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Full text of "Monatsschrift des Wissenschaftlichen Vereins in Zürich"

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D:. Monatsschrift des wiss. Vereins soll in der bisherigen Weise 
fortgesetzt werden und die Redaction wird es sich angelegen sein las- 
sen, festhaltend an dem leitenden Gedanken des Programms der Zeit- 
schrift: „in selbstständigen Aufsätzen aus allen Gebieten der Wissen- 
schaft die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen,* die Gunst des wissenschaftlichen 
Publikums der Monatsschrift zu erhalten und zu erhöhen. 

Die Zeitschrift hat einige Probejahre bestanden und unser Stre- 
ben ist nicht ohne Erfolg und vielseitigen ermunternden Beifall geblie- 
ben. Diesen dürfen wir auch darin erkennen, dass namhafte befreun- 
dete Collegen der Universität Basel eine thatkräftige Unterstützung 


des Unternehmens freundlich zugesagt haben. 


Die Bedaction, 


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Monatssehrift 


WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS 


ZÜRICH. 


Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : 


FErDINAnD HırzıcG, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEınrıcH Frey, 


ApoLFr ScHamipr, HEINRICH SCHWEIZER. 


(Hauptred.: Epvarp ÖsENBRÜGGEN.) 


DELTETBB JABEGANTE: 


ZÜRICH, 


VERLAG von MEyER & ZELLER. 


1858. 


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Inhalt des dritten Sahrganges. 


Seite 

Das einfachste thierische Leben. Von FH. Frey - : 1 

Ueber das Verhältniss von Inhalt und Form in der Kunst. Von Pr. Vader 63 

August Thierry als Geschichtschreiber und Politiker. Von J. Vogel . 89 

Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. Von Ed. Osenbrüggen . 137 

Die menschliche Hand. Von Herm. Meyer 3 185 
Ueber die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz = dass 

in den Jahren 1212—1315. Von Georg v. Wyss - r 217 

Die französische Presse während des Jahres 1789. Von J. Vogel - 249 
Sanscrit, Sprachvergleichung und Professor L. Ross in Halle. Von 

H. Schweizer - 284 


Die Talion bei falscher Kake a im Yallln 1858. Var Ea. FERN 301 
Ein Beitrag zur Religionsphilosophie. (Anzeige der Schrift von Carl 
Candidus „einleitende Grundlegungen zu einem Neubau der Reli- 


gionsphilosophie“ von A. S.) s ; : : 306 
Der Klapperstein und der Lasterstein. Von Ed. Osenbrüggen - E 309 
Nilus und Aegyptus. Von A. Scheuchzer . . - : e 313 
Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz SF are Von Ed. 

Osenbrüggen - 321 


Berichte über die Sitzungen de REN Vereins 8. 85, 183, 248, 312, IH 38% 


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WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS 


ZÜRICH. 


Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : 


Apour Schuipt, HEINRICH SCHWEIZER. 


(Hauptred.: Envarn OsEnsrüscen.) 


DRITTE VARKLBArR®. 


Erstes und zweites Heft. 
(Mit einer Figuren-Tafel.) 
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ZURICH, 
VERLAG von MEYER & ZELLER. 
1858. 


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Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. = 9 Fr. 


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FErDInanD Hırzıc, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Herisrıch Frey, 


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Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- 
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, 
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- 
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter 
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, 
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. 


Inhalt des borliegenden Beftes : 


Das einfachste thierische Leben. Von H. Frey. . . ....... 041 
Ueber das Verhältniss von Inhalt und Form in der Kunst. Von Fr.. VıscHEr. 63 
Referat aus der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins. SALURe Ar Valle Fe 


Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des 
Buchhandels erbeten. 


Gegentoärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins : 


Hırzıe, Präsident. Av. Scumipr, Vieepräsident. G. v. Wyss, Sekretär. Bosrık. 
Crausıus. Derwsurg. Escher v.d.Lıntu. Feur. H.Feey. Frıtzsche. GIESsKER. 
Heer. Hınoesrand. HıLıesranD. J. J. Horttiınger. Kym. LEBErt. v. MARScHALL. 
H. Meyer. Mever-Anrens. MEYER v. Knonav. Mürzer. NÄscELı. v. ÖRELLI. 
OsENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. ALEX. SCHWEIZER. H. SCHWEIZER. STÄDELER. 
F. Vısc#er. VoLKMmAr. R. Wour. 


Druck von E. Kiesling in Zürich. 


k Das einfachste thierische Leben. 


Von H. FREY, 
(Mit einer Tafel.) 


I. 


Wenn wir mit Hülfe von Messer und Scheere die Theile oder 
Organe des menschlichen Körpers zergliedern, so erkennen wir als- 
bald, dass sie unendlich zusammengesetzt sind. Dieser verwickelte 
Bau lässt sich im Uebrigen durch die oben erwähnten groben Tren- 
nungsmittel nur bis zu einer gewissen Stufe entwirren, welche aller- 
dings nach der Geschicklichkeit des Anatomen bei dem Einen eine vor- 

© gerücktere ‚ist, ‘als bei dem Andern. Immer aber — auch für die 
geübteste Hand und das schärfste Auge — kommt eine Grenze, wo 
die Röhren und Fasern, die Läppchen oder wie sonst diese feineren 
Organgebilde genannt werden mögen, allzu klein werden, so dass die 
Messerklinge den Dienst versagt. a 

Auf dieser Stufe befand sich die ältere Anatomie, selbst noch im 
vorigen Jahrhundert unter den Händen ihrer besten und tüchtigsten 
Vertreter. Die Organe, aus höchst winzigen und zarten Formbestand- 
theilen zusammengesetzt, boten eben bei der ausserordentlichen Klein- 
heit dieser den zergliedernden Instrumenten unüberwindliche Schwie- 
rigkeiten dar. Man konnte nicht bis zu den letzten oder kleinsten 
Formelementen des menschlichen und thierischen Körpers vordringen, 
man befand sich über diese im völligen Dunkel. 

Für die Kenntniss dessen, was unser Körper leistet, für das 
Studium der Physiologie, war dieser Uebelstand von den allerschlimm- 
sten Folgen. 

Jeder Laie weiss, dass, um die Thätigkeit, die Wirkung einer 
unserer Maschinen zu begreifen, wir ihre Zusammensetzung, die Lei- 
stungen der einzelnen Stücke und ihre Beziehungen zum Ganzen ken- 
nen müssen. Ohne dieses Wissen bleibt eine Taschenuhr, eine Dampf- 
maschine durchaus unverständlich, mögen wir auch die Räder sich 
drehen, die Kolben auf und niedersteigen sehen und Anderes mehr. 


Und das unendlich verwickeltere Geschehen des menschlichen 
Wissenschaftliche Monatschrift. Il. _ 1 


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Körpers sollte erfasst werden, indem man höchtens nur im Stande 
war, die Gesammtleistung seiner Organe leidlich zu bestimmen, sich 
dagegen aber in der Unmöglichkeit befand, letztere weiter zu analy- 
siren und in ihre Einzelheiten aufzulösen ! 

Bekanntlich hat der Erfindungsgeist unseres Geschlechtes in dem 
Mikroskope ein Hülfsmittel geschaffen, welches mit grösstem Erfolge 
diese Schranke der Anatomie, ja der sämmflichen mit organischen 
Körpern sich befassenden Naturwissenschaften durchbrach, und im 
Gebiete des Kleinen eine neue Welt der vorhandenen hinzufügte, wie 
das Fernrohr des Astronomen im Reiche des Grossen, am unermess- 
lichen Himmelsraume. 

Das Mikroskop ist allerdings eine schon ziemlich alte Erfindung, 
welehe nach den vorhandenen Notizen entweder am Ende des 16ten 
oder zu Anfang des 17ten Jahrhunderts gemacht wurde, — eine Er- 
findung, um welche sich drei Nationalitäten, die Britten, Holländer 
und Italiener streiten. Soviel steht fest, im 17ten Jahrhundert wird 
es zu wissenschaftlichen Untersuchungen auf anatomischeın Gebiete be- 
nützt. Malpighi (1628— 1694) und noch mehr ein Niederländer, 
Leeuwenhoek (1632— 1723) sind die ersten einer langen Reihe von 
Forschern, welehe an der Hand des neu erfundenen Instrumentes die 
Wunder des thierischen Körpers zu erforschen suchten. 

Doch jenes war in seiner anfänglichen Construktion höchst unvoll- 
kommen, in seinem Gebrauche unsicher, eine Quelle vieler Täuschun- 
gen und Irrthümer. ;. 

Kann es uns darum Wunder nehmen, wenn in den Händen weniger 
berufener Nachfolger der Irrthum reichlicher gewonnen wurde als die 
Wahrheit und das Unkraut anfing den Saamen zu überwuchern ? 

So wird es begreiflich, dass am Ende des vorigen und zu Anfang 
des 19ten Jahrhunderts die besten Anatomen von dem trügerischen 
Werkzeuge nichts mehr wissen wollten und wie eines der grössten 
Genies, welches die Medizin in ihren Annalen aufzuzeigen hat, Bi- 
chat als er seine classische „Anatomie generale“ schuf, sich zwar 
der verschiedensten Hülfsmittel der Untersuchung bediente, nur nicht 
des mikroskopischen. Wäre es dem genialen Manne vergönnt ge- 
wesen, die gewöhnliche Grenze des menschlichen Lebens zu erreichen, 
anstatt in der vollen Kraft des jugendlichen Mannesalters zu enden, 
er hätte vielleieht noch das Glück gehabt, an der Hand des ver- 
besserten Mikroskopes sein Werk zu revidiren. 

Im Jahre 1807 oder 1811 erscheint unser Instrument zum ersten 


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Male mit achromatischen Linsen und verwandelt sich im raschen 
Strome der Verbesserungen aus einem unbequemen und unsichern zu 
einem leicht zu handhabenden und sichern Werkzeuge. 

Schnell sehen wir jene Lücke in der Analyse des menschlichen 
und Thierkörpers ausgefüllt und die letzten Formbestandtheile erkannt. 


II. 


Schon in den Kindertagen mikroskopischer Untersuchungen hatte 
man gefunden, dass Kügelchen oder Bläschen den menschlichen Körper 
zusammensetzen. In phantastischer Weise waren es für Oken Mo- 
naden, welche auf eine gewisse Zeit hin ihre Selbständigkeit aufge- 
geben hatten, um als Körperbestandtheile eine dienende Rolle zu 
spielen. Andere malten sich dieses Bild noch weiter aus und liessen, 
zum Theil in richtiger Vorahnung, durch die Gruppirungen dieser 
Kügelchen fernere Gebilde, als Fasern, Röhren hervorgehen oder ge- 
riethen auf den Vergleich der Bläschen mit den Krystallbildungen der 
unorganischen Natur. 

Allmählig wurden in einer weiter vorgeschrittenen Epoche des 
Wissens aus den Bläschen unsere Zellen. 

Zellen (Fig. 1) sind eigenthümliche, kleine bläschenartige Gebilde. 
Eine feine Haut, die Zellenmembran, umschliesst eine bald mehr flüs- 
sige bald mehr feste Inhaltsmasse, den Zelleninhalt, und in diesem 
oder an der Wand erscheint ein kleines, bald bläschenartiges bald 
solides Körperchen, der Kern, Nucleus. In letzterem endlich zeigt 
eine starke Vergrösserung häufig einfach oder mehrfach ein winziges 
punktförmiges Gebilde, das Kernkörperchen oder den Nucleolus. Die 
ganze Zelle erscheint immer, wie oben bemerkt, sehr klein. Eine 
Grösse von 1/jo, Yıs einer Pariser Linie ist eine schr bedeutende zu 
nennen, indem die Mehrzahl nur einen Durchmesser von 1/s9, Yıoo 
%/g00 erreicht und gar manche unserer Gebilde ein noch weit geringeres 
Ausmaass besitzen, so dass viele Tausende zusammengefügt, erst ein 
dem Messer‘ zugängliches Stückchen Organmasse bilden. Die Natur 
hat also hier wunderbar in das Kleine gearbeitet. 

Ein grosser Theil des reifen menschlichen Körpers ist aus solchen 
Zellen erbaut; in andern Gebilden sehen wir abweichende Formele- 
mente, Röhren, Fasern, Häutchen u. s. w. Wir durften es als eine 
der schönsten Bereicherungen unseres anatomischen Wissens be- 


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grüssen, als im Jahr 1839 ein genialer Mann, Th. Schwann,!) an der 
Hand einer minutiösen Untersuchung zeigte, dass auch diese ab- 
weichend gestalteten Formbestandtheile in frühester Lebenszeit einmal 
dasjenige gewesen sind, was andere beständig bleiben, nämlich Zellen. 
Hat auch eine folgende Zeit mancherlei an den Schwann’schen Unter- 
suchungen geändert, die Zelle als wichtigstes Bildungselement des 
Menschen- und Thierleibes blieb über allen Zweifel stehen. 

-Wir müssen uns eine solche Zelle als mit eigenthümlichen Kräften 
ausgestattet, mit einem besonderen Leben versehen denken, Die meisten 
ihrer Lebenserscheinungen sind nun meistens vegetative, Aufnahme ge- 
wisser Stoffe in das Innere und dadurch bedingtes Wachsthum, weitere 
Umarbeitung und Umänderung jener und Abgabe nach aussen. So 
wird vielfach der Zelleninhalt ein spezifischer, indem er aus Fett, aus 
Farbestoff (Pigment), aus Körnchen eiweissartiger Materie und so fort 
besteht. Unter Umständen erhärtet eine nach Aussen abgeschiedene 
Masse um die Zellenmembran in Form eines Häutehens, einer Cuti- 
eula, eine Bildung, welche im pflanzlichen Organismus schon lange 
bekannt war, dagegen erst später auch als eine Eigenthümlichkeit vieler 
thierischer Zellen dargethan wurde?). 

Markirte Bewegungserscheinungen kommen an den Zellen. unseres 
Körpers verhältnissmässig selten vor. Die auffallendste ist die soge- 
nannte Wimper- oder Flimmerbewegung. Kleine, höchst zarte 
Härchen stehen auf der freien Oberfläche von Zellen (Fig. 2 a—e) und 
bewegen sich, so lange diese unversehrt sind, in ununterbrochenem 
Wirbel. Selbst abgelöste, in wässeriger Flüssigkgit umherschwimmende 
Zellen dieser Art zeigen für eine kurze Zeit, ehe sie der Zersetzung 
anheimfallen, jenes Wimperspiel, und wälzen sich, durch den von ihren 
Härchen verursachten Wasserstrom rotirend, auf und ab, in sonder- 
barem Spiele das Bild eines mikroskopischen Thierchens nachäffend. 

Bei anderen Zellen ist Hülle und Inhalt mit einem Zusammen- 
ziehungsvermögen versehen, und das ganze Gebilde im Zustande der 
Thätigkeit verkürzt, in demjenigen der Ruhe verlängert. Es sind dieses 
die sogenannten kontraktilen Zellen der Anatomen. Sie bilden ein 
verbreitetes Gewebe des menschlichen Körpers, die glatte Muskulatur. 


') Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur 
und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1839. 


?) Kölliker, Untersuchungen zur vergleichenden Gewebelehre etc. in den 
Würzburger Verhandlungen. Band 7. 8. 1—-128. 


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Aber auch noch andere Zellen, wie eine Form der Blutbestandtheile, 
manche Drüsenzellen, Pigmentzellen etc. haben ein Stück jener Kon- 
traktilität geerbt und zeigen uns analoge, wenn gleich weniger mar- 
kirte Formveränderungen. 

Das Leben der Zellen, wie es durch diese Bewegungserschei- 
nungen auch dem skeptischsten Auge dargethan wird, bethätigt sich 
noch in einer anderen Weise, Die thierische Zelle hat nicht allein 
das Vermögen der Stoff-Aufnahme und Umwandlung, nicht blos das- 
jenige der Bewegung, sie hat auch die Fähigkeit der Vermehrung 
und Fortpflanzung; sie erzeugt ihres Gleichen. 

Diese Erzeugung der Zellen von bereits vorhandenen aus spielt 
in unserem Körper eine sehr wichtige Rolle. Doch glauben wir, dass 
sie diejenigen Forscher überschätzt haben, welche alle Zellen ausnahm- 
los von schon vorhandenen aus deren Fortpflanzungsvermögen hervor- 
gehen liessen. 

Indessen eine derartige Verschiedenheit der Meinungen ist für die 
Zwecke dieses Aufsatzes etwas Unwesentliches und kann darum hier 
übergangen werden. Viel mehr dagegen interessirt uns die Art und 
Weise, auf welche vorhandene Zellen sich vermehren und eine Nach- 
kommenschaft erzielen. 

Es sind hier dreierlei Weisen vorhanden, von welchen zwei in 
ziemlicher Ausdehnung und Verbreitung vorkommen dürften, eine dritte 
beschränkter und seltener ist. Indessen ist es schwierig, die Vorgänge 
der Zellenvermehrung richtig zu deuten, und die Meinungen gehen 
desshalb ziemlich auseinander. 

Eine Art ist diejenigederZellentheilung (Fig.3). Wir verdanken 
ihre Kenntniss für den Säugethier- und Menschenkörper den Bemühungen 
Kölliker's und ich kann nach eigenen Beobachtungent) mich nur da- 
mit einverstanden erklären. An den Blutzellen junger Embryone schnürt 
sich das centrale Körperchen, der Kern, über dieMitte ein (a) und zer- 
fällt endlich in zwei getrennte Kerne von je der halben Grösse 
des vorhandenen (b). Ist diese Trennung erfolgt, so beginnt auch 
an der Zellenmembran dieselbe furchenartige Einschnürung sich zu 
wiederholen. (e). Die ganze Zelle nimmt allmählig die Form eines 
Doppelbrodes an (d). Indem diese Einschnürung der Hülle weiter- 
geht, erscheinen zwei kleine Zellen nur durch eine schmale Brücke 


1) An den Blutzellen Junger Hirschembryone, welche mir 1848 in Göttingen 
»ur Disposition standen. 


— 6 


noch zusammenhängend. Bald trennen sie sich an dieser Stelle, so 
dass die ursprüngliche Zelle in zwei halh so grosse übergegangen 
ist, welche durch ein energisches Wachsthum zur typischen Grösse in 
kurzer Zeit gelangen. — Gewiss ist dieser Vorgang der Zellenver- 
mehrung noch weit im Thierreiche verbreitet. 

Ein zweiter Zellenvermehrungsprozess, bestehend in der Bildung 
neuer Zellen im Inneren bereits vorhandener, ist die sogenannte en- 
dogene Zellenbildung der Schriftsteller. Im Innern einer solchen 
Zelle (Fig. 4), wir nennen sie Mutterzelle, zerfällt durch einen Thei- 
lungsprozess der Kern in zwei Hälften (a), den Vorgang, welchen 
wir soeben geschildert haben, wiederholend. Bei weiterem Fortgange 
dieses Prozesses aber (b) sehen wir später jeden Kern mit einer 
besondern Zellenmembran umgeben, so dass zwei „Tochterzellen“ oder 
bei weiterem Fortgang vier (ce), in der Membran der Mutterzelle ein- 
geschlossen liegen. Diese endogene Zellenbildung, über deren Ein- 
zelnheiten wir allerdings noch nicht mit wünschenswerther Sicherheit 
aufgeklärt sind, ist im menschlichen und Thier-Körper weit verbreitet 
und von grosser Wichtigkeit. 

Noch eine dritte Art der Zellenvermehrung endlich, welche man 
erst in der neueren Zeit entdeckt hat, ist diejenige durch Knospen- 
bildung. In einer Zelle entstehen durch fortgesetzte Kerntheilung eine 
Anzahl neuer Kerne (Fig. 5). Indem sie an die innere Seite der Zellen- 
wand rücken, treiben sie diese allmählig buckelförmig oder knopfartig 
hervor, so dass Höcker mit je einem Kerne im Innern zu bemerken sind. 
Bei fortschreitender Aussackung erhalten wir kleine, einen Kern einschlies- 
sende, wie gestielte Beeren erscheinende Knospen. Es bedarf alsdann 
noch einer nur etwas weiter gehenden Abschnürung und die gestielte 
Beere löst sich als eine neue Zelle von der vorhandenen ab. 

Wir haben somit durch diese kleine Skizze eine Uebersicht der 
Bestandtheile unserer thierischen Zellen, sowie ihrer Lebenserschei- 
nungen und Fortpflanzungen gewonnen. 

Doch noch in einer anderen Hinsicht greift in das thierische 
Leben die Zelle bedeutungsvoll ein. 

Sehen wir ab von den ungeschlechtlichen Vermehrungsarten, welche 
in bunter Mannigfaltigkeit bei den einfacher gebauten oder „niedrigen“ 
'Thieren vorkommen, so ist bekamntlich allen höher stehenden Ge- 
schöpfen die geschlechtliche Fortpflanzung allein vorgezeichnet. Diese 
beruht auf dem Zusammentreffen zweier Massen, des Eies, welches die 
weibliche Gesehlechtsdrüse liefert und des Sperma’s oder Saamens, den 


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die männliche Drüse bereitet. Das Ei ist das stoffliche Material für 
den Aufbau des neuen Thierkörpers, das durch den Saamen in einen 
Strom von Bildungsvorgängen geräth, welche die Entstehung des Em- 
bryo’s bezwecken. 


Dieses Ei, dieser Ausgangspunkt des Organismus, 
ist nun wiederum eine Zelle. Aus der Eizelle gehen alle jene 
Millionen der späteren Zellen hervor, welche, organischen Bau- 
steinen vergleichbar, die Organe unseres Körpers theils bleibend, theils 
nur vorübergehend herstellen. — Die Mittel, deren sich hierzu die 
schöpferische Natur bedient, haben wir schon oben kennen gelernt. 
Im Innern des Eies entstehen neue Zellen, diese erzeugen in fort- 
gehender Reihe wiederum ihres Gleichen und so fort, bis schliesslich 
die Eihülle oder, was wohl das Gleiche bedeutet, die Zellenmembran 
des Eies ganze Schaaren von Tochterzellen umschliesst. Diese fangen 
dann an, in eigenthümlicher Weise sich zu gruppiren und bald er- 
scheint die erste Anlage des Embryo's. 


II. 


Als ein selbstverständliches Resultat unserer bisherigen Unter- 
suchung hat sich ergeben, dass der Körper des Menschen und der 
Thiere als ein Zellenkomplex betrachtet werden muss, da ja diese seine 
gröberen Werkzeuge oder seine Organe, wie der Naturforscher sich 
ausdrückt, erbauen und bilden. 


Der Gedanke muss nun nahe liegen, hält diesen Typus der 
Zusammensetzung jeder thierische Leib ein oder wird vielleicht bei der 
fortgehenden Vereinfachung der Organisation zuletzt. das einfachste 
animale Lehen in einer einzigen Zelle sein körperliches Substrat finden 
können — oder mit andern Worten, gibt es thierische Organismen, wo 
der enge Kreis von Thätigkeiten, wie sie die unselbständigen, unseren 
Körper bildenden Zellen erkennen lassen, ausreicht, ein individuelles 
Leben zu begründen ? 


Die Frage nach derartigen „einzelligen“ Thieren hat die Wissen- 
schaft vielfach bewegt und ist im Grunde genommen eine alte, ob- 
gleich das Kind nicht immer mit demselben Namen belegt wurde. In- 
dem z. B. Oken den menschlichen Körper aus Bläschen, welche er 
Monaden nennt, und die ihre Selbstständigkeit für eine Zeit aufge- 


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geben haben sollen, bestehen lässt und als dieselben Monaden die In- 
fusionsthiere deutet, beantwortet er damit unsere oben aufgeworfene 
Frage bejahend, allerdings nicht auf dem Gebiete thatsächlicher Un- 


tersuchungen, sondern in ahnender naturphilosophischer Erfassung. 


Die niedrigsten oder einfachsten thierischen Organismen hat die 
gegenwärtige Wissenschaft als eine grosse Gruppe, als einen soge- 
nannten Thierkreis der Protozoen zusammengestellt. Wir dürfen hier 
wohl auf einen frühern Aufsatz in dieser Zeitschrift verweisen. t) Unter 
den Gliedern dieses Kreises werden wir etwaige einzellige Thiere zu 
suchen haben, wenn solche überhaupt existiren sollten. 

Diesen Kreis der Protozoen lassen wir gegenwärtig aus drei 
grossen Unterabtheilungen oder Klassen bestehen, den Infusorien 
oder Aufgussthierchen, den Rhizopoden und den Gregarinen, 
von welchen die zuletzt genannte Klasse die unterste Staffel der Stufen- 
leiter einnimmt, während die Infusionsthierchen die höchste Sprosse 
behaupten und den Rhizopoden eine mittlere Stelle zukommt. 


Die Gregarinen haben unter den drei angeführten Klassen sich 
am längsten der Aufmerksamkeit der Naturforscher entzogen, was, wie 
wir alsbald sehen werden, bei ihrer Kleinheit und verborgenen Lebens- 
weise schr begreiflich ist. Das Wissen von ihnen beginnt erst mit den 
Jahren 1811 und 1815 durch Ramdohr und Gaede?), welehe in 
den Verdauungsorganen gewisser Insekten kleine mikroskopische Schma- 
rotzer antrafen. Erst nach einer beträchtlichen Pause rief sie Leon 
Dufour in das Gedächtniss der Naturforschung zurück und vereinigte 
die von ihm beobachteten Spezies in ein besonderes Genus, welches er 
Gregarina nannte). Neben einigen Angaben von Hammerschmidt *) 
aus dem folgenden Jahre haben wir besonders den Beitrag, welchen 
Siebold?) im Jahre 1839 lieferte, rühmend zu erwähnen, ebenso eine 
Arbeit von Henle aus dem Jahre 18458). 

Die grössten Verdienste aber erwarben sich um die Ergründung 


1) Band 1. 8. 87-96. 


2) Ramdohr, über die Verdauungswerkzeuge der Insekten. Halle 1811. 
und Gaede, Beiträge zur Anatomie der Insekten. 1815. (Ich kann gegenwärtig 
beide Citate nicht vergleichen.) 


®) Annales des sciences naturelles. II. Serie. T. VII. p. 10. 
#) Helminthologische Beiträge. Isis von 1838, S. 351. 
5) Beiträge zur Naturgeschichte wirbelloser Thiere. Danzig 1839. '8. 56. 
6) Müller’s Archiv von 1845. $S. 369. 


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unserer 'Protozoenklasse Steint), Kölliker?), Frantzius®) und Leidy®). 
Namentlich gebührt Ersterem der Ruhm, durch den Nachweis der Ent- 
wieklungsgeschichte zuerst die systematische Stellung der Gregarinen 
unzweifelhaft erkannt und dadurch manchen Vermuthungen und Träu- 
mereien über ihre Natur als Eingeweidewürmer ein Ende gemacht zu 
haben. Allerdings bedurften auch dann noch manche Forscher einiger 
Zeit, um die liebgewordene Helminthen-Natur der Gregarinen mit einem 
Seufzer aufzugeben. Gegenwärtig bildet sich über die glücklicher- 
weise so leicht zu untersuchende und kaum zu verkennende Organisa- 
tion unserer Geschöpfe eine erfreuliche Uebereinstimmung der Ansichten 
heraus). 

Die Gregarinen haben in Folge genauwerer Beobachtungen einen 
ziemlichen Artenreichthum erkennen lassen und daneben in ihren 
einzelnen Spezies so erhebliche Differenzen gezeigt, dass nicht mehr 
daran gedacht werden konnte, sie in den engen Schranken eines Genus 
zu umfassen. Im Gegentheil sind letzterer mehrere geworden und die 
Gregarinen bilden jetzt eine Gruppe, in unserer und mancher Forscher 
Auffassung eine Klasse. 

Ueber ihren Aufenthalt und ihr Vorkommen weiss man zur Zeit 
etwa Folgendes: 

Gerade bei denjenigen Geschöpfen, in deren Körper man sie zu- 
erst entdeckte, bei den Insekten erscheinen sie in grösster Verbreitung. 


1) Ueber die Natur der Gregarinen in Müller’s Archiv. Jahrg. 1848. S. 182. 

2) Beiträge zur Kenntniss niederer Thiere. Siebold's und Kölliker's Zeit- 
schrift I. S 1. 1848. — Frühere Angaben in Schleiden und Nägeli's Zeitschrift 
für wissenschaftliche Botanik. 1845. Heft 2, 8. 97. 

3) Observationes quaedam de gregarinis. Berolini 1848. — Später: Einige 
nachträgliche Bemerkungen über Gregarinen. Wiegmann's Archiv für Naturge- 
schichte. XIV. 1. S. 188. 

#) Leidy in den Transactions of American society at Philadelphia. 1852. 
Vol. X. p. 231; (ist mir nur aus den Jahresberichten bekannt). 

5) Die vor einigen Jahren gekommenen gegentheiligen Angaben von Bruch 
(Einige Bemerkungen über die Gregarinen in Siebold’s und Kölliker's Zeitschrift. 
I. S. 110), welcher die Gregarinen für „stillgewordene Filarien“ erklärt und 
von Leydig (Ueber Psorospermien und Gregarinen in Müllers Archiv von 1851. 8. 
221), welcher gerade umgekehrt die Gregarinen für Jugendformen gewisser fila- 
rienartiger Nematoideen nehmen möchte, scheinen, da sie ohne Bestätigung 
geblieben sind, allmählig aus der Wissenschaft zu verschwinden, Doch erklärt 
sich auch jetzt noch Leydig für die Auffassung der Gregarinen als „unentwickelter 
Thierformen.“ Siehe dessen Lehrbuch der Histologie des Menschen und der Thiere. 
Frankfurt a. M. 1857. 8. 187. 


Be 


In der Regel bewohnen sie den Verdauungsapparat derselben, doch 
können sie auch in anderen Organen vorkommen. So fand Frantzius 
unsere kleinen Wesen in der Bauchhöhle von Blatta und Scarabaeus. 
Gregarinen erscheinen nicht allein als Schmarotzer des vollendeten In- 
sektes, sondern da, wo eine Metamorphose vorkommt, auch als Schma- 
rotzer der früheren oder Larvenzustände. Eine und dieselbe Art be- 
herbergt nicht selten mehrere Spezies der kleinen Schmarotzer. Höchst 
interessant sind die Beobachtungen, welche uns Stein über das Vor- 
kommen der Gregarinen nach der Lebensart des beherbergenden In- 
sektes, des sogenannten „Gregarinenwirthes“ mittheilt. Insekten, welche 
frische Pfanzentheile, Blätter, Pollenkörner ete. verzehren, sind frei, 
haben niemals eine Gregarine. Insekten dagegen, welche pantophag 
sind, solehe, welehe im Miste am Boden leben oder fleischfressende, 
sowie wasserbewohnende Arten sind die eigentlichen Fundplätze der 
Gregarinen. Gerade hier erscheinen sie oft in einer überraschenden 
Individuenmenge. Seltener sind sie bei den Klassen der Myriapoden, 
Arachniden, Crustazeen und Tunikaten. Häufiger erscheinen sie da- 
gegen bei den Würmern, theils wieder im Darm, theils in den Ge- 
schlechtsdrüsen. Ob sie bei Wirbelthieren vorkommen, werden wir 
später sehen, wenn wir gewisse bei Fischen vorkommende Kapseln, 
die Psorospermienbehälter, besprechen!). In freier Lebensweise hat 
man sie bis jetzt noch nicht getroffen. Die erste Klasse der Thier- 
welt besteht demnach aus Wesen, welche zum Beweise ihrer niedrigen 
Stellung zum freien Leben noch nicht befähigt sind. 

Wie aber sind, diese Frage drängt sich uns zunächst auf, diese 
einfachsten aller thierischen Wesen gebaut? Ihre Gestalt (Fig. 6 und 
7) ist theils eine rundliche oder birnförmige oder ovale oder auch noch 
mehr verlängerte, wurmartige. Das vordere Ende des Körpers zieht 
sich bei einem grossen Theile der Gregarinen in ein bald rundliches, 
bald anders beschaffenes Knöpfehen aus. Theils erscheinen unsere 
Thiere vereinzelt, theils aneinander geheftet. Die gewöhnlichste Art 
dieser Verbindung besteht darin, dass zwei Individuen zusammenhängen 
und zwar so, dass das eine Geschöpf vorangeht und das andere nach- 
folgt, indem es sein Knöpfehen mit leichtem Eindruck an das Hinter- 
ende des vorangehenden Gefährten angedrückt hat. 

Eine wasserhelle, strukturlose, oft ziemlich dicke Haut überzieht 
vollkommen geschlossen, ohne eine Mundöffnung oder sonst eine Spalte 


') Leydig a. a. Orte in Müllers Archiv. 


Ku A a 


erkennen zu lassen, den ganzen Körper. Im Innern, von dieser Hülle 
umschlossen!), sehen wir eine dickliche Masse, welche bei kleinen 
jungen Gregarinen ziemlich durchsichtig und körnerarm, bei grösseren 
reifen Exemplaren an Fett- und Eiweisskörnchen sehr reich ist und 
darum undurchsichtig erscheint, bei durchfallendem Lichte schwärzlich, 
bei auffallender Beleuchtung weisslich. Im Innern dieser Körnermasse 
tritt uns ein kugliges ziemlich konsistentes Gebilde entgegen, welches 
nochmals ein sehr kleines, fettartig erglänzendes Körperchen umschliesst. 

An einer jener kugligen oder birnförmigen Gregarinen (Fig. 7) ist 
nieht das Mindeste eines weitern Baues zu finden. Anders dagegen bei 
den mit einem Knöpfchen versehenen Arten (Fig. 8). Hier tritt konstant 
an der Grenze des Knöpfchens gegen den hinteren grössern Körper- 
theil eine von der Innenfläche der Körperhülle ausgehende Scheidewand 
entgegen, eine querüber gespannte Membran, welche eine vollkommene 
Trennung zwischen dem Hohlraume des Knöpfehens und der hinteren, 
viel geräumigeren Höhle herbeiführt. In letzterer ist dann ausnahms- 
los das kuglige mit einem ‚kleinen Korne versehene Gebilde enthalten, 
von welchem früher die Rede war. 

Unsere üblichen Vorstellungen von einem thierischen Organismus 
erleiden hiernach einen starken Stoss. Von Organen, von einem Munde, 
Verdauungswerkzeugen, einem Gefässsystem, Werkzeugen der Bewe- 
gung und Fortpflanzung ist nichts zu sehen. 

Wie aber ernährt sich der einfache Körper? Umgeben von den 
Säften ihres Wirthes nimmt die Gregarine durch die Hülle endos- 
motisch flüssige Substanz auf und in dieser gelöst das geringe Nah- 
rungsquantum, dessen sie zur Erhaltung ihres Körpers bedarf. Durch 
die Hülle hindurch treten in analoger Weise Theile ihres Körperin- 
haltes aus, in die umgebenden Körpersäfte des beherbergenden Thieres 
zurück. 

Auf welchem Wege erfolgt die Ortsbewegung, fragen wir weiter. 
Diese ist höchst einfacher Art, in ihrem Mechanismus aber nur theil- 
weise bekannt. Viele Gregarinen zeigen uns eine ziemlich feste, starre 
Körpergestalt. Diese Thiere liegen alsdann längere Zeit auf der mi- 
kroskopischen Glasplatte völlig unbeweglich, kein Zeichen von Leben 
verrathend. Mit einem Male rücken sie in gerader Linie eine kurze 
Strecke weit langsam und stetig vor. Dann tritt plötzlich wieder 


1) Eine zweite unter dieser Hülle gelegene feine Haut kann ich schlechter- 
dings bei keiner Gregarine sehen und halte diese Leidy’sche Angabe für irrig. 


— 12 — 


und oft für längere Zeit ein Stillstand ein. Andere Gregarinen zeigen 
uns bei diesem ihrem Vorrücken leichte wurmartige Krümmungen. 

Es ist dieselbe, unserer Meinung nach noch nicht zu enträthselnde 
Ortsbewegung, welche wir auch bei gewissen, sehr niedrigen Pflanzen 
z. B. den Navicularien bemerken, ein bemerkenswerthes Phänomen der 
grossen Aehnlichkeit, welche in vielen ihrer Anfänge thierisches und 
pflanzliches Leben erkennen lassen. Andere Gregarinen zeigen einen 
ziemlich veränderlichen, keineswegs mehr starren Körper, welcher sich 
streckenweise kontrahirt, während ein anderer Theil im Zustande der 
Ausdehnung begriffen ist. Bei manchen ändert sogar proteusartig die 
Form einen jeden Augenblick. Wurmartige Krümmungen oder jener 
sonderbare Gestaltenwechsel selbst schieben alsdann den kleinen Gre- 
garinenleib von der Stelle. Eine Wimperbewegung, welehe soust un- 
endlich häufig zur Bewegung kleiner, niedriger Organismen verwandt ist, 
nicht allein thierischer, sondern auch, wie die neuere Zeit gelehrt hat, 
pflanzlicher, fehlt den Gregarinen, 

Welches ist nun die anatomische Geltung des Gregarinenleibes ? 

Vergleichen wir die Form, die strueturlose Hülle der einfachsten 
ohne Querscheidewand erscheinenden Gregarinen, ihren körnigen Inhalt, 
ihr centrales kugliges Gebilde nebst dem kleinen Körperehen im Innern 
mit den Theilen einer thierischen Zelle, wie wir sie als Körperbe- 
standtheil oder als Ei kennen gelernt haben, so tritt uns die völlige 
Uebereinstimmung entgegen. Die Gregarinenhülle theilt mit der Zellen- 
membran alle Charaktere, die körnige Leibesmasse ist ein Zelleninhalt, 
wie er häufig genug erscheint, das kuglige Körperchen im Innern der 
Leibesmasse ist im histologischen Sprachgebrauche ein Kern und das 
kleine von ihm umschlossene punktförmige Gebilde hat die Bedeutung 
eines sogenannten Kernkörperchens oder Nueleolus. 

Es bedarf in der That nur eines ruhigen, unbefangenen Prüfens, 
um die Natur der einfachsten Gregarinen als thierischer, selbstständig 
gewordener Zellen richtig zu erfassen. Und so sehen wir denn auch 
in der That die genauesten Beobachter, wie zuerst Kölliker, dann 
Stein und später Frantzius die Zellennatur der Gregarinen festhalten 
und sie als „einzellige“ Thiere proklamiren. Auch ich selbst, wenn 
es anders erlaubt ist, hier an eine kleine Jugendarbeit zu erinnern, 
habe schon im Jahre 1847 mich zu dieser Auffassung der Gregarinen 
auf eigene Untersuchung hin erklärt!). 


‘) Ueber die Bedeckungen der wirbellosen Thiere. In den Göttinger Studien 
von 1847. 


A, 


Allein so sicher auf der einen Seite die Natur der einfachsten 
eines Knöpfchens entbehrenden Gregarinen als selbstständiger thierischer 
Zellen oder einzelliger Thiere dasteht und der Formenwechsel mancher 
Arten nur die kontraktile Zelle wiederholt, so glaube ich andererseits, 
dass eine ruhige Prüfung den mit einem Knöpfchen versehenen Arten 
schon eine andere Bedeutung zuzuschreiben habe. Eine unselbststän- 
dige thierische Zelle, wo ein kleines mit ausgebuchteter Zellenmem- 
bran versehenes Stück durch eine Scheidewand von dem hinteren, kern- 
führenden grösseren Theile abgeschlossen ist, eine solche Zelle als 
Körperbestandtheil ist nicht bekannt. Hiemit tritt meiner Ansicht nach 
der Gregarinenkörper schon auf eine höhere Stufe und wenn er auch 
einer unselbstständigen Zelle noch immer schr nahe verwandt bleibt, 
so ist er doch nicht mehr identisch mit ihrt). Der Zellenbegriff ist 
leider schon ziemlich vieldeutig geworden. Man hüte sich desshalb, 
indem man diese Knöpfehen tragenden Gregarinen als Zellen auffasst, 
ilın noch vieldeutiger zu machen, um so mehr als, wie wir bald sehen 
werden, er alsdann gegen die höheren Protozoen hin noch un- 
sicherer wird. 

Höchst merkwürdig ist die Fortpflanzung der Gregarinen, ein un- 
geschlechtlicher Vermehrungsakt, eine Produktion thierischer Sporen 
nach vorhergegangener Enceystirung eines vereinzelten oder zweier an 
einander gedrückter Individuen und daher bald mit, bald ohne Kon- 
jugation oder Kopulation einhergehend. 

Sehen wir uns diese Vorgänge zuerst etwas näher an, um dann 
ihren Werth an den Zellenvermehrungsprozessen zu schätzen. 

Geht es zur Bildung einer Nachkommenschaft, so legen sich zwei 
reife mit körniger Leibesinasse versehene Gregarinen mit den gleich- 
werthigen Körpertheilen aneinander und ändern ihre -Forn allmählig 
gegen die halbkuglige. Jetzt beginnt durch ihre Zellenmembranen die 
Absonderung oder Ausscheidung einer glasartig durchsichtigen Masse, 
welche anfangs weich ist, aber bald erhärtet und als gemeinschaftliche 
kuglige Kapsel die beiden Thiere umschliesst; so bei Zgyoeystis, einer 
ganz einfachen einzelligen Form (Fig. 8). Anfänglich sind die beiden halb- 
kuglig kontrahirten Geschöpfe ganz unverändert in ihrer Cyste und 


I) Stein hat als Didymophyideen gewisse lange, wurmförmige Gregarinen 
beschrieben, wo hinter der ersten noch eine zweite Scheidewand auch den Rumpf 
in zwei Hälften trennt. Sollten sich diese ziemlich problematischen Geschöpfe 
in der Folge bewahrheiten, so hätten wir die Zellennatur noch um eine Stufe 
- weiter überschritten. 


= Mi Tem 


Kern wie Zellenmembran lassen sich deutlich erkennen. Dann tritt 
unter Verlust der Membran und des Kernest) ein Zusammenfliessen 
des beiderseitigen körnigen Leibesinhaltes ein und statt zweier mit 
einer Hülle und einem Kerne versehener Halbkugeln erhalten wir nun 
eine einzige Inhaltskugel ohne Membran und Kerne. Frantzius macht 
darauf aufmerksam, dass er bei einem anderen verwandten Geschlechte, 
einer Monoeystis, immer nur einen Kern in einer Cyste habe ent- 
deeken können und schliesst daraus unserer Meinung nach mit vollem 
Rechte, dass auch eine einzige Gregarine sich zu verpuppen oder en- 
eystiren und fortzupflanzen vermöge. 

Doch kehren wir zu unseren Gregarinen zurück und verfolgen 
wir das Geschick der zwei verkapselten und nun zusammengeflossenen 
Individuen der Zygocystis, wie es Stein beobachtet hat. 

Die so zusammengeflossene Körnermasse wird nun zur Bildungs- 
stätte zahlreicher kleiner Zellenkerne, welche auf Kosten der Körner 
entstehen, bei ihrem Ueberhandnehmen der Körnermasse allmälig ein 
geflecktes und helleres Ansehen geben (Fig. 9). 

Bald umhüllen sich diese neugebildeten Kerne mit durchsichtiger 
Substanz und um das Ganze herum erhärtet eine kleine aber feste 
und derbe Schale, jedoch so, dass eine kleine Spindel (Fig. 9. 10. a) 
entsteht. Jetzt ist die Kapsel mit einer Unzahl dieser spindelförmigen 
Körperchen erfüllt, welche man um ihrer Aehnlichkeit mit gewissen einzel- 
ligen Algen, den Naviculen, Navicellen oder Pseudonavicellen genannt hat, 
wie die Kapsel zur Benennung des Navicellenbehälters gekommen ist. 
Lange schon kannte man unter diesem Namen unsere Kapseln namentlich 
in den männlichen Geschlechtsdrüsen des Regenwurmes, ohne zu wissen, 
wie sie entstanden und was ihr späteres Schicksal?). Letzteres hat 
nun Stein ebenfalls erforscht, allerdings nicht mehr bei der Zygoeystis, 
sondern bei einer andern Gregarine, der Gregarina blattarum. Hier, 
wo die Gregarinen ihren gewöhnlichen Wohnsitz, den Darmkanal, ein- 
halten, werden die Kapseln mit dem Kothe entleert und lassen sich 
von den kleinen Kothballen umhüllt durch das Mikroskop herausfinden. 
Sie gehen also in die Aussenwelt über. 

Die Navicellen müssen nun in den Körper anderer Wesen und 
zwar der gleichen (oder nahe verwandter) Thierarten übergeführt wer- 


1) Beobachtungen von Bruch machen es wahrscheinlich, dass der Verlust 
der Zellenmembran früher als derjenige der Kerne eintreten kann. 

?) Meckel (Müllers Archiv. 1844. S. 481) hatte sie sogar für die Eier des 
Regenwurmes genommen. 


EIER ee ee en nn 


PURE ER 


den, um hier ihre letzte Umwandlung zu erfahren. Da ihnen alle 
Werkzeuge und Mittel einer selbstständigen Ortsbewegung abgehen, 
kann dieser Uebergang oder diese „Wanderung“ nur eine passive 
sein, d. h. die Navicellen vermögen nur zufällig von dem künftigen 
Wirthe aufgenommen zu werden und zwar mit dessen Nahrung. Jetzt 
wird mit einem Male das Vorkommen der Gregarinen bei gewissen 
Insekten, den Fleischfressern und Pantophagen, den Wasserbewohnern 
oder den am Boden im Miste lebenden klar, sowie ihr Mangeln bei 
Arten, welche auf Sträuchern, Bäumen ete. wohnen und frische Pflan- 
zentheile verzehren, da letzteren die Gelegenheit zur Aufnahme der- 
artiger Keime abgeht. Zugleich aber auch werden wir begreifen, 
warum die Natur aus der Vereinigung zweier Gregarinen oder gar 
von einem einzigen Geschöpfe aus diese Unzahl von Pseudonavicellen ent- 
stehen liess. Indem nämlich die Wanderung eine passive ist, wird 
es davon abhängen, ob der Zufall die Navicellen gut bette oder sie 
unbenützt, d. h. nicht auf den passenden Boden gelangt, zu Grunde 
gehen lasse. Ein geringes Ueberlegen wird zeigen, dass der letztere 
Fall ungleich häufiger eintreten werde als der erstere und gewissermassen 
die Regel bilden müsse. Sind auch die Navicellen von festen Hüllen 
umgeben und dadurch gewiss mit einem beträchtlichen Widerstands- 
vermögen versehen, die Mehrzahl derselben geht sicher schliesslich 
den passenden Boden verfehlend, zu Grunde und nur wenige jener 
Unzahl kommen glücklich auf die rechte Stelle, allerdings hinrei- 
chend, die Art zu erhalten. 

Doch wir haben da eigentlich schon manches des ferneren Navi- 
eellengeschickes antieipirt, und müssen uns beeilen, dieses nachzuholen. 
Hier will Stein folgendes gesehen haben: Hungernde in einer Schachtel 
eingesperrte Blatten frassen zuletzt aus Noth die Kothballen ihrer Ge- 
fährten und nahmen mit diesen die Navicellenbehälter in den Ver- 
dauungskanal auf. In diesem sollen endlich die Navicellen in win- 
zige Gregarinen auswachsen und die Entwicklungsreihe somit sich 
schliessen. 

Wir haben diese Stein’schen Untersuchungen der Gregarinenent- 
wieklung ihren Hauptzügen nach in dem vorhergehenden einfach mitge- 
theilt. Sie galten einige Jahre lang ziemlich allgemein als richtig 
und schienen die Evolution bis zum Hervorgehen eines neuen Wesens ge- 
nügend anzudeuten, obgleich in dem angeblichen Verwandeln der Pseudo- 
navicelle zur Gregarine immerhin noch eine erhebliche Lücke ge- 
blieben war. 


ME 0 


Leider haben nachfolgende Beobachtungen, schon von Leydigt) 
‚und später namentlich von Lieberkühn?) Manches wieder in Abrede 
gestellt und eine viel complieirtere Entstehung der jungen Gregarine 
gezeigt. Um aber hier verständlich zu bleiben, müssen wir. etwas 
weiter ausholen. N 

Im Jahre 1841 machte J. Müller?) bei jungen Heehten im 
Innern des Auges und der Augenmuskeln den Fund kleiner runder 
Kapseln mit einem merkwürdigen Inhalte sonderbarer mikroskopiseher 
Körperchen, welche er Psorospermien nannte. Er traf später ‚ähn- 
liche Kapseln oft mit anders gestalteten, aber verwandten Inhaltsmassen 
bei zahlreichen Süsswasser- und auch bei Seefischen. Sie erschienen 
theils in der Haut, theils in sehr verschiedenen inneren Theilen ein- 
gelagert. 

Diese Psorospermien (Fig. 10, b. e) stellen mikroskopisch kleine Ge- 
bilde dar, mit scharfen eleganten Conturen von rundlicher Gestalt, welche 
bald ohne Anhang bleiben, bald einen solchen von fadenartiger Gestalt 
einfach oder auch doppelt erkennen lassen. Sie zeigen eine linsenförmige 
Abplattung und bei den meisten Arten derselben ist der eine Pol 
zugespitzt. Gegen diesen convergirend liegen im Innern des Körper- 
chens gewöhnlich zwei oder mehrere kleinere Bläschen. Interessant 
unter den manchfachen Modifikationen derselben waren namentlich 
diejenigen des Dorsches, welche einer aufgetriebenen Navieula glichen. 
Miller wusste damals nichts Bestimmtes aus den Psorospermien. zu 
machen und betrachtete sie als speeifische Krankheitsbildungen. Diese 
Rathlosigkeit erhielt sich lange Jahre und noch vor Kurzem wollte sie 
Robin*®) in einer sonst verdienstlichen Arbeit zum Pilanzenreiche rechnen. 
Später traf man solche Psorospermienkapseln auch noch bei andern 
Fischen, ebenso im Körper der Frösche und selbst in der Leber der 
Kaninchen. °). 


1) Ueber Psorospermien und Gregarinen. Müllers Archiv von 1851, S. 221. 

2) Lieberkühn, Evolution des Gregarines in den M&m. de l’Academie de 
Belgique, Tom. 26; ferner die Aufsätze über die Psorospermien in Müllers 
Archiv von 1854, S. 1 und S. 349, sowie von 1856, S. 494. 

3) Archiv von 1841, S. 477 und Jahrgang 1842, S. 193. 

4) Histoire naturelle des vegetaux parasites. Paris 1853. 8. 291. 

5) Die Psorospermien des Kaninchens sind zuerst im Jahre 1839 von einem 
Engländer Hake beschrieben worden. (A treatise on varicose capillaries as con- 
stituing the structure of carcinoma of the hepatie ducts. With an aceount of 
a new form of the pus globules. London.) Später wurden sie vielfach irrthüm- 
lieh für Eier von Eingeweidewürmern gehalten. Sie kommen in manchen Ge- 


—- 1 — 


Der Erste, welcher hierüber zu einem wahren Fortschritt gelangte, 
war Leydigt). Er fand in der Gallenblase von Rochen und Haien 
Zellen mit körnigem Inhalt, welche im Innern eine Brut von Tochter- 
zellen entwickelten und in diesen letzteren je eine Psorospermie ent- 
stehen liessen. Er vermuthete nun in jenen Mutterzellen, welche eine 
rundliche oder auch wurmartig verlängerte Gestalt zeigten, Gregarinen 
(obgleich er keine Bewegung an ihnen bemerkte) und consequenter- 
weise in den Psorospermien dasselbe, was die sogenannten Pseudo- 
navicellen in der That sind, nämlich Keime neuer Gregarinen. Eine 
Psorospermienkapsel der Fische würde demnach denselben Werth haben, 
wie ein Pseudonavicellenbehälter des Regenwurms. 

Diese Beobachtungen wurden nun durch die ausgedehnten Unter- 
suchungen Lieberkühn’s?) bestätigt. 

Um zuerst der uns bekannten, von Stein beobachteten Konjugatior 
der Gregarinen zu gedenken, so stellt Zieberkühn diese als allgememn 
gültiges Moment im Entwicklungsleben jener Thiere in Abrede, indem 
es ohne sie zur Keimbildung kommen kann. Er fand nämlich gerade 
in dem von Stein so genau durchsuchten Regenwurm Kapseln, welche 
in ihrem Inhalte nur einen Kern enthielten und gewiss nichts anderes 
als eine einzige verkapselte Gregarine darstellten. Aber auch da, wo 
zwei Geschöpfe in einer Cyste eingeschlossen waren, brauchten sie 
nicht immer zu verschmelzen, um eine Generation von Sporen oder 
Pseudonavicellen hervorzurufen. So sieht Lieberkühn in jener Konju- 
gation Stein’s nur einen Theilungsprozess, wie schon früher Kölliker 
den Vorgang aufgefasst hatte. 

Diese Pseudonavicellen gehen nun nicht, wie Stein annahm, durch 
eine unmittelbare Umwandlung in eine Gregarine über. Vielmehr er- 
scheint hier noch ein Zwischenglied. Nach einer längeren Zeit der 
Ruhe nämlich trübt sich der durchsichtige Inhalt der Pseudonavicellen 
und zerfällt hierbei in zahlreiche kleine Körnchen. Diese gruppiren 
sich zu einem kugligen Haufen. Der kuglige Haufen tritt in Form 
einer rundlichen körnigen Zelle aus der Hülle der Pseudonavicelle hervor. 
Er verändert seine Gestalt, indem er Ausläufer bildet u. s. w. (Fig. 10 d). 
Ob nun in diesem sich ändernden Dinge eine Zelle, wie es deren 


genden sehr häufig vor, so z. B. sah ich sie in Menge früher in Göttingen. Hier 
- in Zürich erscheinen sie dagegen selten und sind mir seit Jahren nicht mehr 
vorgekommen. 

1) a. a. O. 


2) 2.2.0. 
Wissenschaftliche Monatschrift. III. p} 


Le PET 


ganz gleiche im Blute gibt, oder ein Thier zu erblicken sei, lassen 
wir dahin gestellt. In Hinsicht seiner Aehnlichkeit mit einer bald zu 
besprechenden Rhizopodenform hat unser Gebilde den Namen des 
„amoebenartigen“ Körperchens erhalten. 

Dieselben amoebenartigen Zellen gehen auch, wie der Ber- 
liner Beobachter entdeckte, aus den Psorospermien der Fische und 
Frösche in ganz ähnlicher Weise hervor. Pseudonavicellen und Psoro- 
spermien sind also in der That identisch und die beiden Gebilde ent- 
stehen nur im Innern von gregarinenartigen Geschöpfen, welche freilich 
nicht immer alle Charaktere einer Gregarine in erwünschter Weise er- 
kennen lassen. 

Die amoebenartigen Körperchen erzeugen nun erst die Gregarinen. 
Jene wachsen allmählig, bilden eine feine, körnige Inhaltsmasse, ver- 
lieren ihre Beweglichkeit und Veränderlichkeit und werden so zu einer 
starren, manchfach geformten Substanz. Der Inhalt dieser ballt sich 
in Kügelehen zusammen und verwandelt sich bald in neue Gregarinen. 

Sind diese Resultate richtig, so sind die Gregarinen auch bei 
den Wirbelthieren ansehnlich verbreitet und ihre Sporen bald als 
Pseudonavicellen, bald als Psorospermien gebildet. Doch auch hier 
herrscht, noch Unsicherheit, indem Dr. Schmidt!) in Frankfurt nach 
eigenen Untersuchungen den Uebergang der amoebenartigen Körper- 
chen Lieberkühn’s in Gregarinen läugnet. 

