^'^) und machte dem jetzt grade neu gewählten
Bischof von Bamberg die Eröffnung, *®) welche man seinem
Vorgänger wegen seiner sehr verdächtigen Gesinnung vorent-
halten hatte. Daneben hatten es Würzburg Augsburg Con-»
stanz unternommen, durch eine gemeinsame Werbung Salz-
burg endlich für den Bund zu gewinnen; ^^) und die schwä-
bischen Bischöfe unterzogen sich mit Eifer dem Aufkrag, die
Prälaten und Grafen ihres Kreises zu demselben Zweck zu
bearbeiten.*®) Endlich hatte Wensin Auftrag, die Vorschläge
des Herzogs über Herbeiziehung Frankreichs und Lotringens
zur Hülfe, so wie seine Aeusserungen über andere möglichen
Anknüpfungen im Ausland den Churlursten zu hinterbringen*
Die Versammlung zu Mainz, *^) vorbereitet durch Ver-
ständigung zwischen Wensin und dem Churfiirsten von Cöln^
und durch einen Besuch des alten Herzogs Wilhelm von
Baiem bei dem Erzkanzler, lief fast durchaus glatt und ohne
Anstoss ab und führte zum Ziel. Die drei Churfürsten traten
(67) H. Max an B. Eichstett. München 1609 Juli 15, HI 14. —
B. Eichstett an H. Max. Schloss Wilbaldsberg Juli 23. in 15.
(58) H. Max Nebenmemorial für Wensin an B. Bamberg. Mün-
chen 1609 Aug. 10. III 42. — B. Augsburg an H. Max. Dillingen
Sept. 27. m 157.
(59) H. Max an B. Augsburg. München 1609 Juli 25. III. 17.
— B. Augsburg an H. Max. Dillingen Aug. 20. III 58. — DesgL
Sept. 8. lU 126.
(60) B. Augsburg an H. Max. Dillingen 1609 Sept. 8. III 126.
— Die heimgelassenen Räthe an H. Max. München Sept. 14. III. 130.
(61) Wensin Relation. München 1609 Sept. 9. III 68. — Die
drei geistlichen Churfürsten an H. Max. Mainz Aug. 30. III 75. —
Protokoll der Verhandlungen bei Zusammenkunft der geistlichen
Churfürsten zu MaiüK 1609 Aug. 24 sqq. lU 87. — Die Vereinigung
zu Mains 1609 Aug. 30. III 98.
Camüim: Zur Geschidhte der Gründung der deutschen I4ga, 165
zum Bund, indem sie am 30. August einen Vertrag unter-
zeichneten, der fast völlig mit der Münchner Urkunde über-
einstinunte. Die eine Aenderung erlaubten sie sich, dass sie
neben den Herzog von Baiem als Bundesobersten den Chur-
iursten von Mainz als Mitbundesobersten stellten. Das Motiv
enthält das Protokoll: Wegen des Bundsobersten hat mm
zwei officia und munera distinguirt: Bundasoberst und Feld-
oberst. Der Bundesoberst hat Klagen anzunehm^, Gewalt-
thätige abzumahn^, mit den Adjuncteji zu bestimnien ob der
Fall der Bundeshülfe vorliege. Baiem ist Bundesoberster;
aber um den unterländischen weit entlegenen Ständen, wie
Paderborn, Trost und Zuflucht zu gewähren, haben die Cölni-
schen und Trierischen Bäthe für rathsam angesehen, dass
Ghur-Mainz Mitbundesobrist sei. »Eunts dan die zeit und
gefar erleiden, so sollen es beide bundesobersten sementlich
erkennen. Feldoberster aber sol Baiem alleinig verbleiben.c
Das heisst, die Leitung des Kriegs und aller kriegerischen
Anstalten bleibt dem Herzog, die inneren und auswärtigen
Geschäfte aber muss er im Einverständniss mit Mainz führen ;
und was die unterländisch^ rheinischen Stände betrifft, geht
zunächst an Mainz , was die Stände der drei obem Kreise
betrifft, zunächst an Baiem. — Auch die Aeussemngen des
Herzogs in Betreff der anzuknüpfenden Verbindungen im Beich
und im Ausland erhielten den Beifall der Churförsten, und
seinem Wunsch, einstweilen noch von der Herbeiziehung Oest-
reichs abzusehen, traten sie bei. Sie versprachen, ihre Suf-
fragane und die Stifter und Prälaten in ihren Erzbisthümem
zum Beitritt zu vermögen, und entschlossen sich, durch eine
ansehnliche Gesandtschaft den Papst und andwe italienkiche
Fürsten um Hülfe für die bedrängte Beligion in Deutschland
zu ersuchen. Sie baten den Herzog um seine Betheiligung
an dieser Massregel.
166 Jahrb. der histor. Classe der h. Äkad. der Wissenschaften,
9.
Mit all dem konnte Maximilian vollkommen zufrieden
sein, •*) und in der That leuchtet aus der Mittheilung der
Mainzer Besultate, einschliesslich der Bestimmung über die
Chur-Mainzische Mitbundesoberstenschaft, wie er sie nun nach
allen Seiten richtete, *^) eine ungetrübte Befiiedigung hervor*
Auch die churf&rstliche Gesandtschaft passte durchaus in seine
Pläne, und die anfängliche Weigerung des Herzogs, seiner-
seits einen Gesandten mit nach Bom zu schicken, hat keinen
andern Grund als den Wunsch, vor den Augen der Hasser
und Neider seinen Antheü an der ganzen Sache nicht stärker
als durchaus nothwendig an den Tag treten zu lassen.^*)
Nur einen Punkt gab es unter den Mainzer Beschlüssen^
an welchem der Herzog Anstoss nahm. Die Bedrängniss, in
(62) H. Max an die drei geiBtlichen Chuirfürsten. Schloss Ma^
tigkliofen 1609 Sept. 10. III 113.
(63) m*135 sqq.
(64) H. Max Memorial für Wensin an Chur-Cöln. 1609 Sept. 22.
StA. Span. Corresp, 292/9 f 330. „Dan wir ans guter massen er*
innem, dass wir bei etlichen auch catholischen stenden in disen
verdacht wollen genomen werden, als ob wir under diser liga nit
80 gar bonum publicum als privatum commodum suchen und etwas
anders hirunder verborgen lige. Dises Verdachts uns vöUiglich zu
entschieben, wirt viel ratlicher angesehen, diss ansuchen geschehe
ausser unser Zuordnung und allein durch die hem churfursten. So
sein wir auch vor wenig tagen glaubhaftig bericht worden, das wir
bei dem haus Oestreich in disen argwon , das wir uns mit in- und
ausländischen catholischen potentaten zu praeiudicio nachtheil und
schaden besagtes haus Oestreich conföderiem.'* Noch einen andern
Grund führt der Herzog an : „Die geistlichen churfursten Mainz und
Trier, fumexhblich aber Mainz, wurden auf diso weis, do wir mit-
schickten, ein praetension suchen bei Chur-Pfalz und andern Prote-
stierenden diser union halb sich zu entschuldigen, den uuglimpfen
von sich ab und auf uns zu schieben, wir trieben das werk also
stark." — H. Max an Chur- Mainz und Chur-Trier. 1609 Oct. 4.
in 186.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 167
welcher sich damals Erzherzog Leopold befand, der vom kai-
serlichen Hofe ausgeschickt war, um die Länder des verstor-
benen Herzogs von Cleve in seine Gewalt zu bringen, und
nach wenig Tagen in der glücklich gewonnenen Festung Jülich
geld- und rathlos nach allen Seiten um Hülfe ausschaute,
hatte die Churfürsten, unter der Einwirkung von Chur-Mainz,
vermocht, von dem Beitrag zur Bundeskasse, den sie im Ver-
trag versprochen hatten, schon ehe sie denselben erlegten,
ein Drittel abzuzweigen und zur Unterstützung Leopolds zu
bestimmen. In diesem Beschluss lag offenbar eine bundes-
widrige Eigenmächtigkeit. Sie mochten wohl auf die Dring-
lichkeit der Umstände, auf die Mitleidenschaft, in welche das
Erzstift Cöln bereits durch die Jülichschen Unruhen gezogen
war, zu ihrer Entschuldigung hinweisen; aber die Ansicht,
dass der Jülichsche Streit eine allgemeine katholische Ange-
legenheit sei und demnach unzweifelhaft zu den Dingen ge-
höre, um derentwillen der Bund gestiftet worden, war bei der
ungemeinen Wichtigkeit und Vielseitigkeit der ganzen Trage
doch zu oberflächlich, um sie dem Herzog gegenüber im Ernst
als massgebend geltend zu machen. Er gab einstweilen durch
Schweigen sein Missfallen zu erkennen. Die oberländischen
Stände, denen er einfach Kunde von dem Vorgang gab, wie-
sen die 3erathung der Sache auf den nächsten Bundestag,
und das war offenbar auch des Herzogs Meinung. **)
Ohnehin war es in jeder Beziehung wünschenswerth und
nothwendig, bald zur Versammlung dieses Bundestags zu ge-
langen. Denn alles, was bisher gethan und beschlossen wor-
den, konnte doch eigentlich nur als Vorbereitung gelten; der
Abschluss des Ganzen fehlte noch. Die wichtigsten Fest-
(65) Die drei geistlichen Churfürsten an Herzog Max. 1609 Sept.
26. III 199. — B. Augsburg an Herzog Max. Schloss Aislingen
1609 Nov. 13. in 229. — B. Würzburg an H. Max. Schloss Frauen-
berg Nov. 17. in 231. — H. Max an Chur-Mainz. München Deo. 7.
Hl 223.
168 Jährb, der histor. Classe der A*. Akad. der Wissenschaften.
Setzungen waien in Mainz so gut wie in München auf fernere
Berathung verschoben worden. Und je länger es damit dauerte,
desto mehr Anlass ergab sich zu dem Wunsch, mit der
inneren und äusseren Politik des Bundes endlich ins reine zu
kommen und, wie man sich ausdrückte, »ein ganzes daraus
zu machen«. So war es für den Herzog sehr verdriesslich,
dass die Churf^sten für sich und ohne ihn den Kaiser von
dem Entstehen und der Tendenz des katholischen Bundes in
Kenntniss setzten. *®) Auch über die auswärtigen Anknüpfungen,
über die Tragen, wer alles um Hülfe zu ersuchen und welches
Ziel der Verhandlung jedesmal ins Auge zu fassen sei, ent-
standen Verschiedenheiten der Ansichten, die durch den nun
sehr vervielföltigten Briefwechsel unter den Bundesgliedem
nur mühsam oder nicht gelöst werden konnten. ®^) Darum
fand der Herzog gut, schon am 4. October das Concept zum
Ausschreiben eines allgemeinen Bundestags dem Churfürsten
von Mainz zur Genehmigung zuzuschicken. *®)
Aber es ging hiermit langsamer als er dachte. Und
nicht bloss hiermit. Die am 29. August beschlossene Ge*
sandtschaft der Churfürsten nach Italien gelangte erst im
Lauf des November nach München, wo sie ihre Instruction
dem Herzog zur ßevision vorlegte, •^) und erst in den letzten
Tagen des Jahres kam sie in Bom an. Dass sie dann mehrere
Monate lang dort sich aufhalten musste, und während all der
(66) Bedenken warumb nit rathlicli i. Mt. die union absonder-
lich zu communiciern. (1609 Nov. 1). III 215. — H. Max an den von
S Ottern Nov. 1. III 217. — Philips Christoph von Söttem an H Max.
Nov. 7. m 218.
(67) H. Max an Chur-Mainz München 1609 Nov. 29. HI 276.
(68) III 188.
(69) Eitelfriedrich Graf Zollern an H. Max. Aschaffenburg 1609
Oct. 12. in 196. — Instruction der drei geistlichen Churfürsten zur
Werbung in München Rom u. a. 0. 1609 Aug. 29. III 230. — H.
Max Bescheid an die Abgeordneten der drei Churftoiten. 1609 Nov.
18. III 243.
Cornelius: Zur GeschicMe der Gründung der deutschen Liga. 169
Zeit die Werbung an die übrigen italienischen Fürsten ver*
tagt blieb, daran wai" man freilich nicht in Deutschland Schuld.
Aber die vier Monate der Vorbereitung diesseits der Alpen
mögen doch zum Theil auf Bechnung des Churfürsten von
Mainz konunen. Wir halten hiermit zusammen, was zu glei-
cher Zeit mit Salzburg geschah. Die drei Bischöfe von Würz«
bürg Augsburg Constanz führten gegen Ende September den
von der Münchner Yersammlung ihnen ertheilten Auftrag aus
xmd Hessen durch eine eigne Gesandtschaft dem Erzbischof
zum dritten Mal die Einladung zum Beitritt zukommen. Die
Antwort desselben lautete: »Da das Werk ohne Vorwissen
des Kaisers und der katholischen Churfürsten angefangen,
könne er es nur for eine Privatsache halten und sich noch
zur Zeit nicht dazu verstehen; würden der Kaiser und die
Churfürsten dergleichen an ihn gelangen lassen, so wolle er
flieh also bezeigen, dass daraus sein bekannter Eifer für die
katholische Beligion im Werk erscheinen solle.« Max wandte
sich also von neuem, wie früher, an den Churfürsten von
Mainz; aber Mainz regte sich jetzt so wenig als im vorigen
Jahr. '^^) Und ganz offenbar war es, dass der Aufschub des
Bundestags allein an Mainz lag. Eine merkwürdige Antwort,
die derHerzi^ auf seinen ersten Antrag erhielt! »Allerdings,
schrieb der Churforst, sei die Fortsetzung und Effectuirung
der Union nothwendig, besonders im Hinblick auf die incon*
venientia, so aus dem geringsten Verzug entstehen möchten.
Aber die puncta deliberanda seien hochwichtig; und er wisse
nicht, ob die andern Churfürsten für rathsam halten möchten^
ehe man sicher, ob die andern Stände in die Union treten
(70) Bericht der Gesandten über den von Salzburg erhaltenen
Bescheid. München 1609 Sept. 27. III. 163. — H. Max an B Würz-
hurg und Augsburg. München Sept. 28. III 165. — H. Max an
Chur-Mainz. München Sept. 30. III 167. ~ B. Würzburg an H.
Max Frauenberg Oct. 12. III 179. — Chur-Mainz an H. Max.
Aschaffenburg Oct. 14. III 204.
170 Jahrb. der histor, Claase der k, Akctd. der Wissenschaften.
würden und ehe sich die ausländischen Potentaten zur Hülfe
bereit erklärt hätten, bei der noch zur Zeit geringen Zahl der
Conföderirten in Berathung zu treten und so zu entscheiden^
dass die später Zutretenden dadurch gebunden sein würden.
Deshalb habe er für nöthig erachtet, zuvor der andern Chur-
forsten Gutachten zu erfordern.« ^^) Mit diesen Gründen fer-
tig zu werden, war dem Herzog leicht; aber erst vor dem
vereinten Drängen der andern Churiursten wich der Erzkanz-
ler, und der Bundestag wurde auf den 8. Februar nach Würz-
burg ausgeschrieben.^*)
10.
Zu gleicher Zeit mit der Einwilligung des Churiursten
von Mainz empfing Maximilian die Nachricht von dem Erfolg
der spanischen Sendung.
Schon früher hatte er vernommen, '*) dass Pater Lorenzo
um den 10. September in Madrid angelangt und auf das
gnädigste aufgenommen worden war ; dass er, unterstützt von
den deutschen Geistlichen in der Umgebung der Königin
Margaretha, einer Schwester der Grätzer Erzherzoge, nament-
lich von dem Jesuiten Richard Haller, diese Fürstin, die
vermöge ihrer kirchlichen Gesinnung und ihrer Anhänglichkeit
an die bairischen Verwandten leicht zu gewinnen war, zur
eifrigsten Förderung seines Anliegens angeregt hatte; dass er
(71) Chur-Mainz an H. Max. Aschaffenburg 1609 Oct. 14. III 205.
* (72) H. Max an die drei geistlichen Churfiirsten. 1609 Oct. 26.
m 207. — Bedenken über das Chur-Mainzische Schreiben ^wegen Aus-
schreibung eines Bundestags^ so i. c'if. g. von Cöln dem von Mainz
schreiben mechte. Nov. 18. III 260. — Chur-Mainz an H. Max.
Aschaffenburg Nov. 26. III 320.
(73) Ricardus HaUer an H. Max. Madrid 1609 Sept. 19. StA. Span.
Corresp. 292/9 f. 224. — Lorenz v. Brindisi an H.Max. Madrid Oct.
24. ib. f. 386. — HaUer an H.Max. Esourial Nov. 2. ib. f. 393. —
H. Max an Haller. 1609 Dec. III 290.
CameUus: Zur Geschichte der Oründimg der deutschen Liga, 171
bereits ans dem Mund des Königs die deutUchsten Zusagen
erhalten hatte und über die formale Entscheidung völlig be-
ruhigt gewesen. Jetzt meldete Lorenzo, indem er einen
freundlichen Brief der Königin ^^) überschickte, die schliess-
liche Erfüllung seiner Hoffnungen, zugleich aber auch, wie
nahe noch im letzten Augenblick der ganze Plan dem Schei-
tern gewes^ war. Die Besolution des Königs ^^) war näm-
lich, ohne dem Pater mitgetheilt worden zu sein*, bereits an
den Gesandten zu Prag abgeschickt worden, am 1. November,
als Lorenzo auf Befehl des Königs eine Schrift erhielt, laut deren
Inhalt s. Maj. den Entschluss gefasst hatte, den Bund der
deutschen Katholiken zu untei^tzen und den grössten Theil
der Truppenzahl, welche Lorenzo verlangt hatte, zustellen, doch
unter der Bedingung, dass der Papst ebenso viel leiste und
dass alle Glieder des Hauses Oestreich sammt den geistlichen
Churforsten in den Bund eintreten. Als Lorenzo diess Acten-
stäck gelesen, gieng er sogleich zum König und sagte ihm,
wenn die abgesandte Besolution mit dieser Schrift überein-
stimme, so sei damit nichts ausgerichtet; denn hier erkläre
sich der König nichi zum Beitritt zur Liga, sondern nur zu
ihrer Unterstützung bereit, und mache dann den Beistand von
so vielen Bedingungen abhängig, dass dadurch das Zuge-
ständniss selbst wieder aufgehoben werde. Darauf nahm der
König die Schrift aus seinen Händen, um sie corrigiren zu
lassen. Er sagte, in dieser Weise sei an den Gesandten nicht
geschrieben worden, und berief sich dafor auf das Zeugniss
der anwesenden Königin, welcher er die nach Prag bestimm-
ten Briefe gezeigt habe; Lorenzo solle den folgenden Nach-
mittag wieder kommen, um die verbesserte Schrift abzuholen.
(74) Eönigin Margaretha an H. Max. 1609 Nov. 9. Span. Corr.
292/9 f. 400.
(75) Von dieser Resolution gibt Zuniga dem Herzog Nachricht
am 20. Nov. (Span. Corr. 292/9 f. 404) und schickt ihm den mitge-
sandten Brief des Königs vom 29. Oct. (ib. f. 388).
172 Jahrb, der higtar. Claue der k, Akad, der Wuaetisduxftem.
Den nächsten Tag empfieng der König ihn wieder in Gegen-
wart der Königin, und sagte, es bedürfe keiner neuen Schrift,
liOrenzo solle dem Herzog Max schreiben, dass der König in
den Bund eintrete, zwei Begimentw zu Fnss nnd ein Begi-
ment Beiter stelle, zu diesem Zweck so viel Geld als möglich
schid^en lasse, und dass er diess thue, auch wenn der Papst
nichts thne, und nnbeknmmert um die vom Haus Oestreich
sammt den Chnrfursten. ^^)
Zur Aufklärung über diesen Vorgang konnte dem Herzog
die wenig spätere Andeutung Hallers^^ dienen: dass seiner
»Intention calumniatores bei diser cron weder in Welsch- noch
in Teutschland mangl,€ und dass es ihm zum Yortheil ge-
reichen werde, wenn er in einem ausfuhrlichen Schreiben
aidi darüber erklären wolle, dass er nichts anders beabsichtige,
als »durch mit und neben erhaltung und au&emung des haus
Oestreich dem h. Bömischen reich und unserer h. religion
wieder auf den fuss zu helfen.c Das Concept eines solchen
Schräbens, von Herzog Max an die Königin Margaretha ge-
richtet, liegt bei den Acten. ^^)
11.
Es waren nicht wenige und geringe Stände, deren Abge-
ordnete im Februar 1610 zu Würzburg zusammen traten, ^^)
sondern, von Oestreich und Salzburg abgesehen, alle katho-
lischen Beichsstände ersten Bangs und die meisten übrigen
von grösserer Bedeutung. Neben den Gesandten der drei
(76) Lorenz von Brindisi an H. Max. Madrid 1609 Nov. 7. Span.
Corr. 292/9 f. 395. — Desgl. Nov. 9. f. 398.
(77) Haller an H. Max. Madrid 1609 Nov. 21. ib. f. 408.
(78) H. Max an die Königin von Spanien. Manchen 1610 Jan. 9.
Span. Corr. 292/9 f. 445.
(79) Protokoll des Conventstagee der kathoL oonföderirten Stände
zu Würzburg 1610 Febr. IV 422. — Der Absciiied bm v. Aretin
Chronolog. Yerzeichniss. f. 134.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 173
ClfQrfSrsteii , Baiems, Würzburgs erschienen jetzt die Bam-
bergischen; denn obgleich der neue Bischof seinen Beitritt
noch nicht förmlich zugesagt hatte, so vertraute man doch
seiner Gesinnung so «unbedingt , dass man seine Bevollmäch*
tigten ohne Widerrede an der Berathung theilnehmen liess.
Passau und Eegensburg fehlten nicht. Neben Constanz und
Augsburg, Ellwangen und Kempten, sass jetzt der Ver-
treter der schwäbischen Prälaten von Salmansweiler Wem-
garten u. s. w., denen sich auch die nicht zum schwäbischen
Kreis gehörigen Prälaten von Kaisersheim und S. Emmeran
angeschlossen hatten. ®®) Dagegen hatte der Bischof von Eich-
stett dem wiederholten Andringen des Herzogs von Baiem
noch nicht nachgegeben, ® ^) und die Verhandlung mit den
schwäbischen Grafen war durch das Misstrauen ins Stocken ge^
kommen, das man in die kirchliche Gesinnung des einen der
beiden ausschreibenden Grafen, Hans von Montfort, setzen zu
müssen glaubte.»«) Mit den Keichsst&dten , namentiich mit
Augsburg, scheint der Herzog nicht weiter verhandelt zu
haben.. Von der andern Seite hatte Chur-Cöln sein Ver-
sprechen, die Sufiragane herbei zu bringen, nicht gelöst, und
(80) B. Constanz an H. Max. Merspurg 1609 Nov 24. III 316.
— B. Augsburg an H. Max. Dillingen Dec. 7. HI 313. — H. Max
an die Prälaten von Salmansweiler und Weingarten. Dec. 11. HI
830. — Antwort derselben. Dec. 24. f. 331. — Dieselben an H. Max.
1610 Jan. 17. IV 25.
(81) H. Max. an B. Eichstett. München 1609 Sept. 20. Ul 143.
— B. Eichstett an H.Max. Wilbaldsberg Oct. 2. III 181. — Balthasar
König an H. Max. Landshut Oct. 11. m 336. — Reiffenstuel an
Donrsperg. Lichtenberg Oct. 13. III 341. — H. Max an B. Eichstett
Dec. 11. m 343. — B. Eichstett an H. Max. Wilbaldsberg Dec. 18.
III 345. — H. Max an Dr. König. Dec. 23. IIL 348.
(82) B. Augsburg an H. Max. Dülingen 1609 Sept. 8 m 126.
— Desgl. Dec. 18. IH. 328. — Chur-Mainz an H. Max. Martinsburg
1610 Jan. 15. IV 83. — H. Max an Chur-Mainz. München Jan. 19.
IV 82.
174 Jahrb. der histar, Glosse der h Akad. der Wissenschaften.
«
auch die Y erhandlung , die Mainz mit dem Bischof von Pa-
derborn eingeleitet, war ohne Erfolg geblieben. Aber die
Bisthümer Strassborg Worms Speier und Stift Odenheim
waren vertreten; und auch die Domcapitel sämmtlicher ver-
bünaeter Erzbischöfe und Bischöfe hatten Vollmacht ertheilt,
mit in ihrem Namen zu beschUessen.
Der merkwürdigste Theil der Berathung, welche am
10. Februar eröffnet wurde, ist die Verhandlung von der
Ausdehnung des Bundes innerhalb des Beichs und von den
Hülfsgesuchen an fremde Mächte. Wir gewinnen durch sie
einen üeberblick über das damalige katholische Europa.
Was die Beichsstände betrifft, so wurde Bericht erstattet
von den bisherigen Verhandlungen mit mehreren derselben.
In Ansehung Salzburgs Eichstetts und der schwäbischen Gra-
fen sind wir bereits unterrichtet. Mainz hatte glücklich seine
Aufträge ausgeführt, mit Ausnahme der Verhandlung mit dem
Bischof von Paderborn, dessen Lage, einerseits durch hemmende
Verträge mit Capitel und Landschaft gebunden, andrerseits in
der Nähe der Generalstaaten, allerdings Entschuldigung be-
anspruchte, aber die Versammlung nicht abhielt, erneuten
Auftrag zur Unterhandlung zu geben. Am unglücklichsten
oder vielleicht am saumseligsten war Chur-Cöln gewesen, dessen
Vertreter nichts als Klagen und Ausreden vorzubringen hatten.
»Haben unter gepflogener handlung allerhand impedimenta bei
ihren suffraganeis gespürt. Sonderlich bei Osnabrück und
Münden, welche also beschaffen, das sie nicht sehen, was
fruchtbarliches daselbst auszurichten, weil der mer theil
sectisch, und obwol etlich capitulares katholisch, können doch
dieselben one vorwissen irer heupter sich in kein büntniss
lassen. Mit Lüttich sei ein schreiben eingelangt, darin ver-
melt, das das ausschreiben inen zu spat zukonunen ; bitten der-:
halben sie fär entschuldigt zu halten, verhoffend i. chf. d.
werde bald selbs der orten anlangen, als4an wollen sie sich
erklären; und wan die ankunft i. chf. d. zu lang sich ver-
Comdius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 175
schieben solt, wollen sie nicht underlassen, ire stend zu er-
fordern und ir gemütserklärung von inen einzunemen, und
femer resolution darauf pflegen. Mit Münster seien eben die
difficultates wie mit Münden, und dazu noch an Holland
grenzend ; dahero leicht zu erachten , was und wie vil der
orten zu hoffen. Utrecht ist dem stift gar entzogen worden;
wie auch Hildesheimb in abwesen i. chf. d. sich nicht zu
resolviren gewust, so selb stift mertheils von Braunschweig
occupirt und mit sectischen allenthalben gefiilt.« Aber die
Erwiederung von Chur-Mainz lautete: »Die Cölnischen stift
betreffend halten sie darfur, das bei selben stiften kein mangl
erscheinen werd; derowegen im namen Freising Lüttich Mün-
ster Hildesheimb und dergleichen i. chf. d. zu erinnern, was
sie albereit vor disem diser stift halben auf sich genomen,
förderlich zu effectuim.« Und so wurde beschlossen. — Die
Bisthümer Cammerich Metz Tul Verdun wurden mit Bedauern
genannt und wie natürlich ohne Beschluss beseitigt. — Salz-
burg sollte, wie er es verlangte, durch die drei Churfürsten,
Eichstett durch die fräokischen Bischöfe von neuem ange-
fordert werden. — Die Kheinische Eeichsritterschaft war von
den Ghurfärsten ermahnt worden, aber das Schreiben zu spät
zu ihrer Versanmdung gekommen. >Gleichwol,« referirte Mainz,
»die gemütserklerung so weit erfolgt, das sies vertreulich mit
den andern beden orten Oberlants halten wollen, und zu dank
die ersuchung angenomen; wie man dan sonsten auch ver-
nomen, das sie zu diesem werck nicht ungeneigt, und obwöl
vil darunder widriger religion, so sei doch zu vermuten, wegen
allerhand Interesse gern in die union bewilligen werden; gebe
ein starck accession disem werck, wan man den Widersachern
disen stand entziehen möcht.« Die Verhandlung mit den-
selben sollte fortgesetzt und auf die beiden andern Bitterkreise
ausgedehnt werden. — Ebenso mit den schwäbischen Grafen,
obwohl hier das Bedenken wegen der protestantischen Mit-
glieder mehr ins Gewicht zu fallen schien. Mit den Stiftern
V 176 Jährh, der histor, Classe der Tc. Akad. der. Wissenschaften.
Basel Murbach Fulda war noch nicht angeknüpft worden: es
sollte jetzt geschehen. Fulda, meinten die Bambergischen,
»werde nicht so alienus sein, sich in das bündniss einzu*
lassen. c Aber es sollte ihm, sagten andere, Vorsicht seinen
protestantischen ministris gegenüber anempfohlen werden. —
Der Johannitermeister und Erzherzog Maximilian als Deutsch-
meister sollten ersucht werden. — Auch Berchtesgaden wurde
genannt: es war leicht zu erhalten durch den Coadjutor von
Cöln. — Dagegen sollte die Verhandlung mit Trident und
Briien von der östreichischen Verhandlung abhängig bleiben^
— In Betreff des Hauses Oestreich tritt keine Verschiedenheit
der Ansicht hervor. Man ist darüber einstimmig, dass, so
lange der gegenwärtige Streit zwischen dem Kaiser und seinem
Bruder Mathias dauert, an Herbeiziehung des ganzen Hauses
nicht zu denken sei. Dagegen war man geneigt, das erwar-
tete freiwillige Anerbieten Ferdinands von Grätz anzunehmen
und den Erzherzog Maximilian als Administrator von Tirol
und den östreichischen Vorlanden um seinen Beitritt zu er-
suchen. Den Erzherzog Albrecht als Kegenten der Nieder-
lande wünschte man gleichfalls zum Bunde zu ziehen, doch
so dass man die Betheiligung an den künftigen Kriegen der
Niederlande mit Holland Frankreich England vermeide ; daher
wurde auf Baiems Antrag die Sache so gefasst, dass man
gegenseitig der HüKe sich zu versichern habe gegen einen
Angriff von Seiten der protestantischen Keichsstände. — Ausser
Oestreich und Baiem gab es nur noch einen katholischen welt-
lichen Fürsten im Beich, den Landgrafen von Leuchtenberg,
dessen Ersuchung nach dem Wunsch Baiems einstweilen ausgesetzt
blieb. — Der Erwähnung der Balei Coblenz, Ober- und Nieder-
Münsters, des Qotteshauses S. Blasien, des Bisthums Breslau«
auch des Marl^rafen von Burgau und der Fugger wurde
einstweilen keine Folge gegeben. — Von durchweg katholischen
Beichsstädten war nur noch eine Ideine Anzahl in Schwaben
übrig: Botweil Ueberlingen Bavensburg Wangen u. s. w. IMe
Cameliua: ZurGesdUchte der Grundimg der deutschen Liga. 177
sollten zum Beitritt eingeladen werden. Mit protestantischen
Städten wie Nämberg Ulm Strassburg Frankfurt wollte man
auf Neutralität handeln. Zwischen beiderlei Städten gab es
andere mit starkgemischter Bevölkerung und katholischer Be-
gierung, unter welchen insbesondere Cöln und Augsburg die
Aufinerksamkeit auf sich zogen. Die Chur-Cölnischen Abge-
(»rdneten legten grosses Gewicht darauf, dass man es be-
züglich der Stadt Cöln nicht bei der blossen Neutralität be-
wenden lasse. Die Stadt, > welche schier nummer ein vormaur
der catholischen religion, das, wan Cöln weck, umb das stift
erstlich, hernach auch umb Trier und consequenter umb die
übrigen catholischen stift am Bhein geschehen wer. Wie aber
die stat Cöln zu erpracticiem , haben sie ires theüs ein ver-
suchen gethan; aber befunden, das sie noch zur zeit beden-
ken tragen, vermeinend, wan ein richtikeit, das sie alsdan
willig sich finden lassen wurden. Dörfen kein bündniss ein-
gehn on vorwissen der gemeind, daher gross confusion zu be-
sorgen von den zünffcen. Und die bürgerschaft also be-
schaffen, weil sie sehen das in Gülch den Protestirenden
glücklich abgeht, derowegen sie desto schwieriger. Gleichwol
die geheimen zu der union für sich selbst nicht ungeneigt.
Stehe also bei den ständen, wessen sie sich resolviem. Mit
der neutralität sei die sache schon richtig, betten sich nitro
dahin erklert; und doch gleichwol under die advocation der
forsten begeben und das bistumb ausgeschlossen. Daher in
den benachbarten fleken aufstellung der predicanten und ex-
tmction der catholischen religion zu besorgen; auch wol die
sectisch bürgerschaft des catholischen magistrats gar möchte
meister, und daher auch die neutralitet verloren werden. Dero-
wegen umb so vU desto mer die erhandlung der stat in die
Union zu bedenken.« — Demzufolge wurde für Cöln, und eben
so auch for Augsburg, der förmliche Beitritt zur Union als
Ziel der Verhandlung festgesetzt. — Gegen die Au&ahme
protestantischer Beichsforsten, wie Chur-Sachsens und Hessen-
12
178 Jahrh, der histor. Glosse der k. Akad, der Wissenachaften,
Darmstadts, die bekanntlich damals eine kaiserfreundliche und
mittlere Stellung inne hielten, erklärte sich zwar nicht Baiem,
aber, und diess doch vermuthlich im Einverständniss mit
Baiem, die Constanzischen und andere Abgeordneten. Es wurde
als Grundsatz hingestellt, solche Stände möglichst als succur-
rentes, nicht als eigentliche Mitglieder, aufnehmen.
Was nun weiter die auswärtigen Mächte angeht, so theilte
zuvörderst Baiem die Zusagen mit, welche der König von
Spanien dem Pater Lorenzo gemacht hatte. — Von dem
Papst und den italienischen Fürsten — die Zahl der zu Er-
suchenden hatte sich allmählich weit über die ursprüngliche
Absicht gesteigert , und die Gesandten waren jetzt beauilragt
ausser Florenz auch ürbino Mantua Parma Savoyen und die
Kepublik Venedig zu besuchen — erwartete man Bescheid
nach der Kückkehr der Gesandtschaft, und es war von ihnen
weiter in der Versammlung nicht die Bede. Nur beiläufig
wies der eine auf die Gefahr hin, die eine Verbindung mit
Savoyen mit sich bringe; der andere auf das Wünschens-
werthe einer Neutralität Venedigs, den Hoffnungen gegenüber,
welche die Protestanten sich auf den Beistand dieser Bepublik
machten. — Die katholischen Eidgenossen liess man nicht
ausser Acht, aber da Geldhülfe von ihnen nicht zu erwarten,
so beschränkte man sich auf den Wunsch, durch freundliche
Verbindung mit ihnen die Oeffnung der Pässe ihres Landes
zu erhalten. — Die Zuziehung des Herzogs von Lotringen
hatte Max, der sein Schwager war, von jeher eifrig gewünscht,
aber auch immer darauf hingewiesen, dass man ihm eine
Gegenleistung in Aussicht stellen müsse. Jetzt Hessen die
Churfürsten ihien bisherigen Widerspruch fallen und die Ver-
sammlung war zufrieden, dass Lotringen ein ähnlich beschränk-
tes Versprechen wie Erzherzog Albrecht erhalte. — Polens
Hülfe schien begehrenswerth ; doch war man verlegen, auf
welchem Weg dieselbe zu erreichen, bis Gonstanz auf die
Nuntien und Legaten päpstlicher Heiligkeit hinwies. — Am
Comdim: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 179
meisten Bedenken fand die von Baiem jetzt wie immer vor-
geschlagene Gesandtschaft an König Heinrich IV. Unter an-
dern äusserte Bamberg treffend: >mit Frankreich hab Cöln
genugsam angedeut, wessen sich derselbe könig gemeinlich
unrichtig erkler. Hab man sich zu erinnern, wie weit es
die Protestirenden gebracht. Derowegen mit Baiem sich gern
vergleichen weiten auf ein mitl, den protestirenden forsten die
französische hilf abzustricken, tragen aber die beisorg, das
das mittel der fürgeschlagenen legation nicht fürträglich. Möcht
etwan ein breve von bäpstlicher Heiligkeit mer fruchten. Dau
ausserhalb diess schwerlich ein categorische antwort von
Frankreich zu hoffen; wie solches erschein aus der antwort
und entschuldigung, so Frankreich vor disem oftmals gegeben
wegen Niderland, als ob die hilf aUein geschehe zu abzalung
des vorgestreckten gelts; und weil die Protestierenden Frank-
reich bei vorigem krieg nicht weniger als Niderland fürge-
streckt, hab man sich gleicher entschuldigung disfals der
orten zu versehen. Derowegen an die gesanten nach Italien
wegen eines solchen brevis möcht geschrieben und alsdan auf
fernere legation gedacht werden.« Doch blieb es bei dem
bairischen Vorschlag, dessen Ziel war, Frankreich zur Hülfe
oder wenigstens zur Neutralität zu bewegen; nur dasö der
Discretion der Bundesobersten überlassen wurde, ob sie durch
Gesandtschaft oder Correspondenz verhandeln wollten. Man
fürchtete nämlich durch eine Gesandtschaft an Heinrich bei
Spanien Anstoss zu erregen, welches nicht durch eine förm-
liche Gesandtschaft ersucht worden war.
12.
Man sieht, welches Gewicht das Votum Baierns in allen
auswärtigen Fragen behauptete. Und kaum minder war diess
in den innem Angelegenheiten der Fall: fast alle Punkte
wurden nach dem Wunsch des Herzogs entschieden.
12*
180 Jahrb, der histor. Glosse der k, AJcad, der Wissenschaften»
Die Umlage, beschloss man, sollte nach dem Massstab
der Eeichsmatrikel erfolgen, und alle andern Anträge wurden
abgelehnt. Die Notification an kai. Mt. von dem Abschlüsse
des Bundes sollte durch die Bundesobersten erfolgen, in wel-
cher Weise beide es für rathsam hielten. Die Leistungen in
der Artillerie, Geschütz und Munition wurden genau nach
dem bairischen Vorschlag umgelegt, demgemäss die Beschaffung
TOn 38 Stück Feldgeschütz mit Zubehör verordnet, und unter
die Bundesstände nach vier Classen der Leistungsfähigkeit
ausgetheilt. In der ersten standen neben den drei Churfursten
Baiem Würzburg Bamberg, in der zweiten Stift Strassburg,
in der dritten Speier Constanz Augsburg Passau, üi der vier-
ten Worms Regensburg Elwangen Kempten und die Prälaten.
— Als Legstätten für die Bundeskasse bezeichnete man die
Städte Cöln und Augsburg, räumte aber auf Baiems beharr-
liches Andringen den Bundesobersten die Freiheit der Aen-
derung ein. — Für die vorläufige Anwerbung der obersten
Offiziere wurde eine Summe ausgeworfen. — Anlangend den
Namen des Bundes blieb man bei der von Baiem vorge-
schlagenen einfachen Bezeichnung als Defensiv- oder Schirm-
vereinigung, obgleich Constanz vielleicht den bessern Antrag
stellte, man solle sich den erneuerten Landsbergischen Bund
nennen.
Nur zu der Höhe des Beitrags, welche Baiem fordeiiie,
konnten die Stände insgesammt sich nicht verstehen. Aber
sie kamen ziemlich weit entgegen und bewilligten statt der
verlangten 50 Monate für das erste Jahr doch 40, daneben
2 für den sogenannten kleinen Vorrath, der für die laufenden
Ausgaben in Friedenszeit bestimmt war, ferner för das zweite
Jahr 10, für das dritte 6 Monate.
Ausserdem wurde die Bestunmung der Geldentschädigung
för den Herzog von Baiem als Kriegsobersten einstweilen
ausgesetzt, aus welchem Gmnd wissen wir nicht, da bei dieser
Verhandlung die bairischen Gesandten abgetreten waren.
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 181
Opposition machten in der ganzen Verhandlung eigent-
lich nur die Würzburgischen Abgeordneten, die deutlich
auf möglichste Beschränkung der Machtvollkommenheit des
Herzogs von Baiem als Bundesobersten hinarbeiteten, ohne
jedoch ihren Zweck zu erreichen. Unter den übrigen Ständen
zeichnete sich Chur-Mainz durch freundliches Entgegenkonmaen
aus, und seine Vertreter vorzüglich entschieden überall, wo
Anstrengung nöthig war, den Sieg Baierns, oder brachten —
ich meine die Geldfrage — den Endbeschluss so nahe als
möglich an die Anträge des Herzogs. So viel Nachgiebigkeit
hatte Maxinrilian selber nicht erwartet. Wir lesen in seiner
Instruction zum Bundestag, dass seine Abgeordneten sich
nicht sollen gefallen lassen, dass Chur-Mainz allein das Direc-
torium bei der Berathung führe; und nun trugen, sobald die
Bairischen in Würzburg ankamen, von freien Stücken die
Chur-Mainzischen ihnen das alleinige Directorium an; und so
gross war der Ernst, womit das geschah, dasß die Baiem ohne
Gefahr eine Zeit lang der Ehre sich weigern durften. *')
Am 10. Februar hatte die Berathung begonnen, um
des Geheimnisses willen wurde nur den drei Churfursten und
Baiem die Aufstellung eines Protokollisten erlaubt, und der
Beschluss gefasst, den Abschied keinem Schreiber, sondern den
Abgeordneten selbst zu dictiren. Diess geschah am 17. und
wurde am 18. Februar zu Ende gebracht. Im bairischen Pro-
tokoll wird angemerkt, diess sei der Tag, da im Kalender
Concordia steht: ipsa nimirum die Concordiae, qua a. 48 (sie)
Luthems omnis discordiae autor obiit.
13.
Hier, wo ich am Schluss angelangt bin, erinnere ich
nochmals daran, dass ich keine Geschichte der Gründung der
Liga versprochen habe. Wir haben gesehen, welche Menge
(83) Donrsperg an H. Max. Würzburg 1610 Febr. 11. lY 138.
182 Jahrb. der histor, Claase der h Akad, der Wissenschaften.
TOn Personen und Mächten in Verbindung mit unserm Gegen-
stand gebracht worden sind, deren Thun und Lassen zu er-
klären die bairischen Acten, das einzige Mittel welches wir
in Anwendung haben bringen können, ohne Zweifel unzurei-
chend sind. Aus ihnen allein wird das wenigste völlig Mar,
vieles bleibt ganz im Dunkel. Als Beispiel brauche ich nur
auf die Stellung des Churfursten von Mainz zu deuten. Erst
die Durchforschung der Papiere anderer Eeichsstände und
andrer Staaten kann über diesen und andre Theile des Ganzen
das gewünschte Licht verbreiten.
Nur was den Herzog Max selbst betrifft, eihtnehme ich
meinen Acten noch den Stoff zu folgender Bemerkung.
Schritt für Schritt lässt sich das beharrliche Bestreben
des Herzogs wahrnehmen, die Liga ohne Zuthun des Hauses
Oestreich und ohne dessen Theilnahme zu gründen. Bei der
ersten Berathung zu Eegensburg, wo Mainz den Vorsitz fahrt,
sind östreichische Abgeordnete Theilnehmer. Als Max darauf
die Verhandlungen in die Hände ninmit, bleibt Oestreich un-
berücksichtigt. Von Seiten Würzburgs, von Seiten der schwä-
bischen Fürsten wird immer wieder auf Oestreich gewiesen:
Max ist taub; so dass vielleicht hierdurch die Verhandlungen
eine Weile ins Stocken gerathen. Dann weiss er auf den
Tagen zu München sowohl wie zu Mainz die Zuziehung Oest-
reichs weg imd in die Zukunft zu schieben. Das liess sich
fireilich vor aller Welt rechtfertigen, so weit die Ausschliessung
den Kaiser und den König Mathias betraf, aber offenbar
stand es doch anders mit den Erzherzogen Albrecht Maximilian
Ferdinand. Aber es dauert bis gegen das Ende des Jahrs
1609, ehe er nur in Bezug auf diese letzteren anfangt nach-
giebig zu werden; und ich vermuthe, dass diess Nachgeben
mit seinen Beziehungen zu Spanien und zu dem spanischen
Gesandten in Prag in Verbindung stand. Unterdes hatte die
bisherige Haltung Maximilians ihre Wirkung gethan und auf
dem Bundestag zu Würzburg wurde die Liga wirklich ohne
Comdius: Zwr Geschichte der Gründung der deutschen Liga, 183
Oestreich abgeschlossen. Aber auch nach der andern Seite
war die Wirkung nicht ausgeblieben. Noch während des
Bundestags, Mitte Februar 1610, empfiengMax die Nachricht
aus Som, dass weder Spanien noch der Papst das geringste
dem Bunde zu Gunsten leisten werde, so lang das Verhältniss
«u Oestreich nicht anders geordnet sei. Die G^chichte dieser
Verwicklung reicht über unser Thema hinaus. Ich begnüge
mich, den Schlüssel zu dem Verhalten Maximilians, oder was
ich für den Schlüssel halte, vorzuweisen.
Während des Tags zu Würzburg empfingen die bairischen
Abgeordneten von ihrem Herrn®*) unter andern Schriften eine
italienische Denkschrift, auf welche sie ganz besonders auf-
merksam gemacht wurden. Sie sei, schrieb der Herzog, von
einem katholischen Verfasser. Er wollte, dass seine Bäthe
sie den bedeutendsten Abgeordneten der andern Stände, Dr. Götz
und Dr. Bot, Mettemich und Buchholtz, ad partem mittheilen,
und ihm alle ihnen zu Ohren kommenden Einwüife berichten.
Im Fall die andern einhellig oder fast einhellig ihren Beifall
zu den dort ausgesprochenen Gedanken geben, sollen sie dem
wegen der Jülichschen Sache angemeldeten kaiserlichen G^
sandten Andeutung oder auch Abschrift davon geben, aber in
aller Weise verheimlichen, dass sie die Schrift vom Herzog
erhalten haben.
Die fragliche Denkschrift liegt bei den Acten.®*) Sie
beschäftigt sich mit der Geschichte der Reformation in Europa
und kommt zuletzt auf den Zustand des Beichs. Das wich-
tige steht ganz am Schluss. Die einzige Abwehr, heisst es
dort, gegen den vollständigen Sieg der protestantischen Stände
im Beich liegt in der engen Verbindung der katholischen zu
gegenseitigem Schutz. Diese Vereinigung wird aber am besten
(84) H. Max an die Bundescommissarien zu Würzbarg. München
1610 Febr. 9. IV 123.
(86) Discnrs etc. IV 102.
184 Jahrb. der histor. Glosse der h. Äkad. der Wissenschaften,
in der Art stattfinden, dass die katholisclien Beichsstände,
die Churfürsten voran, unter Baiems Leitung zusammentreten
und eine Union unter einander büden, dann ihre Gesammtheit
wieder einen Bund mit dem Haus Oestreich schliesst.
Der Verfasser knüpft an das Beispiel des Landsberger
Bundes an, der von ihm als Muster empfohlen wird, ohne
doch in Wahrheit mit seiner Idee durchaus übereinzustimmen.
»Soleva esser in öermania, e credo che sia in piedi ancora,
una lega che fu fatta, se ben mi pare, per opporsi gia alla
violenza del marchese Alberto de Brandeburg, il quäle fattosi
capo di gente di mal aflfare haveva formato un essercito di
qualche consideratione et non osservando cosa che promettesse
ne all' imperadore Carlo ne al re di Prancia, che guerre-
giavano insieme, et essendo huomo non solo senza fede civile,
ma anco senza religione, andava travagliando e predando gli
stati d'altri e specialmente de prencipi catholici e de vescovi,
et afflisse in particolare con ogni miseria di guerra ü vesco-
vado di Bamberga, che sente ancora li danni di quella deva-
statione. Per assicurarsi da costui, et anco per difesa delle
cose loro contro ogni altro insulto delli heretici, si confederorno
insieme li catholici e fecero capo e capiiano generale della
lega ü duca di Baviera ; e questa lega che ha durata poi sempre, e
stata molto salubre alla quiete di Germania. Bene saria
operare che si rinovasse questa lega sotto il medesimo stato
et generalato del duca di Baviera, et che in essa oltre gli
altri entrassero li tre arcivescovi elettori di Mogonza, di
Colonia, di Treviri, Tarcivescovo di Salzburg, li vescovi di
Liegi, di Munster, d*Herbipoli, di Bamberga, di Passaw, e
gli altri ehe sono in piedi, e insieme con questi quelle citta
franche, nelle quali si conserva ancora il governo in mano de
catholici. Fermata questa lega e stabiliti gli ajuti e le spese,
che da ciascheduno si dovessero contribuire , si havrebbe da
procurare, che li prencipi della casa d'Austria si unissero pa-
irmentee si collegassero insieme et havessero descritte e pre-
Cornelius: Zur Geschichte der Gründung der deutschen Liga. 185
parate le forze de gli stati loro, per potersene valere pronta-
mente ja ogni bisogno, et fatto questo procurare , che le forze
e i prencipi di queste due leghe con certi leggi s'unissero e
confederassero insieme, et che in questa speciaknente entlasse
anco rarciduca Alberto con le forze de paesi bassi, che sarebbe
forsi un interessarci tacitamente et senza nominarlo il re di
Spagna.€
Es ist ein Gedanke, ähnlich dem vielbesprochenen unserer
Zeit von den zweierlei deutschen Bünden: das katholische
Eleindeutschland unter bairischer Hegemonie der engere Bund,
im weiteren Bunde mit Oestreich.
Die Denkschrift fand in Würzburg keinen Anklang. **)
Aber, ich meine, es lässt sich nicht verkennen, dass diesem
Gedanken die Liga, wie sie war, ihren Ursprung zu verdanken
hat, und dass auch femer ihr Glück und ihr Unglück bis
zum Ende aus ihm wie aus einem Samenkorn hervorgegangen ist.
(86) Donrsperg u. Tanberg an H. Max. Würzburg 1610. Febr. 13.
IV 144.
m.
Die
fränkischen Königsannalen
und ihr Ursprung
von
W. Criesebrecht.
in.
Die
fränkischen Eönigsannalen und ihr TJrspmng.
Die Merovinger haben unseres Wissens Nichts gethan,
um das Andenken ihrer Thaten dnrch die Schrift zn erhalten,
unsere Eenntniss ihrer Geschichte beroht abgesehen von dem
Material, welches mehr zufällig eine historische Bedeutung ge-
wonnen hat, auf Aufzeichnungen von Geistlichen , welche von
den Ereignissen ihrer Zeit auf eigene Hand und nach eigenem
Ge&llen, was ihnen erheblich schien, der Nachwelt überlieferten.
Die Geschichten des Gregor von Tours, des sogenannten Fredegar
und das Buch von den Thaten der Franken sind von den
Merovingem selbst weder veranlasst noch beeinflusst worden.
Anders die Pippiniden von ihren Anfingen an. Die letzten
Fortsetzungen des Fred^ar sind von Karl Martell's Bruder
und Neffen unmittelbar hervorgerufen und tragen durchaus
den Gharacter von Schriften, welche man im Interresse des in
der Macht stehenden Geschlechtes verfasste. Die Schreiber der-
selben sind gut unterrichtet, aber sie sagen nur, was sie sagen
sollen, und schweigen, wo das Schweigen den Pippiniden vor-
theilhafter schien. Auch Karl der Grosse hat dann für das
Andenken seiner Vorfahren und die Erhaltung seines eigenen
Buhms gesorgt. Es ist bekannt, wie er Paul Wame&ied*s Sohn,
den Geschichtsschreiber der Langobarden, an seinen Hof zog;
dort schrieb Paul jene Geschichte der Metzer Bischöfe, welche
die Vorfahren des Königs so hoch erhob. Als Earl's Verhält-
190 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften,
niss zu Born durch Irenens offenen Bruch mit den Bilder-
stürmern ein sehr bedenkliches wurdß, liess er alle Schreiben
der Päbste an seinen Grossvater, Vater und ihn selbst zu-
sammenstellen und bewahrte damit nicht nur seinen Nachfolgern,
wie es seine nächste Absicht war, die wichtigsten Documente
auf, sondern erhielt auch für alle Folgezeit historische Acten-
stücke von unvergleichlichem Werthe. Es war etwa um die-
selbe Zeit, dass unter seinem Einfluss ein Qeschichtswerk be-
gonnen wurde, welches in zweifacher Beziehung eine ausser-
ordentliche Bedeutung besitzt; einmal weil wir ohne dasselbe
über seine wie seiner nächsten Nachfolger Eegierung sehr
mangelhaft unterrichtet sein würden, dann weil es in seiner
Form auf die Geschichtsschreibung des Mittelalters Jahrhun-
derte lang Einfluss geübt hat.
Dieses bedeutsame Werk, unter Karl begonnen, ist unter
der Regierung seiner Nachfolger bis zum Jahre 882 fortge-
setzt worden. Ein fränkischer Schriftsteller bezeichnet das Ganze
mit dem Namen Annale gestorum nostrorum regum oder kürzer
Annale regum; ^) in einer Brüsseler Handschrift führt es die
Aufschrift: »De gestis regum Francorum, (ex) quo Earlo de-
functo Carlomannus et Pipinus fratres regnum adepti sunt Fran-
corum« *) und dies scheint der ursprüngliche Titel des Werkes
zu seiQ. Wattenbach hat neuerdings nach Andeutungen Bankers
das Werk als amtliche Beichsannalen bezeichnet; der Aus-
druck fränkische Königsannalen wird dem alten Titel genauer
entsprechen. Der Ausgangspunkt (741) ist wohl nicht zufällig;
man begann mit der Begierung dessen, der zuerst in dem neuen
Herrschergeschlecht der Königsnamen gewann.
Pertz, der im ersten Bande der Monumenta Germaniae
zum ersten Male einen zuverlässigen Text dieser Annalen heraus-
gab, hat sie nicht in ihrer Gontinuität abdrucken lassen, son-
(1) Hincmari Opera ed. Sirmondi 11 p. 292. 832.
(2) Monum. Genn. II p. 192.
(riesebrecht: Die fränkischen Königsannalen. 191
dem in zwei getrennten Hälften, von denen er die erste (741—
829) als Annales Lanrissenses et Einhardi, die zweite als
Annales Bertiniani (830 — 882) bezeichnet. Die zweite Be-
zeichnung ist lediglich von dem Fundorte der Handschrift her-
genommen, aus welcher dieser Theil der Annalen zuerst be-
kannt wurde; die erste beruht auf der Ansicht, welche Pertz
über die Entstehung der früheren Abschnitte des Werks hegt.
So gewiss es ist, dass diese Königsannalen in der karo-
lingischen Zeit als ein zusammenhängendes Werk angesehen
wm*den, ebenso steht fest, dass ein volles Jahrhundert an den-
selben gearbeitet hat, dass es von verschiedenen Autoren ab-
gefasst ist, und dass wir diese Autoren nicht in untergeord-
neten Stellungen zu suchen haben. Denn es ist Thatsache,
dass der Bischof Prudentius von Troyes und der Erzbischof
Hincmar von Beims die letzten Abschnitte der Annalen verfasst
haben. ') Aber wie das Ganze allmählich erwachsen ist, in
welchen Absätzen es entstand, von welchen Verfassern und zu
welcher Zeit namentlich die früheren Theile des Werkes nieder-
geschrieben sind, darüber fehlt es bisher an einer abschliesseur
den Untersuchung, obgleich von verschiedenen Seiten darüber
verschiedene Ansichten aufgestellt sind. Zur Erledigung dieser
Fragen, die besonders für die Geschichte Karl's des Grossen
von Bedeutung sind, möchten die nachfolgenden Erörterungen
Einiges beitragen; sie beschränken sich lediglich auf jene ersten
Abschnitte des Werks, welche Pertz mit dem Namen Annales
Lanrissenses et Einhardi bezeichnet hat.
Mit Becht sind alle neueren Untersuchungen von der An-
sicht ausgegangen, welche Pertz in der Einleitung zu seiner
Ausgabe der Annalen über ihre Entstehung aufgestellt hat.
Pertz's Ansicht fasst sich kurz darin zusammen, dass der Grund
zu dem Werke in dem Kloster Lorsch gelegt sei , dort seien
(3) Hincmari Opera ed. Sirmondi II p. 292. Richeri Hist. praef.
Mon. Germ. Script. HI p. 668.
192 Jahrb. der histor, Classe der k, Akad, der Wissenschaften,
die ersten Theile desselben etwa im Jahre 768 niederge-
schrieben und mit der Aufzeichnung gleichzeitiger Nachrichten
bis 788 fortgeschritten, dann seien die Annalen Einhard, dem
Freunde der Lorscher Mönche, bekannt geworden und dieser
habe sie, so lange er am Hofe lebte, bis 829 allmählich fort-
gesetzt, endlich auch noch eine Umarbeitung der früheren
Partieen vorgenommen. Alles dies stellt Pertz selbst nur als
eine Hypothese auf, die wesentlich darauf ruht, dass einst er-
weislich eine alte Handschrift der Annalen, die mit dem
Jahre 788 schloss, in Lorsch vorhanden war, und dass anderer-
seits ausdrücklich bedeutende Theile des Werks von einem
anonymen Schriftsteller des zehnten Jahrhunderts Einhard zu-
geschrieben werden, *) Die Verschiedenheit der Diction und
Darstellungsweise schienen dann weiter dafür zu sprechen, die
Autorschaft zwischen dem Lorscher Mönch und Einhard so zu
theilen, wie Pertz es that. Diese Hypothese schliesst sich an
die Meinung an, welche schon früher Du Chesne über Einhard als
Verfasser der Annalen ausgesprochen hatte, und die freilich
nicht ohne Anfechtung geblieben war; Pertz hat indessen die
erhobenen Einwendungen meist glücklich beseitigt und zugleich
die Argumente, die ffir Einhard*s Autorschaft zu sprechen schei-
nen, erweitert und befestigt.
Pertz's Ansicht hat dann vielfache Zustimmung gefunden
und ist heute noch am weitesten verbreitet. Aber auch an
Widerspruch hat es nicht gefehlt. Schon mein Oheim Ludwig
Giesebrecht hat sie in wesentlichen Stücken modificiren zu müs-
sen geglaubt. *) Viel weiter ging Julius Prese dann in seiner
Dissertation de Einhardi vita et scriptis (Berolini 1846) und
bestritt jed^n Antheil Einhard's an den Annalen. Bänke in
(4) Der Verfasser der Translatio S. Sebastiani nennt Einhard als
Autor eines Annalenwerks mit dem Titel Gesta Caesarum Caroli
Magni et filii ipsius Hludowici und fuhrt daraus eine Stelle an, die
sich in unsenx Annalen z. J. 826 findet.
(5) Wendische Geschichten III S. 282 ff.
Giesehrecht: Die fränkischen König sanndkn. 193
einer Abhandlung zur Kritik fränkisch-deutscher Beichsanoa-
listen (Berlin 1855) stellte den Antheil Einhard^s zwar nicht
in Frage, wohl aber den Antheil des Lorscher Klosters; denn
nach seiner Ansicht müssten die Annalen von Anfang an
am fränkischen Hofe und unter dem Einfluss desselben ge-
schrieben sem.
Waitz *) und Wattenbach ^) haben sich im Wesentlichen
Bankers Ansicht angeschlossen. Ob die spätere Fortsetzung
und Umbildung der Annalen Einhard's Werk sei, liess Waitz
dahingestellt, jedenfalls aber meinte er die Notizen von 789
bis 795 noch Einhard absprechen zu müssen. Endlich hat
Bernhard Simson noch einmal die Frage über Einhard's An-
theil an dem Annalenwerk in einer besonderen Dissertation ^)
eingehend untersucht: seine Forschungen haben ihn zu keinem
sicheren Besultate gefahrt, doch neigt er sich augenscheinlich
mehr Frese's als der entgegenstehenden Ansicht zu. So ist
schliesslich in Pertz's Hypothese kein Funkt unangefochten
geblieben, und wenn er selbst den Wunsch aussprach, dass
abweichende Meinungen laut werden möchten, so ist derselbe
erfüllt worden. Aber noch hat keine dieser abweichenden
Meinungen sich befestigen können, und in dem Widerstreit
derselben bleibt for die weitere Forschung Baum.
Wir beginnen mit dem ältesten, grundlegenden Theile
des Werks, mit den Annalen bis zum Jahre 788, die nach
Pertz im Kloster Lorsch, nach Anderen am fränkischen Hofe
aufgezeichnet sein sollen. Wo sie abgefasst wurden, wird sich
(£) Nachrichten von der Göttinger Societät 1857. S. 62.
(7) Deatschlands Geschichtsqnellen S. 106. 107.
(8) De stata quaestionis, sintne Emhardi necne sint, qao8 ei
aMsibunt, umales ünperii specimen. (Regimonii 1860.)
13
194 Jahrb. der histor. Classe der k, Äkad, der Wissenschaften.
vielleicht näher bestimmen lassen, wenn wir zuvor die Zeit
und die Motive der Abfassung zu ermitteln suchen. L, Giese-
brecht hat gegen Pertz behauptet, dass diese Annalen nicht
seit 768 allmählich entstanden, sondern ein*zusammenhängen-
des, in einem Zuge nicht vor dem Jahre 788 niedergeschrie-
benes Werk seien, und seine Gründe dafür sind völlig über-
zeugend. So konnten z. B. die Worte z, J. 781: non diu
praefatus dux Tassilo promissionis, quas fecerat, conservavit
nicht gleichzeitig niedergeschrieben werden, da Tassilo's Treu-
bruch erst 787 erfolgte. Verlangte man weitere Beweise, so
liesse sich auf die Notiz z. J. 777 verweisen: domnus Carolus
rex sinodum publicum habuit ad Paderbrunnen prima vice;
sie kann nicht damals abgefasst sein, sondern erst nach 785,
wo Karl zum zweitenmale, wie die Annalen selbst angeben,
zu Paderborn das Maifeld hielt. Unzweifelhaft ist demnach,
dass dieser Theil der Königsannalen nicht vor dem Jahre 788
entstanden ist. Aber unmittelbar in diesem Jahre oder in der
nächsten Zeit ist derselbe niedergeschrieben. Dafür spricht
die Darstellung der letzten Jahre, wo augenscheinlich zeit-
genössische Ereignisse berichtet werden; dafür spricht der starke
Ausdruck z. J. 785: tunc tota Saxonia subiugata est, wel-
chen der Verfasser nicht wählen konnte, wenn ihm der Aus-
bruch der sächsischen Unruhen 793 schon bekannt gewesen
wäre.
Sind nun die Annalen bis 788 ein zusammenhängendes,
in diesem Jahre oder bald darauf niedergeschriebenes Werk,
so liegt es nahe, das Motiv der Abfassung in dem wichtigsten
gleichzeitigen Ereigniss zu suchen, und dies war ohne Frage
die Entsetzung des Herzogs Tassilo von Baiem. In der That
finden wir diesen Vorgang nicht allein mit allen Nebenum-
ständen in ungewohnter Ausführlichkeit zu den Jahren 787
und 788 dargestellt, sondern es kann uns, einmal den Blick
hierauf gerichtet, auch kaum entgehen, wie von Anfang der
Annalen an das Verhältniss Baiems zum Frankenreiche mit
Giesebrecht : Die fränkischen Königsannalen, 195
besonderer Sorgfalt beachtet und vor Allem die Lehnsabhängig-
keit des baierischen Herzogs mit einer gewissen Absichtlichkeit
hervorgehoben wird.
Schon 743 wird eines Kampfes zwischen dem Baiem-
herzog Odilo nnd den Frankenkönigen gedacht, dann 748 die
Einsetzung Tassilo's per beneficium berichtet. Die Annalen,
sonst in diesen Anfangen einsilbig genug, melden sehr aus-
führlich, wie dann Tassilo 757 vor Pippin zu Compiegne er-
•scheint und den Vasalleneid erneuert. Dass der Herzog die-
ses Eides vergisst und beim Zuge gegen Aquitanien das Heer
Pippin's verlässt, vergisst darauf nicht der Annalist z. J. 763
mit grosser Schärfe hervorzuheben; man weiss, wie dieses Ver-
gehen noch nach langen Jahren für Tassillo verhängnissvoll
wurde. 781 begann das zuerst freundliche Verhältniss zwischen
Karl d. Gr. und Tassilo schwierig zu werden; Karl und der
Papst schickten damals Geschenke an den Herzog und diesen
gelingt die Herstellung des guten Vernehmens. Auch hierüber
wird in den Annalen ausführlich gehandelt; die Namen der
Gesandten finden sich genau verzeichnet. Schon wenige Jahre
nachher brach der Unfriede von Neuem aus; 787 sandte
Tassüo den Bischof Arno von Salzburg und den Abt Hunrich
von Monsee nach Kom, damit der Papst eine Ausgleichung
vermittele. Von den Verhandlungen dieser Gesandten mit Karl
und dem Papste gibt uns der Annalist die genaueste Kunde,
wie sie nur von den unmittelbar bei denselben betheiligten
Personen ausgehen konnte. Die Ereignisse, welche zum Sturz
Tassilo's führten, werden dann, wie bereits erwähnt, mit aller
Ausführlichkeit erzählt, und der Verfasser schliesst seine Arbeit
mit dem Bericht über die Avarenkämpfe des Jahres 788, welche
durch die Intriguen Tassilo's »und seines böswilligen Weibes,
der Gott verhassten Luitberga« erregt sein sollen. Wie oft
der Annalist nun auch inmitten von andern Dingen erzählt,
nicht von ferne werden sie mit der Sorgfalt und dem persön-
lichen Interesse dargestellt, wie die baierischen Angelegenheiten ;
13*
196 Jahrb. der histor. Clasfte der k, Akaä, der WiseemchafUn,
die Hinweisung auf Tassilo's Lehnseid nnd die Folgen dea*
selben hält gleichsam die ganze Erzählung zusammen, wie der
Refirain die Strophen eines Liedes.
Dass der Annalist tief in die Verwickelungen, welche zu
Tassilo's Sturz führten, eingeweiht war, dass er ein persönlicheg
Interresse an demselben hatte, und dieses Interesse zuerst zur
Abfassung der Annalen führte, dürfte Niemandem zweifelhaft
bleiben, der das Werk im Zusammenhang liest. Aber eben
so wenig kann darüber ein Zweifel obwalten, dass dasselbe
nicht nur ganz im Interesse EarFs d. Gr. , sondern auch
recht eigentlich für ihn geschrieben ist. Der König wird fast
immer mit den ehrendsten Beinamen geziert; er gewinnt unter
dem unmittelbaren Beistand Gottes und des heiligen Petrus
seine Siege. Seine Niederlagen werden verschwiegen, wie z. B.
der üeberfall in den Pyrenäen, jeder zeitweise Erfolg der
sächsischen Waffen. Alles wird vermieden, was den König
unangenehm berühren könnte; der Streitigkeiten in der herr-
schenden Familie wird z. B. mit keinem Worte gedacht. Die
Darstellung von Tassilo's Sturz ist ausführlich genug, aber sie
ist ebenso parteiisch fär Karl, wie gegen den Baiemherzog.
Wer Karl nur nach diesen Annalen beurtheilen wollte, müsste
ein falsches Bild von ihm gewinnen.
Der Verfasser ist, wie aus jeder Silbe hervorgeht, ein
Geistlicher, doch hat sein Werk mehr eine politische, als kirch-
liche Tendenz. Vor allem zeigt er sich als Staatsmann und
Hofinann, dem an der Gunst seines Königs Alles gelegen ist;
sie soU erhalten, vielleicht erst gewonnen werden. Die Schreib-
art, welcher sich der Annalist bediente, mochte ihn weniger
empfehlen, als der Inhalt seines Werks; er schreibt noch in
jener verdorbenen Latinität, welche sich im siebenten Jahr-
hundert als Geschäftssprache ausgebildet hatte und bis in
EarFs Zeiten sich fortschleppte, wo sie Alcuin mit seinen
Iteunden und Sdiülem endlich glücklich beseitigte.
Dass nun ein Werk dieser Tendenz und Beschaffenheit
Gieaebrecht: Die fränkischen Kanigsannalen. 197
vou einem Lorscher Mönch in seinem Kloster abgefasst sei,
ist wenig glaublich. Wir kennen andere Annalen, die zu der-
^Iben Zeit dort niedergeschrieben wurden und die von Pertz
unter dem Namen Annales Laureshamenses herausgegeben sind:
weder äusseiüch noch innerlich zeigen sie mit unserem Werke
die geringste Verwandtschaft. Die Existenz einer alten Hand-
43chrift desselben in Lorsch, die mit dem Jahre 788 schloss
und der dann später längere Notizen aus den E^osterannalen
bis 793 hinzugefügt waren, ^) beweisst nicht, dass die Königs-
annalen dort entstanden sind, sondern macht nur wahrschein-
lich, dass sie früh dorthin gelangten. Wie das geschah, ist
leicht zu begreifen. Tassilo verlebte in Lorsch seine letzten
Jahre, und Karl hatte kein geringes Interesse daran, dass
man das Schicksal des Baiernherzogs dort als ein selbstver-
schuldetes ansah, wie es die Annalen schildern.