Fragen wir jetzt am Ende unserer langen Erörterungen, welcher 
Klasse von Fortpfianzungsprozessen fällt diese merkwürdige Erzeu- 
gung zu? 

Die verbreitetste und bekanntlich dem höheren thierischen Leben 
allein bestimmte Art der Vermehrung ist die geschlechtliche, durch 
Ei und Samen erfolgende. Jenes enthält das Material für den Aufbau 
des künftigen Embryo's, was aber in den Kreis der dahin zielenden 
Umänderungen nur durch die Berührung mit der männlichen Ge- 
schlechtssubstanz, dem Sperma, einzutreten vermag. Beide Stoffe setzen 
besondere drüsige Organe, die sogenannten Keimdrüsen, voraus. Von 
letzteren ist in dem einfachen Gregarinenleibe natürlich nicht die Rede 
und die Fortpflanzung dieser Geschöpfe kann daher nicht, ebensowenig 
als irgend eine andere der Protozoen, in den Kreis der geschlecht- 
lichen gehören. 


!) Beitrag zur Kenntniss der Gregarinen und deren Entwicklung. Abhand- 
lungen der Senckenberg’schen Gesellschaft 1854. 


ie 


Sie stimmt dagegen mit einer Vermehrungsweise niederer Pflan- 
zen, derjenigen durch Sporen, in den wesentlichsten Momenten überein, 
mag nun eine Verschmelzung zweier Gregarinen vorkommen oder nicht. 
In beiden Fällen haben wir analoge Verhältnisse in der Pflanzenwelt. 
Eine thierische Spore ist ein kleiner Körper, welchem die anatomischen f) 
und physiologischen Eigenschaften des Eies abgehen, und welcher ohne 
Berührung mit dem Sperma ein neues Wesen entwickelt. Solche thie- 
rische Sporenbildungen sind bei niederen Thieren weit verbreitet, wenn- 
gleich nicht mehr in so sonderbaren Gestalten wie von Pseudonavi- 
cellen und Psorospermien vorkommend. 

Wie die Gregarinen entweder wahre Zellen sind oder in ihren 
höheren Gestalten einer Zelle immer noch sehr nahe verwandt bleiben, 
so erfolgt auch die Bildung ihrer Keime durch einen endogenen Zellen- 
bildungsprozess. 

Aehnliche Sporen, ebenso unzweifelhafte Konjugationsprozesse 
werden wir weiter unten namentlich bei den Infusorien noch einmal 
antreffen. 


' IV. 

Eine ganz andere Physiognomie bieten bei dem ersten Anblick 
die Geschöpfe der zweiten Classe dar, frei lebende, theils das süsse, 
theils das Salzwasser bewohnende Wesen mit einer ewig wandelbaren 
Körperform. Verschwunden ist der schöne Zellencharakter, welchen 
uns ein Theil der Gregarinen so klar darbot. Fehlend ist die deut- 
liche Hülle und oft der mit einem Kernkörperchen gezierte Kern?) der 
niedrigsten Protozoen. 

Es ist eines der vielen Verdienste eines trefflichen Naturforschers, 
Felix Dujardin, zuerst die Gruppe der Rhizopoden aufgestellt zu 
haben, indem er mit scharfem Blicke eine beträchtliche Anzahl niederer 
Wesen als zusammengehörig erkannte, welche früher zum Theil in 
ganz anderen Klassen der Thierwelt fremdartig ein bescheidenes Plätz- 
chen eingenommen hatten. Als Klasse erscheinen sie unseres Wissens 
nach zum ersten Male in sSiebold’s Lehrbuch der vergleichenden 
Anatomie. 


{) Die thierische Spore kann übrigens unter Umständen einem Ei sehr ähn- 
lich werden. 
2) Ausnahmen werden wir weiter unten kennen lernen. 


= Da 


Die erste Kenntniss rhizopodenartiger Wesen ist zum Theil schon 
eine ziemlich alte. 

Schon im vorigen Jahrhundert war man bei mikroskopischer Durch- 
musterung von Sumpfwasser auf ein wunderbares kleines Geschöpf ge- 
rathen, welches allen Vorstellungen, die man an ein thierisches Wesen 
zu knüpfen gewohnt war, Hohn sprach. Dieses Thier erschien anfäng- 
lich als Volvox Chaos in der Wissenschaft, trug später den Namen 
Proteus und ist jetzt als Amiba oder Amoeba zur Rhizopode geworden. 

Ein kleines glasartiges, Körnchen im Innern enthaltendes Gallert- 
klümpchen fesselt anfänglich unsern Blick. Es könnte ein Stückchen 
ausgetretener Organmasse eines niederen im Wasser wohnenden Thieres 
sein. Bald aber bemerken wir zu unserem Erstaunen, dass die Körn- 
chen im Innern in Bewegung begriffen sind, und zwar nicht in jenem 
regellosen Tanze der Molekularbewegung, sondern in einem Strömen 
nach einer bestimmten Richtung. Achten wir auf letztere, so sehen 
wir, dass zuerst die glasartige Masse langsam vorquillt in Form eines 
rundlichen kleinen Höckerchens. Unter unseren Augen, vielleicht nach 
einer Minute, ist in Folge des fortgesetzten Vorquellens aus dem 
Höckerchen ein länglicher, breiter, oben abgerundeter Fortsatz ge- 
worden, in welchen eine nicht unbeträchtliche Zahl der Körnehen ein- 
geströmt ist. Aber unser Erstaunen wächst; neben ihm ist vielleicht 
ein zweiter Ausläufer im Begriffe sich zu bilden und in stetiger Massen- 
zunahme begriffen. Bald ist er entwickelt und die ursprüngliche 
Körpermasse, von welcher wir ausgingen, hat sich auf eine viel 
geringere Ausdehnung zusammengezogen, so dass wir jetzt schon 
in Verlegenheit sind, wenn wir sagen sollen: wo ist mehr der Thier- 
leib enthalten, in jenem verkleinerten Theile oder in den unter unsern 
Augen entstandenen Fortsätzen? (Fig. 11.) Und so geht es bestän- 
dig fort; die Form, wenn auch langsam, ist in einem immerwährenden 
Wechsel begriffen, indem Ausläufer in verschiedener Zahl sich ent- 
wickeln, andere sich verkürzen, bis sie, in die mittlere Partie der 
Leibesmasse zurückkehrend, verschwinden, und die Körnchen strömen 
hin und her. Erschüttern wir die Glasplatte, welche das interessante 
Bild der mikroskopischen Beobachtung dargeboten hat, so zieht sich 
alles wiederum zum kugligen Klümpchen zurück und nach einiger 
Ruhe beginnt das nimmer ruhende Hervorquellen und Verändern wieder, 
so dass unser Thier ein wahrer Proteus ist. 

Diese Contractilität führt in der Leibessubstanz noch ein anderes 
Phänomen herbei, welches die Thiere mit den Infusorien theilen. In- 


a ee 


dem sich nämlich die sehr weiche, wasserreiche Körpermasse stellen- 
weise zusammenzieht, presst sie einen Theil der durchtränkenden 
Flüssigkeit aus sich heraus. Diese sammelt sich in kugligen transi- 
torischen Aushöhlungen, sogenannten Vacuolen (Dujardin). Später tritt 
die hier angesammelte Flüssigkeit wieder in die Leibesmasse zurück 
und die Vacuole verschwindet. 


Unsere Amoeben kommen nun in verschiedenen Gestalten zur 
Untersuchung. Manche sind klein und sehr durchsichtig, andere grösser 
und weniger transparent. Auch die Form der Fortsätze hat bei 
aller Regellosigkeit (man verzeihe den scheinbar paradoxen Ausdruck) 
eine gewisse Regelmässıgkeit. Bei den einen dieser Amoeben bleiben 
sie verhältnissmässig kurz und stumpf geendigt, bei anderen werden 
sie lang, zugespitzt, strahlenartig. 


Die Körnchen sind zum Theile sehr blass und fein, zum Theil 
grösser und dunkler gerandet. Manchfache gefärbte Massen kommen 
ebenfalls vor, so z. B. Körner eines von aussen aufgenommenen Pflan- 
zengrüns; auch Stärkemehlkörner werden in Amoeben bemerkt. 


Bei aller Formlosigkeit und indem uns so eines der besten Merk- 
male für die Charakteristik der Thierspezies abgeht, ‘ergeben sich 
die Amoeben als zu verschiedenen Arten gehörig. 


Sie wurden bisher theils im süssen Wasser, theils im Meere be- 
merkt. Die Zahl der letzteren von Diyjardin!) und Schultze?) er- 
_ kannten Arten ist nicht gross, dagegen die Menge der Süsswasser- 
formen, wie es scheint, nicht unbeträchtlich. Ueber das Vorkommen 
der letzteren haben wir manche Notizen. Alte, lange dagestandene Auf- 
güsse thierischer, auch wohl pflanzlicher Substanzen, ein lange vorher 
geschöpftes Sumpfwasser, sind oftmals recht reich an Exemplaren dieser 
wunderlichen Geschöpfe. Doch zeigen sie uns zuweilen ein frisch ge- 
schöpftes Sumpfwasser oder am schlammigen Boden abgesetzte Massen, 
alte Blattreste, recht schön und nicht sehr sparsam. Auerbach in einem 
sehr hübschen Aufsatze?) bemerkt, dass namentlich eine derartige 
pflanzliche Infusion, nachdem ein beträchtlicher Theil des Wassers ab- 
gedunstet und sie starker Sonneneinwirkung unterworfen gewesen ist, 


!) Histoire naturelle des Zoophytes. Infusoires. Paris 1841. S. 232. 
2) Ueber den Organismus der Polythalamien. Leipzig 1854. S. 8. 


®) Ueber die Einzelligkeit der Amoeben in Siebold’s und Kölliker's Zeit- 
schrift Bd. VII. S. 365. (1855.) 


EEE 


eine bedeutende Fülle der Amoeben zu enthalten pflegt. Ersteres kann 
ich aus eigenen Erfahrungen bestätigen. 

Haben nun diese Amoeben die Charaktere einer Zelle oder sind 
sie wenigstens den unselbstständigen Zellen verwandte Bildungen ? 
Diese Frage wird nach der jetzt üblichen Auffassung im Allgemeinen 
verneint. Von einer Membran, auch dem feinsten Häutchen, sieht man 
bei den gewöhnlichen häufigeren Amoeben in der Regel keine Spur; 
ja benachbarte, zufällig gegen einander getriebene Fortsätze fliessen nicht 
selten gleich zwei Fetttropfen zusammen und die Körnchen gehen von 
der einen Seite herüber zur anderen. ö 

Hierin sind wohl die competentesten Beobachter, wie z. B. Du- 
jardin, Kölliker, Ecker, Schultze u. A. in Uebereinstimmung. Ebenso 
wenig als eine Hülle ist an einzelnen Amoeben ein Kern vorhanden. 
Doch haben ihn neuere Untersuchungen, namentlieh von Schultzet), in 
einer gewissen Verbreitung gezeigt. Wollte man den Vergleich mit 
einer Zelle desshalb um jeden Preis durchführen, so erhielten wir 
nichts als einen eontraetilen Zelleninhalt ohne Hülle und zuweilen auch 
ohne Nucleus. Besser ist darum als einfacher Ausdruck der mikros- 
kopischen Analyse die Charakteristik Dijardin’s?): „Animaux forms 
d’une substance glutineuse, sans tegrument, sans organisation appreciable; 
changeant de forme & chaque instant par la protension ou la r&traction 
d’une partie de leur corps, d’otı resultent des expansions variables“. 

Schon vorhin bemerkten wir, dass im Amoebenleibe Körner von 
Pflanzengrün stecken können, welche von aussen aufgenommen sein 
möchten. Die Beobachtung einer grösseren Zahl von Thieren zerstreut 
über eine derartige Nahrungsaufnahme wohl jeden Zweifel, indem man 
Navicellen und andere grössere Gebilde des umgebenden Wassers in 
der gallertartigen Körpersubstanz eingeschlossen findet. — Wie aber 
„frisst“ eine derartige Amoeba? Unsere Vorstellungen von Fressen 
reichen hier nicht aus. Wie alles im Leben der Amoeben ist auch 
diese Nahrungsaufnahme ganz eigenthümlich. 


Treibt, vom Zufall gebracht, ein solches Körperchen z. B. eine 
Navicelle an irgend eine Stelle der gallertartigen Körperoberfläche 
der Amoeba an, so bleibt es manchmal an dieser, der wir eine ge- 
wisse Klebrigkeit wohl zuschreiben müssen, anhängen. Bald sieht 


1) Schultze, Beobachtungen über die Fortpflanzung der Polythalamien. 
Müller’s Archiv 1856. S. 165. 


2) A. a. 0. 8. 226, 


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man [ich habe mehrmals genau die Beobachtung verfolgen können t)] 
die gallertartige Leibesmasse um die Oberfläche und die Ränder des 
angetriebenen Pflänzchens hervorquellen und dieses, ich möchte sagen, 
überfliessen. Anfänglich ragt noch das hinterste Stück der Navi- 
eelle frei in das Wasser, bald aber ist auch es überzogen und über 
demselben ist die Leibesmasse des Proteus wieder zusammengetroffen 
und verflossen. So ist die Navicelle in das Innere des Amoeben- 
leibes gelangt. Da dieser ganz indifferent und eben nur eine lebendige 
Gallerte ist, kann die Einfuhr eines solchen Nahrungskörpers an jeder 
beliebigen Stelle der Peripherie geschehen, wie es eben der Zufall 
mit sich bringt. In dem Leibe des Thieres verweilt der Nahrungs- 
körper eine gewisse Zeit, seine brauchbaren Substanzen werden ge- 
löst, der Körper wird „verdaut* und der Rest nach aussen wegge- 
schafft. Dieser letztere Act, in ganz ähnlicher Weise durch ein all- 
mähliches Wegfliessen der Leibessubstanz bedingt, kann gewiss an 
jeder beliebigen Stelle der Peripherie geschehen. Es ist also kein 
Mund, keine Afteröffnung, keine Verdauungshöhle vorhanden. 

Die Amoeben enthalten ferner noch eine contractile kuglige Blase, 
einen sogenannten pulsirenden Raum?) und zwar tief in ihrer Körper- 
masse, ein Gebilde, dessen wir bei den Infusorien ausführlich zu ge- 
denken haben. Dass sie hiedurch sich wieder um ein Namhaftes von 
einer unselbstständigen Zelle entfernen, bedarf kaum der Erwähnung. 

Wir haben noch der Ortsbewegung zu gedenken. In seinem 
Formenwechsel, dieses lehrt die Beobachtung, schiebt sich der Pro- 
teus über die mikroskopische Glasplatte, das Thier rückt vor, aller- 
dings mit ausserordentlicher Langsamkeit. Indem ein Fortsatz nach 
einer Richtung getrieben wird, ein zweiter in ähnlicher folgt, die da- 
hinter befindliche Körpermasse sich mehr und mehr contrahirt, so dass 
die Fortsätze allmählig den eigentlichen Körper bilden müssen, ist 
das kleine Geschöpf ein winziges Raumtheilchen von der Stelle ge- 
kommen. Treffend und am besten unter allen Beobachtern charakte- 
risirt diese Lokomotion Ecker?) folgendermassen: „Am wahrsten drückt 
man, wie mir scheint, sich aus, wenn man sagt, dass durch die 


1) Man vergleiche auch Claparede über Actinophrys Eichhornii, Müller’s Archiv 
1854, S. 408, dessen Angaben ich vollkommen bestätigen muss. 

2) Vrgl. Siebold a. a. O. S. 20 und Claparede S. 409. 

%) Ueber Bau und Leben der contractilen Substanz. Siebold’s und Kölli- 
ker's Zeitschrift. Bd. I. S. 235 (1849). 


ne ae 


Contraction des Körpers allmählig der ganze Inhalt von diesem in den 
Fortsatz hineingetrieben werde, wodurch dieser nun zum Körper wird und 
das Thier zugleich vom Platze rückt“. Dass vielfach Ausläufer sich bilden, 
welche, nachdem sie gekommen und gegangen sind, das Thier schliesslich 
an der alten Stelle zeigen, bemerkt man häufig und begreift man leicht. 

Ueber die Fortpflanzungsverhältnisse der gewöhnlichen, häufigeren 
Amoeben ist soviel wie niehts bekannt, wie denn überhaupt hin- 
sichtlich der Erkennung dieser Seite des Lebens bei fast allen Rhizo- 
poden bis zur Zeit ein Unstern gewaltet hat. Dujardın theilte einstens 
glücklich eine Amoebe durch die Messerklinge in zwei Stücke und be- 
merkte jedes derselben sich weiter bewegen, ohne dass aus der Schnitt- 
wunde etwas ausfloss. Diese künstliche Theilung hat bei einem so 
durchaus gleichartigen Leibesparenchym nichts Auffallendes und kann 
bei höher stehenden Geschöpfen ganz älınlich hervorgerufen werden, 
berechtigt aber nichts über eine freiwillige Theilung zu statuiren, ebenso 
wenig als die bekannte Tremöbley'sche künstliche Theilung der, Hydren 
diese Fortpflanzung dem Polypen zuzuschreiben gestattet. Doch wird 
eine freiwillige Theilung nach anderen Momenten wenigstens wahr- 
scheinlich. Ob Konjugation bei den Amoeben vorkommt, ob sie über- 
haupt eine Sporenbildung besitzen, dieses ist gänzlich unermittelt. 

Wir haben uns in dem Vorhergehenden mehrmals des Ausdruckes 
der „gewöhnlichen, häufigeren Amoeben“ bedient. Es sind nämlich 
in der neueren Zeit einige sehr sonderbare Verwandte entdeckt wor- 
den, welche man ebenfalls (wie ich glaube nicht ganz mit Recht) als 
Spezies dem Geschlechte Amoeba einverleibt hat. 

Schultzet) fand im adriatischen Meere ein Wesen, Amoeba por- 
recia, welches sich von den uns bisher bekannten Amoeben durch die 
ausserordentliche Veränderlichkeit seines Körpers und ungemein lange 
fadenartig verzweigte Fortsätze auszeichnet. In letzterer Hinsicht stimmt 
es mit den später zu besprechenden beschalten Polythalamien merk- 
würdig überein, so dass der Gedanke entstehen kann, es sei eine noch 
schalenlose Jugendform dieser bekannten Thiere. Aus dem glasartigen 
farblosen Körper entwickeln sich nach allen Seiten die Ausläufer in 
Gestalt fadenförmiger Fortsätze. Anfänglich sind sie noch ziemlich 
breit, nach kurzem Verlaufe verästeln sie sich fortwährend und werden 
dabei allmälig so fein, dass es starker Vergrösserungen bedarf, um 
die letzten Zweige überhaupt zu erkennen. In voller Entwicklung 


1) a.2 0.8.8. 


u Eee 


übertreffen diese Ramifikationen den Durchmesser des 
Körpers um das 8- oder 16-fache. „Jeden Augenblick ,* fährt 
Schultze fort, „verändert sich Gestalt und Ausdehnung des Körpers, 
je nachdem die fliessende Substanz desselben hier- oder dorthin Aeste 
treibt. Berühren sich zwei oder mehrere dieser fadenförmigen Ver- 
längerungen des Körpers, so fliessen sie untereinander zusammen, bil- 
den breitere Platten oder netzförmige Maschen, die in fortwährendem 
Wechsel der Gestalt entweder wieder zurückgezogen werden in den 
allen gemeinsamen mütterlichen Boden, oder sich durch neuen Zufluss 
so vergrössern, bis schliesslich der ganze Körper an ihre Stelle ge- 
treten ist. Ein stetes Strömen der in der contractilen Körpersubstanz 
eingebetteten Körnchen begleitet alle diese Erscheinungen, und die 
Richtung dieser Ströme ist in jedem der fadenförmigen Fortsätze eine 
doppelte. An der einen Seite sieht man die Kügelchen dem Ende 
des Fortsatzes zulaufen; die in einzelner Intervallen erscheinenden 
grösseren Körnchen kann man leicht bis an das Ende des Fortsatzes 
verfolgen, hier kehren sie nun um, nähern sich in gleichmässig schneller 
Bewegung wieder der Basis des Fadens, an welcher angekommen sie 
sich in dem Körper verlieren, wenn sie nicht gleich von einem be- 
gegnenden Strome erfasst, denselben Kreislauf oft an demselben Faden 
wieder beginnen.“ Eine contractile Blase oder ein kernartiges Gebilde 
wurde an dieser Amoebe nicht beobachtet. 

Wir wenden uns jetzt zu der Auerbach'schen Amoebenform, A. 
bilimbosat) (Fig. 12). Diese zeichnet sich aus durch zwei Momente, 
welche bei den bisher besprochenen Geschöpfen fehlten, durch die 
Gegenwart einer derben festen Hülle und durch die bläschenförmige 
Beschaffenheit des Kerns. Ebenso gelang es dem Fleisse des Bres- 
lauer Forschers, wie wir sehen werden, einen Theil der Entwicklungs- 
geschichte zu beobachten. 

In altem, lange in einem Glasgefässe aufbewahrtem Sumpfwasser 
erschienen zahlreich unter der Masse des grünen Ueberzugs ziemlich 
kleine proteusartige Wesen, welche über den grösseren Theil des 
Körpers keine Fortsätze trieben und hier mit einer dicken wellig be- 
grenzten Haut versehen waren, sowie einen sehr glasartigen, wenig dun- 
kelförmigen Leibesinhalt zeigten. Namentlich war die äusserste, der 
Haut angrenzende Schicht vollkommen hyalin. Die Fortsätze, welche 


i) Dieses Thier ist möglicherweise identisch mit der von Dujardin beschrie- 
benen Corycia. Annal. d. sc. nat., IIIeme Serie, Tom. 18, S. 240. 


— 26 —. 


die derbe Haut des Körpers nicht erkennen liessen, sondern sich wie 
bei allen anderen Amoeben sehr fein gerandet verhielten, waren theils 
breit, kurz und stumpf, theilten sich jedoch am vordern Ende in 
feinere, aber kurze Fäden oder zeigten sich sehr breit, platt und mit 
gefranzten Enden versehen. Sie waren offenbar von der höchst dehn- 
baren, ungemein verdünnten Haut der Körperhülle überkleidet und 
konnten an jeder beliebigen Stelle des Körpers entstehen. Im Gegen- 
satze zur Schultze'schen Amoebe porrecta mangelten dem Auerbach'- 
schen Thiere die Körnchen in den Ausläufern vollständig und die 
Veränderlichkeit letzterer war sehr gering. Im Innern der Leibes- 
masse liess sich ein sehr schöner grosser Kern bemerken in der Form 
einer zierlichen kugligen Blase mit einem ansehnlichen rundlichen so- 
genannten Kernkörperchen. Nachdem diese Amoeben längere Zeit in 
ihrem Behälter keine Veränderungen dargeboten hatten, fingen sie an 
sich zu verkapseln oder zu eneystiren, in der Art, wie wir früher 
bei den Gregarinen den Vorgang kennen gelernt haben (Fig. 13). 
Der Aufang des Frühlings rief endlich in diesen umhüllten Amoeben 
ein neues Leben hervor. Die Kapseln platzten und eine kleinere, 
ganz glashelle Proteusform wurde frei (Fig. 14. a. b.), welche sich 
wahrscheinlich auf Kosten der Leibesmasse des verpuppten elterlichen 
Geschöpfes entwickelt hatte und mit diesem ähnliche Fortsätze theilte. 
Anders aber war der Kern dieser neuen Generation, nicht mehr bläs- 
ehenförmig mit einem Kernkörperchen, sondern ganz körnig oder gra- 
nulirt. Hier gerade, nach achtmonatlicher Beobachtung, am interes- 
santesten Lebensmomente angekommen, ging leider die Kolonie zu 
Grunde und die Entwieklungsreihe konnte nicht bis zum Schlusse be- 
obachtet werden, ein Missgeschick, welches bei der Untersuchung der 
Infusorienfortpflanzung schon so manchem Beobachter begegnet ist. 

Die Beobachtungen Auerbach’s tragen meiner Ansicht nach den 
Charakter der Glaubwürdigkeit. Befremdlich aber ist immer der Um- 
stand, dass an den verschiedensten Stellen der Peripherie feste Nah- 
rungskörper von Aussen in die Leibesmasse eindringen können. Die 
Erklärung, welche der Verfasser selbst gibt, dass solche Nahrungs- 
körper nur „nach Durchbrechung der Zellenmembran * hereingekom- 
men sein können, muss als wenig befriedigend erscheinen. Sollte 
hier nicht abweichend von anderen Amoeben eine Stelle ohne Hülle 
existiren ? r 

Auerbach überzeugte sich ferner und es ist dieses von Wichtig- 
keit, von der Gegenwart der Kerne bei mehreren andern Amoeben- 


a eu 


” 


a aa = 2 


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— u. 


arten, wo sie bisher übersehen wurdent). Aber auch diesen schreibt 
er allen (hier glauben wir, dass eine vorzeitige Generalisirung mit- 
untergelaufen) eine Membran, eine Haut zu. 

So sehen wir denn also doch den Zellencharakter, welcher anfäng- 
lich uns bei dem Proteus gänzlich verloren schien, nachträglich wieder 
hindurchklingen und die Verwandtschaft mancher Amoebenleiber bei 
allem Abweichenden und Eigentlümlichen der Thiere sich dokumentiren. 

Doch wir können diese merkwürdigen unbeschalten Rhizopoden 
nieht verlassen, ohne hier noch eines sonderbaren Wesens Erwähnung 
zu thun, welches zwar schon lange bekannt, aber erst in neuerer Zeit 
Objekt gründlicher anatomischer und physiologischer Beobachtungen 
geworden ist. Wir meinen das Sonnenthierchen, Actinophrys?). Die 
vorhandenen Untersuchungen beziehen sich auf zwei wohl verschiedene 
Arten, A. Eichhornii und A. Sol. Kölliker durchmusterte das erstere, 
Claparede das letztere Thier, obgleich ihre Ahandleungen die entgegen- 
gesetzten Namen tragen. 

Es ist ein kugliges, doch in der Regel etwas abgeplattetes, klei- 
nes, ziemlich durchsichtiges Thierchen mit radienartig ausstrahlenden, 
feinen, unverzweigten, wasserhellen Fäden, welche wie das ganze Ge- 
schöpf nur träge und langsam beweglich sind. Erwachsene Exemplare 
erreichen eine nicht unbeträchtliche Grösse bis zu 1/4’; junge Thiere 
sind von viel geringerem Ausmaasse und oft sehr klein. 

Beiderlei Arten scheinen sich nicht ganz gleich in ihrer Struktur 
zu verhalten. Bei A. Eichhornii besteht die Leibesmasse bei Abwe- 
senheit eines Kernes®?) aus einer Rinden- und einer centralen Schicht, 
welche von zahlreichen Vacuolen durchzogen werden. In jener entdeckte 
Clapartde einen ganz peripherisch, dicht unter der Oberfläche gelegenen 
pulsirenden Raum®), dessen sonderbares Verhalten wir bei der zweiten 


1) Der Erste, welcher von einem Kerne der Amoeben spricht, ist von Sie- 
bold a. a. O. S.24. Auch Schneider, Beiträge zur Naturgeschichte der Infuso- 
rien, Müllers Archiv, 1854, S. 201, beobachtete Kerne bei Amoeben. 

2) Man vergl. Ehrenbergs Werk S. 303; ferner Kölliker, das Sonnenthierchen 
Actinophrys Sol in seiner und Siebold’s Zeitschrift I., S. 198, 1849, und Cla- 

ede über Actinophrys Eichhornii in Müller’s Archiv von 1854, S. 398; end- 
lich Lieberkühns Sendschreiben über Protozoen, in Siebold’s und Kölliker’s 
Zeitschrift. VII. S. 307. 1856. 

3) Ist die von Stein a. a. O. beschriebene Act. oculata ein wahrer Actino- 
phrys, wie ich glaube, so kann ein Kern bei andern Arten vorkommen. 

4) Er wurde übrigens schon früher von Stein gesehen, aber nicht richtig 
erkannt. Vgl. dessen Infusionsthiere, S. 152 und 153. 


ER). re 


Spezies ausführlicher zu besprechen haben. Eine Körperbedeckung 
oder eine Haut kommt unseren Sonnenthierchen in keiner ihrer Arten zu. 
Die Fäden sind so lange oder noch länger als der Diameter des 
Thieres; sie beginnen an der Basis etwas breiter, verfeinern sich 
dann, indem sie oft knotenförmig angeschwollen erscheinen und ziehen 
sich in eine sehr feine, schwer zu verfolgende Endspitze aus. Die 
Nahrungsaufnahme soll nach Kölliker folgende sein: 

Wenn ein fremder Körper gegen die Aussenseite unseres Thier- 
chens gekommen ist, bleibt er an der klebrigen Fläche eines Fadens 
anhängen, der ihn sich verkürzend zur Oberfläche der Kugel her- 
anzieht, während die andern benachbarten Fangfäden sich convergi- 
rend über ihn beugen, so dass die Beute gehalten wird. Indem sich 
jene immer dichter über den Nahrungskörper legen, wird dieser allmälig 
in die Leibessubstanz eingedrückt, welche ihn mit grubenartiger Aus- 
höhlung empfängt. Letztere vertieft sich mehr und mehr, so dass der 
eingedrungene Gegenstand später auch an seiner Aussenseite von der 
Leibesmasse umschlossen wird. Jetzt strecken und verlängern sich die 
Fangfäden wieder zum alten Verhältnisse. Dieses Eingepresstwerden 
des Nahrungskörpers kann an jeder Stelle der Peripherie geschehen, 
ebenso das in umgekehrter Weise vor sich gehende Ausstossen eines 
unverdaulichen Restes. 

Die Angaben Claparede’s über Actinophrys Sol, die andere Spe- 
zies, weichen nun in manchem ab. Die Verschiedenheit einer Mittel- 
und Kernschicht scheint zu fehlen; ebenso mangeln die zahlreichen 
Vaeuolen der vorigen Art. Höchst merkwürdig verhalten sich der 
pulsirende Raum und die Nahrungsaufnahme. Ersterer liegt, wie schon 
Siebold bei Actinophren sah, ganz dicht unter der Oberfläche. Bei 
seiner Ausdehnung erscheint er im Innern eines breiten und kurzen 
rundlichen Vorsprunges, der dann sich auf einmal wieder zusammen- 
zieht und in das Innere der Leibesmasse zurückkehrt, oftmals hier- 
bei eine leichte Depression an der letztern hinterlassend. Die Auf- 
nahme von Nahrungskörpern geschieht allerdings gleichfalls an jeder 
beliebigen Stelle der Peripherie. Auch hier bleibt ein fremder Ge- 
genstand an einem Faden ankleben und dieser zieht ihn gegen jene. 
Nun aber bildet sich rasch ein amoebenartiger Fortsatz der Körper- 
masse, welcher den Bissen, ehe er noch der Peripherie anliegt, um- 
schliesst und ihn dann durch seine Verkürzung in das Innere des 
Körpers einführt. „Es ist,“ sagt Claparede bezeichnend genug, „nicht 
der Bissen, der in die Leibessubstanz eindringt, sondern es ist viel. 


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mehr diese Substanz selbst, welche ihm entgegeneilt und ihn ver- 
schlingt.* 

Sonderbar ist es, dass A. Sol noch amoebenartig, aber viel trä- 
ger, die Gestalt des ganzen Körpers zu wechseln vermag. 

Was die Fortpflanzungsverhältnisse des wunderlichen Sonnenthier- 
chens angeht, so existirt nach COlaparede eine Theilung. Dann findet 
nach dem übereinstimmenden Urtheil der Beobachter ein Verschmelzen 
der Thiere statt, eine Konjugation. Möglicherweise haben Kölliker und 
Stein bei A. Eichhornii die Anfänge einer Sporenbildung bemerkt. 
Der Konjugationsakt kommt gewöhnlich nur zwischen zwei Exempla- 
ren vor, kann aber auch eine grössere Zahl umfassen. So sah Stein 
in dieser Weise bis 7 Individuen zusammengeheftet1), ebenso Perty. 
Neuerdings hat diesen Vorgang Lieberkühn besonders genau verfolgt. 
Er fand, wie zwei Actinophren vollkommen zusammenflossen und wie 
sich nachträglich mit dem konjugirten Paare noch ein drittes oder 
viertes Geschöpf verband. Einen physiologischen Effekt dieser Kon- 
jugation kennen wir zur Zeit noch nicht. 

In unsern Gewässern kommen eine Anzahl kleiner Wesen vor, welehe 
beschalte Amoeben darstellen. Wir nennen sie Monothalamien. 

Die Körperoberfläche der Thiere sondert eine Hülle ab von auffal- 
lender Regelmässigkeit, die allmälig in Berührung mit dem Wasser 
erhärte. Hierher gehört das Geschlecht Arcella, bei welchem eine 
halbkuglige braune Schale gefunden wird mit grosser rundlicher Oeff- 
nung auf der abgeplatteten Fläche und einem oft netzförmig gegitter- 
ten Ansehen. Verwandt ist Difflugia mit kugligem Gehäuse, was bei 
den einzelnen Arten glatt oder rauh erscheinen kann. In letzterem 
Falle sind mit der organischen Masse der Schale zahlreiche Sand- 
körnchen verklebt. Ebenfalls eine mehr oder weniger kuglige, aber 
ziemlich weiche, hautartige Schale von gelbbrauner Farbe besitzt ein 
von Dujardin entdecktes Geschlecht Gromia, welches theils im Meere, 
theils im süssen Wasser vorkommt. Auch hier ist am Gehäuse eine 
einzige rundliche Oeffnung vorhanden. Eine Ausnahme von den bis- 
her erwähnten Verhältnissen macht die Gattung Orbulina, bei welcher 
eine einzige grosse Oeffnung fehlt und das Gehäuse nach Art der bald 
zu besprechenden Foramiferen von einer grossen Menge feiner Löcher 
siebartig durchbohrt ist. 

Was nun das in der Schale befindliche Thier angeht, so ist die- 


1) A. a. O. S. 160. 


RER. GER 


ses im Wesentlichen amoebenartig. Natürlich ist dadurch, dass der 
grössere Theil des Thierleibes von der Schale umschlossen „wird, die- 
sem eine gewisse Ruhe vorgezeichnet und nur an derjenigen Stelle, 
wo die Körpersubstanz in freier Kommunikation mit der Aussenwelt 
steht, kann die proteusartige Veränderlichkeit der Gallerte sich zeigen. 
Hier treten dann in Form von Fortsätzen die uns bekannten Ausläufer 
auf. Diese sind von verschiedener Gestalt, dasjenige wiederholend, 
was die einzelnen Arten der Amoeben uns früher gezeigt haben. Kurz, 
stumpf, gering an Zahl und ganz glasartig durehsichtig olme Körnchen 
erscheinen sie bei Arcella, Difäugia; lang fadenförmig verzweigt und 
mit den Aesten zusammenfliessend bei den Gromien (Fig. 15), welche 
zuerst Dujardin, später Schultze mit wesentlich gleichen Resultaten un- 
tersucht haben, ebenso bei dem von letzterem in der Ostsee entdeck- 
ten Geschlechte Lagynis. Interessant in dem Spiele der Fortsätze ist 
namentlich der Umstand, dass die von ihnen festgehaltenen und über- 
flossenen Nahrungskörper (Fig. 15 a) bei dem Zurückziehen und Ver- 
kürzen der Ausläufer, wenn diese zur Schalenöffnung wieder eingezogen 
werden, durch die letztere in den eigentlichen Thierleib eingeführt werden, 
was auch wohl bei Amoeba porreeta in ähnlicher Weise vorkommt. 
Fragen wir nach der Beschaffenheit der Leibesmasse, so bietet 
dieselbe die vollkommene Uebereinstimmung mit derjenigen des Pro- 
teus dar. Sie ist sicher ohne Menbran und zeigt dieses am schön- 
sten in dem Zusammenfliessen benachbarter Ausläufer. Ob ein Kern 
allen zukommt, wissen wir noch nicht bestimmt. Für Arcella gibt 
ihn Sieboldt) an, für Difllugia Euchelys bemerkte ihn Schneider ?); 
ebenso Auerbach bei ersterem Geschlecht®). Letzerer fand durch vor- 
sichtiges Zersprengen der Arcellen-Schale einen Kern, welcher dem- 
jenigen der Amoeben sehr ähnlich ist und ebenfalls einen sehr grossen 
Nucleolus enthält. Interessant ist seine Beobachtung, dass die Arcel- 
len zeitweise in ihrer Leibesmasse mehrere, ja selbst viele Nuelei 
besitzen, deren bis 40 vorkommen können, um so mehr, je grösser 
die Thiere sind. Es ist dieses eine Erscheinung, welche wohl mit 
der Fortpflanzung zusammenhängt. Bei Gromia oviformis fand auch 
Schultze constant bald einfach, bald in Vielzahl (in grossen Exemplaren 
bis zu 18) den Kern. Er ist aber anders beschaffen, in seinem Innern 


1) Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der wirbellosen Thiere, S. 24. 
2) A. a. O. 8. 424. 
®) A. a. O. $. 208. 


= u 


kleine glashelle Bläschen umschliessend f). Ebenso kommen Kerne bei 
Difflugien und Euglyphen vor?). 

Sogenannte pulsirende Räume, welche wir bei den Infusorien ganz 
allgemein antreffen werden, können wenigstens bei den Monothalamien 
vorhanden sein. So besitzt ihrer Arcella vulgaris drei bis vier?). 

Was endiich die Fortpflanzung unserer Thiere betrifit, so wissen 
wir über diesen Gegenstand zur Stunde sehr wenig. 

Möglicherweise kommt eine Konjugation bei ihnen vor. Cohn ’ 
macht auf die schon ältere Beobachtung wieder aufmerksam, dass Ar- 
cellen und Difflugien nicht selten mit ihren Öefinungen gegen einan- 
der gedrückt und fest an einander hängend gefunden werden. Er 
sah Verschiedenheiten des Körperinhaltes beider Thiere, ja er konnte 
bemerken, dass bei einer Difflugia die Schale ganz leer war, während 
in dem Gehäuse der andern ein kugelförmig zusammengezogner Körper 
sich erkennen liess. Eine Theilung des reifen Thieres ist schon um der 
Schale willen nicht anzunehmen. — Die Jungen der Monothalamien sind 
in ihrer Jugend wahrscheinlich unbeschalt und nackt; hierfür spricht 
eine Beobachtung Cohn’s?). Er fand zwischen beschalten Difflugien 
in Menge eigenthümliche T'hierchen, welche von einer durchsichtigen 
Gallerthülle umschlossen waren und durch dieselbe strahlenartige Fort- 
sätze trieben. In der gelatinösen Umhüllung liessen sich fremde Kör- 
perchen, z. B. Sandkörnchen, eingeklebt entdecken, ein Umstand, der 
bekanntlich auch am Gehäuse der reifen Difflugia vorkömmt. 

Diesen Monothalamien nahe verwandt, obgleich auf den ersten 
Blick ganz anders erscheinend, sind die sogenannten Polythalamien 
oder wie man sie auch, freilich weniger passend genannt hat, die 
Foramiferen. Lange schon waren die zierlichen Gehäuse bekannt, 
welche der Fäulniss nicht unterworfen, steinhart erscheinen und bei 
fast allen aus kohlensaurem Kalke bestehen, nur selten, wie man 
neuerdings entdeckt hat, aus Kieselerde®). In einer Zeit, wo man 


I) A. a. 0.8.25. 

2) Schultze in Müllers Archiv, 156, S. 165. 
. ?) Siebold a. a. O. S. 20 und Claparede (a. a. O. S. 419) konnten aber ihrer 
sogar bis 10 bei Arcella vulgaris bemerken. 

4) Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Infusorien in Siebold’s und Köl- 
liker’s Zeitschrift. IV. S. 261. 1853. 

5) A. a. 0. 8. 261. 

6) Schultze in Müller’s Archiv, 1856, S. 165 und in seiner frühern Mo- 
nographie; 


re > 


keine Ahnung von dem Baue des eingeschlossenen Thieres hatte, er- 
regten die zierlichen Schalen die Aufmerksamkeit der Naturforscher. 
Tausend Arten wurden allmählig entdeckt, und manches über Lebensart, 
sowie geographische Verbreitung beobachtet. Sie kommen am Strande 
des Meeres, namentlich wo Seepflanzen ihnen Schutz und Unterhalt 
gewähren, reichlich vor, und erscheinen nach dem Tode des Thieres 
als Bestandtheile des Meeres-Sandes. Selten trifft man sie in grösserer 
Entfernung von der Küste. 

Beherbergen sie auch die verschiedenen Meereszonen, so sind sie 
zahlreicher vertreten gegen den Aequator, als nach den Polen. 375 
Arten gehören der heissen Zone, 350 der gemässigten an, und nur 
75 finden sich in den kalten Regionen. Sonst aber auch zeigen un- 
sere Kleinen ein oft beschränktes Vaterland. In dieser Hinsicht ist 
namentlich eine Angabe d’Orbigny's interessant. An den Gestaden 
Sid-Amerikas fand er 81 Arten unserer Thiere. Sie vertheilten sich 
so, dass 50 Spezies an der Ostküste, 30 andere an dem Westrande 
vorkamen und nur eine einzige Form an beiden Küsten zugleich ge- 
troffen wurde. So trennt also, mit einer einzigen Ausnahme, das Kap 
Horn die Polythalamien-Welt beider Ränder Amerikas. 

Nicht allein in geringer Entfernung unter dem Meeresspiegel tref- 
fen wir unsre Geschöpfe. Auch in bedeutenden Tiefen vermögen sie 
zu leben. Man hat aus einer Tiefe von 90 Faden lebende Polytha- 
lamien herausgezogen!). Sie hatten dort einen Druck von etwa 16 
Atmosphären auszuhalten. 

Die Menge der so allmälig dem Meeressande zugemischten Ge- 
häuse ist oft eine ausserordentlich grosse. So zählte schon im Jahr 
1739 Bianchi in 6 Unzen Sand aus dem adriatischen Meere 6700 
derartige Gehäuse. Ausserordentlich reich ist der Sand der Antillen. 
Eine einzige Unze soll nach einer ungefähren Schätzung 4 Millionen 


jener enthalten. Doch ist die letztere, von d’Orbigny herrührende- 


Angabe wohl übertrieben. Schultze konnte in einem an Foraminiferen 
sehr reichen Sande von Molo di Gaeta auf die Unze nur 1,500,000 
erhalten. Immerhin aber spielen die Gehäuse, welche in kleinen 
Exemplaren 1/9, in grossen höchstens 2—3''' Ausmaass besitzen, bei 
ihrer Menge in der Oekonomie der Natur eine wichtige Rolle. 


1) Das Vorkommen lebender Polythalamien in noch bedeutenderen Tiefen 
bis zu 10— 12,000 Fuss ist Schultze geneigt in Zweifel zu ziehen (a. a. O. 
S. 36.) - 


PD: U ERBEN 


=> 


Höchst bedeutend ist ferner der Antheil, welchen sie mit einer 
grossen Anzahl ausgestorbener Arten an den früheren Thierschöpfun- 
gen nahmen, so dass sie selbst an der Bildung unserer Erdrinde sich 
betheiligten, dass ein Theil des Bodens, auf welchem wir wohnen, 
manche Berge, die wir mühsam ersteigen, Werke dieser kleinen Thiere 
sind, oder vielleicht, richtiger gesagt, ungeheure Grabstätten bilden, 
wo die kleinen Gehäuse beisammen liegen in Mengen, für welche die 
Sprache keinen Ausdruck und die Rechnung keine Zahl mehr hat. 
Dasjenige, was die Geologen die Kreidebildung und die tertiären Kalk- 
lager nennen, besteht zu einem grossen Theile aus den eleganten, 
vielkammerigen Kalkschalen der Foraminiferen. Aber auch in älteren 
Schichten, ja in den frühesten Belebungs-Perioden des Erdballes kom- 
men sie schon reichlich vor. Ehrenberg, welcher auch hier dieses 
Gebiet der Natur recht eigentlich aufgeschlossen hat, machte uns in 
neuerer Zeit mit den interessanten Polythalamien des Grünsandes 
bekannt!). 

Nimmt man ein Stückchen Kreide oder tertiärer Kalkmasse, pul- 
vert es und bringt man durch ein Oel aufgehellt den Staub unter das 
Mikroskop, so erscheinen in grosser Menge die Polythalamien-Schäl- 
chen, viele allerdings zertrümmert, andere vortreflich erhalten. Ihre 
Menge in den einzelnen Gesteinen wechselt. Man hat Versuche ge- 
macht, die Quantitäten der Thiere annähernd zu taxiren. Ein Kubik- 
zoll enthält oft weit über eine Million. Ein Pfund Kreide würde 
mehr als 10 Millionen umschliessen können. Sehr reich ist an ihnen 
der Grobkalk des Pariser Beckens. Ein Kuhikzoll aus den Stein- 
brüchen von Gentilly enthält etwa 58,000 Schälchen, ein Kubikmeter 
also 3,000,000,000. Stellt man sich nun ein Kalklager von einigen 
hundert Fuss Mächtigkeit vor, welche Mengen ergeben sich da! Zu- 
gleich aber, da sich diese Schälchen im Laufe der Zeiten an dem 
Boden der damaligen Kreidemeere abgesetzt haben, und ihre Lebens- 
dauer, wie neuerdings Schultze gezeigt hat, eine ziemlich lange ist, 
tritt uns das hohe Alter der Erde in neuer Beleuchtung entgegen. 

Doch viel wichtiger, als das Vorkommen dieser Gehäuse, sind für 
unsern Aufsatz ihr feinerer Bau und die von ihnen umschlossenen 
Thiere. Ueber letztere erhielten wir die ersten richtigen Aufschlüsse 
von Dujardin, welche den älteren unrichtigen und zum Theil aben- 
theuerlichen Angaben von d’Orbigny und Ehrenberg ein Ende machten. 


') Abhandlungen der Berliner Akademie aus dem Jahre 1855, S. 85. 
Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 3 


a 


In ‘neuester Zeit hat Schultze in ‘seiner vielfach eitirten treflichen 
Arbeit diese Untersuchungen des französischen Forschers bestätigt 
und unsre Kenntnisse mit zahlreichen gehaltvollen Angaben erweitert. 
Wir folgen jener in dem Wesentlichen. ; 

Die Form der Gehäuse wechselt sehr, nicht minder die Art und 
Weise, wie sie durch Scheidewände in Kammern abgetheilt sind. 
Diese zeigen sich bald in einer Linie hintereinander, oder sie sind in 
einer Spirale geordnet, oder ohne eine bestimmte Gesetzmässigkeit ne- 
ben einander gelagert. 

Nieht minder sind die Oeffnungen wechselnd und keineswegs . von 
bedeutender systematischer Wichtigkeit. Kommen siebartige feine 
Löcher vor, was jedoch nieht überall der Fall ist, so wechselt ihre 
Grösse von Yayo bis herunter zu "/g333'". Ebenso ändert die Form 
dieser Poren. Sonderbare Gestalten nehmen die letzteren zuweilen 
an, indem sie trichterartig oder spaltförmig werden. Neben diesen 
feineren Oeffnungen kann an der letzten Kammer eine grössere vor- 
kommen, oder sie kann fehlen. Ferner gibt es Polythalamien, bei 
welchen die feineren Löcher ganz fehlen und nur die grosse Ausgangs- 
öffnung allein vorhanden ist. Endlich ist zuweilen die Oberfläche des 
Schälehens mit Höckern, Wülsten oder kleinen Leistehen verziert. 

Die Scheidewände zeigen uns stets kommunikatorische Oeffnungen. 
Diese können, je nachdem die letzte Kammer eine einfache Mündung 
besitzt, ‘einfach sein oder bei siebartig durchbrochener Schale die letz- 
tere Beschaffenheit ebenfalls annehmen. 

Auffallend ist ein von Carter, Williamson und Ehrenberg beob- 
achtetes System von Gängen oder Kanälen, welches sich durch die 
ganze Schalenwand erstreckt. Schultze vermuthet, dass dieses Kanal- 
werk dazu diene, die kontraktilen Ausläufer des Körpers nach Aussen 
gelangen und ebenso in dem Gehäuse in verschiedenen Richtungen 
sich verbreiten zu lassen. 

Die Innenfläche der Schale (nicht der Thierkörper) wird von einem 
feinen Häutchen ausgekleidet. 

Die Leibessubstanz, welche also dureh die Scheidewände in mit 
einander zusammenhängende Stücke getheilt ist, zeigt dieselben Cha- 
raktere, wie die der Amoeben und Monothalamien, Körnehen im Innern 
oder auch Farbestoffbläschen aus dem von Nägeli entdeckten, bei 
Diatomeen vorkommenden Pflanzenpigment, dem sogenannten Diatomin 
bestehend, welches wohl von Aussen aufgenommen und bei fastenden 
Thieren seltener wird. 


Baer arn 


or 


Pulsirende Räume kommen nicht vor, ebensowenig kernartige Ge- 
bilde. Dessgleichen fehlt eine Haut und jede Spur weiterer Orga- 
nisation. 


Zu den Oeffnungen des Gehäuses treten dieselben Fäden, wie 
sie bei Amoeba porreeta und Gromia vorkommen, aus. Wo eine grössere 
Oeffnung neben den feinen siebartigen Löchern vorhanden ist, erfolgt 
durch jene vorzugsweise der Austritt der Fortsätze. Die Länge der 
vollkommen entfalteten Ausläufer ist eine höchst beträchtliche. (Fig. 16.) 


Diese Fäden dienen auch hier zur Ernährung. Kleine mikros- 
kopische Pflänzchen, ebenso Infusorien bleiben an ihnen haften und 
werden überflossen, letztere noch gelähmt. Wo eine grössere Oef- 
nung an der letzten Kammer vorkommt, ziehen die sich verkürzenden 
Fäden allmälig die Beute in das Innere dieser Abtheilung. Wo da- 
gegen eine solche grössere Ausgangsöffnung der Schale fehlt, kann 
ein Nahrungskörper nicht in die Leibesmasse eingeführt werden. Hier 
müssen die Fäden eine aussaugende oder auflösende Einwirkung auf 
jenen haben. Dem entsprechend enthält bei den Schalen letzter Art 
der Leib nie solche Nahrungskörper, wohl aber bei den mit einer 
grossen Oeffuung versehenen Polythalamien die letzte Kammer. 


Ueber die Fortpflauzung der Polythalamien wissen wir sehr wenig, 
da weder Dijardin noch Schultze genügende Resultate erhielten. Eine 
Theilung des beschalten Thieres ist unmöglich. Eine Konjugation kann 
vorkommen, da bei Miliolen nach @errais zwei Schalen ähnlich wie 
den Monothalamien an einander hängend gefunden werden. Derselbe 
Forscher gibt im Uebrigen an, eine Menge lebendiger Jungen aus 
dem elterlichen Körper des Thieres heraustreten gesehen zu haben. 
In. der neuesten Zeit konnte bei demselben Geschöpfe Schultze die 
Gervais’schen Beobachtungen bestätigen, indem er gegen 40 lebende 
Jungen aus dem Leibe einer Miliolide hervorkommen sah, wobei die 
Leibessubstanz des elterlichen Geschöpfes in der Produktion der Keime 
aufgegangen wart). 

Wir können die Rhizopoden nicht verlassen, ohne hier, wenig- 
stens anhangsweise, einer sonderbaren Gruppe von Thieren einige 
Worte zu schenken, welche wohl in der Folge eine vierte Klasse der 
merkwürdigen Protozoenwelt ausmachen dürften, den sogenannten 


') Müller’s Archiv, 1856 ‚8. 164, Beobachtungen über die Fortpflanzung 
der Polythalamien. 


ar 


Polyeystinen Ehrenberg'st). Es sind kleine mikroskopische Geschöpfe 
des Meeres mit einer von zahllosen Löchern siebartig durchbrochenen 
Kieselschale, die äusserlich vielfach eingeschnürt, aber ohne wahre 
Scheidewände im Innern ist. Wunderbar zierlich sind die Formen vieler 
derselben, wie Körbe, Bienenkörbe, Sterne, Scheiben, oft mit radien- 
artig abstehenden Stacheln etc. erscheinend. Achnlich den Rhizopo- 
den kommen sie fossil vor und werden in dieser Hinsicht von Wich- 
tigkeit. Sie erscheinen in der Kreide und tertiären Kalklagern. Sehr 
reich ist an ihnen der Mergel von Caltanisetta in Sicilien und von 
Barbados?). 

Es gelang in der neusten Zeit dem grössten Anatomen der Ge- 
genwart, J. Müller ?), in der Meerenge von Messina aus der Tiefe der 
See emporgeholte lebende Polyeystinen zu untersuchen. Er beobach- 
tete die Genera Haliomma, Dietyospyra, Eueyrtidium und Podocyrtis. 
Im Innern des Gehäuses lag eine weiche, dunkelgefärbte, meist bräun- 
liehe Leibessubstanz. Müller vermochte in ihr Zellen zum Theil mit 
gelblichen Körnchen zu unterscheiden, ebenso enthielt sie noch violette 
Molekularkörperchen. Eine äussere Umhüllung der Kieselschale durch 
eine thierische Masse fand nicht statt. Dagegen, und dieses ist von 
grösster Wichtigkeit, erschienen aus den Löchern derselben hervorge- 
tretene, lange, höchst zarte und durchsichtige unverzweigte Fäden. 
Sie bewegten sich nicht und erinnerten an ganz gleichartige Theile 
des sonderbaren Genus Actinophrys, des Sonnenthierchens. In der 
That muss sich unwillkürlich der Gedanke aufdrängen: ist nicht das 
letztere Geschöpf in ähnlicher Weise der Prototyp der Polyeystinen, 
wie die hüllenlose Amoeba der kalkumhüllten Polythalamien ? 

Sonderbare, vor wenigen Jahren beobachtete Gallertemassen des 
Meeres, die Thalassicollen und Akanthometren gehören viel- 
leicht ebenfalls noch hierher. Bei letzteren, von Müller entdeckt, be- 
merkte Claparede an der norwegischen Küste ähnliche Fäden, aber 


beweglicher Natur*). 


1) Wir verweisen auf Ehrenberg’s Abhandlung in den Monatsberichten der 
Berliner Akademie von 1847. 

2) Ehrenberg Mikrogeologie, Tab. XXII, ebenso die prachtvollen Zeichnungen 
der 36sten Platte. 

8) Monatsberichte der Berliner Akademie von 1855, S. 251 und 671. 

#) An demselben Orte, S. 674. 


Wir wenden uns endlich zur letzten Protozoenklasse, zu den 
Aufgussthierchen oder Infusorien. 