Eher liesse sich annehmen, dass die Königsannalen von
Anfang an am Hofe Karl's niedergeschrieben seien, von An-
fang an gleichsam auf officieller Abfassung, wie es Bänke an-
gedeutet hat, beruhten. Nicht allein die Tendenz der Arbeit
würde sich so leichter erklären, sondern auch begreiflich sein,
woher der Verfasser über die letzten Vorgänge so wohl untere
richtet war. Dennoch wage ich den Verfasser nicht unter der
Hofgeistlichkeit zu suchen. Schon bestand zur Zeit, wo das
Werk entstand, die Hofschule, und die Karl unmittelbar mit-
gebende Geistlichkeit hatte von Alcuin und Paul WameMd's
Sohn doch schon mehr Verständniss für reine Latinität g^
Wonnen, als der Annalist zeigt. Die Ausdrucksweise der Gar
pitularien jener Zeit ist gerade nicht musterhaft, aber von der
Diction unserer Annalen doch sehr verschieden. Hätte Karl
(9) Eine Abschrift dieses alten Exemplars war in München in
der Bibliothek Ghurforst Maximilians I und wurde von Canisius (Lect.
ant. 111 p. 187) benutst. Weder das Lorscher Original noch die Man-
ebener Copie finden sich jetzt vor.
198 Jahrh. der histor. Classe der k. Akad. der Wissenschaften,
in seiner unmittelbaren Nähe einen Herold seiner Thaten ge-
sucht, er hätte in jedem Schüler Alcuins einen besseren Stilisten
gefanden. Auffällig wäre femer bei einem Schriftsteller des
Hofes die völlige ünbekanntschaft des Annalisten mit den
Fortsetzungen des Fredegar, die doch für der Hof eine Art von
ofificiellem Ansehen hatten. Endlich ist der Character der spä-
teren Fortsetzungen des Werks selbst, die unzweifelhaft am
Hofe entstanden und deutlich die officielle Abfassung verrathen,
so durchaus verschieden, dass mir unmöglich scheint, dass die
Entstehung des ganzen Werks eine gleichartige sei. Die spä-
teren Fortsetzungen «eigen jene Zurückhaltung persönlichen
ürtheils, jenen Schein objectiver Darstellung, der sich für
officielle Schriften eignet; in den Annalen bis 788 kann ich
Nichts von dieser Eigenschaft entdecken. Der Verfasser giebt
sich als den unbedingten Bewunderer Karl's, als den persön-
lichen Widersacher Luitberga's unverhohlen zu erkennen.
Und wo anders sollte man nun den Verfasser suchen, als
in dem Lande, mit dessen Verhältnissen er sich am genauesten
bekannt zeigt? unzweifelhaft war er ein Deutscher. Er zu-
erst gebraucht den Ausdruck Theodisca lingua und offenbar
in der Bedeutung seiner Volkssprache. Die Länder diesseits
des Rheins (Sachsen, Thüringen, Ostfranken) kennt er; von
ihren Schicksalen erzählt er mit Vorliebe. Besonders aber be-
schäftigt ihn, wie wir wissen, Baiem ; bei der Reise der Köni-
gin Berta nach Italien im Jahre 770 vergisst er nicht zu
bemerken, dass sie ihren Weg per Baioariam nahm. ^®) So
weist der Inhalt des Werks zunächst auf seine Entstehung
in Baiem hin, und nicht minder die Diction desselben. Die
litterarische Beschäftigung war damals hier schon reger, als
in den andern deutschen Ländern, aber von den Bestrebungen
Alcuin's und der Hofschule Hessen sich hier bis 795 nur ge-
(10) Schon dem Ueberarbeiter schien dies eine werthlose Notiz,
die er desshalb fortliess.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannalen. 199
ringe Einwirkungen verspüren. Erst damals schickte Arno
von Salzburg junge Leute zu ihrer wissenschaftlichen Ausbil-
dung nach Tours zu Alcuin, und der grosse Lehrer sandte
seinen geliebten Schüler Wizo (Candidus) nach Salzburg, um
dort zu lehren. ^^) So wurde für die granmiatisch-rhetorische
Bildung der Alcuinischen Schule allmählich auch in Baiem der
Boden bereitet. Dass man aber dort um 788 noch den Stil un-
serer Annalen schrieb, zeigt das berühmte Güterverzeichniss der
Salzburger Kirche, welches Arno in demselben Jahre mit Zu-
stimmung Karl's durch den Diakon Benedictus abfassen Hess.
Arno selbst schrieb trotz seines früheren Aufenthalts in Gallien
noch ein durchaus barbarisches Latein, wie wir aus dem ein-
zigen Briefe schliessen müssen, der uns von ihm erhalten ist. ^*)
Wiederholentlich hat unsere Untersuchung schon auf die-
sen Mann geführt, der vordem Tassilo's Vertrauter war, dann
aber einer der ersten Günstlinge Karl's. In alle politischen
und kirchlichen Angelegenheiten jener Zeit tief verwickelt, hat
er zugleich, obwohl kein Gelehrter, für die Hebung des Bil-
dungszustandes in Baiem einen rühmlichen Eifer gezeigt; an
litterarischer Production, zumal wenn sie practischen Zwecken
diente, fand er, der Busenfreund Alcuiii's, grosses Gefallen.
Einen für jene Zeit beträchtlichen Handschriftenschatz sammelte
er in Salzburg. Ausser dem genannten Güterverzeichniss ver-
anlasste er die Zusammenstellung eines Formelbuchs, welches
erst neuerdings durch Eockinger bekannt geworden ist. ^')
Wir besitzen noch jetzt kurze annalistische Aufzeichnungen,
die in seiner Zeit in Salzburg entstanden sind. ^*) Mich will
bedünken, unter den Baiern jener Zeit gäbe es keinen, dem
(11) Alcuini Opera ed. Froben. Epp. 30. 55. 73. 76.
(12) Monumenta Boica XIV. p. 351.
(13) Quellen und Erörterungen Bd. VII.
(14) Annales Juvavenses majores et minores. Mon. Germ. Script.
I. p. 87—89. III p. 122. 123.
200 Jahrb. der kutor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
die Urheberschaft unserer Annalen passender beigemessen werden
dürfte 9 als ihm. Ob er selbst sie niederschrieb oder jenem
Diakon Benedictos oder einem andern Geistlichen seines Stifts
die Abfassung übertrug, darüber habe ich keine Yermuthung,
aber die stärkste, dass Arno als der eigentliche Urheber des
Werks zu betrachten sei, welches wahrscheinlich von Karl selbst
angeregt und sicherlich für ihn bestimmt war.
Vergegenwärtigen wir uns in den Hauptzügen den Lebens-
gang dieses einflussreichen Kirchenfürsten. Um 745 wurde
Arno, aus einer begüterten Familie, im Freisinger Sprengel
geboren und in Freising erzogen, wo sich der Bischof Aribo
(763 — 782) durch Pflege der Litteratur einen Namen machte.
Als Arno in die Mannesjahre trat, verliess er Baiem und ging
nach Gallien; ^^) es war in der Zeit, wo das Yerhältniss
zwischen Karl und dem Baiemherzog noch günstig stand.
782 finden wir Arno dann als Abt in dem Kloster des hl.
Amandus zu Elnon im Henuegau. Damals kam Alcuin an den
fränkischen Hof, und es wurden seiner Leitung die Abteien
zu Ferrieres (im Sprengel von Sens) und St. Lupus zu Troyes
übertragen. Alcuin und Arno näherten sich als Amtsgenossen
xrnd legten den Grund zu einer Freundschaft, die von Jahr zu
Jahr an Festigkeit und Innigkeit gewann. Die sprechendsten
Beweise des vertrauten Verhältnisses beider Männer besitzen
wir in Alcuin's Briefen an Arno, die aber leider erst mit dem
Jahre 790 beginnen. ^*) Die Freunde wurden bald getrennt.
Arno kehrte nach Baiem zurück und erhielt 785 das Bisthum
(15) üngewöhjjlich war das nicht. 756 starb der Bischof Wik-
bert von Tours, früher Abt von St. Martin in Köln ; er war Baier von
Geburt und ein Verwandter der Agilolfinger. Man rühmt ihm nach,
dass er mit eigener Hand Bücher abschrieb. Annales Petaviani.
Mon. Germ. I p. 18.
(16) üeber das Yerhältniss beider Männer zu einander sehe man
4en Aufsatz von H. Zeissberg in der Zeitschrift für das östereichische
Gymnasialwesen Bd. XIII.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannolen. 201
•
Salzburg. Tassilo, dessen Stellung zu Karl sich übler umd
übler gestaltete, mochte Gewicht darauf legen , einen mit den
MnMschen Verhältnissen so vertrauten Mann in seine N^e
zu ziehen; sicher ist, dass er ihn alsbald in den wichtigsten
politischen Geschäften gebrauchte. Als er ihn mit dem Abt
Hunrich von Monsee 787 an Papst Hadrian sandte, vertraute
^er ihm gleichsam seine Herrschaft und sein Leben an. Kad
und Hadrian haben jedoch in Bom offenbar mehr über Arno
vermocht, als das Interesse seines Herzogs. Der Papst rieth
Tassilo sich in aller Güte dem Gebot des mächtigen Frankenr
königs zu fagen, und man kann kaum zweifeln, dass Arno
nachdrücklich die Meinung des Papsts vor Tassilo unterstützte.
Aber Luitberga stachelte ihren Gemahl gegen den Franken-
könig auf, und Tassilo hatte bald zu beklagen, dass er ihren
Anreizungen Gehör schenkte. Wenn Baiern dann unmittelbar
unter fränkische Hoheit kam, hatte Arno dies am wenigsten
2u beklagen; schon besass er das Vertrauen des Frankenkönigs
und stieg dann in dessen Gunst mit jedem Jahre höher. In
den wichtigsten kirchlichen und politischen Geschäften brauchte
ihn Karl. Im Jahre 797 wurde er mit grossem Gefolge nach
Bom gesandt. Bedeutende Aufträge des Königs führten ihn
dorthin, ^^) zugleich aber betrieb er die Erhebung Salzburgs
zum Erzbisthum. Mit dem Pallium 798 heimkehrend, wandte
er sich dann der Bekehrung der Karantanen zu. Auch hierin
handelte er in Karl's Auftrag, und es steht wohl mit dem-
•selben in Zusammenhang, dass ihm der König per beneficium
das Kloster Innichen im Pusterthal übergab, welches bis da-
hin dem Bisthum Freising gehört hatte. **) Schon 799 geht
Arno abermals nach Bom, um Papst Leo HI zurückzuführen
(17) Roth, Feudalität und Unterthanenverband S. 110. Nioht
796, sondern erst im folgenden Jahre scheint Arno die Reise ange^,
getreten zu haben. Vgl. Annales Juvayenses minores.
(18) Roth a. a. 0. S. 94.
202 Jahrb. der histor, Glosse der k, ÄJcad, der Wissenschaften,
und die Händel desselben mit den Bömem beizulegen. Dann
erscheint er unter den ersten Missi dominici, nachdem dem-
Institute eine neue Bedeutung gegeben war. ^*) Wie tief er
in Karl's Absichten eingeweiht war, zeigen deutlich Alcuin'&
Briefe.
Mir scheint, alle Eigenthümlichkeiten unserer Annalen
lassen sich aus Amo's Persönlichkeit und Lebensgang unge-
zwungen erklären. Er stand dem fränkischen Hofe nahe, ohne-
ihm unmittelbar anzugehören; er war mit den Ländern dies-
seits des Rheins bekannt, aber hatte auch jenseits gelebt; die^
baierischen Verhältnisse waren ihm durchsichtig, wie kaum
einem andern, und er hatte das grösste Interesse sie gerade^
so darzustellen, wie es in den Annalen geschieht; er hatte
alle Veranlassung das Unheil Tassilo's dem bösen Weibe auf-
zubürden und »den mildesten, gütigsten, gnädigsten, fromm-
sten Herrn König Karl« *®) auf jeder Seite des Werks in dem
glänzendsten Lichte zu zeigen, jeden Makel zu verhüllen, der an
Karl's Regierung und dem Ruhme der Franken haftete. **)
(19) Auch hierauf scheint Aruo einen bedeutenden Einfluss ge-
übt zu haben, wie ein Brief Alcuin's an ihn aus dem Jahre 799 oder
800 (ep. 152) zeigt. Dort heisst es: Quod vero tua bona pro mul-
torum salute Providentia suadendum mihi censuit dulcissimo meo-
David de missorum electione, qui discurrere iubentur ad iustitias
faciendas, scias certissime, et hoc me saepius fecisse et suis quoque-
suadere consiliariis. Sed pro dolor! rari inveniuntur etc.
(20) Ganz in derselben Weise wird der domnus excellentissimus
piissimus rex Karolus in dem Congestum Amonis erwähnt. ,
(21) Man könnte einwenden, dass Arno nicht die Worte dea
Papstes gegen Tassilo's Gesandte z. J. 787 würde aufgezeichnet ha-
ben, worin ihnen Unbeständigkeit und Lügen vorgeworfen scheinen.
Aber diese Vorwürfe beziehen sich offenbar auf Tassilo und seine
Genossen, und schon Regino hat sie nicht anders verstanden. Aller-
dings schreibt der Annt^list so schlecht, dass grammatisch auch eine
andere Auffassung möglich ist und selbst der Umarbeiter der Annalen
sich täuschen liess.
Giesehrecht: Die fränkischen Königsannalen. 203
Noch ein Punkt scheint der Erwägung werth. Schrieb
der Annalist erst um 790, so muss man erwarten, dass er bei
der Natur seiner Bemerkungen, die bis etwa z. J. 772 meist
nur aus kurzen, chronologisch an einander gereihten Notizen
bestehen, einen Anhalt gehabt, dass er ältere Aufzeichnungen
benützt hat. Bemerkt wurde bereits, dass ihm die Fortsetzungen
des Fredegar, mit denen er viel mehr hätte leisten können,
nicht zu Gebot standen. Dagegen lassen sich zwei ältere
annalistische Werke nachweisen, die er benützt haben muss*
Es sind dies zuerst die Annales S. Amandi, theils aus älteren,
wahrscheinlich in Köln gemachten Aufzeichnungen bestehend,
theils im Amanduskloster selbst zu derselben Zeit niederge*
schrieben, als Arno dort Abt war. Sie sind ihrem Inhalt nach
ganz, oft auch in ihrer ursprünglichen Form in unsere Anna-
len übergegangen. Zweitens ist eine Compilation benutzt, in
welche die eben erwähnten, wahrscheinlich kölnischen Annalen
um das Jahr 780 mit anderen verbunden wurden, welche in
einem alamannischen Kloster begonnen und dann in Gorze
bei Metz fortgeführt waren; ^*) diese Compilation sind die so-
genannten Annales Petaviani, deren Entstehung ohne Zweifel
ebenfalls nach Gorze zu setzen ist.
Allerdings ist mit diesen beiden Annalen nicht alles Ma-
terial unserer Annalisten gegeben, aber doch das Meiste, was
er far die Anlange seiner Arbeit verwerthet hat. Manches
mochte er aus andern Quellen gewinnen, wie namentlich die
Angaben über das Hoflager der Könige zur Weihnachts- und
Osterzeit. Wie solche Notizen verbreitet wurden, sieht man
aus einer von Pertz entdeckten Handschrift des Klosters
S. Germain des Pros. **) Sie gehört dem Anfange des neunten
Jahrhunderts an und beginnt mit kurzen Notizen, die sich
erst auf das Bisthum Lindesfame, dann auf Canterbury be-
(22) Mehr hierüber im Anhang I.
(23) Mon. Germ. Script. IV p. 2.
204 Jdhrb, der histor. Glosse der k. Akad, der Wissenschaften.
ziehen; hieran schliessen sich Angaben über den Aufenthalt
Earl's an den Osterfesten von 782 bis 787. Diese Annsden
mit den Festangaben, deren Entstehung Pertz mit grösster
Wahrscheinlichkeit auf Alcuin zurückgeführt hat, sind nun wie
nach Paris, so auch zu Amo's Zeiten nach Salzburg gekommen
und dort fortgefährt worden. **) Ihre Notizen über die Feste
scheint mir nun auch der Verfasser unserer Annalen benutzt
zu haben, wenigstens weicht er nur bei einem Jahre (785) von
ihnen ab, und gewiss mit Becht. Jeden&lls standen ihm
aber noch andere Vermerke ähnlicher Art zu Gebote.
Die Quellen unserer Annalen weisen, wie man sieht, auf
die überrheinischen Gegenden, sie weisen bestimmter auf das
Amanduskloster und die Orte, wo Alcuin lebte. Wie gerade
Arno leicht in den Besitz solcher Quellen gelangen konnte,
zeigt sein Lebensgang; jeder andere deutsche Annalist würde
um das Jahr 788 wohl schwerer zu ihnen gelangt sein.
Als gesicherte Besultate unserer Untersuchung über den
ältesten grundlegenden Theil der Eönigsannalen (bis 788)
glaube ich ansehen zu dürfen, dass dieser Theil in einem
Zuge niedergeschrieben ist, dass bei demselben Au&eichnungen
aus den überrheinischen Gegenden benutzt wurden und die Ab-
fassung nicht im Kloster Lorsch erfolgte. Nicht minder sicher
scheint mir, dass der Verfasser in Deutschland schrieb und
das Motiv seiner Arbeit in der Aufhebung des baierischen
Herzogthums lag. Für sehr wahrscheinlich halte ich, dass
dieser Theil der Annalen in Baiem abgefasst wurde und Erz-
bischof Arno als der eigentliche Urheber des Werks anzusehen
ist. Lihalt und Form desselben weisen auf Baiem und jenen
klugen Ejrchenfürsten hin, der auf die Geschicke seiner Heimath
einen Einfluss übte, der kaum noch nach Gebühr gewürdigt ist.
(24) Annales Juvavenses maiores. Mon. Germ. Script. I p. 87.
Giesebrecht: Die fränkisehm Königsanntden. 205
Die Königsannalen schliessen in keiner der uns erhaltenen
Handschriften mit dem Jahre 788 ab, sondern sind in man-
chen bis 813 oder 814, in änderen bis 829, endlich in einer
bis 882 fortgesetzt. Da in diesen Fortsetzungen gleichzeitige
Ereignisse berichtet werden, liegt auf der Hand, dass sie nicht
nur zu verschiedenen Zeiten, sondern auch von verschiedenen
Ver&ssem niedergeschrieben sein müssen. Es sind demnach
mehrere nach einander entstandene Fortsetzungen zu unter-
scheiden, und zur Unterscheidung derselben können einerseits
die Handschriften, andererseits die Schreibart der Verfasser
und die Eigenthümlichkeit ihrer Darstellung dienen. Uns be-
schäftigen hier nur die Aufzeichnungen bis zum Jahre 829,
welche Pertz ffir das Werk eines Verfassers und zwar Ein-
hard's hält; in der Frage, ob sie ihm beizumessen und ob sie
überhaupt aus der Feder eines und desselben Schriftstellers
geflossen seien, wird sich die weitere Untersuchung zu con-
centriren haben.
Ein Zeugniss aus älterer Zeit lässt sich, wie bereits er-
wähnt, für einen umfänglichen Antheil Einhard's an unseren
Annalen anfahren. Dass dieses Zeugniss an sich nicht allzu
schwer in das Gewicht fallt, ist öfters bemerkt worden, und
auch Pertz würde sich durch dasselbe allein nicht haben be-
stimmen lassen, wenn ihm nicht Stil und Darstellungsweise
unserer Annalen von 788 bis 829 glaublich gemacht hätten,
dass sie von Einhard niedergeschrieben wären. Ob audi
wir die Ueberzeugung gewinnen, dass der Verfasser der Bio-
graphie Karl's und des Buchs von der Uebertragung der hei-
ligen Märtyrer Marcellinus und Petrus diese Fortsetzungen
insgesammt oder doch eine oder die andere derselben habe ab-
rissen können; das allein wird die Bedeutung bestimmen,
welche wir jenem alten Zeugniss beizulegen vermögen.
Denn wir haben hier, wenn wir die oben bezeichneten
Kriterien anwenden wollen, allerdings nicht von einer, sondern
von mehreren Fortsetzungen zu reden. Die Handschriften
206 Jahrb. der histor, Glosse der k, Akad. der Wissenschaften.
endigen zum Theil bereits 813 oder 814 und geben damit
schon äusserlich den Theil der Annalen von 813 oder 814 bis
829 als eine spätere Fortsetzung zu erkennen, und auch in dem
Abschnitt von 788 bis 813 ist Darstellung und Stil so un-
gleichartig, dass an eine gleichartige Abfassung der früheren
und der späteren Theile dieses Abschnitts nicht füglich zu
denken ist. Wir unterscheiden denmach drei Fortsetzungen
und fragen bei jeder einzelnen, ob sie Einhard beizumessen sei.
Es ist bereits bemerkt worden, dass sich die erste Fort-
setzung ziemlich genau in Auffassung und Schreibweise dem
ältesten grundlegenden Theil der Annalen anschliesst; Waitz
hält die Uebereinstinmiung für so grosg, dass er die Annalen
von 788 bis 795 noch demselben Verfasser zu vindiciren ge-
neigt ist, welcher bisher die Arbeit fortgeführt hatte, in keinem
Falle, meint er, könne dieser Theil der Annalen Einhard bei-
gelegt werden. L. Giesebrecht bemerkte schon fi^er eine
ähnliche Uebereinstimmung dieser ersten Fortsetzung, die er
sogar bis zum Jahre 800 ausdehnt, mit dem älteren Theüe des
Werks und meinte deshalb, dass auch sie noch in Lorsch
entstanden sei, wenn auch ein anderer Schreiber sie abgefasst
habe. Ich meinerseits glaube solche Uebereinstimmung bis zu
den Notizen des Jahres 796, wenn sich gleich ein Streben
nach grösserer Reinheit des Stils hier und da kundgiebt, deut-
lich wahrzunehmen. Die Verherrlichung Karl's tritt noch
immer als das wesentlichste Motiv der Abfassung hervor, und
Nichts weist darauf hin, dass der Verfasser unmittelbar am
Hofe geschrieben habe. Die Nachrichten sind überaus dürftig,
so dass sie auch der ohne Mühe erlangen konnte, der nicht
im Mittelpunkt der Dinge stand. So sehr Alles hier an die
älteren Annalen erinnert, so wenig steht es mit den späteren
Fortsetzungen in Harmonie ; Nichts deutet vor Allem auf jene
der Klassicität zustrebende Schreibweise des Einhard. Haben
unsere oben ausgesprochenen Vermuthungen Grund, so könnte
diese Fortsetzung recht wohl noch in Salzburg entstanden sein.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannalen. 2(71
Nirgends freilich finden sich bestimmtere Hinweisungen auf
den Ort der Abfassung, aber besonders werden doch auch hier
baierische Angelegenheiten — die Avarenkriege, die Arbeiten
am Main-Donaucanal, die Anlegung der Donaubrücke **) — be-
rührt oder doch am eingehendsten behandelt. So mochte Arno
auch diese Fortsetzung noch veranlasst haben, bei welchen er
sich wohl einer anderen Hand als früher bediente, wenn nicht
gar mehrere Schreiber nach und nach die Fortsetzung der
Annalen besorgten.*^) Diese mochte in Stocken gerathen, da
Arno 797 nach Born gesandt wurde und in den nächsten
Jahren selten und nur auf kurze Zeit in Salzburg anwesend
war. Mir erklärt sich so am leichtesten, dass man nun am
Hofe die Fortsetzung der Annalen aufiiahm, dass sie gleichsam
von diesseits des Bheins auf das andere Ufer des Flusses
übergingen.
Tragen die Annalen in ihrer Grundlage und ihrer ersten
Fortsetzung unseres Erachtens nicht eigentlich einen ofGicieUen
Character, so tritt dieser deutlich genug in der zweiten vom
Jahre 797 an hervor. Gleich in den ersten Worten identificirt
sich hier der Schreiber mit dem Reiche der Franken. *^) Alle
Angelegenheiten des Beichs werden mit gleicher Aufmerksam-
keit behandelt, aber den Mittelpunkt der Darstellung bildet
der königliche Hof, an dem sich augenscheinlich der Verfasser
selbst aufhielt. In grösster Objectivität wird scheinbar die
Darstellung gehalten, kein anderes Motiv tritt hervor, als die
Thatsachen möglichst treu in der Kürze aufzuzeichnen. Eine
Kritik wird weder an den Begebenheiten noch an den Personen,
am wenigsten am König geübt. Ehrende Beinamen werden
(25) Auffalliger Weise wird der überbrückte Fluss nicht näher
bezeichnet; erst der Ueberarbeiter hielt es für nöthig.
(26) Dass eine Handschrift d^ Annalen bis 796 zn Amo's Zeiten
in Salzburg vorhanden war, habe ich im Anhang II zu zeigen versucht.
(27) Barcinona nobis est reddita (797). Eburisum legatum
nostrum (798) u. s. w.
308 Jahrb. der hiHor. CUuse der \. Äkad. dar Wissenschaftm.
Uun nicht mehr gegeben; er wird schlechthin als der König-
nnd Kaiser oder auch als der Herr König und Herr Kaiser
bezeichnet. Auch hätte einem Schreiber, der gleichsam in dea
Königs Namen nnd nnter seinen Angen die Annalen fortsetzte^
jede Präconisimng desselben nicht wohl angestanden.
So viel sich bei An&eichnnngen dieser Art, die den per-
sönlichen Character des Autors wenig hervortreten lassen, ur-
theilen lässt, ist Alles von 797 bis 813 von einem Autor
abgefiisst. Die Nachrichten scheinen meist Jahr für Jahr
niedergeschrieben, bisweilen wohl auch nach längeren Zwischen-
räumen. *^) Die Diction ist klar und fliessend, ein&ch, ohne
trocken zu werden; sie nähert sich der klassischen Latinität
und erinnert im Oanzen unverkennbar an die Schreibart,
welche Einhard in seiner Lebensbeschreibung Kaii's anwandte.
Wie der Ausdruck zuweilen sogar im Einzelnen mit Stellen jener
Lebensbeschreibung übereinstimmt, hat bereits Simson '^) ge-
zeigt. Ich vermag Nichts in diesem Abschnitt des Werks zu
entdecken, was nicht der Verfasser der Vita Karoli recht wohl
geschrieben haben könnte. Zum Jahre 806 wird dieser ein-
mal selbst handelnd eingeführt, aber in so schlichter Weise,
dass man sich eher der Meinung zuneigen möchte, dass der
Schreiber hier von sich selber spräche, als dass er einer anderen
in hohen Ehren stehenden Persönlichkeit Erwähnung thue. •^)
(28) Die gleichzeitige Aufzeichnung tritt am deutlichsten zum
Jahre 606 hervor. Meist findet sich hoc anno, hoc tempore, bis-
weilen aber auch in illo tempore, wie zum Jahre 808. Die Wort»
am Schlüsse des Jahrs: Praeerat tunc temporis ecclesiae Bomanae
Leo tertius müssen ein späterer Zusatz sein. Leo starb erst 816
und bei seinen Lebzeiten können sie nicht wohl geschrieben sein ; sie
fehlen auch bei Regino.
(29) p. 39—42.
(80) Haec omnia litteris mandata sunt et Leoni papae, ut hia
soa manu subteriberet, per Einhardum missa. Die Worte p. E.
fehlen in einer alten Handschrift und bei Regino; sie könnten auch
späterer Zusatz sein.
Giesehrecht: Die fränicischen Königsanndlen. 209
Und doch erregt gerade die Lebensbeschreibung "KarVs
ein erhebliches Bedenken gegen die Ansicht, dass Einhard
diesen Theil der Annalen verfasst habe. Denn er sagt dort
in der Einleitung, dass er die Feder nur ergriffen habe, um
das Andenken seines Wohlthäters nicht der Vergessenheit an-
heimfallen zu lassen, und weil er nicht wisse, ob von Anderen
für dasselbe werde gesorgt werden. Konnte er so schreiben,
fragt man, wenn er selbst schon seit Jahren die wichtigsten
Thatsachen der Eegierung Karl's aufgezeichnet hatte ? L. Giese-
hrecht hält es für so unmöglich, dass er sich zu der Annahme
entschloss, die Annalen seien erst nach der Lebensbeschreibung,
also jedenfalls nach 814 von Einhard abgefasst; eine unhalt-
bare Annahme, da der Inhalt deutlich darthut, dass sie vor
dieser Zeit noch bei Lebzeiten des Kaisers niedergeschrieben
wurden. Wer die bezeichneten Worte Einhard's so versteht,
dass sie jeder früheren historischen Aufzeichnung von seiner
Seite über Karl widersprechen , muss nothwendig diesen Theil
der Annalen Einhard absprechen, und er könnte sich dann
auch wohl noch auf einzelne Abweichungen der Annalen von
der Lebensbeschreibung berufen, obwohl sie gerade in dieser
Partie sich am wenigsten auffällig zeigen. Das Letztere hat
besonders Frese gethan, der von der Meinung ausgeht, dass
Einhard in der Vita Karoli bereits die Annalen benutzt habe,
aber öfters von ihnen willkürlich abgewichen sei.
Man darf die bezeichneten Bedenken nicht unterschätzen,
aber für entscheidend kann ich sie dennoch nicht halten. Ob
Einhard der Verfasser dieser Portsetzung war oder nicht, jeden-
falls mussten ihm, da er am Hofe lebte und namentlich in die
litterarischen Verhältnisse an demselben tief eingeweiht war,
die Königsannalen, als er das Leben Karl's nach dessen Tode
schrieb, längst bekannt sein. Aber die Worte seiner Vorrede
zeigen, dass sie ihm nicht geeignet schienen, das Andenken
seines grossen Wohlthäters zu verewigen. Was sie boten,
mochte ihm nur als Material und grossentheils als recht rohes
14
210 Jahrb. der histor. Classe der k, Äkad. der Wissenschaften.
Material für die Geschichtsschreibung erscheinen. Sie wurden
wohl abgeschrieben und zur Befriedigung der Wissbegierde
auch verbreitet, aber sie konnten bei den Gebildeten jener Zeit
keinen Eindruck hinterlassen, da diese ohnehin jeder Production
der neuerstandenen Litteratur nicht gerade günstig waren, ^^)
und lange Dauer versprach gewiss Einhard selbst einem so
buntscheckigen Werke nicht, üeberdies gaben sie, nur die
äussern Kegierungshandlungen des Kaisers verfolgend, kein Bild der
gewaltigen Persönlichkeit Karl's, und gerade ein solches wünschte
Einhard vor Allem der Nachwelt zu erhalten. So lässt sich
erklären, dass er, obschon mit unseren Annalen bekannt, sie
für seinen Zweck nicht in Rechnung brachte; auch wenn er
selbst Antheil an der Abfassung derselben gehabt hatte, konn-
ten sie in seinen Augen deshalb keine andere Bedeutung ge-
winnen. So viel wir sehen, hat er sie bei Abfassung der
Lebensbeschreibung Karl's nich einmal zu Eath gezogen. Un-
erklärlich wären sonst die erheblichen Abweichungen von dem
ältesten Theil der Annalen, die meist zugleich Irrthümer Von
seiner Seite sind. Er glaubte seinem Gedächtniss in Bezug
auf die äusseren Lebensumstände Karl's trauen zu können, die
ihm ohnehin das Nebensächliche waren. Was Karl selbst ge-
wesen war und wie er vor den Augen der ihm Nahestehenden
gelebt hatte, das vor Allem sollte den kommenden Zeiten ver-
gegenwärtigt werden, und das meinte Einhard ohne Bücher
darstellen zu können.
Kaum bietet daher die Lebensbeschreibung Karl's einen
genügenden Grund, um Einhard die Autorschaft dieses Theils
der Annalen abzusprechen. Und die unleugbare Verwandt-
schaft des Stils, der sich in diesem Theil, und nur in ihm
allein, mit der Vita Karoli kuudgiebt, ist schwer zu erklären,
wenn Einhard nicht der Verfasser derselben gewesen sein
sollte. Denn man wird wohl nicht behaupten wollen, dass
(31) Ne nova quaeqae fastidientium animos offenderem.
Giesehrecht: Die fränkischen König sannalen. 211
Einhard's Ausdrucksweise die allgemeine der Schulgelehrten
jener Zeit gewesen wäre.
Das plötzliche Abbrechen der Annalen im Jahre 813 in
mehreren Handschriften zeigt, dass die Fortfuhrung derselben
beim Tode Karl's eine Unterbrechung erlitt. Erst etwas später
suchte man, wie es scheint, der Arbeit mindestens einen ge-
wissen Abschluss zu geben, indem man einige Nachrichten
^ber die letzten Zeiten Karl's hinzufügte. So schlössen die
Annalen mit dem Tode des Kaisers ab, und auch in dieser
Oestalt finden sie sich in manchen Handschriften.
Bald aber erhielt unter der Regierung Ludwig's des
Prommen das Werk eine neue, dritte grössere Fortsetzung.
Auch sie ist am Hofe verfasst und schliesst sich in vielem
Betracht gleichartig an die zweite an. Die Notizen zu den
ersten Jahren sind vielleicht in etwas längeren Zwischenräumen
niedergeschrieben; dann aber wurde das Werk Jahr für Jahr
bis 829 fortgesetzt, '*) wo die Wirren am Hofe dasselbe unter-
l)rachen. Dass diese dritte Fortsetzung von einem Schreiber
lerrührt, ist unzweifelhaft, aber fraglich, ob er dieselbe Person
mit dem Verfasser der zweiten Fortsetzung. Ungeachtet
gewisser Gleichartigkeit mit den früheren Aufzeichnungen zeigt
«ich doch ein bemerkenswerther Unterschied in der Auffassung
und Schreibweise. Der streng ofBcielle Standpunkt, der dort
festgehalten, wird hier nicht immer bewahrt; die persönliche
Ansicht des Schreibers wagt sich hervor, selbst in der Beur-
theilung des Kaisers. ^') Aufl^llige Ereignisse in der Natur
und im kirchlichen Leben, die mehr Interesse für den Schrei-
ber als für das Eeich hatten, werden mit ungehöriger Breit«
erzählt. Zugleich entbehrt der Stil der früheren Präcision und
(32) Deutlich zeigt sich dies bei den Jahren 823 und 825.
(83) Eminuit in hoc placito piissimi imperatoris misericordia
singularis (821). — Exercitus de Italia inPannoniam missus, qui re-
l)us parum prospere gestis infecto pene negotio regressus c^st (819).
U*
212 Jahrb. der histor. Glosse der Je, Akad, der Wissenschaften.
Sorgfalt;'*) es finden sich grössere Barbarismen, als in der
zweiten Fortsetzung. ^*) Gerade die Eigenschaften der Schreib-
weise, welche dort auf Einhard hinwiesen, scheinen hier zu
fehlen, und nicht etwa nur in den Notizen zu den letzten
Jahren, sondern auch in denen, welche zu derselben Zeit
aufgezeichnet sein müssten, als Einhard das Leben Karl'»
abfasste.
So möchte man sich der Meinung zuneigen, dass diese
dritte Fortsetzung nicht dem Verfasser der zweiten und vor
Allem nicht Einhard beizumessen sei. Aber doch bezieht sich
das einzige alte Zeugniss, welches wir für Einhard's Autor-
schaft an diesen Annalen besitzen, gerade besonders auf diesen
Theil derselben und legt ihm Notizen zum Jahre 826, die sich
hier finden, ausdrücklich bei. Es ist deshalb nicht zu ver-
wundem, wenn Alle, die diesem Zeugniss Glauben schenkten,
auch die Annalen bis 829 auf Einhard's Eechnung schrieben.
So vor Allen Pertz , welcher den Grund für die darauf ein-
tretende Unterbrechung der Arbeit auch in Einhard's persön-
lichen Verhältnissen sucht; weil derselbe sich zu dieser Zeit
ganz vom Hofe zurückgezogen, habe er die Annalen nicht
weiter fortführen können. Ich gestehe aber, dass mich gerade
jene Notizen, die Einhard so ausdrücklich zugeschrieben wer-
den, mit starken Zweifeln erfüllen, ob er diesen Theil des
Werks abgefasst haben könne.
(34) Sed antequam illuc veniret, id est cum adhuc domi esset
(815). — Sibi non solum nolenti, sed etiam plurimum renitenti pon-
üficatus honorem velut inpactum adseverat (817). — Instantia medi-
corom, qui ei curam adhibebant, summa celeritate convaluit ("81 7)
u. s. w.
(35) Bis zum Ueberdruss wiederholt sich die Anwendung des
dicitur und narratur. Ein Lieblingswort des Schreibers istimmane:
immane accusabatur (819), pestilentia immane grassata est (820).
Auffallig ist der Gebrauch des circiter bei Angabe bestimmter Daten
zum Jahre 816, 817 u. s. w. Nicht minder auffallig sind Wendungen,
wie copias lacerare (819), sacramentum consummare (821).
GieaebrechU Die fränkischen Königsannalen, 213
Jene Notizen zum Jahre 826 enthalten nämlich in breiter
Ausführung eine überschwängliche Anpreisung der Wunder-
thaten, welche bei den damals, durch den Abt Hilduin nach
Frankreich geschafften Keliquien des heiligen Sebastian zu
Soissons bemerkt sein sollten. Gewiss konnte Einhard, der
überaus wundergläubig war , diese Notizen schreiben , aber
schrieb er sie, so würde er sich auch über die Wunder, welche
man den damals von ihm selbst nach Frankreich geführten
Reliquien der heiligen Marcellinus und Petrus nachrühmte, in
5,hnlicher Weise ausgelassen haben, statt hierüber zum Jahre
827 eine viel kürzere und nüchternere Nachricht zu geben.
Nichts erfüllte ja in jener Zeit mehr seine Seele, als der Kuhm
dieser seiner Eeliquien; zu ihrer Verherrlichung schrieb er ein
Werk, welches an Umfang das Leben Karl's weit überbietet.
Wir wissen, wie Einhard manche Beschwerden gegen Abt
Hilduin hatte, wie er nicht ohne Eifersucht gegen ihn war
und sich nachzuweisen bemühte, dass seine Reliquien nicht
minder wunderthätig , als die zu Soissons, seien. Und nun
hätte er sich an einer Stelle, wo ihn Nichts dazu nöthigte,
noch dazu in einer Schrift von gleichsam officiellem Character
salbungsvoll über jene Wunder der fremden Reliquien ergehen
sollen, während er die Zeichen seiner eigenen Heiligen gleich
darauf nur im Vorbeigehen berührte? Wer Einhard's Schrift
über die Translation der heiligen Marcellinus und Petrus in
Erwägung zieht, wird sich davon schwer überzeugen.
Unsere Aünalen sagen über die Translation der zuletzt
genannten Heiligen nicht mehr, als im Jahre 827 seien ihre
Eeliquien aus Rom fortgeschafft, im Oktober nach dem Franken-
xeich gebracht und hätten dort viele Wunder vollführt. Man
liat nun überdies aus Einhard's Zeitangaben in der Schrift
über die Translation darthun wollen, dass selbst diese kurzen
Notizen noch irrige Bestimmungen enthielten und die Reliquien
bereits 826 von Rom nach dem Frankenreiche gekommen
seien. Wäre diese Berechnung sicher, so müsste man die
214 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften,
dritte Fortsetzung der Annalen unbedingt Einhard absprechen ;
denn gerade über diesen Vorgang war Niemand besser unter-
richtet als er. Auch nützt eine versuchte künstliche Inter-
pretation der Worte des Annalisten wenig, unter dem Franken-
reich hat man nämlich Mülinheim verstehen wollen, wo die
Keliquien, nachdem sie einige Zeit zerstreut waren, erst später
wieder vereinigt wurden; eine Erklärung, welche dem Sprach-
gebrauch der Zeit und Einhard's selbst zuwiderläuft^^) Aber
ich halte jene Berechnung keineswegs für so gesichert, um aua
ihr weitgehende Folgerungen zu ziehen. Auch die Annalen
von Fulda setzen die üebertragung der Eeliquien auf 827^
und sie schreiben hier nicht blind unseren Annalen nach, da
sie statt des Oktobers den Novembermonat für die Ankunft
derselben im Frankenreich angeben. ^'^) Freilich erwachsen da-
mit nur neue Bedenken gegen die Genauigkeit der Angabe in
unseren Annalen und damit .auch gegen Einhard's Autorschaft»
So spricht Vieles in dem Werke selbst gegen das alte
Zeugniss, welches gerade diesen Theil desselben mit besonderer
Bestimmtheit Einliard beilegt. Weniges meines Erachtens da-
für. Ich glaube, man hat allen Orund zu bezweifeln, ob diese
dritte Fortsetzung der Königsannalen aus Einhard's Feder ge-
flossen sei.
Nachdem das Annalenwerk bis zum Jahre 829 gediehen
war und bereits grössere Verbreitung gefunden hatte, wurde
es einer Umarbeitung unterworfen, welche besonders die frühe-
ren Partien betraf. Auch in dieser Umarbeitung sind die
Annalen noch in einer Eeihe von Handschriften enthalten*
(36) Vergleiche Simson, Ueber die Annales Einhardi Fuldensis
tmd Annales Sithienses (Jena 1863) S. 30.
(37) Mehr hierüber im Anhang III.
Giesehrecht: Die fränkischen Königsannalen, 215
Die Veränderungen sind bis zum Jahre 801 oft durchgi*eifend
genug, von da an aber äusserst geringfügig. Sie verrathen
die Hand eines nicht ungewandten Schreibers, und die ge-
sammte Darstellungsweise erinnert lebhaft an Einhard's Vita
Karoli und die letzten so eben besprochenen Fortsetzungen
unserer Annalen. Hieran liegt auch der wesentlichste Grund,
weshalb man auch diese Arbeit Einhard zugeschrieben hat.
Auf jenes oft erwähnte ältere Zeugniss würde man sich hier
nur dann mit Füg beziehen können, wenn sich darthun liesse,
dass der Verfasser der Translation des heiligen Sebastian die
Annalen nicht in ihrer ursprünglichen, sondern in dieser über-
arbeiteten Gestalt zur Hand gehabt habe.
Die Absicht bei der üeberarbeitung war, einmal die augen-
fällige Ungleichheit der Form möglichst zu beseitigen, um den
Inhalt des Werks so einem grösseren Kreise annehmlich zu
machen, dann aber auch manche wichtige Nachrichten hinzu-
zufügen, welche die älteren Annalisten entweder absichtlich
oder aus Unkenntniss verschwiegen hatten. So finden sich
gleich zum Jahre 741 sehr interessante Zusätze über die Em-
pörung des Grifo; dann wird zu 775 über eine Niederlage der
Franken durch die Sachsen berichtet, welche in den alten
Annalen gewiss nicht ohne Absicht verschwiegen war; auch
den Ueberfall des fränkischen Heeres in den Pyrenäen 778
trägt der Ueberarbeiter nach, da er wohl in gleicher Absicht-
lichkeit von dem alten Annalisten mit Stillschweigen bedeckt
war. Andere Zusätze zu den Jahren 782, 791, 793 beziehen
sich speciell auf den Grafen Theodorich, einen Verwandten
Karl's, über welchen der Verfasser besonders gute Nachrichten
besitzen musste; noch andere suchen die düiftigen Notizen
der ersten Fortsetzung von 789 bis 796 einigermassen zu
vervollständigen und dadurch mit dem Ganzen in grössere
Harmonie zu bringen.
Die Beschaffenheit der Zusätze zeigt, dass der Ueber-
arbeiter nicht schlecht unterrichtet war und noch von Personen
216 Jahrb. der histor, Glosse der k, Akad. der Wissenschaften,
aus Karl's Zeit Mittheilungen empfing. Die Nachrichten über
Theodorich kann er zwar nicht mehr von diesem selbst erhalten
haben — denn der Graf fand bereits 793 den Tod — aber
sie müssen von Personen herrühren, die ihm sehr nahe standen.
Den Eburis, der 798 als Karl's Gesandter bei den Abodriten
war, wird der Verfasser noch selbst gekannt haben, denn er
ergänzt nach den Mittheilungen desselben die Notizen der alten
Annalen. Manche höchst werthvoUe Nachrichten sind uns
durch ihn so allein erhalten worden, und obwohl diese Um-
arbeitung, wie Kanke nachgewiesen hat, an allen den Fehlern
leidet, welche abgeleitete Quellen zu bezeichnen pflegen, darf
man sie doch nicht gering schätzen. Vor Allem ist der
Standpunkt des Ueberarbeiters weit unbefangener, als der der
alten Annalisten.
Die Zusätze stammen aber nicht allein aus mündlicher
Tradition, sondern auch aus schriftlichen Aufzeichnungen. Im
Anfange des Werks scheinen mir die Fortsetzungen des Frede-
gar zu Käthe gezogen, namentlich zu den Jahren 759 und
760. In der ausführlichen Darstellung von den Misshandlungen
Papst Leo's 799 begegnet eine üebereinstinmaung mit den Annales
Laurissenses minores, die kaum zufällig sein kann. *®) Am augen-
fölligsten ist jedoch die Benutzung von Einhard's Vita Karoli,
welche zum nicht geringen Theil in die Annalen geradezu
hineingearbeitet ist. ^^) Wenige Beispiele werden das Verhält-
niss klar legen. Der alte Annalist übergeht, wie bereits er-
wähnt ist, den Ueberfall in den Pyrenäen im Jahre 778; der
Ueberarbeiter berichtet ihn, aber lediglich nach Einhard und
fast mit dessen Worten. *®) Der alte Annalist erzählt zum
Jahre 787 die Demüthigung und Unterwerfung Herzog Tassilo's
am Lech, als dieser sich den Vorschriften Karl's und des
(38) 753, 754 und 756 scheint der Liber pontificalis benutzt.
(39) Man vergleiche Simson de statu p. 44 etc.
(40) Vita Karoli c. 9.
Giesehrecht: Die fränkischen Königsannälen. 217
Papstes nicht fugen wollte; zum Jahre 788 berichtet er als-
dann, wie Tassilo, von Luitberga aufgestachelt, aufs Neue
schwierig geworden sei; unter anderen Beweisen seiner un-
treue führt er da eine Gesandtschaft an die Avaren an und
betrachtet als Folge derselben den noch in demselben Jahre
ausbrechenden Avarenkrieg. Sehr abweichend, ist Einhard's
Darstellung. *^) Nach diesen verband sich Tassilo auf Betrieb
der Luitberga, welche den Fall ihres Vaters rächen wollte, mit
den Avaren, um Karl anzugreifen; darauf überzieht ihn Karl
mit Krieg und nöthigt ihn am Lech zur Unterwerfung, be-
scheidet ihn aber alsbald an seinen Hof und lässt ihn nicht
mehr nach Baiern zurückkehren. Hier ist das Bündniss mit
den Avaren , welches vor den Ereignissen am Lech abge-
schlossen ist, der einzige Grund fär Tassilo's Demüthigung und
endlichen Sturz ; in den alten Annalen werden beide Ereignisse
anders begründet, von einem abgeschlossenen Bündniss mit den
Avaren ist nicht die Bede, nur von einer Beschickung dieses
Volks und zwar nach den Vorgängen am Lech. Beide Dar-
stellungen lagen dem üeberarbeiter vor, und er suchte sie zu
verbinden. Den Hergang der Dinge im Jahre 787 erzählt er
nach den alten Annalen, nur sie erheblich verkürzend und
hier und da einige Brocken aus Einhard einmischend. Erst
wo im Jahre 788 in den alten Annalen der Luitberga Er-
wähnimg geschieht f berichtet er dann über das Bündniss mit
den Avaren, aber hier folgt er nun ganz Einhard und sieht
in dem Bündniss auch in gleicher Weise die wesentliche Ver-
anlassung zu Tassilo's Sturz; nur dass er jenes Bündniss,
welches Einhard den Ereignissen am Lech vorangehen lässt,
in eine spätere Zeit verlegt. Wir erhalten so eine künstliche
Combination zweier abweichender Darstellungen, bei welcher
die Motive und die chronologischen Bestimmungen der Vor-
gänge vermischt werden und die in sich keine Gewähr hat.
(41) Vita Karoli c. 11.
218 Jahrb. der histor, Glosse der Tc. Äkad. der Wissenschaften.
Das Verfahren des Ueberarbeiters kann, wenn man seine
ganze Arbeit durchgeht, kaum einem Zweifel unterliegen.
Stützt sich sein Werk aber, wie mir unleugbar scheint, neben
den alten Annalen hauptsächlich auf die Lebensbeschreibung
Karl's, so folgt daraus, dass es jünger als diese sein muss,
dasselbe also weder, wie Frese annimmt, Quelle lur die Vita
Karoli sein, noch nach Kanke's Meinimg eine frühere Stufe
Einhardscher Geschichtsschreibung bezeichnen kann. Und darf
man nun überhaupt wohl Einhard eine solche Arbeit zutrauen,
bei welcher er sein früheres Werk gleichsam zerpflückt und
von Neuem zusammengesetzt hätte, bei dem er überaus mit
seiner eigenen früheren Darstellung mehrfach in Widerspruch
gerathen wäre?
Aber auch andere Gründe sprechen dafür, dass Einhard
nicht der Verfasser der überarbeiteten Annalen sein kann.
Dieser ging, wie kaum zu bezweifeln ist, erst nach 829 an
seine Arbeit; er verfasste sie, wie aus mehreren Stellen deut-
lich hervorgeht, jenseits des Kheins, *^) und Alles lässt
schliessen, dass er am Hofe Ludwig's lebte. Aber Einhard
verliess 830 den Hof und lebte fortan diesseits des Kheins,
meist zu Mülinheim dem Dienste seiner Reliquien hingegeben.
Und wie hätte er, der damals sein Buch über die Trans-
lation dieser Keliquien schrieb und nicht müde wurde von den.
Wundern derselben zu erzählen, gleichzeitig diese Umarbeitung
der Annalen herstellen können, in der sich durchweg ein gegen
die Wunder skeptischer Geist verräth. Man weiss, welche
Bedenken es schon damals erregte, dass Papst Leo bei dem
Aufstand der Eömer 799 Augen und Zunge verloren haben
sollte und doch später reden und sehen konnte. Einhard er-
zählt das wunderbare Ereigniss im Leben Karl's eben so gläubig.
(42) Conventum generalem trans Rhenum in villa Cuffesstein
habuit (795). Facta est eodem anno Irans Rhenum apud orientales
Francos adversus regem immodica coniuratio (785).
Giesehrecht: Die fränkischen Königsanndlen. 219
wie der alte Annalist; der Ueberarbeiter dagegen wahrt seine
eigene Ueberzeugung , obschon er Einhard's Worte wieder-
holt. *^) Die wunderbare Eröfl&iung des Bullerborn erzählt
der Ueberarbeiter den alten Annalen zum Jahre 774 nach,
aber nicht ohne auch hier den Zweifel durchblicken zu lassen.
Die Erzählung von den beiden Jünglingen in weissen Kleidern,
welche die tempelschänderischen Sachsen 774 bei Fritzlar in
die Flucht jagten, unterdrückt er Völlig. Wo der ältere
Annalist die Siege Pippins und Karl's dem Beistande Gottes
und des heiligen Petrus zuschreibt, schweigt der Ueberarbeiter
von jeder übernatürlichen Einwirkung. Doch genug, und viel-
leicht schon zu viel, um darzuthun, dass Einhard der Verfasser
der überarbeiteten Annalen nicht sein kann. Mit dem Buche
über die Translation, welches er in jener Zeit schrieb, zeigen
diese Annalen weder innere noch äussere Verwandtschaft, und
wenn sie mit dem Stil der Vita Karoli harmoniren, so ist
dies bei einem Autor wohl erklärlich, der dieses frühere Werk
Einhard's vor sich hatte und sich nach ihm bilden konnte.
Aber auch mit dem Verfasser der dritten Fortsetzung
des alten Werks möchte ich den Umarbeiter nicht identificiren.
Denn dieser strebt offenbar nach einer Eeinheit des Ausdrucks,
die wir jenem nicht nachrühmen konnten; auch scheint mir
die Auffassung der Wunder bei dem Ueberarbeiter wesentlich
eine andere, als wir in jener Fortsetzung finden, wo mit Vor-
liebe übernatürliche Erscheinungen berichtet werden. So bleibt
uns der Ueberarbeiter ausser aUem unmittelbaren Zusammen-
hange mit dem ursprünglichen Werk; er bleibt uns zugleich
ein Anonymus, wie der Autor einer anderen Verarbeitung,
(43) Erutis scilicet ocnlis linguaque amputata. Vita Karoli c. 28.
— Erutis oculis, ut aliquibus visum est, lingua quoque amputata.
Annales Einhardi 799. Ob man die Worte: ut aliquibus visum est
auf die Zeugen der Thatsache oder die Zeugen des Autors deutet,
jedenfalls zeigen sie, dass der Ueberarbeiter seine eigene Ansicht
zurückhielt.
220 Jahrb. der histor. Glosse der k, Äkad, der Wissenschaften.
welche bald nach Kaiser Ludwig's Tode gerade der letzte Thefl
der Königsannalen erfuhr, den der frühere Bearbeiter am
wenigsten angetastet hatte. Von dieser Verarbeitung müssen
wir noch einige Worte hinzufugen, da man ihrem anonymen
Urheber einen Antheil auch an unseren Annalen beizumessen
geneigt sein könnte.
Längst ist nämlich bemerkt worden, dass die anonyme
grössere Lebensbeschreibung Kaiser Ludwig's für die Zeit
von 814 bis 829 so genau unseren Annalen folgt, dass sie
nur als eine Bearbeitung derselben angesehen werden kann.
Der Verfasser spricht sich über seine Quellen in der Vorrede
aus: bis zur Thronbesteigung Ludwig's sei er den Mittheilungen
des Mönchs Adhemar, eines Jugendgeföhrten des Kaisers, ge-
folgt, für die folgenden Zeiten habe er dagegen berichtet, was
er theils selbst am Hofe erlebt, theils dort erkundet habe.
Man wird hierbei zunächst an mündliche Mittheilungen denken,
welche dem Verfasser am Hofe zugingen, und dass die Auf-
zeichnung derselben seine eigene Arbeit gewesen sei. Wäre
dies der Fall, so könnte die dritte Fortsetzung unserer Annalen
keinen anderen Verfasser haben, als Ludwig's anonymen Bio-
graphen. Denn zwei Erzählungen, die sich so genau ent-
sprechen, wie die seinige und die im bezeichneten Theile der
Königsannalen, können nicht selbstständig neben einander ent-
standen sein. Aber der Biograph Ludwig's kann schon aus
dem einen Grunde nicht der Verfasser jener Annalen sein,
weil in der Lebensbeschreibung eine ganze Keihe von Lt-
thümern offen darliegt, die sich nur aus Missverständniss und
flüchtiger Benutzung der Annalen erklären lassen. **) Es ist
ihm also ein fremdes Werk am Hofe mitgetheilt worden, und
die Erkundigungen, deren er in der Vorrede erwähnt, bezie-
hen sich nicht allein auf mündliche Tradition. Wenn er den
(44) Die Annahme Simson's a. a. 0. S. 55 ff., dass wir das Werk
nur in verderbtem Zustande besässen, halte ich für unbegründet.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannalen. 221
Autor des Werks nicht bezeichnet, so ist nicht an das ab-^
sichtliche Schweigen eines Plagiators zu denken; die Königs-
annalen waren das Werk mehi-erer Hände, sie waren bereits
zu einer oificiellen Quelle geworden, bei der es auf den Namea
des Autors wenig ankam. Hätte der Biograph Einhard für
den Urheber dieser Nachrichten gehalten, er würde einen sa
ausgezeichneten Gewährsmann kaum verschwiegen haben; er
erwähnt Einhard's in anderer Verbindung und bezeichnet ihn
da als den klügsten Mann seiner Zeit. *^) Nur bis z. J. 829
hat der Biograph die Königsannalen benutzt; vielleicht waren
ihm die späteren Fortsetzungen nicht zur Hand, vielleicht
glaubt er ihrer für die Zeiten, über welche er als Augenzeuge
berichtete, entbehren zu können. Die Umarbeitung, welche er
der dritten Fortsetzung angedeihen liess, ist, von manchen
nicht unwichtigen Zusätzen abgesehen, entschieden als eine
Verschlechterung, sowohl in Betreff des Inhalts als der Form,,
zu bezeichnen.
Das Brcsultat unserer Untersuchung über die sogenannten
Einhardschen Annalen lässt sich in folgenden wenigen Sätzen
zusammenfassen. Sie bestehen, soweit sie Fortsetzung der an-
geblichen Lorscher Annalen sind, aus drei verschiedenen Theilen.
Der erste bis 796 ist den älteren Aufeeichnungen gleichartig
und vielleicht gleich ihnen in Salzburg entstanden; keinenfalls
kann man ihn als eine Arbeit Einhard's betrachten. Der
zweite bis 813 ist am Hofe Karl's des Grossen und vielleicht,
ja wahrscheinlich durch Einhard niedergeschrieben. Der dritte
Theil bis 829, am Hofe Ludwig's des Frommen entstanden,
scheint einen anderen Verfasser als der zweite zu haben; es
ist gewagt, Einhard auch für den Autor dieser Fortsetzung
zu halten. Die Umarbeitung endlich des ganzen Werks, um
830 abgefasst, muss Einhard abgesprochen werden. Sie rührt
von einem Autor her, der Einhard's Buch über Karl den.
(45) Vita mudowici c. 41.
222 Jdhrb, der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
Grossen kannte, benutzte und seinen Stil nach demselben
bildete.
Unsere Untersuchung ist erst durch Pertz's Ausgabe un-
serer Annalen ermöglicht; sie geht von seiner Hypothese über
den Ursprung derselben aus und kehrt immer wieder zu seinen
Forschungen zurück. Er selbst hat zu weiteren Erörterungen
über die Geschichte dieses, für die Epoche Karl's des Grossen
so wichtigen Werk's ermuthigt. Möchte ihm, was wir hier
zu bieten vermochten, als eine nicht werthlose Portsetzung
seiner eigenen Arbeiten erscheinen!
Anhang.
I.
Quellen der Königsannalen.
Das Verhältniss der Königsannalen zu den Annales S.
Amandi und Petaviani wird aus einigen Beispielen klar werden.
Die Königsannalen 742. Quando Carlomannus et Pip-
pinus maiores domus duxerunt exercitum contra Hunoldum,
ducem Aquitaniorum, et ceperunt castrum, quod vocatur Luc-
cas eodemque anno Carlomannus Alamanniam vastavit.
Annales S. Amandi 742. Karlomannus duxit exer-
citum contra Chunaldum.
Annales Petaviani 742. Karolomannus perrexit in Wa-
sconiam. 743. Vastavit Karolomannus Alamanniam.
Die Königsannalen 750. Pippinus secundum morem
Francorum electus est ad regem et unctus per manum sanctae
memoriae Bonefacii archiepiscopi et elevatus a Francis in regno
in Suessionis civitate.
Annales S. Amandi 751. Pippinus in regem unctus est
apud Suessiones.
Annales Petaviani 752. Domnus Pipinus elevatus est
ad regem in Suessionis civitate.
Die Königsannalen 753. Pippinus rex in Saxonia iter
fecit, et Hildegarius episcopus occisus est a Saxonibus in Castro,
224 Jahrb. der histor. Glosse der Je. Äkad. der Wissenschaften.
quod dicitur Juberg, et tarnen Pippinus rex victor extitit et
pervenit usque ad locum, qui dicitur Eimie. Et dum reversus
est de ipso itinere, nuntiatum est ei, quod Grifo, qui in Wa-
sconiam fugatus est, germanus eins occisus fuisset. Eodemque
anno Stephanus papa venit in Franciam, adiutorium et sola-
cium quaerendo pro iustitiis sancti Petri; similiter et Carlo-
mannus, mohachus et germanus supradicti Pippini regis, per
iussionem abbatis sui in Franciam venit, quasi ad conturbandam
petitionem apostolicam.
Aunales S. Amandi 753. Hildegarius occisus est in
Saxonia. 754. Stephanus papa venit in Franciam.
Annales Petaviani 753. Pipinus rex in Saxonia, et
Childegarius episcopus defunctus est, et papa Stephanus venit
ab urbe Boma in Franciam, et Earolomannus post eum, et
filii eins tonsi sunt, et Grippo occisus est.
Klar ist, dass die Eönigsannalen den Inhalt der Petaviani
fast ganz in sich aulhehmen, sich aber im Ausdruck häufig
genauer an die Annales S. Amandi anschliessen. **) Die chro-
nologischen Differenzen sind theils auf Nachlässigkeit , theils
auf Verschiedenheit der Jahresrechnung zurückzufahren. —
Ueber den Ursprung jener Quellen unsers Werks, die
wir hier berührt haben, erlauben wir uns, da derselbe noch
nicht hinreichend erläutert zu sein scheint, einige Bemer-
kungen anzufügen.
Die Annales S. Amandi und Petaviani haben eine ge-
meinsame Quelle in älteren Annalen, die mit grösster Wahr-
scheinlichkeit im Kölnischen entstanden sind, vielleicht in dem
(46) Dass die Annales S. Amandi neben den Petaviani selbst-
standig benutzt sind, zeigt auch die Notiz der ersteren über den
zweiten Feldzng Pippin's 767 nach Aqxiitanien. Dort heisst es: et
itefum in mense Augusto ; in den Eönigsannalen : et in eodem anno
in mense Angusto iterum perrexit. Die Annales Petaviani haben von
diesem zweiten Zuge keine Nachrichten.
Giesfibrecht: Die fränkischen Königsannälen. 225
Schottenkloster St. Martin in Köln selbst, einer Stiftong
Pippin's von Heristall. Auf Köln weisen bestinnnt die No-
tizen z. J. 713, 716, 753, auf Verbindungen mit Pippin und
seinem Geschlecht die ganze Natur der Aufeeichnungen hin.
Die Notizen dieser alten Annalen reichten bis 771. Sie kamen
nach St. Amand und wurden hier etwas umgearbeitet und
fortgesetzt. *^) Gleichzeitig gelangten sie auch nach dem
Kloster Gorze, wo man sie mit ähnlichen Aufzeichnungen,
obschon ganz anderen Ursprungs, verband. Die letzteren be-
ginnen nämlich mit dem Jahre 703 und beziehen sich Anfangs auf
irisch-angelsächsische Klöster, fassen aber bald die Angelegen-
heiten der Fippiniden, des Frankenreichs und besonders die
alamannischen Verhältnisse in das Auge. Zum Jahre 736
erwähnen sie den Tod des Bischöfe Audoin von Konstanz, und
im Konstanzer Sprengel dürften sie entstanden sein, vielleicht
in Beichenau, einer fränkischen Stiftung auf alamannischem
Boden. ^^) Um das Jahr 760 verschaffte man sich diese ala-
mannischen Annalen im Kloster Gorze bei Metz und gab ihnen
einmal hier eine selbständige Fortsetzung bis 777,*®) zugleich
aber verarbeitete man sie hier mit den vorhin erwähnten Kölner
Annalen. Diese Compilation findet sich nun in den sogenannten
Annales Petaviani , ^®) welche dann — es erhellt nicht deut-
(47) Die Annales Tiliani &ind in ihrem ersten Theil nur Kopie
der Annales S. AmandL Die Annales Sangallenses Baluzii (Mon.
Germ. Script. I p. 63) scheinen dagegen das Kölner Original selbst
vor Augen gehabt zu haben. In den Annales Laubacenses ist Ver-
schiedenartiges yerarbeitet; nicht allein diese Annalen von S. Amand
sind benutzt, sondern auch andere Aufzeichnungen aus demselben
Kloster (Mon. Germ. II p. 184).
(48) Kettberg, Kirchengeschichte Deutschlands II S. 120.
(49) Man siehe die Jahresberechnung zu 777 in den Annales
Mosellani.
(50) Dass die Annales Petaviani in Gorze entstanden sind, zeigen
die Notizen von 765 bis 769.
15
226 Jahrb, der histor, Glosse der Je, Äkad, der Wissenschaften.
lieh, wo — von 772 bis 799 ebenfalls eine neue Fortsetzung
erhielten und in dieser Gestalt weitere Verbreitung in den
westlichen Theilen der fränkischen Monarchie fanden. Eine
Handschrift gelangte nach Tours und wurde dort glossirt,
eine andere nach dem Sprengel von Eouen. ^*) Unsere Königs-
annalen kennen nur die Compilation bis 771.
Die alten alamannischen Annalen mit der in Gorze ent-
standenen Fortsetzung nahmen dagegen ihren Weg über den
Khein und verbreiteten sich in den Ostländem des fränkischen
Eeichs. Um 777 besass man sie in dem Gorze so nahe
stehenden Kloster Lorsch; sie wurden hier fortgeführt bis 785 ^*)
und erhielten dann, weiter verbreitet, in den Maingegenden,
wahrscheinlich in Würzburg, ihren Abschluss. In dieser ihrer
letzten Gestalt sind sie neuerdings durch Lappenberg bekannt
geworden.*^) Lappenberg hat sie Annales Mosellani genannt,
doch recht wohl lässt sich noch erkennen, wie die einzelnen
Fortsetzungen nach einander in Alamannien, in Gorze und
Lorsch, endlich in den Maingegenden ^*) entstanden sind.
Aber diese Annalen, wie man sie von Gorze erhalten und
fortgeführt hatte, wurden in Lorsch zugleich zu einer eigenen
Klosterchronik benutzt, den sogenannten Annales Laures-
hamenses. Einzelnes aus den älteren Annalen wurde hier fort-
gelassen, manche für Lorsch bedeutsame Notiz hinzugefügt
und dann das Werk über 785 noch für einige Zeit fortge-
fohrt. Die Annales Petaviani haben nicht, wie man bisher
(51) Die Handschriften A. B. bei Pertz geben nur die Zusätze,
die sich auf Ronen beziehen. Man vergleiche die Notizen z. J. 755.
Die auf Tours bezüglichen Nachrichten finden sich in A. und B.
nicht, sondern nur in C. Vergleiche Mon. Germ. Script. III p. 170.
(52) Bis zu diesem Jahre reicht die Uebereinstimmung der An-
nales Mosellani und Laureshamenses.
(53) Monum. Germ. Script. XVI p. 494 sequ.
(54) Man sehe besonders die Nachrichten zu den Jahren 792, 793^
Giesehrecht: Die fränkischen Königsannalen. 227
angenommen, aus den Annales Laureshamenses, sondern beide
gemeinsam aus jener älteren Quelle geschöpft, die uns in
wenig getrübter Keinheit jetzt noch in den gleichfalls aus ihr
abgeleiteten sogenannten Annales Mosellani fliesst.
Die Nachrichten der Annales Laureshamenses bis 793
sind in die Lorscher Abschrift der Königsannalen und die
Annales Laurissenses minores übergegangen, nicht die späteren
Fortsetzungen, die mir auch nicht im Elos^r, sondern in Aachen
entstanden zu sein scheinen.
n.
Verhältniss der Königsannalen zu gleich-
zeitigen Salzburger Aufzeichnungen.
Bei der Annahme, die wir zu begründen suchten, dass
auf Arno von Salzburg der Anfang der Königsannalen zurück-
zuführen sei, ist das Verhältniss dieser Annalen zu Aufzeich-
nungen, welche sicher zu Amo's Zeiten in Salzburg gemacht
sind, nicht ohne Interesse. Es sind dies die Annales Juva-
venses maiores et minores, welche Pertz im ersten Bande der
Monumenta Germaniae p. 87 — 89 herausgegeben hat; nach
der in Würzburg vorhandenen Urschrift hat er später noch
wesentliche Verbesserungen mittheilen können. **)
Die Annales Juvavenses maiores schliessen sich an jene
kurzen historischen Aulzeichnungen an, die Pertz mit Alcuin
in Verbindung gebracht hat. *^) Was sie ausser den Angaben
(55) Monum. Germ. Script. III p. 122, 128.
(56) Siehe oben Seite 209, 204.
15*
228 Jährh. der histor, Clasae der h Akad, der Wissenschaften,
Über die Hoihaltung an den Festtagen für die fränkische Ge-
schichte enthalten, ist bis 769 meist auf die Annales S. Amaudi
zurückzufuhren, wie die kurzen Notizen zu 743, 763, 768. ^')
Einzelnes von besonders baierischem und salzburgischem In-
teresse ist dann noch hinzugefügt. Bis zum Jahre 806 sind
die Aufzeichnungen regelmässig fortgesetzt, dann sind später
noch einzelne Notate gemacht. Ueber die Beziehung dieser
Annalen zu den Königsannalen lässt sich schwer urtheilen,
da die Bemerkungen meist zu einsilbig und farblos sind. Wo
sie vom Jahre 798 etwas ausführlicher werden, zeigt sich
durchaus keine Verwandtschaft mit den Königsannalen, die
damals schon sicher am Hofe fortgesetzt wurden.
Ergiebiger für unsere Untersuchung sind die im Jahre 816
abgefassten Annales Juvavenses minores. Sie sind, von sehr
wenigen Notizen abgesehen, **) bis 796 nur eine freie Com-
pilation aus den Annales Juvavenses maiores und unseren
Königsannalen. Zum Jahi-e 743 heisst es: Carolomannus et
Pippinus pugnabant contra Baioarios nach den Königsannalen:
Carlomannus et Pippinus contra Odilonem ducem Baiovariorum
inierunt pugnam. Zum Jahre 747 schreibt der Salzburger
Annalist: Carolomannus perrexit Bomam et monasterium in
Zirapti construxit nach den Königsannalen : Tunc Carlomannus
Eomam perrexit, ibique se totondit et in Serapte (nach einer
anderen Handschrift Sirapti) monte monasterium aedificavit.
Zum Jahre 796 wird bemerkt: Pippinus in Pannonia ad Hringe,
und die Königsannalen berichten, wie Pippin nach Pannonien
mit einem Heere geschickt und dies dann sich festgesetzt habe
(57) Die Notiz zu 742: Natus est Carolas findet sich ebenso in
den Annales S Amandi breves (Mon Germ. II p. 184).
(58) Die Notiz z. J. 786: Signum crucis apparuit in vestimentis
hominum findet sich aufiFalliger Weise ebenso in den Annales Laures-
hamenses, die sonst keine Verwandtschaft seigen.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannalen, 229
in Hringo. ^^) Von den späteren Fortsetzungen der Königs-
annalen, die am Hofe abgefasst wurden, hat dagegen auch
dieser Annalist nicht den mindesten Gebrauch gemacht. Ich
halte hiernach den Schluss für berechtigt, das» zu Arno's Zeit
eine Handschrift der Königsannalen in Salzburg war, welche
den grundlegenden Theil des Werks und die erste Fortsetzung
desselben bis 796 enthielt. War auch die spätere Fortsetzung
bis 813 dort bereits im Jahre 816 bekannt, so liess sie der
Annalist mindestens unbenutzt.
m.
Die Chronologie in Einhard's Schrift
über die Translation der Heiligen Marcellinus
und Petrus.
Die Worte der Königsannalen z. J. 827: Corpora bea-
tissimorum martirum Marcellini et Petri de Roma sublata et
Octobrio mense in Franciam translata hat man zu Einhard's
Zeiten nicht anders verstanden, als dass die Eeliquien der ge-
nannten Heiligen 827 von Rom fortgeschafft und im October
desselben Jahres in Frankreich angekonunen seien. So die
Fuldaer Annalen, die nur statt des October, ohne Zweifel in
der Absicht zu verbessern, den November setzen. So der Ver-
fasser der grösseren Lebensbeschreibung Kaiser Ludwig's, wel-
cher die Notiz der Königsannalen noch etwas weiter ausfuhrt.
(59) Mit dem Jahre 796 scheint der Schreiber zuerst seine Ar-
beit beendet zu haben; die regelmässig am Schluss wiederkehrenden
Jahresberechnungen hören hier auf.
230 Jahrb. der Mstor. Glosse der h Äkad, der Wissenschaften.
Man hat aber neuerdings, auf Einhard's eigenes Buch
über diese Translation gestützt, erweisen wollen, dass dieselbe
bereits 826 erfolgt sei, und hielt sich dann entweder für be-
rechtigt, die Autorschaft an den Königsannalen Einhard völlig
abzusprechen oder wandte sich, wenn man diesen Schluss nicht
ziehen wollte, zu einer künstlichen Auslegung der angegebenen
Worte. Sie sollten sich nicht auf die Ankunft der Reliquien
im Frankenreiche, sondern auf die schliessliche Beisetzung des
Beliquienschatzes in Mülinheim beziehen. Aber diese erfolgte
nach den Fuldaer Annalen erst nach Ostern 828 , und jeden-
falls war der Verfasser der Fuldaer Annalen, ^®) der uns zum
Jahre 836 von dem Besuch Kaiser Ludwig's in Mülinheim
allein Nachricht gegeben hat, über die dortigen Vorgänge nicht
schlecht unterrichtet.
Nur völlig zwingende Gründe können deshalb meines Er-
achtens von der Angabe der alten Quellen abzugehen berech-
tigen, und es ist mir sehr fraglich, ob solche Einhard's Buch
über die Translation der erwähnten Heiligen darbietet.
Einhard erzählt nämlich hier, wie er zu Aachen am Hofe
des Kaisers einen rönüschen Diakonen, Namens Deusdona,
habe kennen lernen und mit ihm über die Translation des
heiligen Sebastian und die Vernachlässigung der Reliquien in
Gespräch gerathen sei: er selbst habe dabei den Wunsch zu
erkennen gegeben für die von ihm erbaute, aber noch nicht
geweihte Kirche zu Michelstadt römische Reliquien zu er-
halten. Nach einigem Zaudern erbietet sich Deusdona Heiligen-
gebeine, die er bereits zu Rom besitzt, Einhard gegen eine
angemessene Belohnung abzulassen, und dieser entsendet mit
ihm seinen Notar Ratleik nach Rom, um in den Besitz jener
(60) Er wird bekanntlich ebenfalls Enhard oder Einhard ge-
nannt. Schwerlich ist dabei an den berühmten Geschichtsschreiber
zu denken, eher mit Pertz an einen Fuldaer Mönch dieses Namens,
über dessen Person uns freilich Nichts weiter bekannt ist.
Giesebrecht: Die fränkischen Königsannalen. 231
Keliquien zu gelangen. Deusdona und Eatieik reisen von
Aachen ab und nehmen ihren Weg zunächst nach Soissons;
hier eröfl&iet Deusdona dem Abt Hilduin Aussichten auf die
Eeliquien des hl. Tiburtius, und Hilduin giebt ihm einen
Priester, Namens Hun, zum Begleiter, der die Eeliquien des
hl. Tiburtius nach Soissons schaffen soll. Man setzt dann die
Eeise nach Eom in möglichster Eile fort, wird aber einige
Zeit durch die Erkrankung eines Dieners Eatleiks aufgehalten.
Als man am Ziel der Eeise angekommen ist, nimmt man im
Hause des Deusdona Wohnung , bemerkt aber endlich , dass
dieser die versprochenen Eeliquien gar nicht besitzt und Einhard,
wie Hilduin, mit falschen Vorspiegelungen betrogen hat. Durch
einen glücklichen ZufaU entdeckten indessen Eatieik und sein
Begleiter bald darauf das gemeinsame Grab der HH. MarceUinus
und Petrus; nach dreitägigem Fasten gehen sie, von Deusdona
unterstützt, an die Oeffnung des Grabes, und es gelingt ihnen
die Gebeine des hl. MarceUinus herauszuheben, welche dann
in den Gewahrsam des Deusdona gegeben werden. Deusdona
rieth Eom nun schnell zu verlassen, aber Eatieik will sich
auch noch die Gebeine des hl. Petrus aneignen, Hun nicht
ohne die Eeliquien des hl. Tiburtius, dessen Grab man bisher
vergeblich zu öflFnen gesucht hatte, zu Hilduin zurückkehren.
Nach einiger Zeit gehen deshalb beide wieder bei Nachtzeit
zu den Gräbern, nur von ihren Dienern begleitet, und Eatieik
erreicht seinen Zweck, während Hun das Grab des hl. Tibur-
tius auch jetzt nicht zu öfl&ien gelingt. Eatieik tritt endlich
einigen Aschenstaub, den er bei dem hl. Petrus gefunden, an
Hun ab und weiss ihn zu überzeugen , dass dieser vom M.
Tiburtius herrühre. Eatieik lässt sich nun die Gebeine des hl.
Marcellinus von Deusdona zurückgeben und beschliesst mit
seinen Schätzen aufzubrechen. Die Eeliquien, wohl verwahrt
und versiegelt, sendet er mit Hun und dem Bruder des Deus-
dona nach Pavia voraus; er selbst bleibt noch sieben Tage in
Eom, um zu hören, ob über sei^en Bß^ub Nichts verla^ut^t sei,
232 Jahrb. der histor, Glosse der h Äkad, der Wissenschaften.
reist dann mit Deusdona nach und findet in Pavia die Reli-
quien mit ihren Begleitern. Indessen verbreitet sich das Ge-
rücht, dass eine Gesandtschaft vom Papst an den Kaiser über
Pavia konune. Man geräth in neue Besorgniss entdeckt zu
werden und beschliesst endlich, Hun solle mit Deusdona schnell
nach Soissons voraneilen, Batleik aber mit dem Beliquienschatz
in Pavia verweilen, bis die Gesandten die Stadt passirt hätten,
und dann ihnen nachkommen. Jene machen sich auf den Weg
und kommen nach Soissons. Batleik dagegen, bereits voll Miss-
trauen gegen Hun und Deusdona, beschliesst mit seinen Keli-
quien ihnen nicht zu folgen, sondern einen andern Weg ein-
zuschlagen, und unterrichtet davon Einhard durch einen Boten.
Sobald er vemonunen hat, dass die päpstlichen Gesandten die
Alpen überschritten, bricht er dann von Pavia auf und ge-
langt am sechsten Tage nach S. Maurice. Dort legt er die
Gebeine in einen Sarg, setzt ihn auf eine Bahre und zieht
nun öffentlich nicht ohne Gepränge fürder.* Er verfolgt die
Strasse an den Genfer See, weiter nach Solpthum, wo ihm
schon Boten Einhard's begegnen, und Strassburg, wo man zu
Schiffe steigt;, bei einem Ort, der Portus genannt wird, steigt
er dann aus, und gelangt in fünf Tagereisen nach Michelstadt.
Einhard eilt jetzt selbst herbei, und manche Zeichen weisen
ihn darauf hin, dass die Reliquien an einen anderen Ort ge-
bracht werden müssten. Er entschliesst sich endlich dazu und
schafft die B.eliquien nach Mülinheim; dort kommen sie am
17. Januar an. Einhard trifft noch die noth wendigsten Vor-
kehrungen für die Aufbewahrung seiner Heiligthümer, dann
eilt er, durch ein königliches Schreiben berufe^^, nach Aachen.
Hier begegnet er dem Abt Hilduin und erfährt bald aus dessen
Munde, dass ein Theil der Reliquien des hl. Marcellinus ent-
wandt und nach Soissons gebracht sei ; der Diebstahl war ge-
schehen, als Ratleik in Rom diese Reliquien der Obhut des
Deusdona anvertraut hatte. Nach längerem Zögern entschliesst
sich Hilduin Einhard sein Eigenthum auszuliefern und lässt
Giesehreckt: Die fränkischen Königsannälen, 233
die betreffenden Eeliquien von Soissons kommen. Acht Tage
oder darüber nach Ostern, als der Kaiser auf die Jagd
gegangen war, liefert er dann im Münster feierlich Einhard
die entwandten Reliquien aus, welche derselbe vorläufig in ein
Oratorium in seinem eigenen Hause zu Aachen bringt. Hier
geschehen zahlreiche Wunder, und das Gerücht derselben dringt
zu des Kaisers Ohren. Von der Jagd zurückgekehrt, lässt
dieser deshalb die heiligen Gebeine nach dem Münster zurück-
bringen und beweist ihnen hier seine Verehrung. Sobald es
aber Einhard möglich ist, schafft er seinen Schatz wieder in
sein Haus, wo derselbe noch vierzig Tage oder darüber
bleibt, bis der Kaiser sich wieder auf die Jagd begiebt und
der Hof Aachen verlässt. Da bringt Einhard unter grossen
Feierlichkeiten auch diese Reliquien nach Mülinheim, wo er
am sechszehnten Tage anlangt. Er bleibt daselbst bis zum
November, wo er nach Aachen zurückkehrt, nachdem er noch
zuvor die getrennten Reliquien wieder völlig vereinigt hatte.
Dies ist im Wesentlichen der Hergang der Dinge, wie
ihn Einhard berichtet, und Nichts scheint in demselben, was nicht
mit unseren sonstigen Nachrichen über die Zeit von Anfang des
Jahres 827 bis zum November 828 zusammenpasste. Die
Translation des hl. Sebastian war in den letzten Tagen des
Jahres 826 erfolgt. Der Kaiser feierte Weihnachten 827 mit
dem Hofe in Aachen und blieb dort mindestens bis in den
Februar. ^^) Dort konnte Einhard mit Deusdona zusammen-
treffen, und die Reise und Rückkehr Ratleiks mochten sich
dann nach allen berichteten Hindernissen leicht so lange ver-
zögern, dass erst im October oder November die Reliquien in
das Frankenreich kamen. Die von Ratleik heimgeführten Ge-
beine wurden am 17. Januar nach Mülinheim gebracht, und
gleich darauf eilte Einhard an den Hof nach Aachen , durch
ein königliches Schreiben berufen; wir wissen, dass Ludwig
dort im Februar 828 einen wichtigen Reichstag hielt. Lange
(61) Böhmer, R^esta Karolorum No. 886,
234 Jdhrb, der histor. Glosse der k, Akad, der Wissenschaften*
Zeit haben sich dann der Kaiser und Einhard in Aachen nach
unserem Bericht aufgehalten, mindestens bis gegen den Juni; ^*)
auch nach unseren anderen Berichten muss der Kaiser 828
bis zu diesem Monat, wo er nach Ingelheim zu einem Placitum
kam, in Aachen verweilt haben. Im Juli wird darauf Einhard
die von Hilduin erhaltenen Eeliquien nach Mülinheim geschafft
haben, wo er dann längere Zeit verweilte. Im November
musste er indessen nach Aachen zurückkehren. Wir hören in
den Königsannalen, dass der Kaiser dort um den 11. Novem-
ber 828 anlangte, den ganzen Winter hindurch in verschiede-
nen ßeichsversaimnlungen wichtige Begierungsangelegenheiten
erledigte und sich bis zum 1. Juli 829 in Aachen aufhielt.
Auch Einhard berichtet, ^*) wie er damals im November nach
Hofe gereist sei, habe der Kaiser mitten im Winter eine Ver-
sammlung der Grossen angesetzt, und klagt, dass er mit An-
deren damals ungebührlich lange in Aachen habe verweilen
müssen. Nur einer späteren Beise an den Hof im December
erwähnt er noch; **) sie fällt in das Jahr 829. Die letzte
Wunderthat, deren er in seiner Schrift über die Translation
gedenkt, ^*) setzt er in den August 830; bald nachher muss
er die Feder niedergelegt haben. Alles scheint in voller Ueber-
einstumnung zu stehen
Welches sind aber die aus Einhard's Schrift entnommenen
Gründe, welche auf die Meinung führten, dass die Translation
des heiligen Marcellinus und Petrus in das Frankenreich be-
reits 826 erfolgt, die Gebeine des hl. Petrus bereits im Ja-
nuar 827 nach Mülinheim gebracht, die entwandten Beste des
hl. Marcellinus nach Ostern dieses Jahres Einhard übergeben
(62) Ostern fiel 828 auf den 5. April; der Kaiser war nach Ein-
hard's Erzählung mindestens 50 Tage nach Ostern noch in Aachen.
(63) Man vergleiche § 31, 33, 44, 45, 46 nach der Ausgabe von
Teulet.
(64) § 56.
(65) § 93.
#
Giesebrecht: Die fränkiacken KönigsanncLlen, 235
seien? Am vollständigsten hat sie 0. Abel zusammenge-
stellt, ^*) und wir werden sie, ihm folgend, beleuchten, indem
wir von den geringfügigeren zu den erheblicheren aufsteigen.
Abel macht geltend, dass Mnhard von einer Beise des
kaiserlichen Bibliothekars Gerward nach Nymwegen be-
richtet, ^'') die gerade in die Zeit fiel, als er selbst mit seinen
Beliquien in Aachen verweilte. Abel bringt damit die Nach-
richten über eine Beise in Verbindung, welche Kaiser Ludwig
nach unseren Königsannalen im Jahre 827 nach Nymwegen
machte; er schliesst daraus, dass die Beliquien 827, nicht 828
in Aachen waren. Aber aus Einhard's Worten selbst geht
hervor, dass nicht der Kaiser, ^®) sondern nur Gerward damals
nach Nymwegen reiste, und Niemand kann absehen, weshalb
Gerward nicht 828 eine Beise dorthin hätte antreten können.
Die Gesandtschaft des Papstes an den Kaiser, welche
Batleik in Pavia abwartete, meint Abel, sei keine andere, als
diejenige, welche nach den Königsannalen Ludwig im Juni 826
in Ingelheim empfing, und danach müsste man Batleiks Beise
in das Jahr 826 verlegen. Aber warum sollte nicht auch im
folgenden Jahre eine Gesandtschaft von Bom an den Kaiser
gegangen sein? Zweimal wurde schnell nach einander der
päpstliche Stuhl erledigt, und wir wissen mindestens, dass
über die Consecration Gregors IV zwischen Bom und dem
kaiserlichen Hofe unterhandelt wurde.
Noch grösseres Gewicht legt Abel darauf, dass Einhard
erzählt, *^) wie er auf seiner Fahrt an den Hof im Decem-
ber 829 bei Wiesbaden wieder an ein Kreuz gekommen, wel-
ches die Einwohner errichtet, als er vor zwei Jahren (ante
(66) Einhard's Jahrbücher in den Geschichtsschreibern der deut-
schen Vorzeit S. 160-162.
(67) § 67.
(68) Einhard erzählt, wie Gerward erst in Aachen den Kaiser sah.
(69) § 56.
236 Jahrh, der histor, Clasae der k, Äkad. der Wissenschaften.
biennium) dort mit den Eeliquien des hl. Marcellinus auf der
Heise von Aachen nach Mülinheim vorbeigezogen sei; diese
Beise müsse demnach bereits in das Jahr 827 fallen. Aber
Einhard konnte die Errichtung des Kreuzes nach der Zeit, wo
er schrieb {830), berechnen, und er berechnete sie dann ganz
genau. Oder er rechnete nach seinen Hofreisen nach Aachen
und schätzte die Vorgänge auf der vorletzten auf einen Zeit-
raum von zwei Jahren ab, obwohl dies nicht völlig der Wahr-
heit entsprach, denn nur etwa anderthalb Jahre lagen zwischen
seiner damaligen Beise nach Aachen und der Zeit, wo er die
Beliquien bei Wiesbaden vorbeiführte.
Erscheinen uns alle diese Gründe nicht sonderlich ge-
eignet, um die Chronologie unserer Quellen zu verlassen, so
ist dagegen der letzte, den man vorgebracht hat, wirklich
von Bedeutung. Es steht nämlich an einer Stelle der Trans-
lation ^®) mit klaren Worten zu lesen, dass Einhard Theile
der Beliquien der HH. Marcellinus und Petrus dem Abt
Georgius zu St. Sauve in Valenciennes während seines Auf-
enthalts in Aachen im vierzehnten Begierungsjahre Kaiser
Ludwigs abgelassen habe; das vierzehnte Begierungsjahr ist
aber unbestreitbar 827. Wäre diese Zeitangabe richtig, so
müssten allerdings die Beliquien schon 826 in das Pranken-
reich geschafft, schon Ostern 827 die Beste des hl. Marcellinus
Einhard in Aachen übergeben sein.
Dieze Nachricht stammt aus einem Theile von Einhard's
Schrift, wo er nach ihm zugegangenen Berichten Mittheilungen
über die Wunder macht, die bei einigen Beliquienparzellen,
die er verschenkt hatte, bemerkt waren. Nach drei Orten
hatte er solche Schenkungen gemacht, und die Empfänger
hatten sich beeilt, ihn durch Nachrichten über die Wunder-
kraft der Beliquien zu erfreuen. In Gent waren die heiligen
Gebeine am 3. Juli 828, wie £(,usdrücklich bemerkt wird, au-
(70) § 69,
GiesebrechU Die fränkischen Königscuimalen, 237
gekommen; bald erhielt Einhard ein ProtocoU über die bis
zum 25. September dieses Jahres dort eingetretenen Wunder,
welches er dann seinem Buche einzuverleiben nicht versäumte.
In Mastricht waren schon am 4. Juni 828 ''^) die von Ein-
hard geschenkten Eeliquientheile eingetroffen; die Mönche
überschickten ihm bald ein Protocoll über die bis zum
23. Juni dieses Jahres wahrgenommenen Wunderzeichen.
Die Keliquien endlich, welche Einhard dem Abt von St. Sauve
in Valenciennes geschenkt, gelangten am 22. Juni dorthin
und über die bis zum 25. Juli desselben Jahres bemerkten
Wunder erstattete der Abt einen Bericht , welchem die Notiz
entnommen ist, welche dafür entscheiden soll, dass die Beli-
liquien des hl. Marcellinus schon um Ostern 827 nach Aachen
gebracht seien. Nun scheint aber, diese Keliquienschenkungen
werden sänuntlich zu Aachen in derselben Zeit geschehen
sein, und die in ihnen erzählten Wunder gehören ebenso
derselben Zeit an. Wie die Wunder in Gent und Mastricht
ausdrücklich in das Jahr 828 gesetzt werden, dürften in
dieses auch die Wunder von St. Sauve fallen, und das
vierzehnte Eegierungsjahr in der Schrift des Abtes lediglich
auf einem Schreib- oder Kechnungsfehler beruhen ; es müsste,
wie schon längst vorgeschlagen, freilich dann das fünfzehnte
emendirt werden.
Wem dies zu gewagt erscheint, der wird allerdings bei der
Meinung verharren, dass Eatleik seine Eeise nach Eom be-
reits 826 gemacht habe und dass schon um Ostern 827 die
Beliquien des heiligen Marcellinus nach Aachen gebracht
seien. Aber er wird damit nur in andere unlösbare Schwierig-
keiten gerathen. Er muss annehmen, dass Deusdona und
Einhard bei ihrer ersten Zusammenkunft nicht von der Trans-
lation des heiligen Sebastian sprachen, sondern nur von der
(71) Dass diess Jahr gemeint ist, zeigen die Wochentage, die bei
den einzelnen Wundem angegeben sind.
238 Jährh. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
s
Absicht dieser Translation, die Hilduin hegte; er muss an-
nehmen, dass Kaiser Ludwig bis in die Mitte des Juni 827
zu Aachen verweilte, ^^) obwohl wir aus einer Urkunde vom
25. Mai dieses Jahres ^*) wissen, dass er bereits sich damals
in der Pfalz Tectis aufhielt, und früh von Aachen aufge-
brochen war, um Eeichsversammlungen in Nymwegen und
Compiegne zu halten. Mir scheinen diese Schwierigkeiten viel
grösser, als jene Aenderung der Zahl.
Nachdem so viel über Einhard hier gehandelt wurde,
kann ich nicht umhin darauf hinzuweisen, dass erst neuer-
dings ein höchst werthvoUes Zeugniss über sein Leben und
seine schriftstellerische Thätigkeit an den Tag gekommen ist.
Es ist die vollständige Vorrede des Walafrid Strabo zur
Lebensbeschreibung Karl's, von welcher Vorrede bisher nur
ein sehr schlechtes Excerpt bekannt war. '*) Diese Arbeit
Walafrids , genau entsprechend der ähnlichen aus seiner Feder
zu Thegans Lebensbeschreibung des Kaisers Ludwig, hat Pertz
im Archiv VIII S. 372, 373 zum erstenmal nach einer
Kopenhagener Handschrift in ihrer wahren Gestalt veröffent-
licht. Walafrid beklagt hier den jähen Verfall der Stu-
dien nach Karl's des Grossen Tode, und es scheint fast,
als ob die ebenso schnelle Erhebung der wissenschaftlichen
Bestrebungen zu Karl's Zeiten, wie ihr eiliger Kückschritt
nach seinem Heimgange sich auch in den verschiedenen Ab-
schnitten unserer Annalen an der Schreibart bemerken liesse.
Auch darin kann man die Königsannalen als ein Spiegelbild
der fränkischen Königsgeschichte betrachten.
(72) Ostern fiel 827 auf den 21. April.
(73) Böhmer, Regesta Karolorum No. 387.
(74) Mon. Genn. 11 p. 440.
IV.
Bauemland mit Bürgerrechten.
Von
W. H. Riehl
IV.
Bauemland mit Bürgerrechten.
1.
Die alten Gaunamen sind am Oberrheine, wie überhaupt
in Schwaben und Allemannien, noch vielfach gangbar ge-
blieben bis auf diesen Tag, obgleich das Gedächtniss der alten
Gauverfassung längst im Volksbewusstsein erloschen ist. Am
fränkischen Mittelrheine dagegen gibt es nur noch einen
Gaunamen: der Kheingau, mundartlich „das Einga.**
AUein wenn wir hier auch noch das alte Wort besitzen,
so bezeichnet es doch keineswegs mehr die alte Sache. Was
wir heute Eheingau nennen — die üferlandschaft des Eheines
von Walluff bis Lorch mit einem Stücke bergigen und waldigen
Hinterlandes — ist lediglich ein Bruchtheil vom westlichen
Grenzgebiete des alten Eheingaues. Der Name zog sich schritt-
weise auf einen immer engeren Eaum zurück. Die Geschichte
dieser steigenden Beschränkung im Sprachgebrauche fahrt uns
aber geradenweges in die Verfassungs- und Eechtsgeschichte
jenes Grenzwinkels, dem zuletzt der Name blieb; und da ich
es mir zur Aufgabe gestellt habe, den Zusammenhang der
socialen und wirthschafklichen Entwickelung des Eheingaues
mit seinen alten Eechten und Freiheiten zu schUdem, so kann
ich schon bei dem Namen, welchen der Eheingauer immer mit
16
242 Jahrb. der histor. Classe der k, Akad. der Wissenschaften,
besonderem Stolze fahrte und noch führt, den ersten Nachweis
dieses Zusammenhanges beginnen.
Der uralte Kheingau erstreckte sich auf dem rechten Ufer
des Stromes vom Lobdengaue bis zum Einrieb, d. h. von
Weinheim an der Bergstrasse bia unterhalb Lorch. Der Main
gliederte ihn in einen oberen und niederen Gau, die unter
besonderen Grafen standen. Der niedere Gau aber theilte sich,
vermuthlich später, wiederum in einen oberen und unteren
Theil: die Königshundrete (urkundlich zuerst 820 erwähnt)
und denJRheingau im engeren Sinne, der schon in den ältesten
Urkunden (seit 779) schlechthin „ßinegowe," pagus Sinensis
genannt wird. ^) Die Waldafife, ein Bach, welcher nach nord-
südlichem Laufe bei Walluff in den Ehein mündet, schied den
letzt bezeichneten Kheingau von der Königshundrete. Dieser
westliche Niederrheingau erscheint aber später, da er als ge-
schlossenes Ganze zum Mainzer Erzstifte gehörte, abermals in
einen Ober- und Niederrheingau getheilt (983), für welche
der Eisbach bei Oestrich die Scheidelinie bildete.
Alle diese Namen und Eintheilungen sind erloschen und
vom Volke vergessen bis auf jenen westlichen Niederrheingau,
den es auch heute noch, wie vor tausend Jahren, schlechthin
Eheingau nennt und, wie zur Zeit der Ottonen, in einen oberen
und unteren Gau gliedert. Ja es sind hier die alten Gau-
grenzen jetzt, wo sie keine politische Geltung mehr haben,
dennoch Grenzlinien in einem tieferen Sinne geblieben, Grenz-
linien des Volkscharacters. Denn der Eheingau ist nicht blos
ein besonderes Land, er herbergt auch besondere Leute.
Die auszeichnende Physiognomie des Eheingauers lässt
sich aber in ihren historischen Motiven wiederum nicht auf
die Zeit der uralten Gauverfassung zurückführen, sie beginnt
1) Das Nähere bei H. Bär, Beitrage zur Mainzer Gesch. ü, 1 ff.,
bei Bodmann, Rheingauer Alterthümer I, 40 ff. und in Vogel's
Beschreibung des Herz. Nassau S. 161.
Eiehl: Bauernland mit Bürgerrechten. 243
nachweislich vielmehr erst da, wo diese aufgelöst und in der
neuen Ordnung der Landeshoheit untergegangen ist. Erst als
es keine Gaue mehr gab, erwuchsen die rechten Eheingauer.
Ein vergleichender Blick auf die Bewohner der angren-
zenden Königshundrete wird dies deutlich machen. Dieser
Gau „Kuningesuntre" erscheint im neunten Jahrhundert in einem
weit helleren und glänzenderen Lichte als der Bheingau. Seine
Grafen walteten höchst wahrscheinlich zugleich imßheingauer
Land, welches keine eigenen Grafen aufweisen kann. Zu
Biebrich in der Königshundrete stand die alte Königsburg,
von wo sich noch Ludwig der Deutsche 874 *) nach Aachen
einschiffte, in Wiesbaden eine kaiserliche Pfalz, königliche
Villen waren über den ganzen Gau verstreut (in Biebrich,
Mosbach, Dotzheim, Schierstein, Massenheim, Nordenstadt).
Eine Anzahl sehr alter Urkunden gibt uns Winke über die
ebenso reiche als frühe Besiedelung und Cultur dieses gesegneten
Gaues, der ohnedies in der unmittelbaren Nähe von Mainz
and Frankfurt günstiger gdegen war, ak der damals sicher
viel minder angebaute, in seinen westlichen und nördlichen
Grenzbezirken noch sehr unwegsame Bheingau. Auffallend
arm an alten Urkunden ist dagegen unser Bheingau, und
wir sind über seine Culturzustände vom 8. bis 10. Jahrhundert
grossentheils auf Muthmassungen angewiesen, während sich
mit dem Ende des 10. Jahrhunderts dann allerdings der Schatz
beglaubigter Nachrichten um so reicher erschliesst, so dass
wir von den weiteren mittelaltrigen Entwickelungen des Gaues
Genaueres wissen als von irgend einer benachbarten Landschaft.
Ein Zeugniss für jenen Mheren Urkundenmangel gibt der
Streit über den Ursprung des Bheingauer Weinbaues. Denn
zu einer Zeit, wo man im Lahngau, im Niddagau und in der
Kunigeshundrete nachweislich schon Wein baute (Ende des 8.
und Anfang des 9. Jahrhunderts), wissen wir vom mittel-
2) Ann. Fold. a. h. a.
244 Jahrb, der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
altrigen Bheingauer Weinbau nur erst durch die Volks-
sage, welche Karl den Grossen bei Eüdesheim Beben pflanzen
lässt und das römische Weinlager Winkel (vini cella) als einen
Weinkeller des grossen Frankenkönigs darstellt. Der urkund-
liche Nachweis des Bheingauer Weinbaues reicht nicht über
832 und 864 hinauf) Andererseits wissen wir bestinunt, dass
ein grosser Theil des Büdesheimer Berges und der ganze Jo-
hannisberg und Steinberg noch wüste lag bis ins 11. und
12. Jahrhundert, während man in den schlechtesten Lagen
der Nachbargaue, wo jetzt kein Mensch mehr Wein sucht, seit
Jahrhunderten schon Trauben kelterte. Der gelehrte Eber-
bacher Mönch Hermann Bär hat schon vor siebenzig Jahren
den früheren Urkundenmangel des Bheingaues als etwas Auf-
fallendes erörtert und schreibt ihn der späten Stiftung der
rheingauischen Klöster zu. Das ist wohl richtig; allein die
Klöster, mit welchen nachgehends der Eheingau so überreich
gesegnet war, würden wohl auch theilweise schon vordem 11.
und 12. Jahrhundert gestiftet worden sein, wenn das Land
damals schon seine Culturföhigkeit so glänzend erwiesen und
jene politische Anziehungskraft geübt hätte, durch welche es
nach der alten Gauzeit colonisatorische Einwanderung der
mannigfachsten Art herbeilockte.
Mit dem Ausgang des 10. Jahrhunderts wird die Stellung
des Bheingaues zur Kunigshundrete eine ganz neue: er wächst
dem früher begünstigteren Brudergaue äusserst rasch über den
Kopf. Das zeigt sich in folgenden Hauptpunkten : DerBhein-
gau bleibt ein selbständiges, politisch eigenartiges Ganze unter
der Landeshoheit des Erzstiftes Mainz; die Kunigshundrete
wird zerstückt zwischen den Grafen von Nassau und den Dy-
nasten von Eppstein. Der Bheingau behauptet nicht blos die
3) Vgl. Bodmann I, 102 u. 109; Bär diplom. Nachrichten von
der natürl. Beschaffenh. des Rhng. 21, 51 u. 57; Vogel a. a. 0.
. S. 400.
Biehl: Bauernland mit Bürgerrechten, 245
alte Freiheit seiner Bewohner, sondern er festigt und entwickelt
sie auch in einer neuen Form, er gewinnt nahezu städtebürger-
liche Eechte und überragt dadurch alle Nachbarlandschaften. *)
Auf Grund dieser höchst originellen Zustände eines Gaues, der
gleichsam eine grosse, in Dörfern zerstreute Stadt bildet, er-
wächst dann aber auch städtische Betriebsamkeit im Landbau,
städtischer Güterwechsel, überhaupt ein wirthschaftlicher 1md
sozialer Mischcharacter, in welchem der mittelalterlich bürger-
liche Zug den bäuerlichen stark zurückdrängt. Die Kuniges-
hundrete dagegen bleibt achtes Bauernland bis zu den terri-
torialen Umwälzungen der Neuzeit. Das zeigt sich heute noch
deutlich in den sonst so nahe verwandten Grenzdörfern rechts
und links der Waldaffe. Auch in der nachgerade politisch
4) Der Rheingau hatte eine vielfach bevorzugte Sonderstellung
unter den mainzischen Territorien. Die wichtigsten Rechte und
Freiheiten bestanden in der äusseren Abschliessung des Gaues, eigener
^Landesverfassung und eigenen Landrechten, persönlicher Freiheit der
Bewohner, Freiheit des Ein- und Auszuges, ferner in der Autonomie,
welche der Gau auf seinen Landtagen übte, in eigenem Schutz- und
Vertheidigungsrechte, eigener Land- und Dorfpolizei etc. Das Land
behauptete also im Wesentlichen den Standpunkt einer landesherr-
lichen Stadt des Mittelalters. Als Quelle der überlieferten Freiheiten,
Herkommen und Bräuche erschien das im Jahre 1324 niedergeschrie-
bene Landweissthum, dessen Alter — abgesehen von dieser Aufzeich-
nung — nach Bodmanns Ansicht bis in's 12. Jahrhundert zurückgeht.
Eine der ältesten Abschriften hat Bodmann benützt, sie ist aber in-
zwischen verloren gegangen. Eine 1643 verfasste Zusammenstellung
des Landesherkommens gewann unter dem Titel des „Rheingauer
Landbrauches" amtliche Geltung, die aber im Anfang des 18. Jahr-
hunderts schon angefochten und 1755 durch das kurmainzische Land-
recht völlig beseitigt wurde. Schon das 16. Jahrhundert hatte die
Autonomie des Rheingaues, welche er auf seinen Land- und Gerichts-
tagen übte, gebrochen, Die volle Landesfreiheit, auf welche in diesem
Aufsatze so vielfach Bezug genommen, gehört ^ also dem Mittelalter
und fällt in ihrer selbständigen Entwickelung (vom 12. bis 15. Jahrh.)
mit der eigenthümlichsten Culturblüthe des Landes zusammen.
246 Jahrb. der histor, Glosse der k, Akad. der Wissenschaften.
wichtigsten Stadt der Kunigeshundrete, in Wiesbaden, waren die
Bürger Bauern bis zum neunzehnten Jahrhunderte, wie schon
ein altes Spruch wort bezeugt: „wenn alle Wiesbadener Bauern
in den Acker gehen, so ist kein Bürger mehr zu Hause.*' In
den gefreieten Dörfern des Eheingaues dagegen waren die
Bauern Bürger. In unserer Zeit ist freilich die alte Kuniges-
hundrete dem Kheingau nachgewachsen und zum Theil ihrer-
seits wieder über den Kopf gewachsen, und dennoch sind die
alten unterscheidenden Characterzüge in dem Typus des ge-
meinen Mannes noch lange nicht verwischt.
Ein so bevorzugtes Land wie der mainzische Eheingau
suchte aber nach mittelalterlicher Art sich möglichst enge
in sich selber abzuschliessen. Daher die bezeichnende Erschei-
nung, dass man im 13. Jahrhunderte den Begriff des Ehein-
gaues vorübergehend noch einmal verengerte und nur die un-
mittelbar am Eheinufer gelegenen Ortschaften (Eheinflecken)
unter demselben verstand. Allein dieser Eheingau im aller-
engsten Sinne hatte keinen langen Bestand; bei der wachsen-
den Volksmasse stiegen die Dörfer auf den Vorhöhen des Ge-
birges (die Waldflecken) zu so grosser wii*thschaftlicher Be-
deutung empor, dass aus der Gleichartigkeit der Interessen
auch gleiche Ansprüche auf Eechte und Nutzungen entsprangen
und gewährt wurden. ^)
Selbst die spätere administrative Abgrenzung eines main-
zischen „Amtes Eheingau" vermochte dem alten Begriffe des
,,Landes Eheingau" nichts anzuhaben. Das „Amt" war selt-
samerweise grösser als das „Land" ; allein mit der Auflösung der
Mainzer Herrschaft verfiel auch das Amt sofort der Geschichte,
während das Land ethnographisch und volksthümlich auch
unter der neuen nassauischen Hoheit Bestand behielt.
Für den gleichsam persönlichen Sprachgebrauch des
„Landes Eheingau" gibt es merkwürdige urkundliche Belege.
5) Siehe Bär, dipl. Nachr. II, 15 f.
Biehl: Bauernland mit Bürgerrechten. 247
Als im Jahre 1347 drei Edelleute von den Kheingauern bei
Kiederich gefangen worden waren, verschreiben sie sich dem
Erzbischofe Heinrich III. von Mainz und sagen in dem Briefe :
„als uns sine Laut daz Kingauwe zuKederich gevangen
hatte." ®) Wie hier „das Land" gefangen nimmt, so schenkte
schon im 12. Jahrhundert das Land Kheingau den Grund und
Boden (aus seinem gemeinsamen Waldbesitz) zur Fundirung
des Klosters Eberbach ; dies bezeugt Erzbischof Adelbert I. in
der Stiftungsurkunde mit besonderem Ausdrucke: „ipsum
monasterii fundum, qui ab incolis provincie ipsius
oblatus est Deo meo consensu. '') Und noch im 18. Jahr-
hunderte führte das Dorf Gladbach einen Prozess mit dem
Lande Eheingau wegen eines streitigen Grundstückes.
Wo aber der Name einer Landschaft so bestimmt und
dauernd vom Volke selber festgehalten Vird, da muss er von
ihm wohl auch mit besonderem Stolze und als ein Ehrennamen
genannt werden. Dieses geschah und geschieht von dem Ehein-
gauer. Mit geringschätzendem Seitenblick dagegen bezeichnet
er von Altersher seinen nördlichen Nachbarn als „Ueberhöher,"
die „Lude vber Höe," wie sie schon im Anfange des 14. Jahr-
hunderts heissen. Der Eheingauer und der Ueberhöher ist ein
ganz ähnlicher Gegensatz wie Marschvolk und Geestvolk im
deutschen Norden; in Beidem bekundet sich die Ueberlegen-
heit eines reichereren, gebildeteren und vormals freieren Volkes
über ein ärmeres und unfreieres. In den deutschen Mittelge-
birgen kommt der Fall öfters vor, dass die Bewohner den
volksthümlichen Namen ihrer Gebirgsgegend nicht gerne hören
und überhaupt nicht zum eigentlichen Gebirg zählen woUen;
es fragt sich, ob diese Scheu vor dem Namen der Heimath
und die Furcht, dass der Fremde einen geringen oder spötti-
6) Der ganze Brief bei Schunk, Beitr. z. mainz Gesch. II, 109.
7) Guden. Cod. dipl. 1, 94, nach der Textberichtigung von Bar,
Gesch. d. Abtei Eberb. I. 673.
248 Jahrb. der hlstor, Glosse der k. Akad, der Wissenschaften,
sehen Begriff damit verbinde, nicht viel öfter auf alte politische
Abhängigkeitsverhältnisse als auf die rauhe Natur der minder
wirthlichen Striche zurückzuführen ist.
2.
Ein Gau, der sich wie eine Stadt entwickelte, musste
im Mittelalter wohl auch stadtmässig feste Grenzen, er musste
Wall und Mauer habeu. Diese besass der Eheingau. Im
Süden und Westen war er durch den Rhein, im Norden durch
die undurchdringliche Schutzhege des Landgebückes, im Osten
durch eine mit demselben verbundene Kette von Festungs-
werken begi'enzt und abgeschlossen. Diese Grenz wehr hatte
aber nicht blos rechtliche und strategische sondern auch wirth-
schaftliche Bedeutung. Namentlich trug die feste Nord- und
Westgrenze nicht wenig bei, die Form einer über den
ganzen Gau zerstreuten städtischen Besiedelung
dauernd zu sichern.
Das oft beschriebene Landgebück, ein 50 Schritt breiter,
in sich verwachsener Waldhag, würde wohl kaum genügenden
Schutz verliehen haben, wenn es nicht rechts und links von
zusammenhängenden dichten Waldungen umgeben und nur auf
wenigen Punkten von Pforten und Strassen durchbrochen ge-
wesen wäre. Um diese ganze, über vier Stunden lange Land-
wehr fest zu bewahren, musste daher die landwirthschaftliche
Ansiedelung wie der Verkehr hier möglichst ferne gehalten
werden. Nur ein einziger Hof, der Mapperhof, lag auf rhein-
gauischer Seite im Waldbezirk, galt aber auch im späteren
Mittelalter als der Sicherheit nachtheilig, so dass ihn die
Riehl: Bauernland mit Bürgerrechten. 249
Landschaft gerne wieder beseitigt hätte, und nur ein einziges
kleines Dorl*, Stephanshausen, welches aber, wie Bodmann sich
ausdrückt, von den Kheingauern nur „pfahlbürgermässig und
als Beisasse" behandelt wurde und nur von einer sehr unbe-
deutenden Flur geklärten Landes umgeben war.
Hierdurch erhalten wir das auffallende Bild eines Gaues,
der zur Hälfte ein zusammenhängender, von der Cultur kaum
berühilier Markwald ist, zur anderen Hälfte* ein fast garten-
mässig angebauter Landstrich,* die Nordhälfte selbst heute nur
von ein paar Hundert Menschen bewohnt, die Südhälfte seit
sieben Jahrhunderten eine der dichtest bevölkerten Gegenden
Deutschlands. Selbstverständlich waren diese schroffen Gegen-
sätze zuerst in dem natürlichen Unterschiede eines milden,
hügeligen, vom Strome bespülten Vorlandes und eines rauheren,
bergigen und abgelegneren Hinterlandes vorbedingt. Allein
sie würden sich nicht dauernd in solchem Extrem behauptet
haben, wenn das hintere Waldland nicht Gemeineigenthum
theils des Gaues theils der vorderen Gemeinden geblieben
wäre, und dieser Gemeinbesitz wiederum würde schwerlich
durch so viele Jahrhunderte unberührt und unzertheilt geblieben
sein, wenn ihn die Rheingauer nicht als eine natürliche Schutz-
wehr des Landes heilig gehalten hätten.
Es liegt nun aber die Frage nahe, wai*um eine so starke,
am Rhein zusammengedrängte Bevölkerung, ausgerüstet mit
städtischen Freiheiten und durch den Weinbau zum Handel
getrieben, nicht zu einer grösseren Stadt sich concentrirt habe?
Allein wenn die feste Nordgrenze zu eng geschlossener An-
siedelung zwang, so trieb die feste Westgrenze im Gegentheil
wiederum die Ortschaften auseinander. Das mittlere Ergebniss
war dann aber ein städtisches Land, keine Stadt.
Im Westen, von Rüdesheim bis unterhalb Lorch bildete
nämlich der Rhein die Grenze; die Uferlinie war aber nicht
wie an der Südseite des Gaues durch eine Kette ummauerter
Flecken gefestigt, sondern durch die Unzugänglichkeit des
250 Jahrb. der histor. Classe der Je, Akad, der Wissenschaften.
Ufers und den gefährlichen Strompass des Binger Lochs. Heut-
zutage führt freilich eine Fahrstrasse und ein Schienenweg
längs der steil zum Ehein abfallenden Felsberge; im Mittel-
alter war es nur ein schmaler Pfad, der an manchen Stellen
selbst für den Fussgänger nicht gefahrlos gewesen sein soll,
und das Binger Loch konnte nur mit kleineren Fahrzeugen
durchschifft werden. Es lag im Interesse der Landessicherheit,
den also zu Land und zu Wasser höchst beengten Weg nicht
breiter zu öffnen. Hierdurch war Lorch mit seinem uralten
Weinbau und seinem Hafen von dem übrigen Kheingau ab-
geschnitten. Da aber der Ort nicht blos eine stattliche Bür-
gerschaft, sondern auch einen zahlreichen Adel besass, so
entsprach es ganz mittelaltriger Art, dass sich solche innere
und äussere Selbständigkeit auch politisch kundgab und zwar
in einem eigenen Lorcher Landrecht und einem eigenen Cent-
gerichte. Lorch trug seinen Schwerpunkt in sich, und es hätte
eine Stadt werden l^önnen, wohl gar der wichtigste Stapelplatz
des Kheingauer Weinhandels, wenn nicht eben jene den Weg
sperrende feste Westgrenze gewesen wäre. 'Das verhält sich
folgendergestalt :
Der Hauptzug des Kheingauer Weinhandels im Mittel-
alter ging stromabwärts. Da aber grössere Schiffe damals das
Binger Loch noch nicht passiren konnten, so mussten die für
die Production wie für den Marktverkehr gleich wichtigen
grossen Kheinorte von Eltville bis Küdesheim ihre Waare auf
kleinen Fahrzeugen durch jenen berüchtigten Strompass füh-
ren, um sie erst jenseits auf eigentliche Handelsschiffe verladen
zu lassen. Dies geschah in der Regel zu Bacharach, wesshalb
man denn auch im Norden den Kheingauer Wein oft schlechthin
Bacharacher nannte. Also lag der entscheidende Stapelplatz
der Kheingauer Weine ausser Landes, und im Gau selber bil-
dete sich kein centralisirender grosser Hafen des Weinverkehrs.
Im Gegentheil führte jene eigenthümliche Form des Wasser-
transportes zur Entwickelung einer neuen halbstädtischen Grösse
Biehl: Bauerrüand mit Bürgerrechten. 251
neben den bereits bestehenden, nämlich Eüdesheims, welches
die Steuerleute und die gesuchtesten Schiffer zu der Fahrt
durch's Binger Loch stellte, aber dann auch wieder nur als
Lotsen- und Schifferstation, nicht als Hafenplatz wichtig wer-
den konnte. Allein da man nun doch die Eheingauer Weine
unter allen Umständen umladen musste und den Strompass
mit Eecht fürchtete, so liegt beim Anblick der heutigen
Strassen der Gedanke nahe, dass es ja weit vortheilhafter ge-
wesen sei, die Waare den kui'zen Landweg längs des Eheines
nach Lorch zu führen; das Binger Loch war dann umgangen,
man konnte in Lorch grosse Schiffe befrachten und hatte den
Stapelplatz im eigenen Lande; Lorch würde eine erdrückende
Nebenbuhlern für Bacharach, es würde die Handelsstadt des
Eheingaues geworden sein. So urtheilen wir heute. Der
mittelaltrige Eheingauer hingegen schlug ohne Zweifel die
festungsartige Abschliessung seines Landes weit höher an als
derlei wirthschaftliche Vortheile. Von Eüdesheim nach Lorch
einen breiten Weg durch die Felsen längs des Eheines zu
brechen wäre für ihn nichts anders gewesen, als wenn man
damals einer Stadt zugemuthet hätte, ihre Mauern niederzu-
reissen, damit Handel und Gewerbe sich freier bewegen können.
Es sind aber nicht blos die festen Gaugrenzen, welche
das Volk an den Ehein zusammendrängten, und doch anderer-
seits auch wieder die langgestreckte Kette der Eheinflecken
ohne Centralisation auseinander zog. Viele andere Gründe
wirkten -gleichfalls dahin, den Gau als Stadt zu bewahren,
nicht aber eine dominirende Stadt im Gau aufkommen zu
lassen.
Eltville war mit Stadtrechten ausgezeichnet, die einzige
Stadt des Gaues, politisch die Hauptstadt und im 14. und 15.
Jahrhundert zugleich Eesidenz der Mainzer Erzbischöfe. Trotz-
dem hat diese Stadt die grösseren Flecken des Gaues an
Volkszahl wie an wirthschaftlicher und socialer Bedeutung
niemals erheblich überragt, ja sie ist zeitweilig hinter einzelnen
252 Jahrb. der hitstor, Classe der k. AJcad. der Wissenschaften.
m
derselben zurückgeblieben. Da der ganze Gau nahezu städtische
Freiheiten genoss, so war die Hauptstadt eben nur eine Stadt
in der Stadt, mehr nur im Titel als in der Sache unterschieden.
Auch die Bewohner der übrigen Orte des ßheingaues nannten
«ich „Bürger", ®) namentlich seit Eltville durch Ludwig den
Bayern 1332 die Freiheiten der Stadt Frankfurt erhalten
hatte, und bezeichneten ihre Dörfer als „Flecken'' die sie be-
festigten; nur vier kleine Dörfchen werden wirklieh Dörfer
genannt. Das Dorf war in diesem Lande die Ausnahme, eben-
so die Stadt, der Flecken dagegen die Eegel. Ein Flecken
ist aber ein halbwüchsiges Mittelding zwischen Dorf und
Stadt, genau wie der Kheingau als Ganzes ein solches Mittel-
ding war.
Das mainzische Hoflager in der Hauptstadt Eltville konnte
aus ähnlichem Grunde nicht centralisirend wirken wie die Stadt,
weil nämlich gleichsam das ganze Land ein grosses Hoflager
war. Die Erzbischöfe besassen neben der Eltviller Burg noch
den Scharfenstein , Ehrenfels und Eheinberg. Hierzu kamen
aber fast in jedem Flecken Burgen des niederen Adels; ich
finde im Ganzen 20 rheingauische Burgen aufgezeichnet, die
sämmtlich auf einem Flächenraum von beiläufig 2 Quadrat-
meilen zusammengedrängt waren. Bemerkenswerth ist dabei,
dass die allermeisten Burgen des Adels in, nicht ausser und
über den Flecken lagen, gleichsam als Patrizierhäuser in der
grossen Gesammtstadt des Landes, wesshalb denn auch die alten
burglichen Baue später grösstentheils von den bürgerlichen
Bauten aufgezehrt wurden und der Eheingau heutzutage gar
nicht mehr so auffallend burgenreich erscheint. Weit zahl-
reicher noch als die Burgen waren aber die Adelsgeschlechter,
welche im Mittelalter im Eheingau theils angesessen theils
blos begütert waren; Bodmann zählt ihrer nicht weniger als
58 auf. Politisch vermochten sie die Bürger nicht zu beugen,
8) Bodmann I, 125.
BieTüi Bauemland mit Bürgerrechten, 253
und es scheint vielmehr als ob die städtische Beweglich-
keit des rheingauischen Grundbesitzes den Adels-
familien verderblich gewesen wäre. Denn die alten Dynasten-
häuser des Gaues verschwinden firühzeitig unter dem niederen
Adel und dieser wiederum sinkt mit dem Ausgange des Mittel-
alters auf eine immer massigere Zahl herab, ja von den vielen
acht rheingauischen Geschlechtern hat nur ein einziges — die
Greifenklau von Vollrads — das neunzehnte Jahrhundert er-
lebt. Wirthschaftlich aber übte die grosse Schaar fremder
adeliger Grundbesitzer im 13. und 14. Jahrhundert sicher einen
bedeutenden Einfluss auf das Land, und wäre es auch nur
negativ gewesen, indem sie das Aufkommen eines abgeschlossenen
Bauemthumes ebensosehr hinderte wie die Concentrirung städti-
schen Wesens und städtischer Betriebsamkeit.
Es waren aber nicht blos viele fremde Adelsfamilien son-
dern auch Mainzer Bürgergeschlechter im Eheingau ansehn-
lich begütert, und wie wir heutzutage eine Menge fremder
reicher Leute im Besitze von Grundstücken, Schlössern und
Landhäusern am Rheine finden, so stand es im Eheingau auch
schon vor fünf- bis sechshundert Jahren. Das ist aber im
Mittelalter eine weit auffallendere und folgenreichere That-
sache als in unserer Zeit und sie führt uns zu einem weiteren
characteristischen Gegenzuge in dem mittelaltrigen Zustande
des Landes, der sich in dem Satze ausspricht, dass der Gau
gegen das Nachbarland aufs strengste und wie mit einer grossen
Stadtmauer abgeschlossen war, im Innern aber wimmelte es von
fremden Elementen.
Zu alledem kommt dann endlich noch eine höchst aus-
gedehnte und einflussreiche geistliche Bevölkerung. Die Zahl
der Klöster wuchs allmählich auf zwölfe. Schon Pater Bär
bemerkte: „Kaum wird man in einem andern so eingeschränkten
Bezirke, die grossen Städte ausgenommen, solche Klösterzahl
finden." Unter diesen vielen Klöster gab es allerdings ein
Haupt-Kloster , einen ganz entschiedenen Mittelpunkt klöster-
254 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
lieber Cultur, die Cisterzienser- Abtei Eberbacb. Allein Eber-
bach entstand und blühte erst zu einer Zeit, wo das Ordens-
wesen freilich mächtiger und breiter sich aus wuchs als je zuvor,
wo aber die Klöster schon keineswegs mehr die fast aus-
schliessenden Herde höherer Gesittung waren. Gerade in der
Zeit, wo Klöster wie Fulda, St. Gallen, Corvey u. A. die
wahren geistigen Hauptstädte ganzer Länder sein konnten,
d. h. in den früheren Jahrhunderten des Mittelalters besass
der Kheingau gar kein Kloster und erst seit 1050 die unbe-
deutenden Anfänge von Eberbach und Bischofsberg (Johannis-
berg). Eberbach's Blüthe und Macht gehört der zweiten Hälfte
des zwölften, daniv dem 13. und 14. Jahrhunderte an; damals
wetteiferte aber bereits die selbständige weltliche Bildung des
Kitterthums und dann der Städte mit der klösterlichen. So
geschah es, dass Eberbach eine durch Klosterzucht, reichen
Grundbesitz, tüchtige Wirthschaft und Gelehrsamkeit weit be-
rühmte Abtei werden konnte, ohne dass der Eheingau durch
dieses sein Hauptkloster zu geeinigter städtischer Bildung und
eigenartiger, schöpferisch massgebender Geistescultur emporge-
hoben worden wäre. Eberbach, für die Localgeschichte so
äusserst wichtig, gehört nur auf einem Punkte der deutschen
Culturgeschichte an, nämlich durch seine landwirthschaft-
lichen Eeformen. Durch sein Landrecht wurde der Rhein-
gau zu einer grossen Stadt, durch das berühmte Kloster aber
wurden die Bürger nicht Städter, sondern gegentheils erst rechte
Musterbauem.
So finden wir überall den Gegenzug, der das Land
städtisch, die Bürger aber wieder bäuerlich machte. Und
fassen wir die bisher gewonnenen Resultate zur Ueberschau
noch einmal in statistischer Kürze zusammen, so erhalten wir
folgendes Bild, welches gewiss im ganzen Reiche seines Gleichen
nicht fand:
Ein fest begrenztes, stadtmässig beschlossenes Land von
beiläufig 4 Quadratmeilen Flächengehalt , die Nordhälfte fast
Biehl: Bauernland mit Bürgerrechten, 255
culturloser Waldboden, die Südhälfte höchst cultivirt und dicht
bevölkert. Nach einer Schätzung von 1525 hatte der Gau
gegen 15000 Einwohner (jetzt wohl an 25000), welche fast
durchaus auf jene 2 Quadratmeilen zusammengedrängt waren,
und die mittelaltrige Volkszahl dieses Striches würde auch
heute noch als eine sehr dichte gelten. Das Volk siedelte in
einer Stadt und 19 nahezu städtischen Flecken und Dörfern. Neben
und in den Ortschaften aber erhoben sich 20 Burgen, gegen
60, theils fremde, theils einheimische Adelsgeschlechter waren
auf dem engen Baume begütert und obendrein hatten noch
12 Klöster — wenn auch nicht alle gleichzeitig — auf dem-
selben- Striche Kaum und theilweise reichen Besitz gefunden.
Endlich dürfen wir dann auch den Weltklerus nicht vergessen,
von dessen Kopfzahl uns die Notiz einen ungefähren Begriff
gibt, dass die Pfarrkirche zu Lorch allein im Jahre 1390 23
mit selbständigen Beneficien ausgestattete Geistliche zählte. ^)
Gewiss ein so dichtes und buntes Gemisch der socialen Gruppen
und der Interessen, wie es das Mittelalter sonst nur in den
Städten, nicht aber auf dem Lande tennt.
Allein selbst diese Gruppen werden noch einmal gekreuzt
nach Massgabe der verschiedenen Eechtsverhältnissen, in wel-
chen Adel und Klerus gegenüber standen den Bürgern, die
Eingesessenen gegenüber den Forensen, die Stadt gegenüber den
Flecken, die zwei unfreien Dörfer (Presberg und Stephanshausen)
gegenüber den freien Ortschaften, und weiter die sogenannten
„Mutterorte" des Gaues, welche in Sachen der Markverfassung
Sitz und Stimme im Haingericht hatten, gegenüber den Töchter-
orten, die nur durch jene vertreten waren und den Waldflecken
ohne Stimmrecht, endlich aber die Ortschaften im Genüsse von
„Meinderecht" und „Markrecht" gegenüber jenen beisassenartigen
Orten, welche blos Meinderecht besassen.
9) Würdtwein, Dioec. Mogun. VI, 20a
i
256 Jahrb. der histar. Classe der h Äkad, der Wissenschaften.
3.
Lage und Namen der Dörfer, Gemarkungsgrenzen und
Flureintheilung gehören zu den festesten und ältesten Alter-
thümem deutschen Culturlebens, und man hat darum diese so
selten verrückten Grundformen der bäuerlichen Siedelung oft
genug als Urkunden für eine Frühzeit benützt, über welche
uns unmittelbare Geschichtsquellen fehlen.
Auch hier macht der ßheingau eine Ausnahme von der
Eegel. Wir finden während der mittelaltrigen Blütheperiode
vom 12. bis 16. Jahrhundert nicht nur einen auffallend häu-
figen Güterwechsel im Einzelnen — Kauf und Tausch, Arron-
dirung und Parcellirung im Grundbesitze , — sondern auch
die Dörfer selbst mit ihren Fluren scheinen theilweise hinein-
gezogen in diese allgemeine Beweglichkeit. Die vierund-
zwanzig Ortschaften des alten Rheingaues, deren ich oben
gedachte, enthalten in sich und neben sich nicht weniger als
vierzehn, welche in historischer Zeit Lage oder Namen ge-
wechselt, oder von andern Orten aufgesogen oder als förmliche
' Colonien neu gegründet worden sind. Eine so grosse iBeweg-
lichkeit in der Siedelung, eine solche Wanderung der Dörfer
auf so engem Baume dürfte in anderen deutschen Gauen
schwerlich ihres Gleichen finden.
In dem Berg- und Hügellande nördlich des Bheingaues
bis zum Westerwald hinauf finden wir einen Wandel anderer
Art bei den Ortsanlagen, nämlich fast zahllose ausgegangene
Dörfer, ausgestorben in Folge der Kümmerlichkeit ihres Daseins,
oder durch Kriegs- und andere äussere Nöthe vom Boden hin-
weggefegt. Die Ortsveränderungen des Bheingaues sind aber
nicht durch Noth und Verwüstung geschaffen worden, son-
dern gegentheils eine Folge der wirthschaftlichen und
politischen Blüthe des Landes. Darum fallen sie auch
mit geringen Ausnahmen in die glücklichsten Tage rheingauischen
BieM: Bauernland mit Bürgerreckten. 257
Lebens, in die Jahrhunderte, wo der Gau, fest und wehrhaft, keinen
Einbruch eines äusseren Feindes ^®) fürchtete — 11. bis 16. Jahr-
hundert. — Ein sehr beträchtlicher Theil jener eingegangenen
Dörfer nördlich der Höhe fiel erst dem dreissigj ährigen Kriege
zum Opfer; der Bheingau hingegen hat selbst durch diesen
Krieg, unter welchem er nicht minder wie alles Nachbarland
litt , nicht ein einziges Dorf verloren. Die Beweglichkeit in
Gut und Siedelung kam hier zum Stillstand, als die alten
Eechte und Freiheiten schrittweise illusorisch wurden und die
Wirthschaftsblüthe des Gaues im engen Zusammenhange
mit dem Verfall des deutschen Städtewesens zu
Grunde ging.
Wie in einer Stadt Quartiere, Strassen und Häuser um-
gebaut werden und Bestimmung und Namen wechseln, so er-
ging es ähnlich manchem rheingauischen Dorfe, und die wirth-
schaftlich motivirte Beweglichkeit in Grund und Boden,
welche sich sogar bis auf die Dörfer erstreckte, zeigt uns
den städtischen Gharacter des Gaues in besonders scharfem
Gepräge.
Die folgenden näheren Nachweise aus der Ortsgeschichte
öffnen uns darum zugleich auch einen Blick in die rheingauische
Wirthschaftsgeschichte.
Zwei Ortschaften sind geradezu gewandert und wählten
sich eine neue Lage: Walluff und Eauenthal. Das Erstere
lag noch im 10. Jahrhunderte rechts und seitab der Waldaffe,
also in der Königshundrete , zog sich dann allmählich zum
Bache und über denselben, es wanderte in den Eheingau und
Hess an seiner ursprünglichen Stätte nur noch das Wahrzeichen
10) Seine Bollwerke durften sich im Mittelalter jenen Vesten
vergleichen, die man , jungfräuliche" nannte, weil noch Ijein Feind
.dieselben gebrochen hatte. Der dreissigjährige Krieg machte diesem
Bubm ein Ende.
17
258 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften,
einer einsam im Felde gelegenen Kirchenruine. Augenschein-
lich führte hier die politische Attraktionskraft des gefreiten
Gaues das Dorf an und über den Grenzbach. Eauenthal da-
gegen entstand erst im 13. Jahrhundert als eine Weinbau-
colonie und stieg erst nach dem Jahre 1558 aus dem engen
und rauheren Thale auf die sonnigere Anhöhe, daher das selt-
same Widerspiel, dass das Dorf, welches einen der mildesten
Berge krönt, heute „ßauenthal" heisst.
Ein drittes Dorf in dieser Gegend, Kode, wanderte im
15. Jahrhundert theils nach Martinsthal, theils nach Walluff
. aus ; die Gemarkung fiel an Martinsthal, welches seinen Namen
in Neudorf verwandelte. Und weil denn geradezu alle Orte
an dieser Ostgrenze entweder wanderten oder wenigstens den
Namen wechselten, so vermuthet man, dass auch die Nonnen
des später verschwundenen Klosters Eode nach Tiefenthal aus-
gewandert seien.
An Eauenthal als eine Wirthschaftscolonie des Erzstiftes
Mainz reihen sich dann noch mehrere solcher Dorfcolonien:
Lorchhausen, eine Colonie von Lorch, wurde vermuthlich schon
im 12. Jahrhundert gegründet, um Arbeitskräfte zur Urbar-
machung des grossen Lorcher Markantheils heranzuziehen,
Hallgarten wurde durch Colonisten des Klosters Eberbach bei-
läufig zur selben Zeit aus einem Hofe in ein Dorf verwandelt,
Dorf Johannisberg entstand in dem nämlichen Jahrhunderte
als eine Colonie des Klosters Johannisberg. Dass Eibingen
eine „durch den erweiterten Güterbau veranlasste" Colonie von
Eüdesheim gewesen sei, hält Bodmann für wahrscheinlich und
Mittelheim ist eine erst im 12. Jahrhunderte dm*ch die Aus-
wanderung der Mönche von Gottesthal hervorgerufene Dorf-
colonie von Winkel.
Von Winkel bis Hattenheim drängt sich die Siedelung
am dichtesten zusammen; auf einer Uferlinie von beiläufig
einer Stunde Wegs lagen hier sechs Dörfer, welche jetzt
in vier concentrirt erscheinen. Eines davon. Klingelmünde, ist
Biefd: Bauenüand mit Bürgerrechten, 259
ganz verschwunden, ein anderes Beichardshausen, wurde im
12. Jahrhundert durch eine förmliche Wirthschafksoperation der
Eberbacher Mönche ausgekauft und ausgetauscht und in einen
Klosterhof verwandelt; gegenwärtig ist es ein Schloss.
So theilen sich die Ortschaften des Bheingaues geradezu
in Mutterorte und Colonien, ein Ausdruck, der auch
den früheren Topographen des Landes bereits geläufig ist, und
neben uralten, zum Theil auf die Eömerzeit zurückdeutenden
Ansiedelungen, stehet eine beträchtliche Zahl neuer Orte, die
erst dem in Folge der politischen Selbständigkeit des Gaues
so hoch gesteigerten Colonisationsgeiste des 12. und 13. Jahr-
hunderts ihren Ursprung verdanken. Der Gau hat die Zahl
seiner Dörfer damals etwa um ein Drittel vermehrt, woraus
wir auch einen Schluss auf die rasche Zunahme der Bevölkerung
ziehen können, und aus den Freiheiten und Bechten erwuchs
nicht nur ein neuer Volkscharacter und ein nerues Wirthschafts-
leben sondern auch eine neue Landkarte.
Bei dieser neuen Karte darf dann auch wohl noch des
auffallenden Wechsels der Ortsnamen gedacht werden, als
eines Zeugnisses für den neugestaltenden Geist, der in die
freien Bheingauer gefahren war. Martinsthal wurde in Neu-
dorf verwandelt. Klingelmünde in St. Bartholomä, Bischofs-
berg in Johannisberg, Dorf Hausen in Aulenhausen und das
Kloster Aulenhausen in Marienhausen, aus Neuenhaus entstand
die Karthause Petersthal und aus Düppenhausen das Kloster
Marienthal.
Höchst planvoll wurde die Colonisation des Landes im
12. Jahrhundert von den Eberbacher Mönchen betrieben. Sie
gründeten neue Höfe, nicht blos um wüstes Land anzuroden,
sondern auch um ihre zerstreuten Besitzungen aus den Dörfern
und Dorfgemarkungen herauszuziehen, ihre Güter zusammen-
zulegen und zu arrondiren. Dadurch erhielt ein bedeutender
und wahrlich nicht der schlechteste Theil des rheingauischen
Culturlandes neue Grappirung und Anordnung. Man könnte
260 Jahrb, der kutar. Gaese der k. Ahad. der Wissenschaften,
abar einwenden, diese ün^rmnng bei Gnmd und Boden hänge
denn doch nicht nüt der städtischen Freiheit nnd Beweglich-
keit des Landes zusammen, sondern vielmehr mit der Ordens-
regel da: Gisterzienser, kraft deren zwar der Besitz yon Land-
gütern gestattet war, diese aber vereinzelt li^en sollten, a
saecularium hominom habitatione remotae. Und so sind denn
lUostarhdfiß auch anderwärts die characteristischen Begleiter
der Gisterzienser-Elöster. Das ist ganz richtig. Eben so
rich% ist »ber auch, dass wohl bei kTem andel deutechen
Cüsterziaifeserkloster die colonisatorische Landwirthschaft so ent-
fldieidend geworden ist für die ganze culturgeschichtliche Be-
deutung des Klosters wie bei Eberbach. Wer sich davon
überzeugen will, der nehme die treffliche Greschichte der Abtei
vom Pater Hermann Bär zur Hand : Niemand wird in diesem vor
wenigen Jahren erst herausgegebenen Manuscripte eines Eber-
bacher Mönches des Neuen und Belehrenden mehr finden, als
der Historiker der Nationalökonomie. Die erste Aktion des
Klosters nach Aussen war die Gründung jener Musterhöfe und
4i6 vier wichtigsten entstehen schon unter dem ersten Abte
(Buthart, 1131 — 1157). Die sinnreichen und umfassenden
Wirthschaftspläne der Mönche würden in einem anderen Lande
mit bäuerlich gebundener Bevölkerung und gebundenem Grund
und Boden gar nicht auszufahren gewesen sein. Schrittweise
durch Schenkung, Tausch und Kauf von allerlei Parzefloi
kcmnten die Klosterhöfe im Bheingau mit abgerundeten Gut
sich umgeben. Es währte z. B. von 1141 bis 1211, bis es
gelungen war, den Draisener Hof mit einer ununterbrochenen
Feldflur auszustatten; die Erwerbungen wurden, wie Bär nach
einem Archivalauszug des letztgenannten Jahres berichtet, von
„Edelleuten und Bürgern^^ gemacht und es kam dabei
vor, dass es sich um Gewinnung von Parzellen handelte, die
bis zu einem, ja einem Viertel Morgen hinabstiegen. Das zeugt
nidit nur von der Beweglichkeit sondern auch von dem W^rtiie
des Grundes und Bodens, zwei Eigenlbhaften , weldie in der
Biehl: Bauernland mit Bürgerrechten. 261
Begel Hand in Hand geken, am innigsten aber sich da Teiv
binden werden, wo der Landban dnrch die unmittelbare Nähe
städtischer Cnltnr befrachtet ist.
4.
Im Bheingan kommt während des Mittelalters alle mög-
liche Betriebsamkeit Tor: Landban, Grewerbe, Handel, Ennst
xmi Wissenschaft. Trotzdem fehlt aber gar viel, dass man
den Gran TolkswirthschafÜich ebensogut einer Stadt Ter^eichen
könnte, wie nach seinen politischen Bechten.
Der Standpunkt der Grewerbe characterisirt sich schon
durch eine Meinungsverschiedenheit, welche zwischen den beiden
Hauptautoritäten «rheingauischer Geschichtsforschung, Bär und
Bodmann, besteht. Bär legt nämlich auf das urkundlidie Vor-
kommen vereinzelten Gewerbebetriebs im Lande ein grösseres
Gewicht^ als Bodmann zugeben will, und Letzterer meint, ein
in Eltville auftret^der Falkenjäger sei merkwürdiger, als die
Manufacturen , deren Bär gedenkt, und selbst ein bei jener
Stadt erwähnter pannifex sei nur eine Winterschwalbe ge-
wesen. Nun wird es freilich heutzutage jeder Kenner mittel-
altriger Wirthschaftsgeschichte denn doch für merkwürdiger
halten, dass im Bheingau ein Goldschmied auf dem Lande (in
Hattenheim) arbeitete, dass Zeug- und Waffenschmiede und
ein Weber in Dörfern vorkommen, ebenso Gerberei^, Walk-
mühlen und eine klösterliche Tuchmanufaktur , als dass ein
Falkenjäger in Eltville sass, und man muss jene vereinzelte
Notizen wohl immerhin als em seltenes Zeogmss des Herein-
ragens städtischen Betriebes in überwiegend landwirfhschaftUdie
Arbeit gelten lassen. Allein fiUiden sich auch doppdt uid
1
262 Jahrb. der histor. Classe der k. Akad, der Wissenschaften.
dreimal so viele über das Land zerstreute Handwerker in
Urkunden erwähnt, so dürften wir doch nicht von städtischem
Gewerbewesen reden. Dieses ist im Mittelalter durch die
Korporation, die Zunft, bedingt, welche in ihrer politischen,
socialen, wirthschaftlichen und militärischen Verfassung aufs
innigste mit der Idee der Gemeinde verwachsen ist. Bechte
und Freiheiten der Stadt und ihrer Gewerbecorporationen be-
dingen und tragen sich gegenseitig. Von dergleichen aber, ist
im Eheingau gar nicht die Rede, und man könnte leichter be-
weisen, dass das mit wirklichen Stadtrechten ausgerüstete
Eltville in diesem Sinne nicht einmal eine vollwichtige
Stadt gewesen sei, als dass das ganze Land gewerbUch städti-
sehen Character gehabt habe. Es war ein Bauemland mit
Bürgerrechten und allerlei vereinzeltem und eben darum macht-
losem Gewerbebetrieb.