Diese Geschöpfe, welche in unendlicher Menge viele unserer 
Gewässer beleben und mit einem grossen Reichthum von Arten über 
den ganzen Erdball verbreitet sind, waren dem Alterthume unbekannt. 
Von der Fülle dieses organischen Lebens, welches in seinen sonder- 
baren Gestalten jeder Gebildete durch ein Sonnenmikroskop an die 
Wand gezaubert einmal bewunderte, von dieser ganzen Fülle hatte die 
alte Naturforschung keine Ahnung. Die Infusorien scheinen erst ge- 
gen das letzte Drittheil des 17. Jahrhunderts und zwar durch den 
Vater der Mikroskopie, den holländischen Naturforscher Leeuwenhoek, 
entdeckt worden zu sein. Später im 18. Decennium mannigfach unter- 
sucht, erregte namentlich ihre Entstehung grosses Aufsehen, ihr Auf- 
treten in mit Wasser übergossener, faulender organischer Substanz. 
Sie wurden vielfach als Beweise einer elternlosen, sogenannten Ur- 
zeugung, Generatio aequivoca, benützt, eine Auffassung, über welche 
die Gegenwart anderer Meinung geworden ist, nachdem bereits vor 
langer Zeit ein Italiener, Spallanzani, den richtigen Weg angedeutet 
hatte. Ihre systematische Bearbeitung geschah schon im vorigen Jahr- 
hundert in einer für die damalige Epoche höchst ausgezeichneten Weise 
durch den Dänen O. F. Müller‘). In unserer Zeit hat namentlich 
Ehrenberg?) im systematischen Theile höchst bedeutendes geleistet, 
den ganzen Reichthum der Klasse dem staunenden Blicke entrollt und 
diese so kleine und doch wiederum so grossartige Welt recht eigent- 
lich eröffnet. 

So nachhaltig der Berliner Forscher in dem systematischen Theile 
der Infusionsthierchen gearbeitet hat und noch arbeitet, so unglück- 
lich ist er auf der andern Seite in der Erkenntniss ihres Baues ge- 
wesen. Befangen von eigenthümlichen Anschauungen hat er die An- 
fänge der Infusorienorganisation erkannt, aber irrig gedeutet. Unsere 
Thiere wurden so mit Augen, einem Nervensysteme, einem wunder- 
lichen Verdauungsapparate, Samenblasen, Hoden, Eiern ausgestattet, 


!) Aimalcula infusoria ete. Havniae, 1786. 

?) Die Infusionsthierchen als vollendete Organismen, Leipzig, 1838, und 
viele einzelne Abhandlungen. Dann ein zweites Prachtwerk, Zur Mikrogeolo- 
gie. Leipzig, 1854. 


u. Se 


Dingen, welche sie alle in Wirklichkeit gar nicht besitzen. Jahre 
lang bewundert und nachgebetet, ist dieser angeblich höhere Bau der 
kleinen Geschöpfe bereits wieder aus der Wissenschaft verschwunden, 
nachdem zuerst Dujardin der Ehrenberg’schen Deutung nachhaltig ent- 
gegengetreten war und sich später eine Reihe bedeutender Naturfor- 
scher nach eigenen Beobachtungen gegen den Berliner Gelehrten er- 
klären mussten. Es ist ein überwundener Standpunkt. Allerdings 
sind in dem Betonen eines einfachen Baues Dujardin!) und in Deutsch- 
land siebold?), sowie Kölliker®) meiner Ansicht nach zu weit gegan- 
gen. Namentlich ist die Natur der Infusorien als „einzelliger‘ 'Thiere, 
wie die beiden letztgenannten Männer sie auffassen wollten, nicht 
durchzuführen. Indem wir auf letzteren Gegenstand weiter unten viel- 
fach zurückkommen müssen, bemerken wir schliesslich, dass auch in 
der neueren Zeit die Entwicklungsgeschichte unserer Thiere, welche 
Ehrenberg wenig aufgeklärt hat, sich aufzuhellen beginnt. In letzterer 
Beziehung verdienen vorzüglich die Namen von Stein*), Cohn) und 
anderen Beobachtern einer ehrenvollen Erwähnung. Freilich ist es ein 
Gegenstand so schwieriger und so trügerischer Natur, dass neben der 
Wahrheit dem Forscher gewöhnlich auch der Irrthum zu Theil wird 
und noch lange Jahre verfliessen dürften, bis wir zu einem genügen- 
den Wissen über diesen Theil des Infusorienlebens gelangen werden. 

Die Infusionsthierchen, als die am längsten gekannten und am 
genauesten verfolgten Protozoen können hinsichtlich ihrer Körpergestalt 
und Grösse, ihres Vorkommens und ihrer Verbreitung hier mit Still- 
schweigen übergangen werden. Uns beschäftigen nur Bau und Ent- 
wicklungsgeschichte. 

Besitzen, fragen wir uns zuerst, die Infusionsthierchen eine Kör- 
perhülle, eine Haut im üblichen Sprachgebrauche? 

Dujardin läugnet sie, indem er von einer vorgefassten Meinung 
befangen ist, während sie Siebold den Thieren einfach zuschreibt, wo- 
bei wir freilich nicht erfahren, wie viel er hier beobachtet und wie 


1) Neben früheren Arbeiten in den Annales des Sciences naturelles, vergl. 
man dessen Histoire naturelle des Zoophytes. Infusoires. Paris, 1841. 

2) Lehrbuch der vergleichenden Anatomie ete. 8. 7. 

8) Vgl. dessen Aufsatz über das Sonnenthierchen in Siebold’s und Kölliker's 
Zeitschrift. 1849. I. S. 198. 

4) Vgl. namentlich dessen Werk: die Infusionsthiere, auf ihre Entwicklungs- 
geschichte untersucht. Leipzig, 1854. 

5) An mehreren Stellen in Siebold’s und Kölliker’s Zeitschrift. 


= WW = 


viel er erschlossen hat. ©. Schmidt fand im Jahre 1849 in der Haut 
mehrerer Infusorien eigenthümliche, kleine, stabförmige Körperchen, 
welche an gleiche Gebilde der Strudelwürmer erinnertent). Perty?) 
in einer grössern Arbeit läugnete die Körperhülle der Infusorien aufs 
Neue. Ich selbst hatte schon im Jahr 18483) mir diese Frage vor- 
gelegt und auf die Art und Weise des Zerfliessens vieler Infusorien 
in Folge eines sich steigernden Druckes aufmerksam gemacht, welche 
für die Existenz einer eingerissenen Körperhülle spricht. Ebenso be- 
merkte ich an zertrümmerten Stentoren zarte kleine Fetzen der zer- 
rissenen Haut. Nenerdings ist Cohn*) durch die Anwendung von 
Reagentien dahin gelangt, diese Hülle bei einigen Arten leicht zu 
isoliren. Setzt man einem mit Infusorien belebten Wassertropfen etwas 
Weingeist zu, so hebt sich die Körperhülle in Form einer zarten 
Membran blasenförmig ab und später löst sie sich ringsum von der 
Peripherie los. So bei Loxodes Bursaria, ebenso Paramaeeium Aurelia. 
Diese so abgehobene Hülle ist wasserhell, aber von zarten, dicht 
aneinander liegenden, wenig scharfen Linien parallel durchzogen. In- 
dem diese Linien spiralig um die Längsachse laufen und sich kreuzen, 
eutstehen kleine rhombische Felder der Hülle. Es sind unsere Linien 
der optische Ausdruck feiner Falten oder leichter Erhebungen. So- 
nach erklärt sich jenes retieuläre Ansehen der Körperhülle, welches 
Dujardin vielfach in dem Atlas seines Infusorienwerkes richtig ge- 
zeichnet hat. Es ist leicht, namentlich an Paramaecium Aurelia, sich 
von der Richtigkeit der Cohn’schen Angaben zu überzeugen. Aehn- 
lich wirkt manchmal auch die Essigsäure. Man kann indessen bei 
Benutzung unserer starken neuern Linsen auch ohne Anwendung von 
Reagentien eine Anzahl Bilder bei andern Infusorien gewinnen, welche 
die Existenz einer Hülle darthun. Untersucht man z. B. einen Sten- 
tor eoeruleus mit 5—600facher Vergrösserung eines Oberhäuser’schen 
oder Kellner’schen Instrumentes, so erscheint die Hülle eigenthümlich 
durch höchst feine, aber scharf eontourirte Linien in longitudinaler 
Richtung ausgezeichnet. Diese zarten Linien, an manche elastische 
Fasern feinster Art erinnernd, sind bei der Verlängerung des Thieres 
gestreckter, bei seinen Kontraktionen stark wellenförmig gekrümmt. Der 


!) Froriep's Notizen. 1849. 

2) Beiträge zur Kenntniss der kleinsten Lebensformen. Bern, 1852. $. 52. 
3), Göttinger Studien von 1848. I. S. 719. 

*) Siebold’s und Kölliker's Zeitschrift. V. S. 420. 1854. 


ie AED 


grosse pulsirende Raum liegt zuweilen so dicht unter der Hülle, dass 
diese als einfache Kontour ihn seitlich begrenzt und über demselben die 
angeführte Linienzeichnung auf das Schönste erkennen lässt. Ophry- 
dium versatile zeigt in dem hinteren, von Chlorophyll oftmals ziem- 
lich leeren Theile seines Körpers die Hülle in zarter Längsfaltung gar 
nicht selten auf das Schönste. Bei Chilodon ist am Eingange des 
Mundes die Haut einen eylindrischen Schlauch mit parallelen, starken 
leistenartigen Verdickungen bildend (die bekannten Stäbchen). Ich 
konnte mehrmals diesen Theil so isoliren, dass allerdings sehr ver- 
feinert das Häutchen in Form eines Schlauches am untern Theile si- 
tzend bemerkt wurde (Fig. 18 b). Es hatte sich als Auskleidung eines 
speiseröhrenartigen Kanales in das Innere des Körpers erstreckt!). 

Die feinen stabförmigen Körperchen in der Haut von Paramae- 
cium Aurelia, die Schmidt entdeckt hat, entlassen gleich den bekann- 
ten Nesselorganen vieler niederer Thiere einen feinen Faden (Allman). 
Leuckart empfiehlt hierzu besonders die Essigsäure. 

Die Haut trägt nun die fast ausschliesslichen Bewegungsorgane 
der Klasse, nämlich Wimperhärchen. Diese sind, was Grösse, Form 
und Zahl betrifft, ausserordentlichem Wechsel bei den einzelnen Grup- 
pen und Geschlechtern unterworfen. Ihre Bewegung ist eine willkür- 
liche, im Gegensatze zu derjenigen unselbstständiger Flimmerzellen 
höherer Thiere. Es ergibt sich aber hieraus ebensowenig eine funda- 
mentale Verschiedenheit beiderlei Flimmerbewegungen, als die Physio- 
logie eine solche zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Muskel- 
bewegung annimmt. 

Was nun die von der Haut umhüllte Körpersubstanz betrifft, in 
welcher Ehrenberg so wunderbarliche Organisation gesehen haben wollte, 
so ist diese eine ganz ähnliche Masse, wie wir sie bei den Rhizo- 
poden angetroffen haben, dieselbe Sarcode, welche aber allerdings bei 
den einzelnen Infusionsthieren in ihrer Kontraktilität grosse Differen- 
zen darbietet. So erscheint sie sehr zusammenziehbar z. B. bei Eug- 
lena, Ophrydium und Stentor, während bei anderen kaum eine Kon- 
traktilität, sondern nur eine elastische Natur der Sarcode zu bemer- 
ken ist. Hierauf hat schon Cohn ganz richtig aufmerksam gemacht. 
Sie erscheint bald mehr diekflüssig, bald etwas fester, immerhin aber 
gallertartig und einen sehr verschiedenartigen körnigen Inhalt um- 


1) Man vergleiche Lachmann, über die Organisation der Infusorien, beson- 
ders der Vorticellen. Müller’s Archiv. 1856. S. 367. 


Be EEE 


schliessend , theils sehr feine, staubartige, farblose Moleküle, theils 
grössere derartige Körnchen, theils gefärbte Moleküle enthaltend, wie 
z. B. bräunliche oder auch grüne Chlorophylikörper führend, ein bei 
Infusorien ziemlich häufiges Vorkommen. 

Dieselbe Neigung zur Bildung von Vacuolen, welche wir bei 
manchen Rhizopoden antrafen, ist auch bei den Infusionsthierchen vor- 
handen. Die ausgepresste Flüssigkeit kann zuweilen eine leicht röth- 
liche Nüaneirung annehmen, zum Beweise, dass es nicht reines Wasser 
ist. Auf der anderen Seite lehrt allerdings die Beobachtung, dass 
ein reichlicher Eintritt des umgebenden Wassers in den absterbenden 
Leib der Infusorien die Vaeuolenbildung sehr befördert. 

Diese Verhältnisse wurden zuerst im Wesentlichen richtig, wenn 
auch nicht immer in Einzelheiten, von dem mehrfach eitirten Natur- 
forscher Dujardin erkannt und dann allerdings nach längeren Zwi- 
schenräumen von bewährten deutschen Beobachten, wie Siebold und 
Kölliker bestätigt. Die angeführten Männer und noch Andere, deren 
Namen wir hier übergehen, bildeten so eine Opposition gegen die 
von Ehrenberg behauptete hohe Körperorganisation der Infusorien, eine 
Opposition, welche vielleicht wiederum, wie es so häufig im Leben 
zu gehen pflegt, ihr Ziel hier und da überschritten hat, aber unserer 
Meinung nach in den Hauptpunkten begründet ist. 

In der neuesten Zeit (denn frühere, zum Theil höchst schüler- 
hafte Angaben, wie z. B. die von Eckhardt!) können wir übergehen), 
ist hiergegen ein neuer Widerspruch erhoben worden. Claparede 
in seiner früher eitirten Arbeit über das Sonnenthierchen ?) macht 
darauf aufmerksam, dass man z. B. ein Glockenthierchen (Vorticella) 
mit seinem zusainmengesetzten Bau, mit Glöckchen, Kern, Stiel, Mus- 
kel u. s. w. nicht mehr für „einzellig* erklären könne, und wir müs- 
sen ihm hier Recht geben. Auf der andern Seite aber kommt er zu 
dem höchst gewagten Ausspruche, dass die willkürlich beweglichen 
Wimperhaare des Thieres „höchst wahrscheinlich durch Muskeln und 
Nerven regiert würden, welche aber unsere jetzigen Erforschungsmittel 
nicht zu entdecken gestatten.“ Wenn der Naturforscher nur dasjenige 
als vorhanden annehmen darf, was ihn die Sinne lehren, und sich zu 
hüten hat, Dinge in einen Naturkörper phantasirend hineinzutragen, 
welche nicht zu beobachten sind, so bedarf dieser Ausspruch des 


1) Vgl. Wiegmann’s Archiv von 1846. S. 217. 
2) A. a. O. S. 415. 


ie SE. me 


tüchtigen Forschers keiner ernstlichen Widerlegung, da er eben durch 
den jetzigen Zustand unserer Mikroskope in keiner Weise bestätigt 
werden kann. Wenn er dann bemerkt, es sei schwer zu begreifen, 
wie eine strukturlose Masse fähig sei, abzusondern, und zwar noch 
nach Aussen und Innen ganz verschiedene Substanzen, so können wir 
ihm hier Recht geben, müssen aber gerade an die neuerdings be- 
merkten Cutieularbildungen thierischer Zellen, über welche wir kürz- 
lich von Kölliker's Feder einen interessanten Aufsatz erhalten haben, 
erinnern. — Leydig in seiner Histologie!), S. 16, schreibt: „Mag Eh- 
renberg im Einzelnen mehrfach geirrt haben, sein Grundgedanke, dass 
den Infusorien ein differenzirter Organismus zukomme, wird durch 
neuere Untersuchungen immer mehr bestätigt. Bei den grösseren Ar- 
ten lässt sich unter gehöriger Vergrösserung auch von histologischer 
Differenzirung reden. Prüfe ich z. B. umfänglichere Thiere von der 
Gattung Vorticella, Epistylis u. a., bei 780maliger Vergrösserung (Kell- 
ner’sches Mikroskop, System 3, Ocular 2), so ist unterhalb einer deut- 
lichen, häufig quergestrichelten Cutieula , welehe Zeichnung nicht etwa 
von Falten herrührt, sondern im ausgestrecktem Zustande des Thieres 
gesehen wird, die Leibessubstanz keineswegs eine gleichartig-galler- 
tige Masse, sondern verhält sich, wenn schon in verkleinertem Maass- 
stabe, wie die Substanz unterhalb der Cuticula der Rotatorien, der 
Entomostraken oder zarter Insektenlarven. Man unterscheidet nämlich 
sehr wohl rundliche Körner, in Essigsäure schärfer werdend, die ganz 
vom Habitus der Nuclei, in einer gewissen Regelmässigkeit in eine 
weiche Substanz gelagert sind. Bei den Rotatorien, Insektenlarven ete. 
ist das Bild häufig gerade so, nur dass die Nuclei grösser sind und 
eben desshalb deutlicher wird, wie zu jedem Kerne ein gewisser Be- 
zirk der jetzt gleichmässigen Substanz ursprünglich als Zellenterrito- 
rium gehört haben mag.“ Räderthiere, Insektenlarven sind in ganz 
anderer Weise entstanden als Infusorien, nämlich von einem Zellen- 
haufen des gefurchten Eies, während ein solches Zellenmaterial für 
die ungeschlechtlich entstehenden Infusionsthierchen in keiner Zeit ihres 
Lebens nachzuweisen ist. Was sodann das von Leydig bemerkte Ver- 
halten grösserer Infusorien betrifft, so habe ich mir vor Monaten, ehe 
das Lehrbuch jenes Verfassers erschien, dieselbe Frage vorgelegt und 
durch mikroskopische Untersuchung grösserer Formen zu beantworten 
versucht. Ich bediente mich zum Theile eines Kellner’schen Instru- 


!) Lehrbuch der Histologie des Menschen und der Thiere. Frankfurt, 1857. 


a 


mentes, ferner eines sehr guten Objektivs 8 von Oberhäuser und eines 
sehr starken Linsensystemes von Nachet, welches im Besitze von 
Prof. Zebert ist und von den meist sehr mittelmässigen starken Ob- 
jektiven jenes Optikers eine rühmliche Ausnahme macht. An Ophry- 
dium versatile, Stentor eoerulens, Trachelius ovum und Paramaecium 
Aurelia hat man Thiere von einer Grösse, dass diese für die Erken- 
nung feinen mikroskopischen Details vollkommen ausreicht. Es ist 
hier von einer Zusammensetzung aus Zellen oder Kernen nichts irgend- 
wie sicheres zu entdecken und jene grösseren Körner, welche bei 
manchen Thieren vorkommen, bieten keinerlei Charaktere eines wahren 
Kernes dar, so dass das Ganze gewiss weit richtiger auch jetzt noch 
als Sarcode zu bezeichnen ist. Die niedersten Strahlthiere, wie z. B. 
die Hydra mit ihrer Körpersubstanz, machen daneben einen ganz an- 
dern Eindruck, wo Kerne und Zellen, wie Leydig selbst richtig gegen 
Ecker auffand, sicher und leicht darzuthun sind. 

Lachmann in einer verdienstlichen Arbeit!) ist ebenfalls für eine 
beziehungsweise hohe Organisation in die Schranke getreten. An- 
knüpfend an eine von Cohn?) bemerkte und in der That vorhandene 
Eigenschaft der Leibessubstanz der Infusorien kommt er zu einer son- 
derbaren Auffassung ihres Körpers. Jener Beobachter hatte nämlich 
gesehen, dass bei manchen unserer Thiere der Körper aus einer pe- 
ripherischen festeren Schicht und einer innern viel wasserreicheren 
Substanz bestehe, welche letztere zuweilen in einer rotirenden Bewe- 
gung begriffen ist, so bei Loxodes Bursaria und Trachelius ovum. 
An letzterem Thiere kann man sich sehr leicht von der Wahrheit 
dieser Cohn’schen Angaben überzeugen; ebenso bei Stentor coeruleus, 
bei Ophrydium versatile, bei manchen Opalinen ete, Lachmann will 
nun diese Rindenschicht der Sarcode, in welcher allerdings die spä- 
ter zu besprechenden kontraktilen Räume ausschliesslich vorkommen 
dürften, allein als Körperparenchym der Infusorien betrachten, wäh- 
rend die innere flüssige Sarcodemasse (welche übrigens ganz allgemein 
rotiren soll) nur den Inhalt eines einzigen Magens ausmache und also 
als Chymus 'gedeutet werden müsse. — Wir wollen mit dem Verfasser 
über die Wahl seiner Ausdrücke von Chymus und Magen hier nicht 
rechten, wir wollen ihm nur entgegenhalten, dass eine derartige Tren- 


!) Ueber die Organisation der Infusorien, besonders der Vorticellen in Mül- 
ler's Archiv. 1856. S. 340. 
2) Siebold’s und Kölliker's Zeitschrift, III., S. 257 (1851), u. IV., S. 1 (1853). 


el 


nung der Leibesmasse in „Körperparenchym“ und „Magenhöhle“ nicht 
bei allen Infusionsthieren grösserer Art deutlich zu erkennen ist und 
dass, worauf wir hier namentlich Gewicht legen, die konsistentere 
Rindenschicht nicht scharf von der flüssigeren centralen Masse abge- 
setzt ist, sondern mehr allmälig in die letztere übergeht. Wir möch- 
ten hier an manche Ganglienzellen, ebenso an den Dotter des Säuge- 
thieres erinnern, welche oftmals ganz analoge mikroskopische Differenzen 
einer kompakteren Rindenschicht und einer flüssigeren Mittelpartie dar- 
bieten, ohne dass es einem Histologen eingefallen ist, hier von einer 
Wand und einer centralen Höhle zu sprechen. Der Chromsäure, auf 
welche sich Lachmann beruft, können wir hier keine Beweiskraft vin- 
diziren. Das Verhältniss, welches die Hydroiden zeigen, z. B. der 
Armpolyp des süssen Wassers, und was Lachmann zu seiner Auffas- 
sung des Infusorienkörpers veranlasst haben dürfte, ist denn doch ein 
wesentlich anderes, indem hier Leibeswand und Leibeshöle sich scharf 
von einander absetzen. Lachmann erörtert dann, in seiner Auffassung 
weiter gehend, sogar die Frage nach der Existenz einer besondern 
Magenwand. 

Bei Trachelius ovum kommt ein sonderbarer verzweigter Strang 
durch den ganzen Körper vor, von welchem schon vor Jahren Ehren- 
berg eine im Allgemeinen brauchbare Abbildung gegeben hat. Dieser 
ist für Lachmann Beweis einer besonderen Magenwand, welche durch 
mit Flüssigkeit erfüllte Lücken von dem übrigen Körperparenehym 
getrennt sei und so ein baumartig verzweigtes Kanalwerk darstelle. 

Cohn!) hatte dagegen früher über diesen Gegenstand sich fol- 
gendermassen geäussert: „Der Körper besteht aus einer schleimig gal- 
lertartigen und trüb feinkörnigen Rindenschicht, welche aber nicht das 
Innere des Thieres gleichmässig erfüllt. Das letztere wird vielmehr 
von einer viel dünneren, wasserähnlichen Flüssigkeit eingenommen, 
durch welche sich Fäden und Stränge der dichten Schleimsubstanz von 
der Rinde ausgehend, hindurchziehen, zu dünneren oder dickeren Mas- 
sen zusammentreten oder netzförmig sich verästeln“ ete. 

Ich habe vor längerer Zeit, ehe mir Lachmann’s Arbeit bekannt 
geworden war, das in Frage kommende Thier häufig zur Untersuchung 
gehabt und glaubte mich damals von der Richtigkeit der Cohn’schen 
Angaben überzeugt zu haben. Später traf ich das Geschöpf nicht 
mehr, so dass ich die Zachmann’sche Auffassung leider nicht genauer 


1) A. a. O. V. $. 266. 


‘ 


- MR = 


zu prüfen vermochte. Nahrungskörper, welche nach Lachmann und 
Lieberkühn in dem Strange vorkommen sollen, sah ich nicht in dem- 
selben, ebensowenig als früher Siebold!). Ohnehin ist der Strang bei 
einzelnen Exemplaren des Trachelius in seiner Form und Ausbildung 
für einen Magen viel zu variabel und mit den Enden seiner Aeste 
ganz unmerklich in den Rindentheil der Sarcode auslaufend?). 

Die Einfachheit des Infusorienkörpers gestattet nur selten das 
Auftreten muskelartiger Gebilde. Sie finden sich allein bei den Glok- 
kenthierchen oder Vorticellinen. Der grössere Theil dieser mit Stie- 
len festsitzenden Thiere führt nämlich in jenen einen cylindrischen, 
leicht spiralig gebogenen Faden, dessen muskulöse Natur wohl ge- 
genwärtig nicht mehr zu bezweifeln ist. 

Ein Nervensystem, ebenso Sinnesorgane fehlen gänzlich. Die 
Organisation der Protozoen ist eine noch viel zu niedrige. Erst in 
der sich zunächst anschliessenden grossen Abtheilung der Strahlthiere 
erscheinen jene Gebilde. 

Von grosser Wichtigkeit für die Auffassung des Infusorienleibes 
ist die Nahrungsaufnahme unserer Geschöpfe. Nur ein kleines Bruch- 
theil der Klasse ernährt sich bei durchaus geschlossener Körperhülle 
durch die Aufnahme von Flüssigkeiten in das Innere, ein Vorgang, 
welchen wir früher bei den Gregarinen angetroffen haben. So die 
Euglena (Eig. 17) und ihre Verwandten. Vielleicht kommt ihnen durch 
die geiselförmigen Wimperhaare, welche im Innern hohl sein könnten, 
eine saugende Ermährung zu, wie manchen der Polythalamien. Eine 
solche zeigen wenigstens die sogenannten Acineten und Podophryen, 
welche wir weiter unten zu berühren haben. Bei diesen kommen 
strahlenförmige Fangfäden, ähnlich denen des Sonnenthierchens vor. 
Beobachtet man, wie uns Lachmann berichtet, eine der grössern Aci- 
neten in dem Momente, wo ein Infusorium gegen einen der knopfartig 
erweiterten Fangfäden angetrieben und anhängen geblieben ist, so be- 
merkt man, wie die knopfartige Spitze sich über die Oberfläche des 
Thierchens ausbreitet und wie die benachbarten Strahlen sich an den 
Nahrungskörper anlegend, dieselbe Verbreiterung der Endspitze durch- 
machen, so dass die Beute an allen diesen Fäden angeheftet ist. 
Jetzt beginnen die Fangfäden sie auszusaugen, die eingesaugte Flüs- 


1) A. a. O0. 8. 16. 
2) Man vergl. auch Gegenbauer, Bemerkungen über Trachelius ovum. Mül- 
ler’s Archiv. 1857. S. 309. 


BB. 


sigkeit dringt durch die Kanäle der feinen Fangfäden in das Innere 
des Acinetenleibes, die Tropfen benachbarter Fangfäden fliessen zu- 
sammen und die früher blasse und durchsichtige Acinete wird jetzt 
durch die aufgenommene Nahrung getrübt und grobkömig}). 

Anders ist es aber bei dem grösseren Theile der Infusionsthiere. 
Sie fressen oder nehmen Nahrung in Form fester Körper in das Innere 
ihres Leibes ein, wie schon die oberflächlichste Untersuchung lehrt. 
Kleinere Nahrungskörper sind von blasigen Aushöhlungen der Leibes- 
masse, den uns bekannten Vacuolen, umschlossen, grössere oder be- 
ziehungsweise grosse liegen frei in der Leibessubstanz, oft gekrümmt, 
wie es das von der Haut vorgezeichnete Körpervolumen gestattet. — 
Berühmt, um die Nahrungsaufnahme der Thiere zu demonstriren, ist 
namentlich hier eine schon seit langer Zeit geübte Fütterungsmethode 
geworden, dem Wasser nämlich höchst fein vertheilte Pflanzenfarben, 
wie Indigo oder Carmin, zuzusetzen. Es ist eines der vielen Ver- 
dienste Ehrenberg’s, diese Fütterung in grösster Ausdehnung bei den 
verschiedenen Geschlechtern der Aufgussthierchen angewendet und da- 
durch die weite Verbreitung einer derartigen Nahrungsaufnahme ge- 
zeigt zu haben. Die aufgenommenen Farbetheilchen erscheinen zu 
kugligen Massen zusammengeballt oft in grosser Zahl im Körper des 
gefütterten Thieres. 

Eine ganz ähnliche Aufnahme fester Nahrungskörper haben wir 
schon früher bei den Rhizopoden kennen gelernt. Dort aber geschah 
sie in höchst eigenthümlicher Weise, indem die immerfort veränder- 
liche Leibessubstanz den Nahrungskörper überzog, oder wie wir uns 
ausdrückten „überfloss“, so dass derselbe bei Abwesenheit eines Mun- 
des an jeder Stelle der Peripherie in die Leibesmasse eingeführt wer- 
den konnte. 

Diese wunderliche Art der Ernährung, dieses Fressen ohne Mund, 
ist nun bei der gleichbleibenden Körpergestalt der Infusionsthierchen 
verschwunden. Im Gegensatze zu jener Klasse besitzen unsere Ge- 
schöpfe einen deutlichen Mund von verschiedener Form oder Beschaf- 
fenheit, am vordern Körperende in der Regel angebracht. Zu ihm 
kommt meistens noch eine für den Austritt unverdaulicher Reste be- 
stimmte Spalte, eine Afteröffnung, hinzu. Der Mund ist namentlich 
bei grösseren Arten leicht zu entdecken, schwieriger schon der After. 

Ehrenberg hatte zur Erklärung der Nahrungsaufnahme der Infu- 


1): 8:0: 8, 371. 


er 


sorien eine sehr eigenthümliche, emzig in der Thierwelt dastehende 
Organisation angenommen. Jeder xleinere, von blasiger Aushöhlung 
umschlossene Nahrungskörper, jeder kuglige Farbehaufen sollte im 
Innern eines besonderen kugligen, einer gestielten Beere gleichenden 
Magensäckchens enthalten sein, die Infusorien mithin vielmagige Thiere, 
Polygastrica, darstellen. Bei einer geringen Zahl der Geschöpfe wur- 
den die kugligen Magensäckchen unmittelbar der Mundöffnung auf- 
sitzend und ein After fehlend angenommen, bei allen übrigen dagegen, 
wo ein After vorkommt, sollten die Magensäcke in einen beide Oeff- 
nungen verbindenden Darmkanal einmünden, welcher in verschiedener 
Art, bald gerade und gestreckt, bald spiralig, bald einen Kreisbogen 
bildend, den Körper durchzöge. 

Diese Angaben haben sich nicht bestätigt und sind schon seit 
längern Jahren als Irrthümer erkannt worden. 

Fragen wir nun aber nach demjenigen, was die neuere Zeit 
hierüber an das Licht gebracht hat! 

Wir halten uns an das passendste Objekt, die festsitzende ge- 
stielte Vorticelle.e Hier haben wir von Stein und Lachmann sehr 
genaue Angaben erhalten, denen ich nach eigenen Beobachtungen nichts 
Erhebliches zuzusetzen wüsste. Die Glocke der Vorticellen ist an 
ihrem vordern Ende mit einem verdickten, nach Aussen umgewulste- 
ten Saume versehen, welcher an seiner Innenseite einen Kranz grosser 
Wimperhaare trägt. Aus dem Innern dieses aufgewulsteten Glocken- 
randes (Stein's Peristomf) erhebt sich nun mützenartig ein schei- 
benartiger, abermals von einem Wimperkranz eingefasster Fortsatz 
(Stein’s Wimperorgan), der vorgeschoben nnd eingezogen werden kann. 
In der Furche, welche sich zwischen Peristom und der bewimperten 
Scheibe findet, liegt eine geräumige Grube (Vestibulum von J. Müller). 
In sie steigt abwärts der Wimperkranz des Peristoms, um hier zu 
endigen. Diese Grube zeigt in ihrem Innern zwei Oeffnungen, Mund 
und After?2). Der Mund führt in einen bis zur Mitte des Körpers 
hinabreichenden Kanal. Dieser ist die Speiseröhre, deutlich von einer 
besondern Haut, einer Fortsetzung oder Einstülpung der Körperhülle 
überzogen. Nach: unten ist die Oesophagus offen, so dass die Kör- 
persubstanz hier nackt zu Tage liegt. — Aehnlich den Vortieellen ver- 
halten sich manche verwandte Infusionsthiere, z. B. das Ophrydium 


AA Han10: 8. 18. 
2) Lachmann a. a. O. $. 384. 


=. 480 


versatile, welches von Stein im Allgemeinen richtig beschrieben und 
gezeichnet worden ist, nur dass die Wimperscheibe etwas zu scharf- 
randig ausfiel. Viele andere Infusorien zeigen uns bei Abwesenheit 
eines sogenannten Vestibulum häufig eine deutliche Speiseröhre, so 
die Paramaeeien und ihre Verwandten, wie Loxodes Bursaria, wo sie 
weit und mit feinen Winpern ausgekleidet ist. Der After liegt alsdann 
an oder in der Nähe des hinteren Endes. Bei den Stentoren oder 
‘Trompeterthieren ist der seitlich an der Scheibe gelegene Mund durch 
den spiralig auslaufenden Wimperkranz des Peristoms markirt, wäh- 
rend der After dieht unterhalb der Wimperreihe an der entgegenge- 
setzten Seite der Peripherie erscheint. Eigenthümlich verhalten sich 
manche Thiere wie z. B. Chilodon, wo der Mund auf der Spitze eines 
cylindrisch vorstehenden Schlauches, dessen Wände durch dicht stehende 
längslaufende Verdickungen wie „fischreusenartige Zähne“ erscheinen, 
gelegen ist. Die Wand dieses Schlauches setzt sich, wie schon früher 
bemerkt, als Auskleidung der engen, rückwärts laufenden Speiseröhre 
fort und diese kann unter Umständen mit isolirt werden (Fig. 18). 
Der After liegt am hinteren Körperende. 

Was nun den Akt der Nahrungsaufnahme betrifft, so kehren wir, 
um ihn kennen zu lernen, zu den Vorticellen zurück. 

Von dem Wimperstrom herbeigeführt, treten Farbetheilchen durch 
das Vestibulum in die Speiseröhre, um sich am Grunde derselben an- 
zuhäufen Diese ragt, wie wir früher sahen, offen in die innere weichere 
Sareode herein. Die Körnchen sammeln sich allmählig zu einem spin- 
delförmigen Haufen an und werden dann durch die Zusammenziehung 
der Speiseröhrenwand aus dem Oesophagus heraus in die weiche, zäh- 
flüssige Sarcodemasse getrieben, welche sie anfangs noch in Gestalt 
eines spindelförmigen Klümpehens bogenartig durchlaufen, bis sie in 
der Leibesmasse des Glockenthierchens endlich zur Ruhe kommen. Dann 
erscheinen sie als kuglige Masse, welche einen der bekannten Hohl- 
räume, eine Vacuole, ausfüllt. So gelangt Farbehäufehen um Farbe- 
häufehen in das Innere des Leibes; es erscheinen die gefüllten „Magen- 
säcke“, wie Ehrenberg sich ausgedrückt hatte, in immer steigender 
Zahl. Ganz ebenso verhalten sich kleine Nahrungskörper bei der nor- 
malen Ernährung des Thiers. Grössere gefressene Objekte passiren bei 
Infusorien oft mühsam die Speiseröhre, werden dann in die Sarcode- 
masse eingeschoben, um schliesslich in dieser zu stecken, ohne dass 
jedoch der Infusorienleib eine Vacuole noch um den fremden Gegen- 
stand zu bilden vermöchte. 


ee re re 


u WE 


Die gefüllten Aushöhlungen der Sareode sollen mit dieser, wie 
Lachmann angibt, in einer sehr langsamen Bewegung rotirend durch 
den Körper geführt werden. Vereinzelt ist dieses Rotiren, über dessen 
allgemeineres Vorkommen ich selbst keine Beobachtungen besitze, schon 
früher bei Infusorien bemerkt und mit Recht gegen Ehrenberg’s Magen- 
theorie hervorgehoben worden. t) 


„Mit der rotirenden Masse, sagt Lachmann, macht der Bissen 
(im Körper der Glockenthiere) bald mehr, bald weniger Umläufe, bis 
er endlich einmal in der Gegend des Afters angelangt, aufhört, herum 
zu kreisen, der After sich öffnet und den Bissen in das Vestibulum 
austreten lässt.* Bei den andern Infusionsthierchen, wo ein derartiger 
Vorhof fehlt, gelangt der Bissen durch den After sogleich und un- 
mittelbar nach aussen. 


Wir haben endlich noch zweier sonderbarer Gebilde im Körper 
der Infusorien zu gedenken, nämlich der kontraktilen Blasen und der 
Hautabsonderung. Die ersteren Gebilde erscheinen in weitester Ver- 
breitung bei unseren Thieren, indem man sie neuerdings bei den ein- 


) eonstatirt 


/ 


fachsten Formen wie den Euglenen und den Dinobryen ? 
hat, ja sie sind selbst bei ächten pflanzlichen Organismen, für welche 
ich wenigstens den Volvox und das Gonium halte, beobachtet worden. 


Die kontraktile Blase, welche entweder einfach, mehrfach oder 
selbst vielfach im Infusorienleibe vorkommt und stets den äusseren 
resistenteren Rindentheil des Leibes einnimmt, erscheint bei erster Be- 
trachtung einer leeren Vacuole gleichend, unterscheidet sich aber leicht 
durch einen viel schärferen dunkleren Rand von einer solchen, zum 
Beweise, dass sie keine einfache Aushöhlung der Sareode, sondern ein 
von bestimmter Wand umschlossener kleiner Hohlraum ist. Sie ist 
stets von vollkommen wasserheller klarer Flüssigkeit erfüllt. Unter 
den Augen des Beobachters zieht sie sich rasch auf ein immer kleineres 
Volumen oft bis zum Verschwinden zusammen, wobei nicht selten die 
umgebende Leibessubstanz radienartige Faltungen anzunehmen scheint, 
Dann tritt allmäliger die Erweiterung wieder ein, bis eine neue Zu- 
sammenziehung erfolgt. 


') Dass das von Focke schon im Jahre 1836 entdeckte Rotiren des Körper- 
inhaltes bei Loxodes Bursaria mit dieser von Lachmann angegebenen Bewegung 
der Leibesmasse anderer Infusorien zusammenfalle, ist mir nach Stein’s Angaben 
(a. a. O. S. 240) einigermassen zweifelhaft. 

2) Lachmann a. a. O. $. 369. Anm. 3. 

Wissenschaftliche Monatschrift, II. 4 


> 


=. MB 


Einfach sehen wir eine derartige Blase sehr häufig, so bei den 
Euglenen, Vorticellen, bei Vaginicola, bei dem blauen Stentor. Zwei 
oder drei zeigt uns Chilodon Cucullulus, vier erblicken wir bei Nassula 
elegans, acht bis zwölf bemerkte Siebold bei Trachelius Meleagris, fünf 
bis sechzehn bei Amphileptus. Während sie bei dem ersteren der beiden 
letztgenannten Thiere in einer Längsreihe hintereinander liegen, nehmen 
die kontraktilen Räume bei dem merkwürdigen Trachelius ovum oft 
in beträchtlicher Zahl regellos die Rindenschicht des Körpers ein. t) 

Eine sonderbare Modifikation zeigen diese kontraktilen Blasen 
bei einigen unserer Thiere, unter welchen wir Paramaecium Aurelia her- 
vorheben. Die Blasen, welche hier zu zwei oder drei erscheinen, 
sind umstellt in strahliger Anordnung von fünf bis sieben in sie ein- 
mündenden, birnförmigen, kanalartigen Räumen. Der so gebildete 
Stern ist in antagonistischer Kontraktion, in der Art, dass wenn die 
radienartigen Kanäle ausgedehnt, die centrale Blase zusammengezogen 
ist und umgekehrt. ?) 

Welches ist die Natur dieser pulsirenden Blasen ? Dem Geschlechts- 
apparate, wie Ehrenberg wollte, gehören sie sicher nicht an, da ein 
soleher nicht existirt. Die Ansicht, dass sie kreislaufartige, herz- 
förmige Gebilde ausmachen, ist höchst wahrscheinlich die richtige. 
Indem sie. bei ihrer Diastole sich mit einem Theile der den Körper 
durehtränkenden Flüssigkeit durch feine Oeffnungen erfüllen und diese 
wieder bei der Systole in die Leibessubstanz zurücksenden, müssen 
sie ein Strömen der Ernährungsflüssigkeit verursachen. Eine Oeffnung 
der pulsirenden Blase nach aussen und eine darauf beruhende Anfül- 
lung mit dem umgebenden Wasser, wie O. Schmidt beobachtet haben 
wollte, existirt nicht. Es ist mir bei genauer Prüfung, namentlich an 
Stentoren, unmöglich gewesen, etwas der Art zu sehen und ich glaube 
mich von der geschlossenen Blasenwand bei letzterem Thiere positiv 
überzeugt zu haben. Ohnehin wird man niemals Farbekörnchen aus 
dem umgebenden Wasser in das Innere der kontraktilen Räume ge- 
langen sehen. 


1) Ihre kontraktileNatur entdeckte Cohn. Siebold’s und Kölliker's Zeitschrift 
III. S. 267. Man kann sich leicht hiervon überzeugen. 


2) Genauere Mittheilungen über die Art der Zusammenziehung des ganzen 
strahlenartigen Gebildes gab neuerlich J. Müller (Monatsberichte der Berliner 
Akademie 1856. $. 342.). Die Ausdehnung der Blase durch das Eintreiben der 
Flüssigkeit von den sich zusammenziehenden radialen Gefässen erfolgt rasch. 
Müller spricht sich ebenfalls zu Gunsten bestimmter Wände aus. 


u 


Dieser Gegenstand ist ebenfalls durch Zachmann!) um einen 
Schritt weiter gefördert worden. Bei dem vorhin erwähnten Para- 
maecium Aurelia sind die kontraktilen Strahlen im Momente ihrer Er- 
weiterung ganz lange Kanäle, welche weit durch die Rindenschicht 
des Körpers verlaufen und gablige Theilungen bilden können. — Ich 
vermag diese Angabe vollkommen zu bestätigen und empfehle, ein vor- 
sichtig fixirtes Thier namentlich bei gutem Lampenlichte zu untersuchen, 
wo die Beobachtung verhältnissmässig leicht ist. Aehnliche Beobach- 
tungen über noch zahlreichere Gefässe bei Bursaria flava und Ophryo- 
glena flavicans hat kürzlich Lieberkühn?) mitgetheilt. 


Höchst wichtig ist eine Entdeckung Zachmann’s bei Stentoren, 
welche die Existenz eines vollständigen Gefässsystems darthut. Bei 
Stentor Röselii und Mülleri sieht man von der grossen kontraktilen 
vorne gelegenen Blase ein Längsgefäss bis in das hintere Ende des 
Thieres unter knotigen Anschwellungen verlaufen und ebenso ein Ring- 
gefäss am vorderen bewimperten Rande (der Mündung der Trompete), 
welches nur ein Paar rundliche Dilatationen bemerken lässt. Die kon- 
traktile Blase und diese merkwürdigen Gefässe haben auch hier wie 
bei den Paramaecien eine antagonistische Thätigkeit. 


Absonderungen an der Oberfläche der Haut kommen in sehr ver- 
schiedener Weise bei Infusorien vor. Zuerst tritt in grosser Verbrei- 
tung und im Wesentlichen gleich die uns von früher her bekannte 
Verkapslung oder Eneystirung ein. Theilweise fällt sie entschieden, 
wie wir bald sehen werden, mit Fortpflanzungsverhältnissen zusammen, 
theilweise ist sie ein Akt des Schutzes der Thiere bei veränderter Um- 
gebung, ungünstiger Beschaffenheit des Wassers, beginnendem Wasser- 
mangel etc.; so z. B. bei den Vorticellen. 


Eine eigenthümliche Gallerte mit der benachbarter Thiere zusam- 
menfliessend, wird von dem hinteren Körperende der Ophrydien ge- 
liefert. Die Geschöpfe selbst sitzen dem oft recht grossen Gallertklumpen 
nur äusserlich auf und können sich nicht in denselben zurückziehen. 3) 


nn nm 


1) a. a. O. S. 374. 


2) Lieberkühn, Beiträge zur Anatomie der Infusorien in Müller's Archiv 1856 
8. 20. 


®), Wie zuerst v. Frantzius richtig sah. Analecta ad Ophrydii versatilis 
historiam naturalem. Breslau 1849. Fäden, welche vom hinteren Ende der 
Thiere ausgehend die Gallertmasse der Kolonie durchziehen sollen, kommen nicht 
vor, worin ich Stein vollkommen Recht geben muss. 


Be. 


Andere Infusorien sondern durch die Haut eine zum zierlichen Ge- 
häuse erstarrende Masse ab, wie beispielsweise die Vaginieolen. Cuti- 
eularbildungen, wie sie an unselbstständigen thierischen Zellen vor- 
kommen, sind diese Vorgänge sicher nicht. 

Wir haben endlich noch des sogenannten Kernes oder, wie wir 
lieber sagen möchten, des kernartigen Körpers der Infusorien zu ge- 
denken, dessen Betrachtung, da er unmittelbar in das Entwicklungs- 
leben hineinspielt, bis gegen das Ende verschoben worden ist. 

Im Leibe des Infusionsthieres, an verschiedener Stelle gelagert, 
erscheint dieses von ZEhrenberg für eine männliche Geschlechtsdrüse 
ausgegebene Gebilde. Form, Grösse und Substanz desselben wech- 
seln sehr. Oval oder rundlich bemerken wir ihn beispielsweise bei 
Chilodon Cueullulus, bei Paramaecium Aurelia, Glaucoma seintillans, 
Cyelidium Glaucoma ete.; wurmartig oder einem kurzen Bande gleichend 
bei manchen Vorticellinen; mehr scheibenartig kann er bei Euglena 
erscheinen, lang perlschnurartig bei manchen Stentoren (Stentor poly- 
morphus und coeruleus), bei Spirostomum ambiguum; spiralig gewun- 
den ist er bei St. Röselii, schwach Sförmig gebogen, nur an den Enden 
stärker gekrümmt, kommt er bei Ophrydium versatile vor, doppelbrod- 
artig bei Trachelins ovum, stab- oder schlauchförmig bei manchen 
Opalinen u. s. w. 

Untersuchen wir die Struktur dieser kernartigen Körper mit Hülfe 
starker Vergrösserungen genauer, so ergeben sich weitere Differenzen. 
Im Allgemeinen ist der Kern resistenter als die Leibesmasse und oft 
in den inneren flüssigeren Theil letzterer weit hineinragend oder ihm 
auch wohl eingelagert. Ganz allgemein zeigt er uns eine deutliche, 
oft ziemlich derbe und resistente Wand, sowie einen bald mehr homo- 
genen, bald mehr körnigen Inhalt. Wir heben einige Verschieden- 
heiten der Kernstruktur hervor. 

Manchfach treffen wir Kerne, wo die feine Hülle einen ganz 
homogenen wasserhellen Inhalt umschliesst, so z. B. bei Cyelidium 
Glaucoma. Häufig ist die von einer ähnlichen Membran umgebene 
Substanz sehr feinkörnig, so z. B. bei Euglena viridis, Paramaecium 
Aurelia und Colpoda, bei Glaucoma seintillans. Etwas grobkömiger 
und darum dunkler sehe ich den doppelbrodförmigen Kern bei Trache- 
lius ovum. Sehr zartkörnig ist der lange perlschnurartige Nueleus 
des Stentor coeruleus. Bei einer vorläufig nicht zu bestimmenden 
Opalinenspezies (Fig. 20), von welcher weiter unten die Rede sein 
wird, erscheint der Kern im lebenden Thiere ganz glasartig und erst 


u 


bei dem Absterben tritt die Inhaltsmasse oft erheblich von der Kern- 
membran zurück und nimmt dann ein eigenthümliches krümeliges 
Ansehen an, etwa wie frisches Nervenmark.t) Sehr schön und eigen- 
thümlich gebildet ist der kernartige Körper des bekannten Chilodon 
Cucullulus. Er zeigt uns eine blasenartige Beschaffenheit mit einer 
ungleich verdiekten Wand, welche nach innen eine Reihe leicht ge- 
wölbter Vorsprünge bildet, und beherbergt in seiner Substanz einen 
deutlichen Kernkörper, um welchen sich noch ein hofartiger Ring bilden 
kann, der im frischen Zustande fehlt (Fig. 18. 19). 

Eine sehr sonderbare Beschaffenheit hat der kernartige Körper 
bei Loxodes Bursaria, indem er von nierenförmiger Gestalt den soge- 
nannten Nucleolus nur äusserlich in der Grube angeklebt zeigt. Der 
Kern dieses Thieres lässt eine resistente Hülle und einen opaken, aber 
homogenen Inhalt erkennen, eine Beschaffenheit, welche ganz ähnlich 
auch dem Nucleolus zukommt. Dieselbe Beschaffenheit besitzt nach 
Stein unser Gebilde auch bei Prorodon teres. — Wir führen hier noch 
eine sonderbare Thatsache an. Bei Stentoren kommen nach J. Müller ?) 
in Hohlräumen des Körpers und an bestimmten Stellen desselben Fäden 
vor, welche in schlängelnder Bewegung sind. Sie wurden später von 
Lieberkühn, Lachmann und Claparede wieder gesehen. Ihre Bewegung 
erlischt in Wasser. Der Gedanke liege nahe, an verschluckte Vi- 
brionen zu denken. (Es ist dieses meiner Meinung nach unwahr- 
scheinlich. Warum sollte denn die Bewegung nicht beim Freiwerden 
des Fadens sich erhalten?) Ferner könne man eine Beziehung zum 
Kern denken. Müller sah nun in der That bei Paramaecium Aurelia 
den vergrösserten Kern mit einem Bündel lockenartig gekräuselter 
Fäden erfüllt. Ebenso kommt es auch bei Chilodon Cueullulus vor, 
wie Lachmann und Claparede sahen. Sehr sonderbar erschien dieses 
im Allgemeinen sehr seltene Phänomen bei einem Exemplar des erst- 
genannten Thieres. Der sogenannte Kern hatte sich nämlich noch viel 
mehr vergrössert und war in zwei zerfallen, eine Hälfte an der ge- 
wöhnlichen Stelle und eine andere, welehe sich nach hinterwärts über 
den Schlund weg ausgebreitet hatte. Beide Theile waren mit jetzt 
zerstreut liegenden Fäden erfüllt. Bewegungen waren an den Fäden 
nicht zu sehen, weder bei Paramaeeien noch dem Chilodon. 

Fragen wir jetzt nach der zellenartigen Beschaffenheit des Infu- 


!) Man vergleiche auch Stein, Tab. V Fig. 23. 
?) Monatsberichte der Berliner Akademie 1856. $. 390. 


ER; Rn 


sorienkörpers, so haben wir in dem vorher Besprochenen ein hinrei- 
chendes Material zur Beantwortung der Frage. 

Die niedrigsten Infusorien z. B. eine Euglene mit geschlossener 
kontraktiler Wand, mit dem einzigen langen Wimperhaare und dem ein- 
fachen Kern im Leibe, machen allerdings den Eindruck einzelliger 
Thiere, mehr jedoch auf den ersten Blick, als bei genauerem Zusehen. 
Wenn auch der rothe Pigmentfleck und die hinter ihm befindliche, re- 
sistente Stelle keinen wesentlichen Einwand bilden dürften, so erscheint 
in dem pulsirenden Raume ein Gebilde, was die unselbstständige 
thierische Zelle nie besitzt. So ist unserer Meinung nach eine Euglene 
einer thierischen Zelle noch sehr ähnlich und noch sehr nahe verwandt, 
aber keineswegs mehr mit ihr identisch. 

Diese auffallende Aehnlichkeit mit einer unselbstständigen Zelle 
verliert sich nun mehr und mehr und zwar ziemlich rasch, wenn wir 
zu den höheren Infusionsthieren mit Mund, After, den entwickelteren 
kontraktilen Räumen u. s. w. emporsteigen. Ich muss bekennen, der 
Ausspruch Kölliker'st), „dass alle ächte Infusorien ohne Ausnahme aus 
einer einzigen Zelle bestehen und dass dieses für denjenigen, welcher 
eine Opaline, Bursaria, Nässula etc. nur etwas genauer untersucht habe, 
nicht dem geringsten Zweifel unterliegt“, erscheint mir höchst gewagt 
und bedenklich, und den letzten Theil des Satzes könnte man mit 
grösserem Rechte gewiss eher umkehren. 

Unserer Ansicht nach bleiben die Infusorien, wenn gleich sie nir- 
gends mit einer gewöhnlichen Zelle vollkommen übereinstimmen und 
oft von einer solchen sich beträchtlich entfernen, doch immerhin den 
Zellen verwandt; es sind eben Organismen, deren Bau sich aus der 
weiteren Komplikation einer Zelle leicht ableiten lässt. Die Gestalt 
und Beschaffenheit des den Kern einer unselbstständigen Zelle wieder- 
holenden Gebildes im Infusorienkörper scheint mir für diese Auffas- 
sung des Infusorienbaues ohne erheblichen Werth, da wir an thie- 
rischen Zellen zum Theil höchst sonderbare Kernformationen kennen 
(wenn gleich nicht, wie bei Loxodes Bursaria). Für „mehrzellig*, 
wie man in der Neuzeit wieder manchfach es annehmen will, können 
wir die Infusorien nicht halten, da, wie früher bemerkt, ihre Entwick- 
lungsgeschichte lehrt, dass sie nicht aus dem Zellenhaufen des sich 
entwickelnden Eies wie alle höheren Geschöpfe hervorgehen. 

Diese zellenverwandte Natur der Infusionsthiere klingt nun selbst 


!) Siebold’s und Kölliker’s Zeitschrift I. S. 211. 


u Me 


in manchen Arten ihrer Fortpflanzung durch, obgleich auch hier 
in der Regel des Eigenthümlichen und Trennenden gar manches bleibt. 

Eine geschlechtliche Fortpflanzung kommt nicht vor, da weder 
saamenliefernde Drüsen noch Eier zu entdecken sind und kein ruhiger 
exakter Beobachter den Körnern des Körpers die Bedeutung von Eiern 
(Ehrenberg) oder Blastien (Perty) mehr vindiziren wird. 

Die Fortpflanzungen unserer Kleinen sind theils Theilungen, theils 
Knospenbildungen, theils Vermehrungen vom Kerne aus, welche so- 
genannte Schwärmsprösslinge liefern. Auch Konjugations- oder Kopu- 
lationsprozesse sind bei manchen Thieren beobachtet worden. 

Wir heben aus diesem überreichen Materiale nur Einiges heraus. 

Theilungen, bald in der Länge, bald in der Quere erfolgend, 
sind bei Infusionsthieren sehr gewöhnliche Erscheinungen und in ver- 
hältnissmässig kurzer Zeit von ihrem Anfange bis zur vollständigen 
Trennung der durch Spaltung entstandenen neuen Thiere verlaufend t). 
Sie sind das Hauptmittel, dessen sich die Natur bedient, um in kurzer 
Zeit von einem oder wenigen Individuen aus ganze Heerschaaren in’s 
Leben zu rufen. Berühmt ist in dieser Hinsicht eine Beobachtung und 
Berechnung Ehrenberg’s. In einer Stunde kann sich die Vorticelle in 
zwei theilen, am Ende der zweiten Stunde abermals spalten und so 
vermag am Ende des ersten Tages eine Nachkommenschaft von 4096, 
in 48 Stunden von 8 Millionen und in 4 Tagen sogar von 140 Bil- 
lionen aus einem Leibe hervorzugehen. Es sind dieses nun allerdings 
nur Möglichkeiten, welche niemals annähernd erreicht werden, immer- 
hin aber uns eine höchst interessante Seite des Lebens unserer Thiere 
enthüllen. 