Andererseits bekundet sich jedoch wieder der Uö^ber-
gangscharacter des Gaues in einer auffallenden Blüthe
unmittelbar mit der Bodenproduction verbundener Hilfsgewerbe.
Die Bauern nennen sich Bürger und in den Landwirthen lebt
ein entschieden industrieller Geist. Der Weinbau streift an
sich schon zu Gewerbe und Handel hinüber, und wenn sich
hier am Rheine ein kräftig entwickeltes Schiffergewerbe mit
dem Weinverkehre verband, so darf uns dies nicht Wunder
nehmen. Dagegen staunen wir über die Blüthe des Mühlen-
betriebes und Mehlhandels in unserm Gau, der mit seinem
Getreidebau lange nicht den eigenen Bedarf deckte. Die kleinen
rheingauer Bäche sind wie besät mit Mühlen, beiläufig fünfzig
an der Zahl, und die Anlage einzelner dieser Bachmühlen lässt
sich bereits im 12. und 13. Jahrhunderte nachweisen. Abgesehen
von der Gunst der vielen Wassergefälle war es die Nähe der
beiden grossen Fruchtmärkte in Mainz und Bingen, die Ver-
kehrsstrasse des Rheines und die gewerbliche Tüchtig-
keit der Rheingauer Müller, was dieser Getreideindustrie in
dem weinbauenden Lande so breiten Boden schuf. Bär bemerkt
Eiehl: Bauemlcmd mit Bürgerrechten, 263
nämlich, dass der Mehlhandel hauptsächlich an den Nieder-
rhein und nach Köln gegangen sei, weil man dort nur wenige
Mühlen besessen (die Windmühlen sind neueren Ursprungs)
und kein so feines Mehl habe mahlen können. Aus ähnlichen
Gründen mag man sich auch das Gedeihen der Gerbereien in
einem mittelalterigen Gaue erklären, der immer an Weide- und
Wiesland Mangel litt und nur mühsam und mit allem Auf-
gebot wirthschaftlichen Scharfsinnes den zur Weinbergsdüngung
nöthigen Viehstand aufrecht zu erhalten vermochte. ^ ^)
Das Dorf Aulhausen, durch die Ungunst der Lage von
der reichen Bodencultur der Nachbaroi-te ausgeschlossen, wandte
sich schon so frühe zum Betriebe der Töpferei, dass es von den
Ullnem (Töpfern) sogar seinen Namen erhalten haben soll.
Und selbst der grosse Markwald des Eheingaues, welcher ge-
flissentlich gegen den Anbau abgesperrt wurde, musste in den
zahlreichen Kohlenbrennereien wenigstens eine halbwegs ge-
werbliche Ausbeute liefern. Es gab hier förmliche Köhler-
Colonien, und die Sage erzählt, dass das Grenzdorf Gladbach
einer solchen seinen Ursprung verdanke. Dem stolzen Ehein-
gauer däuchte aber derlei Erwerb zu geringe und er überliess
ihn fremden Leuten, die an den gemeinen Eechten und Ge-
nüssen des Gaues keinen TheU hatten. Aehnlich fiel das
11) Bär schreibt in den diplom. Beiträgen vom Jahre 1790, die
Stall Fütterung sei von vermögenden rheingauer Bürgern und an-
deren Einwohnern schon lange eingeführt. Derselbe Autor gibt uns
aber in seiner Eberbacher Geschichte eine Notiz, aus welcher ich
mit Wahrscheinlichkeits gründen einen genaueren Schluss auf
das hohe Alter der Stallfütterung im Rheingau ziehen zu können
glaube. Die Eberbacher Mönche hatten auf ihrem Klosterhofe zu
Leheim (im Hessischen) schon im 13. Jahrhundert Stallfütterung. Da
aber die Bewirthschaftung der Eberbacher Elosterhöfe überall nach
planvoll zusammenhängender Methode eingerichtet wurde, so lässt
sich wohl annehmen, dass die Stallfütterung auch auf ihren Rhein-
gauer Höfen, wo überdies die Natur des Bodens weit mehr hierzu
drängte, als bei Leheim, im 13. Jahrhunderte schon versucht worden seL
264 Jahrb. der histar. CUuse der k, AJcad, der Wissenschaften,
Graben und Verfahren von Putzsand und das Schieferbrechen
in den angrenzenden Thälem einem armen und unfreien Volke
zu, so dass nicht nur für die Grundform des Bodenanbaues
sondern auch für die bäuerlich gewerblichen Nebennutzungen
die Grenzen der gefreiten Landes zur Scheidelinie wurden.
Dieser Gegensatz ist auch heute noch lange nicht verwischt.
Ein Zeugniss, wie hier alte Anschauungen und Einrichtungen
auch bei gänzlich veränderten Zuständen noch immer fort-
wirken, liefert das hart an der rheingauer Grenze gelegene,
weiland kurpfälzische Städtchen Caub. Das Schieferbrechen
hat sich dort zu einem ordentlichen Bergbau mit ausgezeich-
neter, weitberühmter Production gesteigert. Trotzdem gelten
die Schieferbrecher — über 300 Bergleute — neben den alt-
bevorzugten Schiffern noch immer „als glebae adscripti und
werden mit Hochmuth behandelt"^*), sie haben es noch nicht
zu jener corporativen Organisation gebracht, die anderwärts
den Bergmann so entschieden kennzeichnet, besitzen keine eigene
Tracht, keine Enappschaftskasse, keine Bergfeste und nur wenig
von der bergmännischen Sprache, indess die Schiffer (die
„Schifiischen") sich noch immer durch Tracht, Spracheigen-
thümlichkeiten, gemeinsame Feste und stolze genossenschaftliche
Abschliessung auszeichnen.
Wenn übrigens die Bürger des Eheingaues im Mittelalter
der Handwerkerzünfte entbehrten, so gliederten sie sich darum
doch in manche Körperschaften , welche wiederum mehr
städtischen als ländlichen Characters sind. Hierher gehören
2. B. die mehrere Gemeinden umfassenden sogenannten „Kum-
panschaften", woraus der Landesheerbann zusammengesetzt
war, und welche recht eigentlich die militärische Gliederung
der Städtebürger nach Zünften ersetzten. Einer ganz indivi-
duellen Form genossenschaftlichen Verbandes will ich hier aber
12) Eigene Worte eines Cauber Pfarrers in Kehrein 's Volks-
sprache und Volkssitte im Herzogthum Nassau, 11 , 193.
Bield: Bauernland mit Bürgerrechten, 265
näher gedenken, weil sie örtlich originell ist und sich in Bruch-
stücken bis auf diesen Tag erhalten hat. Es sind dies die
sogenannten Nachbarschaften oder Brunnengesell-
schaften. Das Alter derselben reicht jedenfalls hotch in*s
Mittelalter hinauf, obgleich, wie es scheint, ältere schriftliche
Statuten als vom Jahre 1607 ^^) bis jetzt nicht bekannt ge-
worden sind. Die Nachbarn gewisser Strassen oder Viertel
Terbünden sich zur Unterhaltung und Beinigung eines gemein-
samen Brunnens, erwählen alljährlich einen „Bornmeister^S legen
ein „Bombuch" an, verpflichten sich dann aber nicht blos
zum Zusammenhalten betreffs des Brunnens, sondern auch zu
gemeinsamen Festen, zu Hilfeleistung in allerlei Noth und
Gefahr, namentlich auch zu gegenseitiger Todtenbestattung
und zu gemeinsamem Trost im Leide. („Zum Letzten ist es
auch ein altes Herkommen, dass die ganze Nachbarschaft einem
Nachbarn sein Kreuz helfe tragen und trinke ein MaassWein
mit demselben zum Tröste".) Ein Nachbar soll nicht einmal
verreisen, ohne es vorher der „Nachbarschaft" unter Angabe
der Ursache zu melden und Urlaub zu erholen, bei Strafe
eines halben Viertels Wein. (Die Strafen sind überhaupt fast
sammt und sonders in Wein ausgemessen.) Am härtesten
wird Zank und Streit in den Versammlungen gestraft: der
Friedensstörer muss der gesammten Nachbarschaft für diesen
Tag die Zeche bezahlen — „wie vor Alters". Diese Korpora-
tionen hatten dann auch ihre eigenen Fahnen und Trommeln,
ja von „Haken und Geschütz" ist die Eede, „so gemeiner
Nachbarschaft zuständig": doch sind dies wohl nur Böller zu
Freudenschüssen gewesen. Besonders merkwürdig aber ist das
Brunnenbuch, in welchem keineswegs blos Notizen über das
Brunnenfegen enthalten sind, sondern es sollen vielmehr , jähr-
lich aUe denkwürdigen Sachen darin verzeichnet werden". Und
13) Abgedruckt bei Schunk a. a. 0. IQ, 243. Die ,,Nachbar-
schaft^^ nennt sich damals schon die ^^uralt Benachbarten/^
266 Jahrb, der histor. Classe der k, Akad, der Wissenschaften,
SO finden wir denn auch in den von Schunk mitgethteilten
Proben, dass diese Brunnenbücher kleine Chroniken gewesen
sind, und gleich den Statuten selbst von der städtischen
Bildung jener Bürger auf dem Lande Kunde geben.
Gegenwärtig sollen diese Nachbarschaften noch am voll-
kommensten in Lorch sich erhalten haben, sie kommen aber
auch weiter rheinabwärts vor, **) und das „Bornbuch** besteht
noch als „Nachbarbuch'*; neben den uralt herkönmalichen
Zwecken dienen die Zusammenkünfte jetzt aber auch zur Ver-
einbarung über Landtags- und Gemeindewahlen, Adressen u. dgl.
und hält hier also sogar derConstitutionalismusmit dem Mittel-
alter gute Nachbarschaft.
5.
Wie das Gewerbe imEheingau vereinzelt blieb und ohne
politisch corporative Geltung, so auch der Handel. Der Gau
hatte handeltreibende Weinproducenten , aber keine Kaufleute.
Seine grössten Handelsherren wären die Eberbacher Mönche ge-
wesen, wenn ihnen die Ordensregel erlaubt hätte, sich anders
als mittelbar am Handel zu bethßiligen. Die Rheingauer Bürger
suchten den nächsten Stapelplatz ihrer Weine ausser Landes,
in Bacharach, und die Mönche besassen in Köln eine Haupt-
niederlage „ihrer entbehrlichen Producta**, wie Pater Bär vor-
sichtig sich ausdrückt. Diese entbehrlichen Producte müssen
aber sehr massenhaft gewesen sein; denn zum bequemeren
Vertrieb derselben trat die Stadt Köln dem fernen Kloster
1191 das neben seinem Handelshof gelegene Bheinthor zu
14) Kehrein a. a. 0. II, 189. Yf^l. auch die Frankfurter
Brunnenordnung in Lersner's Frankf. Chron. 11, 10.
BieM: Batternland mit Bürgerrechten, 267
St. Servatius sammt daran stossendem Grund und Boden als
Eigenthum ab mit der Befugniss, „d^ss sich die Ebei^
bacher nach ihrem Belieben und Bedürfniss anbauen und in
Friedenszeiten sowohl das Thor als die auf demselben zu er-
richtendeti Anlagen frei benutzen könnten. Nur behielt sich die
Stadt das Recht vor, bei Entstehung einer Fehde daselbst ihre
Wachen aufzustellen". ^*) Der Besitz dieses fremden Stadt-
thores blieb durch Jahrhunderte der Stolz des Klosters, und
er war in der That ein stattliches Wahrzeichen seiner politischen
und Handels-Macht.
Wenn es der Bheingau aber auch zu keiner eigenen Kauf*
mannsgilde brachte, so entwickelte er doch Handelseinrichtungen,
die wieder entschieden auf das Städtewesen hinüberdeuten.
Das Land handhabte seine gemeinsame Handelspolizei
und Handelspolitik. Das ist durchaus nicht bäuerlich.
Sind doch unsere deutschen Bauern heute noch vor allen Ständen
wirthschafts- und sittenpolizeilich am meisten vom Staate be-
vormundet. Sie haben im Mittelalter die Förderung der eige-
nen Production und die Ordnung des Vertriebes ihrer Producte
nicht genossenschaftlich in die Hand nehmen können wie die
Städte, und so setzte sich der moderne Staat zum volkswirth-
schaftlichen Vormund frei gewordener Bauernschaften, weil die
hörigen Vorfahren nicht gelernt hatten, ihre Wirthschaft ge-
meinsam zu ordnen. Aber auch die freien Bauern waren indi-
vidualistisch und scheuten vor der wirthschafüichen Korporation
zurück, die im Mittelalter allein Schutz und Macht verlieh,
wie in unserer Zeit vor der Association. Darin unterscheiden
sich nun die alten Bheingauer von anderen freien Bauern: die
Natur des Weinbaues und Weinhandels zwang sie zu gemein-
15) Die Urkunde, auch für die mittelaltrige Städtegeschichte in-
teressant, findet sich abgedruckt in Bär's dipl. Nachr. Beil. XXVUl.
Erst 1595 verkauften die Eberbacher Thurm und Thor mit allem
Hechte wieder an die Stadt Köln.
268 Jahrb. der histor. Glosse der k. AJcad. der Wissenschaften.
Samen Wirthschaltsmassregeln und ihre landespolizeiliche
Antonomie ermöglichte deren Handhabung. Die ehemaligen
Kellervisitationen und die Massregeln gegen Weinverfälschung/ ^)
welche uns jetzt als lästiger Zwang erscheinen wurden, sind
vordem hier auf dem Lande vielmehr Zeichen gemeiner Frei-
heit und Selbständigkeit gewesen, gerade so wie die Zünfte
in der Stadt, die uns jetzt Fesseln und Schranken dünken,
weüand Hegestätten der Bürgerfreiheit ja der Demokratie ge-
wesen sind.
Eine höchst eigenthümliche und darum auch oft erörterte
Form rheingauischer Handelspolizei begegnet uns auf den Wein-
märkten in den sogenannten „Gabelungen^^ Sie sollen in
ihren Anlangen bis in*s 12., ja in's 11. Jahrhundert hinauf-
steigen; genauen Nachweis über das als „altes Herkonunen"
bezeichnete Verfahren hat uns Niklas Itzstein in seinem
1643 zusammengestellten „Bheingauer Landesbrauch^^ aufbe-
wahrt. Damit die guten Weine nicht ausschliesseud von den
fremden Eaufleuten gekauft und zu immer höheren Preisen
hinaufgetrieben , die geringeren aber entwerthet würden und
liegen blieben, sortirte man die Ernte ganzer Gemeinden und
theilte die Fässer in Loose von je zwei Stück und zwar derart,
dass das beste Fass mit dem schlechtesten, das zweitgute mit
dem zweitgeringsten und so fort zusammengethan wurde, wo-
bei dann die mittlere Qualität endlich in den mittleren Loosen
sich vereinigte. Hierdurch waren überall mittlere Werthe her-
gestellt und man konnte einen gleichheitlichen mittleren Preis
durch Meistgebot bestinmaen; war dieser erzielt, so zog ein
jeder Käufer sein Loos. Als einmal in Bauenthal ein ge-
16) Die Strafverfügungen gegen Weinfälscher scheinen ursprüng-
lich von den Handelsstädten ausgegangen zu sein. Siehe Bod-
mann a. a. 0. I, 407 und 409, wo Bin Beispiel exemplarischer Be-
strafung . von Weinfalschern in Köln aus einer handschriftlichen
Chronik mitgetheilt wird. Dsgl. Lersner 1. c. I, 493.
BieKl: Bauernland mit Bürgerrechten. 269
gabeltes Fass liegen blieb und nachträglich von einem Kauf*
mann in Braunschweig reclamirt wurde, liess es ihm die Ge-
meinde nicht eher ausfolgen, bis er von sämmtlichen Mitkäufem
das Zeugniss beibrachte, dass sie auf das Fass keinen Anspruch
machten. Diese Mitkäufer wohnten aber in Walluff, Dortrechtt
Schleswig und Minden, und das Gabelungsprotokoll war aucii
nach Minden gewandert ! Darum begi^hloss man, dass künftig-
hin eine Abschrift des Protokolls am Orte bei Geridit hinter-
legt werden solle. ^^)
Solche Gabelungen dünken uns jetzt wohl höchst wunder-
lich; dennoch bekunden sie im Mittelalter und den nächst-
folgenden Jahrhunderten eine selbständige und gemeinsame
Handelspolitik unsers Gaues, und man prophezeite schlimme
Folgen, als sie im 18. Jahrhudj^ert aufgehoben wurden! Sie
waren aber thatsächlich in sich selbst zusammengefallen und
zwar in Folge der Selbstemancipirung der grossen Kapitalisten.
Denn der Adel und die Stifter und dann auch die reicheren
Bürger nahmen sich die Freiheit vor der Eröffnung des
Marktes zu verkaufen und dadurch der für sie am wenigsten
erwünschten Gabelung zu entgehen. Wie das grosse Kapital
durch Manufacturen und Fabriken die Zünfte ökonomisch
trocken gelegt hat, so sprengte dasselbe auch den genossen-
schaftlichen Bann des Weinbaues und Weinmarktes.
Uebrigens erstreckte sich die rheingauische Form der
Gabelung auch über den Gau hinaus und bestand z. B. in
Hochheim und Bodenheim. So sind auch die oben besprochenen
„Nachbarschaften" rheinab gewandert bis Bomich, und manche
andere Einzelzüge, die ich vom Eheingau mitgetheilt, werden
sich zerstreut auch in andern benachbarten Rheinorten wieder-
finden. Dies stösst aber meinen allgemeinen Satz nicht um,
dass die grosse Summe eigenster Züge in Wirthschaft und
Gesittung des Gaues aus dessen politischer Freiheit erwachsen
17) Schunk a. a. 0. II, 898
270 Jahrb, der hiOar. Gasse der h. Äiad. der Wissenschaften.
Bei. Denn wie der Bheingau ein üebergangsgebilde von Bürger-
thom nnd Bauemthmn bot, so gibt es auch benachbarte Ehein-
orte, welche wieder auf der Uebergangsstnfe vom Bheingauer
Halbbürger zum yoUendeten hörigen £3einbauem des armen
Hinterlandes standen. Es wäre dann eine anziehende Aufgabe
des Localgeschichtsforschers , nachzuspüren, inwieweit nicht
blos rheingauer Weinbau, sondern^ auch rheingauische Sitten
und Einrichtungen den Nachbarn zum Vorbilde gedient haben.
Nur bei den Ueberhöhem wird man vom Einen so wenig wahr-
nehmen können wie vom Andern.
Ich könnte diese Erörterungen noch nach zwei Seiten weiter
fahren: Kunst und Wissenschaft wurden im Kheingau
manigfach gepflegt; dennoch ist das Land als solches kein
Herd eigenartiger Geistescultur gewesen. Von Kiederich und
Eltville bis Lorch ist der Gau bedeckt mit einer Beihe zum
Theil ausgezeichneter Denkmale des romanischen und gothischen
Styles, und die Fälle und Zierlichkeit derselben sticht auffallend
ab gegen die Dürftigkeit und Bohheit der wenigen mittel-
altrigen üeberbleibsel, welche der angrenzende überhöher Land-
strich, ja selbst die Nachbargegend , der gesegneten Königs-
hundrete aufzuweisen hat. Manche altberühmte deutsche Stadt
besitzt nicht so viele und schöne Kunstdenkmale wie der
Bheingau. Allein, dass künstlerischer Geist die Bürger beseelt
habe, dass die Kunst ihr Eigenthum gewesen oder geworden
sei, wird Niemand darzuthun vermögen. Leichter wäre der
Beweis des Gegentheiles, für welchen schon die Thatsache einen
Fingerzeig gibt, dass der Gau kein selbständiges Gewerbeleben
kannte, welches im Mittelalter überall der Kunstbetriebsamkeit
BiefU: Bauernland mit Bürgerrechten. 271
ZU Grunde liegt. Es bildet auch der Gau keine massgebende
Architekturzone , sondern nur einen Ausläufer der Mainzer
Kunstrichtung und war hier, wie auf andern Gebieten höherer
Geistescultur, eine Vorstadt von Mainz. Gelehrte und litterarisch
thätige Kleriker zählt der Eheingau nicht wenige während des
Mittelalters; Jakob von Eltville (um 1350) und Kudolf von
Eüdesheim (um 1470) haben sogar zwei rheingauische Orts-
namen berühmt gemacht in der mittelaltrigen Geschichte der
Theologie, allein das Wirken des Einen gehörte seinem Kloster,
Eberbach, des Andern der Universität Heidelberg und Niemand
wird von den vielen kleineren Gelehrten, welche Eberbach
schon früher unter seinen Mönchen aufführt, einen Schluss auf
den wissenschaftlichen Geist der Kheingauer zu ziehen wagen.
Um so bedeutsamer erscheint im öegentheil die Thatsache,
dass zu einer Zeit, wo in den wirklichen Städten ein acht
bürgerliches Bildungsleben mit frischesten Trieben aufsprosste,
die Eheingauer Culturgeschichte fast nur von theologisch ge-
lehrten Mönchen zu erzählen und andererseits den Mangel
an Schulen und den schlechten Zustand der wenigen vor-
handenen zu rügen weiss. ^®) Auch der zahlreiche Adel des
Gaues, obgleich er in der Periode der ritterlichen Kunst des
13. Jahrhunderts schon fröhlich blühte und überhaupt ein
glänzendes und äusserlich verfeinertes Leben geführt zu haben
scheint, hat uns keine Zeugnisse hinterlassen, dass ihn ein
ähnlicher künstlerischer Geist emporgehoben habe, wie die
Eitterschaften Oberfrankens, Schwabens, Bayerns und AUeman-
niens. Die Bürger waren Weinbauern, aufgeweckt durch ihre
Freiheiten, regsam in der Bodencultur, politisch ebenso fort-
schrittslustig wie das tonangebende Mainz, weit mehr als an-
dere Bauern an städtische Bedürfnisse und städtischen Luxus
gewöhnt, aber ohne den Ernst und die Tiefe einer gesammelten
städtebürgerlichen Schule und Zucht des Geistes. Dieser uralte
18) Siehe Bodmann I, 426 f.
272 Jahrh, der fUstor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
QegeiiBtLtz ist sicher ein Quell der schon Mhe beklagten
materiellen und äusserlichen Sinnesart der Bheingauer, wie sie
sich so leicht bei socialen Uebergangsexistenzen ein-
zustellen pflegt.
Im Mittelalter waren Stadt und Land durch das Hecht
imterschieden, während sich dieser Unterschied in unserer Zeit
in einen blos wirthschaftlichen und socialen umgesetzt hat.
Trotzdem sehen wir, dass ein Landstrich, dessen Bewohner
städtische Bechte und Freiheiten genossen, auch im Mittelalter
immer nur halbwüchsig blieb, ein Bauemland mit Bürgerrechten,
weil die Form der Siedelung, der Wirthschaft und der Gesittung,
d. h. der sociale Gesammtcharacter nicht städtisch geworden
war. Und lassen sich die wichtigsten Bechtsunterschiede der
alten Stände nicht überhaupt auf letzte wirthschafüiche Vor-
aussetzungen zurückführen?
Andererseits wird es aber auch dem Ohre des Bheingauers
befremdend klingen, wenn ich sein Land ein Bauemland nenne.
Und dieses Befremden ist berechtigt, ja ich bekenne, dass selbst
meinem eigenen Ohre die Worte „Bauemland" und „Ehein-
gau" nicht recht zusammenstimmen wollen. Allein ich weiss
kein anderes Wort , welches ein Land der überwiegend land-
wirthschaftlichen Cultur bezeichnete, die freilich hier von
altersher getragen und durchdrungen war von industriellem
und kaufmännischem Geiste: von einem Gteiste, der seinen
Bückhalt fand nicht in einem hörigen und auch nicht in einem
nach altgermanischer Weise freien Bauerathum, sondem bei
Bodenbauem, die von der Stufe uralt bäuerlicher Gemeinfreihfeit
zu städtebürgerlichen Freiheiten aufgestiegen waren.
Die Culturgeschichte des Bheingaues lehrt uns, wie die
Entwickelung eigenartiger Wirthschaftsformen im Mittelalter
mit Bechten und Freiheiten des Volkes innig zusammenhängt ;
sie lehrt uns aber auch, dass die Sitten des Volkes nicht
nivellirt, sondern im Gegentheil recht fest und scharf geprägt
wurden durch das reichste Maass politischer Freiheit. Der
Biehl: Bauernland mit Bürgerrechten, 273
Eheingau hatte und hat seme eigene Mundart, seinen besonderen
charactervollen Sittenkreis, seine auszeichnende politische Farbe,
seine unterscheidende Bildungsatmosphäre. Wenig erbaut vom
socialen Conservatismus der Bauern, hat man auf liberaler Seite
behaupten wollen, das treue Festhalten des Landvolkes an
örtlich abgegrenzten Sitten, sei die Folge eines Sturnpfsinnes,
gezeugt von alter politischer Unfreiheit und Unterdrückung.
Allein gerade die freiesten Bauernschaften an unsem nordischen
Meeresküsten, wie in den Alpen und hier am ßheine sind auch
in ihren Sitten die originellsten und ausdauerndsten gewesen';
nur muss man freilich bei den Sitten noch an etwas Tieferes
denken als an Bock und Hosen und Hochzeiten und Leichen-
schmäuse. So haben auch nicht die landesherrlicken Städte
sondern die Beichsstädte, und unter diesen wieder hervorragend
die mächtigsten, selbständigsten und reichsten, ein eigenthüm-
liches Sittengepräge des Bürgerthumes bewahrt bis auf diesen
Tag. Und wenn der Eheingau doch auch wieder mehr verloren
hat von seinem ursprünglichen Y olkscharacter , als z. B. die
freien Bauemländer der Schweiz oder der Nordseemarschen, so
geschah dies in jenen Jahrhunderten, welche ibm das alte
Eecht Stück für Stück raubten und das halbstädtische Land
rettungslos hinabzogen in den allgemeinen Verfall des deutschen
Städteyresens.
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V.
Die
Säcularisation des Kirchengutes
unter den
Carolingern
von
Professor Paul Roth.
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V.
Die Säcularisation des Kirchengutes unter den
Carolingern.
Es charakterisirt die früher verbreitete Auffassung der
deutschen Verfassungsentwicklung, dass man für alle Umge-
staltungen einen längeren Zeitraum voraussetzte, in welchem
dieselben sich vorbereitet und endlich vollzogen haben sollten ;
man hielt plötzliche Veränderungen ffir unvereinbar mit der
Natur der deutschen Verfassung, und suchte geflissentlich
überall nach Uebergangsstufen, durch welche die Beseitigung
früherer Einrichtungen und das Hervortreten neuer Gestaltungen
fast unbewusst hätte erfolgen müssen. Allein wie für das
Mittelalter so entbehrt diese Auffassung auch far die ältere
Zeit der Begründung. Wie im Mittelalter, um nur ein Bei-
spiel anzuführen, nach den sorgföltigen und so verdienstlichen
Untersuchungen Fickers die folgenreiche Veränderung in der
Stellung der Keichsstände sich in dem Zeitraum weniger Jahre
vollzieht , so ist die Mitte des- 8. Jahrhunderts , die Zeit des
Uebergangs von der merovingischen zur carolingischen Mo-
narchie, der Sitz einer Umgestaltung, die man beinahe als
Umwälzung bezeichnen kann.
Als ein Breigniss von besonderer Bedeutung erscheint die
damals vollzogene Säcularisation des Eirchenguts, die ich schon
278 Jahrb. der histor. Classe der h. Akad. der Wissenschcfien,
in meiner Geschichte des Beneficialwesens Erlangen 1850 und
der damit in Verbindung stehenden Schrift: Feudalitat und
Unterthanenverband Weimar 1863 einer genaueren Unter-
suchung unterworfen habe. Veranlassung zu wiederholter Be-
sprechung giebt mir zunächst der Umstand, dass die Nach-
richten der Chronik von S. Wandrille bei np-herer Betrachtung
eine Bestätigung meiner Darstellung ergeben, die mir früher
entgangen war.
Die Umwälzung, welche in der Mitte des achten Jahr-
hunderts in den Vermögensverhältnissen der kirchlichen In-
stitute des Frankenreichs eingetreten ist, war lauge Zeit d^
Beachtung entgangen, und wurde später ganz unrichtig auf-
gefasst. Noch in neuerer Zeit wird von Manchen auf die Frage,
Ton wem sie ausgegangen sei, besonderes Gewicht gelegt, ja
die ganze Untersuchung zunächst darauf gerichtet. Carl
Martell, so lautet die aus dem Mittelalter überkommene Ueber*
lieferung, hatte das Kirchengut eingezogen, woffir er, wie dem
Bischof Eucherius von Orleans durch eine Vision mitgetheilt
wurde, der ewigen Verdammniss verfiel. Obwohl das Märchen-,
hafte dieser Erfindung längst nachgewiesen, obwohl hergestellt
war, wie und wann dieselbe zuerst öffentlich aufgetreten sei,
80 war für* die richtige Auffassung doch noch wenig gewonnen.
Denn abgesehen davon, dass von Manchen unter Einräumung
der formellen Unrichtigkeit in den Angaben der Vision des
Eucherius die Bichtigkeit des materiellen Inhaltes behauptet
wurde und noch wird, war durch die Betonung der Personen-
frage der Untersuchung eine ganz falsche Sichtung gegeben.
Der Umstand, dass ein grösserer Theil des Kirchengutes
Boih: Die Säadarisatian des Kirchen§utei. 279
kirchlichen Zwecken entfremdet geradena m öffentlichen Zweckmi
in Anspruch genommen wird, hat etwas so auffallendes, an^
scheinend unerklärliches, dass dabd die Frage, wer eine der^
artige Maassregel v^ängt, gegen die andere, wie und wannn
sie eingetreten sei, ganz in den Hintergrund tritt Was
es ein Akt willkürlicher Gewalt, lag es in den Sitten der
Zeit, beruhte es auf einem Satz des fränkischen Staatsredits^
oder wurde es durch äussere umstände yeranlassti dass im
Laufe des 8. Jahrhunderts wenigstens ein Drittel alles Earchen-
gutes in weltliche Hände überging und der Kirche ^tzogOQ
blieb? Die Entscheidung dieser Fragen verspricht die wichtig*
sten Aufschlüsse nicht nur über die kirchlichen Einriehta^geii^
sondern auch für die richtige Erkenntniss der Yerfassungsenb»
Wicklung und der socialen Zustände des Frankenreichs, und
wird daher den Mittelpunkt der Untersuchung zu bilden haben*
Verg^enwärtigen wir uns den Um&ng und Verlauf der
Säcularisation , so muss es zunächst auffalle, dass eine in
alle Verhältnisse des kirchlichen Lebens tief angreifende Maash
regel so sehr mit Dunkel bedeckt ist Wie kommt es, mdchtQ
man fragen, dass in einer Periode, in der die meisten ja fast
alle historischen Auizeichnungen von Glerikem ausgehen, niur
ganz vereinzelt gleichzeitige oder der Zeit nahe li^nde An^
deutungen darüber vorli^n? Wie kommt es, dass eine umn
4ngreiche Einziehung des Eirchengutes Jahrhunderte lang ver*'
gessen oder in ihrer Bedeutung verkannt sein konnte? Der
Mangel glächzeitiger Au&eichnungen allein kann kaum die
Veranlassung gewesen sein. Denn dass aus der Zeit Oaii
Martells überhaupt so gut wie keine aus der Zeit Fipins nur
magere Mittheilungen Gleichzeitiger vorliegen, wird uns das
Stillschweigen der zahlreichen historischen Quellen der unmittel«
bar folgenden Zeit nicht erklären, wo es sich um ein Verfahren
handelt, dessen Einzelheiten lange im Gredächtniss der Nactirr
kommen fortgelebt haben werden. Noch jetzt findet sich ii|
vielen deutsdien Ländern eine lebendige Erinnerung an deft
280 Jahrb. der histor, Glosse der k, Äkad. der Wissenschaften.
Bestand Mrchlicher Listitnte, die über 60 Jahre zn existiren
aufgehört haben; wir werden daher in einer Zeit, in welcher
der mündlichen Ueberliefenmg eine ^o viel grössere Bedentung-
zukam, för diese wenigstens die gleiche Dauer annehmen müs-
sen, und können daher kaum zweifeln, dass zur Zeit Carls des
Grossen die Entstehung der Verhältnisse, die damals bei den
meisten kirchlichen Instituten zu lebhaften Klagen Veranlassung
gaben, noch allgemein bekannt war. Gleichwohl bringen
unter allen bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts verfassten
historischen Aufzeichnungen nur drei eine darauf bezügliche
Notiz, nämlich die verlorenen Murbacher Annalen in der in die
Annales Alemannici Nazariani und Guelferbjrtani übergegangenen
Stelle zum Jahre 751: Res ecclesiarum descriptas atque divi-
sas; femer die Annales Bertiniani, welche zu 750 mittheilen:
Pipinus monente S. Bonifacio quibusdam episcopatibus vel
medietates vel tertias rerum .... promittens in postmodum
omnia restituere; und der Verfasser der Gesta abbatum Fon-
tanellensium, der in verblümter Weise eine Beschädigung des
Kirchenvermögens durch Pipin andeutet. Alle übrigen histo-
rischen Schriften dieser Zeit beobachten absolutes Stillschweigen,
und erat in Schriftstellem nach der Mitte des 9. Jahrhunderts
wird die Säcularisation sowohl im allgemeinen als bezüglich
einzelner kirchlicher Institute erwähnt, und theils auf Pipin
theils auf Carl den Grossen meist aber auf Carl Martell zurück-
geführt.
Noch auflFaUender als dieses Schweigen gleichzeitiger
Schriftsteller über ein Ereigniss, das an Bedeutung keinem
anderen dieser Zeit nachstand, ist das Fehlen wichtiger Doku-
mente, deren Vorhandensein in der früheren Zeit zweifellos
feststeht. Es gilt diess vor allem von den beiden Briefen des
hl. Bonifacius, in welchen er über die Maassregel berichtet,
auf welche zwei Antwortschreiben des P. Zacharias noch vor-
liegen. Von gesetzlichen Bestimmungen fehlen die Akten der
in dem Synodus Vemensis (C. 755, 20, 27) erwähnten Synode,
Bath: Die SäctUarisatian des Kirchengutes, 281
auf welcher verfagt war , dass die Klöster von dem ihnen be-
lassenen Theil des Kirchengutes an den König oder Bischof
Bechnung zu stellen hätten, und der in einem Capitular von
768 (PertzIV. 13.) angeführten Synode, auf welcher der König
Pipin der Kirche eine Zusicherung der Unterlassung aller
weiteren Einziehung gegeben hatte. Das Edict, welches Carl
der Grosse in Verbindung mit dem Papst Leo ausstellte, um
die Kirche vor jeder weiteren Einziehung von seiner und seiner
Nachkonmien Seite sicher zu stellen, ist uns nicht erhalten,
obwohl es in der Mitte des 9. Jahrhunderts noch vorhanden
und in zahlreichen Exemplaren verbreitet war, da es der Kaiser
far jeden Metropolitansitz in Original hatte ausfertigen lassen.
Das Aufifallendste aber ist das gänzliche Fehlen der Precariae
verbo regis in allen unsern Urkundensammlungen, so dass wir
auf die in den gefölschten Acta episcoporum Cenomanensium
und den Gesta Aldrici mitgetheilten beschränkt sind, während
früher doch tausende von solchen durch ganz Gallien verbreitet
gewesen sein müssen. Erwägt man dabei , dass durch Inter-
polation die Fabel von der Vision des Eucherius sogar in die
Briefe des hl. Bonifacius sich einschlich, so wird es weniger
in Verwunderung setzen, dass früher so irrige Meinungen
herrschen konnten, und man wird das Stillschweigen der gleich-
zeitigen und zunächt lebenden Schriftsteller kaum zufällig
finden. Die Sache wurde von den der Zeit nach zunächst
stehenden todt geschwiegen, und seit der Mitte des 9. Jahr-
hunderts vielfältig falsch dargestellt, zum Theil nicht ohne
Absicht.
Diese Erwägungen drängen sich auf, wenn wir aus den
kargen uns erhaltenen Ueberbleibseln von Nachrichten die
Grundzüge des Verfahrens zusammenstellen ; viel weiter werden
wir kaum gelangen, da die jetzt vorhandenen Quellen nur diess
gestatten, und eine wesentliche Vermehrung derselben kaum
wahrscheinlich ist.
Was vor allem den Umfang anbetriflft, so fehlen freilich
282 Jährh, der histor, Claase der Je Akad, der Wissenschaften,
direkte Angaben, wie denn für diese Zeit statistische Anhalts-
punkte irgend einer Art überhaupt nicht vorliegen ; doch finden
wir in den gleichzeitigen Quellen hinlängliche Auüschlüsse, um
wenigstens über blosse Vermuthungen hmausgehen zu können.
Eine solche hat neuerdings Waitz aufgestellt, indem er be-
hauptete, unter Carl Martell sei das Kirchengut im Franken-
reiche so gut wie vollständig in den Händen der Weltlichen
gewesen. Allein dieser Annahme steht entgegen, dass wir von
einer Eeihe kirchlicher Institute, über welche für die ganze
Dauer des 8. Jahrhunderts nähere Nachrichten vorliegen,
gerade das Gegentheü nachweisen können. Ich erinnere bei-
spielsweise an die Klöster S. Denys und S. Wandrille in Gal-
lien, Weissenburg und S. Gallen in Deutschland, welche in
keinem Zeiträume des 8. Jahrhunderts sich ganz in den Händen
Weltlicher befunden haben.
Ebensowenig wie eine derartige allgemeine Vermuthung,
welche durch die Naclirichten im einzelnen nicht bestätigt
wird, sind für die Entscheidung von Bedeutung die Klagen,
denen wir bei kirchlichen Schriftstellern namentlich der späte-
ren Zeit häufig begegnen, da sie nicht sowohl den Umfang
als den Grundsatz der Eiijiziehung zum Gegenstand haben.
Wichtig ist dagegen vor allem die ofScielle Aeusserung in
C. 744, 3, 21: de rebus ecclesiaram subtraditis monachi vel
ancillas dei consolentur usque ad iUorum necessitati satisfaciant,
et quod superaverit census levetur. Es spricht diese Stelle
bestimmter als eine entsprechende im Capitulare Liftinense c. 2,
wo nur im allgemeinen gesagt ist, dass die kirchlichen In-
stitute vor Mangel geschützt sein sollten ; denn die Bestimmung
Pipins geht noch weiter, indem aus ihr zu entnehmen ist,
dass den Klöstern nur ihr Bedarf gelassen werden sollte, wäh-
rend das übrige (quod superaverit) der Verwendung durch den
Staat verfiel. An sich ergibt sich hieraus, dass bei den ein-
zelnen kirchlichen Instituten wenigstens eine allgemeine Ver-
anschlagung des Güterbestandes und Feststellung des noth-
Both: Die Säcularisatian des Kirchengutes. 283
wendigen Bedarfes vorgenommen wurde; wir haben darüber
auch wirklich authentischen Aufschluss,«da nach C. 755r20, 27
auf einer nicht mehr vorhandenen Synode bestimmt wurde,
dass die Klöster von dem ihnen zum Unterhalt belassenen
Theil ihres Vermögens Rechnung zu stellen hätten, wodurch
also die Notiz der Murbacher Annalen: Bes ecclesiarum de-
acriptas atque divisas hinsichtlich der Klöster vollständig be*
stätigt ist.
Für die bischöflichen Kirchen bieten die Verhandlungen,
soweit sie uns erhalten sind, keinen derartigen Anhaltspunkt,
da die erwähnten Bestimmungen ausdrücklich nur von Klöstern
sprechen. Indessen ist es ganz zweifellos, dass die Säculari-
sation von Anfang an auch auf die bischöflichen Kirchen sich
erstreckte, da das Concilium Liptiiiense C. 743, 2, 18 sie aus-
dnicklich neben den Klöstern nennt: ad ecclesiam vel mona-
sterium reddantur, und Pabst Hadrian in seinem bekannten
Briefe an den Bischof Tilpin (Bouq. V. 594) bezeugt: et res
ecclesiae de illo episcopatu sunt ablatae, et per laicos divisae
sunt, sicut et de aliis episcopatibus, maxime autem de Bemensi
metropolitana civitate . . . Die Einziehung war nicht unbe-
deutend, da noch im 9. Jahrhundert bei einzelnen Stiftern
die Nachwirkung verspürt wurde, Concil. Paris VI. von 829,
c. 15: ut . . morem paternum sequentes quasdam sedes episco-
pales, quae rebus propriis viduatae immo annullatae esse viden-
tur . . . de earum sublevatione . . . cogitetis. Wie wir aus dem
Concüium Liptinense ersehen, wurde auch den bischöflichen
Kirchen nur ein Theü ihres Grundbesitzes entzogen, also ver-
muthlich der Bedarf belassen, der freilich grösser war als bd
den Klöstern, da sich in den DiöcesanWrchen die ganze Ad-
ministration der Diöcese concentrirte.
Was hier als Resultat aus den Aeussenmgen officieller
Aktenstücke festgestellt ist, bestätigt sich durdi die Nach-^
richten von einzelnen Kirchen. Es ist vor allem die Chronik
von S. Wandrille, der wir wichtige Aufschlüsse verdanken.
284 Jahrb. der histar. Classe der k, Akad. der Wissenschaften.
Das in der Mitte des 7. Jahrhunderts gestiftete Kloster S.
Wandrille (Fontanellum) war eines der grösseren Klöster
Galliens, nnd dadurch ausgezeichnet, dass es zu Ende des 7.
und Anfang des 8. Jahrhunderts far das Amulfingische Haus
die Stellung hatte, welche seit Mitte des 8. Jahrhunderts für
das carolingische Geschlecht Prüm einnahm, und die unter
den Merovingem dem Kloster S. Denys zugekommen war.
S. Wandrille erfreute sich nicht nur der speciellen Gunst
Carl Martells, sondern auch der Leitung seines Neflfen Hugo,
der zugleich Bischof von Eouen Paris und Bayeux und Abt
von Jumiöges war (723 — 731). Gerade unter Hugo erhielt
das Kloster den grössten Zuwachs von Besitzungen, die da-
mals wenigstens 7000 Mansi betragen haben müssen. Die
quellenmässige Geschichte dieses Klosters, welche den Zeit-
raum von der Gründung desselben bis in das erste Drittel des
9. Jahrhunderts umfasst, ist die einzige uns erhaltene nahezu
gleichzeitige Darstellung der Schicksale eines kirchlichen In-
stituts im 8. Jahrhundert. Ihr Verfasser, der in der letzten
Zeit Ludwig des Frommen schrieb, hat nicht nur das Kloster-
archiv benützt, dessen Urkunden zu seiner Zeit noch vollstän-
dig vorhanden waren, sondern er hatte auch noch mündliche
Ueberlieferungen zur Hand, deren eine er als zu seiner Zeit noch
notorisch bezeichnen kann (omnibus est notissima c. 15). Die
Genauigkeit seiner Darstellung lässt sich daran erkennen, dass
er c. 12 die Namen der Mönche mittheilen kann, die 742 in
einer Klosterangelegenheit an Pipin gesendet wurden.
Es wäre kaum zu verwundem, wenn die Einziehung das
Stammkloster der carolingischen Familie gar nicht berührt
hätte; dass auch dieses kirchliche Institut nicht verschont
blieb, zeigt am deutlichsten das Umfassende der Maassregel.
Ausdrücklich fährt der Chronist an, dass unter dem Abt Wido
(753 — 787) die Existenz des Klosters in Gefahr kam, da die
«um Unterhalt der Mönche erforderlichen Mittel nicht mehr
aufgebracht werden konnten. Es ist daher nicht eine blosse
Both: Die Säctdarisation des KirchengtUes. 285
Phrase, wenn in den gesetzlichen Dokumenten dieser Zeit der
Fall vorgesehen wird, dass Klöster aus grosser Armuth nicht
mehr im Stande seien, den Unterhalt der Klosterleute zu b&r
streiten und die Vorschriften der Eegel zu erfüllen.
Wie bei den Klöstern so tritt auch bei den bischöflichen
Kirchen die Zerstörung des Besitzes im 8. Jahrhundert her-
vor. Die Ausdehnung der Säcularisation in dem Bisthum
Bheims ergibt sich aus der Schilderung, welche Flodoard
(historia Bemensis 11. 17) von der auf Wiedererlangung des
entzogenenen Besitzes gerichteten Thätigkeit des Bischofs Tilpin
macht. Die Kirche von Lyon war noch bei dem Amtsantritt
des Bischofs Leidrad (798) nach einem Bericht desselben an
Carl den Grossen in einem sehr heruntergekommenen Zustand,
und noch 829 waren nach der Aeusserung des Pariser Concüs
mehrere bischöfliche Kirchen in sehr trauriger Lage. So
werden wir die Aeusserungen in späteren Aufzeichnungen,
welche von eüizelnen bischöflichen Kirchen eine fast gänzliche
Zerstörung des Besitzstandes melden, wie von Auzerre Le
Mans und Vienne, nicht ganz unglaubwürdig finden:
Es scheint daher bei der Säcularisation im 8. Jahrhundert
als durchgehendes Princip hervorzutreten, Einziehung derjeni-
gen Besitzungen, die sich bei den einzelnen Kirchen und
Klöstern als Ueberschuss über den nothwendigen Bedarf er-
gaben. Dass dieser den kirchlichen Instituten gelassen werden
soUte, ist verschiedenemal ausgesprochen, und ausserdem durch
die That bewiesen, indem schon Pipin, noch mehr seine Nach-
folger, dem BedürMss, wo es sich fand,> durch Restitution ab-
halfen. Zweifellos wurde daher bei den Einziehungen ein ge-
wisser Maassstab angelegt; es war nicht eina Säcularisation
in dem Umfang der späteren Zeit; es sollten nicht ganze
kirchliche Listitute aufgelöst, nicht das ganze kirchliche Ver-
mögen eingezogen und das kirchliche Institut , soweit es fort-
bestand, auf eine Sente angewiesen werden; es war eine
Theilung, Divisio. Dieser technische Ausdruck, der in der
286 Jdhrh, der histor. Classe der h. Äkad. der Wissenschaften.
zweiten Hälfte des 8. und im 9. Jahrhundert häufig wiederkehrt,
ist wörtlich zu verstehen. Schon daraus würde zu folgern sein,
dass es nicht ein planloses willkürliches Verfehren war; wir
haben aber ausserdem in der Notiz der Murbacher Annalen
einen Anhaltspunkt, da hiemach eine Verzeichnung des kirch-
lichen Güterstandes vorherging. Die Divisio unterscheidet
sich von späteren Säcularisationen aber nicht nur darin , dass
sie principiell nur einen quotenTheil des Kirchengutes in An-
spruch ninunt, sondern auch dadurch, dass sie der Kirche
nicht das Eigenthum entzieht, dieses vielmehr grundsätzlich
aufrecht erhält, und für die Inhaber nur ein Nutzungsrecht
in den Formen constituirt, die bisher schon für freiwillige
Verleihungen von Kirchengut üblich gewesen waren. Ich habe
das Verfahren Säcularisation genannt, und glaube auch dem
Widerspräche von Walter gegenüber diese Bezeichnung beibe-
halten zu müssen, nicht weil der Ausdruck uns geläufiger ist^
sondern weil das Verfahren materiell zu einer Säcularisation
führte; denn der urspimgliche Charakter der Maassregel war
ja schon zu Ende des 8. Jahrhunderts dadurch völlig umge-
staltet worden, dass der früher bestimmte Heimfall an die
Kirche ausgeschlossen und von einer ausdrücklichen Wieder-
verleihung durch den König abhängig gemacht wurde. Wenn
man also auch das Verfahren in seiner ursprünglichen Gestalt
mit Walter als eine Anleihe bezeichnen wollte, welche der
Staat bei der Kirche machte, so würde man diess doch für
das letzte Drittel des 8. Jahrhunderts nicht mehr als gelten-
des Recht anzunehmen haben, da hier der selbständige An-
spruch der Kirche auf Rückgabe aufgehoben war, die auch
vielßütig nie erfolgte, indem sich z. B. noch im 12. Jahr-
hundert Reichslehen nachweisen lassen, welche durch die
Säcularisation des 8. Jahrhundai» aus dem kirehtichen Besitz
gekommen waren.
üeber den Umfang und die Tragweite der Maassregel
kann nach dem AngeflUirten überhaupt k^n Zwei^I sein.
Both: Die Säcularisation des Kirchengutes. 287
Wenn sogar Lieblingsklöster wie S. Denys und S. Wandrille
nicht Terschont wurden, wenn selbst das Bisthum Bheims,
schon damals der Mittelpunkt des kirchlichen Lebens in Frank*
reich, einer Beeinträchtigung seines Besitzstandes unterliegt,
welche der anderer Bisthümer in nichts nachgibt, ja sie noch
übertrifft, so dürften vrir auch ohne weitere Nachrichten die
Allgemeinheit der Einziehung voraussetzen.
Zur Erklärung wird es vor allem nöthig sein die Veran-
lassung festzustellen, ja diese Untersuchung ist es allein, die
in Betracht konunt. Nur dass man über der Fersonenirage
die Motive übersah, machte es möglich, dass ein Ereigniss,
für dessen Erörterung im einzehien es der früheren Zeit durch-
aus nicht an Interesse gebrach, so lange völlig verkannt sein
konnte. Sehen wir ab von der Annahme, dass darin nur ein
Akt räuberischer Gewaltthat zu sehen sei , die sich auf nichts
stützt, so begegnet uns vor allem die Behauptung, dass die Ein-
zi^ung auf einen Satz des fränkischen Staatsrechts zurückzu-
führen sei. Diess hat zuerst Flanck angedeutet, indem er von
Beginn der fränkischen Monarchie an die Frätension eines
Dispositionsrechtes annahm, das als eine missbräuchliche Aus-
dehnung des Schutzrechtes erklärt wurde. Dieser Auffassung
ist jedoch von vornherein entgegen zu halten, dass der Begriff
des Schutzrechtes in diesem Sinne erst späteren Ursprungs ist.
Es wurde nämlich erst seit Carl dem Grossen und zwar seit
seiner Kaiserkrönung gewöhnlich, den Ejrchenschutz als eine
besondere Aufgabe der weltlichen Gewalt anzusehen und zu
betonen. Selbst die Ausdrücke Advocatus, Advocatia, finden
sieh in merovingischer Zeit selten; in früherer Zeit begegnen
wir so wenig der amtlichen Uebertragung des Kirchenschutzes
an Laien, als der Ausübung des Kirchenschutzes durch die
B^irung selbst in Form eines nutzbaren Bechtes. Geistliche
und Kirchen standen in der merovingischen Monarchie unter
dem allgemeinen Königsschutz, der zwar für einzelne kirchliche
Liistitute durch Ertheilung besonderer Schutzprivilegien noch
288 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
erhöht wurde, aber ohne dass darin etwas für die Kirche iSJigen-
thümliches zu suchen wäre, da sich dasselbe auch for Laien
findet. Mit den späteren Zustanden, wo Carl der Grosse die
Ejrche ausdrücklich unter seinen Schutz nimmt, oder wo die
Eirchenvogtei als ein nutzbares Begal behandelt wird, lässt
sich dieses Verhältniss gar nicht vergleichen. Die Meinung
von Planck hat auch keinerlei positiven Beweis für sich, son-
dern ist nur eine aus einigen Concilienschlüssen des 6. Jahr-
hunderts abgeleitete Yermuthung, während sich aus der Zeit
der Säcularisation selbst gar keine Anhaltspunkte dafür bei-
bringen lassen.
Ebensowenig genügend ist eine neuerdings von Waitz
versuchte Erklärung, wonach die fränkischen Könige das Ver-
fügungsrecht über ihre eignen Schenkungen an die Kirche, das
sie sich immer vorbehalten , im Laufe der Zeit auf das ganze
Kirchengut ausgedehnt hätten, was von der Kirche früher be-
kämpft später in Folge eines Compromisses unter den Söhnen
Carl Martells zugestanden worden sei. Es ist diese Annahme
die nothwendige Consequenz seiner Auffassung, dass durch die
merovingischen Krongutsverleihungen nicht volles Eigenthum
übertragen worden, über welche dem König vielmehr ein wei-
teres Verfügungsrecht vorbehalten gewesen sein soll. Diese
Annahme ist indess ebensowenig begründet wie die von Planck.
Keine der zahlreichen Urkunden über königliche Schenkungen
an kirchliche Institute enthält frgend einen Vorbehalt, es wird
in denselben vielmehr das volle Eigenthum in unzweideutigen
Ausdrücken abgetreten; ja es findet sich in der ganzen mero-
vingischen und carolingischen Zeit keine andere Schenkung an
Kirchen als zu vollem Eigenthum. An sich ist diess ein ge-
nügender Beweis gegen die Ansicht von Waitz; er wfrd aber
noch dadurch verstärkt, dass im Vertrag von Andlau, einem
der Grundgesetze der fränkischen Monarchie, das volle Eigen-
thum aller früheren und künftigen Königsschenkungen der
Kirche ausdrücklich garantirt ist, und dass nicht ein einziger
BM: Du aAndaruakhn im KirckmgnUß. 289
spedellw Fall naohgewiea»i werden kann, aus welchem sieh
die Aosibung des angeblichen Yerfagiingsrechtes entnehmen
lieese« Mit dieser Grundlage fUlt aber sugieich die Möglich-
keit der Ausdehnung auf das geaammte Eirchengut weg,
welche nach Waitz im Laufe der Zeit eingetreten sein soll.
Ebensowenig wie dieser Ikitwicklung kann ich dem Satz
beistimmen, den früher schon Planck angestellt und neuar-
dings Waitz auszufahren gesucht hat, dass unter den Oarolingiem
das Eirchengut im allgemeinen als königliches oder öffent-
liidies Besitethum betrachtet worden sei. Dem steht allein
schon der Umstuid entgegen, dass zu allai Zeiten der frän-
kischen Monarchie Fiscalgut an Kirchen geschenkt od^ mit
Eirchengut y^rtauscht wurde, was unerklärlich wäre, wenn
das Eirchengut üb^haupt in der Qewere des Eönigs ge-
standen hätte.
Die Ansicht von Planck und Waitz wird sich aber über-
diess schon desshalb nicht auirecht erhalten lassen, weU sie
mit den officiellen Aeusserungm im 8. Jahrhundert in Widern
Spruch steht« Pipin und seine Nachfolger behaupteten nicht
ein Becht der Einziehung zu haben ; sie sprachen es offen aus,
dafls sie nur aus Noth so handelten ; sie trafen Yoa Anfang an
Suiriditungeii , wodurch eine Zurückgabe möglich gemacht
wurde; üeberlassung einzelne Stücke in das Eigenthum der
InhalHNr kam nur missbräuchlich vor und wurde abgestellt,
wenn es bekannt wurde; d^ Inhaber, wdchem der Eönig das
Gut als Beneficium v^lieben hatte, sollte der Eirche räien
Preearienbrief ausstdkn, der ganz in dsn Formen der Urkunden
über freiwillige Verleihungen der Eirche gehalten, nur durch
Srvähnimg des königlichen Befehls ¥on diesen sich unterschied,
md durch seine Existenz den Bew^ im das Eigenthum der
Kirche lie£Ni;e. Er sollte den fünften Theil des Erträgpaisses
(mona et dedma) und einen varscbieden normirten Zins an die
Kirche zahlen, was gleichfalls als Anhaltspunkt für das Eigen-
tfanm der Eirche diente. Die Fionkenkönige begn%t^ sich
290 Jahrh. der histor, Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
aber nicht damit, die Möglichkeit einer Bestitution sich offen
zu halten; sie stellten nicht allein Bestitution des Ganzen in
Aussicht, sondern gaben auch vielMtig im einzelnen zurück.
So wissen wir aus sicherer Quelle, dass der Bischof Tilpin von
Bheims in 30 Jahren einen grossen Theil des eingezogenen
Kirchengutes zurückerhalten hatte, und wir können aus den
zahlreichen uns erhaltenen Bestitutionsurkunden entnehmen, in
welchem umfang die Bückgabe geübt wurde.
Dieses Verfahren, das man den Verhältnissen nach nicht
anders als rücksichtsvoll wird nennen können, bestätigt uns
die Bichtigkeit dessen, was von den fränkischen Königen so
häufig im allgemeinen und bei einzelnen Gelegenheiten hervor-
gehoben wird, dass sie nur im Drang unvermeidlicher Noth-
wendigkeit so handelten. Dieser Nothstand wurde von den
kirchlichen Behörden selbst anerkannt. Schon in den Ant-
wortschreiben des Papstes Zacharias an den hl. Bonifacius
findet sich eine Hindeutung darauf; in mehreren Concilien-
schlüssen des 9. Jahrhunderts ist er noch ausdrücklich betont,
namentlich aber ist in dem Leben Walas, in welchem die unter
Ludwig dem Frommen geführten Verhandlungen über voU-
ständige Bestitution des Kirchengutes ausführlich besprochen
sind, das staatliche BedürMss, das von der Laienseite als un-
abweislich dargestellt wird, von clerikaler Seite nicht wider-
sprochen. Nur so wird es auch erklärlich, dass die Verhand-
lung über eine Maassregel, welche so bestimmt allen kirchlichen
Gesetzen und der bisherigen Uebung widersprach, auf Synoden
gepfiogen, dass die Einwilligung der Geistlichkeit als ertheüt
bezeichnet werden konnte.
Eine weitere Bestätigung gewährt uns der Umstand, dass
wir seit dem 8. Jahrhundert einen bedeutenden Theil des
Kirchengutes als Beneficium an Vasallen der Kirche verliehen
sehen. Einen statistischen Anhaltspunkt dafür finden wir in
der Chronik von S. Wandrüle, wo nach dem im Jahre 788
amtlich aufgestellten Güterverzeichniss von einem Gesammt^
Both: Die Säcidarisatum des KirchengiUea. 291
bestand von 4288 Mansd 2120 als Beneficien verliehen waren.
Man wird dieses Yerhältniss, wenigstens bei den grösseren
Klöstern, als das durchschnittliche annehmen können, wie' diess
von Guärard bereits ausgeführt ist. Im 9. Jahrhundert ist
ein derartiges Verfahren schon so allgemein, dass selbst kleinere
ihrer Armuth wegen von allen öffentlichen Leistungen befreite
Klöster, wie Kempten, Vasallen hatten. Die Kirchenmann-
schaft war, wie dann durch das ganze Mittelalter, ein sehr
wesentlicher Theil des Landesheeres, und es wurde von den
kirchlichen Behörden selbst als Pflicht angesehen, dieselbe
möglichst vollzählig zu stellen. Früher glaubte man diess auf
eine allgemeine Dienstpflicht zurückfahren zu können, die z. B.
Eichhorn noch annahm; allein dafür fehlt es an allen Voraus-
setzungen. Die fränkische Heerverfassung beruhte nämlich
nicht auf den Grundbesitz in der Art, dass ein gewisses Acker-
maass zu einer bestimmten Leistung verpflichtete, sondern der
Kriegsdienst war eine persönliche Last, welche nur seit Carl
dem Grossen durch Einführung einer Art von Census für die
minder bemittelten Glassen erleichtert wurde. Die Behauptung,
dass die Kirche als solche dienstpflichtig gewesen sei, wider-
spricht daher dem Princip der fränkischen Heerverfassung. Im
9. Jahrhundert hatten die Kirchenvorsteher keine andere Ver-
pflichtung als die, ihre Vasallen und Hintersassen, die in ihrem
Seniorat standen, zum Aufgebot zu stellen; eine gesetzliche
Verpflichtung dagegen, eine bestimmte Anzahl von VasaUen
zu halten, oder einen gewissen Theil des Grundbesitzes für
die Stellung von Mannschaft zu verwenden, war im 9. Jahr-
hundert nicht begründet. Es war ein freiwilliges Opfer, wel-
ches die Kirchenvorsteher brachten, um der für sie viel nach-
theiligeren Verleihung durch den Staat zu entgehen.
Dieser Nothstand, der von den fränkischen Königen ganz
unverblümt als Motiv angegeben, von der Kirche direkt und
indirekt zugestanden wird, ist es zunächst, der unsere Auf-
merksamkeit auf sich zu ziehen hat. Die Säcularisation fällt
392 Jahrb. ikr Mlpr. Clamt det k. dkoA. A» WUuuschaften.
zosrnrnnm imt dar grosaen Y erfiassungabidming , die im 8*
Jahrbmkdert im Frai^^reich vor aich geht; wie diese ist sie
¥eranla80t durdi die Nothwendigkeit der Umgestaltung der
EeervcdAasaug ; dasselbe Bedürfiüss, welches die Beneficienver-
leihimg imd das Seniorat hervorrief, hat auch diesen Eingriff
in das Eirohengut herbeigeführt, der in schonenderer Weise
als in spftteren ähnlichen Fällen y<»*genommen, in der Wirinmg
dieser mcht nachstand. Man hat <üe Veranlassung dieses Be-
dur&isses in den übermässigen Vergabungen an die Kirche
find^ woU^, durch welche ein grosser Theil des besten Grund-
beaitzea in den Händen derselben concentrirt also dem öSmir
]khm Verkehr und danüt d^ Befriedigung der öffentlichen
Bedurfidsse entzogen worden sei; zum wenigsten war diess
aiber nicht die hauptsächliche* Veranlassung. Die deutsche
Heerv^r&ssung , wie sie sich im Frankenreich ausbildete, und
wie sie in der Hauptsache auch bei den Westgothen und
Langobarden sich findet, trug den Keim des VerMs in sich.
Sie war nur ausfuhrbar für kleinere Verhältnisse, wo nur locale
Kriegsfohrung vorkam, oder so lange der Stamm nicht sess-
haft war, für eine ackerbauende Bevölkerung wie die des
Frankenreichs war die allgemeine persönliche Leistung des
Heardienstes in grossen fast jährlich oder doch in kurzen
ZwiscAienräumen wiederkehrenden Kriegszügen eine Unmöglich«
keit Im Frankenreich trat die Zerstörung der Heereinrichtungen
nicht so rasch ein wie bei den Westgothen und Langobarden,
tbeils wdl die Provincialen Mher und allgemeiner zujn
Kriegsdienst herbeigezogen waren, theils weil in den deutschen
Provinze ein Hinterland für die Heeresergänzung gegeben
war, das dort fehlte; aber sie folgte in demselben Umfang
und war viel nachtheiliger in ihren Folgen, weil sie auf die
Ver&ssai^ reagirte.
Die ältere Heereseinrichtung, so vortrefflich ihr Grond-
porincip, die allgemeine Dienstpflicht, erscheinen mag, leidet an
achweren Gebrecihent die in der deutaahen yer&asong
Both: Die SäcuHarisation des Kirchengides. ß93
wiederkehren. Die ältere deuteche Yerfassung, die in der
Hauptsache noch die des Frankenreichs ist, hat Vorzüge, di«
wir sonst in der alten Welt vergeblich suchen. Vergleichen
wir sie nur mit der römischen Verüaasung, die sie in Gallien
verdrängte, so tritt uns vor allem entgegen die feste Begrfliidung
der königlichen Gewalt and damit in Verbindung die tren^
Anhänglichkeit an das Herrscherhaus, ein Begriff, der dmi
Bewohnern des Bömerreiches der Gesammtheit wie den Mnael^
nen von Augustus bis zu Augustulus völlig unbekannt wv.
Den gleichen Unterschied finden wir in der Administration.
Die Ver&ssung der Gaue, der einzigen und durchgehenden
Bezirkseintheilung , die das Frankenreich hatte ^ beruhte auf
der Selbstverwaltung der Einwohner, während uns im römischen
Beich die straffste Gentralisation entgegen tritt Betrachtet
man endlich die deutsche Geriditsverfassung , so werden wir
in derselben zwar weniger Gewähr des juristischen Verstand-»
nisses aber eine um so grössere Sidherheit der unparteiischen
Bechtsübung finden, deren Mangel in dem römischen Beiok
überall hervortritt. Dagegen müssen als wesentlicbe Gebrechen
der älteren deutschen Verfassung hervorgehoben werden die
Unfähigkeit, in irgend einem Verhältniss eine Bepräsentation
einzuführen, und das gänzliche Fehlen aller finanziellen Ein-
richtungen. Die Folge des ersteren war, dass alle die Bechte,
welche der Einzelne nidit selbst ausübte, oder nicht selbst
ausüben konnte, verloren gingen. Mit der Nied^lassung auf
römischem Boden war das Zusammentreten einer Volksver*
Sammlung in der früheren Weise nicht mehr möglich; im
Frankeareicii trat nichts an die Stelle derselben; denn nur
lokal nnd ohne Einwirkung auf die spätere Entwicklung findet
sich in Sadisen eine Vertretung in öffentlichen Angelegenheiten.
Die unüberwindliche Abneigung gegen alle finanziellen Ein-
richtungGD ist eine diarakteristische Sägenthümlichkeit aller
g^maniflohen Völker in der ilteren Zeit. Gleich mit der
finUiktfuhfin Erobemng war die rfimische Steuerverfiuwng in
294 Jahrb. der histor, Classe der h Äkad. der Wissenschaften.
Gallien vollständig in Verfall^ gekommen. Die Provincialen
selbst halfen dazu, indem sie die Steuerrollen verschleppten
und der Ergänzung derselben sich widersetzten. Die Abneigung
ihrer Eroberer gegen Besteuerung hatten sie sich so vollständig
zu eigen gemacht, dass die Schriftsteller des 6. und 7. Jahr-
hunderts die Versuche, die Besteuerung nicht ganz fallen zu
lassen, als eine grosse Ungerechtigkeit verschrieen. Von da
bis zu dem gemeinen Pfennig und den Bömermonaten ist eine
lange Zeit, und doch in der Hauptsache keine Umgestaltung.
Die öffentlichen Bedürfnisse waren auf Grundbesitz fundirt,
oder wurden durch persönliche Dienstleistungen der Einwohner
gedeckt, die schwer beizutreiben waren, nicht ausreichten, und
doch den Einzelnen härter drückten als schwere Geldopfer.
Wahrhaft kläglich ist es anzusehen, wie rathlos man plötzlich
hervortretenden Bedürfnissen gegenüberstand. Zwischen der
complicirten römischen Einrichtung und unserer Zeit liegt eine
Periode, in der man die kostbarsten Bechte für Leistungen
verschleuderte, die jetzt kaum ein paar hundert Gulden werth
sein würden.
Was ich hier als einen Grundfehler der fränkischen Ver-
fassung überhaupt bezeichnet habe, tritt uns bei den Heeres-
einrichtungen ganz besonders entgegen. Der Versuch Earl's
des Grossen eine Stellvertretung einzuführen war so vorüber-
gehend, dass die betreffenden Bestimmungen nicht einmal in
die Capitulariensammlung des Ansegisus aufgenommen wurden.
Nur den dauernden Erfolg hatten die Veränderungen des
9. Jahrhunderts, dass diejenigen, welche den Heerdienst nicht
mehr selbst leisten konnten, in der Folge eine Standesemied-
rigung erlitten, und ihren Vertretern im Heerdienst nicht mehr
ebenbürtig waren. Der Mangel aller finanziellen Einrichtungen
war selbstverständlich von durchgreifendem Einfluss auf das
Heerwesen. Das fränkische Militärbudget war höchst einfach,
es bestand in der unentgeltlichen Dienstleistung der freien
Unterthanen. Diese anscheinend so wohlfeile Einrichtung war
Both: Die Säcidarimtion des Kirchengtäes. 295
aber sehr thener, sie kostete die gemeine Freiheit and die
wesentlichsten Bechte der königlichen (xewalt.
Wir stehen am Beginn dieser Entwicklung, indem wir
die Zeit der Säcularisation betrachten. Man sachte darch
Einfahrang des Seniorats und aasgedehnte Beneficienverleihangen
die gelichteten Beihen der Armee za füllen. Es war nor ein
Palliativ, das hier ergriffen wurde, nicht einmal von lange-
danemder Wirkung, denn zu Ende des 9. Jahrhunderts war
das fränkische Heerwesen wieder in völligem Verfall. In
Deutschland freilich, wo die FeudaUtät überhaupt langsamer
sich entwickelte, sehen wir noch im 10. Jahrhundert grosse
schlagfertige Heere für den inneren Schutz und zu Eroberungs-
zfigen auftreten; allein in den nächsten Jahrhunderten erfolgt
die gleiche Auflösung wie in Frankreich. Der Kriegsdienst
war die ausschliessliche Beschäftigung eines verhältnissmässig
kleinen Bruchtheils der Bevölkerung geworden, und dadurch
die Begelung desselben vorläufig der Gesetzgebung entzogen.
Betrachten wir diesen Entwicklungsgang, so erscheint
die Frage, wer die in Verbindung mit den ersten Anfängen
desselben stehende Säcularisation begonnen, als sehr unterge-
ordnet. Sie ist jetzt von noch weniger Gewicht als früher,
seitdem ich habe nachweisen können, dass von Carl dem
Grossen eine noch ausgedehntere Säcularisation angebahnt war,
die durch die Intercession der vornehmsten Geistlichen ver-
hindert wurde. Berücksichtigt man dabei, dass die Verhand-
lungen über die Einziehung auf Synoden und Beichstagen ge-
pflogen wurden, und dass im 9. Jahrhundert eine mächtige
Partei unter den Laien sich jeder ausgedehnteren Bestitution
widersetzte, so wird die frühere Ansicht, welche alles auf die
Willkür eines einzelnen Herrschers zurückführen wollte, keüie
Berücksichtigung mehr finden können.
Die Erwägung der Frage, von wem die Säcularisation
ausgegangen sei, ist nur insofern von Bedeutung, als sich
durch Entscheidung derselbed der Zeitpunkt näher fixiren lässt.
296 Jahrh, 4tr Mstor. Claim der h Akad. def WUmischaften.
Dm Jahren nach ist die Yerscfaiddeahat der Anacbtan, Um
geltend gemacht werdem, gar nicht so bedeutend. Der frtthmfit
Annahme ) welche durchgängig die Ein2iehimg unter Carl
Kartell Mtste , habe ich auf Grund der Unter^chungen üb«r
die Nachrichten Yon den einzelnen kir(dilich«a Instituten £i
Behauptung entgegengesetzt, dass sich weder bei eiiiem ein**
Keinen kirchlichen Institut noch im allgemeinen ein Bintretm
derselben vor den Söhnen CarlMartells naohweieen lasse, und
ich halte diess nach allen Seiten hin aufrecht. Waütehatdift
ältere Ansicht neuerdings zu begründen gesucht, ihr selbst
noch ^ine weitere Ausdehnung gegeben, indem er die Divkio
als eine thtilweise Bestitution darstellt. Nach seiner Anahma
war das Kirchengut unter Carl Martell so gut wie ganz in
weltliohen Händen, und wurde von Carlmann und Pipin erst
theilweise zurückgegeben, während das Verbleiben des übrigen
Th^s in den Händen der Begierung von der Kirche ausdnM^-*
lieh anerkannt wurde. Dem steht aber, abgesehen dayon, dasB
sich die Einziehung des ganzen Kirdiengutes unter Carl MarteU
und die angebliche Bückgabe unter seinen Söhnen nicht nach^
weisen lässt, schon der Unistand «itgegen, dass die Divifiio
von den Gleichzeitigen und Zunächststehenden inuner als eine
Einziehung aufgefasst wird. Einen Anhaltspunkt der Ekit*
Scheidung gewährt auch die von mir neuerdings dargelegte
Verhandlung unter Oarl dem Grossen über eitie neue Divisio^
die durch den Patriarch^ Paulinus hintertrieben wurde, wobei
Carl für sich und seine Nachkommen in feierlidtör Weise auf
jede weitere Dirisio yersichtete.
Von besonderer Bedeutung fBr die nähere Bestimmung
des Zeitpunktes ^ischeinen aber die Naohridhten der Chronik
Yon S. WandriUe^ welche nach der Zeit ihrer Al^MSung, liaeh
den ürkundenschätzen , die dem Ver&sser au Gebote staadeu^
und nach d^ ganzen Stellung des Verfiasseirs als ebie 4er be-
deutendsten Quellen für die torliegeode Frage zu betraditeoi
ist. Der Verfasser spricht nch 2wir nicht direkt äbur dieedbd
BUhi IH$ SdkmJaniatfdn de$ KirtkmguUi. 20?
$n^ aber der Yerinf ISast sich seinen «onstigen Anfohnrngen
entnehmen. In dem KMb&r S. Wandrille waren es zwei Aebte,
welche dnrdi schleehte Wirthschaft und willkürliche Yerga-
bangen des Eirchengutes das Kloster in YenndgensTerfiül
brachten, Tentsindns von 734^738 und Widolaicns von
763 ~ 787. Der erstere hatte in den yier Jahren seiner Yer*
waltnng fast den dritten Theil der Gnmdbesitznngea yer-
sdilmdert, der letztere hatte so schlecht gewirthschaftet, dass
das Kloster in Yerlegenhdt gerieth und seine Bedürfnisse
nicht mehr bestreiten konnte. Yen beiden gelnraacht der
Chronist dieselben Ausdrücke ^ indem er cap. 10 von Tentsind
Bttgt: pene tertiam facnltatom pnrtem abstnlit, suisque propin«
qnis ac regüs hominibus ad possidendom contradidit . . . , nnd
eap. 15 von Wido: plorimae res ecclesiae perieront^ quas
ipse regüs hominibus ad possidendom contradidit • • * Man
könnte in dieser üebergabe an die regii homines eine üeber^
tmgong in der Form der precariae verbo regis sehen wollen,
woraus dann folgen würde , dass diese Form und sonach die
Säcularisation schon unter Carl Martell ihren Anfang ge*
nommen hatte ; allein dem steht nicht nur entgegen, dass der
Chronist die Yerschleudenmg unter Tentsind diesem allein zu-
schreibt, w&hrend er Carl Martell als den dMgsten Beschützer
des Klosters bezeichnet, sondern auch die Unterscheidung,
welche der Chronist selbst zwischen frdwiUiger Ywleihung
durch die Aebte und dem macht, was er mirechtmässig ent-
zogen nennt. Der Abt Gervold nämlich, welcher bei Carl
dem Grossen in hohem Ansehen stand, brachte bei dem Kaiser
ein Gesuch bezüglich des Elostervermögens an, das der Chronist
cap. 16 in folgender Weise erwähnt: hie nempe de rebus
ecclesiae nostrae injuste ablatis aut etiam spontanea patrum
coenobii yoluntate regüs hominibus contraditis suggestionem
Carole patefecit , ejusque . • Privilegium accepit , ut quicquid
injuste ablatum erat, in jure ac potestate ejusdem ecclesiae
reciperet ... Es erfolgte hier also ein Bestitutionsbefehl, wie
298 Jahrb. der JUstor. Clasae der h Akad. der Wissenschaften,
er sich auch f&r andere Kirchen z. B. Auxerre in dieser Zeit
findet. Indem der Chronist aber die freiwilligen Yerleihnngen
der Aebte ausdrücklich unterscheidet, in Bezug auf welche ein
Bestitutionsedikt von dem Kaiser nicht gegeben wurde, lässt
er uns erkennen, dass er damit jene Precariae datae bezeichnen
will, die im 8. Jahrhundert freilich den canonischen Satzungen
entgegen in so grossem Umfange vorgenommen und erst im
9. Jahrhundert ein für allemal verboten wurden. Dass dagegen
mit dem Ausdruck injuste ablatis die durch Precariae verbo
regis verliehenen Güter gemeint seien, dürfen wfr desshalb
annehmen, weil gerade dieser Ausdruck in Königsurkunden des
9. Jahrhunderts far die Verleihung durch Precariae verbo regis
öfter gebraucht ist. Die in solcher Weise durch den Ausdruck
injuste ablatis angedeutete Einziehung kann aber nach dem
Zusammenhang nur unter den Abt Wido nicht unter Teut-
sindus gesetzt werden, da der Verfasser Carl Martell als Wohl-
thäter und Beschützer des Klosters preisst, dagegen den Abt
Teutsind far seine Vergabungen mit Schmähungen überhäuft,
ihn persönlich dafär verantwortlich erklärt, und eine Ermahnung
an alle Kirchenvorsteher, ähnliche Handlungen zu unterlassen,
daran knüpft, während er die eigenen Vergabungen Wido's
nur beiläufig erwähnt, von Pipin aber mit offenbarer Abneigung
spricht, und den Verfall des Klosters von Wido an datirt,
zwischen welchem und Teutsind, also zwischen 738 und 753
eine Zeit hoher Blüthe für das Kloster war.
VI.
Das
Kaiserthum Karl's des Grossen
und seiner Nachfolger.
!Eirste AbliandlurL^
von
J. V. DöUinger.
I.
Der
Ausgang des alten Eaiserthums im Occidente.
Die Zertheilung des römischen Beiches in ein östliches und
ein westliches war seit dem Tode des Theodosins i. J. 895,
der das Ganze noch mit starker Hand zusammengehalten,
stehende Einrichtung geworden, im Grande aber doch nur da-
rum, weü seitdem kein Fürgt mehr gefunden wurde, weldier
bei den fortwährend sich mehrenden Gefahren und Anfällen die
Krafb sich zugetraut hätte, dem Gesammtreiche mit glücklichem
Erfolge vorzustehen, und es auch gegen Empörungsrersucfae
mächtiger Feldhauptleute zu behaupten. Die Theilung bot
schon den grossen Vortheil, dass Yerrath und Auflehnung in
dem einen Beiche, wozu bei dem Mangd einer festen Erbfolge
die Versuchung so stark war, sofort von dem zur Hülfe oder
zur Bache heranziehenden Kaiser des andern Beiohes unt»-
drü^ werden konnte.
Als Gonstantin's Söhne das Beicb in drei Theile getheilt,
war dem ältesten, Gonstantin II, wed^ Born noch Bjzanz,
sondern der westlichste Theü, Gallien und Britannien, zuge-
fallen« Dann hatte Yalentinian I das unter Constantius, Julian
und Jovifm wieder vereinigte Beich neu^dings in der Art ge-
thdlt, dass er den Westen mit Bom for sich behielt, den
Orient aber seinem jüngeren Bruder Valens abtrat Und mir
dem wollte eigenüidi Niemand mehr das von all^ Säten
schwer bedrohte Beich, dessen Begierung und Vertheidigun^
302 Jahrb. der histar, Glosse der h. Äkad, der Wissenschaften,
die Kräfte Eines Menschen zn übersteigen schien, allein be-
herrschen, wenigstens nicht auf längere Dauer. Selbst der
starke Theodosius hatte seinem älteren Sohne Arcadius, den
er schon als unmündigen Knaben im J. 383 zum Augustus
oder Mitherrscher erklärt hatte, und den Staatsmännern, die
er ihm beigegeben, die Verwaltung des Orients überlassen.
Der jüngere Sohn, Honorius, wurde dann beim Tode des Vaters
im J. 395 Kaiser des Occidents.
Der Westen war nun der weit schwierigere und gefähr-
lichere Theil der Römischen Welt geworden. Vorzugsweise
den Anfällen der von Norden her vordringenden Barbaren-
stänune ausgesetzt, schwach durch die Entvölkerung des Cen-
trallandes Italien, genöthigt, den Demant mit dem Demant zu
schneiden, das heisst: den einbrechenden Germanen und Slaven
die aus gleichem Material gebildeten Legionen entgegenzustellen,
glich das Westreich einem Köiper, von welchem allmälig
ein Glied nach dem andern abgelöst wird.
Bom selbst, wo noch am Schlüsse des vierten Jahrhunderts
das Heidenthum stärker war als das Christenthum, hatte längst
aufgehört, der regelmässige Wohnsitz der Kaiser zu sein. Sie
residirten in Trier, Vienne, Mailand, Bavenna; es war als
ob sie dem Senate und der römischen Bevölkerung aus dem
Wege gingen. So stieg das Constantinische Neurom and mit
ihm der im Ganzen doch weniger bedrohte und zerrüttete,
vielmehr in festerer Zusammenfügung sich behauptende orien-
talische Theil des Reiches. In seiner Noth und Hilflosigkeit
wurde der römische Occident abhängig von dem Orient.
Constantin hatte es noch nicht vermocht, seine LiebUngs-
schöpfung, das östliche Neurom, dem alten an Bedeutung und
Umfang gleich zu machen. Dass es als bleibende Kaiser-
Eesidenz dem alten Bom vorgehen solle, daran hatte er selber
noch nicht gedacht; nur die Gleichstellung, die freilich schon
eine andauernde Spaltung in zwei unabhängige und etwa nur
conföderirte Beiche als Keim in sich getragen hätt6 — nur
DÖlUnger: Das Kcdserthum KarVs des Grossen. SOS
diese hatte er erstrebt und als Princip ausgesprochen. Der
Senat, den Gonstantin in Byzanz eingesetzt, konnte noch lange
Zeit zu der Dignität und dem Ansehen des Altrömischen sich
nicht erheben, so sehr auch dieser gesunken und nur noch
ein Schatten des alten Senate war. Gerade die stete Abwe-
senheit der Kaiser seit Diocletian von fiom hatte dem dortigen
Senate gestattet, sich wieder zu einiger Geltung zu erheben.
Noch jetzt durften diese Senatoren sich schmeicheln, dass ihre
Yeraammlnng das Asyl der ganzen Welt sei , ^) während der
Senat der neuen Hauptstadt, eine Schöpfung von gestern, er-
drückt durißh die Wucht eines despotischen, keine selbstständige
Berathung und Beschlussfassung duldenden Hofes, so missachtet
war, dass es nach der Aeusserung des Themistius eher für eine
Strafe, denn for eine Ehre galt, demselben anzugehören. ')
Allein Neurom hatte zwei grosse Vorzüge vor dem alten.
Einmal war es eine ganz christliche Stadt, während in Altrom
ein ansehnlicher Theil der Bevölkerung und besonders der
senatorischen Familien mit einer kaum irgendwo sonst gefun-
denen Zähigkeit an den altrömischen Göttern, an heidnischer
Superstition festhielt. Sodann war es durch seine vor allen
Städten der Welt begünstigte Lage an der Gränze zweier ^
Welttheile, mit der trefflichen Wasserstrasse des Bosporus und
einem der geräumigsten und geschütztesten Häfen, eine Stadt,
welcher Beichthum und Bevölkerung zuströmen mussten. Wäh-
rend Altrom bald jedem ernstlichen Feindesangriff erlag, und
biimen 142 Jahren (410—552) achtmal erobert wurde,') wi-
derstand die östliche Hauptstadt neun Jahrhunderte lang jedem
Angriffe von Norden, Osten und Süden, den Germanen wie
den Slaven und Saracenen. Und so ist es denn wohl glaub-
lich, dass, nach der Angabe des damals dort lebenden Sozo-
menus, Constantinopel schon hundert Jahre nach seiner Gründ-
ung das kürzlich erst geplünderte Altrom an Beichthum und
Volksmenge bedeutend übertraf, obgleich es noch in Julian^s
Zeit der älteren Schwester weit nachgestanden hatte. ^).
S04 Jahrb, der histor. Classe der lt. Äkad. der Wisfemfckaften.
Seit dem Tode des Honmus trat die Snpremskie im
KaiserthniDS zu Constantinopel über den Westen immer deut-
licher hervor. Die wirkliche Macht lag hier freilich nwist im
den Händen eines germanischen Feldhanptmanns , der über
Geld nnd Trappen verfügte. So konnte der Sueve Bicimer
die Eaiserwürde viermal geben und dreimal wieder nehrnm.
Als das Hans des grossen Theodosius mit dem Tode Yalen«
tinian*s IQ 455 erloschen war, folgten sich in den n&chsten
zwanzig Jahren nenn Kaiser, meistens blosse Schattengeftalten,
ohnmächtig oder gestürzt, ermordet, sobald sie von ihrer Würde
Oebrauch zu madien versachten, nnd dadurdi mit den Be*
gierdim and Interessen der fremden Stidner «der ihrer Führer
itt Widerstreit genethen. Nar disr Eine Ma|oriaa, ein den
Antoninen vei^eichbarer Mann, warf noch auf iarm Zeit inzA
p^rsdnUdie Tugenden einm Glanz auf dae antergefaende Im-
perimn des Westens, welches zuletzt (479) mar noch Italian,
Dalmatien and ein Stück Galliens umfasste.
Der Theorie najck besass der rOmische Smat noch immer
das Becht, den Kaiser zn erwählen oder ihn za beetätigw.
Er war überiiaupt, seitdem Stilicho ihn wieder nn üaigmk
Ansehen emporgehobm, die einzige wijtiiche Stütze des Staates,
er rq>räseatirte das Altrömische in den Gesetzen nnd d«r Ver-
waltung, die C<»tinuität dar staatlidien Ordnong, im (Gegen-
satz gegen die gesetzlose Madit der germanischen Feldhanpt-
leute, eines Bicimer, Gundobald und Orestes, seinerseits aich
anlehnend an das ferne aber doch von den Barbaren und
ihren H&optlingen inmier geehrte und anerkannte Kaiserthnm
des Ostens. Nodi in diesen letzten Zeiten kannte d^ Senat
ab oberste Gerichtshof zwei Präfekten Galliens, Arvand» and
Seronatos, zum Tode vernrtheilen.
Bezeuch der Nachfolge auf dem Throne hatte sieh rin
eigenthümüeher Zustand gebildet. Im Orient sucoedirie bon*
dert sechzig Jahre hindurch (450 — 610) nie der Sohn dem
Yater, zweimal der Neffe dem Oheim und aweimal d^ Schwi^^ier-
Döüinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 305
söhn. Sonst aber war es entweder das Heer, oder waren es
Bänke der Weiber und Eunuchen des Palastes, welche die
Krone vergaben. Im Occident war von den letzten römischen
Kaisem keiner durch verwandtschaftliche Bande an den Vor-
gänger geknüpft. Kaiser, welche der römische Senat und der
Herrscher des Orients nicht anerkannt hatte, galten als Usur-
patoren und konnten sich nicht behaupten. Als nach dem
Untergänge des Maximus der Auvergnate Avitus im J. 455
von den Westgothen in Toulouse zum Kaiser ausgerufen wor-
den, huldigte ihm der Senat, und eine nach Constantinopel
geschickte Gesandschaft ^) erwirkte, dass Marcian ihn als Mit-
kaiser anerkannte. In der^ Erhebung seines Nachfolgers Majo-
rian (457) schaute die Welt noch einmal und zum letzten-
male das so seltene Schauspiel einer durch alle nach römischer
Theorie berechtigten Gewalten vollzogenen Wahl. Volk, Heer
und der östliche Kaiser Leo erkannten ihn an. Majorian selbst
schrieb nachher dem Senate: Die hohe Versammlung möge
ihm, den sie zum Kaiser gemacht, sich auch wohlwollend er-
weisen. Dagegen wurde der unbedeutende Severus, den Bicimer
wie eine Theaterpuppe Vorführte und bald darauf wieder be-
seitigte, von Leo nicht genehmigt, und nach dessen Tode im
August 465 ereignete sich schon ein Vorspiel dessen, was
nachher Odoakar vollbrachte ; Bicimer fand, dass er, auch ohne
durch einen Kaiser gedeckt zu sein, herrschen könne, und so
blieb das Kaiserthum über anderthalb Jahre erledigt. Niemand
begehrte die gefährliche Würde, und Legionen, welche, wie
früher so oft, ihren Feldherm hätten als Imperator ausrufen
können, waren nicht mehr vorhanden. Endlich sandte Leo den
Griechen Anthemius, welchen Senat und Volk zu Bom aus-
drücklich sich von ihm erbeten hatten. In der Nähe von Bom
ward er als Augustus ^^usgerufen (April 467), und beide Kai-
ser drückten auch in den Gesetzen, die sie fortan erliessen,
die Stellung aus, in welche sie zu einander getreten waren.
Anthemius nannte den Leo seinen „Herrn und Vater^S Leo
20
306 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
den Aüthemius seinen „Sohn". ^) Denn er war es, der ihm
das Kaiserthum übertragen hatte. Das war eine neue Bestäti-
gung jener Superiorität, welche die Lage der Dinge und die
Hilflosigkeit des Westens den Kaisem des Orients zuwies. '')
Seitdem Valentinian III Illyrikum an Theodosius II ab-
getreten hatte, war ohnehin die haltungslose Schwäche des
Westreiches, das nun östlich von Italien keinen Stützpunkt
mehr hatte, entschieden. Denn Dalmatien, wo nachher der vor
Orestes aus Italien geflüchtete Kaiser Julius Nepos sich ver-
geblich zu behaupten versuchte, war zu unbedeutend.
Auch Olybrius, den Kicimer statt des von ihm gemor-
deten Anthemius im J. 472 als Kaiser ausrief, war von
Leo aus Constantinopel gesandt worden, doch keineswegs als
ein bereits zur Kaiserwürde Ernannter. ®) Leo hatte nicht
Zeit, sich über dessen Anerkennung zu erklären, denn beide,
Kicimer und Olybrius, starben binnen wenigen Monaten. (Der
letztere im Oktober 472). Dagegen verwarf Leo den Glycerius,
den Kicimer's Neffe und Nachfolger, Gundobald, in ßavenna
nach mehrmonatlichem Zwischenreich als Kaiser vorschob.
Leo's Schützling, Nepos, dem er seine Nichte zur Gattin ge-
geben, ward in Eavenna von dem oströmischen Beamten Do-*
mitian als Cäsar, in Bom als Augustus verkündet. Allein der
bald darauf (Febr. 474) erfolgte Tod Leo's beraubte Nepos
seiner Stütze. Der Patricius und Feldherr Orestes entthronte
ihn, und Hess den eignen Sohn, einen unreifen Jüngling, Bo-
mulus Augustus, als Kaiser ernennen. Bald aber kam ein
Stärkerer über ihn. Er hatte den germanischen Söldnerschaaren,
die sich als die wahren Herren des ohne sie wehrlosen Italiens
fühlten, die trotzig begehrte Abtretung des Drittheils von Ita-
lischem Grund und Boden versagt; da empörten sie sich, —
ihr Anführer Odoakar liess den gefangenen Orestes hinrichten,
Bomulus empfieng ein Castell in Campanien und ein Gnaden-
gehalt; und der germanische Bandenfuhrer, den seine Schaar
ren als König, als ihren König begrüssten, konnte zehn
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 307
Jahre lang von Ravenna aus über das entvölkerte Italien herr-
schen. Der königlichen Insignien enthielt er sich, wie Cassiodor
bemerkt, weil er nicht ein Italiänisches Königthum gründen
wollte, wie er sich denn auch sicher nicht König von Italien
genannt hat, obgleich ihn die Neueren gewöhnlich so bezeich-
nen, und berichten, er habe sich diesen Titel beigelegt. Davon
wusste man im Alterthum nichts. ^) Die Alten nennen
ihn König der Turcilinger und Rugier, oder König der
Gothen. Den ersteren gehörte er durch die Geburt an, und
sie scheinen ihn zuerst sich zum Häuptling oder König gesetzt
zu haben ; ^®) die übrigen, Heruler und Skiren, begrüssten ihn
nach dem Siege über Orestes auch als den ihrigen. In seinen
aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzten Schaaren mögen
sich auch Gothen befunden haben; darum, und weil man in
Italien überhaupt die vom Norden hereinbrechenden germa-
nischen Stämme Gothen hiess, wh-d er auch Gothenkönig ge-
nannt. ^^)
Der Ostkaiser Zeno, damals durch den Usurpator Basiliscus
selber zwanzig Monate lang des Thrones beraubt und vertrie-
ben, hatte in die Ereignisse des Westens nicht eingreifen können.
Jetzt aber (Juli 477) war er wieder im Besitze der Gewalt,
und nun sandte der ^enat auf Antrieb des zum fügsamen
Werkzeuge Odoakars gewordenen Augustus eine Gesandschaft
an Zeno. Sie bedürften keines eignen Kaisers, Zeno genüge
ihnen als gemeinschaftlicher und einziger Kaiser beider Theile
des Römerreichs; er möge daher dem von ihnen erkorenen
Odoakar das Patriciat verleihen und ihm die Regierung der
Italer überlassen. ^*) Odoakar selbst hatte gleichfalls Gesandte
geschickt, und aus Zeno's Antwort ergibt sich, dass er bereits
von Nepos zum Patricius ernannt worden war. Zeno lobt ihn,
dass er, indem er sich bei Nepos um das Patriciat beworben,
damit den Anfang gemacht, sich der römischen Reichsverfas-
sung gemäss zu verhalten. Indem er ihn dann in seiner dem
Begehren Odoakars gemäss ausgestellten Urkunde den Titel
20*
308 Jahrb. der histar. Classe der k, Äkad. der Wissenschaften,
Patricias gab, verlieh er ihm nicht erst diese Würde, sondern
setzte die von Nepos bereits geschehene Verleihung voraus. *•)
Dabei aber empfahl er freilich auch den gleichzeitig von Dal-
matten aus um Hülfe ihn angehenden Nepos zur Wiederein-
setzung. In Rom wurde Zeno's Oberherrschaft auch durch
Aufstellung seiner Bildnisse an verschiedenen Stellen der Stadt
anerkannt. ^*)
■
Zwischen Zeno und Odoakar gestaltete sich also ein ge-
ordnetes Verhältniss kaiserlicher Oberhoheit und williger Un-
terordnung unter dieselbe. Diess zeigte sich deutlich, als die
noch zum Reiche gehörigen Gallier (wohl ein Theil der Pro-
vence) sich gegen Odoakar's Herrschaft auflehnten, und Zeno*s
Hülfe durch eine Gesandtschaft anriefen. Es wird, da wir den
Bericht des Candidus hierüber nur auszugsweise haben, nicht
gesagt, ob sie direkt unter Zeno zu stehen, oder einen Fürsten
von seiner Hand zu erhalten begehrten. Aber Zeno entschied
zu Gunsten Odoakar's, der dann freilich diese Gebietstheile an
die Westgothen abtrat. Diess hat wohl zu dem nachher zwi-
schen Zeno und Odoakar entstandenen Zerwürfnisse beigetragen,
welches den Kaiser bestimmte, Theodorich zum Kriege gegen
Odoakar aufeufordern.
Die den Neueren so geläufige und die ganze Geschichts-
gliederung beherrschende Annahme: mit der Absetzung des
Romulus Augustus sei das römische Reich des Westens er-
loschen, und habe ein neues Zeitalter begonnen, hat damals
nur Ein Zeitgenosse, der Chronist Marcellinus, ausgespro-
chen. Alle andern, Cassiodor, die Chroniken Cuspinians und
Ruinarts, der alte mit Justin I schliessende Kaiser-Katalogus,
der Anonymus des Valois, Mar ins von Avenche, Victor und
Isidor, auch Beda wissen davon nichts. Das Ereigniss er-
schien ihnen nicht in diesem Lichte. Der Chronist Ruinart's
bezeichnet vielmehr die 22 Jahre früher geschehene Ermor-
dung des tapfem Aetius durch Valentinian in als den „Fall
DöUinger: Das Kaiserthum KarVa des Grossen. 309
des hesperischen Beiches^S das seitdem niclit mehr hab^^ auf-
gerichtet werden kömien. **)
Auch Prokopius hat in der Erhebung Odoakars kein
so entscheidendes Ereigniss gesehen. Erst am Ende des achten
Jahrh. urtheilt Paul Diakonus, und im neunten der Grieche
Theophanes wieder wie Marcellinus. In der That lässt sich
auch kaum seit dem Tode des grossen Theodosius und dem
Aufgeben der unter ihm noch verwirklichten Beichseinheit ein
Zeitpunkt bestimmen, in welchem wirklich ein dem östlichen
einigermassen ebenbürtiges und selbstständiges weströmisches
Eeich bestanden hätte. Nur etwa von der früheren Begierungsh
zeit des Honorius liesse sich diess sagen. Ohnehin verstand es
sich der allgemeinen Anschauimg gemäss von selbst, dass es
nicht zwei fiömerreiche geben, dass nur ein einziges, wenn
auch von zwei Kaisem nach getheilten Gebieten beherrschtes
Imperium Bomanum bestehen könne. Sobald das ganze Illyri-
kum dem Osten zugefallen, Britannien, Spanien, Afrika, der
grössere Theil von Gallien und die Länder zwischen Donau
imd Alpen in fremde Gewalt gerathen waren, mussten die Blicke
der Zeitgenossen nach dem Osten sich richten, und dort in
den Ländern, deren Mittelpunkt Neurom war, das rechte Bö-
meireich suchen. Italien war nun nur noch ein Anhängsel und
Ausläufer des Beiches, den dieses jetzt in sich zurückgenom«
men hatte.
Als kaiserlicher Feldherr und Patricius zog der in Byzans
erzogene Ostgothe Theodorich nach Italien, stürzte er Odoakar's
Herrschaft. Kaiser Zeno, sein Adoptivvater, hatte ihm förm*
lich Italien durch eine Pragmatica (d. h. ein mit Zustimmung
der Grossen erlassenes Edikt) und durch die Verleihung eines
Schmuckes (eines purpurnen Schlders) übertragen, hatte Senat
und Volk von Bom ihm besonders empfohlen. Die Oberhoheit
des Kaiserthums erkannte Theodorich, wie mächtig er auch
geworden war, stets an, sein Beich war in seinen und seiner
Gothen Augen ein Bestandtheil des römischen Beiches. Es sind
310 Jährb, der histar. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
zwei Gemeinwesen, sagt er in seinem Schreiben an Kaiser
Anastasius, das von ihm beherrschte und das Oströmische, aber
es sei doch nur ein einziges Eömerreich. ^^) Seinerseits wusste
nun iiuch Anastasius nur von einer dem Könige von ihm
übertragenen Herrschergewalt. ^^) Gerne sah man zu Constan-
tinopel in Theodorich den Beamten des Kaisers, den Gränz-
hüter des Beiches; im römischen Senate eine dem Kaiser un-
tergebene Behörde. Und der Senat selbst versicherte, dass er
sich durch den Empfang eines kaiserlichen Befehls hoch ge-
ehrt und erfreut fahle, dass Theodorich selbst, des Kaisers
Sohn, ihn zum Gehorsam gegen solche Befehle verpflichtet
habe. ^*) „Seinen Senat" nannte der Kaiser den Bömischen^
und dieser erwiederte unbedenklich das Wort. Offen erklärte
Theodorich, sein Keich sei nur eine Nachahmung des Ost-
römischen, zu welchem als ihrem Vorbilde alle Herrscher auf-
blickten ; wie er die Bömer gerecht zu regieren habe, das habe
er in Gonstantinopel gelernt; in dem Grade, als er dem Kaiser
folge, gehe er den andern Völkern voran. Er Hess Münzen
mit den Bildnissen der Kaiser prägen, und gestattete diess
auch dem Senate. Die römischen Einrichtungen und Staats-
ämter wurden beibehalten, die ganze Continuität des römischen
Bechtsstandes bewahrt. Die Gothen beriefen sich später darauf^
als sie die Ungerechtigkeit des von Justinian wider sie be*
begonnenen Krieges dai-thun woUten, dass weder Theodorich
noch ein andrer ihrer Könige Gesetze gegeben ^^), dass alle
Staatsämter mit Ausschluss der Goüien in den Händen der
Bömer geblieben, dass den Bömem gestattet gewesen sei, die
Ernennung der Consiün jährlich von Byzanz zu empfangen»
Theodorichs Eeich war weit umfangreicher als das der
neun letzten westlichen Kaiser, und dennoch wollte er den
Kaisertitel, so viel auch der Lockung und des Zaubers för
germanische Ohren in demselben lag, nicht annehmen. Er be-
gnügte sich mit dem Könjgstitel, obgleich damals jeder winz^
Häuptling, der über einen Stamm oder dessen Bruchtheil, oder
Döllinger: Das Kaiserthum KwrVs des Grossen. 311
über eine Gefolgschaft gebot, König sich nannte. *®) Sein Kai-
ser war der Monarch zu Constantinopel. Preist doch auch der
gothische Geschichtschreiber Jor da nes es als das höchste Gut
und die erste Würde der Welt, dass Kaiser Zeno dem Theo-
dorich das ordentliche Consulat verliehen habe. Nach Byzan-
tinischem Masstabe war aber dieses germanische Königthum
auf römischem Boden doch immer eine fremdartige, innerlich
unberechtigte Institution oder Usurpation; und wie Prokopius
Odoakar's Herrschaft schon eine „Tyrannis" genannt hatte, so
weiss er auch von Theodorich, so hoch er ihn stellt, doch nur
zu sagen: er sei zwar in der Wirklichkeit ein wahrer Kaiser
gewesen, dem Namen nach aber nur ein „Tyi'annos". *^)
Nicht darum gieng das ostgothische Eeich zu Grunde,
dass Theodorich „die morsche Hülle des Kaiserstaats in Italien
nicht zu zertrümmern wagte". Im Gegentheil : gerade wenn
er eine solche Zertrmnmerung versucht hätte, würde diess den
Zerfall seiner Herrschaft noch beschleuniget haben ; denn die
Gothen waren nicht im Stande, eine andre staatliche Ordnung
und Gesetzgebung an die Stelle der Komischen zu setzen, sie
würden nur chaotische Zustände herbeigeführt haben. Die
Schwäche des Eeiches lag darin, dass die Gothen als Arianer
fort und fort geschieden blieben, und nicht, wie die Franken
in Gallien, mit der alten Bevölkerung des Landes verschmol-
zen. Sie waren und blieben eine fremde Militärcolonie, und
hatten als solche die Masse des Volkes nicht auf ihrer Seite.
Dieses, obgleich es mit der byzantinischen Herrschaft schlim-
mere Zustände, unleidlicheren Druck eintauschte, war doch
für Justinian und Belisar, und die Gothen, auf ihre eigenen
unzulänglichen Kräfte beschränkt, unterlagen trotz ihrer
Tapferkeit,
Das Bewusstsein, dass das* Kaiserreich das einzig wahre
Imperium sei, dass die Staatsgewalt von ihm ausgeflossen,
übertragen sein müsse, theilten mit den Gothen auch die an-
deren germanischen, auf ehedem römischen Gebiete sesshaften
""%
312 Jahrb. der histar, Glosse der k. Akad. der Wtssensch^rften,
Fürsten. Nur in römischer Form, mit römischen Institutionen
und Gesetzen konnten sich die Grermanen das Gebäude einer
staatlichen Ordnung denken. Schon der Westgothenkönig
Ataulph hatte zuerst den Vorsatz gehegt, mit Vernichtung
des Römischen ein grosses gothisches Beich zu gründen, an
die Stelle der Bomania eine Gothia zu setzen, aber er
hatte sich überzeugt, dass ein solcher aus dem widerspenstigen
Material seiner Gothen aufzufahrender Staatsbau eine Unmög-
lichkeit sei, dass ohne die römischen Einrichtungen ein Staat
nicht existiren würde, und so hatte er beschlossen, vielmehr
der Erhaltung und Herstellung des römischen Imperium sich
zu widmen. **) Welche Hingebung, welche Unterwürfigkeit spricht
in dem Briefe sich aus, den Theodorich's Zeitgenosse der bur-
gundische König Sigismund durch den Bischof Avitus an den
Kaiser Anastasius schreiben liess. „Euch gehört mein Volk,
sagte er, euch zu dienen erfreut mich mehr, als über dieses
zu gebieten. Ich und meine Vorfahren wir ha'ben stets die
Ton den Kaisern empfangenen Titel höher geschätzt als die
ererbte Königswürde. Euer Beich ist unsere Heimath.^^ Selbst
die Würde eines römischen Peldhauptmanns * ') war, scheint es,
in den Augen germanischer Könige besser und vornehmer, als
ihr angestanmdtes Königthum. Gerne hatte Clodwig der Ero-
berer selber im J. 508 Titel und Würden eines römischen
Patricius und Gonsuls von dem Kaiser Anastasius empiSängen. *^)
Und nach dem Berichte des Prokopius hatte Justinian den
Söhnen Clodwigs Gallien förmlich abgetreten, oder die von den
Gothen geschehene Abtretung an die Franken bestätigt, so
dass ihre Könige erst in Folge davon in Arles die in der
römischen Kaiserzeit sehr beliebten und als eigenthümlich
Eömisch geltenden trojanischen Beiterspiele veranstalteten**),
nnd das römische KaiservorrecCt, Goldmünzen mit ihrem Bilde
prägen zn lassen, übten. Diese Justinianische Abtretung war
doch wohl auch die Ursache, dass, als im Jahre 587 der Co-
mes Syagrius, von dem fränkischen Könige Guntram als Ge-
DoOinger: Das Kaiserihum KarVu des Grossen. 313
SEüdter nach Gonstantinopel geschickt, von Manritias dort
zimi Patridus ernannt wurde, der Kaiser diese Eme|inung,
weil sie unrechtmässig geschehen, wieder zurücknehmen
musste. ^^)
II.
Born und Italien in der Longobardenzeit.
Die Anfänge der fränkischen Herrschaft.
Gleich nach dem Untergange des Gothenreiches begann
für Italien die trübe, verworrene, historisch nur wenig auf-
gehellte zweihundertjährige Periode der Longobardenherrschaft.
Die Lage Aller war eine ganz andere geworden als in den
Zeiten der gothischen Dynastie. Das Eaiserthum behauptete
sich fortwährend in Italien, aber in der vetkmnmerten Gestalt
des byzantinischen ^ Eiarchats im Nordosten, in den Küsten-
gegenden der Mark Ancona,. und dann in den beiden Ducaten
Yon Bom und Neapel. Das Longobardenreich aber, das weitaus
den grössten Theil Italiens umfasste, von Nord nach Süd in
zwei fast gleiche, nur lose verbundene Hälften getheilt, besass
weder natürliche, noch irgendwie feste Gränzen, und so wurde
Italien der Schauplatz endloser, von den Longobarden mit
barbarischer Wildheit und mit einer ihnen eigenthümlichen
Zarstörungslust geführten Kriege. Da die Longobarden eine
feste Thronfolge nicht kannten, und ihre allzumächtigen Her-
zoge sich fortwährend Uebergriffe gestatteten oder nach der
Königswürde strebten, so gestaltete sich die longobardisch-
italiänische Geschichte in diesen 200 Jahren zu einer Kette
314 Jahrb. der histor. Clause der k. Akad, der Wissenschaften.
von Empörungen, Thronstreitigkeiten und Parteiungen, und
von fünfundzwanzig Königen starben sechzehn eines gewalt-
samen Todes oder wurden enttrohnt. Es half den Longobar-
den nicht, dass der Arianismus, den sie mit nach Italien ge-
bracht, sich in der Zeit von 618 bis 711 verlor, und ihre
Arianischen Bischöfe, man weiss nicht recht wie, verschwanden.
Auch gegen die katholisch gewordenen Longobarden war das
Gefühl der „Eömer" das eines tiefen mit Verachtung gepaar-
ten Hasses. Was Gregor der Grosse mit angesehen hatte, dass
die Kömer von den Longobarden wie Hunde mit einem Strick
um den Hals fortgeschleppt wurden, um in Gallien als Skla-
ven verkauft zu werden, diess und noch schlimmeres hatte
sich auch später wiederholt. Ihre Könige hatten nicht, gleich
einem Theodorich, von den Bömern gelernt, über Römer zu
hen'schen, zu dem oströmischen Reiche standen sie nur in
feindlichem Verhältnisse, auch wenn gerade Friede war. Von
einer Anerkennung des Kaiserthums war keine Rede. Stets
nannten sie sich nur Könige der Longobarden, nie Könige
von Italien, nur durch die Annahme des von dem Constanti-
nischen Kaiserhause entlehnten Titels Flavius scheinen sie
ihrem Ansprüche auf Nachfolge in der alten Kaisergewalt
und auf den Gehorsam der römischen Bevölkerung Ausdruck
gegeben zu haben. Einem ihrer Könige, dem besten und wei-
sesten in dieser Reihe, Luitprand, hätte vielleicht in seiner
fast 33jährigen Regierung das Werk einer Versöhnung und
Verschmelzung der Römer und der Longobarden gelingen
können, aber auch er that als Gesetzgeber fär die Römer nur
wenig, während in seines Vorgängers Rothari's Gesetzen nicht
die geringste Fürsorge für sie getroffen war.
Rom, Ravenna, Pavia waren nun die Mittelpunkte ita-
liänischen Lebens. Pavia war die longobardische Königsstadt,
in Ravenna sass der griechische Exarch, gewöhnlich ein Gene-
ral, der in straff militärischen Formen als absetzbarer Despot
herrschte, er ertheilte den Duces von Rom und Neapel Be-
DÖUinger : Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 315
fehle, und misshandelte die Bewohner des zersplitterten kai-
serlichen Gebietes durch fiskalische Erpressungen. Diese, stets
von den Longobarden bedrängt, durch die Söldlinge des Exar-
chats nur wenig geschützt, waren im Laufe des siebenten
Jahrh, wieder kriegerisch geworden, und verstanden sich zu
wehren.
Born, mit seinem Gebiete, dem Ducatus, zusammengepresst
zwischen den zwei grossen longobardischen Herzogthümem
Spoleti und Benevent, war abhängig von ßavenna wie von
Constantinopel, und Klerus und Volk mussten in demüthigen
Ausdrücken von dem Exarchen die Bestätigung des von ihnen
gewählten Papstes erbitten, und dazu noch die Verwendung
des Erzbischofs von Bavenna anrufen. Einmal, nach zwei
Jahrhunderten, sahen die Kömer wieder ihren Kaiser; im
J. 663 kam Constans II, der einzige der griechischen Imperato-
ren, der Rom betrat, von Sicilien aus dahin. Unterwürfig,
mit allen religiösen Feierlichkeiten und Huldigungen, mussten
Papst und Klerus den Brudermörder und Verfolger der Ka-
tholiken, den Mann empfangen, der den Papst Martin von
Kerker zu Kerker geschleppt und endlich im fernen Exil hatte
sterben lassen. Er schien nur gekommen, um die Stadt, die
oft geplünderte und verwüstete, der wenigen noch übrigen
Werthgegenstände zu berauben.
Eine Succession von Griechen oder Syriern auf dem päpst-
lichen Stuhle, welche vom J. 685 bis 752 nur durch einen
einzigen Römer, Gregor III, (715 — 31) unterbrochen wird,
lässt den überwältigenden Einfluss der Exarchen, und die Un-
freiheit der Römer bezüglich ihres wichtigsten Rechtes, der
Papstwahl, erkennen.
Dennoch hatte sich schon seit dem Beginne des achten
Jahrh. ein Geist der Selbsständigkeit, eine Neigung zur Selbst-
hilfe und bald auch ein Element des Widerstandes unter den
Italiänem der zum Kaiserthum gehörigen Gebiete entwickelt,
welches auf das nahe Ende der byzantinischen Herrschaft in
316 Jahrb, der histor. Classe der k, Akckd. der Wissenschaften.
Italien schliessen Hess. Das Bewusstsein, dass die Kespublica
Borna na in Italien noch bestehe^ hatte sich fortwährend er-
halten, in Born ganz besonders, und die Päpste waren für die
Italiäner die Vertreter und Anwälte dieses Gemeinwesens. Die
longobardischer Herrschaft unterstellten Bischöfe mussten, wenn
sie, als zu den ehemals suburbicarischen Provinzen gehörig, in
Bom ordinirt wurden, geloben, dass sie nach Kräften für die
Erhaltung des Friedens zwischen der Bespublica und dem
Volke der Longobarden sich verwenden wollten. ^) Der BegriflF
dieser römischen Bespublica war freilich sehr schwankend.
Aber während man in Constantinopel von den byzantinischer
Botmässigkeit unterworfenen Bömem oder Italienern nur wusste,
dass sie zu einem der achtzehn Exarchate des Beichs gehör-
ten, wollten diese mit einem den Byzantinern sicher sehr miss-
iälligen Selbstgefühle Bürger der Bespublica s^, auf welche
Ehre und Becht des alten Bömerthums sich vererbt habe.
In dem römischen Formelbuche, welches uns die Verhältnisse
des siebenten und achten Jahrh. darstellt, sieht man, dass die
Päpste und die Bömer in dem Verkehr mit Constantinopel
und Bavenna immer vom römischen Imperium redeten.
Da ist das byzantinische Italien nur „die dienstbare italische
Provinz^^ *) Sonst aber kennt die römische Eanzldsprache,
besonders im Verkehr mit Italienern, kein Imperium, sondern
eine Bespublica, und der Papst liess sich von den suburbica-
rischen Bischöfen, die er ordinirte, versprechen, dass sie jeden
gegen die Bespublica oder gegen die Kaiser gerichteten An-
schlag, der zu ihrer Kenntniss gelange, alsbald ihm, dem
Papste (nicht dem Exarchen), kund machen würden. ')
Man scheint in Bom bald die Stadt mit dem nicht longo-
bardisch gewordenen benachbarten Gebiete , dem seit 711 soge-
nannten römischen Ducatus, bald auch das Gebiet des Exarchats
und der Pentapolis mit dem Ducatus unter der „Bespublica
der Bömer'' verstanden zu haben. Papst Stephan klagt im
J. 755, dass der Longobardenkönig noch immer keine Handbreit
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 317
Boden dem h. Petrus, der Kirche und der Republik der Kömer
zurückgegeben habe, und spricht gleich darauf wieder von den dem
Petrus der Kirche und der Republik zu restituirenden Städten
und Ortschaften. **) Paul I erzählt, wie er Gewaltboten an den
König Desiderius gesandt habe, welche den Austausch oder die
wechselseitige Erstattung nutzbringender Rechte vollziehen soll-
ten, nämlich der in den longobardischen Städten den Römern ge-
hörigen, und umgekehrt. *) Die Päpste betrachteten sich und
handelten in jener Zeit als erste Bürger und Führer der Be*
völkerung Roms, als Beschirmer und Vertreter des römischen
oder lateinischen Gemeinwesens den Longobarden gegenüber,
und als Vertheidiger der Idee und der Rechte des römischen Kai-
serthums. Das Bewusstsein, dass Rom, gleichwie die Schöpferin
auch die rechte Trägerin des Imperiums sei, war doch in Rom
selbst unauslöschlich; kein Römer konnte das je vergessen,
konnte den Zustand Italiens anders denn als einen vorüberge-
henden Nothstand betrachten. ^) Zwei Umstände hatten zusam-
mengewirkt, den Päpsten eine so überragende politische Stel-
lung anzuweisen, dass bei dem Verfalle der byzantinischen
Herrschaft die weltlichen Grossen, die Duces oder die grossen
Grundbesitzer nur eine ganz untergeordnete Stellung neben
ihnen einnahmen. Das eine war der Reichthum der römischen
Kirche, der die Päpste in den Stand setzte, far die in Rom
und der Umgebung sehr zahlreichen Armen zu sorgen, und
sich so mit einer unbedingt ergebenen Bevölkerung zu um-
geben. Das andre war das religiöse Ansehen, welches sie bei
Longobarden und Franken genossen. AQe Italiener oder „Rö-
mer" sahen daher in dem Papste ihren Fürsprecher und Ver-
treter den fremden Gebietern gegenüber; auch die byzan-
tinischen Beamten kannten und benutzten gelegentlich diesen
Einfluss, und in der Formel eines bei der Wahl eines neuen
Papstes an den Exarchen von Ravenna zu erlassenden Bitt*
Schreibens wird es darum auch als Grund for baldige Bestär
318 Jahrb. der histor, Classe der k. Akad, der Wissenschaften.
tigung der Wahl hervorgehobeu, dass die Longobarden, die
durch die griechischen Waffen nicht zu überwinden seien, nur
den Mahnungen des Papstes willig Folge leisteten. *)
Indess blieben die Päpste den griechischen Kaisern ge-
genüber in einem, freilich sehr gelockerten und eigentlich nur
nominellen Unterthansverhältnisse bis zum J. 796. Als die
Italiäner im ünmuth über die Tyrannei des ikonoHastischen
Kaisers Leo einen eignen Kaiser wählen wollten, verhinderte
diess Papst Gregor 11; er mahnte die Eömer, „von der Liebe
und Treue gegen das römische Keich nicht abzufallen." Das
war freilich nicht Liebe zu der im ganzen sehr schlechten
und überaus drückenden byzantinischen Herrschaft, sondern
Liebe zu der „Bomana Sespublica", zu dem Bande, welche
alle nicht longobardischer Herrschaft Unterstehenden Italiäner
umfasste und zusammenhielt, zu der Aussicht, dass aus diesem
noch aufrecht stehenden Flügel des alten Prachtbaues einmal
wieder ein vollständiger Palast werden, eine Eeichsordnung
hervorwachsen werde, in welcher Eom wieder zu seiner Würde,
die Kömer wieder zu ihren angeborenen und nie aufgegebenen
Eechten gelangen würden. *")
Für jetzt aber liefen die Bürger der römischen Eespub-
lica allerdings Gefahr, zwischen den zwei Mühlsteinen, dem
longobardischen und dem byzantinischen, zerrieben zu werden.
Dass die Idee des römischen Imperium, der Schatten dieses
grossen Namens, ihr Schutz und ihre Zuflucht, der Hoffnungs-
anker einer besseren Zukunft sei, das fühlten die Päpste sehr
wohl. Die Kaiser in Byzanz verhielten sich theils feindlich,
wenn sie als Ikonoklasten theologische Gegner waren, theils
gleichgültig aus Ohnmacht, da ihr Eeich im Osten von zwei
Seiten her. schwer bedroht war. Darum ward die Mittelstellung
des Patriciats geschaffen, und dem nun im Frankenreiche
herrschenden Königshause übertragen. Damit wollten die Päpste
und die Bömer sich keineswegs von der Unterordnung unter
das Imperium zu Constantinopel lossagen. Aber sie hatten
Döllinger: Bas Kaiserthum KarVs des Grossen, 319
schon so oft, von dort her verlassen und preisgegeben, für sich
sorgen müssen, und das thaten sie auch diessmal, als kein
and'res Mittel das Joch der verhassten Longobarden abzuwehr
ren, sich darbot. Dieses Patriciat nun war eine römische Keichs-
würde; indem die Römer und der Papst an ihrer Spitze und
in ihrem Namen sie den Frankenfürsten übertrugen, machten
sie die Träger des Patriciats zu einem hervorragenden Gliede
der römischen Bespublica, und handelten demnach bereits in
dem Gefühle, dass das römische Volk im Nothfall ein Amt,
eine Würde verleihen könne, auch ohne dazu von Byzanz er-
mächtiget zu sein. Es war der erste Schritt auf dieser Bahn,
dem dann mit logischer Folgerichtigkeit dreissig Jahre später
der zweite, die Verleihung des Kaiserthums, sich anschloss.
Vorerst aber lag in diesem Patriciat keine Uebertragung einer
regierenden oder richterlichen Gewalt, etwa über den römischen
Ducat ^), sondern es hiess einfach : sei du Schild und Schwert
der römischen Bespublica in ganz Italien, und uocb besonders
Schirmvogt der römischen Kirche.
Das Patriciat hatte also mit dem römischen Ducat oder
mit irgend einem andern Ducat nichts gemein. Duces gab es
damals viele in Italien; wir begegnen den Duces oder den
Ducatus von Ancona, von Osimo, von Benevent, Ferrara,
Fermo, Neapel, Parma, Perugia. Sie waren aber gewöhnlich
nicht Patricii, obgleich das Patriciat als lebenslängliche Würde,
aber ohne alle bestimmten Gewalten, häufig mit einem Amte,
besonders dem eines Exarchen, übrigens zuweilen auch eines
blossen Dux verbunden war. Das Patriciat war die höchste
Beichswürde, nach der eines Cäsars, die der Kaiser zu verlei-
hen pflegte ; der Patricius empfing den goldenen Reif und die
Insignien seiner Würde entweder unmittelbar aus den Händen
des Kaisers, oder sie wurden ihm durch eigene aus der Haupt-
stadt gesandte Staatsbeamte (Spatharii) überbracht. Der Pa-
tricius sollte nach der byzantinischen Formel ein Gehülfe des
Kaisers überhaupt , ganz besonders aber ein Schirmvogt der
820 Jahrb, der hisiar, Classe der k, Akad, der Wissenschaften.
Kirche und der Armen sein, in der Wurde lag also die Idee
der Advocatie, und so erklärt es sich, wie die Bömer und der
Papst dazu gekonunen, ihrerseits Pipin und Karl als ihre Patridi
zu erwählen. In ihrem Munde hiess das nur, dass sie in den
FrankenIQrsten ihre Beschützer ehren, ihrer Hilfe sich gegen
Feinde und Unterdrücker bedienen wollten. Der erste „Patri-
eins der HOmer^S dessen die Geschichte gedenkt, war der Exarch
Gr^orius zu Bayenna, von 666 bis 678. Da aber Paul
Diakonus, der ihn erwähnt, sonst des Titels Pairicius nicht
gedenkt, so ist schwer zu sagen, ob er etwa mit der Bezeich-
nung „Patricius der Bitoer"' ein eigenthümUches Yerhältniss
andeuten woUte. Im Papstbuche und sonst kommt der Aus-
druck nur bezüglich der Frankenfursten Tor. Andere Patricü
nennen sich „kaiserlicher Patrieius'S wie Gregorius zu Bene-
Tent 792, so dass also ein Unterschied und Gegensatz zwi-
schen äem Bdmei^Patridus Karl in Bom und Mittelitaüen,
wdA iffm kaiseriichen Patricius Gregor in Benerent nicht zu
verkennen ist Ebendaselbst nennen sich ^ter (um d. J. 911)
^ Fürst Landulf und sein Sohn Athenulf ,4^tiieii des
kMigobardiscbea Yolkes und dee Kaiserreichs.^ ^) Das kaiser-
liche Patriciat war ihnen als blosser Titd Ton Constantinopd
¥«riiehen, das Patriciat der Longobarden, d. h. die ScluniH
TOgt^ der kmgobardischai BeTöIkerung im södliehen Italien
gründete ^h wohl, wie Karl s Pätrkiat der Bom»^ auf am
Wunsch und die Wahl des Y<dke&
Von dffü rümischen Duces im aebentai und achtm Jahih.
fährte keii^r den Titel : Patridus der Börnnr, übeihaiq^ war
keiner Patricius mit Auaiahme de» letzten^ Stephanusy und
attch diesen nennt das P^stboch nur ,,diiemaiigen Patricias^ ^)
wahrsdieittlieh weil ihm dar Kaiser znr Zeit dier italümadhaz
Auflrimung gegen B]rzanz die Pätrieterwürde wieder genoamm
hatte. Uebrigoiis nahmen Ptpin, Karimann nnd anfängtirii andi
Kari dasilBwnübeittageMeBiBMff'^fyoBafcimGrnndigy n^
enstüch aoL Dmn wihMod db fifste in jedot Sdtiiä«
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 321
Titel sorgföltig voransetzen, haben ihn die Frankenförsten in
keiner ihrer Urkunden gebraucht. Erst als Karl das König-
thum der Longobarden erworben hatte, legte er sich beide
Titel in seinen Urkunden bei; jetzt erst hatte das Patriciat
der Römer eine Bedeutung fiir ihn, und vermochte er dem
damit ihm auferlegten Berufe eines Schirmvogtes der römischen
oder nicht-longobardischen Bevölkerung zu genügen. Wie er
sicher nicht meinte, durch sein Patriciat in den Dienst oder
die Abhängigkeit des Kaisers getreten zu sein, so meinten
auch die Römer nicht, durch die Uebertragung desselben einen
Eingriff in das Recht des Kaisers gethan, oder gar sich vom
Kaiserreiche losgerissen zu haben.
Das neue Patriciat gab also dem Träger desselben an
sich keine Gewalt auch nur über ein Dorf; es war eine Schirm-
vogtei, nicht aber blos der römischen Kirche oder des päpst-
lichen Stuhles, in diesem Falle würde Karl Patricius S. Petri
oder Patricius der römischen Kirche und nicht so gleichförmig
Patricius der Römer sich genannt haben. Wenn indess der
neue König der Longobarden zugleich Patricius der Römer
war, und über die fränkische Macht verfügte, so lag die Ver-
suchung, sein Patriciat eben so zu verstehen und zu hand-
haben wie sein Königthum, sehr nahe, um so näher, als das
Exarchat jetzt erloschen, als demnach das Volk in den nicht-
longobardischen Gebieten von Ober- und Mittelitalien sich
selbst überlassen, damit aber auch schutzlos geworden war.
Der Papst selbst und die Römer hätten gerne schon Karl
Martell mit dem Patriciat betraut, und ihn damit zum krie-
gerischen Auftreten gegen die Longobardenkönige verpflichtet.
Karl, der mit diesen Fürsten in sohr freundlichen Verhält-
nissen stand, auch im Frankenreiche durchaus nicht freie Hand
hatte, lehnte, scheint es, ab. Pipin und sein Sohn Karl liessen
es zwar geschehen, dass Papst Stephan an die Königs-Sal-
bung, die er ihnen ertheilte, ausdrücklich auch das römische
Patriciat knüpfte ^% liessen sich auch den Titel in den päpst-
21
322 Jahrb. der histor. Glosse der k, Akad, der Wissenschaften.
liehen Schreiben beilegen; und waren gesonnen, einen Theil
wenigstens der Vorstellungen und Obliegenheiten, die man in
Kom mit diesem Patriciat verband, zu erfüllen; aber sie be-
hielten sich vor, den Umfang dieser Obliegenheiten, und den
Gebrauch, den sie von dem Patriciat zu machen gedachten,
mit dem Masstabe der fränkischen Interessen zu bestimmen.
Für Karl insbesondere musste seit d. J. 774 die Eücksicht
auf die Befestigung und die Abrundung seines italisch-longo-
bardischen Königreiches massgebend werden.
Wenn Hadrian einmal neben dem Patriciate Karls auch
des seinigen gedenkt^*), so sind denn freilich vermöge
eines sehr vagen Gebrauches, den der Papst von dem Worte
macht, zwei ungleichartige Dinge unter Einer Bezeichnung
begriffen, denn der „Patriciat" des Papstes bestand aus sehr
bestimmten Eechten einer Eegierungsgewalt , die unter der
damals (790) noch fortbestehenden nominellen Oberhoheit der
griechischen Kaiser sich kaum beschränkt fand, während da-
gegen Karl als Patricius nur auf jene Gewalt und Unterwer-
fung Anspruch machen konnte, welche Schützlinge im eigenen
Interesse ihrem Schirmherm gewähren,, und welche also je
nach dem grösseren oder geringeren Schutzbedürfnisse sich
richtet. Allerdings war diese Gewalt damals in Eom noth wendig
von grossem Umfange, denn gegen die vereinigte Macht der
Byzantiner und der südlichen longobardischen Herzogthümer
hätte Eom sich nicht drei Wochen lang behaupten können.
Der Papst hatte keine Wahl: er musste in allen politischen
und militärischen Dingen dem Willen und den Anordnungen
des Königs sich beugen.
In Betreff der Stellung, welche die erobernden Longobarden
zu den alten Landesbewohnern einnahmen, finden wir auch in
jüngster Zeit noch ganz entgegengesetzte Auffassungen. Einer-
seits behauptet v. Sybel: „Die Longobarden waren, nachdem
sie lange Zeit als deutsche und arianische Golonie im Lande
gesessen, katholisch und romanisch geworden, und in raschem
Döllinger : Das KaiseHhum KarVs des Grossen, 323
Terlaufe mit den Provinzialen völlig verschmolzen". Ausführ-
lich hat Hegel dieselbe Ansicht entwickelt. Andrerseits meint
Cantü: Italien war für sie nur eine Beute, nicht ein Vater-
land ; sie blieben zwei Jahrhunderte auf unserem Boden, wie
die Türken auf dem Griechischen, wie die Magyarischen Herren
über der plebeischen Schaar Pannoniens". ^^)
Die letztere Ansicht entfernt sich weiter von der Wahrheit
als die erstere, denn es ist Thatsache, dass die Longobarden
allmälig römische Sprache , zum Theil auch römische Sitte und
Bildung annahmen, dass sie mit den Kömern sich durch die
Ehe verbanden. Aber noch unter König Liutprand kam es
vor, dass bei dem Verwüstungszuge gegen Kom viele edle
Römer nach longobardischer Weise geschoren und umgekleidet
wurden *^). Die unterworfenen Römer wurden freilich in das
herrsphende Volk einverleibt, aber mit sehr ungleichen Rech-
ten, als zinspflichtige Halbfreie (Aldien) oder als Hörige, wenn
auch in den Städten allmälig rechtliche Gleichheit überwiegend
werden mochte. In Rothari's Edikt wii-d, wie Hegel bereits
bemerkt hat, dem nur einmal darin vorkommenden römischen
Namen tiefe Verachtung aufgedrückt. Und wenn derselbe
Gelehrte sagt, die Römer hätten aus der Unfreiheit oder Un-
mündigkeit sich hervorgearbeitet, so war dieser Process bis
gegen Ende des Lpngobardenreichs sicher noch lange nicht voll-
zogen, befand sich vielmehr die Mehrzahl noch immer in einer
drückenden Lage. Die Zahl der ihres Besitzes ganz oder theil-
weise Beraubten muss noch in dieser letzten Zeit sehr gross
gewesen sein. Erwägt man die steten inneren Zerwürfnisse, die
unablässigen Kriege nach aussen, so darf man wohl sagen, die Ge-
schichte der Longobarden sei nicht viel mehr als die Chronik
eines zweihundertjährigen, immer wieder mit der alten Zer-
störungswuth geführten Krieges gegen Byzantiner und Römer.
AUes diess lässt die Lage des Volkes unter dieser Herrschaft
in sehr düsterem Lichte erscheinen. Schon die Thatsache, dass
das byzantinische Joch, so fiskalisch aussaugend es war, den
21*
324 Jahrh, der histor. CUisse der k, Akad, der Wissenschaften.
Italiänern immer noch erträglicher erschien, als das longobar-
dische, zeigt, wie wenig an eine vollständige Verschmelzung-
mid Versöhnung beider Völker gedacht werden kann. Die
Kirche, welche das vornehmste Mittel zu einer solchen Ver-
söhnung und Transformation hätte werden können, erlangte
während der longobardischen Zeit nie die Bedeutung, den poli-
tischen Einfluss, den sie in Spanien, im Frankenreiche, bei
den Angelsachsen besass. Wenn noch zm* Zeit des Paulus
Diaconus die mit den Longobarden nach Italien gekommenen
Gepiden, Bulgaren, Sarmaten, Pannonier, Sueven, Noriker und
andre Stämme ihre eignen mit ihren Namen bezeichneten Wohn-
plätze in dem so vielfach verwüsteten und mit Ruinen erlullten
Lande hatten, so erkennt man daraus, welchen zuchtlosen Hor-
den die wehrlose Bevölkerung preisgegeben war, die noch dazu
für die fortwährend den Longobarden zuziehenden framdeu
Krieger und Abentheurer (die Wargangen) Sold und Grund-
besitz beschaffen musste. Man erkennt zugleich, wie wenig
in zwei Jahrhunderten eine wirklich einheitliche Nationalität
aus so disparaten Elementen sich bilden konnte. Die Leich-
tigkeit, mit der erst Pipin, dann Karl die Longobarden besiegte,
mit der der letztere ihr Eeich stürzte , und sich Ober- und
Mittelitalien unterwarf, erklärt sich vorzugsweise aus der all-
gemeinen Abneigung der römischen Bevölkerung.
Die Verbindung des Amulfingischen Hauses mit Born
und dem päpstlichen Stuhle war inuner enger geworden. Papst
und König bedurften einander, beide gaben einander um zu
empfangen ; der Papst bedurfte Schutz und Hülfe ; die Pranken-
försten stützten sich auf die religiöse Autorität des Papstes.
Aber bald änderte sich die Lage; ein Conflikt der Interessen
trat ein , die Abhängigkeit des Papstes von dem Könige war
geblieben oder vielmehr noch grösser geworden, während der
König seiner weniger bedurfte. Zacharias hatte bei der Grün-
dung der neuen Dynastie einen wichtigen Dienst geleistet; in
der Form einer Entscheidung über einen ihm vorgelegten (Je-
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 325
wissensfall hatte er erklärt, dass es recht sei, den bisherigen
schroffen und auf die Dauer unhaltbaren Gegensatz zwischen
vermeintem, machtlosen Rechte und thatsächlicher Macht ver-
schwinden zu lassen, dass demnach die Franken wohl thäten,
dem doch nicht gefahrlosem Schattenkönigthume Childerich's
ein Ende zu machen, und in Pipin's PA*son ein wirkliches und
thatkräftiges Königthum wieder aufzurichten. Seinerseits hatte
Pipin dem Papste, als er im J. 754 um Hülfe flehend nach
Prankreich gekommen, diese Hülfe zugesagt, und ihm noch
dazu in Kiersy eine Urkunde ausgestiellt, durch die er sich
verpflichtete, dem römischen Stuhle das Exarchat und die Pen-
tapolis nebst der Stadt Namia, wenn er alles diess den Lon-
gobarden abgerungen haben würde, zu übergeben.
Hiemit begannen jene an vierzig Jahre lang fortgesetzten
Porderungen, Bitten und Klagen der Päpste von Stephan III
bis Hadriau, mit denen die Briefe des Codex Carolinus ange-
iullt sind, und in welchen immer die Vermehrung des päpst-
lichen Eigenthums als das Höchste und Werthvollste, was Pipin
und Karl zur Sicherung ihres Seelenheils thun könnten, dar-
gestellt wird. Born war längst eine Stadt, die, ohne Handel
und Industrie, mit einer schon grossentheils verödeten Cam-
pagna, nur durch Zuflüsse von ferne her bestehen konnte.
Die Zahl der Armen, für welche zu sorgen ganz und gar den
Päpsten oblag, muss sehr gross gewesen sein. Unterhaltung
der Lampen und Kerzen in den Kirchen und Heiligengräbem
und Verpflegung der Armen — diess ist es dann auch, was
die Päpste als Grund für die so unermüdlich begehrten Schen-
kungen geltend machen. Und man erkennt leicht den Grund,
warum die Päpste so gerne, was der römischen Kirche oder
dem h. Petrus, und was der Stadt Eom oder dem römischen
Gemeinwesen gehörte, zusammenwarfen, und eines mit dem
andern deckten. Das stete Eingen mit den habgierigen und
immer weiter greifenden Longobarden hatte sie dazu genöthigt
und daran gewöhnt. Denn diese kümmerten sich nicht im
326 Jakrb, der hittar. Clmme der Jt. Äkmd. der WiMtemaAaftem.
gmiigsten mn die Beehte oder Anspraelie der rünnsehen Mo-
Bieipalität oder des rltaMeben Staates, hatten aber doch einige
Ehrfdreiit tot der rümigehen Kirche and dem Äpostelfarsten,
und trugen meist einige Sehen, Eirchenranb zn b^hen.
Pipin's Sebenknng ist, was die Form nnd die Beweg-
gründe betrifft, in ein nndnrehdringliches Dnnkd gehnllt, da
die Urkunde nie znm Vorschein gekommen ist. Sie begriff*
das £xarchat, die Pentapolis nnd die Stadt Namia. Ans dem
Briefen der Päpste Stephan III nnd Panl I ergibt sich, dass
die Schenknng erstens als Bestitntion von den Päpsten ge-
fordert nnd von dem Könige bewilligt wnrde, **) und dass
zweitens der Papst sie unter dem doppelten Titel der römischen
Kirche und der römischen Bespublica empfing. Dagegen ist
in den zahlreichen Schreiben des P. Hadrian, die sich auf die
Schenkung beziehen, oder neue Forderungen stellen, weder
von Restitution, noch von der ßespublica mehr die Bede, son-
dern nur noch von dem hl. Petrus, welchem Ländereien und
Städte einfach geschenkt oder übergeben werden sollen. Pipin
müsste also die Vorstellung gehegt haben, dass das Exarchat
mit der Pentapolis schon einmal der römischen Kirche gehört
habe, in welchem Falle man annehmen mässte, dass ihm die
um diese Zeit entstandene Schenkung Constantins als Besitz-
titel vorgezeigt worden sei. Dem widerspricht aber gerade die
Hervorhebung der Bespublica und die auch nachher noch in
Born festgehaltene Beschränkung der Forderungen auf gewisse
Theile Italiens.**) Das Richtigere ist also, dass Pipin die
Länder dem Papste als dem Vertreter der national-italiänischen
Bespublica übergab, so dass der römischen Kirche nur die in
diesen Gebieten befindlichen Patiimonien zufielen, und er und
die Päpste gebrauchten den Ausdruck „zurückerstatten^ S weil
sie die byzantinische Herrschaft über diese Provinzen als eine
lange, durch die Eroberung unter Justinian begonnene Usur-
pation betrachteten, welche das autonome Becht der italisch-
römischen Bespublica nur faktisch unterbrochen, nicht auf-
Döllinger: Dos Kajserthum KarVs des Grossen, 327
gehoben habe. Durch die longobardische Eroberung und die
Besiegung der letzteren durch die Franken waren demnach
die Ansprüche der Respublica wieder erwacht und lebenskräftig
geworden, und Pipin's Akt war, von diesem Gesichtspunkt
aus betrachtet, in Wahrheit eine Eestitution. Der Papst aber
war damals der einzige, der als natürlicher Schirmvogt oder
Patricius der nicht longobardischen Itaüäner das Zurückgege-
bene in Empfang nehmen konnte. ^*) Sobald indess der Franken-
könig auch König der Longobarden geworden war, und nun
gleich seinen longobardischen Vorgängern mit innerer Noth-
wendigkeit dazu getrieben wurde, dieses Keich zu einem. Ober-
und Mittelitalien vereinigenden Königthume zu erweitern, so
bald verschwand auch die „Eespublica" und die „Eestitution'^
aus den päpstlichen Briefen, denn jetzt war Karl und nicht
der Papst der natürliche Erbe und Schutzherr der Eespublica.
Von da an wird die Bezeichnungsweise in den Briefen der
Päpste , Hadrians namentlich , verworren , die „Justitia des
h. Petrus" ist nun ein weiter, unbestimmbar Vieles umhüllender
Mantel, und man sieht nicht, ob der Papst sich als Herrn
des römischen Ducatus oder blos als dessen Schirmvogt be-
trachtete, ob er im Namen des souveränen Eom oder nur m
seinem eigenen redete.
Pipitt hatte nur das Exarchat mit der Pentapolis dem
päpstlichen Stuhle übergeben. So stand es in der Urkunde
von Kiersy 754, und auch bei dem Frieden mit Astolf 755
und in der erneuerten Schenkung von 756 waren nur diese
Gebiete dem Papste zugeeignet worden. Karl dagegen stellte
i. J. 774 bei seiner ersten Anwesenheit in Eom, nachdem
ihm Pipin's Urkunde vorgelesen worden, eine Schenkung oder
vielmehr eine Verheissung, wie Hadrian's Biograph sagt, aus^
wonach dem Papste weit mehr, nämlich mehr als die Hälfte
von ganz Italien, und danmter Länder, die Karl noch gar
nicht erobert hatte, zu eigen gegeben werden sollte. Was
den König zu einem politisch so schwer erklärbaren Verspre-
328 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
chen bewegen konnte, das verdient noch eine besondere Unter-
suchong. Thatsache ist, dass Karl sein damals gegebenes
Versprechen nachher zum grossen Theil nicht mehr erfällte.