Die Theilung erfolgt bei manchen Infusorien nur in der Längs- 
richtung, so bei den Vorticellen und Ophrydien; andere zeigen uns 
eine Quertheilung, wie die Stentoren. Gar nicht selten sind beide 
Theilungsarten bei dem gleichen Infusionsthiere vorhanden; das Ge- 
schöpf zerfällt bald in die Quere, bald der Länge nach, ohne dass 
wir einen Erklärungsgrund hierfür zu geben vermöchten, so z. B. Para- 
maeeium, Chilodon (Fig. 19) und Stylonychia. 

Ueber die Längstheilung der Vorticellen haben wir durch Stein 
sehr genaue Beobachtungen erhalten. 

Will sich das Glockenthierchen theilen, so zieht es den Wimper- 


!) Ophrydium versatile sah ich in /, Stunden vom ersten Beginn an sich 
vollkommen theilen. 


u 


kranz mit der Wimperscheibe zurück und der ganze Thierkörper kon- 
trahirt sich in kugelförmiger Weise. Der bandförmige Kern nimmt die 
transversale Stellung ein. Bald beginnt am vorderen Ende, durch Re- 
sorption der körnigen Iuhaltsmasse an dieser Stelle, eine Furche zu 
erscheinen, welche immer tiefer herabgreif. Ihr kommt eine ganz 
ähnliche vom unteren Ende der Glocke entgegen. Indem nun der Kern 
auch durchgeschnürt wird und die Theilung des Körpers immer weiter 
vorschreitet, erhalten wir schliesslich zwei Glocken auf gemeinsamem 
Stiele sitzend. Die eine entfaltet bald den Wimperkranz und nimmt 
Nahrung auf, während die andere meist. eingezogen bleibt und am 
hinteren Ende einen Kranz neuer Wimperhaare erhält, eine provi- 
sorische Bekleidung, bestimmt die Glocke vom gemeinsamen Stiele 
loszutrennen. Aber auch die andere folgt ihr dann in der Regel 
später nach. 

Man hat früher von der Einzelligkeit der Infusorien befangen 
ihre Theilung derjenigen unselbstständiger thierischer Zellen vollkommen 
parallelisiren wollen, aber gewiss mit Unrecht. Denn wenn auch ver- 
wandt, sind beide Vorgänge keineswegs identisch. Während bei un- 
selbstständigen Zellen (Fig. 3) der Kern sich zuerst theilt und dann 
nachträglich die Spaltung des Zellenkörpers erfolgt, kann dieser Vor- 
gang bei Infusorien sich gleich verhalten, muss es aber durchaus nicht. 
Jeder, welcher den Theilungsprozess der Infusorien genau verfolgt 
hat, dürfte allerdings Zerspaltungen ihres Körpers bemerkt haben, wo 
der Kefn im Begriffe war, sich zu theilen oder die Trennung schon 
erfolgt war, ohne dass der Thierkörper die Spaltung eingeleitet zeigte. 
Viel häufiger aber sieht man Körper und Kern sich gleichzeitig theilen; 
letzterer liegt unter der Theilungsfurche und ist in ähnlicher Weise 
wie der Infusorienleib eingeschnürt. Unter Umständen überzeugt man 
sich aber auch, dass der Kern in seinem Theilungsprozesse zurück- 
geblieben ist, während der Vorgang an dem Körper schon eine weit 
vorgerückte Stufe erreicht hat. In dieser Hinsicht liefert namentlich 
die Quertheilung des Chilodon Cueullulus dann und wann ein bezeich- 
nendes Beispiel. Ebenso auch bei Paramaecium Colpoda. Hier hatte 
ich ein quergetheiltes Thier vor Monaten unter dem Mikroskope, wo 
der Körper tief ringförmig eingeschnitten war, während der unter der 
Furche gelegene und von dieser beinahe erreichte Nucleus noch nicht 
die mindeste Veränderung behufs einer Theilung eingegangen war. 

Complizirte Theilungsprozesse scheinen bis zur Stunde noch nicht 
bei Infusorien bekannt zu sein. Ich bin im vorigen Frühling auf 


is ME: 


einen solchen gestossen, allerdings bei einem Geschöpfe von zweifelhaf- 
ter systematischer Stellung, einer wohl neuen Opaline, welche der von 
Stein beschriebenen und auf Tab. V Fig. 23 abgebildeten Opalina 
lumbriei sehr nahe kommt. Ich traf das Thier (Fig. 20) sonderbar 
genug frei im Wasser, in einem rasch fliessenden Graben, der die Ab- 
fälle des Kantonsspitals in Zürich entführt und das ganze Jahr hin- 
durch eine unerschöpfliche Fundgrube des Chilodon Cueullulus, Glau 
coma seintillans und des Paramaecium Colpoda bildet. Hier erhielt 
ich einstmals zusammen (im März) 6 Exemplare einer grossen, langen, 
1/, bis 1/5 messenden Opalina (Fig. 20 a—e), welche einen glashel- 
len, durchsichtigen Körper zeigten, der nach vorne etwas verschmä- 
lert und leicht gebogen aufhörtee Er war mit Längsreihen durchaus 
gleichartiger Wimpern besetzt und zeigte in der Achse gelegen 
den langen, geraden, schlauchartigen Kern, dessen wir schon früher 
gedacht haben. Ein Längsgefäss, was manche ÖOpalinen besitzen, war 
nicht vorhanden; dagegen erschienen zu beiden Seiten des Kernes in 
einer Längsreihe geordnet die bekannten, wasserhellen kugligen Räume. 
Zwei meiner Exemplare waren vollkommen ungetheilt (Fig. 20 e), 
drei andere (Fig. 20 b, d, e) zeigten eine ganz sonderbare Querthei- 
lung. Bei dem einen derselben setzte sich bald hinter dem ersten 
Viertheil der Körperlänge (b 1) ein rundliches Stück der Leibessub- 
stanz ab (b 2). Es war ungewöhnlich dunkel, indem es eine be- 
trächtliche Zahl von Elementarkörnchen enthielt. Nach vorne war 
sein Kern gegen das Vorderende des Stammthieres getrennt, während 
er nach hinten in den Kerm des elterlichen Geschöpfes ohne alle Ein- 
schnürung sich fortsetzte (b 3). Besonders instruktiv für den weiteren 
Fortgang war das zweite Individuum (Fig. 20 d). Hier dasselbe 
Verhalten des Körpers; hinter dem ersten Viertel (d 1) ebenfalls eine 
kleine dunklere Stelle abgeschnürt (d 2), aber etwas stärker, sowohl 
nach vorne als hinten (d 3). Der Kern war dem entsprechend voll- 
kommen in drei Theile zerfallen, welche sich durch ansehnliche Zwi- 
schenräume von einander getrennt zeigten. Bei einer dritten meiner 
Opalinen (Fig. 20 e) hatte nun die Ablösung der Stücke von einan- 
der begonnen. Der vordere Theil war getrennt und hatte den Körper 
verlassen, das mittlere eingeschnürte Stück war vergrössert und auf- 
gehellt zum vordersten geworden (e 2), das hintere Segment (e 1) 
unverändert. In einem sechsten kleinen Exemplare (Fig. 20 a), wel- 
ches in der Nachbarschaft sich lustig tummelnd umherschwamm, glaubte 


u 


ich jenen Vordertheil erkannt zu haben (Fig. 20 a). Was weiter aus 
dem Thiere wird, weiss ich nicht. Ich hatte meine Thiere stunden- 
lang munter schwimmend unter dem Mikroskope, sah aber keine wei- 
tere Veränderung eintreten und musste später die Beobachtung ab- 
brechen. Die Vermuthung liegt nahe, dass das zweite, jetzt vorderste 
Stück heranwächst, um eine ähnliche Abtrennung zu erfahren. Es 
ist mir leider unmöglich gewesen, später diese Opalinenart wieder auf- 
zufinden. Opalinen in Regenwürmern scheinen übrigens bei Zürich 
sehr selten vorzukommen. 

So häufig Theilung aber, so selten ist die Knospenbildung in 
unserer Klasse. Sie kommt bei den Vorticellen und noch ein paar 
andern Geschlechtern vor. Bei jenen Thieren findet die Entwicklung 
einer Knospe stets am hintern Theile der Glocke statt. Es bildet sich 
ein Auswuchs, der bald eiförmig wird und sich in ein viel kleineres 
Glöckchen verwandelt. Der vordere Wimperkranz, der pulsirende Raum 
und ein Kern bilden sich aus und später geht das kleine Glocken- 
thierchen, mit einem ähnlichen vergänglichen, hintern Wimperkranz 
wie ein durch Theilung entstandenes Geschöpf versehen, vom elter- 
lichen Thiere davon. Es können so gleichzeitig an einer Glocke zwei 
Knospen sich entwickeln. 

Vergleichen wir den eben berührten Vorgang mit der Knospen- 
vermehrung unselbstständiger Zellen, so tritt uns auf der einen Seite 
die Verwandtschaft beider Prozesse unverkennbar entgegen. Ander- 
seits aber erscheint ein sehr wichtiger Unterschied. Die unselbststän- 
dige Zelle leitet durch Kerntheilung den ganzen Akt ein; das Infu- 
sorium bildet in dem knospenartig abgezweigten Theile seines Körpers 
einen neuen Kern, während an dem alten Nueleus der Prozess spurlos 
vorübergeht. 

Wir haben endlich noch der letzten und wichtigsten Vermehrung 
der Infusorien zu gedenken, derjenigen, welche unter Betheiligung des 
Kernes erfolgt und in nichts mehr an Lebenserscheinungen unselbst- 
ständiger Zellen erinnern dürfte. Sie ist unserer Meinung nach für 
den geschlechtslosen Körper des Infusoriums das Analogon der ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung aller höheren Thiere. Es entstehen theils 
im frei bleikenden, theils im sich verkapseluden Infusorium bald ein- 
fach, bald mehrfach oder sogar in Vielzahl bewimperte Embryonen, so- 
genannte Schwärmsprösslinge, welche meistens dem elterlichen Ge- 
schöpfe unähnlich sind und durch eine weitere, uns leider-sehr wenig 
bekannte Metamorphose zur typischen Form zurückkehren müssen. 


u 


Die ersten Beobachtungen derartiger Schwärmsprösslinge bei äch 
ten Infusionsthieren sind schon ziemlich alt. Focke entdeckte die Em- 
bryone von Loxodes Bursaria!); dann sah Eckhard?) solche bei Stentor 
coeruleus, was später von Schmidt bestätigt wurde und ich ebenfalls 
getroffen habe. Später hat sich namentlich dieses Gegenstandes Stein 
bemächtigt und bei einer bedeutenden Zahl von Infusorien die Schwärm- 
sprösslinge constatirt. Auch von Cohn erhielten wir werthvolle Beiträge. 
In neuester Zeit haben sich um Weiterbildung und Kritik der sStein’- 
schen Arbeiten namentlich J. Miller, Cienkowsky, Lachmann?) und 
Claparede Verdienste erworben. Lachmann, welcher auf seine gemein- 
sam mit Claparede angestellten Untersuchungen in der angeführten 
Arbeit verweist, drückt sich über die Betheiligung des Kernes fol- 
gendermassen aus: „Die Entwicklung der Embryonen geht im Nucleus 
oder einem Theile desselben vor sich; meist sieht man zuerst den Nuc- 
leus sich in zwei oder mehrere Theile theilen und dann in einem oder 
mehreren dieser Theile dieselben Vorgänge statthaben, welche in an- 
deren Fällen im ungetheilten Nucleus vorkommen “*). 

Die Stein’schen Untersuchungen, welche uns zum ersten Male einen 
Blick in das ausgedehnte Vorkommen der Schwärmsprösslinge eröffnet 
haben, kranken an einem schweren Uebelstande. Bei den Vorticellen 
wollte er gefunden haben, dass das Thier unter vorhergegangener Ver- 
kapslung eine sogenannte Acinete oder eine nahe verwandte Podophrye 
bilde, ein sonderbares, dem Sonnenthierchen verwandtes Wesen, mit 
gekuopften feinstrahligen Fangfäden. Die Schwärmsprösslinge der 
Acineten, welche er entdeckte, sollten nun wiederum zu Glockenthier- 
chen werden. Zugleich aber hatte er auch bei verkapselten Vorticellen 
eine ganz andere Art von Schwärmsprösslingen gesehen, monaden- 
artige Wesen, welche in Vielzahl aus der Kapsel hervorbrachen. Ob- 
gleich Stein niemals die Umwandlung eines Embryo’s der Acinete zur 
Vorticelle bemerkt hatte, ging er doch so weit, die Umwandlung vie- 
ler verwandter Thiere in Acineten anzunehmen, indem er die neben 
jenen lebenden Acinetenformen für ihre Entwicklungszustände nahm. 


1) Amtlicher Bericht der Naturforscherversammlung zu Bremen. 1844, S. 
110 (war mir nicht zugänglich). 

2) Wiegmann’s Archiv. XII. 1. S. 226. 1846. 

3%) A. a. O. S. 386. 

*) Man vergl. auch Lieberkühn in Siebold’s und Kölliker's Zeitschrift. VII. 
8. 307. 


FI DEN 


Stein hat leider hier einen argen Irrthum begangen und in 
seine sonst so verdienstlichen und unendlich mühsamen Untersuchun- 
gen ein Moment der Täuschung hereingetragen, welches dieselben einer 
Revision dringend bedürftig erscheinen lässt. 

Der Erste, welcher es höchst wahrscheinlich machte, dass die 
Acineten nichts mit den Vorticellen zu thun haben, war unser grosser 
Anatom J. Müller!). Er sah einen Acinetensprössling oder ein diesem 
höchst ähnliches Thier wiederum zur Acinete werden. Spätere Unter- 
suchungen von Üienkowsky, sowie von Lachmann und Claparede haben 
die Richtigkeit des Müller'schen Fundes bestätigt. Lachmann nament- 
lich hat den einzig richtigen Weg hier betreten, die Thiere sorgfältig 
zu isoliren, um nicht das Nebeneinander in causales Verhältniss zu setzen. 
Niemals gingen Vorticellen in Acineten über und der Acinetenspröss- 
ling wurde unter Verlust des Wimperkleides stets wieder zur Acinete, 

Mir war die Siein’sche Auffassung seit zwei Jahren aus einem 
andern Grunde zweifelhaft geworden. Acineten sind bei Zürich höchst 
selten, so dass ich kaum drei bis vier Arten und auch diese nur in 
ganz vereinzelten Exemplaren beobachtet habe. Vortieellinen, nament- 
lich in manchen ihren Arten, sind so gemein als anderwärts. Die 
Acinete konnte schon um desswillen nicht der Abkömmling der Vor- 
ticelten sein. Stein?) hatte bei Vorticella mierostoma die Thiere durch 
Eintrocknen des Wassers zur Eneystirung gebracht und später regel- 
mässig die Acineten erhalten. Ich habe diesen Versuch dreimal genau 
so, wie ihn Stein angibt, wiederholt, aber niemals eine Acinete ge- 
winnen können. Alle Vorticellen kamen entweder als stiellose Glocken- 
thiere beim Wasserzusatz aus der Kapsel heraus und hatten bald wieder 
das gewöhnliche gestielte Ansehen, oder sie blieben encystirt und 
schienen in der Erzeugung einer monadenartigen Brut begriffen. Doch 
konnte ich mur bis zu Stein’s Fig. 5l auf Tab. IV. gelangen?). 

Ich hebe endlich aus der Fülle des Entwicklungsmateriales der 
Infusorien noch die Stein’schen Untersuchungen über die Evolution des 
Chilodon Cuenllulus heraus, weil ich, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, 
im Stande bin, hier noch einen kleinen Nachtrag zu liefern. 

Neben der Längs- und Quertheilung beobachtete Stein die Bil- 
dung der Schwärmsprösslinge. Hierzu eneystirt mit gallertartiger Kap- 


1) Lachmann a. a. O, S. 341. 
2) A. a. c. 8. 193. 
3) Seine Fig. 49 traf ich einigemal genau wie die Abbildung. 


= Bi rn 


sel sich das Thier, zieht sich kuglig zusammen und verliert den son- 
derbaren, stäbchenartigen Cylinder des Mundes. An der Stelle des 
Kernes (der aber wohl bleiben dürfte) entwickelt sich dann ein mit 
borstenförmigen Wimpern bekleideter, höchst unruhiger Schwärmspröss- 
ling. Dieser erscheint freigeworden in der Form eines allbekannten 
kleinen Infusionsthierchens, des Cyelidium Glaueoma, höchst ausgezeich- 
net durch seine ruckweisen schiessenden Ortsbewegungen. Cyelidium 
Glaucoma ist also mit grösster Wahrscheinlichkeit nur der Abkömm- 
ling des Chilodon Cueullulus. 

Ich hatte nun unser Cyelidium Glaueoma im Februar dieses Jah- 
res in grosser Menge neben Chilodon Cueullulus in einem Gefässe, 
Zur Beschreibung des Thieres wüsste ich wenig hinzuzusetzen, nur 

. etwa das, dass der Mund, wie die Indigofütterung lehrt, am vorderen 
Körperende angebracht ist. Auffallend ist mir die gerade umgekehrte 
Lage von Kern und kontraktiler Blase gewesen (Fig. 21 a und b) 
Dass die Grösse stimmte und die charakteristischen gyrinusartigen Be- 
wegungen nicht fehlten, habe ich wohl kaum nöthig zu bemerken. 
Nach einigen Tagen fielen mir kleine Cysten auf mit durchsichtiger, 
aber ziemlich dicker Waud (Fig. 22 a und b), welche das eingeschlos- 
sene Thier vollkommen zu überschauen gestattete.e. Kern und pulsi- 
render Raum, ebenso die Grösse des Ganzen stimmte mit dem Cyeli- 
dium. Bald gelang es mir einige frische, d. h. mit noch sehr dünner 
Wand versehene, Kapseln zu entdecken und beim Zersprengen erhielt 
-ich, allerdings etwas verletzt und darum scheinbar ohne Kern, das in 
Fig. 21 ce abgebildete Thier, an den Wimperhaaren sicher als das ge- 
wünschte Geschöpf zu erkennen. 

Ich beobachtete nun aufmerksam meine Infusorien zwei Wochen 
hindurch. In den ersten Tagen fand ich keine Veränderungen der 
Cysten; nur wurden sie immer häufiger und die Cycelidien nahmen rasch 
ab; das eingeschlossene Thier hatte aber seinen Wimperüberzug ein- 
gebüsst. Der pulsirende Raum war in voller Aktivität. Allmälig 
fingen die Cystenwände bei den meisten Exemplaren an sich zu ver- 
dicken, häufig einen körnigen Niederschlag der Aussenfläche und eine 
leicht bräunliche Farbe zu bekommen. Bei genauem Zusehen fanden 
sich Kapseln, allerdings nur sehr vereinzelt, welche eine vorherige Ko- 
pulation zweier Thiere mit Sicherheit anzeigten, von biscuitförmiger 

Gestalt und fast doppelter Grösse (Fig. 22 e). Jetzt traten Theilun- 
gen des eingeschlossenen Thieres ganz allgemein ein (Fig. 22 ce und 
d). Die pulsirenden Räume waren in der Regel in beiden deutlich, 


die Kerne liessen sich meistens in der feinkörnigen Leibesmasse nicht 
mehr erkennen. Bald aber, nachdem eine bedeutende Aufhellung der 
getheilten Thiere erschienen war, wurden in manchen Cysten (Fig. 22 
g) die Kerne wieder sehr deutlich, während der Inhalt, vollkommen 
wasserklar, nur einige grössere, fetttropfenähnliche Moleküle darbot. 
Das Thier glich jetzt (Fig. 22 f) sehr wenig mehr einem getheilten 
Cyelidium und musste in abweichender Gestalt die Kapsel verlassen. 
Was sein weiteres Geschick, vermag ich leider gegenwärtig nicht zu 
sagen. Eine Reise rief mich im März von Zürich und als ich nach 
drei Wochen wiederkehrte, war alles in meinem Glasgefässe verschwun- 
den. Es möchte sich also hieraus zur Zeit so viel ergeben, dass der 
Abkömmling des Chillodon Cueullulus in der Form des Cyelidium Glau- 
coma eine neue Verwandlung eingeht, eine mit Enceystirung verbundene 
Theilung, durch welche zwei abweichende Nachkömmlinge sich bilden. 

Konjugationen oder Kopulationen sind bei Acineten, auch 
bei Vortieellinen in neuester Zeit getroffen worden, ohne dass wir den 
Effekt des Vorganges schon zu bestimmen wüssten. Der Konjugation 
der Cycelidien haben wir soeben gedacht. 


Erklärung der Tafel. 


Fig. 1. Schema einer thierischen Zelle. Fig, 2 a—c. Drei 
verschiedene Flimmerzellen. Fig. 3 a—d. Theilungen thierischer 
Zellen. Fig. 4 a—c. Endogene Zellenbildung. Fig. 5. Schema einer 
Knospenbildung. Fig. 6. Eine Gregarine. Fig. 7. Zwei Exemplare 
der Zygocystis cometa (Kopie nach Stein). Fig. 8. Die Thiere en- 
eystirt (Kopie nach Stein). Fig. 9. Die Bildung der Pseudonavicellen 
(nach Stein). Fig. 10 a. Pseudonavicellen (Stein); b, ce Psorospermien 
(Kopie nach J. Müller); d Schema eines amoebenartigen Körperchens». 
Fig. 11. Amoeba princeps (nach Diyardin). Fig. 12. Amoeba bi- 
limbosa (Kopie nach Auerbach). Fig. 13. Das vorhergehende Thier 
eneystirt (Auerbach). Fig. 14 a. b. Die Nachkömmlinge desselben 
(Auerbach). Fig. 15. Gromia oviformis (nach Schultze). Fig. 16. 
Rotalia Freyeri (nach Schultze). Fig. 17. Euglena viridis. Fig. 18 a. 
Chilodon Cueullulus; b. sein sogenannter Zahnapparat mit der Haut 
der Speiseröhre. Fig. 19. Das vorhergehende Thier in Längstheilung. 
Fig. 20 a—e. Öpalinen spee. x. meist in Quertheilungen. Fig. 21 
a—c. (Cyclidium Glaueoma. Fig. 22 a—g. Verkapslungen und 
Theilungen, ebenso Kopulation des vorhergehenden Thieres. 


Ueber das Verhältniss von Inhalt und Form in der Kunst. 


Von FR, VISCHER. 


So lang es eine Kunst gibt, wird das Kunsturtheil in zwei ein- 
seitige Richtungen auseinanderlaufen, welche trennen, was im wahren 
Wesen der Sache und im einzelnen Werke, das ihm entspricht, un- 
trennbar Eins ist und das eine der losgerissenen Elemente des Gan- 
zen für das Ganze halten: die eine wird alles Gewicht auf den Gehalt, 
die andere auf die Form, die eine auf das Was, die andere auf das 
Wie legen. Nennen wir jene Richtung Substantialismus (denn die 
Bezeichnung Materialismus würde hier grosse Verwirrung bringen), 
diese Formalismus. Dass beide ihren natürlichen Grund in den all- 
gemeinen geistigen Richtungen und Gewöhnungen der Menschen haben, 
bedarf keiner Nachweisung, der Unterschied ganzer Zeitstimmungen 
aber wird begreiflich eine herrschende Neigung zum Einen oder An- 
dern mit sich führen. Wir haben die Herrschaft der Hegelschen 
Philosophie, der politischen Tendenz-Kunst, wir haben eine grosse po- 
litische Bewegung mit dem guten Theil Ideologie, welche eine Haupt- 
ursache ihres Untergangs war, seit Kurzem hinter uns. Hegel hatte 
feinen Sinn für die eonerete Kunstform, mit rührender Liebe und Ver- 
tiefung ging er in das Einzelne derselben ein, allein er war dennoch 
Substantialist und sprach immer wieder, als ob das Gewicht des In- 
halts, die Gewalt und Tiefe des Pathos an sich den Werth eines 
Kunstwerkes bestimmte, und so ging von ihm jene Kunstphilosophie 
und Kunstkritik aus, welche ein Kunstwerk als solches glaubte ge- 
schätzt zu haben, wenn sie die Summe von Ideen, die es enthielt, 
durch eine, oft zudem ganz unzureichende, ja schiefe und möglichst 
viel hineinerklärende Analyse herausgezogen und blossgelegt hatte. 
Eines der schlagendsten Beispiele gibt die Faust-Literatur, namentlich 
die Beurtheilung des zweiten Theiles der Tragödie. Vergeblich wie- 
derholte man dem heitern Völkchen, das sich die Hände vor Ver- 
gnügen rieb, wenn es eine der harten allegorischen Nüsse meinte glück- 
lich geknackt zu haben, — vergeblich wiederholte man ihm, was 
jedes Kind weiss: dass Allegorie uicht wahre Poesie ist, dass Dicht- 


BIO "TERRA 


werke geniessen, Dichtwerke verstehen und nach Begriffen stöbern und 
stochern zweierlei Dinge seien; die Kleinmeister liessen sich nicht irre 
machen in dem Vergnügen, das Glück ihrer Selbstzufriedenheit über 
ihr pfifiges Rathen dem Dichter als sein künstlerisches Verdienst auf- 
zurechnen, von gediegenem plastisch allegorischem Kunstwerk u. dgl. 
zu reden. Inzwischen kam die Zeit, wo die übersatte innere Bildung 
der deutschen Nation endlich mit Macht nach aussen drängte, an das 
Thor der Wirkliehkeit pochte. Wir näherten uns der grossen politi- 
schen Bewegung. Die veränderte Stimmung trug sich als eine neue 
Form des stoffartigen Verhaltens auf die hervorbringende Kunst über: 
Malerei und Poesie wurde tendenziös in sozialer und politischer Be- 
deutung des Wortes. Herwegh und Freiligrath stritten, ob der Dich- 
ter auf der Zinne der Partei oder auf einer höheren stehen solle: eine 
ganz in den Mittelpunkt der schwierigen Frage über das Verhältniss 
von Inhalt und Form führende Debatte, auf die wir zurückkommen 
werden. Die Zeitstimmung entschied für die Zinne der Partei und 
ein Kunstwerk galt für um so schöner, je energischeren Zorn gegen 
die schlechte Wirklichkeit des Staats und der Gesellschaft es ausrief 
und aufrief, je mehr rhetorische Kraftstellen sich aus seinem Schein- 
Organismns herauspflücken und als Stichworte der wachsenden Begei- 
sterung für Nationalität und Freiheit verwenden liessen. — Seit uns 
nun der Rückgang unserer Revolution die Augen so grausam geöffnet 
hat, seit es so mit uns steht, dass der Beste sich zusammennehmen 
muss, dass er nicht den Glauben an die Macht der Ideen verliere, 
List und Gewalt für die einzigen Lenker der Wirklichkeit halte, dass 
er nicht ganz und gar blasirt werde: seither haben die Geister im 
Kunsturtheil sich naturgemäss auf das andere Extrem geworfen, auf 
den formalistischen Standpunkt. In der Philosophie, richtiger auf dem 
Boden, den sonst die Philosophie einnahm und den in zeitgemäss be- 
greiflicher Selbstüberschätzung jetzt die Naturwissenschaft als ihre Do- 
mäne zu besetzen sucht, signalisirt sich dieselbe Richtung der Geister 
als Materialismus. Hier erweist sich, warum es verwirrend wäre, in 
dem andern Gebiete, von dem wir eigentlich reden, die einseitige 
Schätzung des ästhetischen Werthes nach dem Inhalt Materialismus zu 
nennen. Jedermann würde bei Materie nicht an den Inhalt der Kunst 
im Gegensatze gegen die Form, sondern an den körperlichen Stoff, 
als Material denken, und diess führt vielmehr dahin, den Formalis- 
mus in der Kunst-Theorie als eine Art Materialismus zu bezeichnen. 
Und das mit Recht, nur lassen wir den Namen Materialismus ganz 


2 > 


dem Gebiete der Philosophie, dem Prinzip oder sogenannten Systeme, 
das man herkömmlich so benennt, und sagen nur: der ästhetische 
Formalismus ist ihm durchaus analog. Man darf sich in der Ziehung 
dieser Parallele nicht dadurch stören lassen, dass ja der Materialist 
gerade die Form für bloss anhängendes Attribut des Stoffes, diesen 
für das Wesen der Welt erklärt, der Kunstformalist aber nicht das 
Material an sich, sondern die künstlerisch-technische Behandlung des- 
selben für das Wesen der Kunst. Denn dieser vergisst, will nichts 
davon wissen, dass diese Behandlung ihren wahren Grund in einer 
inhaltsvollen Bewegung der Seele hat, daher ist sein Begriff von Form 
ein sinnlicher, obwohl er nicht rohes, sondern gebildetes Material im 
Äuge hat, und entspricht dem philosophischen Materialismus, dem die 
Form, welche in den höheren Reichen des Lebens zur Seele wird, 
als das posterius, als ein Ergebniss einer Atome-Verbindung erscheint, 
für welche er im Atom selbst, das ihm doch Prinzip ist, keinen 
Grund finden kann. Unsere Materialisten sind auf die Entdeckung 
einer Wahrheit gekommen, welche in der Philosophie längst eine Tri- 
vialität ist: dass Form (in ihrer höchsten Organisation Seele) und 
Stoff untrennbar Eines sind, nicht nur untrennbar Eines, sondern an 
sich wirklich identisch, so dass auch der Ausdruck, der Leib sei das 
Organ der Seele, weil er ein äusserliches Verhältniss denkbar lässt, 
allerdings als ungenau zu beseitigen ist. In der Freude ihrer Ent- 
deckung und in der Armuth an philosophischem Werkzeug, an dia- 
lektischer Uebung des Denkens haben sie nun das Kind mit dem 
Bad ausgeschüttet und statt zu sagen: es gibt nur eine Einheit von 
Form und Stoff, rufen sie mit dem Halloh des von einer halben Wahr- 
heit berauschten Dilettanten: es gibt nur Stoff mit der anhängenden 
Eigenschaft, Form zu haben, auf der höchsten Organisations-Stufe der 
Form als Seele zu fungiren. Sie rufen es, die mit Messer, Hammer, 
Retorte in der Hand, mit dem Mikroskop vor dem Auge zu jeder 
Stunde sich empirisch von der Wahrheit des alten Satzes über- 
zeugen können, dass die Materie ins Unendliche theilbar, dass das 
letzte erkennbare Atom selbst wieder eine Einheit von Atomen, also 
eine Form ist, das heisst, dass die Form der Materie nicht von aussen 
anhängt, sondern in ihr Innerstes, in ihr Wesen, ihr Selbst hinein- 
reicht, dass es also eine Materie ebenso wenig gibt, als eine Form, 
sondern nur eine Einheit beider. Wo haben sie auch nur den ent- 
fernten Schein eines Beweises geliefert, dass sie berechtigt sind, in 
dieser Einheit die Form als das blosse Consequens, das posterius, als 
Wissenschaftliche Monatsschrift, III. d 


Re 


das bloss Anhängende zu betrachten? Wo jemals begründet, dass 
man nicht ebenso richtig und ebenso falsch sagen könnte: es gibt nur 
Form mit der anhängenden Eigenschaft, Stoff zu sein? Allein die Sache 
wendet sich noch anders, wenn wir die Form auf den Gipfel ihrer 
Organisation, wenn wir sie in das menschliche Leben begleiten, wo 
sie als Gehirnfunetion nicht nur Seele ist, sondern im Seelenleben 
selbst der Akt der unendlichen Negation eintritt, wodurch sie Geist 
wird. Hier entwickelt das Gehirn die Thätigkeit, durch welche es 
seine eigene, bloss seelische Thätigkeit und mit ihr den ganzen Um- 
fang der Sinnlichkeit verneint, hier beginnt das Reich der freien Selbst- 
überwindung, darauf gründet sich Recht, Moral, Wissenschaft, das 
ganze Gebiet des wahrhaft Menschlichen, auch der Kunst, worin un- 
ser Wesen, in sich verdoppelt und sich selbst gegenübertretend, die 
sinnliche Stimmung nur walten lässt, sofern sie vom Geist Japprobirt 
ist, und wo sie es nicht ist, ihr die gewollte Thätigkeit abzwingt. 
Oder mit andern Worten: hier beginnt das Allgemeine, das Reich der 
Idee. Der Materialist kennt nur Einzelnes, er hat keine Mittel, das 
Allgemeine zu begreifen. Nun ist freilich, wie schon unser obiger 
Ausdruck diess festhält, auch der höchste Akt, wodurch wir das All- 
gemeine denken und wollen, die Einzelheit und Sinnlichkeit negiren, 
nothwendig selbst wieder eine Gehirnfunetion, nicht bloss Begleitung 
einer solchen, nein, die Function selbst, aber weil diess eine der pri- 
mären entgegenarbeitende, für uns wo möglich noch unerforschlichere 
Thätigkeit ist, so können wir in unserm ganzen Sprachgebrauch uns 
auf den physiologischen Vorgang dabei gar nicht einlassen, sondern 
reden mit Recht kurzweg von dem Geist und einem Reich des Gei- 
stes, das mitten im physischen Leben doch unendlich über dasselbe 
hinaus ist. Wenn aber also das Gehirn, der höchst organisirte Nerv, 
diess leisten, seine erste Action durch eine unendlich höhere hinter 
sich lassen, widerlegen kann, was folgt? Das folgt, dass das Wesen, 
das auf seiner höchsten Organisationsstufe Solches vermag, das Wesen, 
das ihr Materie nennt, an sich und schon auf seinen niedrigsten Stu- 
fen kein blosser Stoff ist, sondern ein Form, Seele, Geist in sich 
Tragendes; das folgt, dass, was als posterius, als letztes Resultat, 
als exquisiteste Ausdünstung der Materie erscheint, in der That das 
prius, d.h. in der untrennbaren Einheit das Bestimmende, Herrschende 
ist. Ihr meintet den Geist zu materialisiren und, die Ironie eurer 
selbst, habt ihr die Materie spiritualisirt, ohne es zu wissen, euer 
Stoff ist Stoff und nicht Stoff, eure Materie übertrifft sich selbst. 


Br 


Ihr hättet Recht, wenn es gälte, gegen die zu kämpfen, welche das 
geistige Prinzip zu der Materie von aussen hinzukommen lassen, und 
ihr kämpfet blind mit denen, welche längst wissen, dass beide imma- 
nent Eines und keinen Augenblick trennbar sind. 

Wir kommen auf den Formalismus in der Kunstkritik zurück. 
Wie der Materialist den Stoff, so erklärt denn der Kunstformalist die 
sinnliche Erscheinung des Inhaltes im Kunstwerk für das ganze Wesen 
desselben. Wie jener nicht erkennt, dass es einen Stoff, der nieht 
bis in sein Innerstes hinein Form wäre, gar nicht gibt, so erkennt 
dieser nicht, dass es eine blosse Form in der Kunst gar nicht gibt. 
Diess darzuthun, läuft mir eben eine Anzeige der Lehre von der Musik 
in meiner Aesthetik ganz bequem zu, die im Leipz. literar. Central- 
blatt am 24. Okt. d. J. (Nro. 43) erschienen ist. Hier lernen wir, 
dass „den Inhalt der Musik die Formen der Musik bilden“ ; -- „die 
Musik stellt nur Formen dar“, -—- „ihr Wesen sind Formen“. Diese 
Formen können zwar, so werden wir weiter belehrt, auch Inhalt, 
nämlich Gefühlsleben darstellen, die Musik kann sich ihrer Formen 
dazu bedienen, aber „ebensogut ohne diese Absicht die Formen allein 
zur Darstellung bringen“; wenn die Musik „im besten Falle die dyna- 
mische Reizung des Gemüths darstellt, so stellt sie dieses darstellend 
eben nur reine Formen dar, mit welcherlei Inhalt sie erfüllt sein 
mögen.* 

Man erkennt, dass es wahrlich kein Ueberfluss ist, wenn wir 
hier einfach feststellen, was sich, wie man meinen sollte, von selbst 
versteht. Was ist denn Form? Das Aeussere eines Innern, richtiger 
das Aeussere mit seinem Innern, die Einheit des Innern und Aeus- 
sern, von der Seite des Aeussern betrachtet. Eine blosse Form gibt es gar 
nicht, ja man kann eigentlich gar nicht sagen: blosse Form, es ist contra- 
dietio in adjeeto, denn Form ist die durch eine qualitative Kraft, ein 
inwohnendes Dynamisches, auf höherer Stufe Geistiges so oder so ge- 
bildete oder bewegte Materie. Form ist Ausfluss, daher Ausdruck 
eines Innern. Allerdings ist, was wir so nennen, von seinem Inhalt 
relativ trennbar und wir sprechen bei solcher relativer Trennung von 
„blosser Form“. Diese Bezeichnung ist ungenau, wie häufig der ge- 
meine Sprachgebrauch, denn die Sache verhält sich so, dass hier die 
angeblich blosse Form mit ihrem ursprünglichen Inhalt einem fremden 
Inhalt verknüpft ist, daher jener ursprüngliche Inhalt in dem neuen 
Zusammenhang unwahr wird. Wenn z. B. Jemand einen Charakter, 
eine Stimmung heuchelt, affectirt, so nimmt er Formen an, welche 


FR 


ursprünglich nur durch jenen Charakter, Stimmung geschaffen sind, er 
trennt sie von diesem ihrem ursprünglichen Zusammenhang, aber er 
vermag sie in dieser Stimmung doch nur dadurch hervorzubringen, 
dass er sich in ihr wahres Inneres momentan hineinversetzt. Und 
wenn in der Kunst von einer leeren Form, einer blossen Formschön- 
heit die Rede ist, so handelt es sich von Bildungen des Materials, die 
ebenfalls ursprünglich dem Innern des bewegten Geistes entflossen und 
im vorliegenden Zusammenhang nur relativ von ihm getrennt sind, in 
der Trennung selbst aber noch einen Schimmer, eine Reminiscenz ihrer 
ursprünglichen Inhaltsfülle und Wärme bewahren. Ohne dieses wenn 
auch noch so dünne Band würden sie im Augenblick erlöschen, in 
Nichts zusammenfallen. Dass die Kunst, mit Ausnahme der Poesie, 
ihr Material seinem Naturzusammenhang entnimmt und mit Beibehal- 
tung einer schwachen Mitwirkung desselben ein anderes Inneres hin- 
einlegt, als die blosse Naturkraft ihm gegeben, diess hier als Ein- 
wendung vorzubringen, wäre eine ganz ungeschickte logische Durch- 
kreuzung. Die Kunst hat entdeckt, dass vermöge einer tiefen, dunkeln 
Symbolik Stein, Holz, Farbe u. s. w. unter der bildenden Hand des 
Menschen zur Nachbildung der höheren Formen sich verwenden lässt, 
welche die Seele, der Charakter als Aeusseres seines Innern hervor- 
bringt, und verarbeitet nun dies Material zu einer reineren Erscheinung 
desselben Inhalts, den sie gleichzeitig erhöht und in neuen, tiefern Zu- 
sammenhang stellt. Was die Poesie betrifft, so kann man nicht ebenso, 
wie von der bildenden Kunst, von ihr sagen, sie entnehme ihr Mate- 
rial seinem Naturzusammenhang. Sie gibt ihrem Vehikel, dem Wort, 
von dem man keinen Augenblick zweifeln kann, dass es das Aeussere 
eines Innern, dass es Bild des Gedankens sei, den Ausdruck eines 
höheren geistigen Lebens, als des gemeinen, prosaischen; sie gestaltet 
es rhythmisch, aber unser Kritiker selbst wird nicht sagen wollen, das 
Sonett sei da, um das Metrum des Sonetts darzustellen, das Distichon 
des Distichons u. s. w. Etwas Anderes aber wird er mit mehr Schein 
glauben einwenden zu können und vielleicht ist es ernstlich seine 
Meinung: es gelte nämlich unser Satz nur von der bildenden Kunst 
und Poesie und diese freilich geben Formen mit Inhalt, etwas An- 
deres aber sei es mit der Musik (wie er dabei ihre Verwandtschaft 
mit der Baukunst zu berücksichtigen und auch dieser die inhaltsvolle 
Form abzusprechen geneigt wäre, können wir nicht wissen). Sonderbar 
wäre es nun freilich, wenn zwar die andern Künste inhaltsvolle, die 
Musik aber leere Form haben, d. h. Nichts, ein Unding, einen Unsinn 


a 


repräsentiren sollte. Es liegt hier einer der Punkte, wo Crudität des 
Denkens von einem augenblicklichen Anschein zu abgeschmackten Mei- 
nungen sich fortreissen lässt. Der Inhalt des Werks der andern Künste 
lässt sich neben der künstlerischen Darstellung auch durch Worte aus- 
drücken, zwar unzureichend (sonst wäre die Kunst entbehrlich), aber 
doch im Wesentlichen bestimmt, denn er ist bestimmtes Objekt. Diess 
gilt soweit selbst von der Baukunst, als sich sagen lässt, welchen 
Kern das Gebäude zu umschliessen bestimmt sei; dass sie denselben 
nur nach der Seite der Stimmung, die er mit sich führt, durch ihre 
Kunstformen andeutet, darin freilich liegt eben ihre Verwandtschaft mit 
der Musik. Die Musik aber bringt kein Objekt zur Darstellung, d. h. 
weder einen äussern Gegenstand, noch eine der Seelenthätigkeiten, 
welche auf bewusster Unterscheidung und Beziehung zwischen Objekt 
und Subjekt beruhen. Weil sie nun kein Objekt darstellt, so ist für 
den Formalisten der tiefsinnige Satz fertig: sie stellt ihre Darstellung 
dar, sie drückt mit ihren Formen ihre Formen aus, d. h. sie gibt 
Nichts, um durch diess Nichts Nichts zu geben. Unser Nihilist ahnt, 
welchen Aberwitz er ausspricht, und hilft sich nun durch die er- 
wähnte Einräumung: die Musik hat manchmal Inhalt, manchmal 
nicht, sie kann mit ihren Formen Lebensformen darstellen, oder auch 
nicht, denn „nicht als Formen des Lebens, sondern als Formen an 
sich haben sie für die Musik Bedeutung“. Eine Musik, die kein 
Herz bewegt, ist demnach ebenso gut, wie eine, die jedes rührt und 
entzückt, der Kunstreiter auf der Violine und der seelenvolle Spieler, 
der eine ist Künstler wie der andere. Das ist die naive Art, in welcher 
ein auf solcher Stufe des Unterscheidens und Verbindens festgesessenes 
Denken sich mit schwierigen Begriffen abtindet. Die Musik hat in ge- 
wissem Sinne nie einen Inhalt, in gewissem Sinne immer; das hat 
seine Schwierigkeiten; man weiss sich zu helfen und setzt dafür: sie 
hat bald einen Inhalt, bald keinen. Ich soll z. B. ausdrücken, dass 
eines Menschen oder Volkes Geistesleben dunkel, in gewissem Sinn 
unbewusst sei und weil das ein verwickeltes Ding ist, zu begreifen 
und begreiflich zu machen, wie der Geist, seinem Wesen nach die 
Helle, das Bewusstsein selbst, auch dunkel, unbewnsst sein kann, so 
helfe ich mir einfach und sage: der Mensch, das Volk hat theils 
Geist, theils keinen, bald Geist, bald keinen, — was, nebenher 
gesagt, auch seine Wahrheit hat, aber nur eine solche, die hieher nicht 
gehört, hiemit nichts zu thun hat. Parzival heisst bei Wolfr. von 
Eschenbach der Tumbe-Klare; das weiss ich, was das heissen will, 


— Mn 


sagt unser Unterscheidungskünstler: Parzival war manchmal dumm, 
manchmal gescheidt. Scherz bei Seite: das Beispiel ist, wie ich 
eben im Gebrauch bemerke, mehr, als Beispiel. Das Gefühl ist Geist, 
in einer Form des Dunkels, welche ihre Natur verliert, sobald das 
Wort dem objektiven Grund und Inhalte des Gefühlszustandes Aus- 
druck gibt, denn hiemit ist das Bewusstsein an die Stelle des Gefühls 
getreten. Das Gefühl als solches ist ein Verhältnissleben, ein Leben 
dynamischer Reizungsverhältnisse und muss daher gerade durch die 
Kunstform, welehe die reinen Bewegungsverhältnisse des Tons zum 
Darstellungsmittel hat, seinen einzig richtigen Ausdruck finden. Ich 
habe daher in der Aesthetik gewagt, den Cirkel für erlaubt zu er- 
klären, wonach zuerst die Natur des Gefühls zwar in ihrem allge- 
meinen Grundcharakter bestimmt und daraus gefolgert wird, dass die 
Musik ihr reinster Ausdruck sei, dann aber aus der vorausgesetzten 
Musik die spezielleren Unterschiede und Theilungslinien in dem sonst 
ununterscheidbaren Nebel dieser Geistesform gewonnen werden. Unser 
Kritiker führt dies an, ohne es zu widerlegen, als ob die Citatzeichen 
genügten, mich ironisch zu vernichten. Nur das rein Dynamische am 
Gefühl, abgesehen von jedem Inhalt, sagt er, könne die Musik dar- 
stellen, nicht weil das Gefühl musikalisch, sondern weil alles Musi- 
kalische dynamisch sei. Man bemerke die Verwirrung in diesem Satze, 
der, richtig gestellt, gerade das bestätigt, was ich sage. Meine Be- 
hauptung, die allgemein anerkannte psychologische Auffassung ist diese: 
im Gefühle verschwindet jeder bestimmte, objeetive Inhalt als solcher 
und wird zu einer blossen Dynamik von Reizungsverhältnissen, die 
sich als unendliche Modifikationen von Lust und Unlust ankündigen; 
ich schliesse: es wird daher seinen adäquatesten Ausdruck in einer 
Kunst der rein dynamischen Tonverhältnisse finden. Der Kritiker be- 
ginnt dagegen: „nur das rein Dynamische am Gefühl, abgesehen von 
jedem Inhalt“ u. s. w., als ob mein Satz nicht gelautet hätte: das 
Gefühl ist an sich inhaltsvolle Dynamik, Dynamik, worin der Inhalt 
seine objeetive Bestimmtheit ausgelöscht hat; und so erschleicht er 
sich den Rest seiner obigen Aufstellung, während in Wahrheit der 
Sehluss dieser ist: weil alles Musikalische dynamisch ist, so ist die 
Musik recht eigentlich die Kunst des Gefühls, denn das Gefühl setzt 
jeden Inhalt in eine Dynamik von Reizungsverhältnissen um. Die Ver- 
wirrung kommt offenbar daher, dass der Kritiker, nachdem er gelesen, 
was ich über das Gefühl und die Musik sage, sogleich den Haupt- 
punkt wieder: vergessen haben und der Meinung sein muss, ich er- 


nn 


kenne dem Gefühl als solehem objeetive Inhaltsbestimmtheit zu und 
ebenso der Musik. Ich habe gezeigt, dass in das Gefühl aller Lebens- 
inhalt einsinkt und mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt 
in ihm seine gegenständliche Bestimmbarkeit verliert, dass das Gefühl 
also inhaltslos ist im einen, inhaltsvoll im andern Sinn; unser Kritiker 
aber, weil er den vorhandenen Widerspruch nicht begreift, nur objektiv 
bestimmbaren Inhalt kennt, spricht nun der Musik diesen und jeden 
ab, und was er für sich vom Gefühle denkt, erfahren wir nicht; wahr- 
scheinlich: es habe manchmal Inhalt, manchmal nicht, und jene Male, 
wo es keinen hat, werden eben dieselben sein, wo die Musik Gefühle 
darstellt. — Mit meinem Satz ist es keineswegs unvereinbar, wenn be- 
hauptet wird, dass das Gefühl sich in ganz individuell bestimmte ein- 
zelne Stimmungen unterscheide, deren Verlauf den Inhalt des einzelnen 
musikalischen Kunstwerks bildet; die dynamischen Verhältnisse des 
Gefühls lassen unendliche Coneretionen ihrer Mischung zu, welche für 
das Wort ebenso indefinibel und doch ebenso scharf bestimmt sind, 
als in der Säftemischung und physiologischen Grundstimmung des ein- 
zelnen Menschen die einzelnen wechselnden Zustände mit ihrem be- 
stimmten Charakter, der sich doch nicht mit Worten bezeichnen lässt. 
— Dass in jedem Zuhörer die musikalisch dargestellte conerete Stim- 
mung anders anklingt, darin hebt sich ihr Wesen nicht auf: den 
Grundcharakter derselben wird jeder musikalisch Organisirte gleich- 
mässig mit allen Andern fühlen, aber mit ihm treten in Jedem andere 
Erfahrungen, Erinnerungen, Phantasiebilder, tritt eine andere Bezie- 
hung zu der Welt des deutlichen Bewusstseins in Verbindung; das 
Dunkel des Gefühls ist zugleich seine Unendlichkeit und die Unend- 
lichkeit möglicher Beziehungen auf die Objekte. Auch dies ist in der 
Lehre vom Gefühl auseinandergesetzt, wovon ich in dem Antheil an 
dem allgemeinen Abschnitt über die Musik in meiner Aesthetik, den 
ich übernommen, ausgehe. Der Kritiker aber meint, diese unendlichen 
Beziehungen, vermöge deren Jeder das vernommene Musikwerk sich 
anders übersetzt, seien eben ein Beweis, dass die Musik „nur Formen 
darstelle“, denn dieselbe Form sei es, die uns an Alles mahne, was 
in dieser sich zu bewegen pflege oder fähig sei. Da müsste vorher 
bewiesen sein, dass nicht derselbe Inhalt (vollends, wenn er ganz in 
der Form der Stimmung auftritt) unendlich verschieden anklingen und 
doch in seinem Grundceharakter derselbe sein könne; ferner müsste be- 
wiesen sein, dass gewisse physische Bewegungen von den Stimmungen 
und Kräften der Gegenstände, die sich in ihnen bewegen, unabhängig 


Er Er 


seien und dass die Musik, wenn sie die analogen Rhythmen entwickelt, 
ordnet, zu diesen Stimmungen und Kräften in keinerlei Beziehung trete. 
Aber man sieht hier schliesslich noch einmal ganz klar, wo die Verwirrung 
sitzt, denn die Kritik fährt fort: — „nieht weil die Musik kein 
Objekt darstellt, sondern weil sie keinen Inhalt hat.“ 
Das sollte heissen: „Der Satz, dass die Musik kein Objekt darstellt, 
dreht sich in meinem Kopfe zu dem Satz um: sie hat keinen Inhalt, 
weil ich nicht begreife, wie das Gefühl inhaltsvoll und doch ohne 
Unterseheidung von Subjekt und Objekt sein kann.“ 

Ich habe dieses Nest von Confusion etwas ausführlich vorgenommen, 
weil die Auswicklung belehrend ist über den Formalismus im Kunst- 
urtheil überhaupt, und ich habe es mit einiger Schärfe gethan, weil 
der Kritiker mit gar so affektirter Vornehmheit anfängt: „der Ver- 
fasser stellt sich, wie zu erwarten war, auf den Standpunkt der musi- 
kalischen Gefühls-Aesthetik*. Als ob es bekanntlich neben einigen 
andern thörichten Theorieen der Musik eine Gefühlstheorie gäbe, deren 
Naivetät unter Kennern eine abgemachte Sache sei, so dass sie von 
der Höhe ihrer Vernunft geinüthlich zusehen können, wer etwa patho- 
logischer Weise sich in die Falle dieses Irrthums verlaufe. So muss 
ich ihm denn, da er es nicht weiss, sagen, dass die Gefühlstheorie 
der Musik nicht eine Theorie ist, die es neben andern auch so gibt, 
sondern dass gar keine Kunstphilosophie existirt, welche in der Musik 
einen andern Inhalt suchte, noch weniger irgend eine, die gar keinen 
Inhalt in ihr suchte; ich muss ihm sagen, dass nicht er auf die 
schweren Forschungen der Kunstwissenschaft herunterzulächeln hat, 
sondern dass man in dieser die ungeschickten Vorstellungen und Denk- 
verwirrungen guter Musikanten und schlechter philosophischer Dilet- 
tanten mit ihrer selbstzufriedenen Gewiss-Wisserei recht wohl kennt 
und pathologisch begreift. Geläufig ist Jedermann, dass diejenige 
Wendung der Gefühlstheorie der Musik eine Verkehrtheit ist, welche 
jedes Musikwerks Inhalt mit Worten glaubt bestimmen zu können; 
von dieser aber ist nicht die Rede und der Kritiker selber sagt, es 
sei diess nicht meine Theorie. Zum Abschied habe ich ihm noch zu 
sagen, dass ich die gnädige Anerkennung nicht annehmen kann, die 
er mir dafür widerfahren lässt, dass ich neben einer Musik mit Ge- 
fühlsinhalt „noch eine Musik bestehen lasse, die bloss Produkt der 
in Formen spielenden Phantasie ist.“ Bloss gelehrte und bloss dem 
Ohr schmeichelnde Mnsik gibt es, aber für sie, wie für alle relativ 
leere Kunst liegt die Möglichkeit ihres Bestehens nur in jenem Bande, 


— Ya 


Pre 


‘das, obwohl noch so sehr verlängert und verdünnt, sie noch mit der 
ursprünglichen und wahren, der gefühlten Musik verbindet; die re- 
lativ ausdrucksloseste Tonverbindung und Tonfolge würde auch den 
reinen Fachmann nicht erfrenen, wenn nicht ein entfernter Schimmer 
von Gefühlsleben in ihr wäre, ebenso wie das leerste Sonett noch an 
die Gefühlsstimmung erinnert, aus welcher diese Form entsprungen 
ist und welcher das inhaltsvolle Sonett Worte gibt, ebenso wie selbst 
das abstrakte Linienspiel in der Dekoration nur durch die dunkle 
Symbolik erfreut, vermöge deren bei ihrem Anblick uns Windungen 
und Lösungen, Labyrinthe und Entwicklungen alles Lebens vorschweben. 