Die ersten Gebiete, welche er wirklich, schon 774, dem Papste
nberliess, waren Theile der longobardischen Herzogthümer
Tuscien und Spoleti.
Im Jahre 781 ward das Sabinische Gebiet verliehen;
auch Benevent wird damals oder 787 geschenkt worden
sein. Istrien und Venetieu wurden nie übergeben. Auch
Corsica kam nicht wirklich in den Besitz der Päpste. Aus
Hadrian's Aeusserungen sieht man, dass dem Könige Ur-
kunden von römischen Kaisern oder longobardisclien Kö-
nigen als Eechtstitel bezüglich der Gebiete, deren Verlei-
hung man in Eom wünschte, vorgelegt worden sind. Es ver-
steht sich, dass Kaiser-Urkunden, wenn sie acht waren, nur
Schenkungen von Patrimonien, nicht von Hoheitsrechten über
Städte und Länder enthalten konnten. In den Herzogthümem
Spoleti und Benevent besass die römische Kirche wohl von
Alters her ansehnliche Patrimonien; jetzt aber waren es die
ganzen Herzogthümer, welche man in Anspruch nahm; und
Karl sowohl als die von ihm nach Italien gesandten Gewalt-
boten waren weit entfernt, den Forderungen des Papstes in
ihrer ganzen Tragweite zu willfahren. Wie wenig Macht dem
Papste in dem schon 774 geschenkten Gebiete von Spoleti
eingeräumt wurde, bewies seine Bitte, dass der König eine
besondere dort wachsende Holzgattung für die Eestauration
der Peterskirche ihm zukommen lasse, da sie in „seinem Ge-
biete" nicht aufzutreiben sei. ^^) Und als Karl dem Papste
die Stadt Capua überlassen hatte, liess Hadrian die Capuaner
nicht nur dem hl. Petrus und ihm, dem Papste, sondern auch
dem Könige Treue schwören. ^^)
So lange die fränkische Macht noch nicht in Italien Fuss
gefasst hatte, musste Alles, was weder Griechen noch Longobar-
den unterthan, was Römisch sein, zur Eespublica gehören
DöUinger: Bas Kaiserthum KarVs des Grossen, 329
wollte, sich unter die Schirmvogtei des Papstes, der eiazigen
national-italiäüischen und moralisch starken Macht, stellen.
Jetzt aber war die longobai'dische Krone mit allen ihren
historischen Titeln und ihren durch das Gesetz der Selbster-
haltung gebotenen Ansprüchen auf Karl's Haupt übergegangen,
jetzt erst hatte sein römisches Patriciat einen Inhalt und eine
Bedeutung erlangt. ; jetzt erst verband er den vorher verschmäh-
ten Titel mit dem eines Longobardenkönigs, schloss er Verträge
mit dem Papste über die Befugnisse seines Patriciats, und
hegehrte er, nicht ohne Vorwurf, dass Hadrian sie besser
achten solle. Karl hat sich nie König von Italien genannt,
sondern König der Longobarden, aber thatsächlich war er es,
und auch in den Städten und Gebieten, die jetzt der römischen
Kirche untergeben waren, machte er seine Oberhoheit nach-
drücklich geltend *^), während Hadrian noch immer nominell
•den byzantinischen Kaiser als seinen Oberherrn anerkannte. **)
Gebieterisch drängte die Lage der Dinge in Italien zu
«iner Lösung dieser unklaren , gespannten Verhältnisse. Die
Zeitgenossen sahen schon seit einiger Zeit in Karl den Gebieter
Koms. Paul Diakonus spricht es aus, dass Karl auch Rom
seinem Reiche einverleibt habe — also schon lange vor der
Kaiserkrönung. Dass Karl Rom schon besitze, war nachher
i. J. 800 ein Hauptgrund , ihn zum Kaiser zu erwählen. *^)
Der neue Papst sandte i. J. 79 G dem Könige nebst dem
Ehrengeschenke der Schlüssel vom Grabe Petri auch das Ban-
ner der Stadt Rom, und keinen Zweifel über den Sinn dieser
Zusendung liess die beigefügte Bitte, Karl möge einen seiner
Grossen schicken, welcher das römische Volk den Eid der
Treue und ünterthänigkeit schwören lasse. Charakteristisch
ist denn auch in dem Schreiben Karls an den neuen Past die
Auffassung der beiderseitigen Aufgaben : er scheint im Papste
nur den betenden Hohenpriester zu sehen ; mir, sagt er, kommt
6s zu, die Kirche nach aussen zu vertheidigen mit den Waffen,
im Innern zu befestigen durch das Verständniss des katholischen
330 Jdhrb, der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
Glaubens ; eure Sache ist es, die Hülfe des Gebetes uns zu leis«
ten. Zugleich versichert er, es mit Wohlgefallen aufgenommen
zu haben, dass der Papst in Demuth ihm Gehorsam und Treue
gelobt habe. '^)
Das Attentat der Nepoten Hadrians gegen den Papst
fahrte den König zum viertenmale nach Eom, und nun er-
folgte die „Erneuerung des römischen Reiches", wie eine da-
mals geprägte Denkmünze es nannte. Am Weihnachtsfeste
d. J. 800 setzte der Papst ihm plötzlich nach dem Gottes-^
dienste eine Krone aufs Haupt, und der Ruf des Volkes ver-^
kündete ihm, dass er Kaiser der Römer sei. Es war der wich-
tigste Tag für das nächste Jahrtausend der Weltgeschichte.
III.
Karl's Kaiserkrönung.
Mehrere Fragen sind zu beantworten, mehrere Punkte^
zu untersuchen, damit der Vorgang am Weihnachtsfeste dea
Jahres 800 in seinen Triebfedern, Absichten, Wirkungen
klar werde.
Was zuerst die persönliche Angelegenheit des Papstes-
Leo betrifft, so pflegt man die fränkischen Berichte mit dem
Römischen des Papstbuches in der Weise zu verbinden, dass-
der letztere jene ergänzt. Dagegen ergeben sich jedoch starke
Bedenken. Denn die Sache wird in übereinstimmender Weise
von den fränkischen Berichterstattern, anders dagegen von
dem päpstlichen Biographen dargestellt. Nach den fränkischen
Berichten war der Hergang folgender. Paschalis, Campulus^
und ihr zahlreicher Anhang unter dem römischen Adel hatten
den Papst wegen angeblicher Verbrechen erst verurtheilt und
Völlinger: Das Kaiserihum KarVs des Grossen. 331
für abgesetzt erklärt, .dann das Attentat an ihm verübt. Die
fränkischen Machtboten, die anf Karl's Gebot den Papst nach
Eom zurückführen, stellen sofort eine Untersuchung an, und
senden die Urheber des Attentats gefangen nach Frankreich.
Als dann Earl selbst nach Born kommt, kündigt er einer
sieben Tage später von ihm berufenen Versammlung an, wa-
rum er gekommen, und beschäftigt sich dann täglich (also
mehrere Tage hindurch) mit den Angelegenheiten, die ihn da- ,
hin geführt hatten. Darunter war das schwerste und wich-
tigste das, was früher schon begonnen worden war (durch die
Machtboten Karls) : Die Untersuchung über die dem Papste
vorgeworfenen Verbrechen. Karl hatte die Feinde des Papstes
Paschalis und Campulus aus Frankreich mitgebracht; jetzt,
bei der gerichtlichen Untersuchung, ergab sich, dass sie nicht
im Stande waren, einen förmlichen Beweis, dass Leo die ihm
angeschuldigten Verbrechen begangen habe, zu föhren. Karl
erkannte, dass sie nur aus Hass ihn angeklagt hätten. Dem-
nach erklärten er und die Bischöfe dem Papste: Da die An-
klage gefallen sei, so stehe es nun bei ihm, ob er, freiwillig,
nicht in Folge eines richterlichen Spruches, den Beinigungseid
schwören wolle. Leo schwor diesen Eid. So lauten überein-
stimmend die sich wechselseitig ergänzenden Angaben der
Fuldaer, Lorscher oder Einhardischen Annalen und der Chro-
nik von Moissac.
Ganz anders aber lautet die Darstellung des Papstbuches,
und es ist nicht zu verkennen : sie ist durchweg absichtlich
und zurechtgemacht ; sie verschweigt und sie entstellt. Schon
die Angabe, dass die Wahl Leo's so ganz einstimmig von
allen Klassen vollzogen worden sei, wird durch die nachfol-
genden Ereignisse mehr als zweifelhaft. Dann wird erzählt,
Leo sei von seinen Feinden zweimal verstümmelt worden ; dass
erstemal, auf der Strasse, sei^ ihm die Zunge abgeschnitten
worden, und habe man geglaubt, ihn auch durch Ausreissung
der Augen geblendet zu haben; das zweitemal, gleich darauf^
332 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
ab Paschalis und Campulos ihn in die Kirche eines Klosters
geschleppt, hätten sie noch vollständiger Augen und Zunge
ihm ausgerissen. Dann aber habe er, in dem Kloster des
h. Erasmus eingekerkert, wunderbarer Weise durch Gottes
Gnade und die Fürbitte des h. Petrus Augen und Sprache
wieder erhalten. Der Biograph beabsichtigt offenbar, dass
der Leser an ein reines Wunder dabei glauben solle, wagt
aber doch nicht geradezu das Wort auszusprechen, sondern
macht sofort ein sehr natürliches Ereigniss zu einem „grossen
Wunder'^ dass nämlich ein Anhänger ihn an einem Strick
von der Klostermauer herablässt, von wo er nach der Peters-
kirche und dann zum Herzoge Winiges entkommt. Die dop-
pelte Verstümmelung, die freilich ein unerhörtes Wunder zur
Folge gehabt haben müsste, ist unwahr; die fränkischen An-
nalisten wissen nichts davon. Als dann Leo unter fränkischem
Schutze zurückkehrt, strömt ihm die ganze Bevölkerung ent-
gegen, und alle Stände sind entzückt, ihn wieder zu haben,
so dass man nicht begreift, warum dann vorher in Bom keibe
Hand sich für ihn erhoben, und nur der Herzog von Spoleti
ihn geschützt habe. Die geistlichen und weltlichen Sendboten
Karls stellen, nachdem sie den Papst zurückgeleitet, in Bom
eine Untersuchung an, welche über eine Woche währt, und
fragen die Nepoten Hadrian's aus über ihre Anklagen gegen
den Papst; diese aber wissen nichts zu sagen und werden
nach Frankreich gesandt. Wie nun Karl selbst eintrifft, be-
ruft er eine grosse geistliche und weltliche Versammlung,
welche über die dem Papste zur Last gelegten Vergehen ab-
urtheilen soll. Aber sämmtliche Bischöfe und Aebte erklären
einstimmig: Wir wagen es nicht, den apostolischen Stuhl,
der vielmehr uns zu richten hat, zu richten; Niemand darf
ihn, nach altem Herkommen, richten ; dem Ausspruche des Pap-
stes, wie er auch ausfallen möge, werden wir kanonischen
Gehorsam leisten. Darauf erbietet sich der Papst zum Beini-
gungseide. Man sieht, hier wird den Dingen eine ganz andre
Bollinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 333
Farbe gegeben. Nach den fränkischen Berichten stellt Karl
ein förmliches Processverfahren gegen den . Papst an, welches
mehrere Tage währt, und als sich keine bewiesenen Thatsachen
gegen Leo ergeben, wird ihm frei gestellt, ob er noch den
Unschuldseid leisten wolle. Karl sass also allerdings mit den
Yon ihm zugezogenen Bischöfen zu Geriebt über den Papst,
und föUte ein Urtheil. N^ch dem römischen Erzähler aber
lassen es die Bischöfe, die fränkischen sowohl als die italiäni-
schen, zu einem solchen Verfahren gar nicht kommen, sondern
schneiden alles gleich mit der Erklärung ab, dass ein Papst
überhaupt nicht gerichtet werden dürfe. So dass also im
Grunde Karl eine Zurechtweisung darüber empfangt, dass er
eines an sich unstatthaften Unternehmens, einen Papst zu rich-
ten , sich unterfangen wolle. Und • so wird denn auch im
Papstbuche das spätere Ereigniss, nämlich die neue Verschwö-
rung der Kömer gegen Leo, die Hinrichtung Mehrerer von
ihnen auf Befehl des Papstes, und das Eingreifen Kaiser Lud-
wigs, ganz verschwiegen.
Das nächste, was zu betrachten kommt, ist die Stellung
die Karl einerseits zum Papste, andererseits zu dem griechi-
schen Eeich und Kaiserthron einnahm. Dass der Papst der
Nachfolger des Petrus, der Träger der höchsten kirchlichen
Autorität sei, dass ihm vor allen Bischöfen der Welt der
Vorrang gebühre, daran zweifelte Karl nicht; so war er von
Jugend an gelehrt worden, aber diese Gewalt war doch in
seinen Augen in enge Gränzen eingeschlossen, und nicht blos
in bürgerlichen Dingen, auch in kirchlichen stellte der König
sich nicht selten höher, und Hess er es den Papst fühlen, dass
dieser von ihm abhängig sei, und gelegentlich auch Befehle
von ihm anzunehmen -habe. Zudem hatte er Kom und die
Päpste nur als Hülfebedürftige, die stets nur mit Bitten, mit
immer erneuerten Forderungen sich ihm nahten, die nur seines
starken Armes zu ihren Zwecken sich bedienen wollten, kennen
gelernt. Er wusste wohl, dass der päpstliche Stuhl nicht auf
334 Jahrb. der histor. Gasse der k. Äkad. der Wissenschaften.
eignen Füssen zu stehen vermöge, dass er ohne ihn wie früher
die Beute der Longobarden, so jetzt die der römischen Adels-
fektionen werden würde. Hatten doch die Häupter dieser
Faktionen die bedeutendsten geistlichen Würden in Rom be-
reits an sich gebracht. Schon als Jüngling hatte Karl den
Papst Stephan vor ihm und seinem Vater Pipin hülfeflehend
auf dem Boden liegen gesehen. ^) Dann hatten ihm seine
von der römischen Synode d. J. 769 zurückgekehrten Bischöfe
berichtet, wie Papst Constantin II nach dreizehnmonatlicher
Verwaltung geblendet, abgesetzt, auf der Synode von Bischö-
fen und Priestern mit Faustschlägen mishandelt worden sei.
Karl hatte von ihnen erfahren, dass dieselben Männer, die
über ein Jahr lang dem Papste am Altare gedient, und den
Gottesdienst mit ihm gefeiert hatten, nunmehr jede seiner
Pontifikalhandlungen für nichtig erklärt, und die von ihm or-
dinirten Bischöfe und Priester genöthiget hatten, sich von
neuem ordiniren zu lassen. Er hatte femer vernommen, dass
der neue Papst Stephan IV mit den übrigen römischen Prä-
laten sich in Gegenwart der ganzen Synode zur Erde nieder-
geworfen, dass er und sie sich schuldig bekannt hatten, aus
den Händen Constantin's die Communion empfangen zu haben,
und sich eine Busse dafür hatten auflegen lassen. ^) Hadrian,
dessen Briefe an Karl hauptsächlich mit Bitten und Beklama-
tionen um Land- und Städteverleihungen angefüllt waren,
hatte durch seine Theilnahme an der Nicänischen Synode von
787 und seine Bestätigung der dort gefassten Beschlüsse über
Bildßjverehrung Karl's Missfallen erregt, und ohne Eücksicht
auf ihn und seine Legaten wurden auf der grossen von Karl
berufenen Synode zu Frankfurt die Nicänischen Dekrete ver-
worfen, und wurde damit dem päpstlichen Ansehen eine em-
pfindliche Wunde geschlagen.
Durch Karl's persönliche Ueberlegenheit auch auf dem
kirchlichen Gebiete war das Papstthum damals vielfach ver-
dunkelt und zurückgedrängt. In Bom empfand man die Nach-
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 335
ivehen der Jahrhunderte langen Zerrüttung Italiens. Die Be-
Tölkerung der Stadt war verwildert, geistige Bildung nur bei
sehr wenigen. Die Bischöfe jener Zeit sahen in Karl nicht
nur den mächtigen Schirmvogt der Kirche, sondern auch ihren
Keformator und obersten Lenker. Als Karl im Winter 801
in Rom weilte, empfahl Paulinus von Aquileja, nicht dem
Papste sondern dem neuen Kaiser: er möge die Bischöfe an-
treiben zur Erforschung der heiligen Schrift, den Klerus zu
besserer Zucht, die Mönche zur Frömmigkeit, und so die Kirche
hauen und aufrichten. ^) Die Synoden versammelten sich auf
sein Gebot, nicht auf das des Papstes ; *) vielmehr gehorchte
dieser selber einem königlichen Befehle, als er des adop-
tianischen Streites halber eine Synode in Rom hielt. ^) Der
König, nicht die päpstlichen Legaten, die erschienen waren,
führte auf dem grossen Frankfurter Concil den Vorsitz. Die
Synode von Altino (799) oder Paulinus in ihrem Namen er-
klärte sich bereit, ihre Beschlüsse völlig nach Karl's Belieben
umzugestalten oder auch fallen zu lassen. ^) Und selbst der
neue Papst musste nach Karl's Weisung von dessen Abgesand-
ten Angilbert die Mahnung hinnehmen, dass er ein sittlich
reines Leben fuhren, die Canonen beobachten und die Simonie
abschaffen solle. Die Päpste hätten ihrerseits in KarVs bis
in sein Alter fortgesetzten Fleisches-Sünden Veranlassung ge-
nug gehabt, ähnliche Mahnungen an ihn zu richten, aber es
findet sich nicht, dass sie es gethan hätten. Merkwürdig ist
dabei, dass noch in späterer Zeit Papst Johann VIII den Be-
ruf KarFs, als ein gewaltiger Reformator der Kirche zu wir-
ken, nicht nur anerkannte, sondern ihn auch mit Wärme da-
für pries, dass er diesen seinen Beruf verstanden und die da-
malige Kirche von Irrthümern gereinigt habe. ^)
Karl selbst nannte gerne den Papst seinen geistlichen
Vater, aber in der Leitung der Kirche wies er ihm doch nur
eine untergeordnete Aufgabe im Verhältnisse zu der eignen an.
Er ist es, dem es aufgegeben ist, die Kirche im Innern zu
336 Jahrb. der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften,
bauen, indem er den katholischen Glauben zur Anerkennung
bringt ; des Papstes Beruf ist es, für die Christenheit und für
ihn zu beten. ®) Wohl erholte er sich in kirchlichen Dingen
häufig den Bath des Papstes, Hess sich auch einmal eine Dis-
pensation von ihm ertheilen, einen Bischof seiner Diöcese zu
entziehen und als Kanzler bei sich zu behalten, aber zuletzt
war doch er es, der nach Gutdünken entschied und verfügte.
Und so lässt denn auch Theodulf Bischof von Orleans den
h. Petrus dem Könige die Schlüssel seiner Kirche anvertrauen.
Karl ist es, der die Kirche verwaltet, der nicht nur das Volk
sondern auch den Klerus regiert, sagt Theodulf.*)
Die Stellung Karl's zum oströnüschen Kaiserreiche und
zum byzantinischen Hofe war bestinunt durch seine Eroberun-
gen in Italien und sein Trachten nach der Kaiserwürde; sie
konnte daher, besonders auf griechischer Seite, nur eine feind-
liche sein. Noch wurde um den Besitz von Istiien, Libumien,
Venetien, Dalmatien gekämpft. Istrien hatte Karl erst i. J. 789
sich unterworfen. Aber die Griechen besassen noch die für
das byzantinische Reich höchst wichtige Herrschaft auf dem
adriatischen Meere, und um dieses zu behaupten, mussten sie
die Schutzherrlichkeit über Venetien und die Herrschaft über
Libumien und Dalmatien sich zu erhalten suchen. Zugleich
schien der Besitz ihrer unteritalischen Provinzen von Karl's
Belieben abzuhängen. Karl selbst verbarg es sich nicht, dass
so lange er nicht Kaiser sei, das Becht der oströmischen Kaiser
auf die italischen Gebiete überhaupt stets in der öffentlichen
Meinung für besser begründet, für älter und ehrwürdiger gelten
würde, als das seinige. Und förmlich verzichtet hatte man zu By-
zanz auf nichts. Wurde doch in Rom selbst noch die nominelle
Oberhoheit des östlichen Kaisers anerkannt, und durch einen
einzigen glücklichen Feldzug, durch die Landung eines Heeres
in einem Momente fränkischer Bedrängniss, konnte sie wieder
in eine sehr reelle Herrschaft verwandelt werden. Die fort-
währende Verbindung der Venetianer mit Byzanz war für die
DöUinger: Das Kaiserthwn KarVs des Grossen, 337
angränzenden , jetzt dem Frankenkönig untergebenen Gebiete
eine stete Drohung. Denn in Venedig überwog die den Grie-
chen sich zuneigende Partei. Der Papst musste daher auf
Karl's Geheiss aus dem Exarchat und der Pentapolis alle ve-
netianischen Kaufleute vertreiben, und andererseits hatten die
Griechen den Bischof Mauritius in Istrien als Parteigänger
der Franken geblendet, ^^) und hatte der Sohn des Dogen
von Venedig den Patriarchen Johannes von Grado, wohl aus
demselben Grunde, von dem Thurme seines Schlosses herab-
stürzen lassen. ^^)
So drängte die ganze, vielfach verwickelte Lage Italiens
den Frankenkönig, nach der Kaiserkrone zu greifen. Damit
wurde alles einfacher, trat jedem Besitz und jedem Ansprüche
ein ehrwürdiger, tief in der Meinung der Völker wurzelnder
Eechtstitel zur Seite. Sein Patriciat legte ihm Pflichten auf,
ohne ihm entsprechende Kechte, feste Gewalten zu geben. Es
musste ihm als eine Stufe erscheinen, auf welcher er nicht
stehen bleiben dürfe, von der aus er zu der höheren und kla-
reren Stellung und Würde des Imperiums aufsteigen musste.
An sich schon ist es sehr wahrscheinlich, dass Karl frü-
her schon, lange vor d. J. 800, den Gedanken des Kaiser-
thums gefasst, den Wunsch es wieder an Eom zu knüpfen,
und mit dem Frankenreiche zu verbinden, gehegt habe. Ge-
wiss dachte er über das Kaiserthum, über dessen hohe religiöse
Bedeutung eben so, wie seine geistlichen Lehrer, Zeitgenossen
und Freunde darüber dachten. Diese, die sich aus den Schrif-
ten der Kirchenväter genährt hatten, konnten sich die christ-
liche Kirche ohne das Kömerreich nicht recht denken; das
Imperium war ihnen doch inmaer die wesentliche gottgewollte
äussete Basis und Stütze der Kirche; es musste so lange be-
stehen, als diese; sein Fall war das Zeichen des nahenden
Endes der irdischen Dinge. Die Abnahme und immer sicht-
barer werdende Ohnmacht des oströmischen Kelches war in
ihren Augen ein Unheil, eine Schmach für die Christenheit,
*2a
338 Jahrb. der histar. CUMse der k. Akad. der Wissenschaften.
und es musste ihnen als ein unnatürlicher Zustand zugleich
und als ein Unglück für die christliche Kirche erscheinen,
dass das römische Beich, dessen Macht und Ehre den schwa-
chen und unzulänglichen Händen der Byzantiner anvertraut
bleiben solle.
Hatten doch schon die alten Christen ganz besonders für
die Erhaltung Eom's gebetet, weil es der Träger des Impe-
riums, weil es die Stadt sei, die Alles noch trage und halte. ^*)
Die Vorsehung selbst schien den Menschen jener Zeit die
Dinge so gelugt zu haben, dass das starke, blühende Eranken-
reich die Erbschaft des Kömischen ohne gewaltsame Unterbre-
chung der geschichtlichen Continuität übernehmen, dass das
römische Imperium wieder seinen legitimen Schwerpunkt in
Rom finden konnte.
Da stand aber Constantinopel mit seinem jungen Kaiser
Constantin im Wege. Der Gedanke einer Theilung des Rei-
ches in ein westliches und östUches, wie sie vorübergehend im
viei*ten und fünften Jahrh. stattgefunden, war damals den
Menschen fremd. Jene Theilung war längst verschollen ; seit
Jahrhunderten hatte man nur Einen Kaiser, den in Byzanz,
gekannt. Eine friedliche Annäherung hatte stattgefunden :
Die Kaiserin Mutter Irene hatte im J. 782 für ihren Sohn,
den jungen Kaiser, um die Hand Rotrudens, der Tochter
Karl's geworben. Aber die Unterhandlung wurde nach eini-
gen Jahren wieder abgebrochen; Irene, der, weil sie allein
herrschen wollte, die Tochter des mächtigen Frankenkönigs
als Schwiegertochter unwillkommen war, gab ihrem Sohne
Ende 788 Maria von Amnia zur Gemahlin.
Karl glaubte ein Mittel gefunden zu haben, das ihm ge-
stattete, das Kaiserthum für erledigt zu erklären, und es dem-
nächst für sich in Anspruch zu nehmen. Er ergiiff hiezu die
Gelegenheit, welche ihm die im J. 787 gehaltene Synode zu
Nicaea mit ihren Beschlüssen über die Bilderverehrung darbot.
Karl nahm zwar überhaupt den lebendigsten Antheil an
Dollinger: Das Kaiserthum KarVs des Chrossen. 339
religiösen Streitigkeiten, und griff energisch in den Verlauf
derselben ein. Aber hier verfuhr er doch ganz anders als in
der adoptianischen Controverse. Die letztere überliess er dem
geordneten kirchlichen Verfahren. In der BilderjQrage trat er
mit seinem Namen, mit dem ganzen Gewichte seiner Persön-
lichkeit ein; er gedachte sie als Waflfe zu gebrauchen. Drei
Jahre nach jener Synode — schon diess ist auffallend — liess
er von Alkuin eine Kritik ihrer Verhandlungen und Beschlüsse
verfassen, in welcher er selber das Wort führte. Die ganze
Schrift ist ein feierliches Manifest, eine scharfe Anklage, ge-
richtet gegen den Kaiser und dessen Mutter, dann gegen die
griechischen Bischöfe. Der Byzantinische mit ünkenntniss ge-
paarte Hochmuth, ihre Missachtung der westlichen Kirchen,
ihr eigenmächtiges Gebahren in kirchlichen Dingen, alles diess
wird in den stärksten Ausdrücken gerügt. Karl wusste wohl,
dass Constantin zur Zeit der Synode erst sechzehn Jahre alt,
also ein in kirchlichen Dingen unzurechnungsfähiger Knabe
gewesen sei. Das hielt ihn aber nicht ab, ihm die Verant-
wortung fiir das dort Geschehene aufzubürden. Absichtlich
bezeichnet er ihn nur als „König", während er, der sich
sonst nur König der Longobarden zu nennen pflegte, hier
von dem „Königreich Italiens , das Gott ihm verliehen
habe", sprach. Die Beschuldigungen, welche gleich in den
ersten Kapiteln an einige herkömmliche Ausdrücke des byzan-
tinischen Kanzleistils geknüpft werden, ^') zeigen, dass es dem
Frankenkönige vor AUem darum zu thun war, den Kaiser und
dessen Mutter in Anklagestand zu versetzen. ' Irenen wird es
noch besonders als ein gegen göttliche und menschliche Ge-
setze verstossendes Vergehen vorgehalten, dass sie auf der
Synode als „Anordnerin und Lehrerin" sich gebehrdet habe;
beide, sie und ihr Sohn, seien aus Hochmuth wahnwitzig ge-
worden. ^*). In der That wurde denn auch einige Jahre nach-
her auf dem Concil zu Frankfurt die Nicanische Synode mit
ihren Dekreten über Bilderverehrung unbedingt verworfen, und
22*
340 Jahrh, der hisior. Classe der k. Äkad. der Wissenschaften,
die päpstUchen Legaten mussten, wenn sie nicht zustimmten,
sich passiv dabei verhalten.
Wäre es KarVn hauptsächlich um die religiöse Frage zu
thun gewesen, so hätte er vor Allem eine Verständigung zwi-
schen der Ansicht der fränkischen Kirche und der des Papstes
und der römischen Kirche anstreben müssen. Denn hier fand
allerdings ein schroffer Widerspruch statt. Im fränkischen
Eeiche wollte man nur die Aufstellung religiöser Bilder, ohne
jedes Zeichen äusserer Verehrung dulden; in Eom dagegen
war man ganz mit den Nicänischen Schlüssen über die den
Büdem zu erweisende Verehrung einverstanden. Karl wusste
das sehr gut, gleichwohl aber ignorirt er es in seinem Buche
völlig, er stellt sich an, als ob der Papst ganz mit ihm und
den fränkischen Bischöfen einverstanden sei, als ob er, der
König, gerade um das gute Eecht der römischen Kirche ge-
gen das selbstsüchtige und eigenmächtige Verfahren der Grie-
chen zu wahren, diese Protestation und Anklage erhebe. Nur
auf den Kaiser und dessen Bischöfe ist es abgesehen.
Auf Grund dieser Schrift oder vielmehr eines nach Kom
gesandten Auszuges aus derselben, liess nun Karl durch seinen
Vertrauten Angilbert an den Papst die Forderung stellen, den
Kaiser für einen Häretiker zu erklären. Eine Zumuthung, die
den Papst in nicht geringe Verlegenheit setzte, denn er selbst
hatte die Beschlüsse der Synode gebilligt, hatte durch seine
Legaten an Allem Theil genommen. Hadrian suchte einen
Ausweg, er wolle, schrieb er in einem demüthigen Briefe, wenn
Karl es ihm erlaube, den kaiserlichen Hof auffordern, dem
römischen Stuhl die ehemals entrissenen Patrimonien und die
Gerichtsbarkeit über die illyrische Diöcese zurückzugeben; ver-
weigere man diess, dann sei er bereit den Kaiser als einen
Häretiker zu verurtheilen. ^^) Nur die völlige Abhängigkeit,
in welcher der Papst sich dem Frankenkönige gegenüber fühlte,
macht es begreiflich, dass Hadrian eine solche allem kirch-
lichen Eechts- und Wahrheitssinne widersprechende Verpflich-
Döllinger: Das Katserthum KarVs des Grossen. 341
tung eingehen konnte, deren Verwirklichung sofort die kirch-
liche Trennung des Orients vom Occidente zur Folge gehabt
haben müsste.
Der fernere Verlauf der Sache ist nicht bekannt; jeden-
falls überhob die im J. 796 erfolgte Blendung Constantins und
sein Tod den Papst der Sorge um weitere Schritte. Was
würde aber geschehen sein, wenn es wirklich zu jenem Aeus-
sersten gekommen wäre? Erinnerte sich Karl etwa, dass die
Römer schon einmal dem Kaiser Philippikus (J. 712), weil er
die monotheletische Irrlehre wieder aufrichten wollte, den Ge-
horsam aufgekündigt und erklärt hatten , ihn nicht mehr als
Kaiser anzuerkennen? dass sie nachher unter Leo dem Isaurier
an die Wahl eines neuen Kaisers gedacht hatten, den sie dann
mit gewaffheter Macht nach Constantinopel fuhren wollten?
Die Annahme dürfte gerechtfertigt sein , dass Karl an die Stelle
des häretisch, und also nach damaliger Anschauung zum Kai-
serthum untüchtig gewordenen Constantin sich selbst als Kaiser
wählen lassen wollte.
Zum erstenmale wurde jetzt die höchste Würde der christ-
lichen Welt von einem Weibe getragen. Diess musste den
Zeitgenossen unnatürlich, gesetzwidrig, unerträglich erscheinen.
Auch nach römischem Eechte konnte ein Weib nicht die Ee-
gierung führen. ^^) Wir sehen, dass imJ. 798 zwischen Karl
und Irene Unterhandlungen statt fanden, dass eine griechische
Gesandtschaft mit Friedensvorschlägen bei Karl eintraf, dass
dieser den früher gefangenen Sisinnius, den Bruder des Patri-
archen Tarasius, mit den Gesandten frei nach Constantinopel
zurückkehren Hess. Sicher nicht ohne Aufträge.
Es galt wohl, eine Combination zu finden, welche die
Kaiserwürde auf Karl als Nachfolger Constantin's VI über-
gehen liess. Solche Verhandlungen durch Gesandte erforderten
damals lange Zeit. Hatten doch Wittbold und Johannes, die
Karl im J. 785 an Irene geschickt, nach ihrer Abreise von
Constantinopel achtzehn Monate zur Sückkehr gebraucht. ^^)
342 Jahrb, der higtar. CUisse der jfc. Akad.,der Wissenschaften.
Da traten die römischen Ereignisse dazwischen, nnd die
Ungeduld der fränkischen Grossen, des Papstes und der Römer
zerhieb den Knoten, den Karl seit Jahren vergeblich zu lösen
sich bemüht hatte.
Bekanntlich berichtet Einhard : Karl habe nach der Krö-
nung zu versichern gepflegt, er würde an jenem Tage, obgleich
es der höchste christliche Festtag gewesen, nicht in die Kirche
gegangen sein, wenn er die Absicht des Papstes vorhergewusst
hatte. Die neueren Historiker meinen nun fast einstinunig:
so könnten die Dinge sich nicht begeben haben; der Plan
müsse vielmehr von Karl selbst ausgegangen, müsse das Er-
gebniss der zwischen ihm und seinen Franken und dem Papste
schon seit geraumer Zeit augestellten Erwägungen sein ; und
80 sei denn seine Versicherung, dass die Sache ohne sein Zu-
thun, durch üeberraschung erfolgt sei, einfach unwahr. Selbst
den Vorwurf einer unwürdigen Heuchelei , welcher er bei die-
sem wichtigsten und folgenreichsten Ereignisse seines Lebens
sich schuldig gemacht habe, hat man ihm nicht erlassen. Am
stärksten jüngst Gregorovius; „Der König gab sich, wie
einst Augustus, den Schein die höchste Würde nicht anneh-
men zu wollen, bis er sich dazu bereit erklärte.. Man blen-
dete die Welt durch einen theatralischen Effekt". Mit ihm
wetteiferte der Italiäner La Farina *^) , die Deutschen
Kurtz, Eettberg und andre. Man ist zu der Behauptung
fortgeschritten : Karl habe sich planmässig längst beeifert, die
Idee eines römischen Kaisers in seiner Person darzustellen,
besonders dadurch, dass er sich au den adoptianischen und
ikonoklastischen Kirchenstreitigkeiten betheiligte. G f r öre r
hat überdiess angenommen, dass Karl schon mit Papst Hadrian
(also etwa zwischen 785 und 795) über das Kaiserthum ver-
handelt habe. Das wäre wohl möglich, und Angilbert könnte
i. J. 794 neben dem auf den griechischen Kaiser bezüglichen
Auftrage auch den gehabt haben, den Papst für Karl's Kaiser-
thum zu bearbeiten. Gewöhnlich nimmt man indess an :
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 343
Damals erst, als Leo III, flüchtig und verfolgt, an KarVs
Hoflager nach Paderborn gekommen (April 799) sei der Plan
insgeheim zwischen beiden verabredet worden. Auch Leo ^®)
meint: Bei den Berathungen, welche Karl im Sommer d. J.
800 mit Alkuin zu Tours gepflogen, sei offenbar die Erneu-
erung der kaiserlichen Würde weiter besprochen, und von da
an, wie es scheine, zur Bedingung des Kommens und des
Schutzes Karl's gemacht worden, wenn man ihr auch die Form
gelassen, als habe sie durch eine plötzliche Begeisterung, durch
eine Art prophetischen Auftretens des Papstes statt."
So ist unter den Neueren Waitz 2®) fast der einzige,
der dem Kaiser einfache historische Gerechtigkeit widerfahren
lässt: „Man hat schwerlich, sagt er, ein Eecht, die Aussage
Einhard's in Zweifel zu ziehen. Aber nach dem was vorliegt,
kann es freilich nur so gemeint sein, dass der König an dem
Tage überrascht ward^ vielleicht dem Gedanken, der seine
Umgebung beschäftigte, noöh nicht seine Zustimmung gegeben
hatte." Ich theile diese Ansicht, möchte jedoch das „vielleicht"
beseitigen, und entschieden sagen : Karl wusste nicht, was man
beabsichtigte, und hatte noch keine Zustimmung dazu gegeben.
Es ist, scheint mii-, sehr wohl denkbar, däss Karl's Ge-
danken und Pläne schon seit Jahren auf die Erlangung der
Kaiserwürde gerichtet waren, und dass er gleichwohl am Weih-
nachtsfeste 800 überrascht wurde, dass er in dem Schritte des
Papstes und der tumultuarischen Willensäusserung des Volkes
eine üebereilung sah, und aufrichtig sagen konnte: er würde,
wenn er das gewusst hätte, an dem Tage nicht in die Kirche
gekommen sein. Er stand, wie ich mindestens sehr wahrschein-
lich gemacht zu haben glaube, in Unterhandlungen mit Irene,
ihm war Alles daran gelegen, dass seine Kaiserwürde von
vorneherein in Constantinopel anerkannt werde, dass man ihn
als legitimen Nachfolger Constantin's VI gelten lasse. Das
Ereigniss am Weihnachtsfeste griff nun störend in die Unter-
handlungen ein. In Constantinopel musste man glauben, Karl
344 Jährh, der histor. Glosse der k. Äkad. der Wissenschaften.
habe hinterlistig den Kaiserhof in die Lage versetzen wollen,
zu einer vollendeten Thatsache seine nachträgliche Zustinuuung
geben zu müssen.
Was liegt denn aber vor, das uns nöthigte, das Ereig-
niss als eine längst verabredete Sache zu fassen? Es geht,
sagt Leo, aus einem Briefe Alkuins unwidersprechlich hervor,
dass Alkuin vorher von dieser Erneuerung des Kaiserthums
wusste. Diess wird, seitdem Lorentz die Entdeckung gemacht
hat, allgemein angenommen, und daraus schliesst man dann,
dass also auch Karl längst darum gewusst, und seine Nicht-
kenntniss und üeberraschung nur geheuchelt habe. Alkuin
habe nämlich Karl'n eine prächtige Bibel geschenkt ad spien-
dorem imperialis potentiae, wie er in seinem Begleitungs-
Schreiben sage, und habe verfügt, dass diese Bibel zu Weih-
nachten übergeben werden solle; also habe er in Tours ge-
wusst, dass an diesem Tage die Kaiserkrönung in Born statt-
finden solle. Vor dieser Beweisführung beugt sich auch
Waitz. **) Sie scheitert aber schon an der Thatsache, dass
Alkuin ausdrücklich sagt: sein Freund Fridegis (er nannte
ihn Nathanael), der das Weihnachtsgeschenk übergeben solle,
befinde sich jetzt in Aachen. *^) Dort also und picht in Bom,
und nicht zu Weihnachten des Jahres 800, sondern in einem
Mheren oder späteren Jahre, immer aber vor 804, sollte Karl
die Bibel empfangen. Der Brief an Karl trägt die Aufschrift :
An den König, während die in Karl's Kaiserzeit fallenden
Briefe Alkuins inoimer überschrieben sind : An Karl den Kaiser.
Man darf also wohl annehmen, dass imperialis potentia hier
nicht „kaiserliche Gewalt", sondern eben „Reichsgewalt',
heisse. ^^) In Wirklichkeit ist es vielmehr auffallend, dass
Alkuin's Briefe keine Andeutung über den Kaiserthums-Plan
enthalten, insbesondere der Brief, mit welchem Alkuin auf
Karl's Mittheilung der römischen Ereignisse antwortete. Alkuin
beschränkt sich darin auf den Bath, der König möge vor
Allem den Besitz Rom's sich versichern.**)
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 345
Auf die Angabe des Papstbuches, dass Earl nach der
Krönung den römischen Kirchen prächtige Weihgeschenke ge-
macht habe, die also schon in Voraussicht des Ereignisses be-
reit gewesen seien, darf man, selbst nach Gregorovius ürtheiU
kein Gewicht legen. Diese Geschenke heiliger Gefasse und
andrer Gegenstände würde Kaii wohl auch ohne die Kaiser-
krönung gemacht haben, und überdiess ist nicht zu verkennen^,
dass der Biograph Leo's, dessen Schrift, wie bereits erwähnt,,
eine erst geraume Zeit später verfasste Arbeit ist, alles was
Karl bei seinen verschiedenen Besuchen in £om schenkte oder
von femeher übersandte, bei dieser Gelegenheit zusammenstellte ;
denn sonst sind, trotz der minutiösen Aufzählung und Be-
schreibung, weder in der Biographie Hadrians noch in der
Leo's Weihgeschenke des Monarchen erwähnt. Und doch ist
sicher anzunehmen, dass Karl auch früher schon den römischen
Kirchen bedeutende Geschenke gemacht hatte, und wird be-
richtet, dass er durch Angilbert i. J. 796 einen ansehnlichen
Theil des in der Avarischen Königsburg erbeuteten Schatzes
als Geschenk nach Eom gesandt habe, wovon der päpstliche
Biograph kein Wort sagt.
Ganz werthlos ist die Angabe des Johannes Diaconus,
dass Papst Leo, als er vor seinen Feinden geflohen, dem Kö-
nige als Preis des ihm zu gewährenden Schutzes die Kaiser-
krone versprochen habe, was also in Paderborn geschehen sein
müsste. Wie wenig dieser Mann, der ein Jahrhundert später
in Neapel lebte, (er war um d. J. 870 geboren) von
den Begebenheiten unter Karl unterrichtet war, zeigt schon
seine weitere Angabe: Karl sei auf der Stelle **) mit
einem grossen Kriegsheere nach Italien gezogen, habe Rom
erobert, und den Papst wieder eingesetzt. Wie man auf einen
die bekanntesten Thatsachen so entstellenden Zeugen so viel
bauen, ihn sogar allen gleichzeitigen Geschichtsschreibern vor-
ziehen konnte, ist schwer zu begreifen. Doch ist diess von
einigen Neueren geschehen.
346 Jahrb. der histor. Classe der l\ Akad. der Wissenschaften.
Gewiss ist bei dem Ereignisse am Weihnachtsfeste nicht
Alles Ueberraschung oder plötzliche Eingebung gewesen, und
sind nicht Alle, namentlich nicht die fränkischen Grossen, über-
rascht worden. Die Frage des Kaiserthums war vielmehr von
dem Papste und diesen Grossen lange und reiflich erwogen
und durchgesprochen worden. Diess ergibt sich schon aus der
Zeitfolge der Begebenheiten.
Am 29. November 799 war Papst Leo, aus Deutschland
Tückkehrend, und von den königlichen Sendboten, sieben Bi-
schöfen und drei Grafen, geleitet, an der Mil vischen Brücke
von den Kömem empfangen worden. Diese zehn Sendboten,
zu den vornehmsten und einflussreichsten Männern des Kelches
zählend, blieben über ein Jahr in Eom. Da muss es denn
gleich auffallen, dass so viele, in ihrer Heimath und am Hofe
Karl's gewiss nicht leicht zu entbehrende, Männer so lange
Zeit in Eom weilten. Von Geschäften, welche dort durch sie
zu besorgen gewesen, wird nichts erwähnt: gab es solche, so
hätte wohl einer der zehn dazu hingereicht. Die Untersuchung
der gegen den Papst erhobenen Anklage und des an ihm be-
gangenen Frevels ward erst nach des Königs Ankunft vor-
genommen. Es waren die Erzbischöfe Hildebald von Cöln
und Arno von Salzburg, die Bischöfe Bernard von Worms,
Jesse von Amiens, Cunipert, Otto und der erwählte Bischof
Flaicus — dann die Grafen Helingaud, Eothakar und Germar,
von denen der erste und der letzte auch sonst zu wichtigen
Gesandschaften gebraucht wurden. Hildebald war Karl's ver-
trauter Eath, sein Minister in geistlichen Angelegenheiten ; er
hatte sich von Papst Hadrian eine besondre Erlaubniss erthei-
len lassen, ihn stets bei sich zu behalten. *^) Dass Arno,
Alkuins Freund, seinen Einfluss auf den Papst nicht unbenutzt
liess, zeigt ein päpstliches Schreiben dieses Jahres (11. April 800)
worin Bischöfe, Klerus und Volk der Bajuvarischen Provinz
angewiesen werden, ihrem Erzbischof Arno zu gehorchen.
Ein ganzes Jahr später, (24. November 800), erscheint
DölUnger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 347
Karl, und wird an den Stufen der Peterskirche vom Papste
empfangen. Mit ihm kommt nebst andern einer der wichtig-
sten Männer des Reiches, Angilbert, sein Schwiegersohn, Ge-
heimrath und Vorstand der königlichen Kanzlei, zugleich Her-
zog der fränkischen Meeresküste. Wenn irgend einer, war er
der Mann des königlichen Vertrauens. Zweimal erst, 794 und
796, hatte Karl ihn wegen wichtiger Unterhandlungen mit
Hadrian und Leo nach Rom gesandt. Die Blüthe der frän-
kischen Prälaten und Staatsmänner war also jetzt in Rom
beisammen. Wiederum verfiiessen sieben Tage, erst am ersten
December thut Karl einer von ihm berufenen Versammlung
in der Peterskirche die Ursache seines Kommens kund: es
bandle sich nämlich darum, die Sache des angeklagten Papstes
zu entscheiden. Darüber gehen neuerdings zwei und zwanzig
Tage hin, bis endlich am 23. December Leo den Reinigungseid
vor der Synode schwört. Am nächsten Tage ist dann die
Krönung erfolgt.
Das Volk und Reich der Franken war also durch eine
ansehnliche Versammlung seiner hervorragendsten Männer in
Rom damals vei-treten, und unzweifelhaft haben in der langen
Frist von fast dreizehn Monaten zwischen ihnen, dem Papste,
der Römischen geistlichen und weltlichen Aristokratie häufige
und ernste Berathungen stattgefunden — Berathungen, deren
Inhalt und Absicht sicher auch dem Könige nicht unbekannt
war. Dass der Entschluss, Karl als römischen Kaiser auszurufen,
in einer IKrmlichen öfifentlichen Berathung zwischen Franken und
Römern und zwar nicht Wos der Bischöfe und Vornehmen, son-
dern auch des wenigstens gegenwärtigen Volkes, gefasst wor-
den sei, berichten die Lorscher Annalen und die Chronik von
Moissac. *^) In Einhard's Annalen und in der Biographie
Leo's wird es verschwiegen, ich glaube, mit Absicht, um das
Ereigniss mehr als eine That unmittelbarer göttlicher Inspfra-
tion erscheinen zu lassen. Aber es ist doch klar, dass, mit
Ausnahme Karl's und vielleicht eines oder des andern seiner
348 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
Veitrauten, Alle einig und vorbereitet waren, dass man sich
also voraus verständigt hatte. An der blossen Gebehrde des
Papstes, der dem Könige plötzlich eine Krone aufsetzte, hätte
das Volk nicht erkennen können, dass es sich hier um die
Kaiserwürde handle, die seit vier Jahrhunderten nicht mehr
in Bom gegeben und empfangen worden war, und bei der
auch früher keine Krönung stattfand. An sich also hätte das
Volk die Handlung fär eine einfache Feierlichkeit ohne weitere
Bedeutung halten müssen; denn damals pflegte man die Krö-
nung gelegentlich zu wiederholen, und die Elrone selbst sah
wie eine gewöhnliche Königskrone aus, da man von einer be-
sonders geformten Kaiserkrone nichts wusste.
Unverkennbar war also eine Berathung, eine Verstän-
digung des fränkischen und des römischen höheren Klerus, so
wie der weltlichen Grossen beider Nationalitäten vorausgegan-
gen. Der Papst sowohl als die Bömer versprachen sich davon
dem Kaiserthume Vortheil und Zuwachs an Ansehen. Dem
Papste, der für sich den Adelsfaktionen nicht gewachsen war^
der ohne den starken Arm Karl's nicht einmal auf persönliche
Sicherheit rechnen konnte, musste ein Kaiser mit seiner Macht-
vollkommenheit willkommener sein, als ein Patricius mit seiner
zweifelhaften und unbestimmten Gewalt. Leo hatte ohnehin
vor vier Jahren bereits Karl als seinen Oberherm anerkannt,
das Unterthansverhältniss, in welches er zum neuen Kaiser
trat, und welchem er durch die Leistung der Adoration Aus-
druck gab, konnte denmach nicht besonders drückend für ihn
erscheinen, und ward durch den anderweitigen Gewinn um so
sicherer aufgewogen, als er wohl mit Gewissheit annehmen
durfte, der neue Kaiser und dessen Nachfolger würden ihren
bleibenden Sitz nicht in ßom nehmen Das bedenklichste für
den Papst musste die Aussicht auf den Unwillen der Griechen
und dessen mögliche Folgen in kirchlicher Beziehui^ sein;
wie wenig man sich aber damals in Bom durch derartige Be-
sorgnisse bestimmen liess , diess zeigt das Anerbieten , das
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 349
Hadrian dem Könige gemacht hatte. Für jetzt hatte man es
nur mit einem Weibe zu thun, und das Auskunftsmittel einer
Yermählung EarFs und Irene's hatte sich dem Geiste Leo^s
wohl schon dargeboten. Das Kaiserthum musste dem Papste
noch einen anderen Gewinn zu bieten scheinen. Karl überkam
dadurch eine neue, höhere Verpflichtung, sich der Beschirmung
der Kirche, und natürlich vor Allem des päpstlichen Stuhles
zu widmen. Dieser Gesichtspunkt war derjenige, den Leo
selbst voranstellte. ^Wir haben ihn, sagt er in einer am
Krönungstage ausgestellten Urkunde, zur Yertheidigung und
Erhöhung der allgemeinen Kirche heute zum Augustus ge-
weiht.^^ ^^) Auch Karl selbst fasste das Kaiserthum so auf.
Zudem mochte der Papst erwarten, dass der neue Kaiser, der
sich bisher als König der Longobarden so wenig willföhrig
erwiesen hatte, alle kirchenstaatlichen Forderungen zu bewil-
ligen, jetzt da doch das ganze päpstliche Gebiet, wie umfang-
reich es auch werden mochte, seiner kaiserlichen Oberhoheit
unterstellt bleiben würde, nachgiebiger sich verhalten werde.
Der Masse des römischen Volkes gieng der Jubelruf, mit
dem sie ihren Kaiser begrüsste, sicher von Herzen. Vor hun-
dert vierzig Jahren hatte man zum letztenmale in Bom einen
Kaiser gesehen; aber an jene flüchtige Erscheinung, so wie an
das Andenken seiner Nachfolger knüpften sich nur trübe Erin-
nenmgen. Altrom war schon lange von der übermüthigen
und selbstsüchtigen Tochterstadt am Bosporus nur gedemüthigt,
mishandelt, zu der unwürdigen EoUe einer entfernten Provin-
zialstadt herabgedrückt worden. Ehemals, so lange alle Sicher-
heit und Hoffnung auf dem Heere ruhte, und dieses noch glän-
zende Siege erfocht, hatte man sich in Bom die Soldatenkaiser
wohl gefallen lassen. Aber nun war der Sieg von den byzan-
tinischen Fahnen gewichen, nun sass ein Weib auf dem Throne
Constantin's. Der Gedanke , dass jetzt der rechte Moment
gekonmien sei, das alte, nie aufgegebene, nur unterbrochene
Becht Boms wach zu rufen, musste sich Allen aufdringen.
350 Jahrb, der histor. Clasae der k. Akad. der Wissenschaften.
Und jetzt hatte die Vorsehung den Mann ihnen zngefShrt
der in reicher Fülle alles besass, was einem Kaiser ziemte.
Üs die lebendige Verkörperung der Kaiseridee^ als der zweite
Cäsar, der, allgegenwärtig und stets schlagfertig, kam, sah
und siegte, stand Karl vor ihnen. Wählten sie ihn, so ward
ihre Stadt wieder die erste Metropole eines grossen Beiches^
so verpflichteten sie den Grewählten zum Danke ; sie aber zeig-
ten, indem sie wieder einmal ihr Wahlrecht ausübten, der
Welt, dass dieses kostbare Becht noch nicht verjährt sei, dass
es auch künftig noch geübt werden könne. Jene Adels&ktion
aber, welcher vor Allem daran gelegen war, dass kein starkes
Kaiserthum hergestellt werde, und die Gewalt in den schwa-
chen Händen eines Priesters bleibe, war eben gebrochen und
eingeschüchtert. Endlich ward Karl schon seit Jahren als
Boms Oberherr betrachtet. Bom gehört zum Besitze des
Königs, es ist der Kopf an dem Leibe seines Beiches, das
spricht Alkuin schon im J. 799 entschieden aus.
Die fränkischen Grossen endlich erwogen und thaten, was
in ihrer Lage, von ihrem Gesichtskreis aus wohl jeder erwogen
und gethan hätte. Franken wie Bömer fühlten damals als
Christen sich dem gemeinsamen moslemischen Feinde gegenr
über beschimpft und erniedrigt. Die muhanunedanische Welt
hat ihren Kalifen, ihren Fürsten der Gläubigen; wir, die
Christen, haben kein weltliches Ob^haupt, keinen Schirmherm
der Kirche mehr. Das christliche Ostreich ist im Sinken be-
griffen, hat seit hundertfönfzig Jahren nur Verluste erlitten,
muss dem Feinde der Christenheit schmählichen Tribut ent-
richten. Im Westen dagegen ist durch die Macht der Fran-
ken, durch das Schwert und die Weisheit KarFs die christ-
liche Sache stark, siegreich, vorschreitend. Und nun steht
auch Bom, die Mutter des Beiches, der alte ächte Kaisersitz^
unter fränkischer Botmässigkeit. Zugleich umfasst dieses neue
Frankenreich die Mehrzahl der Länder, welche ehemals zum
Bömerreiche im Westen gehörten. Es ist hohe Zeit, dass das
DölUnger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 351
Kaiserthum übergehe auf die Franken, denn nur sie unter den
christKchen Nationen zeigen sich der hohen Aufgabe gewach-
sen, und nur Karl, der Besieger und Bekehrer der heidnischen
Völker, der Erweiterer des christlichen Gebietes, ist berufen,
der Träger des Kaiserthums zu sein, würdig, zu der Kaiser-
macht, die er schon besitzt, auch noch die Namen und die
Zeichen der Würde zu empfangen.
Diess waren nach dem Berichte des Lorscher Annalisten
und der Beschaffenheit der Weltlage die Betrachtungen, welchen
man damals in ßom Worte lieh. Die Ohnmacht des christ-
lichen Ostreiches sollte wenige Jahre nachher in schlagender
Weise sich offenbaren, als der Kalife Harun Alraschid in Ei-
nem Feldzuge ganz Kleinasien durchzog, und bis Ueraklea in
Bithynien vordrang, ohne auf ernsten Widerstand zu stossen,
vielmehr den Kaiser Nikephorus nöthigte, ihm jährlichen Tribut
zu entrichten. ^^) Wäre nicht bald nach seinem Tode das
Kalifat durch den AbfaU der Statthalter zerrissen worden,
Constantinopel wäre wohl schon im neunten Jahrhundert mu-
hammedanisch geworden.
Gewiss muss man, mehr als es bisher geschehen, die
Macht, mit welcher die längst überlieferte religiöse Idee des
Kömerreiches damals die Vorstellungen und Entschlüsse der
Menschen, der (Jeistlichen vorzüglich beherrschte, in EecJ^nung
bringen. Was konnte damals diingender, verdienstlicher er-
scheinen, als das Unternehmen, dieses Beich, an welches die
Geschicke der Menschheit geknüpft waren, aus der Erniedri-
gung aufzurichten, vor der Entweihung zu bewahren, von
dem drohenden Untergange zu erretten? Das römische Eeich
ist das von Gott für die Aufnahme und Bewahrung der Kirche
bestimmte Geföss ; Gott hat ihm . solche Grösse und Macht
verliehen, damit die zur Einheit der Kirche zu berufenden
Völker auch von einem weiten staatlichen Bande umschlungen
seien, damit die gesanunte Christenheit unter dem Schatten
dieses weithin ragenden Baumes ruhen könne. Und dieses Beich
352 Jahrb. der histor. Classe der h. Akad. der Wissenscliaften.
wird fortbestehen bis zum Ende des Zeitenlaufes als das vierte
und letzte der grossen Weltreiche, welche Daniel dem Nebu-
kadnezar gedeutet hat. So lautete die den Zeitgenossen KarFs
überlieferte Anschauung. Was war natürlicher, als dass ein
jugendlich kräftiges, siegreiches, von dem Bewusstsein seiner
hohen Bestinmiung durchdrungenes Volk, wie das Fränkische,
sich selbst als Träger des der ganzen Christenheit unentbehr-
lichen Kaisertbums an die Stelle der gealterten und schwach
gewordenen Byzantiner zu bringen strebte. Kömer, Pranken,
der Papst einigten sich in dem Gefühle, dass die Stärke und
Thatkraft der Christenheit nun nicht mehr im Osten, sondern
im Westen liege, und dass sie der heidnischen wie der mos-
lemischen Welt gegenüber eines mächtigen Oberhauptes und
krieggewandten Vorkämpfers dringend bedürfe. Dieser konnte
nur Karl sein, dessen Herrschaft jetzt anerkannt war von
Barcelona bis zum Ufer der Eaab, von der Eider bis Benevent.
Der Gedanke der Eömer und der Pranken war also nicht
der, dass man mit Earl's Erhebung die bisherige Einheit des
Kaiserthums aufheben, dass man zwei Kaiserthümer an die
Stelle eines einzigen setzen wolle. Nicht ein neues abend-
ländisches Kaiserthum neben dem östlichen sollte errichtet,
Karl sollte nicht Nachfolger des Romulus Augustus, sondern
Constantin's VI werden, dessen Thron seit seinem Tode erle-
digt war, da ein Weib nicht Kaiser sein konnte. Griechisch
würde man die Anschauung so ausgedrückt haben : Irene's
Herrschaft sei nur eine Tyrannis, keine Basileia. Denn sicher
hielt man damals noch an der Einheit des römischen Imperium
fest. Wenn zwei römische Kaiserthümer neben einander mit
gleicher Berechtigung bestanden, so war eigentlich keines das
rechte alte Eömerreich, keiner der beiden Kaiser war der ächte
Ifachfolger des grossen Constantin. In Rom meinte man:
Bisher haben bald Söldnerschaaren, bald Weiber, Eunuchen
und Höflinge über die Kaiserwürde verfugt, den Griechen und
uns einen Gebieter gegeben, jetzt ist es an uns, unser altes
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 353
nie verjährtes Recht wieder zur Hand zu nehmen. Hatten
doch schon i. J. 741 die römischen Adelshäupter ein förm-
liches Dekret an Karl Martell gesandt, dass das römische
Volk, sich lossagend von der Herrschaft des (ikonoklastischen)
Kaisers, der seinigen sich anvertrauen wolle. '®) Wäre Karl
Martell darauf eingegangen, hätte er sich in Italien festgesetzt,
so wäre sicher in kurzer Frist er schon als Kaiser ausgerufen
worden. Wollten ja damals die nicht-longobardischen Italiäner
überhaupt einen Kaiser wählen, und ihn dann mit Waffenge-
walt nach Constantinopel fahren. Auch jetzt wären wohl Viele
bereit gewesen, ihrem Kaiser, nachdem er in Altrom ausge-
rufen worden, auch nach Neurom zu folgen, und ihn dort auf
den Thron Constantin's setzen zu helfen; aber Karl wusste
wohl, dass er weder mit einem Heere durch Pannonien und
Bulgarien ziehen, noch mit einer Flotte, die er nicht in der hiezu
erforderlichen Stärke hatte , in den Bosporus einlaufen konnte.
Niemand also dachte zuerst an ein eigenes abendländi-
sches Kaiserthum; dass vor vierhundert Jahren zeitweilig ein
solches existirt hatte, dass es mitunter zwei Kaiser gegeben,
das war schon längst aus der Erinnerung der späteren Gene-
rationen entschwunden, die gewöhnliche Vorstellung war auch
damals schon die, dass Constantin den Sitz des Einen und un-
theilbaren Imperiums von Altrom nach Neurom verlegt habe,
und dass seitdem die Kaiser ihren Sitz ununterbrochen in
Byzanz gehabt hätten. Gerade durch den Gegensatz so vieler
auf dem ehemaligen Reichsboden entstandenen Königreiche hatte
sich die Vorstellung von der nothwendigen Einheit desKaiser-
thums erstrecht befestigt. Nicht nur bei allen christlichen Völ-
kern herrschte diese Vorstellung; auch zu den Barbaren und Mu-
hammedanem war doch ein blasser Schein davon gedrungen;
und diesseits und jenseits dachte man sich mit mehr oder we-
niger Bestimmtheit unter dem Kaiser ein weltliches Oberhaupt
der gesanmiten Christenheit, welches als Träger der höchsten
^Gewalt über allen Königen und Herzogen stehe. Darum war
23
354 Jahrb. der histor. Classe der k. Äkad. der Wissenschaften.
auch der Zuwachs an Autorität, an moralischem Ansehen, den
Karl mit dem Kaiserthum gewann, unermesslich. Zwar meinten
seine Freunde und begeisterten Verehrer schon vor der Kai-
serkrönung, Karl habe bereits die höchste Stufe menschlicher
Ehre erklommen, denn wenn es drei höchste Würden in der
Welt gebe, die päpstliche, die kaiserliche und die königKche,
so sei doch Karl an Macht, an Weisheit und an monarchi-
scher Würde vorzüglicher und erhabener als der Papst und
als der Kaiser.*^) Aber das war doch nur ein dem Glück
und den glänzenden persönlichen Eigenschaften Karl's gezoll-
ter Tribut; nur die Kaiserwürde selbst konnte in den Augen
der Völker ihm den Nimbus der Gewaltfülle und Oberhoheit
verleihen, und ihm persönlich die Zuversicht, das Gefühl ver-
leihen, dass er eine Sendung habe und berufen sei , als Schirm-
vogt der gesammten christlichen Welt zu handeln.
Fragen wir nun: welches Bedenken war es denn, welches
Karl nach seiner Erklärung abgehalten haben würde, in die
Kirche zu kommen, falls er des Papstes Absicht vorher gewusst
hätte, so gibt Einhard die Antwort darauf; denn er fügt un-
mittelbar bei: Karl habe den Unwillen der Eömischen (Byzan-
tinischen) Kaiser, die über seine Annahme des Kaisertitels
sich erbittert gezeigt, mit grosser Geduld getragen, und durch
seine Hochherzigkeit habe er ihren Starrsinn überwunden, in-
dem er häufige Gesandtschaften an sie geschickt, und in sei-
nen Briefen sie Brüder genannt habe. Diesen Unwillen des
oströmischen Kaiserhofs hatte Karl vorausgesehen; und mehr
noch: er schien ihm selber nicht unberechtigt. Karl war eben
auch in dem Bewusstsein erzogen worden, welches Alkuin, wie
eben erwähnt worden, aussprach : dass die Würde eines Fran-
kenkönigs erst die dritte in der christlichen Welt, und dass
das Kaiserthum, welches ihr vorgehe, nun einmal seit Jahr-
hunderten rechtmässig an das zweite Eom geknüpft sei. ^*)
Hatte doch noch keiner der Germanischen Eroberer seine Hand
nach der Kaiserkrone auszustrecken gewagt. Selber Monarchyi
DölUnger: Das Kaiserthum Ka/rVs des Grossen, 355
fühlte er das Bedenkliche, Aiimassliche des Schrittes lebhafter
als seine Bischöfe und Grafen, und mag daher auf frühere
Eröffnungen, Wünsche und Anerbieten, theils der Seinigen,
theils des Papstes, zögernd und vorläufig ablehnend geant-
wortet, oder auf die im Gange befindlichen Unterhandlungen
mit Byzanz, deren Ausgang man abwarten müsse, verwiesen
haben. Aber die Ungeduld der Franken und der Kömer, die
sich eben jetzt wohl verständigt hatten, führte die Entschei-
dung herbei, und man darf annehmen, Karl habe auMchtig
geglaubt, sich der vollzogenen Thatsache als einer Manifesta-
tion des göttlichen Willens unterwerfen zu sollen. Er und der
Papst ersannen nun ein Mittel, die Sache zu einem friedlichen
Ausgang zu leiten, und die byzantinische Anerkennung, an
der ihm Alles gelegen war, zu erlangen. Karl war erst kürz-
lich Wittwer geworden, und seine Vermählung mit Irene schien
die einfachste Lösung der Schwierigkeit. Gesandte des Pap-
stes und die seinigen gingen zusammen nach Constantinopel^
um die Hand Irenen's zu werben, damit, wie Theophanes sagt,
der Occident mit dem Orient vereinigt werde •'') Damit
wollte Karl nur jene Legitimation der Kaiserwürde erlangen^
welche seinem Gefühle nach ihm mangelte. Er konnte weder
die Absicht haben, in Constantiuopel seinen bleibenden Sitz
aufzuschlagen, um von dort aus den vereinigten Osten und
Westen zu regieren, noch konnte er sich einbilden, dass er
das östliche Keich vom Westen aus zu beherrschen im Stande
sein werde. Aber er wäre nach Constantinopel gegangen , hätte
die Vermählung vollzogen, hätte von dem Patriarchen sich
krönen lassen,und hätte wohl vor Allem versucht, dem Kampfe
gogen den gemeinschaftlichen muhanmaedanischen Feind —
damals zahlte man in Byzanz dem Kalifen schimpflichen Tri-^
but — neue Energie zu verleihen. Mit byzantinischer Unter-
stützung hätte er eine Flotte zu schaffen vermocht, deren Man-
gel im Mittelmeere er sicher längst schon schmerzlich em-
pfand.
23*
356 Jahrb. der histor. Glosse der k. Akad, der Wissenschaften.
Irene würde eingewilligt haben, wenn nicht Aetius, der
seinem Bruder den Thron verschaffen wollte, sie daran gehin-
dert hätte, und bald darauf, während Karl's und des Papstes
Gesandte noch in der Hauptstadt waren , wurde sie durch eine
Verschwörung von sieben in einflussreicher Stellung befindlichen
Eunuchen gestürzt, um dem Schatzmeister Nikephorus Saum
zu geben.
Der neue Kaiser des Ostens war nicht gesonnen, Karl's
Kaiserwürde anzuerkennen, während dieser sich mit einer ge-
wissen Aengstlichkeit um diese Anerkennung bemühte, und, um
sie zu erlangen, eine fast demüthig zu nennende Haltung und
Sprache annahm.
So wechselten dreizehn Jahre hindurch Kriege und Ge-
sandtschaften, und Karl erlebte den ersehnten Ausgang nicht.
Nikephorus und sein Nachfolger meinten, wie Einhard sagt,
der Frankenfürst wolle ihnen das Kaiserthum entreissen, also
einziger Kaiser sein. Karl aber begehrte nur als gleichbe-
rechtigter Kaiser neben dem Griechischen anerkannt zu wer-
den. Er kleidete diesen Gedanken in das Anerbieten , ihm den
Bruder-Titel zu gewähren, natürlich mit der Bedingung, ihn
auch von ihm zu anpfangen. Seine Vorstellung scheint ge-
wesen zu sein: Ein einziges Komisches Beich mit zwei Kai-
sern, wie es bereits zwei Kaiserstädte, Altrom und Neurom,
gab. Zwei Kömische Keiche konnte man sich eben nicht den-
ken; das verbot die Geschichte und die religiöse Bedeutung,
die man dem Imperium längst beilegte. In Constantinopel
aber fühlte man, dass in der Anerkennung des neuen Kaisers
eine Art von Selbstentsetzung liege, dass der Stern des ost-
römischen Imperiums vor dem Glänze der im Westen neu auf-
gegangenen Kaisersonne erbleichen müsste. Während das öst-
liche Kaiserthum nur noch einige Provinzen des alten Kömer-
reichs umfasste, seit zweihundert Jahren ungeheure Verluste
erlitten, keine einzige Erwerbung gemacht hatte, und noch
fortwährend an Boden verlor, besass Karl den grössten Theil
DöUinger: Das Kaiserthum KarVa des Grossen. 35 7
des Bömischen Westens, auch Spanien bis zum Ebro, die alten
Eaiserstädte Trier, Arles, Mailand, Bavenna, Born, und weit
tber die altrömischen Gränzen hinaus gewaltige Ländergebiete.
Das Gefühl der Griechen hat der, wenn auch viel spätere,
Oonstantin Manasses ausgesprochen: „So ward das alte
Band, das die beiden Städte verknüpfte, zerrissen, wurde die
Mutter von der Tochter geschieden, das jugendliche und schöne
Neurom von dem runzlichen, greisenhaften Ältrom. **)
So entstand denn ein Gewirre von sich durchkreuzenden
Bestrebungen. Zu Byzanz wollte man gern den übermächtigen
westlichen Nachbar zum Freunde, wo möglich zum Bundes-
genossen haben, wollte von den italiänischen und dalmatinischen
Besitzungen, was noch zu retten war, erhalten; man wollte nicht
in die Lage kommen, möglicher Weise gegen drei Feinde zu-
gleich Krieg fuhren zu .müssen, gegen den Kalifen, die Bul-
garen und auch noch die Franken; aber man fand den von
Karl geforderten Preis: Anerkennung seines Kaiserthums, zu
hoch, zu gefährlich. So wechselten denn mehrere Jahre hin-
durch diplomatische Unterhandlungen und olBfener Krieg an der
dalmatinischen und venetianischen Küste. Karl, sagt Einhard,
trug den Unwillen der Griechischen Kaiser mit grosser Ge-
duld und überwand ihre Hartnäckigkeit durch Grossmuth. Sie
ward jedenfalls erst spät und nicht vollständig oder doch nicht
dauerhaft überwunden. Im Jahre 803 brachten die Griechi-
schen Gesandten einen Friedensvertrag, sie wandten sich vom
Hoflager des Kaisers nach Eom und kehrten dann nach Con-
stantinopel zurück, aber es kam nicht zum wirklichen Frie-
den, Nikephorus gab nicht einmal eine Antwort, und sandte
im Jahr 806 seine Flotte zum Angriff auf Dalmatien. Im
Jahre 809 kam es in jenen Gewässern wieder zum Kampfe,
die Griechen griffen Comacchio vergeblich an, und die Vene-
zianer gaben sich alle Mühe die Kriegsflanune zu nähren, da
ein Friede sie sicher der Botmässigkeit entweder Karls oder
der Griechen unterworfen haben würde. **)
358 Jahrb. der histor. Glosse der k, Äkad, der Wissenschaften,
Es scheint, dass die Griechen, um jede Anerkennung des
Kaisertitels zu vermeiden, lieber mit Pipin, dem Sohne Karrs,
als mit diesem selbst verhandeln wollten, denn Nikephorus
sandte seine Botschafter blos an Pipin, und Karl war, wie er.
selbst sagt, so begierig, einen griechischen Gesandten bei sich
zu sehen, dass er sich nicht enthalten konnte, ihn zu sich
führen zu lassen. Der Kaiser versichert in seinem, in einem
auflFallend demüthigen Tone abgefassten Schreiben von 810:
er habe schon seit 803 sehnsüchtig auf eine Gesandtschaft des
Nikephorus gewartet, um doch endlich einmal aus der Unger
wissheit heraus und zur Gewissheit zu gelangen; er würde
schon der Verzweiflung sich hingegeben haben , wenn ihn nicht
das Vertrauen auf Gott aufrecht erhalten hätte. '^) Wieder
schickte Karl Gesandte nach Constantinopel, er trat sogar Ve-
netien formlich an die Griechen ab, und endlich im Jahre 812
erlebte er die langersehnte Genugthuung, dass die Gesandten
des neuen Kaisers Michael ihn in der Kirche zu Aachen mit
dem Titel: Kaiser (Basileus) anredeten; dafor empfingen sie
aus seinen Händen die Urkunde eines Bündnisses, die sie dann
zu Eom in der Peterskirche von dem Papste, zum Zeichen der
Bestätigung, sich noch einmal überreichen Hessen. Die Abtre-
tung Venetiens, die Aussicht auf Hilfe gegen die im Norden
des Eeiches übermächtig gewordenen Bulgaren , und die Furcht
vor dem Verluste der süditalischen Besitzungen scheint diese
geringfügige, die Griechen noch immer zu keinem bleibenden
Zugeständnisse verpflichtende Höflichkeit erwirkt zu haben.
Karl hatte aber noch immer keine vom Kaiser unterzeichnete
Urkunde, und um eine solche zu erlangen, ward eine neue
Gesandtschaft nach Constantinopel geschickt: Das Schreiben
Karl's, das diese Gesandten, Amalarius und der Abt Petrus
mitnahmen, enthielt zum erstenmale die Phrase von „dem öst-
lichen und dem westlichen Imperium" '^), und die Versiche-
rung, dass Karl den Frieden zwischen beiden Beichen sehnlich
wünsche. Also zwei Eeiche, die bald im Frieden, bald im
DöUinger: Das Kaiserthum Ka/rVs des Grossen. 359
Kriege mit einander stehen. Welches war denn nun das ächte,
rechtmässige Kömerreich? So fragte man sicher in Constan-
tinopel, und was hätten die fränkischen Gesandten erwiedem
können? Aber Karl erlebte ihre Rückkehr nicht.
Die Nachricht des Theophanes, dass Karl nach seiner
Krönung zuerst einen Eroberungszug nach Sicilien zu unter-
nehmen beabsichtigt habe, findet ihre Bestätigung in den un-
mittelbar vorausgegangenen Ereignissen. Die wachsende Schwäche
und Hinfälligkeit des Griechischen Eeiches und die steigende
Macht der Saracenen auf dem Mittelmeere musste den Sicilia-
nern klär machen, dass sie, wenn ihre schöne und fruchtbare
Insel nicht zur Beute der Moslem's werden sollte — was dann
seit dem Jahre 828 wirklich geschah — sich derjenigen Macht,
welche allein sie zu schirmen vermochte, der fränkischen, in
die Arme werfen müssten. Uebergaben sich doch auch im
Jahre 799 die Balearischen Inseln dem Frankenkönige, um
gegen die wiederkehrenden Angriffe und Plünderungen der
africanischen Saracenen Schutz zu gewinnen. **) So findet sich
denn, dass in den Jahren 795 und 797 Gesandte der Grie-
chischen Statthalter auf Sicilien, des Michael und seines Nach-
folgers Niketas, am Hoflager Karl's erschienen. Ihre Gesand-
ten kamen nicht mit Aufträgen des Byzantinischen Kaisers,
denn dieser hatte fast gleichzeitig eine eigene Gesandtschaft
geschickt; und es wird bemerkt, dass Karl den Sicilischen Ab-
geordneten Daniel in Aachen mit besonderen Ehren (im Jahre
799) entlassen habe. Bald nachher, i. J. 801, flüchtete sich
ein andrer Sicilianer, der Spatharius Leo, an Karl's Hof, und
blieb zehn Jahre im fränkischen Reich, erst i. J. 811 kehrte
er nach Sicilien zurück. Er war wohl so viele Jahre lang in
der Nähe Karl's in der Hofl&iung geblieben, dass es doch noch
zu der Sicilischen Expedition des Kaisers konmien werde. ^^)
Karl gab aber jetzt den Plan auf, da er den Frieden mit By-
zanz und die Anerkennung seines Kaiserthums selbst mit Opfern
zu erkaufen entschlossen war.
i
360 Jährb, der histar, CUuse der k, Akad. der Wissenschaften,
Rom war also jetzt die Metropole von EarFs Imperium^
der eigentliche Sitz des Eaiserthums. Weil Karl Born bereits
besass, sagen die fränkischen Annalen, darum erschien es recht
und nothwendig, dass er auch die Kaiser würde trage. **) Auch
in den Augen der Franken waren es die Einwohner Roms,
welche die Entscheidung gegeben, so gross und wesentlich auch
der Antheil der fränkischen Bischöfe und Grafen an der Er-
richtung des Eaiserthums gewesen war. In den kürzeren An-
nalen der Zeit, den Salzburger, Weissenburger, Cölner und
andern, wird daher das Ereigniss einfach als die That der
Römer bezeichnet, als der Wahlakt des Römischen Volkes, wie
Anskar sagt.**) Es war die Würde, mit welcher der Römi-
sche Senat Earl erhöhte, die (am Weihnachtstage) verkündet
wurde, so drückt sich noch um d. J. 950 Flodoard aus.**)
Und auch das Papstbuch hebt es hervor, dass es die Gesanmit-
heit des Volkes gewesen sei, welche ihn zum Eaiser der Römer
eingesetzt habe. *')
Was der Papst hiebei that, das war die Ertheilung der religiö-
sen Weihe durch Erönung und Salbung,'mit demselben Ritus, mit
welchem er auch Earl's Sohn, Pipin, zugleich zum Eönige weihte,
denn eine eigene rituelle Form für die eben erst geschaffene Eaiser-
würde zu gestalten, daran hatte man natürlich noch nicht ge-
dacht, kannte auch kein Muster, da eine Eaiserkrönung noch nie
in Rom vorgekommen war. Aber diese Weihung kam nun zu der
Wahl, an der er natürlich selber als erster Römer wesentlich
Theil genommen, hinzu, war nun das religiöse Siegel, welches
man damals bei so wichtigen und eingreifenden Akten nicht
missen mochte. Es war die Römische Respublica, deren Re-
präsentanten die Bewohner Rom's, deren vornehmstes Glied
der Papst war, die sich nach Jahrhunderten wieder einmal
ein kaiserliches Haupt gegeben. Und dazu kam, dass die in
Rom befindlichen Scholä oder Corporationen ansässiger Frem-
den, der Franken, der Friesen, der Sachsen, der Longobarden,
die den Eaiser mit ihren Bannern und Wahrzeichen schon an
DöUinger: Dm Kaiserthum KarVs des Grossen, 361
der Mil vischen Brücke empfangen hatten**), an dem Wahl-
akte als die Vertreter dieser Völker Seh betheiligten.
War nun hiemit eine üebertragung des Römischen Kai-
serthums von den Griechen an die Franken geschehen? Diess
ist die später aufgestellte Theorie, die aber kein Zeitgenosse
ausgesprochen, keiner wohl auch gehegt hat. Körner und
Franken verknüpften sicher mit dem gemeinschaftlich vollzo-
genen Akte nicht gleiche Vorstellungen. Die Fränkischen
Grossen meinten allerdings, dass mit Karl's Erhebung das
„edle Volk der Franken" Träger des Kaiserthums geworden,
dass zwischen den Franken und dem Imperium eine unauflös-
liche Ehe geschlossen worden sei. Sie, die Franken, meinten
sie, seien in gewissem Sinne Bömer, das heisst Träger der
Eömischen Macht und Eechte geworden. *^) Aber es fiel ihnen
nicht ein, anzunehmen, dass das Imperium hiemit den Grie-
chen förmlich entzogen, dass diese von nun an davon ausge-
schlossen seien. Man hatte aber die Lücke, das Interregnum,
welches dem Bechte nach durch die blos thatsächliche und mit
der Idee des Imperiums unverträgliche Regierung eines Wei-
bes eingetreten war, benützt und ausgefüllt. Das Kaiserthum
war an Bom geknüpft, Bom aber war in der Gewalt der Fran-
ken, die Ausgleichung der beiderseitigen Ansprüche überliess
man dem Kaiser.
Wäre die Vermählung Karl's mit Irene zu Stande gekom-
men, SO' wäre für den Moment die Schwierigkeit gelöst, der
Conflict der Ansprüche beseitigt gewesen. Was nachher, nach
dem Tode KarFs und Irenen's, werden sollte, darum mochte
man sich wenig kümmern. Hatten die Griechen wieder einen
eigenen Kaiser, so war dieser sicher weder in den Augen der
Franken, noch in denen der Bömer ein blosser Usurpator oder
ein unberechtigter Prätendent, sondern das eine und untheil-
bare, aber der Verwaltung nach in zwei Beiche zerfallende
Bömische Imperium wurde dann von zwei Imperatoren, wie in
einer Art von Gütergemeinschaft besessen, und beide hätten
362 Jahrb. der histor. Classe der k. Akad. der Wissenschnften,
sich in brüderlicher Einigkeit als gleichberechtigte Mitgenosseii
der Imperatorswürde anzusehen und zu behandeln. Später frei*
lieh konnte man sich keinen Kechtstitel mehr denken, der den
Griechenkaiser befähige, sich Imperator der Eömer zu nennen^
Zwei römische Kaiser erschienen so unnatürlich, als zwei Son-
neu an Einem Firmamente. „Die griechischen Kaiser der
Römer haben zu existiren aufgehört," sagte Kaiser Ludwig 11.
Die Römer ihrerseits meinten das Kaiserthum nicht der
Nation der Franken, sondern nur der fränkischen Dynastie über-
tragen zu haben, meinten also nicht ihr Wahlrecht mit die-
sem einzigen Akte für immer wieder aus der Hand gegeben
zu haben, sondern behielten sich vor, es bei einem eintreten-
den Entscheidungs-Momente, wie es etwa das Erlöschen einer
Dynastie war, wieder geltend zu machen und auszuüben. Denn
nach Ursprung, Sprache, Nationalität gehört, so sagte man im
Westen, das Kaiserthum dem lateinischen Volksstamme, und
dem Könige, in dessen Reiche die lateinische Sprache Ge-
schäfts- und Kirchensprache ist, der Italien, Rom und den
lateinischen Stamm beherrscht.
Ich halte demnach die Ansicht von Waitz nicht für
richtig. „Weder die Krönung, sagt dieser Gelehrte, noch die
Begrüssung des Volkes in der Kirche haben dem neuen Kai-
ser ein eigejitlich formales Recht ertheilen können. Nach
einem solchen hat damals überhaupt Niemand gefragt. Das-
Recht Karl's lag in der Macht der Thatsachen, die zu dieser
Erhebung geführt hatten." Ich meine dagegen: dass man da-
mals viel und lange nach dem formellen Rechte gefragt habe.
Richtig ist zwar, dass die Zeitgenossen der päpstlichen Krö-
nung die Bedeutung nicht beilegten, welche in späteren Zeiten
daran geknüpft wurde, weil damals die Vorstellung von einer
Befugniss der Päpste, über Kaiserthümer und Königreiche zu
verfügen, noch nicht existirte. Aber man begnügte sich auch
keineswegs mit einer blossen Begrüssung des Volkes in der
Kirche, sondern es wurde ein, vorher reiflich erwogener Be-
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 365
schluss darüber gefasst, den dann nur die Volksmenge in ihrer
Weise durch den Begrüssungsruf bestätigte. Die Chronik von
Moissac zählt mit Absicht alle Handelnden so auf: DerPapst^
die ganze Versammlung der Bischöfe, Geistlichen und Aebte,
der Senat der Franken, alle Senioren der Eömer und das
übrige christliche Volk. Unter den Bömem hiess es: Nach-
dem die Griechen das Kaiserthum erst zur Soldatenbeute haben
herabwürdigen, und dann in den blutbefleckten Händen eines
Weibes haben verkommen lassen, so ist das Volk von Eom
nach dem Eechte der Devolution wieder in seine uralte Be-
fugniss, sich seinen Kaiser zu wählen, eingetreten. Durch die
Wahl des römischen Volkes in einer grossen Versanmilung
von Bischöfen und andern Dienern Gottes wurde das Kaiser-
thum auf den Gebieter der Franken übertragen, weil er sowohl
die Stadt, welche das Haupt des Reiches gewesen, als auch
viele andere Länder besass, weshalb er des Kaisertitels würdig
war. So Anskar. Wogegen es sehr begreiflich ist, dass der
Grieche Theophanes, der einzige byzantinische Zeitgenosse,
welcher' des Ereignisses gedenkt, nur die Krönung und Sal-
bung durch den Papst, aber kein Wort von einer Wahl oder
Zustimmung des Volkes berichtet. Dabei erkennt man das
Bestreben des Geschichtschreibers oder der von ihm aufgegrif-
fenen, unter den Griechen verbreiteten Sage, das Ereigniss in
ein schimpfliches oder lächerliches Licht zu stellen, an der
Behauptung, der Papst habe den König vom Kopfe bis zu den
Füssen mit Oel gesalbt, was also ohne eine unanständige Ent-
blössung vor allem Volk in der Kirche nicht hätte geschehen
können. Die Griechen pflegten nämlich ihre Kaiser zwar durch
den Patriarchen der Hauptstadt krönen zu lassen, aber der
Brauch der Salbung war ihnen unbekannt. Erst in späterer
Zeit führten auch sie die Sitte ein, offenbar nur in Nach-
ahmung der von den Päpsten vorgenommenen Kaisersalbung,
welche ihrerseits wieder den Ritus von den spanischen West-
gothen entlehnt hatten. ^^) Man dachte auch nicht dabei, dass
364 Jahrb. der histor, Classe der k. Äkad, der Wissenschaften.
gerade in dieser Salbung eine besondere Beziehung zur Eaiser-
würde liege; denn zugleich wurde Karl's Sohn Pipin, den
Hadrian schon 781 zum Könige gesalbt hatte, jetzt von Leo
zum zweitenmale gesalbt, natürlich blos als König.
Die fränkischen Annalen berichten, und der Biograph Leo's
verschweigt es, dass nach der Krönung der Papst dem Kai-
ser, sich vor ihm niederwerfend, gehuldiget habe. „Karl wurde
nach der Sitte der alten Kaiser von dem Papste adorirt", sagt
der Annalist. Man hat sich viele Mühe gegeben, diese Ado-
ration zu einer blossen BegrüssungoderUmarmung zu machen,**®)
und noch Gregorovius behauptet : „sie bestand nicht in knie-
fälliger Verehrung, sondern nach altem Gebrauch in einem
Kuss auf den Mund." *^) Es ist jedoch nicht zu bezweifeln,
dass der Papst, indem er dem neuen Kaiser jene Form der
Huldigung erweisen wollte, welche man den früheren römi-
schen Kaisern zu erzeigen pflegte, sich vor ihm zur Erde nie-
derwarf. Die besseren Kaiser der ersten Kaiserperiode hatten
diess zwar nicht geduldet, aber von Caligula, von Domitian,
vom Sohne des älteren Maximin wird es bezeugt, dass sie
Adoration forderten, und von Diokletian, dass er es gewesen,
der diese orientalische Sitte zum bleibenden Brauche im römi-
schen Reiche gemacht habe. ^®) Vor der Kaiserin Eusebia, der
Gemahlin des Constantius, pflegten auch die Bischöfe nieder-
zuknien ; * ^) und Justinian sowohl als Theodora Hessen sich
von jedem Besucher beide Füsse küssen.**) Seitdem pflegte
man meist, vor den Kaisem niederfallend, ihnen die Knie, oder
beides, den Fuss und das Knie zu küssen;*^) eine Huldigung,
welche Kaiser Manuel sogar anfanglich von dem auf dem
Kieuzzuge befindlichen, und natürlich darob entrüsteten Kaiser
Konrad III begehrte. **) Die Päpste hatten sich denn auch
dieser Sitte gefügt ; Agapet hatte es vor Justinian gethan. **)
Und in ihrem Schreiben an die Kaiser pflegten sie die Ver-
sicherung, dass sie kniefällig dem Kaiser sich nahten, oder mit
gebeugten Knien ihn anflehten, nicht zu sparen. '^^) Noch im
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 365
J. 787 hatte Hadrian gegen Constantin und Irene diesen Aus-
druck und noch stärkere gebraucht. *^) Selbst an Pipin schrieb
Paul I : „ich bitte dich knieföUig", und Stephan that es wirk-
lich, und blieb flehend auf dem Boden liegen , bis ihm Pipin
und dessen Söhne die Hände reichten, ihn aufzuheben. Wahr-
scheinlich soll der Ausdruck: Papst Leo habe Karl bei seiner
Ankunft vor Born „mit äusserster Demuth^^ empfangen, auch
schon eine solche Niederwerfung bedeuten. **) Ohnehin war
damals in den Streitigkeiten über die Bilderverehrung der Be-
griff des Wortes „Adoration" sehr sorgfaltig erörtert und auf
fussfallige Verehrung beschränkt worden , und es ist schon da-
rum nicht denkbar, dass die fränkischen Geschichtschreiber
das Wort hier in einem andern Sinne genonmien haben
sollten. *»)
Seit der Aufrichtung des Kaiserthuras wurde nun im
Frankenreiche die den Germanen sonst so fremde Sitte herr-
schend. Die Grossen des Beiches pflegten dem Kaiser nicht
nur kniefällig, sondern selbst in der orientalischen Form des
Fusskusses ihre Verehrung zu erweisen. ®®)
Unstreitig hatte der Papst durch diesen Akt der Huldi-
gung erklärt : Karl sei mit dem Empfang der Kaiserwürde
zugleich sein, des Papstes, so wie Kom's Oberherr, er des
Kaisers Unterthan geworden. Denn jetzt erst war Karl für
Bom ganz an die Stelle des Griechischen Kaisers getreten.
Wenn der Thron von Byzanz wieder von einem Manne ein-
genommen wurde, musste Karl entweder als Genosse der Kai-
serwürde und Mitregent von dem neuen östlichen Imperator
anerkannt werden, oder die Bömer und der Papst mussten den
letzteren für einen Usurpator erklären., welcher, da Karl als allein
rechtmässiger Kaiser an die Stelle Irenen's getreten, kein Becht
auf das Kaiserthum habe. Denn von der Vorstellung der
Einheit und Untheilbarkeit des Bömischen Imperiums konnte
man nun einmal nicht ablassen. Dieses Beich als die Vor-
und Schutzmacht der Christenheit liess zwar zwei coUegialisch
366 Jdhrb, der histor. Clasae der k. Akad. der Wissenschaften.
yerbundene Kaiser zu, aber es durfte nicht in zwei geschie-
dene und selbstständige Reiche zerfallen, deren jedes das ächte
Eömerreich zu- sein beansprucht hätte. ^^) Karl erkannte das
wohl, und in Born verstand man es auch, daher die päpst-
liche Gesandtschaft an Irene. Da nun die Byzantinischen
Kaiser sich so beharrlich gegen den neuen ihnen aufgedrun-
genen Mitkaiser sträubten, so hätte man eigentlich, nachdem
man das Wahlrecht Altroms wieder in's Leben gerufen hatte,
folgerichtig bis zu der Erklärung fortschreiten müssen, dass
Neurom sein Anrecht auf das Kaiserthum verwirkt habe. Da-
gegen erhoben sich jedoch starke und zahlreiche Bedenken, und
die nächste Folge wäre ein fortdauernder Kriegsstand zwischen
Ost und West gewesen. In dieser zwitterhaften Lage nun, in
welcher ein Schritt gethan war, den man nicht wieder zurück-
thun, eine Institution geschaffen war, die man nicht wieder
fallen lassen konnte, musste Rom vor Allem Ernst machen
mit seiner Unterordnung unter den neuen Kaiser, denn die
ganze Realität und Legalität des neuen Kaiserthums ruhte
doch auf dem Verhältnisse desselben zu Rom, und wenn Karl
in Rom nicht wahrhaft Kaiser, also Gebieter war, so schwebte
sein Imperium so zu sagen in der Luft, trotz der breiten Län-
dermasse, die er besass. Karl war denn auch keineswegs ge-
sonnen, sich mit dem Titel und mit dem moralischen Ansehen,
welches die höchste weltliche Würde in der Christenheit ihm
zubrachte, zu begnügen. Nicht ohne Absicht nannte er sich
seitdem in seinen Urkunden nicht blos „Kaiser", sondern setzte
noch bei: „Regierer des Römischen Imperium".^*) Wo war
dieses Imperium? Welches waren die Bestandtheile desselben?
Nicht die Staaten, die er längst schon als ererbte oder er-
oberte besass; er nannte sich und er blieb nach wie vor Kö-
nig der Franken, König der Longobarden, während er den
Patricius-Titel fallen liess.
Als er im J. 806 seine Reiche unter seine Söhne theilte.
ward Rom und der Römische Ducat so wenig als das Kaiser-
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 367
thum genannt. Darüber wollte Karl damals noch nichts be-
stimmen ; entweder, weil er in jener Zeit die Würde noch als etwas
nur ihm persönlich Gegebenes ansah, weil er ohne die Zu-
stinmiung der Römer hierin nichts eigenmächtig thun wollte
— und dann hätte freilich sieben Jahre später seine Ansicht
sich geändert — oder weil er dadurch Neid und Zwietracht
unter seinen Söhnen zu stiften fürchtete. In seinem Testa-
mente aber steht Rom als die erste unter den Metropolen des
Reiches. Und noch Papst Johann VIII erklärte Rom und
das umliegende Gebiet für den Hauptbestandtheil des Kaiser-
reichs, und mahnte Karl's Enkel: wenn er nicht dem Römi-
schen Gebiete zu Hilfe komme, würden die Völker sagen: wo
ist denn sein Kaiser?®')
Viele mochten in jener Zeit erwarten: Karl werde nun
Rom zu seiner bleibenden Residenz erwählen, einen Palast sich
dort erbauen, und von dort aus sein grosses Reich regieren.
Karl that diess nicht : Nicht nahe der Südgrenze des Reiches,
sondern im Norden, dort wo die grösste Gefahr war und die
nachhaltigste Kraftanstrengung entwickelt werden musste, nahe
dem Sachsenlande liebte er zu wohnen. Aber Rom war doch
einmal die heilige Stadt für die gesammte abendländische
Christenheit, die Stadt der Apostel und Märtyrer, der heili-
gen Gräber und Reliquien, der Sitz des vornehmsten Bischöfe
und Nachfolgers Petri. So untergeordnet auch die Stellung
war, welche der Papst neben dem neuen Kaiser einnahm, und
obgleich Leo in Karl seinen Schirm vogt, seinen Richter, sei-
nen Oberherm ehrte; beide konnten nicht luglich lange an
demselben Orte walten ; der Papst wäre am Ende tiefer in das
blose Unterthansverhältniss herabgedrückt worden, und hätte
danüt in der öffentlichen Meinung mehr von seiner Autorität
eingebüsst, als Karl selbst wünschen und gestatten durfte.
Karl war kein blos nach Machtfalle und ungebundener
Willkühr strebender Despot ; er besass hinlänglich den kaiser-
lichen Sinn, die Hoheit der politischen Anschauung und das
368 Jahrb. der histor, Classe der Jt, Äkad, der Wissenschaften,
Yerständniss seiner 2^it, nm den Papst nicht zu einem fag*
samen Hofbisehofe erniedrigen zn woUen. Dazu stand ihm
die päpstliche Würde zu hoch, erschien sie ihm zu unentbehr-
lich, wenn er auch die an den Trägem dieser Würde haften-
den Gebrechen wohl kannte, und ihr unablässiges Fordern und
Bitten um Länderbesitz ihm widerwärtig und lästig wurde.
Aber eine Hauptstadt seines Beiches, und zwar die erste
und die am meisten von ihm geehrte, beschenkte und ge-'
schmückte, sollte Bom allerdings sein. Sein beständiger Mis-
sus oder Legat sollte dort wohnen, und im Namen des Kai-
sers Gericht halten, die Papstwahl überwachen, den Papst
gegen den in Stadt und Umgegend sesshaften Adel schützen.
Einen ganzen Winter (801) hatte Karl daran gesetzt,
seine Gewalt in Kom zu befestigen, kirchliche und weltliche
Dinge zu ordnen. Gemäss der Byzantinischen Sitte und dem
Bufe des Volkes am Weihnachtsfeste, nannte er sich nun „von
Gott gekrönter Kaiser," bediente sich aber auch, nicht ohne
Absicht, des Ausdrucks: Kaiser durch göttliche Lenkung.**)
Bei der vollständigen Durchdringung von Kirche und Staat
im fränkischen Beiche erscheint jene Gewalt in kirchlichen
Dingen, welche er schon als König übte, nunmehr durch die
Kaiserwürde noch verstärkt und bestätigt. Alle Unterthanen,
die das zwölfte Lebensjahr überschritten hatten, mussten ihm
als Kaiser einen neuen Eid leisten, und sein berühmtes Capi-
tulare vom J. 802 zeigt ihn als kirchlichen und weltlichen
Gesetzgeber und Bichter. Der Papst schreibt an ihn als sei-
nen „gnädigsten Herrn," und ist seines Winkes und Gebotes
gewärtig. * ^) Vom Kaiser nach Mantua gesandt, um dort die
Aechtheit einer angeblichen Beliquie zu untersuchen, geht, er
von da auf Kari's Buf nach Chiersy an den Kaiserhof, und
darf nach einiger Zeit , vom Kaiser entlassen, nach Born
zurückkehren. *•) Paulinus von Aquileja hatte dem Kaiser
und dem Papste die Verwüstung seines Sprengeis geklagt;
der Kaiser verleiht ihm daher, auf den Bath des Papstes und
^ DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 369
der Bi£f6höfe, sechs benachbarte Bisthümer, indem er sein, des
Kaisers, Becht über dieselben auf den Panlinns überträgt, nnd ihn
allein bevollmächtigt, Bischöfe in denselben einzusetzen und
ihneh Kechte zu geben. ^'') Wäre ein an Herrscherkraft und
Begabung gleicher Mann auf Karl gefolgt, die Kirche würde
wohü bald den schweren Druck der staatlichen Ketten em-
pfunden, und ihre Knechtschaft bei aller kaiserlichen Gunst
beseuM haben.
„Die Kirchen regieren", das war denn auch das erste,
was Karl seinem Sohne Ludwig, als er ihn im J. 813 zum
Genossen des Kaiserthums annahm, als seine Aufgabe be-
zeichnete. ^^) Karl hatte auf den Bath und die Bitte der
Grossen des Eeiches, die er alle befragt, Ludwig zu sich nach
Aachen beschieden, und ihn zur Kaiserwürde zu erheben be-
schlossen. Alles geschah kraft eigner kaiserlicher Vollmacht;
weder der Papst noch die Bömer wurden befragt oder beige-
zogen. Die Franken wollten wohl auch zeigen, dass das Kai-
serthum nunmehr ihnen g^öre.
Ludwig kam mit der Konigskrone auf dem Haupte in
die Kirche, auf deren Altar sein Vater eine andre Krone hatte
setzen lassen. Als er nun den väterlichen Mahnungen zu
folgen verheissen, gebot Karl ihm, er solle die Krone vom
Altar nehmen, und sich aufs Haupt setzen. Das hiess deut-
lich: da wir, die Nation und ich, dich zum Genossen des
Kaiserthums erkoren haben, so bedarf es keiner päpstlichen
Dazwischenkunft mehr. Gott hat die Krone dir gegeben,
nimm sie aus seinen Händen. Ludwig ward denn auch nach
des Vater's Tode (28. Januar 814) ohne Widerrede im gan-
zen Umfange des Eeichs anerkannt, und erhielt im folgenden
Jahre Gelegenheit, sein kaiserliches Becht in Bom auch über
den Papst geltend zu machen. Leo hatte nämlich einige vor-
nehme Bömer, weil sie sich wider ihn verschworen, hinrichten
lassen. Das fand Ludwig sehr anstössig, und sandte seinen
Neffen den König Bernhard zur Untersuchung der Sache nach
24
370 Jahrb. der histar» Classe der Jb. Akad. der Wisaemchaften,
Born; mittlerwefle aber erschienen drei Gesandte Leo^s am
Hofe , den Papst wegen der ihm vorgeworfenen Verbrechen zu
entschuldigen. ^^) Die Bömer hatten ihn nämlich beim Kai-
ser angeklagt. Leo's korz darauf erfolgter Tod löste den Kno-
ten. Der neue Papst , Stephan Y, liess sogleich sämmtliche
Bömer dem Kaiser den Treueid schwören , liess sich durch
Gesandte entschuldigen, dass er, ohne die kaiserliche Geneh-
migong abzuwarten, sofort sich habe consecriren lassen, und
reiste dann selbst nach Bheims, wo er (October 816) dem
längst gekrönten und im zweiten Jahre regierenden Kaiser eine
mitgebrachte Krone aufsetzte und ihn salbte. ^^)
Das Kaiserthum ragte hoch hinaus über alle irdischen
Gewalten, nirgends zeigte sich ein Nebenbuhler, nirgends noch
ein zu fürchtender Feind. Aber Ludwig war seinem grossen
Vater allzu unähnlich; nicht einmal seinen Söhnen gegenüber
vermochte er die Würde und das Ansehen des Imperium zu
behaupten. Die Ereignisse seiner Begierung versetzten der
Kaiserwürde Schläge und Wunden, von denen sie sich, so
lange sie im Karolingischen Hause blieb, nicht wieder zu er-
holen im Stande war.
DölUnger: Das Kaiserthum Karl* 8 des Grossen, 371
Noten.
I.
1) Ammian. Marcell. 16, 10.
2) Orationes, ed. Dindorf , p. 57. 17 ri/n^ {riis y€^ov<fkcf) rifjM'
qiag id6x€i /iirj&* oriovy ^ut^piqsiv. Vergl. p. 225, die Bitte an Theo-
dosius : er möge doch durch bessere Ausstattung des Senats mit Ehren
und Bechten seine Stadt erst wahrhaft zu einem zweiten Rom
machen.
S) Im J. 410 durch den Gothenfursten Alarich , 455 durch die
Yandalen unter Grenserich ; im J. 472 durch Ricimer, der den Kaiser
Anthemius cum gravi clade civitatis (Marcellin. Chron.) damals töd-
ten Hess. Dann im J. 536 durch Belisar, 546 durch Totila, 547 durch
Belisar, 549 durch Totila, endlich 552 durch Narses.
4) Wie Julian selbst sagt: Orat. 1, p. 14.
5) Pro unanimitate imperü, sagt Idacius, und: Marcianus et
Avitus concordes principatu Bomani utuntur imperii. p. 38, ed.
Roncall.
6) Darüber Vales. Rer. Francic 1, 204. Princeps sacratissimus,
nennt Anthemius den Leo, dieser ihn nur Princeps Serenissimus.
7) Die Occidentalen fühlten diese Superiorität und sprachen sie
ans. So Sidonius Apollinaris:
Facta priorum
Exceperas, Auguste Leo, nam regna superstat,
Qui regnare jubet. Melius respublica vestra
Nunc erit una magis, quae sie est facta duorum.
Oarm. 2, p. 6. ed. Savaron. Man sieht, er betont auch die Einheit
des unter zwei Kaisem stehenden Reiches.
8) Wiewohl diess Theophanes, L, 101 (p. 183 ed. Bonn.) aber
im Widerspruch mit den älteren Angaben, behauptet, cf. Chron.
pasch. 321.
9) Rex gentium nennt ihn Jordanis, p. 163 ed. Closs., richtig.
Nomen regis assumsit, sagtCassiodor. Die andern: Rex f actus est
— levatus est rex — regiam arripuit potestatem. Keiner gedenkt
eines neuen Königreichs Italien. Vielmehr heisst er bei ihnen Rex
24*
372 Jalirb. der histor. Glosse der k. Akad, der Wissenschaften.
Gothorum , oder rex Turcilingorum. Oder sie sagen : Von ihm an
hätten Könige der Gothen Rom besessen. £r8t Paul Diakonus,
Ende des achten Jahrh., sagt: Totius Italiae adeptus est regnum.
10) Sub regis Torcilingorum et Rugorum tyrannide Hesperia
plaga nunc fiuctuat^ lässt Jordanis, p. 194, den Theodorioh sagen.
11) Die Skiren und Rugier zählt Prokopius, Goth. 1, 1 und
3, 2, ausdrücklich zu den Gothischen Völkern.
12) Malchus p. 235 ed. Bonn. Das ist doch etwas Anderes,
als was Gregorovius, Gesch. Roms I, 239. in die Botschaft des
Senats hineinlegt: „Er (Odoaker.) zwang den Senat zur Er-
klärung, dass das abendländische Eaiserthum erloschen — sei.^'
Auch hat der Senat nicht gebeten, Zeno möge dem Odoaker
,,da8 Reich Italien" verleihen; sondern xriv xSir (IzaXiay) tovii^ itphtvai
dioixtiaiy, also nur: die Verwaltung oder Regierung der Italiäner.
An ein Reich Italien dachte gewiss der Senat nicht, der so eben dem
oströmischen Kaiser als seinem eigentlichen Oberherrn gehuldigt
hatte, und der nur Odoaker als dessen Beamten aufgestellt und so
in die kaiserliche Beamtenhierarchie eingefügt zu sehen wünschte.
13) So muss die Angabe des Malchus, p. 236, ed. Bonn., ver-
standen werden, sonst würde das Verfahren Zeno's in einem uner-
klärlichen Widerspruch mit seinen Worten stehen, was denn auch
Lebeau, Hist. du Bas-Empire, ed. de Saint-Martin , VII, '.)5^ ohne
Noth angenommen hat.
14) Zeno — senatu Romano et populo tuitus est, ut etiam ei
imagines per diversa loca in urbe Roma levarentur. Anon. Vales. 663.
Das konnte doch nur mit Zustimmung Odoaker's geschehen.
15) Ed. Roncall p. 261. Und doch hatte dieser den Maroelli-
nus vor sich, denn er entlehnt von ihm die Bezeichnung des Aetius
als magna occidentalis reipublicae salus.
16) Pati vos non credimus, inter utrasque Respublicas, quarum
semper unum corpus sub antiquis principibus fuisse declaratur, ali-
quid discordiae permanere, Rimaniregni uuum velle, una
semper opinio sit. Cassiod. Var. 1, 1. Auch der römische §enat
spricht von dem Wohlwollen, welches der Kaiser Anastasius in utra-
que republica concordanda gezeigt habe. Epistolae R. Pontif. Romae
1591. 1,448. Seinerseits gebraucht der Kaiser den Ausdruck: pars
reipublicae vestra. ^
17) Excelsum regem, cui regen di vos potestas vel sollicitudo con-
cessa est, sagt er in dem Schreiben an den Römischen Senat. Epi-
stolae R Pontiflcum. Rom. 1591, I, 447.
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 3T3
18 j Maxime cum ad hoc et animus Domini nostri invictissimi re-
gis Theodorici filii vestri raandatorum vestrorum obedientiam prae-
cipientis accederet. ib. Es handelte sich freilich um rein kirchliche
Dinge, die der Arianer Theodorich dem Papste mit dem Kaiser abzu-
machen gerne überliess.
19) Procop. bell. Goth. 2, 6, p. 170 ed. Bonn. Weder ein ge-
schriebenes, noch ein ungeschriebenes Gesetz sei vorhanden, sag-
ten sie.
20) So dass Ennodius, natürlich mit rhetorischer üebertrei-
bung, von Theodorioh sagt: Tot reges tecum ad bella oonveneruntf
quot sustinere milites generalitas vix poterat. Paneg. Theod.
21) Bell. Goth. 1, 1: *V^ &i ßaffdtvg aXtii^n?- Der Titel ^'ij^, den
die Byzantiner in der lateinischen Form zur Bezeichnung eines bar-
barischen oder germanischen Herrschers sich aneigneten (fiicaiXevc
wird nur vom Kaiser und vom Persischen Könige gebraucht), hatt6
die Bedeutung einer auf blosse Militärgewalt, nicht auf staatliche
Ordnung gegründeten Herrschaft. Daher auch bei Asterius die Zu-
sammenstellung von ^»Jl und rvQuyyog: aianSQ ty rotg nok^^uoig ttX?-
&og ßuQßä^üjy onXi^erai^ ol ndyttg cff rov iyog yevfictri rov ^lyog, ij
Tov tv^äyyov i'noytai. Homil. in psalm. 7.
22) Gros. 7, 43.
23) Magister Militum. Nur mit diesem Titel bezeichnet Papst
Hilarius in einem Schreiben an den Bischof Leontius von Arles den
Burgunder-König Gunderich, und den gleichen Titel gibt Sidonius
ApoUinaris dessen Sohne Chilperich, ohne seines Königthums zu ge-
denken. Epist. 6, 6.
24) Gregor. Tur. 2, 38.
25) xai yvy xä^r^yrai fikv iv tJ 'JgekaTtp roy Inntxov dytoya S-taS^
fjuyoi, Procop. bell. Goth. 8, 83, p. 417. ed. Bonn. Das ist der lu«
dus Trojae, den die Römischen Senatoren- und Rittersöhne aufführ*
ten. Sueton. Aug. 43 Virg. Aen. V, 545.
2G) Frede gar. Chron. c. 6 ad a. 587. Coepta quidem est fraus,
sed non processit. Das kann freilich auch heissen: die Ernennung
sei ganz wirkungslos geblieben.
IL
1) Lib. Dium. p. 72. üt semper pax inter rempublicam
et nos, hoc est, gentem Longobardorum, oonservetur.
2) Ad dispensationem hujus servilis Italicae provinciae. Lib
Diurn. p 20. ed. Paris.
374 Jahrb. der histor. Glosse der k. ÄJcad. der Wissmst^ufflen.
3) Lib. Diurn. p. 70.
4) Ap. Cenni I, 75.
5) Yolens (Desiderius) per hoc dilationem inferre, ne pars nostra
Romanorom propriam consequatur justitiam. Troya Godice diplom.
Longobardo. Y, 225. Das waren also nutzbringende Rechte oder Ein-
künfte in den unter Longobardischer Herrschaft befindlichen Stad-
ten^ welche nicht dem kaiserlichen Fiscus in Byzanz, sondern dem
städtischen Gemeinwesen Roms zustanden.
6) Schon in dem Glaubensbekenntnisse eines neugewählten Pap-
stes, welches um das J. 690 aufgesetzt worden, heisst es : der Kaiser
möge „una cum £delissimis et fortissimis Romanae reipublicae Italiae
exercitibus" die Rebellen und Feinde des Reiches unterwerfen. Liber
Diamus, ed. Paris, p. 51. Also der Kaiser einerseits und die Ro-
mana Respublica Italiae mit ihren exercitus, d. h. ihrer städtischen
Aristokratie andrerseits, beide gegen den gemeinschaftlichen Feind
(die Longobarden) yerbündet.
7) Wie Hegel meint, Ital. Städteverfassung 1, 209: „Demnach
ist unter dem „Patriciat der Römer^^ nichts weiter zu verstehen, als
die Statthalterschaft im Ducat von Rom u. s. w.'^ Aber ganz Recht
hat er, wenn er sagt: Stephan habe durch die Ernennung der Frän-
kischen Könige zu Patriciern nur mächtige Beschützer an ihnen zu
gewinnen gehofft, die sich mit der Ehre und dem Titel der Herr-
schaft von Rom begnügen würden.
8) Gattola, Hist. Abbat. Cassin. p. I, sec. V. Auch Waimar
Fürst von Salerno nennt sich in einer von Guttola abgedruckten Ur-
kunde: Princeps et Tmperialis Patricius. Vgl. Gentili, de Patricio-
rum Origine, Romae 1736, p. 276.
9) A Stephano quondam Patricio et Duce omnis exercitus Ro-
mani. Tita Zach. c. 2. Unter Gregor U war ein Spatharius, d, h.
Offizier der kaiserlichen Leibwache, Römischer Dux. Vita Greg.
11, c. 14
10) So sagen die Metzer Annalen: Ordinavit secundum morem
majorum unctione sacra Pippinum — Francis in regem et Patricium
Romanorum Und zum Jahre 773 von Karl ebenso.
11) Cenni Monum. 1, 521: Der Papst sagt, wie sonst immer:
Patriciatus beati Petri, diesen habe Pipin bewilligt, und Karl bestä-
tigt In Bezug auf die päpstlichen Rechte in den geschenkten Ge-
bieten ist aus diesem hier offenbar nur der Parallele wegen ge-
brauchten Ausdrucke nichts zu folgern.
12) Storia degU Italiani. III, 88.
13) Vita Gregorii HI, p. 55. ed. Vignoli.
DölUnger: Das Kaiaerthum Ka/rVs des Qrossen, 375
14) Der Ausdruck restituere oder reddere ist in den früheren
päpstlichen Briefen vor Hadrian der vorherrschende So bei Genni
I, 75: Ecclesiae et reipnblicae civitates et loca restitnenda con-
^rmastis. In dem Briefe vom J. 756, Genni 1, 105, ist es der heilige
Petras, dem Desiderius die Städte zu restituiren versprochen hat;
bei Pipin aber wird geltend gemacht, dass das Volk nicht leben
könne ohne den Besitz derjenigen Territorien und Städte, quae sem-
per cum eis sub unius dominii ditione erant connexae, was zweimal
wiederholt wird; es handelt sich also dabei nicht von einem frühe-
ren Recht der Kirche oder des heiligen Petrus auf diese Gebiete und
Städte, sondern von einem Anspruch des Italiänischen , nicht unter
longobardischer Botmässigkeit stehenden Volkes, und die Städte und
Gebiete sollen aus Bücksicht auf die Bedürfnisse dieses Volkes (der
Respublica) dem heiligen Petrus wie ein Depositum übergeben wer-
den. Bei Stephans Nachfolger, dem Papst Paul I, heisst es wieder:
Die Longobarden weigerten sich, justitiam b. Petri restituere.
Cenni 1, 137 ; dann verspricht Desiderius, Imola zu „restituiren," 150.
Und p. 219 besteht die Beschwerde Paul's gegen Desiderius darin,
dass er habe verhindern wollen, ne pars nostra Romanorum pro-
priam consequatur justitiam. Hier ist also nicht die Rede von Be-
sitzungen oder Rechten der Römischen Kirche, sondern von denen des
Volkes, der Respublica; aber auch für diese steht damals immer der
h. Petrus ein, und das Schreiben, in welchem Desiderius seine Rechte
oder Ansprüche vertrat, ist dem Papst wieder ein Beweis, dass der
König den h. Petrus nicht fürchte. Was die stets geforderten ju-
stitiae b. Petri eigentlich seien, sagt Paul deutlicher als Stephan und
Hadrian: es sind die „patrimonia, jura, loca, fines, territoria unsrer
Städte der respublica Romanorum," 168 ; diese hat Desiderius endlich
restituirt. Hier, wie in einigen andern Stellen in Stephan's Brie-
fen zeigt sieh deutlich, dass die Päpste vor Karl's Siegen im Grunde
als Vormünder oder Erben der Römischen Respublica Alles in Italien
beanspruchten, was nicht zum alten Longobarden-Gebiet gehörte und
was die Byzantiner nicht mehr zu behaupten vermochten. Pipin
würde wohl für die Respublica allein keine grossen Opfer gebracht
haben, aber da ihm stets der h. Petrus als Patron der Respublica
vorgehalten, und mit diesem Namen alle Wünsche und Ansprüche
auf Land und Leute eingeführt wurden, so war es dann der wirk-
liche Ausdruck seiner Gesinnung, wenn er nach dem Berichte des
päpstlichen Biographen den Griechischen Gesandten erklärte, nicht
um den Griechen verlorene Länder zu überliefern, sondern aus Liebe
zum h. Petrus habe er das Schwert gezogen.
376 Jahrb. der histor. Clasne der k» Äkad. der Wissenschaften.
15) DasZeaguisB des Papstbaches ist entscheidend for dieThat-
Sache, dass Pipin mit der Uebergabe des Exarchats und der Penta-
polis nicht ein geistliches Fürsteuthnm, einen Kirchenstaat gründen,
sondern diese Länder der Fürsorge des Papstes als Vertreten der
Kespablica im Gegensatze gegen Longobarden und Griechen anver-
trauen wollte, und dass diess auch die Form war, in welcher der
Papst und sein geistliches und weltliches Gefolge dem Könige ihre
Bitte vortrugen. Der Biograph Stephan's 11 in dieser Sammlung-
zeigt sich über die Reise des Papstes nach Norditalien und Frank-
reich so unterrichtet, ist so genau in der Angabe der Tage und der
Lokalitäten, dass man annehmen moss, er sei einer der Begleiter des
Papstes auf dieser Reise gewesen, oder habe das Tagebuch eines Be-
gleiters vor sich gehabt. £r berichtet nun, Pipin habe schon bei
der ersten Zusammenkunft in Ponthyon eidlich versprochen, er wolle
nach dem Wunsche des Papstes das Exarchat und die übrigen Ge-
biete dem jus reipublicae „zurück geben/' Ed. Vignol. p. 106.
Dass unter respublica nicht speciell der Römische Ducat gemeint
sei, wie einige angenommen haben, ist einleuchtend, und von Sa-
vigny und Waitz, Verf. Gesch. UI, 82 bereits bemerkt worden. In
den Briefen werden aber gewöhnlich Petrus , die Kirche und die
Respublica der Römer zusammen genannt, an sie sollen civitates et
loca restituirt werden. Genni I, 74. 75. Der Senat und das Volk
von Rom bitten im J. 757 den König zuerst um Erhöhung der
Kirche (natürlich der Römischen) dann aber um die dilatatio hujus
provinciae a vobis de manu gentium ereptae. p. 144. Gleich darauf
erbittet Paul I perfectam redemtionem istius provinciae et exaltatio*
nem ecclesiae. Hier ist wohl nur der Römische Ducat gemeint. Ein-
mal (im J. 761) scheint Paul den Begriff der justitiae Petri sehr zu
verengem; Pipin, sagt er, streite für die Wiederherstellung der
Lampen des h. Petrus , nämlich für die Rückgabe der Patrimonien,
aus deren Ertrag die Lampen unterhalten würden. Bei Stephan lY
sind es wieder p. 287 propria ecclesiae et Romanae reipublicae, welche
die Longobarden zurückgeben sollen.
16) Cenni I, 379.
17) Cenni I, 484. 487.
18) Deutlich zeigt sich die kaiserliche Superiorität selbst im
Exarchat in der Sache des Erzbischofs Martin von Ravenna. Als
Papst Leo 111 ihn nöthigen wollte, sich in Rom zu stellen, um ihm
dort gewisse Beschränkungen aufzuerlegen, schickte er erst einen
Legaten an den Kaiser, um dessen Genehmigung zu erlangen ; dieser
DöUinger: Das Kaiserthwm "KmVs des Chrossen. 317
aber sandte den Bischof Johann von Arles znit der Weisung, den
Erzbischof nach Rom zu begleiten, und ihm dort beizustehen. Diese
bewog den Papst, den Erzbischof, der sich mit Uupässlidikeit ent-
schuldigte, von dem geforderten Erscheinen in Born zu entbinden.
Agnellus, bei Muratori II, 182. Schon früher, um 783, hatten die
Ravennaten gegen den Papst an den König appelliH, und Hadrian
erklärte, er sei es ganz zufrieden, wenn einer seiner Untergebenen
sich, um Recht zu suchen, an den König wende. Cenni, I, Ö21. Die
Briefe Hadrian's enthalten noch häufige Beweise der Unterordnung
unter KarFs^otmässigkeit; Hadriän verantwortet sich wider Ankla-
gen, unterwirft sich zum voraus den Aussprüchen Karl's, er erstattet
Bericht über Justiz- und Lehenssachen. So erklart sich auch, worin
man einen Widerspruch finden wollte, dass Karl nach der Versiche-
rung des Papstes das Herzogthum Spoleti dem h. Petrus schenkte
(Cenni 1, 341), gleichwohl aber die volle Souverainetät über das^
selbe fortwährend übte.
19) Hadrian schrieb noch an die Kaiserin Irene und ihren Sohn
ganz im Tone des Unterthans, von den kaiserlichen Briefen sagt er:
20) Annales Lauresham. Pertz, 1, 38.
21) Gavisi sumus — in humilitatis vestrae obedientia et in pro-
missionis ad nos fidelitate. Bei Mansi Xm, 980.
III.
1) Chron. Moissiac. Pertz, I, 293.
2) Pröjiciens se in terram sanctissimus Stephanus Papa cum uni-
versis sacerdotibus et populö Romano, clamantesque Kyrie eleison
cum ingenti fletu, peccasse se omnes professi sunt sicque ex
hoc Omnibus indicta est poenitentia. Auch die Acten des Conciliums,
welches den Gonstantin bestättigt hatte , wurden nun verbrannt.
Concilium Lateranense, ed. Cenni, Rom. 1735, p. 10.
3) Paulini Aquil. Opera, ed, Madrisius, p. 189.
4) So sagt die Frankfurter Synode, sie habe sich versammelt
praecipiente et praesidente — Carolo rege, ad renovandum cum con-
silio pacificae unanimitatis — ecclesiae statum. Sirmondi Conc.
Gall. n, 175.
5) Zwei Synoden wurden auf KarPs Geheiss in der adoptiani-
schen Angelegenheit gehalten, die eine von Hadrian, die andere von
Leo. Von der ersteren sagt nämlich Leo vor der Synode von 799:
378 Jahrb. der histor, Classe der Je, Akad. der Wissenschaften.
Et olim quidem a praedecessore nostro Hadriano Papa, et ex aacto-
ritate sedis apostolicae, ejusdem regia magni jussione synodal! tram-
ite sab anathematis vinculo putabatar esse exstincta. Ap. Sirmond.
Conc. Gall. II, 224. Von der andern sagt Felix von Urgel, sie sei
praecipiente Carolo, praesente Leone Apostolico mit 57 Bischöfen zu
Rom (799) gehalten worden. Sirmond. 226.
6) Paulini, Opera, p. 191 u. 235.
7) In der Rede, die der Papst bei der Kaiserkrönnng Karl's des
Kahlen hielt, ap. Bouquet YII, 695. Da heisst es: Qni cam omnes
ecolesias sublimasset, semper hoc erat ei in voto, semper in deside-
rio — ut s. Romanam Ecclesiam in antiquum statum et ordinem re-
formaret. Dabei wird denn freilich zunächst der vielen Schenkun-
gen gedacht, die Karl dem Römischen Stuhle gemacht habe. Dann
aber heisst es weiter: Religionis quippe statum — sacris literis eru-
divit — erröribus expurgavit, ratis dogmatibus saginavit etc. Die-
sen Eifer EarPs, die Kirche innerlich zu reinigen, hatte auch Al-
kuin, epist. 84, p. 124 gepriesen.
8) Ap. Bouquet V, 626.
9) Ap. Bouquet V, 421: Tu regis ecclesiae (claves) nam regit ille
(Petrus) poli.
Tu regis ejus opes populum olerumque
gubemas.
10) Bouquet V, 588. 559.
11) Lebret, Geschichte von Venedig I, 121.
12) lila est civitas, quae adhuc sustentat omnia. Lactantius,
opp. 1, 584. Derselbe hatte angenommen, dass das Römische Impe-
rium nie von Rom getrennt werden könne. Besonders einflussreich
auf die späteren Vorstellungen war Hilarius, der Verf. des Com-
mentars über die apostolischen Briefe, den man im Mittelalter all-
gemein für Ambrosius hielt. Er, Augustinus und Hieronymus brach-
ten die Ansicht zur Herrschaft, dass die geweissagte defectio (2.Thes8.
2, 6. 7.). auf die der Antichrist und dann das Ende des Weltlaufes
folgen werde, eine abolitio imperii Romani , oder ein Abfall aller
Völker vom Römischen Reiche sein werde. Zwei damals vielgele-
sene Autoren, Beda und Pseudo-Prosper, der Verf. des Buches
De promissionibus et praedictionibus Dei , befestigten die Vorstel-
lung.
13) Libri Carolini, ed. Heumann, 3, 14, p. 317.
14) Es wird dem Kaiser und seiner Mutter als arges Vergehen
angerechnet, dass sie von ihren Edicten das Wort divalia gebrauchen,
dass sie sagen, Deum sibi conregnare, dass sie behaupteten, die Ehre
DÖllinger: I>a$ Kaiserthum KagVß des Grossen. 379
Gottes zu suchen und Aehnliclies. Und doch hatten die Päpste selbst
dergleichen Ausdrücke in ihren Schreiben an die Kaiser ganz unbe-
denklich gebraucht, z. B. Agatho in dem Schreiben an Constantin
Pogonatus: divales apices. bei Harduin. Conc. III, 1075.
15) Das Schreiben Hadrian's bei Mansi XIII, 759. Jaffe setzt es
in's J. 794 — wohl erst nach der Frankfurter Synode.
16) Die Stellen darüber s bei Grotius, De jure belli ac pacis
ed. Cocceji, ü, 532.
17) Gesta Abbatum Fontanell. 787.
18) Questo era congiungere alP ambizione falsita ed ipocrisia.
Storia d'Italia. II, 47. Ebenso Kurtz, Eirchengeschichte II, 213:
,,Wie weit er in dieser Heuchelei gieng , ergibt sich aus Eginhard.*^
Vgl. Luden's D. G. IV, 413. Nicht anders die Franzosen des Mi-
chels, Monnier, Henri Martin. Die Benedictiner Martene
und Durand sind, so viel ich sehe, die ersten, welche, Vet. Monum.
ampl. Coli. IV., praef. §. 1, mit Berufung auf den Johannes ^Diaco*
nus, EarPs Benehmen als Verstellung gedeutet haben. Aber auch
Sigonius, Daniel, Gaillard wollten nicht glauben, dassEinhard
Wahrheit berichtet, oder Karl Wahrheit geredet habe
19) Vorlesungen über deutsche Geschichte I, 510 ff. Er hat sich,
gleich vielen Anderen, hierin anLorentz, in dessen Leben Al-
kuin-s, angeschlossen.
20) Deutsche Verfassungsgeschichte, UI, 175.
21) Daselbst III, 170.
22) Alcuini Opp. ed. Froben. t. I, 154 und 248.
23) So sagen die Italiänischen Bischöfe schon im J. 794 von dem
Ausschreiben KarPs zur Frankfurter Synode: imperii ejus decretum.
Baluz. ad De Marca, de Goncord. IH, 177. ed. Bamberg. Und selbst
Pipin wurde bereits Imperator genannt.
24) Karl hatte von Sachsen aus dem Alkuin den Vorfall in Kom
mitgetheilt. Dieser erwiedert noch 799: In KarPs Hände allein sei
jetzt das Heil der Kirchen gelegt. Nullatenus capitis cura omittenda
est. Levius est pedes dolere quam caput. Componatur pax cum po-
pulo nefando, si fieri potest. Belinquantur aliquantulum minae, ne
obdurati fugiant: sed in spe retineantur, donec salubri consilio ad
pacem revocentur. Tenendum est, quod habetur, ne propter acqui-
sitionem miuoris, quod majus est, amittatur. Servetur ovile proprium,
ne lupus rapax devastet illud. Ita in alienis sudetur, ut in propriis
damnum non patiatur. Wie viel ist an dieser Stelle seit 200 Jahren
gedeutet und gedreht worden. Erst von Pagi, der unter dem Majus
und dem ovile proprium das Longobardische Reich verstand, und
380 Jdhrb, der histor, Glosse der k. Akad, der Wissenschaften.
den Schlnss daraus zog, dass also Rom damals noch nicht zu Karl'»
Gebiet gehört habe. Ihn hat schon Proben widerlegt, Alkuin. Opp.
1, 118. Jüngst hat Gregorovius II, 533 sie wieder missverstanden r
unter den aliena versteht er die „speciellen Verhältnisse zwischen
dem Papste und den Römern, die Karl als Richter mit Vorsicht ord-
nen sollte," der populus nefandus, mit dem Karl Frieden schliessen
soll, ist auch in seinen Augen das Römische u s'.w. Alles unrichtig.
Die Sache verhält sich so:
Karl hatte von Sachsen aus, wo er sich mit seinem Heere be-
fand, an Alkuin geschrieben, ihm das Attentat gegen den Papst ge-
meldet, und, wie aus Alkuin's Antwort hervorgeht, geäussert, dass er-
durch die Sächsischen Angelegenheiten ganz in Anspruch genommen
sei, also für jetzt sich der Römischen Dinge nicht persönlich anneh-
men könne. Eben beschäftigte er sich mit jener grossen Verpflan-
zung Sächsischer Familien nach andern Provinzen, deren die Anna-
listen gedenken. Alkuin stellt dagegen vor: er möge das Haupt
(Rom und den Römischen Stuhl) nicht preisgeben; ein Leiden am
Fusse (Sachsen) sei leichter zu ertragen, als eines am Haupte. Er
möge daher wo möglich mit den Sachsen Frieden schliessen, und das
festhalten^ was er schon besitze (Rom), um nicht über die Erwer-
bung des Geringeren (Sächsischer Landestheile) das 'Grössere (Rom)
zu verlieren; er möge die eigene Hürde vor dem Wolfe bewahren,,
und in fremdem Gebiete (dem noch nicht fränkisch gewordenen Sach-
sen) so arbeiten, dass er nicht am eigenen (Rom und Italien) Scha-
den leide. Dass Alkuin so zu erklären sei, zeigt gleich der nächst»
Brief (ed. Frohen, p. 120), wo die Sachsen ausdrücklich der populua
nefandus genannt werden, und Alkuin wünscht, dass die Sachsen dem
Könige doch Freiheit zur Reise gestatten möchten.
2.5) E vestigio, bei Muratori, S.S. Ital. I, p. II, p. 812. VergL
über ihn Tiraboschi Storia della lett. Ital. VI, 45, ed. 1834.
26) Synod. Francof. 794, §. 58.
27) Ap. Pertz I, 38. 306.
28) Jaffe Regesta, 1913, p. 218.
29) Elmacin bist Sar»acen. p. 118—123.
30) Annales Metens. ad a. 741. Pertz 1 , 326.
31) So Alkuin, bei Bouquet V, 612, bereits im J. 799.
82) Imperialis dignitas et secundae Romae saecuiaris potentia,.
sagt Alkuin a. a. 0.
33) Es ist nur der Byzantiner Theophanes, der diess berich-
tet, während die fränkischen Annalisten darüber schweigen; aber
Theophanes ist Zeitgenosse, und gut unterrichtet, und da die That*^
DÖlUnger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 381
Sache an sich wahrscheinlich ist, so ist kein Grund vorhanden, mit
Ideler (Leben KarPs des Grossen, 1, 200) zu sagen: Die Angabe
trage den Stempel einer Anekdote, oder deute höchstens auf einen
Plan der herrschsüchtigen Irene.
34) Bei Bouquet V, 398.
35) Einh. Annal. ad a 809. Pertz I, 196.
36) Bei Bouquet. V, 632.
37) Alcuini opp. ed. Frohen. II, 561.
38) Annal. Lauriss. Pertz I, 186.
39) Annal. Einh. Pertz 1, 198.
40) Annal. Lauresh. Pertz I, 38. -
41) Vita s. Willebaldi c. 5. bei Pertz II, 381.
42) Bei Bouquet V, 468: Conclamatur bonos Romanis patribus
auctus, nämlich von der königlichen zur kaiserlichen Würde.
43) Ab Omnibus consitutus est Imperator Romanorum. p. 254.
Vignoli.
44) Vita Leonia HI, p. 250. Vignoli.
45) ^rancis Romuleum nomen habere dedi, sagt Karl bei Er-
mold 2, 68.
46) Deutsche Verfassungsgeschichte, III, 177.
47) Bei den fränkischen Königen vor Pipin fand weder eine
Krönung noch eine Salbung statt; sie wurden blos auf dem Schild
erhoben. In Spanien dagegen heisst es von Erwig dem Nachfolger
Wamba's im ersten Kanon der dreizehnten Synode von Toledo (681):
regnandi per sacrosanctam unctionem suscepisse potestatem.
48) Der alte Streit darüber ist noch im J. 1815 in Rom in eig-
nen Schriften erneuert worden. Ein französischer Maler hatte näm-
lich ein Gemälde von KarPs Krönung dort ausgestellt, auf welchem
der Papst knieend vor dem Kaiser abgebildet war. Diess veranlasste
einen Römischen Geistlichen, Santelli, ein Buch zu schreiben:
Oltraggio fatto a Leone III e a Carlo Magno. Der Inhalt ist: ado-
rato heisse blos: salutato.
49) Geschichte Roms, 11, 548.
50) Plin. Panegyr. 24. Martial. 10, 72. Jul. Capitol.
in Maximino c. 2. — Eutrop. 9, 26. Amm. MarceU. 15, 5. —
Aurel. Victor 39. Von Constantin dem Grossen heisst es in des-
sen Biographie von Eusebius, 4, 57: yoyvxhyei^s i^anäaayvo. Meh-
rere Stellen hat Godefroy zum Theodos. Codex 6, 8 (ed. Ritter II, 83)
gesammelt.
51) Suidas s v. Leontius.
52) Procop. Arcau. c. 15.
382 Jahrb. der histor. Clasae der k. Akad, der Wissenschaften.
52) Procop. Arcan. o. 15
53) Cons tantin. Porphyrog., de cerem. aolae Byzant. 1, 87
beschreibt diese näher.
54) Arnold. Lnbec. chron. Slay. 3, 10. Masco v, Comm. de
rebus Imperii sub Conr. III, p. 204, hält Amold's Angabe für un-
richtig, aber ohne genügende Gründe, so viel ich sehe. Das Schwei*
gen des Cinnamus, der alle Schuld auf Konrad zu wälzen beflissen
ist, beweist nichts, und Odo von Deuil, de prof, Ludov. VII, 3, 31,
bestätigt vielmehr Amold's Bericht durch die Worte: Neuter pro
altero mores suos aut fastus consuetudinem temperavit.
55) ^0 d^uo&sig Jtov ivaeßioy vfjLoty t^vtavy heisst es von Agapet
in dem Schreiben der Bischöfe und Mönche an Justinian, bei Ale-
manni not. ad Procop. p. 173, ed. Bonn. *p. 467.
56) Agatho im Schreiben an Constantin: flexo mentis poplite
suppliciter vestram — clementiam deprecamur. Bei Harduin. Conc.
ni, 1078. Und früher schon P. Hormisdas an den Kaiser Anasta-
sius : Yestigiis vestris advolvor. Epistolae Pontiff. Rom. 1591. 1, 446.
57) Tanquam praesentialiter humo prostratus et vestris Deo di-
lectis vestigiis provolutus quaero. Was wohl Karl gesagt hätte, wenn
er diese an einen sechszehnjährigen Knaben und an ein Weib ge-
richteten Ausdrücke des Papstes gelesen hätte.
58) Oocurrit ei pridie Leo Papa — et summa cum humilitaie
summoque honore suscepit. Annal. Fr. Bouquet Y, 52.
59) So wird z. B. in den Libri Carolini, 4, 13, p. 537 eine eigne
Verwahrung eingelegt gegen die Identüizirung von osculari und
adorare.
60) Von dem Herzoge von Toulouse heisst es, als er auf der
Versammlung des J. 801 den Krieg gegen dieSaracenen vorgeschla-
gen; Ermold. Nigell. 1, 138:
Poplite flexato lambitat ore pedes.
und von Einhard auf der Versammlung von 813:
Hie cadit ante pedes, vestigia basiat alma.
Flexis omnes precamur poplitibus majestatem vestram, sagen die
fränkischen Grossen. Baluz. Capitul. I, 405.
61) Ich kann daher dem H. v. Lancizolle nicht beistimmen,
wenn er in seiner Schrift: Die Bedeutung der Römisch -Deut-
schen Kaiserwürde, S. 11 behauptet: „Es handelte sich um
wirkliche Wiederaufrichtung, ja um Fortsetzung oder Aneignung
(durch Wiederablösung von Ostrom) eines besondern weströmischen
Kaiserthums '* Ich glaube vielmehr, dass dieser Gedanke, im An-
fange wenigstens, allen Betheiligten ferne lag.
DÖUinger: Das KaiseHhum KarVs des Chrossen, 383
62) Z. B. Urkunde vom Jahre 801, bei Brunetti, Codice dipl.
Tose, n, 382: Carolus serenissimus Augustus et a Deo coronatus
magnus et pacificus Imperator, Romanum gubemans Imperium, qui
et per misericordiam Dei Rex Francorum et Longobardorum.
63) Et hanc terram, quae sui imperii caput est, ad libertatem
reducat, ne quando dicant gentes: ubi est imperator iUius? Epist. 31,
Mansi XVH, 29
64) Divino nutu coronatus, in der praefatio zum Capitulare v,
801. Bouquet V, 658.
65) Dominus piissimus et serenissimus : auch vestra clementissima
praecelsa regalis potentia. Hadrian hatte nur: Domno excellentis-
simo geschrieben.
66) Unde absolutus Romam repedavit. Annal. Fuld. bei Bou-
quet V, 882.
67) Append. Actor. ad Paulini Opera, ed. Madrisi, p. 259.
68) Thegan. c. 6. Bouquet VI, 75.
69) Astronomi vita Ludov. Bouquet VI, 98. Der grosse Auf-
ruhr, der in der Gampagna auf die Nachricht von der Krankheit des
Papstes ausbrach, war durch gewaltthätiges Umsichgreifen päpst-
licher Beamten veranlasst. Man sieht diess aus der Angabe der Ein-
hard'schen Annalen: quae sibi erepta querebantur violenter, auferre
(statuunt).
Das
Kaiserthum KarPs des Grossen.
Zweite Abhhandlung.
EarPs Kaiserkrönung in der Historiographie
und Publicistik des Mittelalters.
Bekanntlich stimmen die Fränkischen Annalen and Ein-
hard einerseits, die Römische Quelle anderseits in der Dar-
stellung der Kaiserkrönung Karl's im Wesentlichen überein.
Das Papstbuch verschweigt nur den Akt der Adoration, mit
welchem Papst Leo dem eben gekrönten Kaiser huldigte. Was
wir sonst an Annalen und Chroniken aus dem 9. und 10. Jahr-
hundert haben, hat meist aus den Eeichs- Annalen geschöpft,
und die Thatsache der Gelangung zur Kaiserwürde in der kür-
zesten Form, meist als das Werk der Römer, ohne des Pap-
stes dabei zu gedenken, verzeichnet. A Romanis Augustus
est appellatus, sagen die Würzburger, Weissenburger,
Fuldaer, Cölner Annalen, und gedenken der Theilnahme des
Papstes nicht, weil man ihn nur als Vollstrecker des Römi-
schen Volksbeschlusses handelnd sich dachte ^).
Unter den Annalen des neunten Jahrhunderts sind es nur
die von Xanten, welche hier abweichen. Sie sind vor 831
unselbständig und geben nur Auszüge aus Einhard und den
fränkischen Annalen ; hier aber mit einer nicht zu verkennen-
den Tendenz. Die Heilung des Papstes wird als göttliches
Wunder berichtet, und die Kaiserkrönung ihm allein zuge-
schrieben mit demselben Beisatze : „Wie es der Brauch ist".*)
DöÜinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 385
Achtzig Jahre nach KarFs Tod überliefert uns der Mönch
von St. Gallen bereits die sagenhafte Auffassung des Ereig-
nisses, wie sie im Yolksmunde sich gestaltet hatte. ') Der Papst
hat sich zuerst an den Kaiser in Constantinopel um Hilfe gegen
seine Komischen Feinde gewendet; der Erzähler nennt den, erst
im J. 811 zur Gewalt gelangten Michael; dieser lässt ihm
sagen, er habe ein eignes Reich, das besser sei, als das
Griechische, er möge sich nur selber helfen. Nun erst ruft er,
einem göttlichen Winke folgend, Karl nach Eom, und er-
nennt ihn zum Kaiser und Schutz vogt der Bömischen Kirche.
Karl ninmit diese Würde nur ungern an, denn er besorgt,
die Griechen würden, aus Furcht von ihm unterjocht zu werden,
irgend ein Unheil gegen sein Beich anzetteln.