Nehmen wir nun unsere Frage wieder in ihrer Allgemeinheit auf. 
Es kommt in aller Kunst rein auf die Form an, dies ist also der 
Satz des Formalismus. Und dieser Satz ist ganz wahr, ist Grundbe- 
stimmung im Wesen des Schönen. Dass es im ästhetischen Gebiet 
überall nur darum sich handelt, wie der Gegenstand aussieht, er- 
scheint, nicht um seine innern stoffartigen Qualitäten (sei unter dem 
Stoffartigen die bildende physische Lebenskraft mit der durch sie be- 
dingten Struktur, Mischung des Stoffes oder das Geistige, Moralische 
verstanden), sondern nur um die Gesammtwirkung der Oberfläche, dass 
im Künstler das direkte Interesse für den Gehalt, sei es Affekt, sei 
es Eifer des Wahren und Guten, einem reinen Sinne des Bildens ge- 
wichen sein muss, wenn er fähig sein soll, ein Kunstwerk zu schaffen, 
dass das ästhetische Wohlgefallen des Zuschauers in demselben Sinn 
ein interesseloses sein muss: diess sind Sätze, welche Kant ein für 
allemal begründet, die Aesthetik nach ihm in jeder Weise tiefer ab- 
geleitet und spezieller entwickelt hat, Sätze, an welchen jetzt Niemand 
mehr rüttelt, der einige ästhetische Bildung besitzt. Aber das ver- 
gessen sehr Viele, dass in der Form selbst eben die innere physische 
Bildungskraft, der geistige Gehalt mit ihrer Qualität ausgesprochen 
sind, dass das erscheinende Sinnliche gerade bis auf diese Linie in den 
Raum hineingetrieben wird, gerade so und so gefärbt ist, sich be- 
wegt, handelt, weil es der so und so bestimmten Lebenskraft ent- 
quollen, von dem so und so bestimmten Geist erfüllt, geführt ist, dass 
der Künstler ‘mit der ganzen Lebendigkeit des Nervs, der vollen Innig- 
keit des Gemüths und Intensität des Geistes in den Affekt und in 
die Idee sich hineingelebt haben muss, die er darstellt, dass hier die 
ganze Bedeutung des Perfektums: Vergangenheit, aber gegenwärtiges 
Fortwirken und Bestand der Vergangenheit, in Wirkung tritt, dass 
endlich der Zuschauer allerdings von jenem Interesse ganz frei sein 


7 


muss, das eine Unruhe enthält, etwas zu geniessen, zu thun, zu wirken, 
einem Sollen Folge zu geben, dass aber damit ja keine Gleichgültig- 
keit gemeint ist, vielmehr eine reine Betrachtung, in welcher Herz, 
Wärme, Begeisterung ihre einseitige Gewalt nur darum auslöschen, 
weil sie zu harmonischer Stille sich sammeln. Das Schöne tilgt das 
Interesse für etwas, was da werden soll, nur darum, weil es mittel- 
bar oder unmittelbar, in ruhendem Bild oder in bewegter Handlung, 
die Welt als eine solche darstellt, worin all die Güter und das Gute, 
um das wir uns sonst beunruhigen und quälen, schon erreicht sind, 
ewig aufs Neue in gegenwärtige Erfüllung treten, weil es die in der 
empirischen Wirklichkeit zerstreuten Strahlen des ewigen Lichtes auf 
Einen Punkt eoncentrirt, auf Eine Stelle wirft und uns dadurch in die 
Stimmung einer vollkommenen Welt versetzt. Wenn irgendwo, so gilt 
daher hier die Bedeutung, in welcher Hegel den Terminus Aufheben 
gern gebraucht hat: so nämlich, dass es sowohl den Begriff des con- 
servare, als des tollere in sich enthält. Der Gehalt ist im Schönen 
in die reine Form aufgehoben, aber nur in dem Sinn, dass er nicht 
mehr in seiner Getrenntheit, in seiner Besonderheit wahrgenommen 
wird; er ist als solcher nieht mehr da, nur weil er ganz in die Form 
übergetreten ist. Das Stoffartige ist in die Form aufgegangen, aber 
es ist nicht gleichgültig, was aufgegangen ist. Es verhält sich genau 
wie mit einem chemischen Amalgam, worin ein Stoff in einen andern 
ganz aufgelöst ist, aber in der Auflösung ihm ganz seine Qualität 
mitgetheilt hat; wenn man das bescheidenste Bild will: Zucker hat 
sich im Wasser aufgelöst, er ist weg, aber das ganze Wasser ist 
von Süssigkeit durchdrungen. Man spricht unter Künstlern und Kennern 
nicht leicht vom Inhalte, sondern von Motiv, Composition, Form, 
Farbe, Vers u. s. w., aber man hält es nur darum so, weil man still- 
schweigend voraussetzt, dass dem Motiv, derComposition, Form u. s. w. 
der Inhalt einverleibt sei; man schweigt davon, weil es sich von 
selbst versteht; so unzweifelhaft ist die Forderung, dass man sich 
dabei gar nicht aufhält. Man redet nur vom Körper, weil die Seele 
schon darin ist. Erst wenn ein Formgebrechen, das unverkennbar in 
Unwahrheit, Unreinheit, Flachheit, Verworrenheit, Ueberfruchtung, Will- 
kür des Inhalts seinen Grund hat, den Accent fühlbar auf diesen wirft, 
da wird die Rede davon, da fühlt man, dass die Form von ihren 
äussersten Enden in Einem Zuge zurückläuft in das Nervencentrum, 
worin die Seele eines Kunstwerks lebt, und dass man gar nicht sagen 
kann, wo denn der Punkt sei, auf welchem Inhalt und Form sich 


re 


scheiden. Viel cher kann man an der Form selbst zwei Seiten unter- 
scheiden. „Zur Form eines Gedichtes gehört auch, ja das Wesent- 
liche an dieser. Form ist die Struktur, die Oekonomie, die Architektur 
einer Dichtung; sind Worte und Verse das Gewand, Gedanken und 
Bilder Carnation und Teint, so ist das zuletzt aufgeführte Moment der 
Wuchs, der Gliederbau sammt der Gesichtsbildung eines Gedichts. 
Behauptet nun Herr Menzel, in die schönste Form nicht bloss von 
Worten und Versen, sondern auch von einzelnen Gedanken und Bil- 
dern habe z. B. Göthe oft den schlechtesten Inhalt gefüllt, man müsse 
also, da man der Form (ästhetisch) nichts anhaben könne, geradezu 
auf den Inhalt (moralisch) losgehen: so bleibt uns vielmehr neben 
jener äusseren Form, welche allerdings auch an einem unwürdigen 
Gegenstande schön sein kann, noch jene so zu sagen innerliche Seite, 
der Bau, die Oekonomie des Gedichts; diese wird immer leiden, wenn 
ihr ein unsittlicher Inhalt aufgedrungen wird“ (Strauss Streitschr. 2. 
Heft, S. 127). Wir haben, beiher gesagt, an W. Menzel ein Bei- 
spiel, wie der Formalist zugleich moralisirender Substantialist sein 
kann: ist die Kunst inhaltslos indifferente Form, so mag der Eine 
sich damit begnügen, dass sie als solche ergötzt, der Andere fordert, 
dass sie ausdrücklich moralischem Inhalt als Gefäss diene, und beur- 
theilt sie nach diesem Maasstabe. Unser Satz aber ist: das Gute wird 
in der Kunst schön, das Schlechte, Böse hässlich und wenn wir etwas 
ernstlich schön oder hässlich nennen, so haben wir es stillschweigend 
auch gut oder übel genannt. Keine noch so gelungene Form kann 
einen kranken Kern verhüllen. Wir nennen nur Ein Beispiel, nicht 
von eigentlich Schlechtem, aber von Peinlichem: Heinrich von Kleist 
hat in seiner Marquise von Ö. einen widerlichen Stoff mit der grössten 
Meisterschaft behandelt; vollendetere Durcharbeitung kann nicht leicht 
angewendet werden, ein widerstrebendes Motiv zu entlasten, aufzu- 
lösen, ja Schönheiten daraus zu ziehen, aber doch können wir den 
lästigen Ausgangspunkt niemals vergessen, selbst im versöhnenden, 
edlen Schlusse nicht. Wo aber Schlechtes, Unmoralisches, das der 
Dichter billigt, innerlich sich in die flüchtig täuschende Form kleidet, 
da wird der verkehrte Inhalt sich am allermeisten im Schluss ver- 
rathen, er wird ein Missklang sein, er wird uns nicht beruhigt, nicht 
versöhnt entlassen. — Ein stärkeres Schlaglicht fällt auf die untrenn- 
bare Einheit von Inhalt und Form namentlich auch da, wo diese in 
müssigen Ueberfluss auswächst, also z. B. wo Gruppen, Parthieen, Scenen 
auftreten, welche an sich ergötzen oder rühren, aber in diesen Zusam- 


PR BEER 


menhang nicht gehören. Wir haben aber mit diesen Sätzen noch zu 
viel zugegeben. Auch die sogenannt schöne Form, welche über leeren 
oder schlechten Inhalt geworfen ist oder bei gutem Inhalt als stören- 
der episodischer Ueberfluss erscheint, könnte nicht schön genannt 
werden, wenn sie nicht inhaltsvoll, seelenvoll wäre; sie ist nur jetzt, 
in dem so beschaffenen Kunstwerk, sammt ihrem an sich edeln 
geistigen oder seelischen Kern an einen andern, kranken Kern unna- 
türlich oder an einen gesunden, der aber in seinem Zusammenhang 
diese Art von Formen sammt dem ihnen an sich eigenen Inhalt nicht 
bedingte, unnatürlich oder müssig angeheftet. Die Formen einer weib- 
lichen Gestalt z. B. hiessen nicht schön, wenn sie nieht mit der reiz- 
voll bauenden organischen Lebenskraft zugleich aussprächen, was uns 
am weiblichen Seelenleben entzückt; natürlich aber können sie ver- 
wendet werden, um zur Wollust unschön zu reizen oder durch eine 
zwar unschuldigere Anziehung Leerheit an tieferer Bedeutung, wie sie 
das angelegte Kunstwerk forderte, zu verdecken, oder sie können als 
müssiger Schmuck einen Zusammenhang überfüllen, dem diese Bedeu- 
tung sammt den ihm dienenden ernsteren Kunstformen keineswegs ab- 
geht: in ihrem Zusammenhang sind sie bedeutungsvoll genug, hier 
nur sind sie bedeutungslos, störend, wie Opernmusik in der Kirche, 
und nun nennen wir sie blosse, leere Form, wenn wir nicht schlim- 
mere Namen brauchen. 

Man kann von Künstlern, als naturgemässen Feinden der stofl- 
artig den Inhalt betonenden Auffassung sagen hören: „Was soll das 
Gerede von der Idee! Die sogenannte Idee ist mir nur Motiv.* Wird 
es richtig verstanden, so lässt sich nichts dagegen einwenden. Der 
wahre Sinn des Wortes ist: der Künstler sieht allen Inhalt nur dar- 
auf an, ob und wie viel schöne Erscheinung mit ihm gegeben sei, 
aus ihm sich entwickeln lasse; in diesem Sinne nennt er die Grund- 
idee eines Werkes Motiv, und das Wort ist recht dienlich, um aus- 
zudrücken, dass in der Kunst Alles auf die Form ankommt, dass 
getrennt von diesem absoluten Zusammenhang jeder, auch der be- 
deutendste Inhalt künstlerisch Null ist. Allein es ist dennoch eben- 
sosehr ein gefährlicher Ausdruck, denn leicht kann er so verstanden 
werden, dass er gerade auf eine falsche Trennung von Inhalt und 
Form hinführt; die Meinung kann nämlich sein: die Idee ist dem 
Künstler nur Gelegenheit, Schönes zu entwickeln. Dann bleibt 
jene neben dem, was das Kunstwerk uns zeigt, in der unwürdigsten 
Stellung liegen und die Formenwelt, die sich vor uns entfaltet, ist 


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entweder bedeutungslos im obigen Sinne des Worts oder sie stiehlt 
sich unter der Hand eine zwar hinreichende und würdige Bedeutung, 
welche aber von der angeblichen Idee, dem buchstäblichen Ausgangs- 
punkte sich ganz unorganisch lossagt. Dann entstehen unwahre Kunst- 
werke. Von grösster Wichtigkeit ist diess für das richtige Urtheil in 
der Kunstgeschichte. Bis tief in das sechszehnte Jahrhundert hinein 
hat man z. B. die Stoffe der heiligen Geschichte als die absoluten, der 
Darstellung einzig würdigen in -der Malerei angesehen. Nun drängte 
aber mit Gewalt Landschaft, Sittenbild, reine Historie, historisches 
Sittenbild zur Existenz, und da man diesen Gebieten doch den Werth 
der Selbständigkeit nicht zuerkannte, so hängte man sie an die kirch- 
lichen Stoffe, wie an einen Nagel. Paolo Veronese gibt vor, die Hoch- 
zeit zu Kana zu malen, und er malt eine Versammlung von histori- 
schen Porträtfiguren bei einem venetianischen Festmahle; Bassano gibt 
uns Viehstücke und bringt im Hintergrunde kaum sichtbar eine Ver- 
kündigung der Hirten, einen Eece homo als vorgegebenes Sujet an, 
ja es kommt dalıin, dass Niederländer solche Stoffe als Vorwand be- 
nützen, um einen Fleischmarkt vorzuführen. „Motiv“ hat hier die 
Bedeutung eines falschen Passes erhalten und man wird gegen solche 
unwahre Verschiebungen viel zu lax im Urtheile werden, wenn man 
von ungenauen Begriffen über das Verhältniss von Idee und Bild aus- 
geht. Doch ist diess noch die unschuldigere Art von Verschiebung. 
Ganze Epochen können durch Beibehaltung überlebter Ideen geradezu 
in eine schlechte Kunst gerathen. Die Stimmung des sechszehnten 
Jahrhunderts war nur in den ersten Jahrzehnten noch eine andächtige, 
noch fähig, das höchst gereifte und erregte weltliche Schönheitsgefühl 
mit den kirchlichen Stoffen und dem frommen Ausdruck zu reiner Ein- 
heit zu verbinden. Der elektrisirte Empfindungszustand, der vibrirende 
Nerv des Jahrhunderts, das Gefühl der Gegenwart, der sinnlichen 
Wirklichkeit war weit mehr auf die classischen Stoffe gewiesen, man 
ergriff sie auch, aber man behielt vorherrschend die kirchlichen Stoffe 
bei, man tauchte sie gegen ihre Natur in die heisse, sinnlich verzückte 
Stimmung und bald benützte die kirchliche Restauration die Reize, 
die in dieser Auffassung lagen, um das liebe Fleisch für den Himmel 
zu gewinnen, und wirklich, wo die in lüstern sentimentaler Seeligkeit 
schwimmenden Engel und Heiligen übereinanderpurzeln, wie schon in 
Correggio’s christlichen Elysiumsbildern, da mag es schon der Mühe 
werth scheinen, vorläufig einige äussere Opfer sich aufzulegen, um so 
überschwenglich angenehm belohnt zu werden. 


— 13 — 


Wir müssen aber unsere Frage in sittlicher und politischer Hin- 
sicht noch genauer vornehmen. Die Idee, welche sich in die Formen 
des Kunstwerks ergiesst, soll eine sittliche Wahrheit sein. Den Be- 
griff des Sittlichen fassen wir hier natürlich in solcher Weite, dass.er 
keine falsche Strenge gegen dis Sphären unschuldiger, gesunder Le- 
bensfreudigkeit einschliesst, welche ja auch für sich mit Fug und Recht 
als bestimmender Inhalt unzähliger Kunstwerke auftreten; aber aller- 
dings seine tiefere Bedeutung gewinnt er erst in den Gebieten, wo es 
sich vom Sittlichen im engeren Sinne des Wortes handelt, von höherm 
Pathos, von Gesinnung. Wir verlangen, dass der Künstler und Dich- 
ter von solchem Inhalt, wo die Aufgabe ihn mit sich bringt, warm 
nnd tief erfüllt sei, damit er mit voller Kraft in die formgebende 
Phantasie sich umsetzen könne. Allein man muss sich hüten, diess 
in zu beschränktem Sinne zu verstehen, wenn man nicht gerade dem 
Formalismus Waffen liefern, gewonnen Spiel geben will. Man ver- 
gesse nicht, dass die Phantasie eine Kraft ist, sich in alle Zustände 
zu versetzen. Dem Dichter kann es einfallen, sich in einen Zustand, 
einen Charakter, eine Sitte zu versenken, die von der Ueberzeugung, 
womit es ihm als Menschen Ermst ist, weit abliegen, ja in einem 
Werke von reicherem Zusammenhange muss er diess immer thun und 
muss es mit so viel Intensität, dass er selbst das Schlechte, das Böse, 
das doch schliesslich in seiner Nichtigkeit sich offenbaren soll, nicht 
etwa mit Hass, sondern mit einem Anscheine von Lebenskraft und 
Recht darstellt, damit wir begreifen, wie auch das .Verkehrte nicht 
existiren könnte, wenn es nicht durch eine Welt von Fäden, Kräften 
noch mit dem Guten und Gesunden in Verbindung stünde, dieses 
selbst in der Verkehrung noch enthielte. Solcher Anschein hebt sich 
dann im grösseren Kunstwerk durch den Zusammenhang, durch 
den Contrast wieder auf, es gibt aber und muss geben kleinere, 
selbständige Bilder, worin geradezu Niedriges, Verkehrtes, Frivoles 
zur Darstellung kommt und zwar in voller Heiterkeit, ohne eine Spur 
von Verwerfung. Ein politisch freidenkender, ein als Mensch mora- 
lisch streng gesinnter Dichter kann ganz wohl z. B. in einem einzel- 
nen Liede den feinen, üppigen Aristokraten, den Trinker, den Lum- 
pen, die reizende Kokette ganz so lustig sich hinstellen und aussingen 
lassen, als wären sie höchst berechtigte Figuren, und wir können, ohne 
schlecht zu sein, eine herzliche Freude an dem Bilde haben. Göthes 
Vanitas, vanitatum vanitas und Philinens Lied z. B. sind ganz für 
sich poetisch, auch olne weitere, dem lieben Leichtsinn seinen Ort 


— HE 


anweisende Zusammenstellung, wie sie das letztere im Wilh. Meister 
finde. Wer nun den Humor nicht hat, solche Dinge zu verstehen 
und zu geniessen, der gibt dem Formalisten das Scheinrecht zu der 
Behauptung: da sehe man, was daraus folge, wenn man nicht aner- 
kenne, dass Alles auf die blosse Form ankomme; dem Dichter sei es 
eben darum zu thun gewesen, an jenen Charakteren sein Formtalent 
zu bewähren, und wer vom Stoffartigen nicht abstrahiren könne, dem 
bleibe natürlich nichts zu geniessen, sondern nur zu verdammen. Und 
der Formalist, der die Form als dienendes Mittel für moralische Zwecke 
betrachtet, also in diesem Sinne zu den Substantialisten gehört, wird 
sagen: gut, so verdamme ich. Das Eine ist aber so falsch, als das 
Andere. Wenn der Dichter einem nach strenger Linie des moralischen 
Urtheils verwerflichen Zustande oder Charakter Poesie abgewinnt, so 
ist es, weil er mit seinem weiten und grossen Weltsinne die verlo- 
renen Strahlen des Guten und Ganzen, die in die fernsten Falten des 
Daseins hineinschimmern, herausfüblt und findet, weil es ihn anzieht 
und erfreut, zu sehen und zu zeigen, wie der Mensch, der ohne Roh- 
heit ganz heiter ist, nicht so schlecht sein kann, als es dem engen 
Moralisten scheint. Nur das Bewusstsein, dass ein Bruchstück des 
Absoluten selbst im Geringen, Missachteten noch bestehe, macht es 
möglich, dem Stoff durch die Behandlung alles Schwere zu nehmen, 
ihm die schwebende Leichtigkeit zu geben, welche uns die directe 
Anwendung des moralischen Urtheils abschneidet; richtiger: diese Be- 
handlung selbst hat mittelbare moralische Wahrheit. Man sage also 
immerhin: die Behandlung macht es; die Behandlung ist eben eine 
Formthätigkeit, in welcher als solcher auch das Herz und der Inhalt 
des Dichtergeistes mitenthalten ist, und wir wiederholen, dass es eine 
blosse Form gar nicht gibt. Der Geist des Dichters darf sich nicht, 
kann sich nicht auf ein getrenntes Stück der Wahrheit isoliren, son- 
dern lässt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, und 
es ist diess nicht nur seine subjective Weite, Versetzungsfähigkeit, 
Kunst, sondern es hat objectiven Grund, es wird der Lichtglanz be- 
rechtigter Existenz in den niedrigen oder unbedeutenden Stoff nicht 
gewaltsam hineingelegt, sondern er muss in ihm liegen und der Dich- 
ter erhöht ihn nur. Zu dieser Erhöhung mag ihm die Erscheinung, 
der empirische Stoff, der ihm etwa vor Augen trat, nur ganz zufällig 
den blossen Anstoss gegeben haben, die bestimmte Inhalts- Sphäre, den 
Charakter-Typus, Zustand, die Lebensform, der er angehört, zu ideali- 
siren. Wir bemerken hier gelegentlich, damit keine Confusion in der 


u EEE 


Terminologie entstehe: Stoff heisst in genauerem Sprachgebrauch eine 
empirisch gegebene Erscheinung mit dem ihr eigenen Inhalte, die ein 
Künstler zu behandeln sich aufgefordert fühlt, also, was man mit 
fremdem Worte Süjet nennt; der Inhalt ist die Seele dieser Erschei- 
nung, ist das, was die Existenz und Lebensbewegungen dieses Süjets 
als ihr innerer Grund bedingt und was eben der Dichter durch die 
gereinigte Form rein und erhöht durchscheinen lässt; so war die Ge- 
schichte Wallensteins der Stoff, welchen Schiller bearbeitete, die Idee 
der Autonomie des grossen Feldherrngenies, ihres Rechtes, ihrer Ge- 
fahr der Ueberhebung und Schuld war der Inhalt, den er in der poe- 
tischen Umbildung des Stoffes leuchtend, durchsichtig zur Erscheinung 
brachte. Sonst gebraucht man die Ausdrücke Stoff und Inhalt pro- 
miscue und wo es nicht auf genaue Unterscheiding ankommt, geschieht 
diess auch in der vorliegenden Erörterung. 

Hier ist der Ort, auf die im Anfang schon berührte politische 
Streitfrage zurückzukommen; die Beleuchtung dieser Seite des Ethi- 
schen wirft ein besonders belehrendes Licht auf das Ganze. Zunächst 
ganz abgesehen vom Aesthetischen, werden wir vom Künstler und 
Dichter wie von jedem Andern fordern, dass er eine Ueberzeugung 
habe, dass er ein Charakter sei. Nur freilich etwas liberal müssen 
wir sein: die Versetzungsfähigkeit der Phantasie ist eine gefährliche 
Eigenschaft und erschwert den Menschenkindern, denen sie vorzüglich 
geschenkt ist, die strenge Haltung, die harte Consequenz des Cha- 
rakters; sie versetzen sich zu leicht in den Zusammenhang, die Be- 
dingungen, in welchen die entgegengesetzte Lebensanschauung sich 
erzeugt, um nicht Schwankungen mehr, als Andere, ausgesetzt zu sein, 
und sie sind zu sehr berechtigt und berufen, die Welt von der Seite 
der Erscheinung aufzufassen, um nicht durch den Glanz und die Bil- 
dung, womit die Macht, der Adel sich umgibt, lebhaft angezogen zu 
werden. Doch wir wollen darüber auch nicht allzu mild im Urtheile 
werden, sondern immerhin bei unserer Forderung bleiben. Der Dich- 
ter soll einer Partei angehören, ist es die eonservative, so wird es 
freilich nicht die stumpf oder boshaft reactionäre sein dürfen; doch 
diess versteht sich von selbst, denn so können wir den Menschen 
vom Dichter nicht trennen, dass wir jenen bei den ganz Geistlosen 
oder Giftigen glaubten suchen zu dürfen. Wo nun aber der Mensch 
in den Dichter übergeht, tritt jene Versetzungsfähigkeit in ihr unbe- 
zweifeltes Recht, richtiger, sie wird zum Berufe. Der Künstler und 
Dichter wird also durchaus befugt sein, seine Motive auch derjenigen 


au u 


Bea pen 


litischen Welt zu entnehmen, die der seinigen entgegengesetzt ist, und 
unsere ganze Sympathie für sie in Bewegung zu setzen. Nun aber 
glaube man ja nicht, dass hieraus irgend ein Beweis für die Ansicht 
erwächst, wonach die Forın Alles sein soll. Die Versetzung in eine 
fremde Welt ist nur dann eine wahre, künstlerische, wenn sie auch 
Versetzung in deren Inhalt ist, in das Bruchstück von Recht und Wahr- 
heit, wodurch dieselbe ihren guten Antheil am wahrhaft Menschlichen 
hat. Es wendet sich genau ebenso auf der Seite des Zuschauers, 
Lesers, Zuhörers: gehört der Dichter oder Künstler nach Ueberzeu- 
gung und Kunstrichtung der ihm entgegengesetzten Partei an oder 
verlangt er nur diessmal Sympathie für sie, so würde jener grosse 
Beschränktheit an den Tag legen, wenn er ein Werk darum verwärfe, 
weil es seinen Standpunkt auf der Gegenseite nimmt und seiner Partei 
ihre Verirrungen im tragischen Spiegel vorhält. Wer z. B. Rethels 
meisterhafte Reihe von Holzschnitten, die uns zeigen, wie der Tod 
die Massen mit wilden Reden aufwühlt, auf die Barrikaden lockt 
und die Verführten in ihrer blutigen Niederlage verhöhnt, wer diese 
geniale Erneurung und neue Wendung der Idee des 'Todtentanzes aus 
politischen Gründen verwirft, der zeigt nicht nur, dass er nichts von 
Composition und Zeichnung versteht, nein, da es keine leere Form 
gibt, so zeigt er zugleich, dass er auch als Mensch bornirt ist, d. h. in 
das Recht, das mit dem Unrecht der entgegengesetzten, und das Un- 
recht, das mit dem Rechte der eignen Partei verbunden ist, sich nicht 
zu versetzen vermag. Die Kunst gleicht hierin der Historie und der 
Philosophie, sie steht mit beiden auf der Höhe objectiver Betrachtung, 
von der wir im Handeln allerdings mit Bewusstsein der Nothwendig- 
keit in die Einseitigkeit der Kampfesstellung herabsteigen sollen. Mit 
dieser Weite und Versetzungsfähigkeit hat es nun aber freilich seine 
Grenze: volle Kraft und Wärme werden nur die Werke eines Künst- 
lers und Dichters haben, welche aus der Phantasie Thätigkeit entsprin- 
gen, wie sie im direkten und positiven Zusammenhange mit dem steht, 
was er auch als Mensch mit Begeisterung und Kraft umfasst und hegt, 
nur dass die Behandlung dem Inhalt immer seine Härte und Ein- 
seitigkeit abstreifen und uns die Ahnung oflen lassen wird, dass ein 
Schimmer von Recht auch im Entgegengesetzten sein könne. Der 
Dichter versetzt sich immer in Anderes, aber es ist ein Unterschied, 
ob diess Andere nur die entlegnere Fülle und Gestaltung der Welt 
ist, worin er mit seinem Herzen und seiner Begeisterung ‚wohnt, oder 
eine Welt, in welcher er mit seinem Herzen nicht zu Hause ist. Wir 
Wissenschaftliche Monatschrift, III. 6 


u en 


dtirfen weiter gehen und sagen: in’s Grosse wirken werden nur Kunst- 
werke, welche dem lebendigen Geiste der Freiheit angehören und in 
deren Hervorbringung der Dichter mit dem Menschen und seiner Ueber- 
zeugung unbefangen, ohne die Absicht der Tendenz zusammentraf; aber 
man sieht doch, wie wenig einfach die Beantwortung der Frage ist, ob 
„der Dichter auf der Zinne der Partei* stehen soll oder auf „höherer“. 
Ja und nein, je nachdem man es nimmt. Er soll als Mensch einer 
Partei angehören , also ja, er soll als Mensch ein Gefühl übrig haben 
für das Bruchstück der Wahrheit in der Gegenpartei, also in gewis- 
sem Sinne nein; er wird als Dichter nur da warm und voll dichten, 
wo er seiner Parteiüberzeugung Form gibt, also ja; diese Form wird 
aber nicht fanatische Einseitigkeit athmen, sie wird ein Theil Sym- 
pathie für Gegner und Feind bewahren und in Anspruch nehmen, also 
wieder in gewissem Sinne nein, und er wird sich unter Anderm auch 
einmal ganz in den Strahl der Wahrheit versetzen können, welcher 
der Welt der Gegenpartei zukommt, namentlich Rührung für ihre Lei- 
den erwecken, also wieder nein. Kunst und Poesie ist immer allge- 
mein menschlich, das Leben, das Handeln fordert Beschränkung auf 
den Gegensatz. 

Noch haben wir aber ein Hauptmoment, obwohl wir oben schon 
daran streiften, nicht ausdrücklich in’s Auge gefasst: das Komische. 
Es ist der stärkste Akt jener Versetzungsfähigkeit, denn hier wird 
geradezu das der eigenen und jeder vernünftigen Ueberzeugung vom 
Wahren und Guten ceonträr Entgegengesetzte, das ganz Verkehrte mit 
Liebe dargestell. Und doch wird die Verzerrung keineswegs durch 
blosse Form, die es ja gar nicht gibt, in das ästhetische Licht ge- 
rückt, sondern der Form, wodurch es geschieht, liegt als Inhalt die 
Wahrheit zu Grunde, dass die Idee nicht sein kann, ohne sich in 
Widersprüche zu verwickeln, das Kleinste dem Grössten zu verflechten, 
und doch mitten in diesen Widersprüchen, dieser Verkettung sich er- 
hält. Das Komische ist die thatsächliche Widerlegung des Substan- 
tialismus im Kunsturtheil, sofern er den Werth des Kunstwerkes nur 
in der direct verstandenen, geistigen, sittlichen Würde sucht, denn die 
Komik, im scharfen Unterschied von der Satyre, straft nicht das Ver- 
kehrte; ebenso aber des Formalismus, denn der Geist des Komischen 
ist eine inhaltsvolle Wahrheit, ist Wohlwollen gegen die Welt mitten 
in ihren Gebrechen, in den Knäueln ihrer Verworrenheit. 

Wir wenden uns zum Schluss noch auf eine andere Seite, ‘wo 
sich unsere Frage noch entschiedener, als bei jeder der bisherigen 


==: BE ee 


Wendungen, beantworten muss. Wir drücken sie jetzt so aus: fällt 
oder steigt der Werth des Kunstwerks mit dem inneren Werthe des 
Gehalts oder nicht? Unter dem inneren Werthe des Gehalts verstehen 
wir die Bedeutung, die der Gegenstand anspricht nach der Stelle, 
welche ihm in den grossen Hauptgebieten des Lebens zukommt. Was 
wir meinen, erklärt sich am einfachsten, wenn wir die Malerei mit 
ihren gegenständlich klar gesonderten Zweigen in’s Auge fassen, wie 
solche ihren Stoff aus den grossen Hauptstufen des Daseins nehmen. 
Es handelt sich also nun um einen Dignitätsunterschied der Zweige. 
Und hier wird der Formalist, diesmal nicht der grasse, sondern der, 
welcher in der Form immer den lebendigen Geist des Künstlers, nur 
in ungenauer Schätzung, mitbegreift, alsbald das Kreuz machen: in 
die einfachste Landschaft, wird er sagen, in das anspruchloseste Thier- 
stück, das bescheidenste Sittenbild kann ebensoviel Geist und Kunst 
gelegt werden, als in das seinem Gegenstand nach anspruchvollste 
Geschichtsbild. Hier ist nun vor Allem von grösster Wichtigkeit, dass 
der richtige Fall fingirt werde; in solcher Debatte geht nämlich der 
Formalist unwillkürlich von der Voraussetzung aus, dass neben einem 
stimmungsvollen, meisterhaft ausgeführten Werke, das seinen Stoff 
der untergeordneten Sphäre entnommen, ein schwaches, misslungenes 
stehe, das ihn aus der höheren oder höchsten gegriffen hat. Wir 
wollen der Einfachheit wegen bei dem vollen Gegensatze eines Land- 
schaftsbildes und eines auf monumentale Bedeutung Anspruch machen- 
den Geschichtsbildes stehen bleiben. Fingirt man nun den genannten 
Fall, dann freilich ist der Landschaftsmaler ein bedeutenderer Künstler, 
als der Historienmaler. Die Voraussetzung muss aber offenbar die 
sein, dass aus den genannten Zweigen gleich gediegene Arbeiten, 
wahre Kunstwerke vorliegen. Nun kann allerdings kein Vernünf- 
tiger einen Augenblick zweifeln, dass das Spezifische des Kunsttalents 
und des Könnens bei den Meistern dieser verschiedenen Werke durch- 
aus gleichmässig vorhanden sei. Wer seinen Empfindungszustand in 
ein Stück Land, Luft, Wald, Wasser legen und diese Durchwärmung 
der Natur mit den Mitteln der Kunst zum vollkommenen Ausdruck 
bringen kann, ist ohne Frage dem Wesen nach ebensosehr ein Künstler, 
als der, welcher die Bedeutung einer grossen geschichtlichen Scene 
in sprechenden, gewaltigen Zügen aus grossartigen Charaktergestalten 
und ihrer Gruppirung sprechen lässt. Ja man kann, so scheint es, 
mehr sagen: man kann behaupten, dort sei tiefere Kunst, gerade weil 
die Idee im Gegenstand eigentlich nicht liege, sondern die beseelende 


— SA 


Kraft des Künstlers Alles thue. Doch dieser Schein besteht in der 
That nur einen Augenblick, denn nur unentwickelten, im Dunkel des 
Gefühls, der Stimmung zurückgehaltenen Geist kann der Landschaft- 
maler in sein Objekt, das ihm wie durch eine ahnungsvolle Symbolik 
die Anregung dazu gibt, niederlegen; dem Historienmaler dagegen tritt 
in der Menschenwelt zwar reifer, gestalteter Geist entgegen, aber nur 
um so mehr bleibt ihm zu thun. Man darf nicht meinen, das Ex- 
plieirte sei leichter zu bewältigen, als das Implieirte. Vor Allem 
muss dem in Handlung ausgesprochenen grossen Inhalte des Lebens 
ein tiefer, gewichtiger, vom Monumentalen erfüllter Geist entgegen- 
"kommen; der grosse Inhalt regt aber in den darzustellenden, bei der 
Handlung betheiligten Charakteren die ganze Welt der Empfindungen 
und Affeete auf, deren Ausdruck mit dem stehenden des Charakters 
zu einer tief verwickelten Einheit sich verbindet; der Künstler muss 
sich in diese ganze Welt versetzen können, sie in gewissem Sinne 
durchlebt haben oder in den Stunden des Schaffens durchleben; viel, 
unendlich viel spricht sich aus, aber was sich ausspricht, weist auf 
eine noch tiefere Welt des Seelenlebens, die nur in geheimnissvoller 
Andeutung zu Tage tritt, und da muss uns der Historienmaler in ganz 
andere Tiefen der dunkeln Ahnung blicken lassen, als der Landschaft- 
maler; dieser Ausdruck breitet sich über die menschliche Gestalt, vor- 
züglich das Angesicht, aus, hier liegt vor dem Künstler ein Feld, 
auf welchem unzählige, unerschöpfte Geisterzüge in unendlichen Formen 
sich bewegen, ein Feld, das er nie zu Ende beobachten, durchforschen 
kann; in der That sind auch Studien vorausgesetzt, wie sie in solcher 
Ausdehnung und Strenge der Landschaftmaler nicht bedarf: anatomische, 
physiognomische im gewöhnlichen Sinn und im engeren Sinn des Patho- 
gnomischen, Mimischen. Dazu kommt, dass er sich in die allge- 
meinen Zustände überhaupt, Sitte, Culturformen jeder Art einleben, ein- 
studiren muss; dass er auch architektonische Umgebung, Landschaft hin- 
zugibt, premiren wir nicht, weil diese Seite doch zu untergeordnet 
ist, um behaupten zu können, er müsse das Talent des Landschaft- 
und Architektur-Malers im intensiven Sinne mit dem seinigen ver- 
binden. Aber nun nehme man noch hinzu, dass ihm sein Gegenstand 
nicht so vorliegt und still hält, wie dem Landschaftmaler, und wir 
bemerken beiher, dass hier eine der Hauptursachen der unverhältniss- 
mässigen Blüthe der Landschaftmalerei in unserer Zeit liegt. Der 
Historienmaler schöpft aus der Quelle der Ueberlieferung, er bedarf 
das richtige Auge für den fruchtbaren Stoff, den fruchtbarsten Moment 


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ie Fu ee Re ee Me u u  S 


—— WE — 


des Stoffs, er den intensiveren Geistesakt, der da nöthig ist, um das 
nicht Geschaute sich zu vergegenwärtigen. Dies Alles beweist wohl 
zur Genüge, dass hier die stärkere, tiefere und reichere Seele vor- 
ausgesetzt ist und dass also der Geschichtsmaler, der ein künstlerisch 
vollkommenes Werk vor uns hinstellt, zwar nicht in dem Siun über 
dem Landschaftmaler steht, weleher dasselbe leistet, dass nicht beide 
spezifisch Künstler wären, wohl aber innerhalb des Spezifischen dem 
Grade nach. 

Diess sind Bemerkungen, Anhaltspunkte zur Lösung einer viel 
verhandelten, stets schwebenden, immer neu sich aufdrängenden Frage; 
das Wesentliche davon muss in jeder Aesthetik vorkommen und ist 
auch in meinem Werke gesagt, aber — und dies ist vielleicht ein 
Mangel — nirgends auf Eine Stelle zusammengedrängt, z. B. die War- 
nung, nicht jenen falschen Fall zu fingiren, als ob man aus zwei zu 
vergleichenden Zweigen Werke von ungleichem Formwerth vor sich 
hätte, wohl vorgebracht, aber nicht auf einem schlagenden Haupt- 
punkte. Mögen nun Andere die Sache weiter führen, gründlicher in 
das Spezielle hineinleiten; ich begnüge mich, eine Anregung zu er- 
schöpfenderen Reflexionen gegeben zu haben. Ueberblickt man meine 
Bemerkungen, so wird man mehr als einmal nicht begreifen können, 
wie ich dazu komme, Wahrheiten zu beweisen, die sich so ganz von 
selbst verstehen, im Umsehen aber wird man finden, dass alsbald 
wieder der Zweifel sich einstellt, ob ich nicht zu viel eingeräumt, d. h., 
da ich gegen den leeren Formalismus kämpfe, wieder zu viel Gewicht 
auf den Inhalt in der Kunst gelegt habe; man wird ferner finden, 
wie der Formalismus und der Substantialismus in einander umspringen, 
so dass eine Bekämpfung des Einen unversehens zu einer Bekämpfung 
des Andern wird. Diese Dialektik liegt in der Sache selbst; sie ist 
der faktische Beweis für die absolute Einheit von Inhalt und Form, und ich 
prophezeie dem, der nun die Untersuchung weiter führt, auf welcher 
der zwei Seiten er seinen Standpunkt nehmen möge, dasselbe Geschick. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 2. November 1857. 


Vortrag des Herm Prof. Auex. ScHwEizer, betreffend die stellver- 
tretende Bedeutung des Todes Christi. 


Der Vortragende hebt die Stelle Galater III, 13. 14 hervor, als eine der 
wichtigsten für die paulinische Lehre vom Tode Christi. Vorerst wurde nach- 


a 


gewiesen, dass dyreg c. genit. immer für, zum Bessten, niemals anstatt 
heisse; wenn was einer für Andere thut in Form der Stellvertretung geschehe, 
so drücke doch die Präposition nur jenes Allgemeine aus, nicht auch dieses Be- 
sondere. Zwar würden zwei Stellen 2. Corinth. V. 20 und Philemon 13 immer 
noch angeführt als sichere Zeugnisse für ÜTTES im Sinne von anstatt, aber 
mit Unrecht, denn in der erstern werde dem Apostel durch diese Auslegung eine 
logische Unklarheit zugeschoben; wo er die Apostel als von Gott ge- 
sendet darstelle, ihr Ermahnen als ein Ermahnen Gottes selbst: da spiele er 
darauf an, dass sie Stellvertreter Gottes sind, und könne durch ÜTTES Xg1oTo0 
nicht sagen wollen „an Christi Statt“, sondern für ihn; DITES Xg10roV be- 
zeichne das Ziel, nicht die Urheberschaft der apostolischen Sendung, deren 
Wirken für Christus als ein im Namen Gottes ausgeübtes bezeichnet werde. 
Philemon 13 aber würde durch die Auslegung vUrreg 000 statt deiner dem 
Schreibenden eine Unzartheit gegen Philemon zugeschoben. Er sei weit ent- 
fernt, diesem zu schreiben: „eigentlich solltest du mir dienen, und statt deiner 
könnte dein Sklave es thun“, wohl aber schreibe er: „ich wünschte wohl, dass 
dein Sklave mir dienete dir zum Bessten, so dass es dir angerechnet würde.“ 
— Die Galaterstelle selbst wurde dann so ausgelegt, dass in den Worten: „Christus 
hat uns aus dem Fluche des Gesetzes losgekauft, indem er für uns Fluch wurde, 
denn es ist geschrieben: verflucht sei jeder am Holze Hangende“, einfach nur 
die historische Thatsache aufgeführt werde mit ihrer nächsten Wirkung, der 
Aufhebung des Gesetzesfluches.. Es sollen die unter das Gesetz zurückstrebenden 
Galater erinnert werden, dass dieses nur in Verfluchung des Uebertreters aus- 
laufe, Christen aber doch nicht in der fluchenden Gesetzesgenossenschaft ver- 
bleiben können, welche ja Christum selbst ans Holz verflucht habe. Darum füge 
der Apostel als nähere Erklärung des Zweckes bei, Christus sei ein Verfluchter 
des Gesetzes geworden, „damit an die Heiden der Segen Abrahams komme in 
Christo, damit wir den verheissenen Geist empfingen durch den Glauben.“ — 
Statt des abentheuerlichen Gedankens, Christi Blut wirke dergleichen unmittelbar, 
liege hier die Einsicht vor, dass in Folge der Beseitigung des Fluchgesetzes das 
längst bereit gehaltene Heil nun an die Heiden gelange und den nicht mehr 
durch Gesetzeswerke beirrten Juden ergreifbar geworden sei durch den Glauben. 
Das mosaische Gesetz, zum Heilshinderniss geworden, sei beseitigt und in Folge 
davon das Heil für Heiden und Juden zugänglich. Sei in unserer Stelle ein 
rabbinisirendes Argument enthalten, so werde, was vorläufig in dieser Weise 
begründet worden, dann sofort aus der Natur der Dinge selbst abgeleitet: „Von 
Anfang an sei die abrahamidische Heilsverheissung das erste, und das weit 
später zwischen ein gekommene Gesetz habe, ihr nichts abbrechend, nur gelten 
sollen, bis Christus und die Glaubensrechtfertigung komme.“ Wenn nun Gottes 
Wille das Gesetz und die Gesetzesanstalt beseitigt, so kann Christi Tod nur 
noch den ohnehin reifenden Gang der Dinge zum Entscheid bringen, die 
Losscheidung uämlich der Gemeinde von der jüdischen Gesetzesanstalt. Darum 
seien keinerlei dogmatische Phantasmen in unsere Stelle hineinzulegen, als hätte 
das Gesetz für immer Geltung und als könne darum nur eine metaphysische 
Wirkung des Todes Christi ihm die Verfluchten abkaufen, bei welcher Meinung 
man dem Gesetz bald den Teufel, bald die Gerechtigkeit Gottes unterschoben 


Be A 


habe. Da nach des Apostels beständiger Lehre das Gesetz mit dem Erscheinen 
des Christenthums von selbst zu gelten aufhört, so bedürfe es keiner metaphy- 
sischen Wirkung des Kreuzestodes, die Niemand verstehen könnte, wohl aber 
seiner ethisch-welthistorischen Wirkung. Was der Apostel sage, das liege uns 
welthistorisch vor Augen, dass Christi Kreuzigung durchgreifender als alle Lehren 
das Christenthum losgemacht hat vom Judenthum. So verstanden, stehe unsere 
Stelle im klarsten Zusammenhang mit der ganzen Absicht des Galaterbriefes. 
Wir danken das freie, vollkräftige Hinstellen der erlösenden neuen Rechtferti- 
gungsanstalt wirklich dem Kreuzestode Christi. Daher sei es begreiflich, dass 
diesem Tode dann alle Heilswohlthaten des neuen Bundes zugeschrieben werden, 
das Erlösen, Versöhnen, Heiligen, Beseligen. Begreiflich könne Christi Tod auch 
ein sühnendes Opfer u. s. w. genannt werden, da wir ohne ihn das versöhnende 
Christenthum gar nicht hätten. Ohne Zweifel seien viele dogmatische Spekula- 
tionen nicht aus Pauli Geist und Lehre, wohl aber aus dem seiner Rede an- 
haftenden rabbinischen Elemente kerausgesponnen worden, die angeblich tiefsten 
Mysterien aus den noch von der Pharisäerschule her dem Apostel anhaftenden 
Argumentationsmanieren. Uebrigens werde die rabbinisirende Argumentation erst 
durch die Ausleger werthlos gemacht, weil sie von der alten Inspirationslehre 
her gewohnt seien, in jeder apostolischen Argumentation absolute Beweiskraft 
zu suchen, und darum das nur relativ Beweisende mit geheimnissreichen Elemen- 
ten zum absoluten Beweis auffüllen wollen. Dass Christi Verfluchtsein durchs 
Gesetz ihn und die Seinen vom Gesetz trennen musste, ist trotz der rabbinisi- 
renden Fassung wahr genug für den, welcher des Gesetzes Gültigkeit ohnehin 
als vergehend erkennt; unbeweisend wird das Argument erst für die ganz un- 
paulinische Ansicht, dass das Gesetz ewig berechtigt sei und darum ganz un- 
geheure Trinitätsanstrengungen sammt mysteriöser Opferung des Sohnes nöthig 
seien, es zu beseitigen oder ihm den verfluchenden Giftzahn auszubrechen. Wäh- 
rend die alten griechischen Väter noch mit Abscheu den Gedanken von sich 
weisen, Christus sei ein wirklicher Fluch oder Sündenausbund geworden (ob 
immerhin statt unser), hat die spätere dogmatische Exegese Be dieses her- 
Ben wollen, Jedenfalls hätte sie nicht wie der Apostel das ETELKETEQR og 
Urt $zoV des A. Testamentes durch Weglassung der letztern Worte korrigirt. 
Christus ist nur thatsächlich als Fluch ans Kreuz verdammt worden, gefallen 
liess er sich’s, um gerade dadurch sich und die Seinen von derihn so verfluchen- 
den Gesetzesgenossenschaft zu scheiden. So kauft er uns los vom Fluche des 
Gesetzes, und nun erst kommt das Heil an die Heiden, und die Juden kön- 
nen nun erst es ergreifen, wie es allein ergriffen werden kann, durch den Glau- 
ben. Das Gesetz, verfluchend den, der es nicht vollkommen hält, ferne haltend 
die Heiden vom Boden, aus welchem das Heil kommt, ist beseitigt wesentlich 
durch das Kommen der neuen Glaubensgerechtigkeit, für unser Bewusstsein ent- 
schieden durch Christi Verfluchtwerden von Seite des Gesetzes. Er und wir sind 
nun dem Gesetz abgestorben, es kann uns nicht mehr verdammen und die Hei- 
den nicht mehr vom Heil ausschliessen. — An der Discussion , zu welcher die- 
ser Vortrag Anlass gab, betheiligten sich die Herren Schlottmann , Volkmar und 
Hitzig, theilweise für, theilweise gegen. 


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Die vorliegende Schrift tt eine Furze deutfche Bearbeitung von Proudhon’s 
Auffehen erregendem Manuel du Speeulateur de la Bourse. Gite befchränft fi 
aber Feineswegs auf Auszüge aus diefem MWerfe oder auf eine Ueberfegung vesfelben, 
obwohl fie die Hauptitellen in wörtlicher Uebertragung wiedergibt. Der Verfaffer, felbit- 
ftändtg urthetlend, befpricht vielmehr den Gegenftand tn feiner Meife; und während 
PBroudhon nur franzöfifche Verhältntfje und Zuftände fennt, zitirt ex mit gleicher 
Sadıkenntniß Beifptele aus Deutfchland, Defterreihh und der Schweiz, — überall das 
Spectelle mit dem Allgemeinen verbinden. 

Afıten- Spekulanten und Nichtfpekulanten werden mit Nuben und Sntereffe diefe 
Enthüllungen Iefen, — nthüllungen zumal über die wirktiche Stellung der Aktionäre, 
die Verwaltungsräthe und Direktoren, die Generalverfammlungen, die Staatsauffict, 
die Fufionen u. f. f., dann über die eigentlichen Börfeoperattonen (melde erläutert 
werben, unter Belfügung einer Ueberjicht der wichtigften Spekulattonspaptere in Deutfch- 
land, Franfreih und der Schweiz.) Die Schrift befpricht aber auch außerdem die be> 
deutendften und eindringlichften Fragen der heutigen foztalen Entwidlung, einfchlteßlich 
de Momentes der auf alle Verhältntffe fo mächtig einmwirfenden Vertheuerung der Le- 
bensbedürfniffe, der daducd) erzeugten Arbeiterfoalttionen und deren wahre Veranlaffung. 


Handbuch 


der 


vergleidenden Statiftif 


— der Völferzuftande- und Staatenfunde, — 
dür den allgemeinen praftifden Gebraud 


von 
G. $r. Kolb. 
25 Bogen gr. 8. geheftet Athle. 2. fl. 3. 30 Kr. Fr. 7 


Diefes vorzügliche Merk it nad den neueften und verfäßigiten, zum Theil nit 


allgemein zugänglichen Materialien mit großem Fleiße bearbeitet. Es gibt Eeineswegg 
ein getjttödtendes Ziffernmeer, fondern es fchilvert die ftaatlichen und focialen Verhältniffe, 


zugleich die Ziffernangaben erflärend und erläuternd, die Thatfachen vergleir 
hend und beurtheilend, dabei unter fteter Hinwetfung auf die Hauptveränderungen 7 
feit dem Beginne der fo Vieles umgeftaltenden erften franzofi ifchen Revolution. Den 
Nahmeifungen über Umfang, Bevölkerung, Gebietswechfel, Finanzen (Budgets und ” 


Schulden), Heerwefen, Gewerbs-, Handels und Schiffahrtsverhältniffe, fchließen fi 


folhe über allgemein menfchliche Zuitände, über wichtige foctale Fragen an. Da das Bud) n 
wefentlih für den praftifchen Gebraucd) eingerichtet tft, fo wird dasfelbe nicht nur, dem 7 


Statiftifer von Fa, fondern aud) jedem Gefhäftsmanne, jedem Seitungslefer nüslidy fein. 


2 Ann ni 


d 


Monatssehrifi 


des 


€ 


| WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS 


in 
- ZÜRICH. 
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : 


FERrDINAnn HırzıG, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HeEımrıcH Frey, 


ApoLr ScHwmipr, HEINRICH SCHWEIZER. 


'  (Hauptred.: Epvarp OsEnBrüsgEn.) 


DEITTER JAERSGATE: 


Drittes bis sechstes Heft. 


ZÜRICH, 
VERLAG von MEYER & ZELLER. 
1858. i 
CH cn 2 a 


Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. = Fr. 9 


Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- 
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, 
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- 
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter 
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, 
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. 


Inhalt des borliegenden Beltes: 


August Thierry als Geschichtschreiber und Politiker. Von J. VoGEL 89 
Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. Won Evvarv Osensrüceen 137 
Referat aus der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins vom 18. Januar 183 
Referat aus der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins vom 15. Februar 183 
Referat aus der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins vom 15. März . 184 


Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des 
Buchhandels erbeten. 


Gegentärtige Mitglieder des Wlissenschuftlichen Vereins : 


Hırzıs, Präsident. A. Scummpr, Vicepräsident. G. v. Wyss, Sekretär. Bosrık. 
Crausıus. DERNBURG. Ecıı. Escher v. d. LıntHh. Feur. H. Frey. FRıitzsche. 
GiESkER. Heer. HıLdesrand. Hırtesrann. J. J. Hortınger. Krnseort. Krm. 
L£BErT. v. MarscHaııL. H. MeyEr. MEYER-AHRENs. MEYER v. Knonav. MÜLLER. 
NäeeLı. v. OrELLI. ÜÖsENBRÜGGEN. RAABE. ScHLOTIMANN. ALEX. SCHWEIZER 
H. Schweizer. STÄDELER. F. VıscHEr. VOoLKMAR. 


Druck von E. Kiesling in Zürich. 


> 


Augustin Thierry als Geschichtschreiber und Politiker. 


Von JAKOB VOGEL, 


„Verhülle dein Haupt, wie der sterbende Cäsar, um nicht den 
Verfall der französischen Literatur mitanzusehen. Wir leben in einer 
Zeit der Ohnmacht, der Menschengeist schwindet dahin, gleich den 
Königen und den Göttern. Denken wir nicht mehr daran!* So sprach 
unlängst ein Freund Lamartine’s zu dem Dichter, um denselben von 


‚literarischer Thätigkeit abzuhalten. Lamartine glaubt nicht an die finstere 


Prophezeiung seines Freundes, und die Geschichte der letzten Jahr- 


zehnte, die französische Literatur der neuesten Zeit bestärkt ihn in 


seiner entgegengesetzten Ansicht!) Mit Recht! Denn auf dem Felde 
der Geschichte wie in der Literatur zeigt sich ein beständiger Wechsel 
von Verfall und Verjüngung, eine im Fortschritt begriffene Entwick- 
lung, deren letztes Ziel wir nicht bestimmen können. Jene Weltan- 
schauung, die überall nur Verfall und Schwäche sieht, ist einseitig, 
sie steht im: Widerspruch mit der Wirklichkeit. Der Freund Lamar- 
tine’s hat zunächst die Verhältnisse seines Vaterlandes im Auge, er 
beklagt die schlimmen Folgen der napoleonischen Autokratie, den 
Materialismus des Volkes und der Machthaber, allerdings Thatsachen, 
die nicht geläugnet werden können. Genügen aber diese Thatsachen, 
um die Zukunft Frankreichs und Europas überhaupt in Frage zu 
stellen? .Gewiss nicht! Dass Frankreich die schönsten Tage seiner 
Geschichte nicht hinter sich, sondern noch vor sich hat, diese An- 
sicht muss für jeden Unbefangenen aus dem Studium der neueren fran- 
zösischen Geschichtsliteratur hervorgehen. Die Werke eines Augustin 
Thierry, Michelet und Louis Blane gehören, um nur einige wenige 
Namen anzuführen, zu den unvergänglichsten Blüthen in dem Kranze 
der französischen Literatur überhaupt. Die Saat, welche jene Männer 
ausgestreut, kann nicht ohne Früchte bleiben, ihre Ansichten und Hoff- 
nungin sind das Gemeingut des französischen Volkes, welches trotz 


aller Wechselfälle seit mehr als einem halben Jahrhundert das nämliche 
* 


1) Cours familier de litterature 1856. 
Wissenschaftliche Monatschrift. IN. 7 


rn 


Ziel verfolgt. Dass die französische Nation dieses Ziel fortwährend 
vor Augen hat, das beweisen jene zahlreichen Geschichtswerke, ins- 
besondere diejenigen, welche der Darstellung des Revolutionszeitalters 
gewidmet sind. 

Die neuere französische Geschichtschreibung nach ihren hervor- 
ragendsten Vertretern zu charakterisiren, den innigen Zusammenhang 
nachzuweisen, in welchem diese Geschichtswerke zu dem öffentlichen 
Leben, zu der öffentlichen Meinung stehen, das wäre eine sehr inter- 
essante und verdienstvolle Arbeit, vorzüglich desshalb, weil die Fran- 
zosen in der neuesten Zeit eine Menge ausgezeichneter Geschichtswerke 
produeirt haben, die in Deutschland und in der Schweiz verhältniss- 
mässig wenig bekannt und verbreitet sind. Die Schriften von Eugene 
Pelletan über Philosophie der Geschichtel), die Histoire de France 
von Henri Martin, die Geschichte der Revolution von Louis Blane sind 
die hervorragendsten Erzeugnisse dieser historischen Literatur, welchen 
die neuere deutsche Geschichtschreibung wenig ähnliche an die Seite 
stellen kann. 

Diese Arbeit beschränkt sich darauf, die literarische Thätigkeit 
eines Mannes zu schildern, der gewissermassen die neuere Geschicht- 
schreibung der Franzosen begründet, der eine historische Schule ins 
Leben gerufen und den geschichtlichen Studien in Frankreich neue 
Bahnen eröffnet hat. 

Augustin Thierry hat geraume Zeit vor seinem Tode eine voll- 
ständige Ausgabe seiner Werke veröffentlicht, welehe nicht allein die 
grösseren Arbeiten des Geschichtsschreibers in ihrer letzten Form, son- 
dern auch die ersten und unvollkommenen Entwürfe derselben enthält. 
Man kann daher Thierry’s Ansichten über Geschichte und Geschicht- 
schreibung, ihre allmählige Reife, die Krisen, welche sie durchge- 
macht, die Modifiecationen, welche sie erlitten, verfolgen. Es ist das 
die Geschichte eines einzelnen Menschen und seiner geistigen Thätig- 
keit, zugleich aber auch die Geschichte der Zeit, in welcher der -be- 
treffende Schriftsteller gelebt. In der That existirt ein fortwährender 
Einfluss des Geschichtschreibers auf die Gesellschaft und der Gesell- 
schaft auf den Geschichtschreiber, insofern dieser einen frischen Geist 
und ein Herz besitzt, in welchem die Geschicke seines Volkes einen 
Wiederhall finden. Es ist schwer, das abstrakte Leben eines Gelehrten 


1) Profession de foi du XIXme sitcle 3me &d. 1856. Heures de travail 
(Kritiken und Abhandlungen) 1856. Le monde marche 1857. 


a 


zu führen, in der Vergangenheit zu leben, deren Geheimnisse man 
durehforscht. Immer tritt die Gegenwart dazwischen und übt einen 
unwiderstehlichen Einfluss auf das Gemüth und den Geist. Was man 
mit eigenen Augen sieht und mit dem Herzen einpfindet, das regt 
weit melır auf, als dasjenige, was man liest. T'hierry hat mehrmals 
den Gedanken ausgesprochen, dass es Jahrhunderte gibt, in welchen 

> man eher im Stande ist, gewisse historische Probleme aufzulösen, deren 
richtige Beurteilung den Geschichtschreibern früherer Jahrhunderte 
schwierig oder unmöglich sein musste, Thierry begründet diese Be- 
hauptung, indem er sagt, dass das Schauspiel der neuesten politischen . 
Bewegungen und Umwälzungen uns ein Mittel an die Hand gebe, um 
ähnliche Erscheinungen in der Vergangenheit zu verstehen und richtig 
zu würdigen. Was von dem Leben einer Nation gilt, das gilt auch 
von dem Leben eines einzelnen Menschen. Die Ansichten des Ge- 
schichtschreibers werden oft mehr dureh die Erfahrung als durch Studium 
modifieirt. In den Ereignissen, welche derselbe erlebt, findet er die 
Erklärung für diejenigen, welche er anfänglich missverstanden. All- 
mählig treten jene vorgefassten Ansichten, jene Theorien, mit welchen 
die Jugend beinahe immer sich der Wissenschaft naht, in den Hinter- 
grund vor den Thatsachen, das praktische Leben kömmt der Theorie 
zu Hülfe, und die Geschichte, die man miterlebt, erleichtert das Ver- 
ständniss der Vergangenheit, welche man darstellen will. 

4 Das literarische Leben Augustin Thierry’s lässt sich in zwei Pe- 
rioden eintheilen. Die erste beginnt mit der Restauration und endigt 
mit der Julirevolution. Zu Anfang dieser ersten Periode ist Thierry 
ein emsiger Mitarbeiter bei der Redaktion zweier Journale, des Censeur 
-Europeen und des Courrier francais. In diesen Journalen sind die ersten 

Entwürfe, die ersten Proben seiner historischen Arbeiten niedergelegt. 
Vor dem Ende der Restauration hat Thierry zwei sehr wichtige Werke 
veröffentlicht: Die erste Ausgabe der (eschiehte der Eroberung Eng- 
lands durch die Normannen erschien im Jahr 1825, die zweite zu 
Anfang des Jahres 1830. Die erste Ausgabe der Briefe über die 

Geschichte Frankreichs erschien 1827, die zweite, viel vollständigere, 

im Jahr 1828. Die zweite Periode in dem literarischen Leben Thierry’s 

* beginnt mit 1830 und dauert bis zu seinem Tod im Sommer des 
Jahres 1356.1). Während dieser Zeit hat der Geschichtschreiber drei 
grössere historische Arbeiten veröffentlicht: Die. Betrachtungen über 


—-___ ____ 


1) Thierry ist geboren 1788. 


e- Bi —. 


französische Geschichte, die Erzählungen aus dem Zeitalter der Mero- 
winger und endlich die Geschichte des dritten Standes. 

Während der ersten französischen Revolution trat die Literatur 
vor den grossartigen Tagesereignissen, welche die Gemüther wit sich 
fortrissen, in den Hintergrund. Die Revolution veränderte die fran- 
zösische Gesellschaft dergestalt, dass auch die Literatur sich diesem 
Einfluss nicht entziehen konnte. Für Wissenschaft, Kunst und Poesie 
begann in Frankreich mit dem Sturze des Kaiserthums eine neue Periode. 
Während die französische Nation, noch erschüttert von der gewaltigen 
Umwälzung, bemüht war, auf den Ruinen der Vergangenheit ein neues 
Gebäude aufzuführen, bereitete sich auch in der Literatur eine Revo- 
lution vor, welche, die Tradition des sogenannten klassischen Zeit- 
alters aufgebend, der sterilen Regel die Ungebundenheit, d. h. die in- 
dividuelle Freiheit, dem Verstande die Phantasie, die ächte poetische 
Begeisterung entgegenstellte. Die Begründer dieser neuen Richtung 
in der Literatur sind Chateaubriand und Madame de Sta@l. Der Ein- 
fluss des Ersteren zeigt sich nicht bloss in der Poesie, er ist auch 
der Vater der modernen französischen Geschichtschreibung. 

Es war im Jahr 1810, als Thierry im College zu Blois studirte, 
dass er ein Exemplar von Chateaubriands „Martyrs* in die Hände be- 
kam. Alle Schüler lasen das Buch der Reihe nach. Auf Thierry machte 
dasselbe einen gewaltigen Eindruck. „Ich empfand anfänglich, so er- 
zählt er selbst, ein Entzücken, über welches ich mir keine Rechen- 
schaft geben konnte, meine Phantasie war lebhaft aufgeregt; aber als 
ich vollends die Erzählung Eudorens las, dieses lebendige Gemälde 
der letzten Zeiten des Kaiserreichs, da wurde mein Interesse noch ge- 
steigert bei der Schilderung der ewigen Stadt, des Hofes eines römischen 
Imperators, bei der Beschreibung des Marsches der römischen Legionen 
durch die Sümpfe Bataviens und ihres Kampfes mit den Franken.“ 
Um dieses Buch zu lesen, benutzte Thierry die Freistunde, und, in- 
dem er sich unwohl stellte, vermied er die lärmenden Spiele seiner 
Altersgenossen, damit er desto ungestörter seine Lektüre vollenden 
konnte. „Jener Augenblick, so schrieb er im Jahre 1840, war viel- 
leicht entscheidend für meine Zukunft. Wenn ich heute jene Stellen 
wieder lese, so empfinde ich die nämliche Begeisterung wie vor 30 
Jahren.“ Darum ruft denn auch Thierry seinem grossen Vorbild 
Chateaubriand, der auf die gesammte französische Literatur des 19. 
Jahrhunderts so mächtigen Einfiuss ausgeübt, als Zeichen der Dank- 
barkeit jene Worte Dantes an Virgil zu: Tu duca, tu signore et tu maestro! 


— 93 — 


Thierry gehört also zu der jungen Generation, welche gegen das 
Ende des Kaiserreiches in Chateaubriand den geistigen Vater des neuen 
Jahrhunderts begrüsste. Bei seinen Studien und in seinen literarischen 
Arbeiten sollte nicht allein die Gelehrsamkeit, sondern auch die Poesie 
eine Rolle spielen. Er ist einer der hervorragendsten Vertreter jener 
jungen Schule, welche der Despotismus der Kaiserherrschaft unempfind- 
lich machte für den Kriegsruhm der französischen Nation, und welche 
bei dem Sturze des Imperators energisch ihre Antipathie ausdrückte 
gegen eine Regierung, die durch so theuer erkaufte Eroberungen die 
Würde des Menschengeschlechts beeinträchtigt und die den Nationali- 
täten schuldige Achtung vergessen hatte. Thierry befindet sich zu 
Anfang der Restauration auf dem nämlichen politischen Standpunkt 
wie Guizot, Villemain und Lamartine. Trotz der Verschiedenheit der 
Abstammung, der Erziehung, der geistigen Bestrebungen, der einzelnen 
Ansichten stimmten jene Persönlichkeiten überein in dem gemeinsamen 
Unwillen über die Knechtschaft des Geistes während des Kaiserthums. 
Nur ist der Unwille Thierrys viel energischer als bei den Uebrigen. 
So oft er in den ersten Jahren der Restauration von dem Kaiserthum 
spricht, so geschieht dies mit einem Hohn und einem Ingrimm, welcher 
sich in den stärksten Ausdrücken Luft macht. Thierry schrieb im Jahr 
1820: „Das liberale Frankreich, nachdem es sich aus dem Sumpfe 
des Kaiserthums herausgewunden, steht da in jugendlichem Glanze.“ 
Unter liberalem Frankreich versteht der Geschichtschreiber die Parthei 
des Fortschrittes, die junge Schule und die Konstitutionellen vom Jahr 
1789. Etwas früher äusserte er sich in einer Kritik der historischen 
Vorlesungen des Professor Daunou am College de France: „Dergleichen 
erhabene Ermahnungen versetzen uns weit weg von.jener Zeit, die 
allerdings noch in frischem Andenken lebt, von jener Zeit, da eine 
elegante Kriecherei die Lehrstühle besetzt hielt, da man Virgil die 
Geburt des Sohnes von einem Despoten voraussagen liess, da man 
die Begriffe Vaterland und Ehre vor der Jugend profanirte, da die 
Phrasen einer hohlen Rhetorik, die todten Ziffern der Algebra die 

* einzige Nahrung waren, welche dem Geiste eines jungen französischen 
Bürgers dargeboten wurde.* 

Thierry gehört demnach zu derjenigen Parthei, welche den poli- 
tischen und philosophischen Rationalismus zu ihrem Symbol gewählt 
hatte. Er bekannte sich zu mancherlei Ansichten, die ihm eigen waren 

oder die er wenigstens nur mit einer kleinen Anzahl aufgeklärter 
Köpfe theilte. Aufrichtig in seinem politischen Glaubensbekenntniss, 


en A 


durchaus unabhängig von seinen Freunden wie von seinen Gegnern, 
war er unfähig, sich der Disciplin der Partheien zu unterwerfen, oder 
gar seine Ansichten auch nur theilweise den Verhältnissen anzuschmiegen 
und zu opfern. Thierry’s politische Anschauungen waren ein eigenthüm- 
liches Gemisch derjenigen Ideen, welche die liberale Schule, zu der 
er gehörte, bald begünstigte, bald zurückstiess.. Demokrat von Ueber- 
zeugung wie durch Herkunft, war er, wie man gesehen hat, ohne 
Nachsicht für das Kaiserthum. Ueberdies zeigte sich unser Historiker 
als ein erklärter Feind jener Anglomanie, welche insbesondere durch 
Madame de Sta&öl zu Anfang der Restauration verbreitet wurde. Die 
Revolntion des Jahres 1688 betrachtete Thierry keineswegs als ein 
Vorbild, sondern als eine Klippe, die man vermeiden müsse. Die Nach- 
ahmung der englischen Verfassung hält er für eine Unmöglichkeit, 
und seine Ansichten über die englische Staatsform als solche harmo- 
niren vollständig mit denjenigen eines Louis Blane und Ledru-Rollin. 
Sehr charakteristisch ist die Verehrung Thierry's für die lokalen Frei- 
heiten, die Abneigung gegen jene Centralisation, welche während der 
ersten Revolution und noch mehr unter dem Kaiserthum bis zum Aeusser- 
sten getrieben würde. Diess ist wohl der beste Beweis für den Scharf- 
blick unseres Geschichtsschreibers, dass er, beinahe allein stehend, 
auf das Krebsübel hinwies, an welchem Frankreich seit einem halben 
Jahrhundert laborirt. Wenn man also die politischen Ideen und An- 
sichten Thierry's während der ersten Periode seiner literarischen Wirk- 
samkeit genau verfolgt, so erscheint er als ein Vorkämpfer jener libe- 
ralen Schule, welche die geistige Knechtschaft unter dem Kaiserthum 
verabscheuend für die Freiheit auf politischem und literarischem Ge- 
biet mit Energie in die Schranken trat. 

Während. der ersten Jahre der Restauration bestand in Paris eine 
Zeitschrift, welche von zwei talentvollen Journalisten redigirt wurde, 
deren einziger Irrthum sich darauf beschränkte, die damalige franzö- 
sische Gesellschaft für besser und vollkommener zu halten, als sie es 
in Wirklichkeit war, für dieselben Institutionen zu träumen, welche 
günstigere Verbältnisse ins Leben zu rufen nicht vermocht haben. 
Thierry bezeichnet die Tendenz des Censeur Europeen als die wür- 
digste und kühnste von allen Journalen jener Zeit. Die Redaktoren 
des Blattes, Dunoyer und Comte, hatten grosses Talent und nicht 
weniger Muth bewiesen, indem sie während der hundert Tage die 
bürgerliche Freiheit gegen die militärische Gewaltherrschaft verthei- 
digten. Sie bekämpften, wie es in ihrem Programm heisst, den Ein- 


—— Gi — 


fluss des Säbels auf die Logik und denjenigen des Schnurbarts auf 
das Raisonnement. Ihr Journal war das Centrum der jungen Schule, 
welche eine beinahe unbegrenzte Freiheit und die praktische Anwen- 
dung der liberalen Grundsätze verlangte, ‘ohne den Schwierigkeiten, 
auf welche die Restauration stiess, Rechnung zu tragen. Diese Be- 
strebungen waren im Grund nichts Anderes als eine Wiederbelebung 
der gemässigt-liberalen Prinzipien von 1789. Unwiderstehlich zur Jour- 
nalistik hingezogen, fand Thierry in dem Censeur Europeden das ein- 
zige Feld, wo er seine Ansichten niederlegen und vor ein grösseres 
Publikum bringen konnte. Indem Thierry Journalist wurde, folgte er 
einem allgemeinen Zuge seiner Zeit. Jedermann war es damals: der 
Geistliche, der Militär, der Gelehrte, der Industrielle, der Deputirte, 
selbst der Student, welcher kaum den Hörsaal verlassen hatte. Alle 
geistigen Kräfte schaarten sich um die Presse, welche in jener Zeit 
sehr mächtig war und die hervorragendsten Talente der Nation zu 
‚ihren Organen zählte. Eine öffentliche Wirksamkeit war für Thierry 
fast nur durch die Presse möglich und im Jahr 1817 wurde er Mit- 
arbeiter des Censeur Europeen. Die politischen Grundsätze, welche 
er in der Journalistik bethätigte, beruhten weniger auf gereiften Stu- 
dien als auf allgemeinen Eindrücken und einem seines Zieles nicht 

- ganz bewussten Instinkt. Thierry empfand wie die meisten jugend- 
lichen Köpfe das Bedürfniss, seine Ideen zu produeiren und die Ten- 
denz des Censeur Europden entsprach dem Zuge seines Geistes. Er 
selbst gesteht mit einer ehrenwerthen Aufrichtigkeit, dass er während 
dieser Periode seines Lebens bemüht war, seine Schriften und seine 
Handlungen dem Ideal eines unbestimmten Liberalismus anzupassen, 
über den er selbst sich im Unklaren befand. „Ich war, sagt Thierry, 
der Militärherrschaft abgeneigt, noch mehr aber den Pretentionen der 
Aristokratie, welche die durch die Macht der Zeit ins Leben gerufenen 
neuen Zustände als unberechtigt verdammte. Ich strebte mit Enthu- 
siasmus nach einer Zukunft, ohne von derselben ein bestimmtes Bild 
entwerfen zu können, ich verlangte’ nach einer Freiheit, deren Grund- 
lagen ungefähr die waren: Eine heliebige Regierungsform, eine so wenig 
als möglich beschränkte Summe individueller Freiheiten, eine Admini- 
stration auf demokratischen Grundlagen. Ich begeisterte mich für ein 
gewisses Ideal patriotischer Hingebung von fleckenlosem politischem 
Charakter, für einen Stoicismus ohne finstere Härte, Eigenschaften, 
die ich in der Vergangenheit durch Algernon Sidney und in der Gegen- 
wart durch Lafayette verwirklicht sah.“ 


= N 


Die Hoffnungen und Wünsche, welche in diesem politischen Glau 
bensbekenntniss ausgesprochen sind, wurden damals von einer grossen 
Anzahl Gleichgesinnter getheilt, welche unter dem Schutze der von 
der königlichen Charte garantirten nach einer umfassenderen und we- 
niger beschränkten Freiheit trachteten. Charakteristisch ist die Vor- 
liebe Thierry’s für Lafayette, welcher von den neuesten französischen 
Geschichtschreibern ganz anders, wie uns scheint, richtiger beurtheilt 
wird. Doch darf man nicht vergessen, dass Thierry jene Bemerkungen 
vor der Julirevolution geschrieben hat. Lafayette war allerdings ein 
edler Charakter, aber ohne Energie, er befand sich zweimal in einer 
Stellung, die es ihm möglich machte, die Rolle eines Washington zu 
spielen. Er benutzte diese Gelegenheit nicht und starb gebrochenen 
Herzens. 

Einen sehr grossen, direkten Einfluss übte auf unseren Thierry 
der Akademiker Daunou, Professor der Geschichte am College de France. 
Die Ansichten dieses Mannes über Politik und Geschichte spiegeln 
sich in denjenigen Thierry’s ab, wesshalb einige Bemerkungen über 
Daunou’s Persönlichkeit hier nothwendig sein dürften. Mitglied des 
Nationaleonventes, unter dem Kaiserthum ein gefügiges Werkzeug des 
Imperators, war Daunou nicht ohne ehrenwerthe Eigenschaften. So 
oft sich ihm die Möglichkeit darbot, kehrte er immer von der poli- 
tischen Thätigkeit zu dem Studium der Geschichte zurück. Der Literar- 
historiker St. Beuve nennt Daunou einen Misanthropen, einen Einsiedler 
der Wissenschaft, der mit der gleichen Begeisterung, wie später Thierry, 
sich der Geschichtsforschung widmete. Die junge Schule, die Villemain, 
Guizot u. s. w. verehrten in ihm ihren Meister und Lehrer. Daunou 
begann im Jahr 1819 seine historischen Vorlesungen mit den Worten: 
„Frankreich ist bei denjenigen socialen Verhältnissen angelangt, wo 
es keine andere Autorität gibt als die Wahrheit, kein anderes Ziel 
als die Tugend.“ Er lehrte die junge Generation, welche sich um 
sein Catheder drängte, nach festen Grundsätzen zu streben, die An- 
sichten Anderer zu achten, dabei immer denjenigen zu misstrauen, 
welche regierten. Daunou fügte bei: „Die Wissenschaft hat nur dann 
Werth, wenn sie die Sitten verbessert. Disputiren ist noch keine Auf- 
klärung. Eine Nation ist nur dann frei, wenn sie wacker, muthvoll 
und tugendhaft ist. Künste und Wissenschaften schützen nur dieje- 
nigen vor Scelaverei, welche sie vor dem Laster bewahren. Ein ver- 
dorbenes Volk ist die Beute der Tyrannei, es gleicht einem Leichnam, 
welchen man wilden Thieren hinwirft.* Diese streng moralische Welt- 


“ 


anschauung werden wir bei Thierry auf jedem Blatte seiner historischen 
Arbeiten wiederfinden. 

Als Thierry die Vorlesungen Daunou’s besuchte, stand er in der 
Blüthezeit seines Lebens, er war erfüllt von dem Selbstbewusstsein 
eines sich Bahn breehenden Talentes, das seine Zukunft vorhersieht. 
Er begeisterte sich für die republikanischen Grundsätze, welche die 
Jugend aus dem Studium des Alterthums schöpft. Er rüstete sich zum 
Kampfe, weil er glaubte, dass die französische Nation gleich dem 
alten Rom zur Zeit der Gracchen. in zwei Partheien getrennt sei, in 
Patrizier und Plebejer, in Privilegirte und Unterthanen. Die journali- 
stische Polemik führte Thierry zu dem Studium der Geschichte. Schr 
natürlich, weil die erste und nothwendigste Grundlage für den Jour- 
nalisten in gründlichen Geschiehtskenntnissen besteht. Die'Geschichte 
war demnach für Thierry anfangs Mittel, nicht aber Zweck; er suchte 
Waffen gegen seine politischen Gegner. Er sah seine Mitbürger in 
zwei Partheien getrennt, die sich feindselig gegenüberstunden und ge- 
wissermassen zwei Nationen bildeten, deren Interessen sich kreuzten. 
Die Geschichte dieser beiden Völker, ihren Jahrhunderte hindurch 
dauernden Kampf wollte Thierry studiren. 

Die Emigrirten waren nach Frankreich zurückgekehrt, ohne von 
der Revolution etwas gelernt zu haben, nur eine kleine Anzahl unter 
ihnen begriff die neue Zeit und die Macht der Verhältnisse. Die 
Meisten waren in ihren Ansichten noch schroffer und einseitiger ge- 
worden und betrachteten die Charte als ein blosses Zugeständniss, das 
sobald als möglich beseitigt werden müsse. Ein Adeliger, de Mont- 
losier, veröffentlichte gegen das Jahr 1820 eine Schrift unter dem 
Titel „de la monarchie frangaise.“ Dieselbe war gegen die Ansprüche 
des dritten Standes gerichtet, und vertheidigte die Privilegien der durch 
die Revolution gestürzten Parthei mit einer solchen Rücksichtslosigkeit, 
dass sich in der literarischen Welt ein allgemeiner Sturm gegen dies 
Werk erhob. Eine einzige Stelle genügt, um die Tendenz desselben 
zu bezeichnen. „Volk von Freigelassenen, so spricht der Verfasser 
zu der Bourgeoisie, zusammengewürfelter Haufe von Selaven, frei wollt 
ihr sein, und wir sollten nicht unsere Privilegien vertheidigen? Für 
uns ist Alles ein Recht, für euch nur Gnade. Wir haben nichts ge- 
mein mit euch, wir sind ein Ganzes für uns. Euere Herkunft ist er- 
wiesen, die unsrige nicht minder. Enthaltet euch dessen, unsere Rechte 
"zu sanktioniren, wir werden sie zu vertheidigen wissen.* Eine solche 
Anmassung erscheint uns geradezu lächerlich, in den ersten Jahren 


= I 


der Restauration hatte aber diese Herausforderung des dritten Standes 
ihre ernsthafte Seite. Es handelte sich darum, ob Frankreich die Er- 
rungenschaften der Revolution behaupten oder sie allmählig wieder 
verlieren und mit den früheren unhaltbaren Zuständen vertauschen sollte. 

Der Augenblick war für Thierry gekommen und er schrieb für 
den Censeur Europeen mehrere Artikel, in welchen nicht allein jene 
Schrift von Montlosier, sondern die Ansprüche der Aristokratie über- 
haupt mit schneidender Schärfe kritisirt wurden. Thierry’s Arbeiten 
trugen den Charakter von politischen Pamphleten, deren wesentliches 
Verdienst darin bestand, dass sie auf gründlichen historischen Studien 
beruhten. Diese positive Grundlage fehlte grösstentheils den politischen 
Partheischriften jener Zeit, welche mehr allgemeines Raisonnement ent- 
hielten und darum gegenwärtig so viel als vergessen sind. Neben 
Thierry zeichnete sich insbesondere Guizot aus, der sich nicht minder 
lebhaft an diesem Kampfe betheiligte. Entrüstet erwiderte Thierry 
seinem vornehmen Gegner: „Der Himmel ist uns Zeuge, dass nicht 
wir zuerst jene traurige Wahrheit ausgesprochen haben, dass es zwei 
feindliche Lager auf dem Boden Frankreichs gibt. Man muss es zu- 
gestehen und die Geschichte bestätigt es. Welches immer die Ver- 
mischung derjenigen zwei Völkerschaften gewesen sein mag, von denen 
wir abstammen, ihre Feindseligkeit hat bis auf diesen Tag fortge- 
dauert. Der Geist der Eroberung hat der Natur und der Zeit getrotzt, 
noch schwebt er über diesem unglücklichen Lande. Sein Werk ist 
es, wenn der Unterschied der Abstammung, des Standes und der Titel 
eine unheilvolle Spaltung in unserem Volke hervorgerufen hat.* Dann 
bezeichnet Thierry die nothwendige und natürliche Basis, auf welcher 
jede Staatsform im 19. Jahrhundert beruhen müsse. „Die Magistrats- 
person, sagt er, welcher die konstitutionelle Charte den Namen eines 
Königs verliehen, hat als unverletzbare Schranken ihrer Macht die in- 
dividuellen Freiheiten, welche die Grundlagen der französischen Ge- 
sellschaft bilden. Sobald irgend eine Autorität eine einzige dieser 
Freiheiten verletzt, so zerstört sie zugleich jede Garantie derselben, 
und von diesem Augenblick an erhält die Gesellschaft gegen sie das 
Recht des Widerstandes. Es gibt nichts Unverletzliches als jene Frei- 
heiten und die Vernunft, aus welcher sie hergeflossen sind. Wer dieser 
Vernunft widerstrebt und sie verachtet, der versetzt sich selbst ausser- 
halb die Menschheit.* Dann fügt Thierry noch bei: „Die Herrschaft 
der türkischen Paschas ist liberaler, als die unserer Prefekten, die 
scandalöse Wirthschaft unserer Maire’s, der Departementalräthe, der 


a 


Vorsteher der einzelnen Arrondissements, welche- alle von den Pre- 
fekten oder durch die Minister ernannt werden, gleicht dem Verfahren 
der Türken gegenüber den unterworfenen Griechen. Ein Franzose ist 
zu jeder Stunde des Tages allen möglichen Plackereien durch die Obrig- 
keit ausgesetzt. Soldaten, Steuereinnehmer, Zollbeamte, Polieisten, 
Commis, Spione beunruhigen den Bürger fortwährend.“ 

In mehreren Aufsätzen, welche grösstentheils im Censeur Europ6en 
erschienen, suchte Thierry nachzuweisen, dass der Kampf der Partheien, 
welche sich mit so grosser Erbitterung bekämpften, nicht erst vom 
Jahre 1789 datire. Der dritte Stand war nach seiner Ansicht nicht 
eine Schöpfung der jüngsten Vergangenheit, sondern älter als die pri- 
vilegirte Klasse. Mit besonderer Vorliebe verfolgte Thierry die Ge- 
schichte der französischen Gesellschaft bis in die ersten Jahrhunderte 
des Mittelalters. Dieser allgemeine historische Standpunkt verlieh seinen 
Arbeiten ein erhöhtes Interesse, insofern dieselben weniger für den 
Augenblick berechnet schienen, was bei den Erzeugnissen der dama- 
ligen journalistischen Polemik meist der Fall war. Zur Charakteristik 
dieser literarischen Thätigkeit unseres Geschichtschreibers führen wir 
nur noch Ein Fragment an, als eine Probe, welchen Fleiss derselbe 
schon in dieser Periode auch auf die künstlerische Behandlung des 
Stoffes verwandte. „Es scheint, sagt Thierry, als ob an dem Tag, 
da die Knechtschaft, die Tochter der Eroberung, zum ersten Mal dieses 
Land betreten hat, das heute den Namen Frankreich trägt, es be- 
stimmt gewesen sei, dass sie dasselbe nicht mehr verlassen sollte. 
Unter dieser Form verbannt, erschien sie wieder mit anderem Namen. ‘ 
Ihr Aussehen, nicht aber ihr Wesen verändernd, blieb sie auf ihrem 
Posten und trotzte der Zeit und den Menschen. Nach der Herrschaft 
der Römer kam die Herrschaft der siegreichen Franken, hernach die 
absolute Monarchie, die Gewaltherrschaft der republikanischen Gesetze, 
die von dem Willen eines Despoten bewegte Maschinerie des Kaiser- 
thums und zuletzt fünf Jahre von Ausnahmsgesetzen unter dem Schutze 
der liberalen Charte. Seit zwanzig Jahrhunderten sind die Folgen 
der Eroberung in unserem Lande sichtbar, ihre Spuren sind nicht 
verschwunden. Generationen sind darüber hinweggegangen, ohne sie 
zu verwischen. Das Blut der Nation hat diese Spuren benetzt, aber 
niemals ausgetilgt. Dieses schöne Land, von so herrlichem Grün ge- 
ziert, mit reichen Ernten gesegnet, über dem sich ein so sanfter Himmel 
wölbt, ist es denn zu einem solchen Geschick von der Natur er- 
schaffen !* 


— 100. — 


Diese wenigen Zeilen, in der Uebersetzung nur ein schwacher 
Nachklang des Originals, genügen, um die poetische Ader Thierry's 
erkennen zu lassen. Ein einfaches, klares Raisonnement, gründliche 
positive Kenntnisse, aber auch ein für alles Schöne und Grosse em- 
pfängliches Herz, diese Eigenschaften treten uns schon in den ersten 
Arbeiten des Geschichtschreibers entgegen. Der Styl Thierry’s ist 
während dieser Zeit noch nieht so ausgebildet und vervollkommnet, 
wie in seinen späteren Schriften. Die Ausdrucksweise ist oft senten- 
tiös, die Perioden sind bisweilen schleppend und ohne die gehörige 
Abrundung. Man erkennt den Schüler, aber einen Schüler, dessen 
Talent und Energie Meisterwerke verspricht. 

Die Kämpfe der periodischen Presse waren für Thierry’s schrift- 
stellerische Thätigkeit von nachhaltigem Einfluss, sie führten ihn seiner 
eigentlichen Bestimmung, dem Studium der Geschichte, näher. Er ar- 
beitete anfänglich auf diesem Gebiet, um seine historischen Forschungen 
für die politische Polemik benutzen zu können, er sollte aber damit 
enden, die Geschichte um ihrer selbst willen zu studiren. Seit 1817 
bis 1820 war Thierry bei der Redaktion des Censeur Europden be- 
theiligt. Die Arbeiten für dieses Journal sowie mehrere andere Erst- 
lingsversuche sind im Jahr 1834 von dem Verfasser gesammelt und 
unter dem Titel „Dix ans d’&tudes historiques“ herausgegeben worden.t) 
Das Buch enthält so ziemlich Alles, was Thierry neben seinen zwei 
grösseren Werken, den Briefen über die Geschichte Frankreichs und 
der Eroberung Englands durch die Normannen von 1817 bis 1827 
über historische Gegenstände geschrieben hat. In diesen chronologisch 
geordneten Fragmenten kann der Leser gewissermassen die Ideen des 
Verfassers verfolgen, welche allmälig gereift und entwickelt in letzter 
Instanz jene zwei Hauptwerke hervorgebracht haben. Diese ersten Ar- 
beiten Thierry’s sind für die Beurtheilung seiner historischen Thätig- 
keit überhaupt von grossem Interesse. Nicht bloss den Entwicklungs- 
gang unseres Historikers, auch seinen Charakter, seine politischen und 
religiösen Ansichten lernt man durch eine aufmerksame Lektüre der 
„dix ans d’&tudes historiques* kennen. Die werthvollste Parthie dieser 
Schrift ist unstreitig die Einleitung, ein wahres Meisterstück. Sie ent- 
hält in 20 Seiten zusammengedrängt die Geschichte zehnjähriger histo- 
rischer Studien. Mancher andere Historiker, zumal ein Deutscher, 
würde mit dem Inhalt dieser Einleitung mehrere Bände gefüllt haben. 


I) Dix ans d’&tudes historiques 10. ed. 1856. 


— 101 — 


Für denjenigen, der Thierry's Leben und Schriften studiren will, ist 
diese treffiiche Arbeit der beste Commentar. Freimüthig bekennt der 
Verfasser manche Irrthümer seiner ersten wissenschaftlichen Periode, 
weist aber zugleich auch nach, was er für die Geschichte während 
jener 10 Jahre Positives geleistet, durch was für Studien er zu den 
Resultaten gelangt ist, welche in den Werken seiner reiferen Periode 
niedergelegt sind. 

Der erste Abschnitt der „dix ans d’etudes historiques* enthält 
Betrachtungen über verschiedene Gegenstände aus der englischen Ge- 
schichte. Thierry gehört, wie schon früher gesagt worden ist, nicht 
zu denjenigen, welche die Staatsform Englands einseitig bewundern. 
Die Entwicklung derselben ist nach ihm mehr das Werk des Zufalls, 
als eines ceonsequent durchgeführten Planes. Er vergleicht die eng- 
lische Verfassung mit. den Dombauten des Mittelalters, an welchen 
viele Generationen gearbeitet haben. Wie man in unseren Tagen jene 
Denkmäler eher anstaune als nachahme, so sei auch Englands Ver- 
fassung nicht nachzuahmen, weil man die Geschichte des Landes nicht 
nachalımen könne. Ueber das Verhältniss des englischen Volkes zu 
seiner Verfassung sagt Thierry: „Den Engländern ist es niemals ein- 
gefallen, dass ihre Staatsform aus drei Elementen bestehe, welche man 
kombiniren, nicht aber vereinigen müsse, nämlich das Monarchische, 
das Aristokratische und das Demokratische. Es ist nicht wahr, dass 
sie eine Monarchie eingeführt und zu gleicher Zeit eine Aristokratie, 
um den Regenten in Schranken zu halten, dass sie neben beide eine 
Art Demokratie gestellt, in der Absicht, diese allmälig zu befestigen, 
bis sie mit den anderen Elementen sich im Gleichgewicht befände. 
Dergleichen theoretische Abstraktionen können wohl einige Denker von 
Profession beschäftigen, nicht aber die Völker, welche in ihren Inter- 
essen mehr materiell sind. Leben, von der Arbeit Nutzen zu ziehen, 
ihre Fähigkeiten und ihre Industrie frei und ungehindert ausbeuten zu 
können, darnach streben die Völker, und das englische Volk hat wie 
alle anderen Nationen dies Ziel im Auge. Die Mittel, deren es sich 
zur Erreichung dieses Zieles bedient hat, sind sehr einfach. Sie be- 
standen darin, die Hindernisse wegzuräumen, welche seiner Entwick- 
lung im Wege standen. Diese Hindernisse sind beseitigt worden, so 
viel man deren beseitigen konnte. Das ist das Werk des englischen 
Volkes, das sein Erfolg.* Die Bewunderung manches Konstitutionellen 
für Wilhelm III. von England theilt Thierry gleichfalls nicht, weil 
die Befreiung der unterdrückten und ihrer natürlichen Rechte beraubten 


— 192 — 


Nationen nur durch diese selbst bewirkt werden könne, am allerwenigsten 
aber durch einen Fürsten. Die englische Revolution von 1688 be- 
zeichnet unser Geschichtschreiber nicht als das Werk des Volkes, son- 
dern als das einer Parthei, deren Stellung und Eiufluss durch den 
letzten Stuart gefährdet war. Mit Vorliebe verweilt Thierry bei den 
grossartigen Charakteren der ersten englischen Revolution, seine Sym- 
pathien beschränken sich nicht bloss auf die grossen Männer Frank- 
reiche. „Ich gehöre, sagt er, zu den Anhängern der Freiheit, und 
diejenigen, welche fern von unserem Lande für dieselbe gestorben sind, 
sind meine Brüder und die Helden, für die ich mich begeistere.* Eine 
sehr gelungene Arbeit ist die Kritik der irischen Volkspoesieen von 
Thomas Moore. Thierry wünscht seinem Land eine ähnliche Poesie, 
getragen von Vaterlandsliebe und der Vertheidigung der Freiheit ge- 
widmet, nicht eine sogenannte klassische Poesie, sondern nationale Ge- 
sänge, den Gefühlen und Hoffnungen der Gegenwart Worte leihend. 
Während Thierry diesen Wunsch aussprach, dichtete Beranger in seiner 
Dachstube jene herrlichen Lieder, welche heute Nationaleigenthum des 
französischen Volkes sind. Schon damals, im Jahre 1819, erblickte 
Thierry in dem Studium der Geschichte nicht etwa bloss einen ange- 
nehmen Zeitvertreib, nicht bloss ein Mittel zu politischen Zwecken, 
sondern er fasste dasselbe von einem höheren Standpunkte aus auf. 
Die Geschichte war für ihn eine Lehrerin der Völker, der Katechismus 
des Fortschrittes und der Freiheit. „Das Studium dieser Freiheit, d.h. 
einer auf rationellen Grundsätzen beruhenden Staatseinrichtung, ist, 
um Thierry’s eigene Worte anzuführen, ein und dasselbe mit dem 
Studium der Geschichte. Hier muss man beobachten, um zu erkennen, 
was Freiheit ist, um nicht anstatt derselben ein eitles Phantom zu 
verfolgen. Diejenigen, welche auf der Höhe der Gegenwart stehend, 
rückwärts blicken auf die früheren Situationen des Menschengeschlechtes, 
bereiten den Faden, welcher uns auf der Bahn nach einer unbekannten 
Zukunft leiten soll. Halten wir uns an die Lehren der Geschichte. 
Diese gibt keine Räthe ohne gewichtige Proben, sie reisst nicht mit 
sich fort, ohne ein bestimmtes Ziel in Aussicht zu stellen.“ 

Die zweite Abtheilung der „dix ans d’etudes historiques* enthält 
Skizzen und Betrachtungen über die Geschichte des Mittelalters und 
insbesondere Frankreichs. Eine der interessantesten Arbeiten ist die 
Geschichte des französischen Bauernkriegs, der unter dem Namen der 
Jaequerie bekannt ist. Thierry hat hiezu eine Anzahl. Originaldoku- 
mente benutzt, wesshalb die Arbeit, abgesehen von der anziehenden 


— 193 — 


Darstellung, um so werthvoller ist. Nicht-minder interessant ist eine 
Betrachtung über die Philosophie des 18. und diejenige des 19. Jahr- 
hunderts. Thierry bedauert, dass die französische Philosophie des 18. 
Jahrhunderts sich im Staub der Salons bewegt, dass sie die Noblesse 
zu Schülern wählte, anstatt sich direkt ans Volk zu wenden und von 
unten herauf zu wirken. In einer begeisterten Apostrophe schildert 
der Historiker die Aufgabe der jungen Generation, welche fortsetzen 
soll, was das 18. Jahrhundert begonnen. Man darf die Zeitverhält- 
nisse nicht ausser Acht lassen, um die Kühnheit Thierry’s recht zu 
würdigen, wenn er sagt: „Jünglinge, euch ist der Ruhm aufbewahrt, 
eine neue Schule zu gründen, die volksthümlich ist, wie euere Gesin- 
nung, aufrichtig und stark, wie euere Herzen. Die Philosophie dieser 
neuen Schule wird keine Abtrünnigen schen, weil sie das Werk eines 
klaren Bewusstseins sein wird. Sie wird sich bilden durch die ge- 
meinsame Anstrengung so zahlreicher, jugendlich-frischer Kräfte, welche 
um der Wissenschaft willen aus allen Theilen Frankreichs nach Paris 
zusammenströmen, und daselbst gewisse Grundsätze und Wahrheiten 
als ein Gemeingut sich aneignen, ohne darüber den Ort zu vergessen, 
wo sie geboren sind. Diese Fraternität geistigen Strebens, jedes Jahr 
für eine Zeit lang unterbrochen und dann wieder frisch begonnen, 
wird über das ganze Land neues Licht verbreiten. So reift allmählig 
an hundert verschiedenen Herden die ächte vaterländische Gesinnung, 
und der allgemeine Wille der Nation, überall lebendig, kann nicht 
mehr durch einen einzigen Schlag gehemmt werden, denn die Nation 
gleicht alsdann nicht mehr einem Baum, der nur Eine Wurzel hat.“ 
Welche Zukunft Thierry für sein Vaterland träumte, das deutet er an, 
indem er auf Amerikas grossartige Entwicklung hinweist. Wir werden 
aber sehen, dass der Geschichtschreiber an diesem freisinnigen Stand- 
punkt leider nicht konsequent festgehalten hat. 

Als im Jahr 1820 in Folge der Ermordung des Herzogs von 
Berry die Censur wieder eingeführt wurde, hörte der Censenr Europeen , 
zu erscheinen auf. Thierry machte desshalb der Redaktion des Courrier 
frangais den Vorschlag, eine Anzahl Briefe über französische Geschichte 
für dieses Blatt zu schreiben, dessen Tendenz mit derjenigen des Cen- 
seur Europeen so ziemlich übereinstimmte. Thierry beabsichtigte, über 
die ältere französische Geschichte allerlei neue Ideen und Ansichten 
zu verbreiten, welche indessen trotz manches Guten mitunter auf Irr- 
thümern und allzukühnen Voraussetzungen beruhten, weil der Schrift- 
steller die Quellen bisher nur oberflächlich und nicht mit der gehörigen 


— 14 — 


Musse studirt hatte. Thierry veröffentlichte zehn Briefe in dem Courrier 
francais, erste und unvollkommene Entwürfe derjenigen, welche er 
später umgearbeitet in ein besonderes Werk vereinigte. Allmählig trat 
in 'den wissenschaftlichen Arbeiten unseres Historikers die politische 
Controverse in den Hintergrund, um dem Studium der Geschichte aus- 
schliesslich Platz zu machen. Er selbst sagt hierüber in einer seiner 
Anmerkungen: „Je weiter ich in der Diskussion über die von unsern 
Geschichtschreibern befolgte Methode, über die Grundlagen der fran- 
zösischen Geschichte fortschritt, um so mehr verschwand der politische 
Zweck und meine Studien nahmen eine mehr allgemeine Richtung. 
Das Interesse für meine Arbeiten beschränkte sich auf die wissen- 
schaftlich gebildeten Leser. In Paris las man meine Artikel immer 
mit Vergnügen, aber sie befriedigten nicht die Leser in den Provinzen. 
Mehrere Briefe von Abonnenten kamen nach einander an, ich weiss 
nicht mehr, von wem sie geschrieben waren, aber sie sprachen mit 
so viel Bitterkeit von meinen langweiligen und gelehrten Abhandlungen, 
dass die Redaktion des Courrier frangais eine Abnahme der Abonnenten 
befürchtete. Man bat mich, andere Gegenstände zu behandeln, indem 
man mir auf sehr liebenswürdige Weise die Mannigfaltigkeiten meiner 
Arbeiten für den Censeur Europeen vorhielt. Ich erwiderte, dass ich 
entschlossen sei, nur über historische Gegenstände zu schreiben, und 
im Januar 1821 hörte ich auf für den Courrier frangais zu arbeiten.* 
Nicht ohne Bedauern sah sich Thierry genöthigt, seine wöchentlichen 
Publikationen zu unterbrechen. Diese Art Arbeit, ohne Zusammen- 
hang und mehr für den Augenblick berechnet, passte vollständig zu 
dem jugendlichen Ungestüm des Kritikers, zu der unvollkommenen Reife 
seiner bisherigen historischen Studien. Er war noch weit davon ent- 
fernt, die gleichen Gegenstände in einem grösseren Werke bearbeiten 
zu können, weil ein solches längere Vorstudien und eine gewisse Ruhe 
des Geistes verlangt. So erhielt die wissenschaftliche Thätigkeit Thierry’s 
eine veränderte Richtung. Im Censeur Europ&een nur Journalist, er- 
scheint derselbe im Courrier frangais schon als zur Hälfte Historiker. 
Nach vier Jahren, welche mehr oder weniger der politischen Kontro- 
verse gewidmet waren, konzentrirte er seine geistige Kraft auf das 
Studium der Geschichte als Solcher, wozu ihn seine bisherige Lauf- 
bahn gewissermassen vorbereitet hatte. 

Die Grundidee von Thierry’s historischen Anschauungen zeigt sich 
schon in seinen ersten Abhandlungen für den Censeur Europeen. Als 
er einst einige Kapitel in Hume aufmerksam gelesen hatte, um in dem 


— 105 — 


Werke dieses Historikers Gründe zu finden für seine Abneigung gegen 
die Institutionen Englands, wurde er von einer Stelle lebhaft ergriffen. 
Sie erschien ihm als ein Fingerzeig, und indem er das Buch rasch 
schloss, rief er aus: „So beruht denn Alles auf einer Eroberung, überall 
eine Eroberung als letzte Ursache!“ Die verschiedenartige Abstam- 
mung der Theile eines und desselben Volkes, die gewaltsame Unter- 
werfung einer Nation durch eine andere, diese Thatsache sollte in den 
historischen Arbeiten Thierry's eine grosse Rolle spielen; sie wurde 
von ihm mit einem Ungestüm aufgegriffen, welches immer den An- 
fänger verräth, der in seiner Entdeckung Alles zu finden und durch 
dieselbe Alles erklären zu können glaubt. Man kann sich leicht vor- 
stellen, dass eine solche Behandlungsweise der Geschichte, von vor- 
gefassten Ideen ausgehend, mancherlei Irrthümer erzeugen musste. So 
hatte Thierry in den genannten Journalen die englische Revolution 
dargestellt als eine nationale Reaktion gegen die Zustände, welche die 
Invasion der Normannen in England seit sechs Jahrhunderten begrün- 
det hatte. Nachdem unser Geschichtschreiber auf diese Weise viel 
Mühe und Zeit verloren, um eingebildete und unrichtige Resultate zu 
erlangen, wurde es ihm zuletzt klar, dass er die Geschichte nach ei-, 
gener Willkür umformte und verfälschte, indem er durchaus verschie- 
denen Perioden ähnliche Tendenzen unterschob. Er entschloss sich 
daher, diesen Weg zu verlassen, und den Charakter jeder einzelnen 
_ Periode nicht willkürlich zu ändern und zu verwischen. Dessenunge- 
achtet entsagte er der Idee nicht, der Einwanderung der Normannen 
einen grossen Einfluss auf die ganze spätere Geschichte Englands bei- 
zumessen. Dieses Faktum mit seinen tiefgreifenden Folgen hatte die 
Aufmerksamkeit Thierry's in hohem Grade auf sich gezogen, es er- 
sehien ihm als ein ungelöstes Problem, voll von Geheimnissen, und 
von grossem politischem und historischem Interesse. So sind die ersten 
Arbeiten, welche Thierry über die Revolutionen Englands in den Jour- 
nalen veröffentlicht hat, lebendige Beweise dafür, dass auch ein auf- 
geklärter Kopf in arge Irrthümer verfallen kann, wenn sich derselbe 
durch vorgefasste Ideen bestimmen und von einer hohlen Systematik 
beherrschen lässt. Es ist nicht schwer, das Verlangen nach litera- 
rischer Produktion zu befriedigen, aber der Geschichtsforscher erweist 
sich selbst einen grossen Dienst , wenn er erst nach wiederholter Prüfung 
seiner Ansichten und nach gründlichen Vorstudien seine Forschungen 
der Oeffentlichkeit übergibt. Thierry hat selbst die Mängel seiner 
ersten Arbeiten mit einer ehrenwerthen Bescheidenheit eingestanden 
Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 8 


— 106 — 


und jene Aufsätze ohne irgend eine Veränderung in die Gesammtaus- 
gabe seiner Werke aufgenommen. Jene Abhandlungen sind gewisser- 
massen ein Bekemntniss der historischen und literarischen Verirrungen, 
welche sich der Geschichtschreiber während seiner ersten Periode zu 
Schulden kommen liess. Sein Irrthum bestand darin, dass er eine 
Aufgabe lösen wollte, welcher er noch nicht gewachsen war. Thierry 
versuchte, wie er selbst sagt, in der Geschichte Englands alles mit 
den gleichen Formeln zu erklären: Eroberung und Unterwerfung, Ge- 
bieter und Unterthanen. Diese Ansicht trug Thierry aus der Geschichte 
Englands auf diejenige Frankreichs über. Trotz dieser Mängel darf 
man die glänzenden Eigenschaften jener ersten Arbeiten unseres Histo- 
vikers nicht vergessen. Thierry hatte in den historischen Werken 
früherer Jahrhunderte zahlreiche Lücken und unrichtige Anschauungen 
nachgewiesen, er hatte die Bedeutung und den Einfluss mancher histo- 
rischer Thatsachen wahrgenommen, denen man bisher nur geringe Auf- 
merksamkeit geschenkt hatte. Er war eifrig bemüht, das Verhältniss 
der einzelnen socialen Elemente, der verschiedenen Volksklassen und 
deren Einwirkung auf die Entwicklung der. ganzen Nation in ein klares 
Licht zu stellen. Aber gerade dieser patriotische Eifer, wenn man 
will, dieser Partheistandpunkt erzeugte bisweilen Irrthümer und Ueber- 
treibungen. 

Was Thierry von der neueren französischen Geschichtschreibung 
zunächst erwartete, das spricht er zu wiederholten Malen aus. Selbst 
dem niederen Stande des Volkes angehörend, verlangt Thierry, dass 
man in den Annalen der französischen Geschichte das Volk nicht ver- 
gesse, dass die historischen Erinnerungen des dritten Standes sorg- 
fältig gesammelt würden, und dass man aus den alten Chroniken und 
den übrigen Quellen eine Geschichte Frankreichs herstellen möchte, 
welche den Patriotismus der Nation neu belebe. Zu diesem historischen 


Gebäude, das Thierry im Geiste vor sich sah, lieferte er selbst die 


Grundsteine in seinen Briefen über französische Geschichte, von denen 
später die Rede sein wird. Was in jenen Briefen angedeutet und ge- 
wissermassen. vorbereitet ist, das haben Michelet und Henri Martin 
ausgeführt. Das Werk des Letzteren, nach Form und Inhalt gleich 
ausgezeichnet, mit künstlerischem Genie entworfen und beinahe voll- 
endet, verdankt seinen Erfolg nicht allein dem Talent des Verfassers. 
Ohne Thierry’s Vorarbeiten wäre Henri Martins Geschichte von Frank- 
reich eine Unmöglichkeit gewesen, 

Während Thierry für den Courrier frangais schrieb, las er, die 


| 


- 17 — 


Feder in der Hand, alle Werke über ältere französische Geschichte 
und über die Institutionen des Mittelalters, und zwar in chronologischer 
Reihenfolge, die Schriften von Pasquier, Foucher und anderer Ge- 
lehrten des sechzehentem Jahrhunderts bis zu den neueren Werken von 
Mably und Montlosier. Das Jahr 1819 wurde fast nur für diese 
Lektüre verwandt. Thierry vergass nicht, auch die Schriftsteller des 
römischen, des gewöhnlichen und des Lehenrechtes zu studiren. Diese 
lange und ermüdende Arbeit endigte mit der Lektüre des Glossars 
von Ducange. Thierry studirte in diesem Buche die politische Sprache 
des Mittelalters, und um dieses halb römische, halb barbarische Idiom 
genau kennen zu lernen, suchte er, vermittelst dürftiger Vorkenntnisse 
des Englischen und Deutschen der germanischen und skandinavischen 
Sprachen mächtig zu werden. Thierry hatte alle Werke zweiter Hand 
studirt und war bei den eigentlichen Quellen des Mittelalters angelangt, 
aber er machte sich noch keine klare Idee von demjenigen, was er 
darin suchen wollte. Immer mit politischen Ideen beschäftigt, und 
für den Triumph der Parthei arbeitend, welcher er seine Feder ge- 
widmet hatte, war er im Begriff, Geschichtschreiber zu werden im 
Sinn und Geist jener Schriftsteller, welche der philosophischen Schule» 
des vorigen Jahrhunderts angehören, und deren historische Arbeiten 
mehr Raisonnement als objektiv erzählte Thatsachen enthalten. 

In den ersten Monaten des Jahres 1820 begann Thierry die grosse 
Sammlung französischer Annalisten zu lesen. Die lebendigen Gemälde 
der Menschen und der Zustände des Mittelalters hatten für ihn einen 
grossen Reiz und vermehrten seine Vorliebe für historische Studien. 
Zugleich aber empfand unser Geschichtschreiber eine lebhafte Abnei- 
gung gegen die modernen Historiker, welche, weit entfernt jenes Schau- 
spiel getreu wieder zu geben, die Thatsachen entstellt und die Cha- 
raktere der handelnden Persönlichkeiten unrichtig aufgefasst hatten. 
Thierry's Unwille steigerte sich, je mehr es ihm möglich wurde, die 
eigentliche Geschiehte Frankreichs, wie sie sich in den Originalquellen 
darbot, mit den geschmacklosen Kompilationen des 17. und 18. Jahr- 
hunderts zu vergleichen. Seine Aufmerksamkeit wandte sich von ver- 
einzelten historischen Streitfragen ab, es wurde ihm klar, dass die 
ganze ältere Geschichte Frankreichs einer Reform hedürfe, und dass 
eine französische Geschichte, dem wissenschaftlichen Standpunkt des 
19. Jahrhunderts entsprechend, noch gar nicht vorhanden sei. Thierry 
glaubte endlich seine Bestimmung gefunden zu haben, und er machte 
‚sieh mit einer ächt jugendlichen Begeisterung an die schwierige und 


— 18 — 


mühevolle Arbeit. Jetzt galt es nicht mehr, einzelne dunkle Parthien 
in der Geschichte des Mittelalters zu beleuchten, sondern eine Reform 
der, französischen. Geschichtschreibung durchzuführen, wie sie das 19. 
Jahrhundert erwartete. Was Thierry zunächst bezweckte, das fasst 
er kurz in folgende Sätze zusammen: „Eine gänzliche Umwandlung 
der historischen Studien ist nothwendig, fort mit jenen Historikern 
ohne Gelehrsamkeit, ohne Phantasie, fort mit Mezeray, Velly und ihren 
Schülern, fort mit den vielgerühmten Geschichtschreibern der soge- 
nannten philosophischen Schule, wegen ihrer Trockenheit und (ihrer 
geringen Kenntnisse unserer älteren Geschichte.“ Diese letzten Worte 
enthalten offenbar eine Anspielung auf Voltaire und seine Geistesver- 
wandten. Der ausgesprochene Tadel ist, wenn ‚auch nicht ganz, so 
doch theilweise begründet. Thierry vergass, dass die Geschichte für 
Voltaire keineswegs Zweck, sondern bloss Mittel war, um allerlei phi- 
losophische und historische Ansichten in gefälliger Form vor ein grösseres 
Publikum zu bringen. Liest man die historischen Werke des. Philo- 
sophen von Ferney aufmerksam, so ist es ein Leichtes, in. denselben 
eine Menge von Irrthimern und Nachlässigkeiten zu entdecken... Die 
einfache zierliche Sprache, die geistreichen Bemerkungen, eine überall 
hervortretende liberale Weltanschauung, diese Eigenschaften verleihen den 
Geschichtswerken Voltaire’s trotz aller Mängel einen bleibenden Werth, 
der noch von jedem unbefangenen Kritiker anerkannt worden ist. !) 
Um dieselbe Zeit studirte: Thierry die Geschichte Englands. Für 
die angel-sächsische Periode bediente er sich des Werkes von Sharon 
Turner. Die erstaunliche Menge Details, welche dieses Buch. über 
die Sitten und den socialen Zustand der germanischen Eroberer Gross- 
brittanniens, sowie über die eingeborenen Bretonen enthält, die, zahl- 
reichen Citationen von altnordischen Volksliedern hatten ein grosses 
Interesse für unseren Geschichtschreiber. Die allgemein politischen Be- 
trachtungen, auf welche er sich bisher beschränkt hatte, erschienen 
ihm. zum ersten Mal trocken und gehaltlos. Er fühlte sich getrieben 
von dem Abstrakten zum Konkreten überzugehen, das nationale Leben 
nach allen Gesichtspunkten zu erforschen und insbesondere das Ver 
hältniss der verschiedenen Volkstheile, die sich während Jahrhunderten 
feindselig gegenüberstunden, aufzuklären. Thierry’s Ansicht, dass. die 
Geschichte des Mittelalters und auch diejenige der Neuzeit fast überall 


!) Treffliche Kritik von Voltaire als Historiker bei Villemain (Litterature 
du XVIle sieele). : 


— 109 — 


den Stempel der Eroberung an sich trage, wurde durch diese Studien 
nur befestigt. In der Geschichte Irlands sah er jenes Faktım als eine 
lebendige Wirklichkeit. Das Studium der schottischen Geschichte zeigte 
Thierry die ewige Feindschaft dar Bergbewohner und der Stämme in 
den ebenen Landstrichen. 