Man erkennt in dieser Darstellung bereits das unbewusste
Streben, sich die Thatsachen nach den bestehenden Vorstellungen
zurechtzulegen, Methode in die Geschichte zu bringen. Die dich-
tende Ausmahlung ist hervorgegangen aus dem Bedürfnisse,
sich zu erklären, wie denn der Kaiser in Constantinopel um
sein Kaiserthum, das ohne den Besitz Boms und Italiens
kein rechtes Bömisches Kaiserthum mehr sein konnte, gekom-
men, und mit welchem Bechte Karl an dessen Stelle getreten
sei. Daher die Erfindung, dass der Papst die Griechischen
Herrscher zuerst um Hilfe angegangen habe, um die Ueber-
tragung des Kaiserthums an Karl durch die Pflichtversäum-
niss der Griechen zu motiviren.
Im westfiränkischen Beiche folgt der Bischof Ado vonVienne
(st. 874) in seiner Weltchronik noch genau dem Berichte der
Einhard'schen Annalen, vergisst nicht die Adoration des Pap-
stes, die spätere Krönung Ludwig' s ohne den Papst, und hebt
es, gleich den meisten ausführlicheren Chronisten, hervor, dass
die Kaiserin Irene nach Karl's Erhebung noch eine Gesandt-
schaft mit Friedensanträgen an Karl geschickt habe % was
man dann als eine förmliche AnerkennuDg von Seite des ost-
römischen Kaiserthums gedeutet zu haben scheint. Diess tritt
25
3dS Jahrb. der Imtor. Glosse der h. Akad. der Wissenschaften,
recht deutlich bei Honoiius von Autan (um 1123) her-
vor: da wird Karl als Kaiser der Sömer ausgerufen^ dann vom
Papste gekrönt, und sofort machen die Griechen mit ihm Frie-
den. B^ ihm; ist das Ereigniss durch eine dem F2q>ste vor-
her zu Theil gewordene himmlische Offenbarung motivirt^)
In ein^ andern lehrhaften Schrift desselben Mannes *) ist es
der Papst, der, weil durch Constantin's Blendung das Beidai
erledigt war, auf den Bath der Fürsten, und mit der Zustin^
mung des Klems und des Volkes, das Scepter des Beiches an
Karl übergibt.
Die erste Spur einer absichtlichen, nicht sagenhaüen Air
terirung des Ereignisses zeigt sich indess schoK sehr Mhe^ in
den Annalen des Fuklaischen Mönches Enhard (um 83d),
der den aus den Einliard'scheB Jahrbüchern entlelintaL Stoff
mit einzelnen aus den Lorscher Annalen und dem Leben E^aji's
geschöpften Zusätzen verband. ^) Er macht, indem er den Namen
desPapstes weglässt, die Adoration nach der Krönung zu einem
allgemeinen Huldigungsakte der Anwesenden, während seine
Quelle nur den Papst allein die Ad<»ration leisten lässt. Ihm hat
dann wieder der sonst unbekannte Bibliothekar Petras naehr
geschrieben. ^) Auch der Mönch, der im zdmten Jahrkund^
die Annalen von Metz zusammengetragen, und der für die
Zeit Kaii's blos Einhard*s Annalen mit einigen Zusatz)^ aus
Begino und den Jahrbüdiem von Moissac abgeschrieben, hat
doch die Thatsache, dass es der Papst gewesen, der sich vor
dem Kaiser niedergeworfen, verschwiegen.^) Besgleichen der
Priester Magnus, der um das J, 1195 die Beichersperger
Jahrbücher in einer gegen die Stanfischen Kaiser sehr feind-
lichen Gesinnung schrieb. Er copirt über KarFs Kaiserkrönung
die fränkischen Annalen wörtlich, lässt aber gleichfalls bei der
Erwähnung der Huld^ng den Papst weg. ^^)
Die hohenstaufisch-kaiserliche Ansicht ist wiedergegeben
in einer (ungedruckten) Biographie Karl's, die auf Fried-
DöUinger: Das Kaiserthwn Kaffs des Grossen, 387
rieh's I Befehl geschrieben ward, wad afas dieser in den M ar-«
baeher Annalen. Sie lavtet so:
Valentinian in war der letzte der in Born residirenden
Kaiser, naeh ihm ist dafi^ Hesperisefae Beich gefallen, nnd ist
348' Jal^e lang Niemaffiid/ mehr Atfgastus in Born geworden
bi9 auf KttA. Diesem Manne, iet \meiis den gmtrn^ Erd-'
kreä mit seniem Bidime erfüllt hatte^^ übertrugt die Wkmr
das mäcM^ B^mische' Imperiiun nnd dam noeh die Emen-'
nnng dei» Papste». Er al^er, dorch die Bitten de» Papstes,
alter Fürsten des Beiche» nnd aller Glros^en best^mt, liess e&
endlich, dem WiUen €k)tte9 und de¥ Menschen nachgebend,
geschehen, das» am der Papst weihte und kr^frte, und dasr
Y6& ihn ab Kaiser begrösste; ^^)
Im s€tet)fiki Gegensatze hiemit steht cBe Auffassung der
päpstlich gemnnt^ SehrtftetelleF in der Zeit de» Ihrestitur*
Streits; sie liegen £e Thatsache der EÜaäierkrdnung in be*-
wusster Absieht zu ignerire». Am> auffallendsten ist diess bei
Bonizo, Bisdiof von-Sutri, der in smen beiden Schriften **)
nur den ersten Besuch KarKs in Born beschreibt, den tetzten
aber verschweigt , und dien Bericht des Papstbuches , den er
offenbar vor sich hatte, senden Zwecken gemäss verkürzt oder
erweitert. So lässt er KarFn zuvor dem „Stellvertreter Petri"
Treue und gebührende Ehrftircht geloben, und dann erst ihn
zum Patricius erhöht werden. Das Auftreten Karl's in Bom als
Bichter und kaiserlicher Gebieter sucht Bonizo dadurch zu be-
seitigen, dass er behauptet, sein Sohn Ludwig, der bekannt-
lich nie nach Bom kam, sei zuerst unter allen fränkischen
Königen zur Kaiserwürde erhoben worden.
Da Bonizo die älteren Quellen, namentlich das Papstbuch,
und also den Bericht über die Bömischen Ereignisse des Jah-
res 800 vor sich hatte, so ist hier berechnete Unwahrheit, und
es ist hiebei nur zu verwundem, dass Bonizo es für möglich
hielt, die öffentliche Meinung über die bekannteste und fol-
genreichste aller neueren Begebenheiten irre zu führen. Er
388 Jahrb. der kigtor. Gaste dar k, Akad, der WiseenukafUn.
meint sogar, das rechte Bdmerreidi, wekhes nach der PanUni-
sehen Weissagung die Ankunft des Antichrist noch aufhalte^
sei das Griechische, denn im Occident sei durch den Ueber-
muth der Könige, den Stolz und Geiz der Unterthanen das
Bdmerräch zu Grunde g^angen; Altarom sei den Barbaren
(den Beutsdien) dienrtbar und lebe nidit nach eigenen Ge-
setzen. Bonizo hatte sich freilich eine eig^thnmliche Theorie
über das Eaiserthum gebildet, der die Wirklichkeit damals
durchaus nicht entsprach. Ihm zufolge gebührt nämlich das
Hecht, den Kaiser zu setzen, nicht etwa dem Papste, sondern
den sieben Judices palatini, worunter er die sieben yomehm-
sten Bömischen Geistlichen versteht. Diese regieren auch zu-
gleich mit dem Kaiser, so dass er ohne sie nichts Wichtiges
anordnen kann. So verwirrt waren die Vorstellungen in Folge
des Investiturstreits geworden. Man möchte diese von einem be-
stimmten Parteistandpunkt aus und zur Erreichung eines be-
wussten Zieles ersonnene Theoiie die lateinisch - klerikale nen-
nen. Sie wurde in Italien zu einer Zeit, wo die Succession
einer Beihe von deutschen Päpsten noch in frischem Anden-
ken war, au%estellt. Man sieht aber, dass Bonizo nicht rei-
ner Gregorianer war. Eine römisch-geistUche, den Kaiser und
zuletzt doch auch den Papst beschränkende und bevormun-
dende Aristokratie, wie sie Bonizo träumte, war nicht das
Ziel, das Gregor erstrebte.
Fragt man, wie Bonizo zu der seltsamen Behauptung ge-
kommen sei, dass das Römische Beich, das doch damals noch
ein so starkes und umfangreiches Beich war, im Occidente zu
Grunde gegangen sei, und das rechte Bömerreich nur in Con-
stantinopel bestehe, so ist der Grund dazu in der damaligen
Lage und in den Tendenzen seiner Partei leicht zu erkennen.
Dass einem rechten Bömischen Kaiser die höchste Gewalt in
Bom zustehe, dass ein solcher, der in Born selbst nichts ?u
sagen habe, jeder Gewalt in seiner Metropole entkleidet sei,
ein Unding sei,, war damals noch immer die herrschende An-
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 389
sieht. Darum sollte das ßömerreich im Occident untergegan-
gen sein, damit es ausser der geistlichen Aristokratie in Born
keine Autorität dort gebe. Theologisch musste diese Ansicht, wenn
man sich nicht, wie Bonizo, mit dem Fortbestande des Bömer-
reichs im Oriente beruhigen wollte, zu der Behauptung fahren,
dass also der Antichrist und das Ende der Dinge allemäch-
stens hervortreten werde, dass der Antichrist wohl schon ge-
boren sei , was denn auch der Bischof Banieri von Florenz
(zwischen 1071 und 1080) behauptete. Ihn widerlegte Bo-
nizo's und Hüdebrand's grosser Gregner, der Erzbischof und
nachherige Gegenpapst Wibert von Eavenna. Die Widerleg-
ung besteht in der Ausfahrung, dass das Bömische von den
Deutschen getragene, von dem grössten Theil Italiens aner-
kannte Beich noch in voller Kraft bestehe, dass AUes dem
Kaiser (Heinrich IV) gehorche, und dass namentlich Eom,
trotz des turbulenten Treibens der dortigen Faktionen, doch
zum grössten Theile ungetheilt, und dem Einen Kaiser unter-
worfen bleibe. Also sei der vom Apostel vorausgesagte Ab-
fall vom Bömerreiche, der der Erscheinung des Antichrist vor-
hergehen müsse, keineswegs eingetreten. ^')
Bei Bonizo's Zeitgenossen, dem kaiserlich gesinnten Bi-
schof Wältram von Naumburg, sind es naturlich die Bö-
mer, welche Karl'n als Kaiser ausgerufen und ihn durch die
Hände des Papstes Leo gekrönt haben. Sie waren nämlich,
sagt Waltram, der Gesinnung nach schon vorher von dem
Griechischen Kaiser abgefallen, da er ihnen keine rechtzeitige
nnd wirksame Hilfe gegen die Tyrannen (das sind wohl die
Longobardenkönige) leistete, und benützten nun die Gelegen-
heit, die die Herrschaft eines Weibes ihnen gerade darbot.
Altrom, als die Mutter, sagt der Bischof, schrieb der
Tochter, Neurom, den Scheidebrief, als die dortigen Kaiser
häretisch oder selbst Verfolger der katholischen Kirche wur-
den, und erwählte sich an den Gallischen und Germanischen
Völkern bessere Söhne. ^*) Also die Stadt hat Alles gethan,
390 Jahrb, der histar, Glosse der k. Akad. der Wissenschaften,
der Papst handelte, als er den widerwilligen Sari zor An-
nahme bewog, nur nach dem Willen der Stadt.
Sein Zeitgenosse, der gleichgesinnteSigebert von Qemb-
loux, der seine vielbenützte nnd lange als Autorität geltende
Chronik um das J. 1106 schrieb, stellt ebenfalls das Ereigniss
ganz als die That der Sömer hin, als deren Werkzeug der
Papst handelt. Die vorausgegangene Abkehr der Gesinnung^
die Benützung des in der Weiberherrschafb liegenden Sechts-
grundes erwähnt er wie Waltram. ^^) Ihm sind im 13. Jahr-
hundert Helinand^^) und Alberich") in ihren Chronik-
Compilationen gefolgt. Der erstere bemerkt, dass damals das
ßömische Beich von Constantinopel abgesondert worden sei.
Anders stellt sich der mit Sigebert und Waltram unge-
&hr gleichzeitige Abt Hugo von Flavigny, der sich be-
reits von der Gregorianischen Partei losgesagt, und der Ge-
genseite angeschlossen hatte, die Dinge vor. Bei ihm ist es
Karl selbst, der handelt, er nimmt den Eaisertitel an, und
weder Papst noch Eömer werden dabei erwähnt. ^*)
Der in Deutschland lebende Irische Mönch Marianus,
und sein Zeitgenosse Lambert von Hersfeld, die beide unbe>-
fangen schrieben, sagen einfach : Karl sei von den Bömem zum
Kaiser ausgerufen worden. Auch der Abt Ekkehard von
Aurach folgt in seiner Chronik (um 1106) den Lorscher und
Einhard'schen Annalen, und erwähnt daher auch die päpst-
liche Huldigung. Ist ^s Zufall oder Absicht, dass er den
Papst Karin nicht nur krönen, sondern ihn förmlich als Kai-
ser verkündigen lässt?(imperatorempronunciavit). Eigenthüm-
lich ist ihm die Annahme, zu welcher er offenbar nur durch
die Ereignisse seiner Zeit geführt worden ist: die Veranlas-
sung des Bömischen Aufruhrs gegen Papst Leo sei gewesen,
dass die Bömer sich Rechte des Kaiserthums hätten aneignen
wollen, und Leo ihnen widerstanden habe. ^^) Die Darstell-
ung Otto 's von Freisingen, der den Ekkehard vielfach be-
nützt hat, gleicht auch hier der Ekkehard'schen , nur dass sie
BöUinger: Das Kaiserthum KwiVs des Grossen. 391
kürzer ist. Wenn Ekkehard sagt : das Bömische Imperinm sei
von Constantin d. Grr. bis dahin bei den Kaisern der Griechen
geblieben, jetzt aber anf die frankischen Kaiser durch Karl
übergegangen, so setzt Otto dafür: in Constantinopel sei es ge-
wesen, und nun auf die Franken (also auf die Nation) über-
gegangen. *®) Sein Zeitgenosse, der Mönch von Weingar-
ten (um 1188), gebraucht, einer der ersten, das Wort: Trans-
lation, ohne jedoch dem Papste die üebertragung zuzuschrei-
ben, und geht weiter als Ekkehard und Otto: in Constantino-
pel, sagt er, ist nur ein „Regnum", eine Herrschaft mit dem
blossen Namen des Imperiums geblieben.*^) Auch in den
Strassburger Annalen, in der freilich spätem Compilation, die
Urstisius hat**), sind es die Römer, welche dem schon welt-
berühmt gewordenen Karl das „mächtigste Römerreich, nebst
dem Rechte den Papst zu ernennen, übertragen'*.
Die Vorstellung, dass es der Papst gewesen sei, welcher
vermöge seiner Machtfiille das Kaiserthum in Rom wieder auf-
gerichtet und an Karl verliehen habe, ist vor der Decretale
von Innocenz III doch nur ein paarma^l zur Sprache gekommen.
Zuerst bei dem Bischöfe Wido vonFerrara um 1080, der, als
Anwalt Gregorys VII, zur Rechtfertigung des von diesem Papste
gegen Heinrich IV gethanen Schrittes auf zwei Fabeln sich
beruft : erstens : schon Papst Xistus habe die Kaiser. Valenti-
nian und Honorius excommunicirt und der Kaiserwürde ent-
setzt. Zweitens : Papst Stephan habe Karl nach Rom geführt,
habe den König Desiderius abgesetzt und Karl dann zum Kai-
ser gemacht. *^) Wido glaubte diese Dioge wohl selbst nicht,
hatte sie aber von Gregorianern, scheint es, gehört, und führte
sie an, seinem Standpunkte gemäss, das Für und Wider in
dem grossen Kampfe unparteiisch darzustellen.
Ei'nstlicher war die Aeusserung des Bischofs Arnulf von
Lisieux gemeint, als er vor der Synode zu Tours im J. 1163
erklärte: der Kaiser habe eine ganz besondere Verpflichtung^
392 Jahrb. der hUtar. Oane dar k. Akad. der WU9emxkaftem.
die Kirche als Herrin aiiziieifcaiiie&« dam nach dem Zeug-
nisse f^ter Geschichten^^ hätten sdne Vorgänger das Reich
einzig dnrch die Gnade der Bdmisdien Kirche empfangen,
könnten also anch nur so riel Eecht sich beilegen, als die
Gunst des Verieihers ihnen übertragen habe. *^) Arnulf hatte
kanonisches Recht in Italien studirt, und die seit kurzem dort
aufgekomm^e Theorie sich angeeignet, wie sie erst zwei Jahre
vorher der Cardinal Roland vor den erstaunten Deutschen an-
gedeutet hatte, derselbe Roland, der jetzt als Papst Alexan-
der m auf der Synode den Vorsitz führte. Es war die Zeit
der Erbitterung, wie sie damals von Franzosen und Englän-
dern über das eigenmächtige und selbstsüchtige Verfahren des
Deutschen Kaisers mit dem päpstlichen Stuhle empfunden
wurde, und man ergriff im Westen begierig Alles, was sich
als Waffe gegen die Ansprüche Friedrich's darbot. Doch
währte es noch geraume Zeit, bis diese Theorie, die in Rom
und Bologna von dortigen Juristen erdacht worden war, auch
in die Geschichtsbücher eindrang.
Man siebt, dass, wenn schon der Investiturstreit nicht
ohne Einfluss auf die historische Darstellung geblieben war,
diess seit der Mitte des zwölften Jahrhunderte bei den Bewe-
gungen und Ansprüchen, die nun in Rom erwachten, und den
entgegengesetzten, die von kaiserlicher und deutscher Seite sich
geltend machten, noch mehr der Fall sein musste. Arnold
von Brescia hatte den Römern nicht nur Freiheit von der
weltlichen Papstmacht, sondern auch ihr angestammtes, unver-
äusserliches Recht auf das Kaiserthum und die Kaiserwabi mit
Erfolg gepredigt. Der Amoldist Wetzel hatte dem deut-
schen Könige geschrieben : Das Kaiserthum und der Kaiser ge-
höre den Römern, nicht aber die Römer dem Kaiser. *5)
Andrerseits hatte ein Cardinal und Legat vor dem Kaiser
und den deutschen Fürsten das Wort fallen lassen: „Von
wem anders, als vom Papste hat der Kaiser das Imperium?''
Die Namen Karl's und Leo's sind in den damaligen Akten-
DoHinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 393
stücken, so viel ich sehe, nicht genannt ivorden, aber die
Chroniken blieben nicht unberührt von der Streit&age.
Der Erzbischof Eomuald von Salemo (um 1180) be-
gnügt sich noch, den fränkischen Annalen genau und unbe-
fangen nachzuerzählen.^^) Aber seine Zeitgenossen, Sicard
Bischof von Cremona *^), und der deutsche in Viterbo lebende
Priester Gottfried**), der erstere wohl durch den letzteren
verleitet, haben das Ereigniss mit tendenziösen Fabeln ver-
brämt. Man erkennt leicht, dass die damals wieder stärker
hervorgetretenen Ansprüche der byzantinischen Kaiser, der Ver-
such des Kaisers Manuel, das abendländische Kaiserthum durch
den Papst mit dem Griechischen wieder zu vereiijiigen , hier
von Einfluss gewesen sind. Karl, heisst es hier, beschliesst
die Weltkrone an sich zu nehmen, und vom Papste sich
salben zu lassen. Das Komische Volk unterwirft sich ihm.
Aber er meint, noch nicht rechter Kaiser zu sein, so lange
der Kaiser zu Neurom das Kaiserthum ihm nicht abtritt, und
rüstet sich, das Griechische Keich anzugreifen. Der dortige
Kaiser aber, erschreckt, schliesst mit Karl einen ewigen Frie-
den und einen Bund wechselseitiger Vertheidigung und Ge-
währung des Brudemamens, so dass der Griechische Kaiser
den Orient und Constantinopel, Karl und sein Nachfolger Bom
und den Occident besitzen sollen, worauf Karl über Constan-
tinopel nach Jerusalem, und von dort über Calabrien und Apu-
lien wieder nach Bom zieht. *^) Also die vollste dem occi-
dentalischen Kaiserthume von Byzantinischer Seite gezollte
Anerkennung in Geschichte gekleidet.
Ganz anders die drei Engländer, Simeon Mönch in
Durham (um 1130), Orderic Vitalis Mönch in der Nor-
mandie (um 1140), und Gervasius von Tilbury am Hofe
des Kaisers Otto in Deutschland (um 1210). Alle drei kom-
men überein, dass Karl durch ein Eömisches Plebiscit zum
Kaiser erwählt worden sei. Bei Simeon ist es das gesammte
Eömische Volk, welches ihm die Würde eines Kaisers des
394 Jährb, der histor. Classe der h, Äkad, der Wissenschaften,
ganzen Erdkreises überträgt; der Papst aber legt ihm den
Purpur an und drückt ihm den Scepter in die Hand. ^®) Or-
deric und Gervasius lassen Papst und Yolk gemeinschaftlich
die Wahl treffen. Bei Orderic fassen Papst, Senat und Volk
in ausfohrUcher Berathung über die Lage der BespubUca den
Beschluss, das Joch der Byzantinischen Kaiser abzuwerfen;
denn diese Kaiser waren bald häretisch, bald nicht rechtmäs-
sig vom Volke gewählt, sondern hatten den Thron durdi
Mord des Vorgängers oder ihrer Veoi^andten usurpirt, auch
vermochten sie die Hälfte des Beiches nicht gegen die Barba-
ren zu schirmen.'^) Gervasius beruft sich, gleich den Zeit-
genossen Karl's, auf die durch Weiberherrschaft eingetretene
Erledigung des Throns, damit sei aber, meint er, das Kömi-
sche Eeich in eine arge Verwirrung gerathen, da zwei Herr-
scher den gleichen Titel führten, und ihre Macht durch die
Theilung geschwächt sei. Da er als Beamter des durch In-
nocenz III erhobenen Kaisers Otto schon ganz unter dem Ein-
flüsse der in Eom recipiiten Theorie steht, so schildert er da-
bei, in welch einer besseren Lage der Griechische Kaiser sich
befinde, der seine Würde und ungetheilte Machtfülle nur von
Gott habe, während der abendländische sie nur als eine Gabe
des Papstes hinnehmen und betrachten müsse, und nicht ein-
mal die kaiserlichen Insignien bei seiner Krönung empfange,
die der Papst für sich behalte. Dieses Unheil hat, wie Ger-
vasius beifügt, die Constantinisehe Schenkung verschuldet.**)
Von der Anerkennung des Griechischen Kaisers sagt Ger-
vasius nichts, wogegen Orderic gleich den meisten Chronisten
den Nikephorus sofort mit Karl Friede schliessen lässt, Simeon
aber, um die Sache noch anschaulicher zu machen, zugleich
mit der Krönung eine Gesandtschaft aus Constantiuopel in Eom
eintreffen lässt, welche Karl'n förmlich bittet, er möge ihr
Beich übernehmen.
Zwei andere Englische Chronisten, beide dem Ende des
zwölften Jahrh. angehörig, Eoger de Hoveden®*) und
DöUinger: Das Kaiserthum KwrVs des Grossen, 395
Eadulf de Diceto'*), berichte gleichfells die Erhebung
KarFs als die That des Bömischen Senats oder Volkes, in
dessen Auftrag der Papst die Geremonie verrichtet hat. Auch
in der Chronik Kichard's von Poitiers, Mönches zu Cluny
um 1160, ist Karl von dem Papste und di»m ganzen. Volke
als Kaiser eingesetzt worden. '^) Das Orientalische Beich,
sagt Bichard, war &st auf nichts heral^ekommen , nur den
Namen des Kaiserthums hatte man noch in Byzanz bewahrt ;
da richtete Karl dajs abendländische Imperium auf. — Die
Chronik von Tours, verfasst im Beginne des 13. Jahrh.
von einem dortigen Kanonikus, gibt, den fränkischen Annalen
sich anschliessend, die Krönung, die Adoration des Papstes
4md das üebrige, und fügt nur die Bemerkung bei: von da
an hätten die Kaiser zu Constantinopel nur noch Kaiser der
Griechen geheissen. '^)
Ganz vereinzelt steht der, freilich erst der zweiten Hälfte
des 14. Jahrh. angehörige dritte Chronist der Belgischen
Abtei S. Tron. Er pflegt sonst dem Sigebert nachzuschrei-
ben, hat aber über das Ereigniss des J. 800 seine eignen An-
sichten. Karl hat nämlich, wie er weiss, die Irene des Kai-
serthums entsetzt, dann haben sie die Bömer verbannt, und
das Bömische Imperium von, Constantinopel wieder losreissend
sich in Karl wieder einen Kaiser gegeben. ^^)
In Italien stützten sich seit dem 13. Jahrh. die Theorien
der Weifen sowohl als der Gibellinen auf den Wahlakt, wel-
chen das Bömische Volk durch Karl's Erhebung zur Kaiser-
würde vollzogen habe. Dante und die Gibellinen mit ihm
wissen nicht anders, als dass damals die Weltmonarchie
von der rechtmässigen durch göttliche Verleihung in den Be-
sitz derselben gekommenen Autorität, dem Bömischen Volk,
frei und direkt auf Karl und sein« kaiserlichen Nachfolger
übertragen worden sei, während die Guelfen meinten: das Bö-
mische Volk habe durch die Vermittlung des hiezu von ihm
delegirten Papstes das Wahlrecht den deutschen Fürsten über-
396 Jahrb. der hisior, Glosse der k, Akad. der Wissenschaften.
geben. Wenn man die Autorität des Papstes oder des Vol-
kes hierin läugne, sagt Matteo Villani, so bleibe die kai-
serliche Macht blosse Thatsache, Becht der Grewalt ohne recht-
liche Orundlage.
Der Florentiner Giovanni Villani weiss den formell
wohlgeordneten Hergang anschaulich zu machen: der Papst
hält mit seinen Gardinälen ein Concilium, auf welchem gemäss
dem Willen der Bömer das Imperium Bom's den Griechen ab-
genommen, und Karl seiner Tugenden wegen zum Kaiser er-
wählt wird , so dass nun auch der Griechische Kaiser seiner
„Signoria" unterstellt ist.
Indess war um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts jener
öfter schon bemerkte Verfall des historischen Sinnes und geschicht-
lichen Verständnisses eingetreten, -der sich denn auch in der Be-
handlung der Geschichte Karl's und der An&nge des Kaiser-
thums äusserte. Das Ereigniss in Bom ward nun immer mehr
entweder als unbedeutend oder unverstanden übergangen , oder
es ward phantastisch ausgeschmückt, oder in bestimmter Ten-
deij? verzerrt.
Auffallend ist es, dass gleich die umfassendste historische
Compüation jener Zeit, der Geschieht- Spiegel des Vincenz
von Beauvais die Aufrichtung des Kaiserthums nicht einmal
erwähnt. Nur mit Sigebert's Worten wird kurzweg gesagt,
Karl sei erster fränkischer Kaiser gewesen; um so ausführ-
licher werden die Sagen aus dem Karolingischen Dichtungs-
kreise als Geschichte erzählt. Scheinbar ebenso gedankenlos,
in der That aber nicht ohne Absicht, verfährt Martinus
Polonus. Sowohl in dem Artikel über Karl als in dem über
Leo wird der Vorgang zu Bom verschwiegen. Bei ihm hat
dieses Verschweigen einen ähnlichen Grund wie bei Bonizo.
Und doch wurde seine Schrift das Lieblingsbuch, das klas-
sische Geschichtscompendium für den Klerus des 14. und 15.
Jahrhunderts.
Bicobald von Ferrara (um 1312) hat gleichfalls sein
DÖÜinger: Das KaiserÜhum KarVa des Grossen, 397
System. '^) Das Bömiscbe Beich ist als viertes Weltreich auf
das Assyrische, Griechisch-Macedonische und das Carthagische
gefolgt. Um die Barbaren des Orients besser abwehren zu
können, haben die Kaiser ihren Sitz in die Thracische Stadt
Gonstantinopel verlegt. Da sie aber den von den Longobarr
den bedrängten Bömern keinen Beistand geleistet, so haben
diese mit Zustimmung des Kaisers Gonstantin (diess wird zwai-
mal versichert) und durch die Handreichung des Papstes daa
Beich getheilt, und sich im Beiche des Occidents , welches das
Beich der Bömer heisst, einen Kaiser geschaffen. Dieses oo*
cidentalische Beich ist nun das vornehmere, denn das Bömiscbe
Volk und der Senat haben es aufgerichtet; der Kaiser stutzt
sich also auf die Autorität des Bömischen Volkes, des Senates
und des Papstes.
So ohngeföhr, nur päpstlicher gefärbt, lautet auch die
Ansicht des Brescianer Arztes Malvezzi, der ein Jahrhun-
dert später (um 1412) seine Chronik schrieb. Da die Lebens-
kraft des Bömischen Kaiserthums unter Nikephorus verdorrt
war, Karl aber die Bechte des Papstes und die Stadt Bom
wiederhergestellt hatte, theUten die Bömer das Beich und
schufen einen westlichen Kaiser, damit der Papst durch das
Schwert desselben häufige feindliche Anfälle abzuwehren im
Stande wäre. '^)
Von entscheidendem Einflüsse auf die Mehrzahl der spä-
teren Chronographen, vom 13. Jahrhundert bis in's 16. hinein,
wurde die berühmte Decretale des Paptes Innocenz III. Da-
durch, dass sie aus der Instruction für seine Legaten vom J.
1201 später in die Decretalensammlung überging, verhalf sie
der zum erstenmale von ihr bestimmt ausgesprochenen päpst-
lich-theologischen Ansicht für geraume Zeit zum Siege.
Der Papst baute hier alle seine über das Beich, die
deutsche Königs wähl und das Kaiserthum in Anspruch genom-
menen Befugnisse auf die angebliche Thatsache, dass der päpst-
liche Stuhl das Imperium von den Griechen auf die Deutschen
398 Jahrb. der histar, Claaat der k, Äkad. der Wissenschaften.
in der Person EarFs überkagen habe. Schon im J. 12Q0
hatte er in der Instruction an den Eärzbischof Eonradf von
Mainz erklärt ^^), es sei bebannt, dass das Eaiserthum ver-
zugsweise und vermög«> des entscheidenden Fromotionsaktes^
nämlich der päpstlichen Bandauflegung^^), der päpstlichen
Yerfögung unterstehe ^ da es* durch den Papst und wegen des
Papstes r zu dessen Yertheidigung nämlich, aus Griechenland
transfi»:^ wordlen sei.
So lange die Denkschrift dieses Papstes noch nicht Be-
standtheil der Dekretalensammlung geworden war, übte sie
auf die geschichtliehen Darstellungen, so viel ich sehe, noch
keinen Einfluss.
Erst nach der Mittle des 13. Js^hunderts, und bes(mders
seitdem sie in der Glossa ordinaria des Bernhard von Parma
(um 1260) commenthrt worden war, dient sie den Chrono-
graphen und denen, die im päpstlichen Sinne die Beziehungen
zwischen Kaiserthum und Psi^pstthum erörtern, als Autorität
und Markstein.
Unter dem mächtigen Einflüsse der Glosse muaste
nun die Geschichte geändert die Translation in eine viel
Mhere Zeit, als das Jahr 800 versetzt werden. Der Glos-
sator sagt nämlicb: „Man liest in den Chroniken, dass
die römische Kirche, von Aistulf bedrückt. Hülfe von den Kai-
sern Constantin und Leo in Constantinopel begehrte, und da
diese sie nicht leisten wollten, so übertrug Papst Stephan 11
im J. 766 (soll wohl 756 heissen) das Kaiserthum auf Karl
Pipin's Sohn; und 15 Jahre später (also im J. 781) wurde
er von Leo III gekrönt.*'
Wenn diese Glosse von Bemard von Parma herrührt, so
ist sie wohl um die Jahre 1260 bis 1265 geschrieben worden,
ich weiss aber keine „Chronik" anzugeben, aus welcher er diese
merkwürdige Geschichtsumstellung geschöpft haben könnte.
Sie ist sicher nicht von einem einfachen, unbefangenen Chro-
nisten erfunden worden, sondern von einem Juristen, welcher
Doüinger: Das Kaiserthum KarVa des Grossen. 399
der neuen Translationstlieorie damit zu Hilfe kommen wollte.
Alle Historiker, die ich kenne, haben, wie mir scheint, nur
durch die Autorität der Glosse in Verbindung mit der Dekretale
sich bestimmen lassen, die Tnmslation dem Papste Stephan
zuzuweisen, und in das Jahr 765, oder vielmehr 756, zu ver-
setzen.
Es handelte sich nämlich darum, einen den damaligen
Vorstellungen entsprechenden Bechtsgrund au&ufind^, der dem
Papst bestimmt haben könnte, einen so beispiellosen Akt obeiv
ster Machtfölle, als welchen die Uebertragung des Kadserthums
sich darstellte, zu vollbringen. Innocenz glaubte, wie man aus
seinen Schriften sieht, an die Constanünische Schenkung , und
sein Vorgänger Leo IX hatte bereits im Jahre 1054 in seinem
doctrinellen Sendschreiben an den Patriarchen Michael von
Gonstantinopel^^) erklärt, Constantin der Grosse habe vorlängst
dem Silvester und allen folgenden Päpsten Alles gegeben,
was er vorher von Gott empfangen, nämlich die kaiserliche
Gewalt und Würde nebst den Insignien, so dass der Bömische
Stuhl das irdische Imperium so gut besitze, wie das himmlische*
Ob Leo wirklich meinte^ Constantin habe abgedankt, und den
Papst statt seiner zum Universalkaiser des Orients und Ocd-
dents eingesetzt, ist nicht klar. Sicher leitete er das Becht,
über das Kaiserthum, das doch hiemit nur ein päpstliches
Lehen sein konnte, zu verfügen, und es zu transferiren, aus
der Gonstantinischen Schenkung ab. Ob dies aber auch Inno-
cenz gethan habe, ist weniger gewiss. Wenigstens hat er
nachher bei der Errichtung des lateinischen Kaiserthums zu
Constantinopel kein besonderes Becht des päpstlichen Stuhles
in Anspruch genommen, sondern nur seine Ereuder darüber ge-
äussert, dass das Imperium von Constantinopel von Schis-
matikern auf katholische, von den Griechen auf die Lateiner
übergegangen sei.^') Innocenz nahm aber bezüglich des römi-
schen Beichs nicht etwa eine WiederauMchtung eines occidenta-
lischen Kaiserthums an — die Berechtigung dazu hätte wohl aus
400 Jahrb, der hisiar. Claaae der k. Ahnd, der Wissenschaften,
der Coüstantinischen Schenkung znr Noth abgeleitet werden
mögen — sondern eine Translation des Einen und untheilbaren
Bömerreiches von den Griechen auf die Germanen. Eine solche
Beraubung der Griechen, ein solches H^auswerfen eines gros-
sen Volkes und Beiches aus einem vielhundertjährigen legiti-
men Besitze konnte doch nur durch sehr gewichtige, zwingende
Beweggründe gerechtfertigt erscheinen. Zudem hätte dann die
Folgerung sich ergeben, dass die früheren Päpste, wenn sie der
Schenkung Gonstantin's zu Gunsten des neuen Eaiserthums
wieder entsagt hätten, auch die Herrschaft über Bom eigent-
lich an den Kaiser wieder abgetreten haben würden, und das wäre
doch ftbr die Kurie höchst bedenklich gewesen. Es musste
also ein anderer Bechtsgrundsatz gefunden werden. Innocenz
hatte zuerst den weittragenden und folgenreichen Grundsatz
aufgestellt, dass, wo immer sich's um eine Sünde handle, oder
in einem Streithandel dem einen Theil eine Sünde vorgeworfen
werde, der päpstliche Stuhl zu verfugen habe. Das hätte nun
allenfalls auf die durch Irene verhängte Blendung ihres Sohnes^
des Kaisers, angewendet werden können, aber man fühlte doch,
dass diess nicht hinreiche, um die bleibende Spoliation der
Griechen, die Translation des Kaiserthums zu motiviren. Nur
das schwerste Vergehen, Abfall vom Glauben, Häresie konnte
eine solche Massregel zur Folge gehabt haben. Demnach wurde
die Translation in die Zeit des bilderstürm^den Kaisers Con-
stantin Kopronymus hinaufgerückt. Damit, dass sie schon
30 oder 34 Jahre früher geschehen, erschien denn auch das
kaiserliche Becht auf die Obergewalt in Bom als mindestens
sehr zweifelhaft, denn dann hatte das Kaiserthum mehrere
Decennien ohne ein solches Becht bestanden.
So ist denn der päpstliche Pönitentiar und Kaplan
Marti nus Polonus gegen Ausgang des 13. Jahrhunderts,
wohl der erste, der den Papst Stephan II im letzten Jahre
seines Pontifikats die Translation des Kaiserthum's auf die
Person des Königs Karl vornehmen lässt. Das wäre im J. 755
DöUinger: Das Kaiserthum Ka/rVs des Grossen, 401
oder 756 gewesen. Von der Kaiserkrönung im J. 800 weiss
Martinus, wie schon bemerkt, nichts. Er verweist auf die
Decretale von Innocenz**), was von nun an regehnässig ge-
schieht Wie Gottfried von Viterbo schon geäussert hatte, dass
eigentlich jedes Geschichtswerk dem päpstlichen Stuhle erst zur
Prüfung vorgekgt werden sollte, so scheint man seit Anfang
des 14. Jahrhunderts häufig es als etwas Selbstverständliches
angesehen zu haben, dass wenn eine wichtige geschichtliche
Thatsache einmal in einem päpstlichen Dokumente ihre be-
stimmte Fassung empfangen hätte, die Historiker sich daran
zu halten hätten. Jedenfalls geschah es in dem vorliegenden
Falle. Gleich die folgenden Verfasser von Papstgeschichten:
Bernard Guidonis, Leo vonOrvieto beriefen sich auf
die Decretale und gedachten der Translation als einer That
Stephans. Bei Tolomeo von Lucca (um 1312) bemerkt
man den Conflict des besseren Wissens mit der in seinem
Kreise herrschenden und für allein correct geltenden Ansicht.
Er erzählt die Kaiserkrönung nach den älteren Quellen, ver-
schweigt aber die Adoration des Paptes, dio^ man sich damals
nicht mehr als mö^ch denken konnte. Die auf Karl's Ver-
langen unternommene Seise des Papstes nach Mantua und von
da an Karl's Hoflager wird so dargestellt, dass die Abhängig-
keit des Papstes nicht auffällt; Leo benützt nur die Gelegen-
heit, um sich des kaiserlichen Beistandes gegen scdne römi-
schen Feinde zu versichern, und Tolomeo hat in „andern Ge-
schichtsbüchern" gefunden, dass der Kaiser ihm nicht bloss, wie
die fränkischen Annalen sagen, das Geleite auf der Bückreise
durch Bayern bis nach Eavenna habe geben lassen, sondern
dass er ihn in eigner Person von Kheims bis nach Rom ge-
leitet habe, so dass er seine Leser erinnern kann, die Devotion
des Kaisers hier zu beachten. Gleich nachher indess, bei der
Erzählung, wie Karl seinem Sohne Ludwig das Kaiserthum
verliehen habe, mahnt ihn doch wieder sein historisches Ge-
wissen, und er fügt bei: Karl möge diess vielleicht unter Au-
26
402 Jahrb. der histor, Glosse der k. Akad . der Wissenschaften,
torität des Papstes gethan haben, aber an^zeiclmet sei das
nicht **)
Was nun aber die Translation, diese Fundamentalthat-
sache des neuen Staatsrechts, betrifft, so weiss Tolomeo sich
zu helfen. Es ist richtig, sagt er, dass, wie die Glosse zur
Decretale behauptet, die Translation des Kaiserthums wegen
der böswilligen Häresie der Kaiser Leo und Cionstantin Ko-
pronymus erfolgt ist, also durch den Papst Stephan; aber er
hat sie nur beschlossen, definirt, erst unter Karl ist dem Im-
perium der Griechen durch die Anordnung der Kirche ein
Ende gemacht worden. Viele lassen sich daher, fagt er hin-
zu, durch Bernhardts Glosse irre führen. Ihm selbst kommt
kein Bedenken darüber, dass nach seiner Theorie die Trans-
lation gegen häretische Kaiser blos angeordnet, gegen recht-
gläubige aber vierzig und einige Jahre später vollzogen wor-
den sei.**)
Die Vorstellung der Translation durch den Papst war nun
praktisch höchst bedeutsam geworden. Sie sollte als Unterlage für
das Deutsch - Italiänische , für das ganze Europäische Staats-
recht dienen. Es ist lehrreich, zu beachten , wie diess auf die
geschichtliche Darstellung einwirkte, und wie die staatsrecht-
liche Literatur, die sich seit dem 14. Jahrhundert entwickelte,
die Sache sich zurechtlegte und sie auszubeuten suchte.
Der erste deutsche Fürst , der die Translationsdoctrin förm- j
lieh anerkannte, war Budolf von Habsburg im J. 1279. *7) |
In dem Schreiben an Papst Nikolaus III, in welchem er die- '
sem das ganze Gebiet des Kirchenstaates von Eadicofani bis ^
Ceperano bestätigte, erklärte er : die Deutschen seien der Römi-
schen Kirche zu immerwährendem Danke verpflichtet, denn sie
habe, mit Segnungen zuvorkommend, durch Uebertragung des
Imperium von den Griechen auf die Deutschen sie zu dem ge-
macht, was sie seien.**) Nach solchem Vorgang trug denn
auch König Albrecht im J. 1303, als er sich die Gunst
und den Beistand des Papstes Bonifacius VIH gegen die deut-
'
I
DöUinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen, 403
sehen Erzbisehöfe erwerben wollte, kein Bedenken, anzuerken-
nen, dass das Bömische Beich durch den päpstlichen Stuhl
von den Griechen auf die Deutschen übertragen worden sei. **)
Mit dieser Uebertragung wurde, schon von Albrecht und seit-
dem immer, gleich auch die Yersicheruug verbunden , dass der
Papst es auch sei, der das Recht der Kaiserwahl einigen deut-
schen Fürsten verliehen habe. Gleich in der im J. 1314 er-
lassenen Constitution, worin Clemens Y erklärte, dass der Eid,
den die Kaiser dem Papste zu schwören pflegten, allerdings
ein Treueid (er meint: Vasalleneid) sei, wird diese Be-
hauptung auf die zwei Thatsachen gestützt: die Translation
von den Griechen auf die Deutschen und die Verleihung des
Wahlrechts an die ^Fürsten.*®) In gleichem Sinne verwerthete
einige Jahre nachher Papst Johann XXII die Translation des
Imperium in seinem Processverfahren gegen Kaiser Ludwig. ^^)
In Frankreich wusste man, als die Päpste französisch ge-
worden waren, die Tragweite der Translations-Theorie sehr wohl
zu würdigen. Peter Dubois, einer der Publicisten Philipp's
des Schönen, zeigt dem Könige in einer Denkschrift des Jah-
res 1308, wie leicht er für sich und seine Erben jetzt das
Kaiserthum mit Allem was daran hänge, erwerben könne. Der
Papst, (der ja dem Könige völlig ergeben war), dürfe den ver-
sammelten deutschen Fürsten nur sagen: Das Kaiserthum ist
in Karl's Person von den Griechen auf die Deutschen über-
tragen, und euch das Wahlrecht gegeben worden, weil der
Kaiser zu Constantinopel , obgleich mehrfach gemahnt, die
Kirche zu vertheidigen versäumt hat. Jhr habt aber durch
die Wahl kirchenfeindlicher Kaiser dieses Eecht zu verlieren
verdient, und ich könnte es euch entziehen; wählt also den
ich euch bezeichne u. s. w. ^^) Es ist bekannt, dass damals
des Königs Bruder Karl von Valois nach Phiüpp's auf des
Papstes Ergebenheit gebauten Plane deutscher König und Kai-
ser werden sollte) ^^. Die Sache ist hier nicht weiter zu ver-
26*
404 Jahrb. der histor. Classe der k. Äkad. der Wissemehaften.
folgea. Für die Pnblicisten jener Zeit und der folgenden,
Italiäner, Franzosen, Deutsche, wurde jedoch die Translation
eine der wichtigsten Fragen; sie haben sie in eigenen Schrif-
ten historisch und juristisdi besprochen. Erst hat der Kano-
nikus Jordan von Osnabrück ^^) in der Zeit zwischen
12^0 und 1280, dann um 1290 der Kanonikus Baoul de
Coloumelle zu Chartres ach damit befasst.*^*^) Um d. J. 1330
folgte die gleichartige Schrift des Minoriten Marsilius von
Padua, der im Interesse Kaiser Ludwig's schrieb ^^); etwas
qoftter Lupoid von Babenburg, Bischof von Bamberg (1353
bis 1363).^^) Die Thatsachen kennen sie nur aus den ge-
trübten und fabelhaft gewordenen Chroniken der späteren Zeit,
viHsüglich Bichard von Cluny, Martin Polonus und
älmlichen, und es ist schon bezeichnend, dass der Deutsehe
Jordan Karl den Grossen bereits zu einem Blutsverwandten
des Griechischen Kaisers macht, und dann behauptet, er sei
aus Griechischem, Bömischem und Germanischem Stamme in
gerader Linie (d. h. also wohl von den alten Kaisem und
Königen) entsprossen gewesen. So dass also der Papst das
Kaiserthum nur auf einen andern Zweig des kaiserlichen Hau-
ses übertrug. Bei der Ansicht, dass die Translation wegen
der Bilderketzerei und wegen versagter Hufe geschehen sei,
bleiben sie stehen; Stephan hat sie angeordnet, Leo sie voll-
zogen. Warum Leo die vierzig Jahre früher getroffene An-
ordnung Stephan's zu einer Zeit vollzogen habe, in der die
Gründe, die Stephan bestimmt haben sollten, vorlängst weg-
gefeUen waren, wird nicht erörtert. Marsilius freilich hielt
das päpstliche Gebahren in der Sache überhaupt für unstatt-
haft und erklärte es aus herrschsüchtigen Absichten; die an-
dern aber zweifeln nicht an der Befugniss und an der Ge-
rechtigkeit des Aktes. ^®)
Die Verwirrung der Begriffe, der Antagonismus gegen die
Geschichte und gegen die wirkliche Lage der Dinge, die Ver-
legenheiten und Widersprüche, die sich aus der Theorie der
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 405
päpstUchen Translation ergaben — alles diess spiegelt sich in
dem Buche des Lupoid von Babenburg. Er fahrt an, dass
der Jurist Lauf rank (um 1220) die Translation aus der
Nichtanerkennung des Komischen Primats von Seite der Grie-
chen erklärt habe, also in einen argen Anachronismus verfal-
len sei. Er erwähnt einen andern Bechtsgelehrten Bernhar-
dus Hispanus (wahrscheinlich Bernhard von Compostella um
1219, Verfasser der dritten Dekretalen- Sammlung), der den
Griechischen Kaiser für den wahren Bömerkaiser erklärt, also
jede Translation verworfen habe. Lupoid nun hält fest an
ihr, denn das kanonische Becht (d. h. das Dekret von Inno-
cenz III) und mehrere Chroniken versichern, dass sie gesche-
hen sei; doch sieht er, dass sie nicht von Stephan, sondern
nur von Leo III herrühren kann. Nun verbindet er aber auch
noch die Idee der kaiserlichen Weltherrschaft mit der der
päpstlichen üebertragung andererseits aber will er, doch die
von den päpstlichen Theologen und Kanonisten gezogene Fol-
gerung, dass also die absolute Weltherrschaft eigentlich nur
den Päpsten zustehe, nicht gelten lassen, er geräth daher in
ein Labyrinth, aus welchem er sich durch die Annahme zu
ziehen sucht: eine Translation habe nothwendig geschehen
müssen, da die Griechischen Kaiser das Beich im Occident
preisgegeben, und namentlich den Schutz des Klerus vernach-
lässigt hätten ; während Karl alle kaiserlichen Pflichten reich-
lich erfüllte. Die Bömer, als bioser Bruchtheil des Imperiums,
hätten es nicht gekonnt, nur wenn man unter den Eömern die
Gesammtbevölkerung des Beiches verstehe, lasse sich sagen,
dass die Bömer die Translation hätten vornehmen können.
So sei denn durch einen zuiUlligen Nothstand, in Ermanglung
eines Oberen, die Aufgabe dem Papste zugefallen.
Ganz anders die etwas spätere, um 1370 verfasste, feine
und geistreiche Schrift, der Songe du Vergier, deren Ver-
fasser wahrscheinlich Philipp de Maizieres ist. *^). Un-
streitig, sagt er, stand den Bömern, als den Gründern des
406 Jahrb. der htstor, Glosse der k. Akad. der Wissenschaften.
Kaiserreichs, das Recht der Translation zn, Papst und Elems
bildeten eben nur einen Theil des Volkes von Bom, und dieses
handelte hier, denn dem Papste ziemt ein solcher Eingriff in daa
Zeitliche nicht. Die Decretale des Innocenz weiss er durch
die Erklärung zu beseitigen, dass der Papst eben nur kraft
einer vom Eömischen Volke ihm übertragenen Vollmacht ge-
handelt habe. •®)
Etwa zwanzig Jahre früher hatte der Cardinal Nikolaus
Boselli, ein Dominikaner aus Tarragona, sich mit der Eai^
serthumsfrage beschäftigt^^), und sie, wie zu erwarten, im ent-
gegengesetzten Sinne gelöst. Da der Papst, sagt er, um über
alle irdischen Mächte und Herrschaften zu verfügen, nichts
weiter als Mos einer von einem Fürsten begangenen Sünde
bedarf, so konnte Stephan im J. 756 die Translation vollgül-
tig vornehmen, denn eine Sünde, und zwar jedenfalls eine Uri-
terlassungs-Sünde, ist damals vorgekonmfien, zumal die Glosse
bezeugt, dass die Griechischen Kaiser die um jene Zeit von
Eom begehrte Hülfe nicht geleistet haben. — Die Chronisten dieser
späteren Zeit (von 1290 etwa bis 1450) stehen gewöhnlich unter
der doppelten Autorität des Martinus Polonus und der Dekre-
tale nebst der Glosse dazu. Der Presbyter Siffrid in Meis-
sen um das Ende des 13. Jahrh. hatte den Vorgang noch
durch einen Vertrag erklärt, den der Papst, die deutschen
Fürsten und die Bömer mit einander geschlossen hätten, dass
nach Besiegung der Longobarden und andrer Eeichsverwüster
das Eeich an die Teutonici übertragen werden solle, worauf
Pipin in Folge dieses Vertrags den Aistulf besiegt , Karl aber
das bedungene Imperium empfangen habe.^*) Sein Zeitgenosse,
der Minorit Martin verweist auf die päpstliche Dekretale,
gemäss welcher die Translation durch Stephan anzunehmen
sei, wiewohl er nachher, seiner älteren Quelle folgend, wieder
Alles durch Karl selbst vollbringen lässt. *^) Dem Fuldaischen
Mönche Martin (um 1378) ist sogar die Glosse eine unan-
tastbare historische Autorität;, er bemerkt: Man müsse an der
Döllinger: Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 407
Translation durch P. Stephan festhalten , denn nur so. werde
die Glosse gerettet. **). Freilich bringt er auch die nun schon
sehr beliebt und glaubhaft gewordene Fabel von dem Zuge
Karl's nach Jerusalem und den auf der Rückkehr in Con-
stantinopel empfangenen Reliquien.
Der Chronist Heinrich von Hervord (gest. 1570)^*)
erzählt das Ereigniss erst mit Ekkehard's und Sigebert's Wor-
ten, fugt aber dann bei: Karl habe mit starker Hand das
Kaiserthum von den Griechen losgerissen, und sei von Leo
unter Zustimmung und Mitwirkung der Römer gekrönt wor-
den ; damit sei das Imperium der Griechen zu Rom erloschen,
und die Weltherrschaft an die Deutschen gelangt. Alles mit
Berufung auf die bekannte Dekretale und die Glosse dazu. Die
weitere Bemerkung Heinrich's, das Reich sei also nicht mehr
bei den Griechen, wenn auch der dortige Monarch im weite-
ren Sinne Kaiser genannt werde, findet sich öfter, und in ver-
schiedener Form.
Die Annalen von Speier, um 1272 geschrieben, be-
gnügen sich mit der leichtesten Motivirung : Karl benützte eine
Krankheit des Kaisers Michael, um im Jahre 768 unter den
Päpsten Zacharias und Leo das Römische Kaiserthum zu er-
beuten. ^^) Ernster, würdiger nimmt sich die Sache in der Dar-
stellung des Jakob Twinger von Königshofen (um 1410)
aus: die Griechischeu Kaiser hatten keinen Ernst noch Sorge,
den Christenglauben und Wittwen und Waisen zu beschirmen,
zu dem stund das Reich in eines Weibes Händen; da riefen
der Papst und die Römer alle zu Karl'n, er solle Römischer
Kaiser und Mehrer des Reiches (Augustus) heissen und sein,
und solle auch das Römische Reich nicht mehr unter den
Griechen sein. Die Griechen machten doch noch auch bei
ihnen einen Kaiser, aber, sagt Twinger, ihres Kaisers Gewalt
ist gar klein wider den deutschen Kaiser, ^^j Man sieht,
Twinger bekünmiert sich weder um die Dekretale, noch um
die Glosse.
408 Jahrb, der hiator, Clasae der k. Äkad. der Wissenschaften.
Die Chronik des Abtes von S. Bertin, Johann von
Ypern^*), die Chronik des Braunschweigischen Aegidienklo-
sters^^), und die von Osnabnick^®) halten dagegen Alle an
der Uebertragung durch Stephan fest. Johann von Ypem be-
sonders zeigt die Kathlosigkeit, in welche ihn der Conflikt der
Dekretale mit seinem historischen Wissen versetzt hat. Einer-
seits berichtet er, dass die Eömer, die schon längst der Ge-
sinnung nach von dem Griechischen Eeiche abgefallen, die Ge-
legenheit der Weiberregierung benützt hätten, Karl zum Kaiser
auszurufen. Zugleich aber nöthigt ihn die Autorität des P.
Innocenz zur Behauptung: P. Stephan habe schon im letzten
Jahre seines Pontifikats das Römische Imperium von den Grie-
chen auf die Deutschen übertragen, und so sei denn der be-
reits zum Kaiser erwählte Karl mit dem Papste Leo nach
Eom gezogen, habe ihn wieder eingesetzt und darauf die Krö-
nung empfangen.
Der Mönch von Malmesbury (um 1366) sagt sogar
kurzweg: Karl der Grosse habe auf die Bitte des P. Stephan
das Reich der Römer an sich genommen. ^ ^) Inzwischen sind
aber neue Auschmückungen hinzugekommen : Wegen der Blen-
dung des letzten Griechischen Kaisers Constantin ist eine Son-
nenjBnsterniss erfolgt, so stark und so viele Tage anhaltend,
dass die Schiffe auf dem Meere ziellos umherirrten, wie der Presbyter
Andreas (um 1421)^*), die Lüneburger Chronik^*) undBern-
ard Witte ^*) berichten. Auch weiss man nun, dass Papst
Leo ein Bruder Karl's gewesen, wie der Lüneburger Chronist
in „etlichen Büchern*' gefunden hat. Wenigstens ist er, sagt
Rolewink ein Deutscher, ein Bruder des Grafen von Calw
gewesen, und so konnte man sich's erklären, wie er dazu ge-
kommen, das Kaiserthum und die Weltherrschaft auf die Deut-
schen zu übertragen, was, meinte man im 15. Jahrhundert, ein
Italiänischer Papst kaum gethan haben würde. Derselbe Role-
wink (Ende des 15. Jahrh.) erzählt denn auch: die Kirche
habe lange mit den Griechen Geduld gehabt und auf ihre
DölUnger: Bas Kaiserthum KarVa des Grossen. 409
Besserung gewartet ; da sie aber gar zu weit von der früheren
Frömmigkeit abgefallen, da seien sie „entlassen^\ und sei die
Translation mit der einmüthigen Zustimmung der Römer vor-
genommen worden.
Aber auch die national -italiänische, oder richtiger die
lateinische Ansicht von dem Ereignisse fand noch inmier ihre
Vertreter, theils in Italien, theils in Deutschland, Benve-
nuto Rambaldi von Imola (um 1350)^*), Poggio (um
1405),''«) Flavio Biondo, Sekretär des P.EugenlV, Enea
Silvio ^^) denken sich das Komische Volk als die handelnde und
entscheidende Autorität und lassen, nicht eine Translation,
sondern nur eine Theilung oder Spaltung des B.ömerreichs ein-
treten, aber so, dass, wie Bambaldi sagt, das westliche Reich
von da an allein den Namen des Römischen, das östliche aber
nunmehr den Namen des Griechenreiches führte. Auch später
noch nehmen Sabellico und Piatina das Römische Plebiscit,
das der Papst dann vollstreckt, an. Matteo Palmieri (um
1440) der Verfasser einer trockenen Chronik, ist darum zu
beachten, weil er zuerst wieder den im ganzen Mittelalter un-
bekannten Namen des Augustulus nennt, dessen Nachfolger
Karl geworden sei. Bisher hatte man nicht anders gewusst,
als dass eben mit Constantin d. Gr. die Translation des Reir
ches erfolgt sei.
Der deutsche Bischof Dietrich von Nie m will beides,
die Translation Stephans und den Römischen Volksbeschluss,
mit einander vereinigen, behauptet daher, das Volk habe Karl
schon im J. 774 als Augustus ausgerufen, und, da es sich
nicht jedesmal wegen einer besonderen Angelegenheit versam-
meln konnte, habe es seine Rechte und seine Macht auf Karl
übertragen. '^^)
Enea Silvio freilich sprach, wie in andern Dingen, so auch
in der Kaiserthumsfrage als Papst Pius II andere Ansichten
aus, als er früher gehegt hatte. In einer Rede des J. 1459,
in der er Alles, was der päpstliche Stuhl den Franken an
410 Jahrb. der histor, Glosse der h Akid. der Wissenschaften,
Gaben und Vorzügen gewährt habe, aufzählt, behauptet er:
Papst Leo habe das Kaiserthum transferirt aus Unwillen über
die Bilderfeindschaft des Kaisers Leo IV (775 — 780). Dass
schon 780 der bilderfreundliche Constantin und seine Mutter
Irene dort zurEegierung gekommen seien, also schon 16 Jahre
vor Leo's Erhebung, scheint er nicht gewusst zu haben. Wei-
ter sagt Pius: Nicht etwa ein halbirtes Eeich, wie ihr be-
hauptet, ist auf die Pranken übertragen , es sind auch nicht
zwei Keiche gebildet worden, eines der Griechen und eines der
Lateiner. Nie würden die Päpste die Absurdität begangen
haben, dem Feinde des Glaubens das Schwert zu überlassen
(dem bilderfeindlichen Kaiser nämlich). Sondern das ganze
ungetheilte Imperium ist transferirt worden, Karl aber hat das,
was er als Ganzes empfing, hierauf erst mit Irene, dann mit
Nikephorus getheilt, und nur die Hälfte für sich behalten. ^*)
Hier ist es nun freilich nicht die Sage, sondern die Theo-
rie, welche die Geschichte beherrscht hat. Aber die Macht
der volksmässigen Sage zeigt sich in der Chronik des Mai-
länders Donato Bossi (um 1480).*^) Nicht Karl, sondern
König Desiderius ist der Held, den die lombardische Volkssage
sich erkoren, dessen Geschichte sie ausgeschmückt hat. Desi-
derius besiegt in einer grossen Schlacht 300,000 Saracenen,
welche Kom und das Schloss, in dem der Papst und Karl
eingeschlossen waren, belagerten. Dafür bewilligt nun der
dankbare Papst dem Desiderius ausserordentliche Privilegien
für alle Longobarden und Italici, und kaiserliche Herrschaft in
ganz Italien. Bald darauf aber bedrängt und beraubt Desi-
derius den Papst, der nun' zu Karl flüchtet. Dieser sagt:
wenn Du mir das Reich Italien gibst, so komme ich und be-
freie die Kirche aus der Hand der Longobarden; der P^ißst
nimmt das natürlich an, und so erlangt Karl das Kaiserthum,
welches sonst dem Desiderius nicht hätte entgehen können.
Dabei wird aber doch in herkömmlicher Unterwerfung unter
DolUngei'i-Das Kaiserthum KarVs des Grossen. 411
die Dekretale die Translation auf Karl durch Papst Stephan
im J. 766 behauptet.
Auch in Deutschland kamen mitunter sehr wunderliche
Verunstaltungen zu Tage, wenn der Historiker die Verkettung
der Ereignisse, die zur Schöpfung des Kaiserthums geführt,
fasslich machen wollte. So erzählt die um 1370 geschriebene
Chronik von Hameln: Karl, im J. 800 zum Patricius er-
nannt, habe den letzten Bömischen Kaiset aus Griechenland
überwunden, worauf ihn Leo zum Kaiser consecrirt habe. Da
hätten die Eömischen Senatoren die Kaiserrechte sich zuzueig-
nen versucht, und den Papst, der ihnen entgegengetreten, ver-
stümmelt. Wegen dieses Frevels seien die Griechen in kirch-
licher Beziehung von den Kömem abgefallen, und in solchem
Schisma sei das Kaiserthum an Karl und die Pranken ge-
kommen. ® ^) Einfacher meint der Nürnberger Chronist M e is ter-
lin (um 1480). Da die Griechischen Kaiser in Constantino-
pel sich dem Wohlleben ergaben und um die Deutschen sich
nicht kümmerten, so erfolgte die Translation; erst durch P.
Stephan, dann durch Leo, endlich durch Hadrian. ®^)
Man begreift, wie bei solcher Verwirrung und Entstel-
lung der Thatsachen ein Mann wie der Cardinal Nikolaus
Cusa endlich auf die Vermuthung gerathen konnte, das ganze
Kaiserthum Kaii's des Grossen sei eine Erdichtung. Er habe,
sagt er, den Briefwechsel Karl's und Hadrian's gelesen, und
darin keine Spur von der angeblichen Translation gefunden
Karl sei wohl immer nur Patricius gewesen. ^*) Dagegen be-
ruhigte sich Cusa's Zeitgenosse, der angesehene Jurist Anto-
nio ßoselli in Padua^*), wieder bei der Annahme der im
J. 756 oder 755 erfolgten Translation ; damals sei der Grie-
chische Kaiser des Eeiches eigentlich entsetzt worden, in juri-
discher Form und wegen eines Vergehens — beharrliche Nach-
lässigkeit — wegen welches auch der Papst selbst abgesetzt
werden könnte.
Der deutsche Publicist Peter von Andlau (um 1460),
412 Jahrh, der histor. Gasse der k. Akad. der Wissenschaften.
der den ersten Yersuch eines deutschen Staatsrechtes veröffent-
lichte, kann sich auch von der Translation durch Stephan
noch nicht loswinden. Auch er hilft sich damit , dass Stephan
die Translation nur angeordnet, aber durch den Tod ereilt sie
nicht vollzogen habe. Sie geschah, weil die Kräfte der Grie-
chen fast gebrochen, die Deutschen dagegen damals stark,
thatkräftig, treu, kampflustig und mächtig, also zur Lenkung
des christlichen Imperiums vor allen Nationen geeignet waren.
Darum, und zugleich auch um dem Frankenkönige eine Dan-
kesschuld abzutragen , hat die Bömische Kirche den Griechen
das Komische Kaiserthum abgenommen und auf die höchst
edeln Deutschen übertragen. Dass in Karl Griechisches, Ko-
misches und Deutsches Blut gemischt gewesen sei, weiss auch
von Andlau, der im üebrigen ein treuer Schüler des Glossa-
tors ist. ®*)
Welche Folgerungen die Italiäner noch gegen die Mitte
des 16. Jahrhunderts aus der Translationstheorie zogen, zeigt
der Peruginische Rechtsgelehrte Bistoro Castaldo in seinem
grossen Werke über den Kaiser, das nach der Versicherung
des Verfassers zur Verherrlichung des Kaiserthums und Karl's V
geschrieben ist. „Es ist, heisst es hier, eine wahre und ka-
tholische Behauptung, dass durch die Autorität des Papstes
eine Translation aller Königreiche und des Kaiserthumes an
die Eömer, von diesen an die Griechen, von den Griechen an
die Deutschen geschehen." Das hatte schon Agostino
Trionfo im J. 1320 ausgeführt und zugleich gezeigt, worin
ihm Castaldo beistimmt, dass der Papst auch nach Belieben
das Kaiserthum auf irgend ein anderes Volk übertragen könnte.
Es wird dann weiter ausgeführt, dass alle Monarchen und
Staaten, welche dem Römischen Kaiser nicht unterthan sind,
z. B. Frankreich, Spanien, diese Exemtion nur in Folge eines
besonderen päpstlichen Privilegiums haben, dass der Papst,
wenn es ihm gefiele, auch den Kaiser ernennen könnte, wie
er allein auch ihn abzusetzen berechtigt sei. ®^)
Noten.
1) Pertz I, 97. II, 240. V., 40. 117. Regino, der 915 starb,
hat hier nur die Lorscher Annalen abgeschrieben.
2) Bei Pertz II, 223.
3) Bei Pertz II, 743.
4) Bei Bouquet. V, 321.
5) Imago mundi, bei Pertz XII, 129.
6) Summa gloria de Apostolico et Augusto, bei Pez, Thesau-
rus, n, 196.
7) Bei Pertz I, 352.
8) Bei Pertz 1, 417,
9) Bei Bouquet V, 350.
10) Ed. Gewold, Monachii 1611, p. 113.
11) Annales Marbac. Pertz XVH, 147.
12) Dem Liber ad Amicum, bei Watterich und den Libri Deere-
torum, aus denen Mai im 7. Bande seiner Nova Patrum Bibliotheca
Auszüge gegeben hat. lieber Karl P. III, p. 44«
13) Das Schreiben Wibert*s hat Lami in Florenz aus einer dor-
tigen Handschrift abdrucken lassen in seinen Novelle letterarie, 1768,
p. 771. 803. Wibert setzt noch bei: Nee ideo diminutum imperium
aestimes, vel defecisse putes, quod Pseudo sit Papa (Gregor VII).
Papam non Romanorum generalitas, sed paucorum Romanorum cu-
piditas ordinavit.
14) Im Syntagma de jurisd. imper. bei Schard., Basil. p. 2.
15) Bei Pertz Vni, 336.
16) Bei Tissier Bibl. Cisterc. VII, 102.
17) Bei Leibnit. Access, bist. 131.
18) Bei Bouquet V, 374.
19) Bei Pertz VIII, 168.
20) Eist. 5, 30, 31, in Tissier BibHoth. Cisterc. VIII, 68.
21) Leibnitii S.S. Brunsvic. I, 797.
22) Rer. German. ed. 1670, II, 77. Böhmer setzt sie in das 14.
oder 15. Jahrhundert.
23) Bei Pertz XIV, 158.
24) Bei Harduin. VI, II, 1594.
25) Bei Martene, Ampi. Coli. II, 556*.
26) Bei Muratori VII, 158.
414 Jckhrh, der histor. Glosse der h Akad, der Wissenschaften.
27) Bei Muratori Vü, 579.
28) Daselbst, VTI, 417. '
29) Bei Muratori VII, 579.
30) Monumenta Eist. Brit. Londin. 1848. I, 668. Ihm hat dann
Matthäus von Westminster p. 152 ed. Francof. 1601, nachge-
schrieben.
31) Historiae Normannor. Scriptores, p. 367.
32) Ap. Leibnit. S S. Brunsvic. I, 941.
33) Rerum Angl. Scriptores. Lond. 1596, £ 233.
34) Twysden Rer. Angl. Scriptores, p. 447. Radolf hat nur Sige-
bert abgeschrieben.
35) Bei Muratori, Antiq. Ital. IV, 1081.
36) Bei Martene, Ampi. Coli. V, 557.
37) Bei Pertz XII, 372.
38) Hist. Imperatorum, bei Muratori, IX, 112.
39) Bei Muratori XIV, 853.
40) Raynald. a. 1200. §. 27.
41) Principaliter et finaliter. Er bezeichnet die Krönung als eine
Handauflegung, um sie der von Bischöfen vorgenomiHenen Priester-
Ordination gleichstellen, und daraus dann den Schluss ziehen zu kön-
nen, dass dem Papste ebenso die Annahme oder Verwerfung des Kai-
sers zustehe, wie dem Bischöfe die Zulassung oder Zurückweisung
eines Ordinanden.
42) Bei Harduin. VI, 933.
43) Epistolae, ed. Br^quigny, p. 576.
44) Ed. Klimes, 1859. p. 94.
45) Bei Muratori, XI, 987—995.
46) Daselbst p. 975.
47) In vielen deutschen Geschichtswerken wird Adrian IV als
der Papst bezeichnet, der zuerst im J. 1159 die Translation behaup-
tet, und zwar den Papst Zacharias das Kaiserthum habe übertragen
lassen. Die einzige Quelle dafür ist Aventin, Annal. 6; 5, 10, p. 607.
der freilich ein angebliches Schreiben dieses Inhaltes wörtlich an-
fuhrt. Pütter, Specimen de instaur. Imp. Rom. p. 68, hat sich da-
durch noch irreführen lassen. Das Schreiben ist aber von Aventin,
wie so manches Andere, erdichtet. Vielmehr ist Papst Innocenz III
der erste gewesen, der die Translations-Doctrin aufgestellt hat.
48) Bei Raynald a. 1279 §. 4.
49) Bei Pertz IV, 483..
50) Clementin. 2, 9 im Corp. jur. can.
51) Bei Martene Thesaur. II, 644.