Von unverkennbarem Einfluss auf Thierry’s historische Arbeiten 
waren die Romane Walter Scott’s, und mit Enthusiasmus begrüsste 
er das Meisterwerk „Ivanhoe*. Mit künstlerischem Genie hatte der 
schottische Romanschriftsteller eine Scene aus dem grossen Drama be- 
handelt, mit welehem Thierry seit drei Jahren beschäftigt war. Das 
Historische in‘ dem Roman Walter Scott’s, die allgemeinen Charaktere, 
die politischen Zustände, die Sittenschilderungen, alles stimmte überein 
mit dem Plan des Werkes, das in Thierry’s Geist schon längst fertig 
war. Sein Eifer wurde dadurch nur vermehrt, und mit dankbarer An- 
erkennung nennt er Walter Scott den grössten Meister historischer 
Darstellung. 

Thierry hatte endlich seine Bestimmung erkannt, die Politik war 
für ihn die Brücke zur Geschichtschreibung. Er hatte den Plan zu 
zwei grösseren Werken gefasst, eines über englische, das andere über 
französische Geschichte. Um dieselben zu vollenden, bedurfte er nür 
der nöthigen Ruhe und Zeit. Von dem Augenblick an, da der Histo- 
riker‘ aufhörte für die Journale zu arbeiten, bis zur Veröffentlichung 
seines ersten grösseren Werkes, der Geschichte der Eroberung Eng- 
lands durch die Normannen, verflossen fünf Jahre, während welcher 
‘Thierry mit Eifer seinen Studien oblag, ohne darüber die Tagesereig- 
nisse zu vergessen. 

Die Jahre 1821 und 1822 waren durch eine lebhafte Agitation 
bezeichnet, welcbe nicht allein auf dem politischen "Gebiet, sondern 
auch in der Wissenschaft und in der Kunst hervortrat. Dieser Auf- 
regung der Gemüther konnte Thierry nicht fremd bleiben. Die un- 
gesetzliche Beschränkung der durch die Charte garantirten Freiheiten 
"hatte selbst die Gemässigt-Liberalen zum Widerstand gereizt. Nach 
‚dem Vorbilde Italiens organisirten sich in Frankreich geheime Gesell- 
schaften, deren Begründer die Achtung der Nation und die Anhäng- 
lichkeit der aufgeklärten Jugend für sich hatten.‘ Diese revolutionäre 
Parthei überzeugte sich aber allmählig von der Erfolglosigkeit ihrer 
Bestrebungen, Ereignisse herbeizuführen, welche noch nicht reif waren, 
und die Mitglieder der geheimen Gesellschaften, einem gewaltsamen 
Vorgehen entsagend, kehrten in ihre Comptoirs oder zu ihren Büchern 


— 10 — 


zurück. Diese politische Unzufriedenheit übte auf die ernsthaften Studien 
einen sehr heilsamen Einfluss aus. Mit dem Jahr 1823 begann ein 
frischer Hauch die Wissenschaft zu beleben, und alle Gebiete der 
französischen Literatur verspürten diesen Einfluss. Eine Anzahl junger 
und ausgezeichneter Persönlichkeiten trat hervor, welche in der Kunst 
wie in der Wissenschaft eine neue Periode für Frankreich begründeten. 
Die hervorragendsten Talente zogen sich aus dem öffentlichen Leben 
zurück und beschäftigten sich mit Geschichtsforschung, um früher oder 
später diese Studien auf die Politik anzuwenden. Von 1824 bis 1830 
erschienen eine Menge historischer Arbeiten, vorzugsweise über Gegen- 
stände aus der französischen Geschichte. Thierry glaubte, dass die 
Geschichtschreibung das Centrum aller geistigen Thätigkeit für das 
19. Jahrhundert sein werde, wie die Philosophie es im 18. Jahrhun- 
dert gewesen war. An dieser geistigen Bewegung wollte er gleich- 
falls theilnehmen und wo möglich in den ersten Reihen stehen. Unser 
Historiker beabsichtigte, seine Werke nicht allein auf gründlichen Stu- 
dien und streng-wissenschaftlicher Grundlage aufzubauen, sondern auch 
durch die künstlerische Behandlung des Stoffes denselben ‚einen blei- 
benden Werth zu verleihen. Thierry hat selbst in sehr anziehender 
Weise diese Periode seines Lebens beschrieben, während welcher er, 
nur mit seinen Studien beschäftigt, die Materialien für die Arbeiten 
sammelte, die er auszuführen gedachte. Der Katolog der Bücher, welche 
er lesen wollte, war sehr umfangreich, und da er selbst nur eine kleine 
Anzahl derselben besass, so musste er die übrigen in den öffentlichen 
Bibliotheken aufsuchen. Mitten im Winter verweilte Thierry täglich 
von 10 bis 3 Uhr in den damals noch nicht geheizten Sälen der 
Bibliotheque royale rue Richelieu, und im heissen Sommer lief er von 
Sainte-Genevieve zum Arsenal, und vom Arsenal zum Institut, dessen 
Bibliothek durch ausnahmsweise Gunst ihm bis 5 Uhr Abends offen 
blieb. Thierry lebte so zu sagen nur in der Vergangenheit, und er 
hat sich selbst mit einem Reisenden verglichen, welcher, nachdem er 
lange von Entdeckungen geträumt, endlich das Land seiner Sehnsucht 
vor sich sieht. Dadurch, dass der Historiker eine Menge Folioseiten 
gewissermassen verschlang, um von vielen Angaben einzelne zu ex- 
cerpiren, erhielt seine Sehkraft eine Elastizität, die ibn selbst in Er- 
staunen setzte. Thierry gewöhnte sich daran, durch Intuition zu lesen, 
und brachte es so weit, dass er beinahe unmittelbar die Stelle fand, 
die für ihn ein Interesse hatte; seine geistige Kraft schien sich auf 
einen einzigen Punkt zu konzentriren. Während unser Historiker in, 


— 11 — 


den Folianten blätterte und seine Auszüge anfertigte, wusste er nicht, 
was um ihn herum vorgivug. Der Tisch, an dem er sass, war von 
einer Menge Arbeitender besetzt. Die Angestellten der Bibliothek und 
die Neugierigen kamen und verliessen den Saal, Thierry hörte und 
sah nichts, als die Erscheinungen, welche seine Lektüre wie durch 
einen Zauber an seinem Geiste vorüberführte. „Diese Erinnerung, 
sagt der Geschichtschreiber, ist mir noch gegenwärtig, und seit jener 
Zeit war meine Phantasie nie mehr im Stande, die Persönlichkeiten 
des von mir behandelten Dramas so lebendig aufzufassen, jene Männer 
von verschiedener Abstammung und Sitten, welche nach einander vor 
meinem Geiste erschienen, die einen die Rückkehr Arthurs singend, 
andere im Sturme schiffend, mit eben so wenig Sorge um sich selbst, 
wie der Schwan, der in einem See badet; wiederum andere sieges- 
trunken den Waffenschmuck der Erschlagenen aufhäufend, das Land 
nach der Schnur und dis Gefangenen wie das Vieh nach der Kopf- 
zahl vertheilend, endlich diejenigen, welche, durch eine einzige Nieder- 
lage alles desjenigen beraubt, was das Leben angenehm macht, entweder 
geduldig zuschauten, wie der Fremde an ihrem Herd sich niederliess, 
oder aus Verzweiflung sich in den Wäldern zusammenrotteten, um da- 
selbst wie die Wölfe frei und unabhängig vom Raube zu leben.* Diese 
Zeilen, voll Wahrheit und Poesie, bezeichnen den Historiker der mo- 
dernen Schule, welche so freigebig ist mit autobiographischen Details, 
dergleichen man in den Geschichtschreibern des Alterthums wie auch 
bei den italienischen Historikern des 15. und 16. Jahrhunderts ver- 
geblich sucht. Thierry ist in dieser Beziehung ein Geistesverwandter 
von Gibbon und Johannes Müller, welche beide, jener in seinen Me- 
moiren, dieser in seinen Briefen, uns ein treues Bild ihrer historischen 
Studien, ihres geistigen Lebens überhaupt hinterlassen haben. Für 
einen jüngeren Historiker sind jene Werke unschätzbare Fundgruben, 
” reich an Lehren und Winken jeder Art. 

Wie unser Johannes Müller durch seine Freunde Bonstetten und 
"Füssli bei der Abfassung seines grossen Werkes unterstützt wurde, so 
war auch für Thierry die Freundschaft ‘mit dem Historiker Fauriel von 
grosser Wichtigkeit. Der Literarhistoriker Sainte-Beuve nennt Fauriel 
einen Weisen, einen liebenswürdigen und gefühlvollen Stoiker, einen 
eifrigen Erforscher der Wahrheit. Durch Fauriel wurde Thierry mit 
Manzoni, dem italienischen Walter Scott, bekannt. Die angenehmste 
Unterhaltung für die beiden Historiker waren ihre Studien. Thierry 
erzählte seinem Freunde die geringsten Einzelnheiten der Chroniken 


— 12 — 


und Legenden, alles was ihm die siegreichen Normannen und die unter- 
worfenen Angelsachsen des 11. Jahrhunderts veranschaulichte, die Leiden 
des besiegten Volkes, selbst die Schicksale einzelner Persönlichkeiten, 
für welche Thierry eine Theilnahme empfand, als ob er zu ihnen ge- 
hört hätte. Bald war dies ein sächsischer Bischof, welcher von seinem 
Sitze verjagt wurde, weil er nicht Französisch verstund, bald die 
Mönche eines Klosters, dessen Privilegien verhöhnt wurden, weil: sie 
in angelsächsischer Sprache geschrieben waren, bald eine eingeborene 
Familie, die, von den Siegern ihres Besitzthums beraubt, einen kleinen 
Theil davon als Almosen zurückerhielt, alles Einzelnheiten, an und 
für sich von geringer Wichtigkeit, die aber den Arbeiten Thierry’s 
jenes Colorit und jene Anschaulichkeit verleihen, wodurch sich die 
Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen auszeichnet. 
Was die künstlerische Behandlung des Stoffes betrifft, so konnte Thierry 
allerdings von seinem Freunde Fauriel nicht gerade viel lernen, da 
dessen Talent mehr für gelehrte Forschung als für die Bearbeitung 
eines Geschichtswerkes im höheren Styl geeignet war. Der Schüler 
sollte den Lehrer übertreffen. Dessenungeachtet waren die feinen Ur- 
theile und die ausgebreiteten Kenntnisse Fauriels für Thierry äusserst 
wichtig. Selten endigte ihre Unterhaltung, ohne dass der Letztere um 
irgend eine neue Anschauung bereichert war, Dreizehn Jahre später 
erinnerte sich Thierry noch mit Vergnügen der Spaziergänge mit seinem 
Freunde, welche sich im Sommer über einen grossen Theil der äusseren 
Boulevards erstreckten. y 
Gegen das Ende des Jahres 1822 begann Thierry den gesam- 
melten Stoff auszuarbeiten, stiess aber hiebei auf mancherlei Schwierig- 
keiten. Vor Allem aus konnte er für sein Werk nicht sofort eine 
passende Form finden. Die Schwierigkeit war um so grösser, da der 
Historiker nach reiflieher Ueberlegung jede Nachahmung verschmähte. 
„Ich wollte, sagt Thierry in der Geschichtschreibung, weder dem Vor- 
bilde der Philosophen des letzten Jahrhunderts folgen, noch demjenigen 
der Chronisten des Mittelalters. Es fiel mir auch nicht ein, die Ge- 
schichtschreiber des Alterthums nachzuahmen, so sehr ich sie bewun- 
derte. Ich beabsichtigte den epischen Charakter der Letzteren mit 
der Natürlichkeit und Anschaulichkeit der Chronisten und dem Ernst 
der modernen Geschichtschreiber zu vereinigen. Ich strebte nach einer 
kernhaften Ausdrucksweise, einfach und ohne Rhetorik, und war dabei 
bemüht, die Menschen vergangener Jahrhunderte mit dem Gepräge 
ihrer Zeit darzustellen, die durch die Quellen überlieferten Charakter- 


— 13 — 


züge möglichst zu erschöpfen, ohne desshalb die Erzählung zu über- 
laden, und die Einheit des Ganzen zu stören. Bei diesem Versuche, 
jene verschiedenen Methoden zu kombiniren, gerieth ich zwischen zwei 
Klippen, entweder der klassischen Einfachheit und Regelmässigkeit 
zu viel aufzuopfern und so die lokale Färbung meiner Schilderungen 
zu verwischen, oder meine Erzählung mit vielen, allerdings anziehen- 
den Einzelnheiten zu überladen, die dem Leser des 19. Jahrhunderts 
ohne Interesse erscheinen mussten. Manches meiner Kapitel hatte den 
ersten Fehler, andere den letzteren. Oft nach langer Anstrengung und 
wiederholten Korrekturen, nahm ich meine Zuflucht zur Vernichtung 
des Ganzen. Neue Kombinationen versuchend setzte ich meine Arbeit 
fort, und strich dann wieder aus. Aber vermittelst eines unerschütter- 
lichen Willens und indem ich jeden Tag 10 Stunden lang unausge- 
setzt arbeitete, schritt mein Werk vorwärts.“ Man hat Thierry vor- 
geworfen, dass diese Sorgfalt für die Form der historischen Wahrheit 
seiner Darstellung bisweilen Eintrag gethan habe. Wir werden auf 
diesen Vorwurf später zurückkommen. Soviel ist allerdings wahr, dass 
‚die historische Kunst mitunter ein Tyrann ist, sie gewährt eine gewisse 
relative Wahrheit und ihre Perspektiven sind nicht immer die der 
Natur und der Wirklichkeit. 

Wenn es sich darum handeln würde, die Werke Thierry’s nach 
der Reihenfolge ihres Erscheinens zu besprechen, so müssten wir mit 
der Geschichte der Eroberung Englands beginnen, welche im Jahr 1825 
vor den Briefen über die Geschichte Frankreichs veröffentlicht wurde. 
Aber abgesehen davon, dass die 10 ersten jener Briefe in ihrer ur- 
sprünglichen Form 1820 im Courrier frangais erschienen sind, so ent- 
halten sie zugleich eine Auseinandersetzung der historischen Theorien 
Thierry's und nehmen also in der logischen Reihenfolge seiner Schriften 
die erste Stelle ein. 

Die Briefe über die Geschichte Frankreichs erschienen erst im 
Jahr 1828 in der Gestalt, wie wir sie jetzt, geringe Veränderungen 
abgerechnet, in der 10. Auflage vor uns haben. Die 10 ersten Briefe 
waren, wie bereits gesagt wurde, schon 1820 im Courrier frangais 
veröffentlicht worden; die anderen erschienen zum ersten Mal. Die 
zahlreichen historischen Fragen, welche in diesen letzteren behandelt 
sind, haben alle entweder auf die Entwicklung der französischen 
Nationalität oder auf die Entstehung der Kommunen des Mittelalters 
Bezug. Thierry versuchte nachzuweisen, wo die Geschichte Frankreichs 
beginne und wo diejenige der fränkischen Könige aufhöre, und zugleich 


— 114 — 


die grosse sociale Bewegung zu schildern, welche durch die Kommu- 
nen des 11. und 12. Jahrhunderts ins Leben trat. In diesem Werke 
unseres Geschichtschreibers lassen sich vier Parthien unterscheiden: 
Eine kritische, in welcher der Verfasser die Methode und das Ver- 
fahren seines Vorgängers beurtheilt; eine theoretische Parthie, in welcher 
er seine eigenen Ansichten über eine wissenschaftliche und künstle- 
rische Behandlung der Geschichte auseinandersetzt; eine wissenschaft- 
liche Parthie, in der die wichtigsten Streitfragen der französischen Ge- 
schichte besprochen werden. Der vierte Abschnitt endlich kann als 
der eigentlich historische, wenn man will, als der dramatische Theil 
des Werkes bezeichnet werden. Thierry erzählt in demselben mehrere 
Episoden aus der Geschichte einzelner Kommunen, deren grossartige 
Entwicklung inmitten der feudalen Unordnung des Mittelalters eine 
neue Zeit verkündigte. 

In dem kritischen Theil der „Lettres sur l’histoire de France“ 
erkennt man sofort den Einfluss der geistigen Bewegung, welche sich 
während der Restauration auf allen Gebieten der französischen Lite- 
ratur kundgab. Das Merkmal dieses neuen Geistes ist eine systema- 
tische Verachtung für die Vergangenheit, das Bestreben überall zu 
ändern und umzugestalten. In der Philosophie, auf dem Feld der 
lyrischen wie der dramatischen Poesie, in allen Zweigen der Kunst 
ist man bemüht, die breitgetretenen Pfade zu verlassen und neue auf- 
zusuchen. Man kümmert sich wenig um seine Vorgänger, man ver- 
traut auf die eigene Kraft. Lamennais will die Religionsphilosophie 
umgestalten, Cousin begründet eine sogenannte neue philosophische 
Schule, Villemain eine neue Kritik, Lamartine und Viktor Hugo eine 
neue Poesie. Der Letztere, Alfred de Vigny und Alexandre Dumas 
geben dem Theater eine veränderte Richtung; selbst in der Malerei 
erhebt sich eine neue Schule. Augustin Thierry und Sismondi refor- 
miren die Geschichtschreibung. Thierry zeichnet sich aus durch die 
Schärfe und Gründlichkeit seiner Kritik. Er schleuderte, um seinen 
eigenen Ausdruck zu gebrauchen, eine Kriegserklärung gegen die 
Historiker der letzten Jahrhunderte, er strebt nach einer durchgrei- 
fenden Reform der Geschichtschreibung. Weder die Form noch der 
Inhalt der früheren Historiker behagen ihm, er will, dass man zu 
den Originalquellen zurückkehre, dass man die Arbeiten derjenigen 
Historiker unberücksichtigt lasse, welche aus den Chroniken nur eine 
einseitige Anschauung der vergangenen Jahrhunderte geschöpft haben. 
Nach Thierry haben die Einen die Vergangenheit nicht richtig aufge- 


— 15 — 


fasst, die Andern waren nicht im Stand, sie anschaulich darzustellen. 
Der natürliche Schluss ist, dass die französische Geschichtschreibung 
erst begründet werden müsse, insofern die vorhandenen Werke gegen- 
über den Anforderungen des 19. Jahrhunderts ungenügend seien. 

Wir haben bereits angedeutet, dass Thierry allerdings für die 
französische Geschichtschreibung eine neue Periode begründete. Es 
fragt sich aber, ob seine Urtheile über die französischen Historiker 
früherer Jahrhunderte unbedingt richtig seien. Es scheint uns, als ob 
derselbe im Bewusstsein seiner schöpferischen Kraft zu wegwerfend 
und ohne die Verhältnisse gehörig zu berücksichtigen, sich über seine 
Vorgänger ausgesprochen habe. Chateaubriand, trotz seiner konser- 
vativen Stellung der Nestor der jungen Schule, äusserte sich miss- 
billigend über die schroffen Ansichten Thierry's. „Dergleichen Urtheile, 
sagt Chateaubriand, sind allzu hart gegenüber jenen Schriftstellern, 
welehe vor der Revolution an unseren Annalen gearbeitet haben. 
Setzen wir den Fall, dass unsere Geschichte neu aufzubauen wäre, 
dass man sie aus den Handschriften oder auch nur aus gedruckten 
Werken zusammenstellen, dass man die Chronologie festsetzen und die 
Thatsachen erst noch diskutiren müsste, trotz unserer Gelehrsamkeit 
kämen wohl kaum drei Bände zu Stande. Anerkennen wir die Ver- 
dienste der gelehrten Benediktiner. Mit Begeisterung widmeten sich 
jene Männer den historischen Studien, den Arbeitern ähnlich, welche, 
in Goldminen beschäftigt, Reichthümer zu Tage fördern, die sie nicht 
selbst geniessen können. Verehren wir jene würdigen Brüderschaften, 
deren Werke die unerschöpflichen Quellen sind, zu denen wir immer 
und immer wieder zurückkehren, selbst wenn wir uns den Anschein 
geben, sie gering zu schätzen.“ 

Sehr riehtig bemerkt Thierry, dass die meisten französischen 
Historiker die’Geschichte der ersten Jahrhunderte von dem Standpunkt 
ihrer Zeit aus beurtheilt haben. Sie konnten sich nicht recht vor- 
stellen, dass die Menschen und die Verhältnisse anders gewesen seien 
als in dem Jahrhundert, in welchem sie lebten. Einer Nation ange- 
hörend, deren Spitze ein starkes und mächtiges Königthum bildete, 
haben jene Geschichtschreiber in den ersten Kapetingern und selbst 
in den Karlowingern und Merowingern das Urbild einer Königsmacht 
gefunden, wie sie unter Ludwig XIV. bestand. Sie glaubten in der 
Geschichte jener Königsgeschlechter einen glänzenden und gebildeten 
Hof zu erkennen, einen reichen und dem Regenten ergebenen Adel 
und jene Sitten einer verfeinerten Civilisation, alles Schöpfungen einer 


— 116 — 


späteren Zeit. Thierry’s Briefe enthalten eine Reihe von Untersuchungen 
über die vermeintliche Einheit der Bevölkerung, welehe jene Geschicht- 
schreiber für eine Periode der französischen Geschichte vorauszusetzen 
scheinen, da es noch gar keine französische Nation gab, da die ver- 
schiedenen Völkerstämme, die Gallier, die Römer, die Barbaren, welche 
Gallien erobert hatten, in einem blutigen Chaos sich neben einander 
bewegten, inmitten der allgemeinen Zerstörung, welche der Bildung 
einer neuen Nationalität vorangehen musste. Unser Geschichtschreiber 
macht darauf aufmerksam, dass die Könige der ersten drei Geschlechter 
von den früheren Historikern nach einem und demselben Typus dar- 
gestellt worden seien, ohne Rücksicht auf die individuellen Verschie- 
denheiten der einzelnen Personen, ohne Rücksicht auf die Feindschaft 
der verschiedenen Nationalitäten, welche sich nur langsam zur Einheit 
der Sprache, der Gesetze und der Sitten emporarbeiteten. 

Die französischen Geschichtschreiber, welehe dem 19. Jahrhun- 
dert vorangegangen sind, theilt Thierry in drei Klassen. In die erste 
gehören nach ihm die Abbreviatoren der mittelalterlichen Chroniken, 
welche ohne Kritik eine Anzahl Thatsachen zusammengestellt und diese 
mit ihren eigenen Ansichten vermischt zu einem Ganzen umgeformt 
haben. Die zweite Abtheilung begreift die sogenannte klassische oder 
italienische Schule, d. h. diejenigen Historiker, welche beim Wieder- 
aufleben der klassischen Studien die französische Geschichte nach dem 
Vorbild eines Livius, Salust oder Taeitus zu schreiben versuchten, 
und den historischen Persönlichkeiten wie jene klassischen Schriftsteller 
lange Reden unterschoben, die schon als Nachahmungen eine rheto- 
rische Färbung an sich tragen mussten. ‘Die dritte Klasse bilden die 
Historiker aus der philosophischen Schule des 18. Jahrhunderts, welche, 
mit dem Studium der Originalquellen wenig beschäftigt, eine vornehme 
Geringschätzung derselben zur Schau trugen und sich mehr darauf 
beschränkten, in der Vergangenheit den Stoff zu allgemeinen Reflexionen 
zu suchen. Tkierry kritisirt sodann die hervorragendsten Schriftsteller 
der drei verschiedenen Richtungen: Meister Nieole, den Epitomator der 
grossen Chroniken Frankreichs, du Haillan, welcher unter Heinrich II. 
schrieb, Sceipion Dupleix, den Pater Daniel, Velly, der im 18. Jahr- 
hundert grosses Ansehen genoss; endlich die Historiker der philoso- 
phischen Schule, von welchen aber nur Hume und Robertson genannt 
werden. 

Die Bemerkungen Thierry’s über den Standpunkt, von welchem 
aus diese Historiker die Geschichte Frankreichs dargestellt haben, 


— 17 — 


enthalten manche Wahrheit, aber der Kritiker übertreibt ihre Fehler, 
und lässt den guten Eigenschaften derselben nicht genug Gerechtigkeit 
widerfahren. Vor Allem aus weiss er die Schwierigkeiten nicht zu 
würdigen, welche sich nothwendigerweise denjenigen darbieten mussten, 
die als die ersten das Feld der französischen Annalen bebauten. End- 
lich war Thierry selbst nieht über die Kritik erhaben in dem Augen- 
blick, da er seine Vorgänger so streng beurtheilte. Wir haben ge- 
sehen, dass die Politik der Ausgangspunkt seiner historischen Arbeiten 
gewesen war. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, den Ursprung des 
dritten Standes in der Vergangenheit aufzusuchen. Das Aufblühen der 
mittelalterlichen Kommunen erschien unserem Schriftsteller als das erste 
Entwicklungsstadium der modernen Freiheit, und weil Thierry für die 
Berechtigung und die Herrschaft des dritten Standes kämpfte, so be- 
gann er die französische Geschichte zu studiren, um darin Beweise 
für seine politischen Ansichten zu finden. Dies Verfahren, in der Ge- 
schichte Belege zu suchen für irgend eine vorgefasste Meinung, ist 
dem‘ Journalisten, dem Politiker allenfalls erlaubt, nicht aber dem 
eigentlichen Historiker. _ 

Als Thierry die Briefe über französische Geschichte veröffentlichte, 
hatten sich seine Ansichten allerdings durch fleissige Studien mehr 
oder weniger geläutert und zur Unpartheilichkeit emporgeschwungen, 
er.konnte aber die Tendenz seiner ersten wissenschaftlichen Periode 
nieht‘ ganz verwischen. Allzu häufig erkenntman in seinen Briefen 
den Publizisten, welcher in der Vergangenheit Beweise sucht für 
seine Ansichten über die Gegenwart. Dieser Standpunkt erklärt manche 
Irrthümer, die in den Briefen enthalten sind. Dessenungeachtet sind 
dieselben ein sehr bedeutendes Werk. Der Verfasser, auf gründliche 
Quellenstudien gestützt und mit kritischem Scharfsinn begabt, hat das 
Verdienst, die Geschichte der ersten zwei französischen Königsgeschlechter 
aufgehellt zu haben. In seinen Erzählungen, die selbst in den kleinsten 
Einzelnheiten aus den eigentliehen Quellen geschöpft sind, verschwin- 
det die unpassende moderne Anschauungsweise früherer Historiker. 
Man sieht jene Barbaren leibhaft vor sich, deren poetische Schilde- 
rung in Chateaubriands Martyrs dereinst so lebhaft auf Thierry’s Phan- 


 tasie eingewirkt hatte. Bei aller Anerkennung, welche der Meister 


dem Talent des Schülers .zollte, äusserte Chateaubriand doch, dass’ 
wenn‘ Thierry’s Vorgänger die Franken als zu eivilisirt dargestellt, 
dieser. hinwiederum in den entgegengesetzten Fehler verfallen sei, in- 
dem ‚er. sie gewissermassen als rohe Wilde auf dem Boden Galliens 


— 18 — 


erscheinen lasse. In den Chronisten jener Zeit, vorzüglich bei Gregor 
von Tours, für welchen unser Geschichtschreiber eine grosse Verehrung 
bezeugt, findet derselbe die charakteristischen Züge des merowingischen 
Zeitalters, da der siegreiche Franke, der nach seinem eigenen Gesetz 
lebende Barbar, der freie und Grundeigenthum besitzende Römer und 
endlich der rechtlose Sklave neben einander wohnten. Durch Schil- 
derungen voll Leben und Wahrheit, die alle den Berichten der Zeit- 
genossen entlehnt sind, beleuchtet Thierry die eigenthümliche Stellung 
der verschiedenen Klassen des Volkes, die vor dem Gesetz dermassen 
ungleich waren, dass der Mord eines Franken doppelt so hoch ange- 
rechnet wurde, als der Mord eines Römers. Unser Historiker ver- 
gleicht die Lage der unterworfenen gallischen Bevölkerung mit der- 
jenigen der Rajas unter der Herrschaft der Türken. Thierry weist 
nach, dass die fränkischen Könige aus dem Geschlechte der Mero- 
winger von einer Königsmacht, wie sie in späteren Zeiten sich aus- 
gebildet hat, noch keine Ahnung besassen, dass dieselben mehr dar- 
nach strebten, ihre Reichthümer an Kostbarkeiten und Grundbesitz zu 
vermehren, welche bei ihrem Tode wie eine Beute unter die männ- 
lichen Erben vertheilt wurden. Die einzige permanente Eintheilung 
des fränkischen Gebietes ist nach unserem Geschichtschreiber diejenige 
in -Osterrike und Neosterrike. Diese Eintheilung war von Dauer, weil 
sie nicht allein eine territoriale, sondern zugleich eine nationale Grenz- 
scheide zwischen den zwei Hauptbestandtheilen der fränkischen Eroberer 
festsetzte. Obgleich demselben Völkerbunde angehörend, bildeten die 
zwischen Rhein und Maas wohnenden ripuarischen Franken einen eigenen 
Stamm, verschieden von demjenigen der salischen: Franken , welche 
sich auf dem Gebiet zwischen der Maas und der Loire niedergelassen 
hatten. Mit feinem Takt weist Thierry nach, welche Ursachen die 
Auflösung der karlowingischen Monarchie herbeigeführt haben. Dieses 
Reich war im Grund nur dureh das Genie eines einzigen Mannes zu- 
sammengehalten, welcher verschiedene Nationalitäten unter seiner kräf- 
tigen Herrschaft vereinigte. ‘Sobald dieser Monarch vom Schauplatz 
verschwunden und die Schwäche an die Stelle der Kraft getreten war, 
so mussten jene Nationalitäten sich trennen und in ihre natürliche 
Stellung zurückkehren. Thierry vergleicht die Auflösung des karlo- 
wingischen Reiches mit dem Sturz des napoleonischen Kaiserthums 
und bezeichnet beide Katastrophen als Restaurationen, in Folge deren 
die unterworfenen Völker wieder ihre frühere Unabhängigkeit erlangten. 
Die feudalen Zustände, wie sie sich unter den letzten Karlowingern 


ii» 


» 


— 19 — 

auszubilden begannen, waren nach unserem Historiker der nothwen- 
dige Uebergang von der Organisation des römischen Reiches zu den 
Zuständen des modernen Europas, deren Elemente im Keim schon 
vorhanden waren. Das Emporsteigen des dritten Königsgeschlechtes 
wird dargestellt als eine Reaktion gegen die germanische Eroberung. 
Erst in dieser Periode erscheint nach Thierry die gallo-fränkische 
Nation als eine einheitliche. Die französische Sprache, die französische 
Geschiehte datirt erst seit Hugo Capet. Die. letzten Karlowinger sind 
in ihren Bestrebungen sich zu behaupten, von Deutschland aus unter- 
stützt worden. Die deutsche Sprache, die am Hof der Nachkommen 
Karls des Grossen gesprochen wurde, verschwindet mit ihnen. 

In’ die Zeit der ersten Kapetinger fällt die Entstehung der Kom- 
munen. Mit Vorliebe verfolgt Thierry ihre geschichtliehe Entwicklung, 
und mit dem ihm eigenen Talent, seinen Darstellungen eine drama- 
tische Form zu geben, erzählt er die Schicksale der Städte Laon, 
Rheims und -Vezelay während des Mittelalters. Diese Parthie der 
„Lettres sur l’histoire de France“ vereinigt die seltenen Eigenschaften, 
welche den Werken unseres Geschichtschreibers einen bleibenden Er- 
folg sichern, ein gründliches Quellenstudium, das Talent, gewisser- 
massen durch Induktion aus einer vereinzelten Thatsache die richtigen 
Schlüsse zu ziehen, und die Kunst, die verschiedenen Theile der Er- 
‘zählung in ein anziehendes Ganze zu vereinigen. Thierry versetzt 
sieh und den Leser in jene entlegene Zeit des Mittelalters, er erscheint 


 alsein Angehöriger ‚der Stadt, deren Kämpfe und wechselvolle Schick- 


2 


sale so anschaulich und malerisch geschildert sind. Ueber dem gründ- 
liehen Forscher, über dem historischen Künstler dürfen wir aber den 


Menschen als solchen nicht vergessen. Auch der edle Charakter Thierry’s 


„ zeigt sich in diesen Briefen in seinem schönsten Glanze. Aus zahl- 
reichen Stellen derselben fühlt man heraus, dass der Verfasser ein 
theilnehmendes Herz hat für sein Volk, für die Menschheit überhaupt. 
Die Geschichte enthält nach Thierry’s Ansicht die Offenbarung von 
dem allmähligen Fortschritt des Menschengeschlechtes, daher sein Mit- 
gefühl für die Unterdrückten und die Sorgfalt, mit welcher deren Be- 
strebungen erzählt werden. Wahrhaft ergreifend sind die Schicksale 


"von Laon geschildert. Die Bürger dieser Stadt hatten ein volles Jahr- 


hundert nach jener freien Verfassung gestrebt, welche den Kommunen 
des Mittelalters eine so grosse politische Macht und oft die faktische 
Selbstständigkeit verlieh. Diese Versuche blieben zuletzt erfolglos, die: 
Stadt musste sich dem Bischofe unterwerfen, und verlor die Freiheiten, 


— 120 — 


welche sie besessen hatte. Die Bürgerschaft erhielt eine Amnestie, 
von welcher nur die kühnsten und hartnäckigsten Vertheidiger der 
bürgerlichen Freiheiten ausgenommen waren. Thierry zählt die Namen 
dieser Rebellen auf und fügt die Bemerkung bei: „Ich weiss nicht, 
ob der Leser den gleichen Eindruck empfindet wie ich, indem ich 
die unbekannten Namen dieser Verbannten des 12. Jahrhunderts nieder- 
schreibe. Ich kann mich nieht enthalten, sie wieder zu lesen und sie 
zu wiederholten Malen auszusprechen, als ob sie mir das Geheimniss 
enthüllen sollten von dem, was jene Männer vor sieben Jahrhunderten 
gefühlt und gewollt haben. Eine glühende Begeisterung für die Ge- 
rechtigkeit und die Ueberzeugung, dass ein unstätes Leben mehr werth 
sei als eitle Glücksgüter, hatte sie ihrem Handwerk, ihren 'Gewerben, 
der friedlichen aber würdelosen Existenz eines folgsamen Knechtes 
entrissen, die sie unter dem Schutze ihrer Herren geführt hatten. 
Nicht gleichgültig kann ich diese wenigen Namen und diese kurze 
Geschichte betrachten, das einzige Monument einer Revolution, die 
weit hinter uns liegt, die aber edle Herzen aufregte und eine -Gäh- 
rung der Gemüther erzeugte, wie wir sie seit 40 Jahren mitempfun- 
den und miterlebt haben.“ 

Von allen Werken Thierry’s ist die Geschichte der Ih etpng 
Englands durch die Normannen dasjenige, welches am meisten zu dem 
Ruhm des Verfassers beigetragen hat. Nirgends entfaltet derselbe eine 
grössere Kunst und zugleich ein so überraschendes Talent, die sorg- 
fältig gesammelten Materialien in ein einheitliches Tableau zu ver- 
einigen. Dieses dramatische Gemälde der Leiden, welche die Erobe- 
rung Englands durch die Normannen "für die besiegten Angelsachsen 
zur Folge hatte, macht auf den Leser einen tiefen Eindruck. Während 
der Restauration erlebte das Werk drei Auflagen. Die erste und zweite 
erschien 1825 und 1826; die dritte Auflage wurde, vollständig um- 
gearbeitet, im Februar 1830: veröffentlicht und kann als ‚das: defini-' 
tive Resultat von Thierry’s Studien über die Geschichte Englands wäh- 
rend des Mittelalters betrachtet werden. Unser Geschichtschreiber ‘hat 
versucht, den nationalen Kampf zu schildern, welchen die Invasion 
Englands durch die Normannen zwischen diesen Letzteren und der: 
angelsächsischen Bevölkerung zur Folge hatte. Der Schauplatz des 
grossen Dramas ist England, Schottland, Irland und auch Frankreich. 
Thierry’s Arbeit umfasst. nicht allein diejenigen Ereignisse, welche der 
normännischen Eroberung vorangegangen sind, sondern auch die Folgen 
derselben. Bevor der Geschichtschreiber zur Erzählung der Thatsachen 


me 3 


BE 


— 121 — 


schreitet, macht er den Leser mit dem-Terrain bekannt, auf welchem 
die verschiedenen Scenen seines Dramas spielen, er versetzt uns bald 
nach Grossbritanien, bald auf den Continent. Er erzählt die frühere 
Geschichte, die inneren und äusseren Verhältnisse der Bevölkerungen 
Englands und der Normandie bis zu dem Zeitpunkt, da beide Nationen 
nach Jahrhunderte langem Ringen sich allmählig einander näherten 
und zuletzt zu Einem Volke zusammenwuchsen. Durch die Schlacht 
bei Hastings war die angelsächsische Nation ihrer politischen Selbst- 
ständigkeit beraubt worden, die siegreichen Normannen vertheilten 
Land und Leute unter sich, und die angelsächsischen Bewohner Eng- 
lands wurden grösstentheils Unterthanen der Eroberer. Besiegt, aber 
keineswegs für die Dauer unterworfen, vergassen Jene ihre frühere 
Selbstständigkeit nicht, und während zwei Jahrhunderten wohnten beide 
Völker in beständiger Feindschaft neben einander. Der Geschicht- 
schreiber beschränkt sich absichtlich auf die Erzählung der Thatsachen 
und ihrer allgemeinen Resultate, er will nicht durch eigenes Raison- 
nement die Aufmerksamkeit des Lesers von dem Gegenstande ablenken. 
So erhält das Werk eine objektive Färbung und ein erhöhtes Interesse, 
Dabei hat Thierry einen grossen Fleiss auf die Form und den Styl 
seiner Arbeit verwandt, weil nach seiner Ansicht die Aufsuchung und 
die Kritik der Thatsachen nicht das Einzige ist, worauf der Geschicht- 
schreiber zu achten hat. So ist die Geschichte der Eroberung Eng- 
lands durch die Normannen ein historisches Kunstwerk im eigentlichen 
Sinn des Wortes, die vollendetste Arbeit des Verfassers, der nur die 
Erzählungen aus dem Zeitalter der Merowinger an die Seite gestellt 
werden können, mit dem Unterschied, dass die Letzteren nicht ein 
einheitliches Ganze bilden, sondern mehr als historische Novellen be- 
zeichnet werden können. Für die Geschichte der Eroberung Englands 
hat Thierry nicht nur die Chroniken und eigentlichen Geschichtswerke 
als Quellen benutzt, sondern auch die nationalen Ueberlieferungen und 
die alten Volkspoesien. Daher der epische Charakter der Erzählung, 
die zum Herzen dringt und dem Leser ein treues Bild der Lokali- 
täten und der handelnden Persönlichkeiten darbietet. Eine Analyse 
dieses Kunstwerkes ist fast unmöglich, weil ein Theil desselben noth- 
wendig in den andern eingreift; um dasselbe recht zu geniessen, dazu 
bedarf es einer wiederholten Lektüre. Dann erst ist der Leser im 
Stand, die Kunst unseres Geschichtschreibers richtig zu würdigen. 
Wir haben die Geschichte der Eroberung Englands durch die 
Normannen ein Drama genannt, und das Werk verdient in der That 
Wissenschaftliche Monatschrift. II. 9 


we 


—- 12 — 


diesen Namen wegen der dramatischen Behandlung des Stoffes, wegen 
der künstlerischen Zeichnung der Persönlichkeiten und der Situationen. 
Die Hauptrolle spielt das angelsächsische Volk, das gewissermassen 
als ein einzelnes Individuum erscheint, dessen Unglück die Theilnahme 
des Lesers in hohem Grad erregt, weil ein empfängliches Herz fast 
immer für den Unterdrückten Mitgefühl empfindet. Mit Spannung ver- 
folgen wir die Phasen des hartnäckigen Kampfes, welcher mit der 
gänzlichen Unterwerfung der Angelsachsen endigt. Mit Meisterhand 
hat Thierry die Scene von dem Tod Wilhelms des Eroberers ausge- 
führt. Der mächtige Fürst, der ein blühendes Reich vernichtet, eine 
kräftige Nation darnieder getreten hat, stirbt mit dem Bewusstsein des 
von ihm begangenen Unrechts, im Tode von allen seinen Anhängern, 
selbst von seinen Söhnen verlassen. Das Lebensende des Eroberers 
und die dasselbe begleitenden Umstände bewähren die Wahrheit des 
alten Satzes, dass Unrecht und Gewaltthat eine Zeit lang von Erfolg 
begleitet sein können, bis die rächende Hand des Schicksals plötzlich 
den Frevler erreicht und bestraft. Es wäre nicht leicht anzugeben, 
welche Parthie von Thierry’s Werk die gelungenste ist. Zu den glän- 
zendsten gehört unstreitig die Beschreibung der Schlacht bei Hastings. 
Thierry hat in diesem Genre sogar unseren Joh. Müller übertroffen, 
welcher, wie uns scheint, die Farben bisweilen zu lebhaft aufträgt. 
Thierry’s Erzählung ist einfacher, weniger geschmückt, ein Kunstwerk 
im antiken Styl, das in der französischen Geschichtsliteratur fast einzig 
dasteht. Nur Michelet hat in einzelnen Fragmenten seiner Geschichte 
Frankreichs im 16. Jahrhundert seinen Meister erreicht. Aber nicht 
allein in den allgemeinen Schilderungen zeigt sich das Talent Thierry’s, 
auch die kleinsten Einzelnheiten, die er anführt, sind gewissermassen 
nothwendig und dienen zur Charakteristik des Ganzen. Unser Ge- 
schichtsehreiber sagt selbst hierüber: „Es ist nothwendig, sich um 
Jahrhunderte rückwärts zu versetzen und sich den Menschen jener 
Zeit zu nähern. Man muss sie sich lebend und handelnd vorstellen 
können, das Land vertheidigend, wo der Staub ihrer Gebeine heute 
nicht mehr aufzufinden wäre. Desshalb die Menge einzelner That- 
sachen und unbekannter Namen, welche in die Erzählung eingeflochten 
sind. Dadurch wird die Phantasie des Lesers erregt, sie bevölkert 
von neuem das alte England mit den Normannen und den besiegten 
Angelsachsen des 11. Jahrhunderts, und man erhält ein anschauliches 
Bild der Verhältnisse, der Interessen und der verschiedenen Sprachen 
der beiden Völker, von der Freude und dem Uebermuth der Sieger, 


— 13 — 


von dem Elend und dem Schrecken der Besiegten, von allen den 
Folgen, welche der Kampf zwischen zwei Nationalitäten zu erzeugen 
pflegt. Sieben Jahrhunderte sind über diese Scenen hinweggegangen, 
aber für die Phantasie, für die historische Divination gibt es keine 
Vergangenheit und selbst die Zukunft wird zur Gegenwart.“ 

Der historische Ursprung des Nationalhasses, welchen die irische 
Bevölkerung gegen England noch in unseren Tagen hegt, ist nirgends 
so klar und anschaulich dargestellt, wie in dem Werke unseres Thierry. 
Der Geschichtschreiber weist nach, dass dieser Hass keineswegs auf 
der Verschiedenheit der Religion beruht, sondern dass er uralt ist 
und bis ins 12. Jahrhundert hinaufreicht. „Der Zeitpunkt, sagt Thierry, 
da dieser Hass aufhören wird, gehört einer unbekannten Zukunft an, 
die sich nicht vorherbestimmen lässt. Denn trotz der Vermischung 
der Racen und ungeachtet der Veränderungen jeder Art, welche im 
Verlauf der Jahrhunderte eingetreten sind, dauert die Abneigung gegen 
die englische Regierung als eine nationale Leidenschaft in der irlän- 
dischen Bevölkerung fort. Seit dem ersten Tage der Invasion haben 
die Irländer beständig gewollt, was die Eroberer nicht wollten, ver- 
abscheut, was jene liebten und geliebt, was jene verabscheuten. Das 
irische Volk, dessen Unglück zum Theil durch den Ehrgeiz der Päpste 
verursacht worden, hielt mit einer Art Wuth an dem Katholicismus 
fest, als England sich davon losgesagt hatte. Diese unbezwingbare 
Hartnäckigkeit, diese Eigenschaft, Jahrhunderte des Elendes hindurch 
die Erinnerung an die verlorene Freiheit zu bewahren und an einer 
oftmals besiegten Sache nicht zu verzweifeln, ist eine der interessan- 
testen und seltensten Erscheinungen in der Geschichte.“ 

Was wir in dem Werke unseres Historikers vermissen, ist ein 
allgemeiner, philosophischer Standpunkt. Es ist bereits bemerkt wor- 
den, dass Thierry alles Raisonnement vermeiden und nur im eigent- 
lichen Sinne des Wortes erzählen wollte. Insofern scheint es, als ob 
der Leser jenen Standpunkt von dem Geschichtschreiber nicht verlangen 
dürfe. Allerdings ist es nicht die Aufgabe des eigentlichen Historikers, 
zu philosophiren und sich in allgemeinen Abstraktionen zu bewegen, 
die Thatsachen sind es allein, die ihn beschäftigen. Was wir also in 
dem Werke unseres Thierry vermissen, das ist eine einfache Hindeu- 
tung darauf, dass die Vernichtung der angelsächsischen Nationalität 
durch die Normannen allerdings für die Besiegten ein Unglück, für 
die Geschichte der europäischen Menschheit aber ein in seinen letzten 


Folgen sehr wohlthätiges Ereigniss gewesen. Die nächste Folge der 


— 124 — 


Verschmelzung der Angelsachsen und der Normannen war die Ent- 
stehung der englischen Verfassung, deren erste Grundlagen im 12. 
und 13. Jahrhundert gelegt wurden. Was in der Geschichte -als eine 
Zerstörung, als ein Unglück erscheint, das ist meist niehts Anderes 
als die langsame Vorbereitung neuer lebenskräftiger Elemente. 
Darauf hätte Thierry mit ein Paar Worten hindeuten sollen, und 
- dadurch hätte sein historisches Drama einen versöhnenden und beru- 
higenden Schluss erhalten. Die Theilnahme des Geschichtschreibers 
für die Besiegten macht seinem Herzen Ehre, aber er hat sich nicht 
zu der Ansicht erheben können, dass eine Eroberung, wie diejenige 
Englands durch die Normannen, ebenso sehr durch die politischen 
und moralischen Zustände des angegriffenen Volkes als durch die 
militärische Ueberlegenheit der Eroberer bedingt wird. Gewiss! Die 
physische Kraft hilft zur Durchführung einer Eroberung, aber möglich 
wird dieselbe erst durch die Verhältnisse und Zustände des ange- 
griffenen Volkes. Mag das Heer Wilhelms des Eroberers noch so 
zahlreich gewesen sein, niemals hätte es England in Besitz nehmen 
können, wenn nicht dieses sich selbst als eine leichte Beute darge- 
boten hätte. Montesquieu sagt: „Wenn ein grosses Reich durch den 
Verlust einer einzigen Schlacht gestürzt wird, so liegt die Ursache 
hievon in den inneren Verhältnissen dieses Reiches, in den Mängeln 
und Gebrechen, welche bei der ersten Erschütterung ans Tageslicht 
treten.* Dieses allgemeine Gesetz gilt auch für die Zustände des 
angelsächsischen Reiches unmittelbar vor der Eroberung. Wenn die 
Normannen sich auf dem Boden Englands festsetzen konnten, so ge- 
schah dies desshalb, weil die angelsächsischen Stämme die Kraft nicht 
besassen, eine mächtige Nation zu bilden, welche den andern Völkern 
den Eintritt in ihr Land verwehren und sich zu einem lebenskräftigen 
Gemeinwesen erheben konnte. Es fehlte nach Thierry’s eigener Er- 
zählung diesem Lande die politische Einheit. Vor der Ankunft der 
Normannen bekämpften sich die einzelnen Stämme der Angelsachsen 
gegenseitig, die nationale Anarchie wurde nur selten durch einen 
kräftigen Herrscher darniedergehalten. Grossbritanien bot in dieser 
Hinsicht einen ähnlichen Anblick dar, wie Gallien zur Zeit Cäsars. 
Nach wie vor der Eroberung blieben die Angelsachsen getrennt, sie 
machten nur vereinzelte, schlecht angelegte und darum erfolglose Ver- 
suche, die verlorene Freiheit wieder zu erlangen. Sie standen den 
Normannen an Civilisation, Intelligenz und vor Allem aus an Kriegs- 
kunst weit nach. Diese besassen eine gewisse nationale Einheit. Die 


— 15 — 


Verschmelzung beider Völker trat nur allmählig ins Leben, aber als 
letztes Resultat ging aus diesem Kampfe die englische Nation, die 
englische Verfassung hervor. Mit grosser Kunst hat Thierry das Elend 
geschildert, welches die normännische Eroberung für die Besiegten 
zur Folge hatte, aber er hat versäumt, die Zustände des angelsäch- 
sischen Reiches unmittelbar vor der Eroberung in dem richtigen Lichte 
darzustellen. Jahrzehente vor der Ankunft der Normannen herrschte 
unter den Angelsachsen Unordnung und Verderbniss. Mord, Prosti- 
tution und die schändlichsten Laster waren die Symptome einer bei- 
nahe allgemeinen Corruption. Die angelsächsischen Geschichtschreiber 
aus jener Zeit erzählen, dass ein Heiliger ihres Volkes dessen Be- 
strafung als von Frankreich ausgehend vorhergesagt habe. Der König 
Edward liess sich durch den Glanz seiner Regierung nicht täuschen 
und verkündigte, dass das Reich in die Hände seiner Feinde fallen 
werde, weil die weltlichen und geistlichen Grossen des Landes sich 
zu Werkzeugen des Satans erniedrigt hätten. Er betete zu Gott, dass 
sein Volk vor der Rache des Himmels verschont bleiben möchte. 

Fassen wir das Vorhergehende zusammen, so geht daraus her- 
vor, dass Thierry allerdings die Zustände der angelsächsischen Be- 
völkerung Englands vor der Eroberung zu wenig berücksichtigt hat. 
Durch jene Zustände wurde die Eroberung möglich, und der Histo- 
riker hätte nothwendig sich zu diesem allgemeinen Standpunkt erheben 
sollen, weil die Geschichte nicht bloss Thatsachen zu erzählen, son- 
dern zugleich auch Ursache und Wirkung in ihrem nothwendigen Zu- 
sammenhang nachzuweisen hat. Darauf gründet sich der bereits er- 
wähnte Vorwurf, dass Thierry der historischen Kunst zu’ liebe manche 
Ereignisse und Zustände, welche auf seine Angelsachsen ein ungün- 
stiges Licht werfen mussten, unberücksichtigt gelassen habe. Um hier- 
über ein bestimmtes Urtheil abzugeben, das wäre nur durch ein sorg- 
fältiges Studium der von Thierry benutzten Quellen möglich. Wir 
wollen seine Vorliebe für die Besiegten nicht tadeln, auch nicht kleine 
Fehler seiner Geschichtswerke aufdecken, sondern eher die trefflichen 
Eigenschaften, derselben bewundern. 

Entschieden unbegründet sind die Vorwürfe, welche von gewissen 
Kritikern!) unserem Geschichtschreiber gemacht worden sind, weil er 
sich in seinem Werke in eigenthümlicher Weise, d. h. freimütbig über 
das Papstthum ausgesprochen hat. „Bisher, sagt Thierry, haben unsere 


1) Revue Contemporaine. Artikel von Nettement. 


— 126 — 


Historiker die Ausbreitung der päpstlichen Macht als eine geistige 
Eroberung dargestellt; es ist aber gewiss, dass das Papstthum wie 
jede andere Macht sich sehr oft weltlicher Mittel bedient hat. Wenn 
die Päpste nicht selbst zu Felde zogen, so haben sie wenigstens die 
grossen Eroberungszüge mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln 
unterstützt und zu fördern gesucht. Sie haben es sogar nicht ver- 
schmäht, heidnischen Völkern gegen christliche ihren Beistand zu leihen. 
Die Zerstörung der unabhängigen Kirchen, ‚welche in dem christlichen 
Europa allmählig durchgeführt wurde, gab dem Begriff von einer all- 
gemeinen römischen Kirche eine gewisse Realität. Alle Eroberungen 
seit dem 5. bis ins 13. Jahrhundert brachten nicht allein Denjenigen 
Vortheil, welche sich dabei mit dem Schwert und der Lanze bethei- 
ligten, sondern sie vermehrten zugleich auch die Macht und das An- 
sehen der Päpste.“ Diese Stellung hat nach Thierry das Papstthum 
auch bei der Eroberung Englands durch die Normannen eingenommen. 
Vor Wilhelm dem Eroberer war die angelsächsische wie die irlän- 
dische und schottische Kirche beinahe unabhängig vom römischen 
Stuhl, welcher in den Normannen ein gefügiges Werkzeug erblickte, 
um seine Plane durchzuführen. Diese Thatsachen hat‘ Thierry nicht 
erfunden, er weist nur mit besonderer Bestimmtheit darauf hin. Wenn 
also ein ultrakatholischer Kritiker daran Anstoss genommen und die 
in Thierry’s Werk enthaltenen Fakta zu bestreiten und zu widerlegen 
versucht hat, so können wir eine solche Kritik ruhig mit Stillschweigen 
übergehen. Die Geschichte der Eroberung Englands durch die Nor- 
mannen ist und bleibt ein Meisterwerk der französischen Geschichts- 
literatur. 

Der Erfolg dieser Arbeit kam dem Verfasser theuer zu stehen. 
So viele Anstrengungen und Nachtwachen hatten seine Gesundheit zer- 
stört, seine Augen hatten beinahe alle Sehkraft verloren. Thierry er- 
zählt selbst, wie er bei der Vollendung seines Werkes beinahe voll- 
ständig blind geworden war. Nachdem er ohne viel Erfolg alle mög- 
lichen Heilmittel versucht hatte, rieth man ihm zu reisen. Unser 
Geschichtschreiber besuchte daher, von seinem Freunde Fauriel be- 
gleitet, dieSchweiz und die Provence. Unfähig zu lesen und zu schreiben, 
studirte er während dieser Reise die Baudenkmäler des Mittelalters. 
„Zur Unthätigkeit verdammt, sagt Thierry, folgte ich von Stadt zu 
Stadt meinem fleissigen Reisegefährten, nicht ohne Neid sah ich ihn 
die Archive und Bibliotheken studiren, um ein Werk zu vollenden, 
welches eine grosse Lücke in unserer nationalen Geschichte ausfüllen 


— 17 — 


sollte.!) Das sind die letzten Wehrnehmungen, welche meine Seh- 
kraft mir noch gestattete, ein Jahr später war das Licht meiner Augen 
gänzlich erloschen.“ In den ersten Monaten des Jahres 1826 kehrte 
Thierry erblindet nach Paris zurück. Der muthige Soldat der Wissen- 
schaft verliess aber den Posten nicht, auf welchem er verwundet wor- 
den war. Ein junger Mann, welcher sich später eine grosse, leider 
nur kurz dauernde Berühmtheit als Publizist und Politiker erwarb, 
Armand Carrel, wurde Thierry’s Sekretär. Beide waren bald ver- 
traute Freunde, und unser Geschichtschreiber sah in den glänzenden 
Anlagen seines Mitarbeiters dessen Zukunft voraus. Thierry hatte 
damals den Plan gefasst, mit seinem Freunde Mignet ein grosses Ge- 
schichtswerk zu bearbeiten, welches alle Originaldokumente der fran- 
zösischen Geschichte vom 5. bis zum 17. Jahrhundert in eine fort- 
laufende Erzählung zusammenfassen sollte. Alles ging nach Wunsch, 
so lange die beiden Historiker nur mit den Vorstudien beschäftigt 
waren. Als sie aber die gesammelten Materialien verarbeiten wollten, 
da erst zeigten sich die Schwierigkeiten einer solchen Arbeit, und 
zuletzt gaben sie dieselbe auf. Thierry hatte beabsichtigt, jedes Jahr- 
hundert seine eigene Geschichte gewissermassen selbst erzählen zu 
lassen, Mignet war dafür, den Stoff nach allgemeinen Gesichtspunkten 
zu ordnen und zu verarbeiten. Sie konnten sich nicht zu einem 
Mittelweg entschliessen und so blieb die Arbeit ein blosser Entwurf. 
Thierry sah sich desshalb veranlasst, seine ersten historischen Ver- 
suche wieder vorzunehmen, welche 1827 unter dem Titel „Lettres sur 
Vhistoire de France* als ein besonderes Werk erschienen. Die erste 
Auflage war schnell vergriffen und es erschien daher 1828 bereits 
eine zweite, welche bedeutend verändert und um 10 Briefe vermehrt 
worden war. Während Thierry die Herausgabe seiner ersten histo- 
rischen Arbeiten besorgte, studirte sein Bruder Amedee die celtischen 
Alterthümer, die Geschichte der Gallier vor und während der Römer- 
herrschaft. Chateaubriand, welcher sich mit denselben Gegenständen 
beschäftigt hatte, spendet den beiden Brüdern ein schönes Lob, in- 
dem er ia der Einleitung zu seinen „Etudes historiques“ sagt: „Ihre 
Arbeiten haben mich bei meinen Studien ebenso sehr gefördert als 
entmuthigt.* 

Obgleich Augustin Thierry sich möglichst schonte, so nahm! dessen- 
ungeachtet seine Gesundheit und seine Kraft immer mehr ab. „So 


1) Geschichte Galliens zur Zeit der Römer. 


— 133 — 


ausgedehnt auch der Umfang meiner Arbeiten war, sagt er selbst, 
meine damals vollständige Blindheit hätte mich an der Ausführung 
derselben nicht verhindert, ich ergab mieh in mein Schicksal, wie es 
einem Manne von Muth geziemt, ich hatte Freundschaft mit der Finster- 
niss geschlossen, aber andere Prüfungen kamen hinzu, stechende Kopf- 
schmerzen und die Abnahme meiner Kräfte waren die Symptome einer 
nervösen Krankheit der gefährlichsten Art. Ich war gezwungen, mich 
besiegt zu erklären, und um die letzten Reste meiner Gesundheit zu 
retten, verliess ich Paris im Oktober 1828. Wenn die Aufopferung 
für die Wissenschaft, wie ich gern glaube, ehrenvoll ist, so habe ich 
dem Vaterland einen ähnlichen Dienst erwiesen, wie der Krieger, welcher 
auf dem Schlachtfeld verstümmelt wird. Ich wünsche, dass mein Vor- 
bild dazu diene, die moralische Erschlaffung, die Krankheit unseres 
Jahrhunderts, zu bekämpfen, dass durch dasselbe irgend eine jener 
entnervten Seelen, welche an nichts glauben und nirgends einen festen 
Haltpunkt finden, auf den richtigen Weg des Lebens geführt werden 
möge. Warum mit so viel Bitterkeit behaupten, dass in der Welt, 
wie sie einmal geschaffen, nicht jede Intelligenz ihre Richtung und 
ihre natürliche Bahn finden könne? Sind nicht die ernsten Studien 
da, und bieten sie nicht eine Zuflucht, eine Hoffnung, eine Laufbahn 
dar für jeden von uns? Vermittelst jener Studien überlebt man die 
schlimmen Tage, ohne das Drückende derselben zu empfinden, man 
bereitet sich selbst sein Geschick, man lebt auf würdige Weise. Das 
habe ich gethan, und wenn ich meine Laufbahn nochmals beginnen 
sollte, ich würde denselben Weg einschlagen. Blind und fortwährend 
leidend, kann ich das auf eigener Erfahrung beruhende Zeugniss ab- 
geben, dass es in der Welt etwas gibt, was mehr werth ist, als ma- 
terielle Genüsse, mehr werth als eitle Glücksgüter, mehr werth als 
die Gesundheit, nämlich die Begeisterung für die Wissenschaft.* 

Ein solches Glaubensbekenntniss macht unserem Thierry nicht 
bloss als Forscher, sondern auch als Menschen Ehre. Sehr begreiflich, 
dass diese herrlichen Worte bei gewissen Kritikern Anstoss erregt 
haben.!) Einer derselben erwiderte darauf: „Thierry’s Lebensanschau- 
ung ist diejenige des Alterthums, die der letzten Römer. Vor acht- 
zehn Jahrhunderten hat aber eine göttliche Stimme mitten in dem ver- 
achteten Judäa die Menschen eine andere Lebensregel gelehrt; nicht 
der Wissenschaft als solcher sollen wir uns widmen, sondern der Ver- 


1) Revue Contemporaine 1852. Artikel von Nettement. 


3 Ya 


— 129 — 


wirklichung des Sittlich-Guten, nicht in uns die Wahrheit suchen, son- 
dern in Gott.* Wir wollen an der Aufrichtigkeit des christlichen 
Zeloten nicht zweifeln, und uns nur auf Eine Bemerkung beschränken. 
Die Wissenschaft, wie sie von Thierry und seinen Gesinnungsgenossen 
gepflegt wurde und noch gepflegt wird, hat als letzten Zweck die Er- 
forschung und Verbreitung der Wahrheit. Das Wahre und das Sittlich- 
Gute sind aber Ein und Dasselbe, und der richtigste Weg dazu ist 
und bleibt die Wissenschaft. 

Im Februar 1830 erlebte die Geschichte der Eroberung Englands 
bereits eine dritte Auflage. Bald nachher trat die Julirevolution ein, 
welches Ereigniss unser Thierry schon längst geahnt und vorhergesagt 
hatte. Die Charte von 1830 war, wie er glaubte, das letzte Ziel 
der demokratischen Bewegung Frankreichs, deren erste Anfänge unser 
Geschichtschreiber in den Bestrebungen der Kommunen des Mittelalters 
erblickt hatte. Vergleicht man die ersten historisch-politischen Arbeiten 
Thierry’s mit seinen Aeusserungen über die Julirevolution und deren 
Resultate, so fällt es auf, dass der Historiker, während der Restau- 
ration ein Anhänger der äussersten Linken, die Regierung Louis- 
Philippe’s nicht bloss als einen Fortschritt, sondern gewissermassen 
als das letzte Ziel der französischen Revolution begrüsst. Ganz an- 
ders urtheilte sein Freund und Schüler, Armand Carrel, welcher eine 
Revolution, die nicht zur Republik führte, als ein unfruchtbares und 
lächerliches Unternehmen bezeichnete. Thierry war aber im Grund 
mehr ein Gelehrter als ein Politiker, und seine Ansichten hatten sich 
im Lauf der Zeit gemässigt. Es geschieht so oft, dass die edelsten 
Charaktere sich in ihren politischen Anschauungen und Hoffnungen 
getäuscht sehen, wesshalb es ungerecht wäre, Thierry darum Vorwürfe 
zu machen, dass er seinen früheren radikalen Standpunkt theilweise 
wenigstens verlassen hat. Was derselbe bei der Revolution des Jahres 
1830 lebhaft bedauerte, das war die Auswanderung, welche dies Er- 
eigniss von dem Gebiet der Wissenschaft und der Literatur auf das- 
jenige der Politik zur Folge hatte. „Die Julirevolution, sagt er, ist 
der Wissenschaft und den literarischen Studien nachtheilig gewesen, 
sie hat auf alle Gebiete administrativer Thätigkeit die junge Schule 
von Historikern zerstreut, welche schlimme Zeiten vereinigt hatten. 
Die Meisten, welche etwas Tüchtiges leisteten, oder im Begriff waren, 
es zu thun, haben öffentliche Aemter angenommen. Sie sind ver- 
schwunden, Lehrer und Schüler, in Regionen, von wo man nicht leicht 
zurückkehrt und wo man oft selbst die Erinnerung an die gemachten 


— 130 — 


Studien verliert. Die Vorkämpfer der studirenden Jugend sind nicht 
mehr in ihren einflussreichen Stellungen. Auf die historische Wissen- 
schaft, welche sich mit Thatsachen und positiven Zeugnissen beschäf- 
tigt, sind metaphysische Methoden und Systeme angewandt worden, 
die Geschichte hat ihre eigentliche Bahn verlassen, um sich in syn- 
thetischen Formeln und Abstraktionen zu bewegen,“ 

Thierry blieb der Wissenschaft treu, denn die Erblindung, die 
Folge seiner emsigen Studien, machte ihn unfähig für jede Art poli- 
tischer oder administrativer Thätigkeit. Er setzte desshalb seine histo- 
rischen Arbeiten mit einer gewissen Seelenruhe und Heiterkeit des 
Geistes fort. Thierry war zufrieden, seine Freunde und seine Ideen 
hatten ja gesiegt. 

Nicht allein die politischen Ansichten unseres Historikers hatten 
sich im Lauf der Zeit gemässigt, auch seine historischen Anschauungen 
und Theorien waren durch fortgesetzte Studien vervollkommnet und 
geläutert worden. Diese Aenderung zeigt sich namentlich in den „Con- 
siderations sur l'histoire de France“, ein Werk, das ursprünglich nur 
die Einleitung zu den wichtigen Arbeiten bilden sollte, welche der 
Geschichtschreiber in den Jahren 1833 bis 1837 unter dem Titel: 
„Neue Briefe über französische Geschichte* in der Revue des deux 
mondes veröffentlichte. Diese Briefe erhielten später die Bezeichnung 
„recits des temps Merovingiens*“, wodurch ihr Inhalt angedeutet wird. 

Indem Thierry diese abgerissenen Erzählungen mit seinen allge- 
meinen Ideen über die ältere französische Geschichte in Einklang bringen 
wollte, wurde er darauf geführt, die verschiedenen historischen Systeme 
zu prüfen, welche seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften bis 
auf seine Zeit die französische Geschichtschreibung beherrscht hatten. 
Dann legt sich Thierry die Frage vor, ob es in der Gegenwart ein 
neues System gebe, das den Mittelpunkt der französischen Geschicht- 
schreibung bilde, und auf die Mängel des bestehenden Systems hin- 
weisend, versucht er die Lücken desselben auszufüllen. So wurde 
diese Vorrede ein besonderes Werk, welches als der vollendetste Aus- 
druck von des Verfassers Ansichten über die gesammte französische 
Geschichte und Geschichtschreibung betrachtet werden kann. 

In den Considerations sur l’histoire de France werden nicht eigent- 
liche Geschichtswerke besprochen, sondern nur solche Arbeiten, die, 
auf geschichtsphilosophischer Basis sich bewegend, ein Raisonnement 
enthalten über die älteren Zustände Frankreichs, Werke, die auf die Ge- 
sammtheit der geschichtlichen Erinnerung von Einfluss gewesen. Thierry 


— 131 — 


will hiebei, dem Vorbild Villemains folgend, den geistigen Zusammen- 
hang berücksichtigen, in welchem diese Erzeugnisse der historischen 
Literatur zu ihrer Zeit stehen. 

In den ersten Abschnitten seiner Arbeit anerkennt der Verfasser, 
dass im 12, Jahrhundert jede Tradition von der ursprünglichen Ver- 
schiedenheit der nationalen Elemente, von der Unterscheidung in Er- 
oberer und Besiegte, in Franken und Gallo-Römer verschwunden war. 
In seinen ersten Schriften hatte Thierry das Entstehen der Kommunen 
als das Resultat einer allgemeinen Insurrektion dargestellt. Diesmal 
gesteht er zu, dass die freien Verfassungen der französischen Städte 
im 12. und 13. Jahrhundert oft durch Gewalt, oft aber auch durch 
gütliche Uebereinkunft ins Leben gerufen worden seien, wie denn über- 
haupt zu allen Zeiten grosse sociale Veränderungen gewaltsam oder 
auf friedlichem Wege und durch Transaktion zu Stande kämen, Die 
Entstehung der französischen Kommunen des Mittelalters gehört zu 
den dunkelsten Parthien der französischen Geschichte, und selbst die 
trefflichen Fragmente Thierry’s so wenig als die Arbeiten von Guizot, 
obgleich manches Licht verbreitend, sind nicht genügend, um den 
Gegenstand vollständig aufzuhellen. Erst Louis Blane war es vorbe- 
halten, in dem ersten Band seiner Revolutionsgeschichte mit Bestimmt- 
heit und Klarheit den Ursprung der französischen Städteverfassungen 
nachzuweisen. Dadurch verlieren aber die Forschungen Thierry’s nichts 
an ihrem Werth, sie waren die Grundlage, auf welcher Louis Blane 
fortgebaut und vermittelst deren er die richtige Ansicht festgestellt hat. 

In den Considerations urtheilt Thierry mit mehr Mässigung über 
seine Vorgänger als in den früheren Schriften. Der Tadel, den Cha- 
teaubriand in seinen Etudes historiques ausgesprochen, hatte seine 
Wirkung nicht verfehlt. Thierry entschuldigt sich, indem er sagt: 
„Es sei ferne von mir, den Ruhm der grossen Gelehrten vor der Re- 
volution zu verkleinern. Welches immer der gegenwärtige und zu- 
künftige Fortschritt unserer historischen Wissenschaft sein mag, jener 
Ruhm wird bleiben. Die Werke der Benediktiner von Saint-Maur 
und Saint-Vannes und die der gelehrten Laien, welche jene nachge- 
ahmt haben, sind, wie ein genialer Schriftsteller gesagt hat, die un- 
erschöpfliche Quelle, aus welcher wir alle schöpfen. Sie haben eine 
ganze Welt von Thatsachen gesammelt und ans Tageslicht gezogen, 
welche lange in dem Staub der Archive begraben waren. Sie haben 
die Chronologie, die Geographie, die Kritik der französischen Ge- 
schichte begründet.“ 


— 12 — 


So sind die Considerations ein in jeder Beziehung vorzügliches 
Werk, vollkommener und gereifter als die Briefe über die Geschichte 
Frankreichs, in welchen die bisweilen noch mangelhaften Studien Thierry’s 
während seiner ersten literarischen Periode niedergelegt sind. 

Von besonderem Interesse sind diejenigen Abschnitte der Consi- 
derations, in welchen Thierry die französische Geschichtschreibung, 
wie sie sich seit 1820 ausgebildet hat, charakterisirt. Mit Hochach- 
tung spricht der Historiker von Villemain und Guizot, was insofern 
auffallend ist, weil der historische Standpunkt Thierrys und derjenige 
von Guizot durchaus verschieden ist. Die gelungensten Arbeiten unseres 
Historikers, die Geschichte der Eroberung Englands durch die Nor- 
mannen und die Erzählungen aus dem Zeitalter der Merowinger sind 
objektive Kunstwerke, Guizot dagegen ist ein Doktrinär, der die ge- 
schichtlichen Thatsachen nach gewissen allgemeinen Gesetzen ordnet 
und in ein organisches Ganze zu vereinigen sucht. Seine Arbeiten 
über die Geschichte der Civilisation Frankreichs und Europas enthalten 
schöne, lichtvolle Parthien, glänzende und neue Gedanken, aber diese 
äusseren Eigenschaften, die Politur des Styls und die Leichtigkeit, 
mit welcher der Verfasser seinen Stoff zu behandeln versteht, alles 
das ist mehr eine glänzende Aussenzeite, die nur den oberflächlichen 
Leser täuschen kann. Guizots Geschichtswerke lassen den Leser kalt, 
weil derselbe nur ein herz- und gesinnungsloser Rhetor, nicht aber 
ein Historiker im eigentlichen Sinn des Wortes ist. Ganz anders 
Thierry, aus dessen objektiv gehaltenen Werken überall eine kern- 
hafte, männliche Ueberzeugung, ein freisinniger Standpunkt dem Leser 
entgegentritt. Hier fühlt man sofort heraus, dass der Verfasser ein 
ehrenwerther Charakter ist, welcher in der Geschichtschreibung nicht 
eine geistreiche Deklamation, sondern eine Wissenschaft und eine er- 
habene Kunst erblickt. 

Diese Eigenschaften zeigt Thierry auch in den reeits des temps 
Merovingiens, neben der Geschichte der Eroberung Englands durch 
die Normannen die vollendetste Arbeit des Historiker. Man hat dar- 
über gestritten, welches von diesen beiden Werken den Vorzug ver- 
diene. Die Geschichte der Eroberung Englands ist ein vollständiges, 
künstlerisch durchgeführtes Drama, ein Geschichtswerk im eigentlichen 
Sinn des Wortes. Die Erzählungen aus dem Zeitalter der Merowinger 
sind blosse Fragmente, die allerdings durch eine gewisse Einheit unter 
sich verbunden sind; wir möchten sie aber eher als historische No- 
vellen, denn als ein eigentliches historisches Werk bezeichnen, ohne 


— 13 — 


” damit sagen zu wollen, dass der Verfasser sich nicht überall, selbst 
in den Einzelnheiten, auf dem Boden der Geschichte bewege. Diese 
Erzählungen stehen in der modernen historischen Literatur so zu sagen 
einzig da, und verdienen darum hier eine einlässlichere Besprechung. 

Keine Periode in der Geschichte des Mittelalters gleicht an Ver- 
wirrung und Trockenheit derjenigen der Merowinger. Es ist das die- 
jenige, welche man in den gewöhnlichen Handbüchern und selbst in 
grösseren Geschichtswerken abkürzt und an der man ohne Bedenken 
schnell vorübergeht. Diese Geringschätzung beruht aber mehr auf 
Trägheit als auf Ueberlegung. Die Geschichte der Merowinger ist 
schwierig zu entwickeln und anschaulich darzustellen, aber keineswegs 
trocken. Sie ist reich an sonderbaren Begebenheiten, an originellen 
Personen, an poetischen und grandiosen Ereignissen, so dass man 
allerdings Mühe hat, einen solchen Stoff übersichtlich zu ordnen. Der 
wesentliche Charakter dieser Periode besteht in dem Antagonismus und 
in dem allmähligen Verschmelzen verschiedener Racen oder Völker- 
schaften auf demselben Boden. Durch einen glücklichen Zufall ist 
diese Periode gerade diejenige, deren Originaldokumente mehr charak- 
teristische Details darbicten als die irgend einer anderen Periode der 
älteren französischen Geschichte. Das Zeitalter der Merowinger hat 
einen Geschichtschreiber gefunden in einem Zeitgenossen, einem ver- 
ständigen nnd betrübten Zeugen jener Verwirrung der Menschen. und 
der Zustände, jener Verbrechen und Katastrophen, wodurch der gänz- 
liche Verfall der alten Civilisation herbeigeführt wurde. Bis auf Froissart 
hat Frankreich keinen Geschichtschreiber aufzuweisen, welcher Gregoire 
von Tours gleichkommt in der Kunst der Scenirung und in der Malerei 
durch den Dialog. Der Eindruck, welchen die Lektüre dieses Chro- 
nisten auf Thierry hervorbrachte, hatte zur Folge, dass er sich mit 

" dem Zeitalter der Merowinger einlässlicher beschäftigte. Die Resultate 
dieser Studien erschienen, wie bereits gesagt wurde, unter dem Titel 
„Neue Briefe über die Geschichte Frankreichs“ von: 1833 bis 1837 
in.der Revue des deux mondes. Später kam noch ein Brief hinzu, 
und Thierry veröffentlichte das Ganze als ein besonderes Werk unter 
dem Titel „Recits des temps Me&rovingiens.* 

Diese Erzählungen enthalten keine fortlaufende Geschichte des 
merowingischen Zeitalters, welche die allgemeinen politischen Ereig- 
nisse zum Faden hätte, Thierry theilt vielmehr seinen Stoff in ein- 
zelne Gruppen, deren jede das Leben und die Schicksale einer oder 
mehrerer Persönlichkeiten zum Mittelpunkt hat. An die Geschichte 


— 134 — 


dieser Persönlichkeiten knüpft sich die Schilderung der Zeit, in welcher 
sie gelebt haben. Thierry’s Erzählungen tragen daher alle einen all- 
gemeinen Charakter an sich, die historischen Figuren stehen zwar im 
Vordergrund, aber hinter ihnen zeigt der Geschichtschreiber in bunter 
Reihenfolge die Tableau’s, welche das Zeitalter der Merowinger ver- 
anschaulichen sollen. Die Geschichte des Bischofs Prätextatus ist das 
Gemälde eines gallo-fränkischen Coneils, die des merowingischen Prinzen 
Merowig zeigt uns das Leben des Geächteten, das Innere der klöster- 
lichen Asyle, die Geschichte der Königin Galesswinthe veranschaulicht 
das eheliche Leben und die häuslichen Sitten in den Palästen der 
fränkischen Könige, endlich die Schilderung des an Sighebert verübten 
Meuchelmordes zeichnet den Nationalhass der austrasischen Franken 
gegen die Bewohner Neustriens. 

Ueber die Anlage und den Zweck seines Werkes sagt Thierry: 
„Wenn die Einheit der Komposition diesen abgerissenen Erzählungen 
mangelt, so ist der Eindruck, welchen sie in dem Leser hervorbringen 
sollen, dessenungeachtet ein einheitlicher. Ich war bemüht, die Lebens- 
weise der fränkischen Könige, die Eigenthümlichkeiten ihres Haushaltes, 
das bewegte Treiben der weltlichen und geistlichen Grossen, die Bürger- 
kriege und die Rohheit eines barbarischen Zeitalters zu schildern. Diese 
bunten Gemälde sind entworfen nach den Ueberlieferungen der alten 
Chronisten, und ihre Gesammtheit soll ein Bild darbieten von den Zu- 
ständen Galliens in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts.“ Den 
Charakter und die Schicksale der einzelnen historischen Persönlichkeiten 
hat unser Historiker bis in die kleinsten Details hinein gründlich stu- 
dirt, und es ist seiner Kunst gelungen, diesen Persönlichkeiten Leben 
einzuhauchen. Die berühmtesten derselben, gewissermassen allgemeine 
Typen des merowingischen Zeitalters, sind die Königin Fredegonde, 
deren Gemahl Hilperik, der Feldherr Eonius Mummolus und der Bischof 
Gregor von Tours. Fredegonde ist das Ideal barbarischer Rohheit 
und Lasterhaftigkeit, Hilperik zeigt uns den Barbar, der an der Civi- 
lisation Gefallen findet, ohne dabei seine Natur und Herkunft zu ver- 
läugnen. Mummolus ist durch Geburt und Kenntnisse der Repräsentant 
römischer Gesittung. Der Geschichtschreiber Gregor von Tours ist ein 
Romantiker, der in der Vergangenheit lebt, der die Finsterniss und 
das wüste Treiben seiner Zeit bedauert. 

Es fällt schwer, ein so vollendetes Kunstwerk wie die r&eits des 
temps M£rovingiens zu kritisiren. Wer diese historischen Novellen zu 
lesen anfangt, legt das Buch nicht weg, ohne die Lektüre vollendet 


“ 


zu haben. Man hat Thierry’s Erzählungen den Romanen Walter Seott’s 
an die Seite gestellt. Beide Männer haben Meisterwerke geschrieben, 
welche ein Beweis dafür sind, dass der Geschichtschreiber, der wirk- 
lich diesen Namen verdient, nicht nur ein Gelehrter, sondern zugleich 
auch ein Künstler im wahren Sinn des Wortes sein muss. 

Ein unermüdlicher Arbeiter, begnügte sich Thierry nicht mit den 
Erfolgen, welche er durch die Geschichte der Eroberung Englands und 
durch die Erzählungen aus dem Zeitalter der Merowinger errungen 
hatte. Während’ der vierziger Jahre beschäftigte er sich mit der Ge- 
schichte des dritten Standes, ein Gegenstand, welcher seit 50 Jahren 
oft in politischen Broschüren und Pamphleten, noch niemals aber in 
einem eigentlichen Geschichtswerk besprochen worden war. Bevor 
Thierry seine Arbeit vollendet hatte, trat die Revolution des Jahres 
1848 ein. „Ich habe, sagt unser Geschichtschreiber, den Einfluss 
dieser Revolution in doppelter Weise verspürt. Durch die Bewegung 
des Jahres 1848, welche an die schlimmsten Zeiten der ersten Re- 
volution erinnerte, schien die Geschichte Frankreichs gewissermassen 
umgestürzt und in ein ganz anderes Stadium eingetreten. Entmuthigt 
hatte ich meine Arbeit unterbrochen und die Geschichte des dritten 
Standes, welche bis auf die Zeit Ludwigs XIV. geführt war, blieb 
unvollendet. Ich konnte die Veröffentlichung des Werkes bis zu dessen 
Vollendung verschieben, oder aber den bereits ausgearbeiteten grösseren 
Theil, die Resultate fünfjähriger Studien als ein Fragment publiziren, 
Die Rücksicht auf die kurze Dauer des Lebens, die für mich wie für 
jeden Anderen ungewissen Wechselfälle desselben und ehrenvolle Ein- 
ladungen bewogen mich, das Werk unvollendet der Oeffentlicheit zu 
übergeben.“ 

Vergleicht man die Geschichte des dritten Standes mit den Con- 
siderations sur l'histoire de France, so ist der Fortschritt, welchen 
Thierry’s Studien und Ansichten über französische Geschichte gemacht, 
unverkennbar. Von vorne herein verwahrt sich unser Geschichtschreiber 
gegen den Vorwurf, dass er in seiner Arbeit die Rolle, welche der 
Klerus und der Adel in der französischen Geschichte gespielt, mit 
Stillschweigen übergangen habe. Weil die Geschichte dieser beiden 
Stände schon mehrmals in ähnlichen Werken behandelt worden, so 
spricht Thierry von ihnen nur dann, wenn ihre Bestrebungen mit den- 
jenigen des dritten Standes freundlich oder feindlich zusammentrafen. 
Uebrigens anerkennt der Historiker den grossen und wohlthätigen Ein- 
fluss, welchen die Geistlichkeit während des Mittelalters auf das fran- 


— 136 — 


zösische Volk.ausgeübt hat, zu einer Zeit, da das Königthum machtlos 
und die Etats-generaux noch eine unbekannte Institution waren. Ebenso 
anerkennt Thierry den Einfluss des Adels auf die französische Ge- 
sellschaft, insofern sich derselbe durch die Begründung des Ritterthums, 
durch die Pflege des Nationalgefühls dauernden Ruhm in der franzö- 
sischen Geschichte erworben, in einer Periode, da der Patriotismus 
der Bourgeoisie, an lokale Interessen geknüpft, sich noch nicht über 
die engen Schranken der einzelnen Städte hinauswagte. 

Die Geschichte des dritten Standes enthält gewissermassen die 
Uebersicht von Thierry’s Forschungen über französische Geschichte, sie 
ist das vollendetste Resultat seiner Arbeiten auf diesem Gebiete, nir- 
gends erhebt sich der Verfasser zu der Klarheit und Unpartheilichkeit, 
durch welche sich dieses Werk auszeichnet, ganz abgesehen von der 
übersichtlichen Darstellung und der künstlerischen Form desselben. 
Nochmals entwickelt Thierry seine Ansicht über die Entstehung der 
Kommunen des Mittelalters und sucht die abweichenden Systeme zu 
vereinigen, indem er den verschiedenen Ursprung der freien Verfas- 
sungen jener Städte anerkennt. Den Königen aus dem Geschlechte 
der Capetinger lässt der Geschichtschreiber alle Gerechtigkeit wider- 
fahren, indem er sie als die wahren Begründer der französischen Na- 
tionalität bezeichnet und ihren Einfluss auf die einheitliche Gestaltung 
der Monarchie nachweist. Diessmal versetzt Thierry die Entstehung 
der französischen Nation und Sprache ins 10. Jahrhundert zurück, 
eine Annahme, welche durch die neuesten Geschichtschreiber vollstän- 
dig bestätigt worden ist. 


Die Geschichte des dritten Standes bildet den Schlussstein von 
Thierry’s historischen Arbeiten, unter welchen die Geschichte der Er- 
oberung Englands durch die Normannen und die Erzählungen aus dem 
Zeitalter der Merowinger den ersten Rang einnehmen. Durch diese 
beiden Werke hat sich Thierry einen bleibenden Namen in der fran- 
zösischen Literaturgeschichte erworben und auf die jüngere Generation 
von Historikern einen unverkennbaren Einfluss ausgeübt. 


Als Politiker gehörte unser Geschichtschreiber anfänglich zu der 
radikalen oder republikanischen Parthei; während der zweiten Periode 
seines Lebens erscheint er mehr gemässigt und doktrinär. Aus allen 
seinen Schriften tritt uns ein edler Charakter entgegen, der Bewunde- 
rung und Anerkennung verdient. Diese Eigenschaft ist zum Theil das 
Resultat der Studien, welchen Thierry während seines ganzen Lebens 
mit Begeisterung oblag. Vielleicht mehr als irgend eine andere Wissen- 
schaft läutert das Studium der Geschichte den Menschen und hebt ihn 
zu einer freisinnigen und sittlichen Weltanschauung empor. 


Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. 


Von EDUARD OSENBRÜGGEN 


I. Das kolenberger Gericht in Basel.*) 


Das kolenberger Gericht ist benannt von dem Orte, wo es ge- 
halten wurde. „In Basel wohnt der nachrichter und seine gespaanen, 
wie auch die todtengräber uff einem berg, der kolenberg genannt. Am 
selbigen ort vor des nachrichters hauss stott der schranken unter einer 
linden, do man diss gericht haltet.* (Ryff.) „Besonders stund eine 
‚grosse Linde und ein grosser Baum allhier, welcher ein Essig-Baum 
genannt wird; einige vermeinen, es seye eine ungemeine grosse Holder- 
stauden gewesen, welche ihre Aeste weit und breit ausgebreitet hat.* 
(Bruckner.) Der Kolenberg (Koleberg, Koliberg, Kohlenberg) lag 


*) Für die folgende Darstellung eines merkwürdigen Gerichts des Mittelalters 
sind als Quellen benutzt die Verordnungen über dasselbe, welche sich in 
Bruckner's Fortführung der Basel-Chronik zum Jahr 1601 abgedruckt finden, 
von denen aber die älteste (im rothen Buche aufbewahrt) nach Bruckner aus 
dem XIV. Jahrhundert stammt. Schnell in der Zeitschrift für schweizerisches 
Recht II, 85 datirt dieselbe vom Jahr 1469, eine andere dagegen über die Kom- 
petenz des Gerichts vom Jahr 1471. Die letztere kleine Verordnung ist aber in 
derselben Zeitschrift III, 10 auch als vom Jahr 1469 abgedruckt. — Ferner hat 
der Chronist Andreas Ryff in seinem (handschriftlichen) „Zirkell der Eidtgno- 
schaft“ vom Jahr 1597 fol. 486 ff. das Gericht beschrieben und kann als Augen- 
zeuge für den zuverlässigsten Gewährsmann gelten. Fechter, der Herausgeber 
der köstlichen Autobiographien von Thomas und Felix Platter (Basel 1840) hat 
zu der Stelle, wo Felix Platter über ein zu seiner Zeit (1559) gehaltenes Kolen- 
bergergericht kurz referirt, die betreffende Partie aus Ryff's Chronik abdrucken 
lassen (s. auch Grimm’s Weisthümer I, 818). Auf Ryff hat seine Schilderung 
des Gerichts basirt P. Ochs in der Geschichte der Stadt und Landschaft Basel 
V, 69 fi., doch sind von ihm auch die Verordnungen über das Gericht benutzt. 
— L. A. Burkhardt hat in einem lesenswerthen Aufsatze „Die Freistätte der 
Gilen und Lahmen auf dem Kohlenberg* im basler Taschenbuch auf das Jahr 
1851 auch das Gericht in der Kürze besprochen. — Eine in wesentlichen Punkten 
von den sonstigen Berichten abweichende kurze Schilderung des Gerichts gibt 
Jäger, schwäbisches Städtewesen I. (1831) S. 307; er nennt aber seine Quelle 
nicht und da, wo er für eine Thatsache sich auf Gross kleine basler Chronik 
beruft, ist er im Irrthum, wie ich unten angeben werde. 

Wissenschaftliche Monatschrift III. 10 


in alter Zeit vor der Stadt, wie sich schon aus seiner Bestimmung 
und seiner Bewohnerschaft schliessen lässt, aber die sich erweiternde 
Stadt nahm ihn später in ihr Gebiet auf. Der Name hat sich erhalten; 
auch wurden noch in neuester Zeit die Todtengräber und gewisse Leute, 
welche in der Nacht ein sehr schmutziges Geschäft ausführen, Koli- 
berger genannt. Ueber die Entstehung des Hügelnamens sagt Bruckner: 
„Der Ort hat seinen Namen von dem Kohlenbrennen, so allda, als 
aussert den alten Stadtthoren beschahe und hiess auf Kohlhäuseren.“ !) 
Diese Erklärung wird freilich feinfühlenden Rechtshistorikern trivial 
erscheinen. Sollte nicht Kolenberg oder Koleberg nur eine andere 
Form sein für den häufig vorkommenden Kalenberg? Bei Zug und 
bei Luzern heisst noch jetzt der Richtplatz so. Wie in ältester Zeit 
Verbrecher an einem dürren laublosen Baume aufgehängt wurden, so 
waren auch und sind noch jetzt die Richtplätze oft kahle Hügel. Dass 
aber der Kolenberg bei Basel nicht bloss zur Abhaltung des zu be- 
sprechenden Gerichts, sondern auch zu Hinrichtungen benutzt wurde, 
wissen wir aus Gross kurzer basler Chronik, wo erzählt wird: „Auf 
Donnerstag vor Laurentii (1474) hat man auf dem Kolenberg einen 
Hanen verbrannt, sampt einem Ey, so er gelegt hatte. Dann man be- 
sorgte, es komme ein Wurm darauss.“ Dieser Deutung des Namens 
kommt zu Hülfe, dass im basler Dialekt oft ein O für A gebraucht 
wird, z.B. jo für ja, do für da. Wem diese Deutung nicht exquisit 
genug ist, dem bietet sich noch eine andere dar. Man pflegte in alten 
Zeiten zur sicheren Wiedererkennung, wenn man Grenzsteine setzte, 
unter diesen Ziegelsteine und Kohlen, als unvertilgbare Stoffe, zu ver- 
graben und solche unter die Marksteine gelegten dauernden Zeichen 
sind die Belege im ursprünglichen Sinne dieses Worts.?2) Nach 
Stadlin®) begrub man auch an Gerichtsstätten, die ja oft durch Steine 
bezeichnet wurden®), Kohlen und Ziegelsteine. „Waren über die Gül- 
tigkeit des Gerichtsplatzes Zweifel, wurde nach genannten Kennzeichen 
gesucht; fanden sie sich nicht, so wurden alle auf einem solchen nicht 
gezeichneten Platze ausgefällten Urtheile für nichtig erklärt.“ Dem- 
gemäss könnte im Namen Kohlenberg die Bezeichnung seiner eigent- 


1) Vrgl. Basel im vierzehnten Jahrhundert (Basel 1856) 8. 66. 111. 

2) Grimm, Deutsches Wörterbuch s. v. Beleg. 

3) Geschichte des Kantons Zug IV. 8. 51. 

4) Grimm R. A. 802. Dreyer's Sammlung verm. Abhandlungen II, 772. 
Schauberg’s Zeitschrift für noch ungedruckte schweizerische Rechtsquellen I, 
6. Basel im vierzehnten Jahrhundert S. 43. 46. 


— 139 — 


lichen Bestimmung, als Gerichtsstätte zu dienen, liegen. Der Kolen- 
berg könnte auch = Qualenberg (mons ceruciatus) sein. 

Vielleicht kommen meinen Lesern diese Deutungen als gelehrte 
Seiltänzerei vor und dann stimme ich ihnen vollkommen bei. Aber 
es gibt Rechtshistoriker, die es für ihre Aufgabe halten, auf diese 
Weise aus den Quellen „Resultate* zu gewinnen, was denn so gar 
schwierig nicht ist, wenn man nur die Lust dazu hat. 

Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, dass in alter Zeit in 
der Schweiz, wie überhaupt in den deutschen Ländern die Gerichte 
im Freien gehalten wurden, worin der Charakter ihrer unbeschränkten 
Oeffentlichkeit sich ausspricht. „Hierauf richtet man unter heiterem 
Himmel an offnem fryem Platz.“ (Malefizordnung von Zug.) „Es 
würd ein Tisch mitten uff dem Platz under heitern Himmel gestellt, 
ein schön blosses Schwert und ein Richterstab nebend einanderen daruff 
gelegt, und ein schöner weiter Ring umb den Tisch mit Schranken- 
stüelen geschlagen“ ete. (Landbuch von Davos.) Häufig war der Ort 
des Gerichts ein Berg oder vielmehr Hügel (Malberg). Unter andern 
wird ein Gericht auf dem Berge vor dem Roland zu Halle erwähnt, 
ein Landgericht auf dem Leineberg bei Göttingen u. s. w. 

Ebenso bekannt ist es, dass die Linde vorzugsweise der deutsche 
Gericehtsbaum war, in dessen Schatten die Gerichtssitzungen gehalten 
wurden, z.B. in Zürich auf dem Lindenhofe; in Zug „unter der Linde 
am Rindermarkt ausser der alten Stadt“ ; in Willisau unter der Linde 
am Schlossberg. Das Gericht zur Thurlinden hatte seinen Namen gleich- 
falls von der Linde an der Thur bei Schwarzenbach; unter einer Linde 
auf dem Stiftshofe in Basel wurde ein geistliches Gericht gehalten 
und unter der grossen Linde bei Aarau siegte Johannes von Halwyl 
im gerichtlichen Zweikampf über den Schirmvogt des erbschleicherischen 
Klosters. Eine Dingstätte der Landgrafschaft Burgund war zu Konol- 
fingen (im Kanton Bern) unter einer Linde, die noch jetzt stehen soll. 
Die Linde ist kein Waldbaum, sondern der Nachbar der menschlichen 
Wohnungen, wie die Singvögel und auch der „gefiederte Gassenbube#, 
der Sperling. Das Dach der Linde sagte den zu Ding und Ring ge- 
sendeten Altvordern mehr zu als die düstere Gerichtsstube. 

Unter der Linde auf dem Kolenberg wurde der Platz für das 
Gericht umschrankt. Der Richter, welcher den Stab führte, sass allein 
auf einer Bank oder einem Stuhl in der Mitte, die sechs Urtelsprecher zu 
beiden Seiten, je drei auf zwei anderen Bänken. Gewöhnlicher sind 
sonst vier Bänke in den Schöffengerichten, aber meistens ist auch die 


— 10 — 


Zahl der Schöffen grösser, nämlich zwölf, oder bei dem Schultheissen- 
gericht in Basel zehn); seit dem Anfange des 15. Jahrhunderts hatte 
dieses auch 12 Urtheilssprecher. Jäger sagt zwar von dem kolenberger 
Gericht, es habe unter einem Vorstande 12 Beisitzer gehabt, aber für 
diese Abweichung von allen sonstigen Berichten nennt er keinen Ge- 
währsmann. 

Der Richter und die Beisitzer des kolenberger Gerichts wurden 
genommen aus den Freiheitsknaben. „Zuo Basel haben wir ein 
völcklin, die nent man die fryetsknaben, das sind von stat verord- 
nete sacktrager, die die frücht der obrikeit uff die kästen (d. i. Korn- 
böden) tragen.* Ryff verbreitet sich, um den Namen zu erklären, 
über ihre Freiheiten: „Do sind sy befreyet, das sy weder hietten noch 
wachen dörffen, wie andere burger oder hindersässen. So einer frücht 
uff ein kasten tregt, mögen sie den lohn heischen, als ob sie dieselb 
tragen hetten. Wo sy mit iemand zuo unfriden komen, mit ime rupfen 
und kein messer zucken, sind sie fräffels frey. Item so man inen umb 
geltschulden oder ander ansprochen für gericht bieten losst, sind sie 
zuo erschinen nit schuldig, so mag man si auch umb geltschulden 
nit in gfangenschaft legen. Item welcher weder burger noch hinder- 
säss ist, der ist das zuo entpfachen nit gezwungen, sondern befreyt.“ 
Auch die älteste Verordnung spricht von ihren Freiheiten.) Der Name 
kommt aber döch schwerlich her von solehen Vorrechten und Frei- 
heiten, so wenig als er beschränkt war auf solche Sackträger, sondern 
Freihart oder Freihartsbub — woraus man Freiheit und Freihaitsbub 
und Freiheitsknabe machte — weist eher auf eine licentia als eine 
libertas hin. Die Freihartsbuben des späteren deutschen Mittelalters 
gehören zu dem Genus der fahrenden Leute, deren viele Abarten, 
Bettler, Gaukler, Guzler, Gailer u. s. w. eine wahre Landplage jener 
Zeiten waren, wie uns die Charakteristik in Sebastian Brand’s Narren- 
schiff zeigt. Wenn wir die fahrenden Schüler auch nicht den herum- 
ziehenden Bettlern und Possenreissern zur Seite stellen können, ist 
doch ihr unregelmässiges Leben nicht bloss auf einen unbefriedigten 
Wissensdurst zurückzuführen und die fahrenden Weiber, „die offenen 
fahrenden Frauen“, wie sie im Sittenmandat des Bürgermeisters Wald- 


5) Ochs II, 364. Gerichtsordnung von 1457 $. 1 fl. Schnell in: Basel 
im 14. Jahrhundert 8. 351. 

6) Auch Fechter in seiner trefflichen Topographie des alten Basel (Basel 
im 14. Jahrhundert $. 113) billigt diese Herleitung. 


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mann heissen, die „wandelbaren“, „unendlichen Frauen“ und „offen- 
baren Weiber“, wie sie sonst genannt wurden, wallfahrteten nicht nach 
Rom oder Jerusalem. Genug, es gab viele Arten der fahrenden Leute 
und zu ihnen gehörten die Freihartsbuben. In einer 1502 zu Nürn- 
berg gedruckten Notariatskunst heisst es: „Wann der sun wer ein 
freyhart oder gaugkler wider willen seines vaters“7’). Nach einem Be- 
schlusse des schwäbischen Bundes von 1490 „sollen alle Bundesver- 
wandten darauf halten, keine Freihartsbuben zu hegen, sondern wo die 
betreten werden, sie aus dem Gebiete des Bundes hinauszuschaffen“.8) 
Auch in den schweizerischen Kriegen kommen sie als ein zügelloses 
Anhängsel der Armee vor und wurde gegen sie eingeschritten ; so 
während des Burgunderkrieges in der Kriegsordnung von 1476), und 
in der Kriegsordnung aus dem Schwabenkriege von 1499 heisst es: 
„Item, so sollten die Herster und freye Knecht als unnutz und schäd- 
lich abgethan sein“.10) Die basler Freiheitsknaben haben mit den 
sonst unter. diesem oder ähnlichem Namen vorkommenden herumzie- 
henden Menschen das gemein, dass sie eine sehr. niedrige Stellung in 
der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, sie sind aber als „von der 
Stadt verordnete Sackträger“ in der freien Stadt Basel domicilirt und 
genossen hier Freiheiten, besonders in gerichtlicher Beziehung; aber 
diese Freiheiten hatten ihre Kehrseite, indem jene Leute unmittelbar 
der strengen Kontrolle des Reichs- oder Blutvogts unterworfen waren. 
Der älteste und oberste der Freiheitsknaben machte im kolen- 
berger Gericht den Richter, sechs andere waren Urtelsprecher (Schöffen) 
und Ryff berichtet: „Derselbig riehter muoss alle zeith, so lange er 
zuo gericht sitzt, es sey sommer oder winter, den rechten schenkel 
bloss in einem neuwen ziber mit wasser haben, und alle und iede 
gerichtstag muoss man ime ein anderen ziber kauffen, der nie broucht 
worden sey. Die anderen 6 richter sitzen mit dem rechten schenckel 
blos.“ Nach Platter „muss ieder under inen ein nachenden fus in 
eim zuber mit wasser han“. 
Die sonderbare Vorschrift ist schwer zu erklären. Man. denkt 


' 7) Haltaus Glossar s. v. Freyhart p. 507. Vrgl. das Wörterverzeichniss 
zum Stadtrecht von Ofen s. v. Freihait. Schmeller’s Bairisches Wörterbuch 
T, 608. 

8) Klüpfel, Urkunden zur Geschichte des schwäbischen Bundes I (1846) 
S. 87. Abegg im Archiv des Criminalrechts 1854 S. 458. 
9) Buxtorf-Falkeisen zu Knebel's Chronik I. S. 213. 
10) Stettler's Schweizer-Chronik I, S. 336. 


— 142 — 


wohl zunächst an die Unreinheit dieser Leute. Hinsichtlich des Rich- 
ters könnte man darin vielleicht einen Rest keltischer Gewohnheit sehen, 
zumal wenn man geneigt ist, das Unerklärte keltisch zu nennen. Grimm 
R. A. 799 bespricht die alten Gerichte in der Nähe des Wassers 1) 
und meint, das heilige Element scheine ursprünglich zu Gerichtshand- 
lungen erforderlich gewesen zu sein; das keltische Alterthum habe 
sogar Gerichte gekannt, die auf dem Wasser gehalten wurden und 
wenn der Richter das Urtheil verkündete, habe er mit seinem rechten 
Fuss das Wasser des Sees berühren müssen.1?) 


Die sechs Urtelsprecher sassen mit dem rechten Schenkel bloss. 
Es sollte dadurch wohl ihre Niedrigkeit kenntlich gemacht werden, 
wie ein analoger Fall aus dem 14, Jahrhundert zeigt. Nach dem 
bamberger Stadtrecht $. 256 b soll der zahlungsunfähige Schuldner, 
nachdem er eidlich gelobt, dass er alles, was er fürbas erübrige, über 
seine Nahrung und über einen Schilling Pfenning, dem Gläubiger bis 
zur gänzlichen Tilgung der Schuld reichen wollte, fortan, anweil er 
den Kläger nicht vergolten hat, an dem rechten Bein und Fuss bar- 
schenkel und barfuss gehen. Die basler Freiheitsknaben waren auch 
alltäglich mit Fuss- und Beinbekleidung nicht reichlich versehen. Nach 
der ältesten Ordnung für das kolenberger Gericht soll der Vogt das- 
selbe besetzen „mit den rechten Freiheiten, die da ohne Hosen und 
ohne Messer 13) gand“. Ein Ueberfluss an Hosen, mag man darunter 
Beinkleider in unserem Sinn oder Strümpfe verstehen, war überhaupt 
nicht bei den alten Baslern. In einem Gesetze von 1506 heisst es: 
„Wer auf die Stube (nämlich Zunftstube?) zehren gehet, ohne Hosen, 
er habe denn einen langen Rock an, dass man ihm die Beine nicht 


11) Vrgl. Basel im 14. Jahrhundert S. 65. 
/ 
12) M&moires de l’acad. celtique. Tom. V. (1810) p. 143. 


18) Wenn vom Recht des freien Mannes im Mittelalter Waffen zu tragen die 
Rede ist, so denkt man zwar dabei nicht an Messer (s. jedoch Grimm R. A, 
772); aber es kam doch vor, dass durch ein Strafurtheil Schwert und Messer 
Jemandem abgesprochen wurde. (GrimmR. A. 288.) In den altschweizerischen 
Rechten ist die Ehr- und Wehrlosigkeit ein fester wichtiger Begriff und wer in 
Zug den Frieden mit Werken brach, der sollte zwei Jahre ein meineidiger ehr- 
loser Mann sein, auch dieselben zwei Jahr „kein ander Gweer noch Waafen 
tragen, dann ein abbrochen Bymässer“. (Stadt- und Amtbuch 1566 $. 113.) Vrgl. 
Arx Geschichte des Kantons St. Gallen II, 169. Anm. b. Schauberg Ztschr. 
I, 397. — In Basel bestimmte eine Verordnung 1397, wer das Recht haben 
sollte, „lange Messer“ zu tragen. . S. Ochs II, 421. 


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sehen möge, der gibt sechs Pfenninge zur Besserung“.1) In einer 
Jahresrechnung von 1466 sind ein Paar Hosen für den Gerichtsschreiber 
notirt „die Vergichten zu lesen*19), damit er also bei einer feierlichen 
Amtsverriehtung sich mit Würde präsentiren könne. Nach der Ord- 
nung für die Büchsenschützen 1466 bestand der erste Gewinn bei 
einem Schiessen in einem Paar Hosen, zu deren Anschaffung der Rath 
einen halben Gulden beisteuerte.16) 

Das kolenberger Gericht war ein rechtes iudieium parium. Die 
Gerichtsglieder waren von demselben Menschenschlage, wie diejenigen, 
deren Sachen auf dem Kolenberge verhandelt wurden. Den Kern der 
Kompetenz des Gerichts gibt Ryff mit den Worten an: „Vor disem 
gericht rechtfertigen die scharpffrichter und salvo honore die schinder 
einander, und wan ein erlicher man mit iren einem ansproch bekäme, 
so miest er si doselbsten anklagen.“ In dem von Platter referirten 
Falle von 1559 klagte Meister Pauli, der Nachrichter, wider einen 
anderen fremden Nachrichter Scheltworten halber. Im Januar 1586 
wurde eine Sache zwischen Meister Geörg, dem Scharfrichter von 
Altkirch und Wendelin Vollmar, dem Wasenmeister von Schopfen 
(Schopfheim) verhandelt; eine andere Sitzung fand am 5. März des- 
selben Jahres in dieser Sache statt und es wurde der Wasenmeister 
in den Eselsthurm zu legen erkannt.!?) Es erstreckte sich aber die 
Gerichtsbarkeit auch auf andere anrüchige Menschen, auf Bettler und 
Herumtreiber. Blinde, Lahme, Giler (Gyler) und Stirnenstosser wer- 
den speziell genannt. Dass schon im Mittelalter, um ein Bettelpatent 
zu haben, ganz wie jetzt in London, Leute sich allerlei körperliche 
Gebrechen andichteten, sich lahm, blind und krüppelhaft stellten, zeigt 
die malerische Beschreibung in Brand’s Narrenschif. Geyler kommen 
auch in den Statuten von Kölln 1437 vor, in der Verbindung von 
Lediggängern und Mulenstosser, und wenn jenes Wort seine Stamm- 
bedeutung im gothischen gailjan = erfreuen, fröhlich machen, hat,1$®) 

14) Ochs V, 379, vrgl. II, 100 über die Stuben. 

15) Ochs V, 34, 

16) Bruckner a. 1605. $. auch Segesser Rechtsgeschichte von Luzern 
U, 415, Anm. 4. Ueberhaupt kommen Hosen als Ehrengaben in der alten 
Schweiz sehr häufig vor. S. Oelhafen, Chronik der Stadt Aarau $. 44. 50. 
51. 56. 64. 67. 74. 82. 85. 

9) Bruckner's Fortsetzung der Wurstisenschen Chronik s. a. 1586. 


18) S. aber Zarncke zum Narrenschiff 63, 2, der gilen als: dringend und 
unverschämt fordern, betteln nimmt. 


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so entspricht es den Possenreissern, Schalksnarren, Gauklern, ioeula- 
tores, die in den Rechtsquellen nicht selten unter den farenden Leuten 
und Anrüchigen genannt werden. Die Stirnenstosser führt auch Seb. 
Brand an, sowie, und zwar in Verbindung mit Blinden und Lahmen, 
eine luzeiner ‚Rathsverordnung von 143719). Dass auf dem Kolen- 
berge dieses Gesindel eine Freistätte hatte und dort sich eine förm- 
liche Kolonie derselben ansiedelte?°), also an demselben Orte, wo der 
Nachrichter mit seinen Knechten wohnte, ist aus den Chroniken be- 
kannt und von Burckhardt nachgewiesen. „Zu Basel auf dem 
Kolenberg, da treiben sie viel Bubenwerk“, reimt Brand im Narren- 
schiff. Unzweifelhaft gehörten zu diesem Volk die Zigeuner, welche 
im Anfange des 15. Jahrhunderts in die Schweiz eindrangen.?t). 

Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit und eine Beschränkung der- 
selben erkennen wir auch aus der Verordnung von 1469: 

1) Unzuchten und Frevel von leichten, schnöden Leuten, als fah- 
renden Töchtern 22), Frauen-Wirthen und Wirthinnen sollen nicht auf 
dem Kolenberge gerichtet werden, sondern an die „Unzüchter‘‘ 23) 
kommen, aber um Schulden und dergleichen Sachen solcher Personen 
mag der Vogt auf dem Kolenberge richten, wie von Alters Herkommen ist. 


19) Segesser Rechtsgesch. II, 398 vrgl. 83. Ueber die Deutungen des Namens 
s. Zarncke.a. a. O. 63, 12. 

20) Verordnung von 1527, das Verbot einer Wirthschaft auf dem Kohlenberge 
enthaltend. (Bruckner s. a. 1601.) Bettelordnung von 1573. (Wurstisen's 
Chronik s. a.) Eine Aufzählung verschiedener Arten der Herumtreiber und Bettler 
findet sich in (Bruckner’s) Merkwürdigkeiten der Landschaft Basel, Stück VIII, 
S. 853 fi. 

>!) Justinger, Berner Chronik 8. 381, nennt als das Jahr ihres Eintref- 
fens 1419; sie sollen aber in Basel schon 1414 vorgekommen sein, s. Basel im 
14. Jahrhundert S. 112. 

22) Bemerkenswerth ist, dass in Augsburg der Henker nieht bloss die Auf- 
sicht, sondern auch eine Gerichtsbarkeit über die „varnden Freulin“ hatte, s.' 
Stadtrecht von 1276, 8. 47. 48. 

23) Ueber diese s. Ochs II, 358 ff. III, 555: „Die Unzüchter waren drei 
an der Zahl, ein Ritter und zwei Achtbürger aus dem neuen Rath. Ihre Ge- 
richtsbarkeit wurde in diesem Zeitraum (15. Jahrhundert) so bestimmt: „Sie 
sollen richten über die Ausgeklagten, die Viehkäufe, die, welche vor Gericht 
nicht erscheinen ‘wollen, das Messerzucken und die Schläge; sie sollen aber 
nicht über (die Händel der Buben richten, die keine Hosen tragen, wie auch 
nicht, wenn offene Frauen einander Huren sagen.“ Die Verordnung, auf welche 
Ochs sich hier bezieht, scheint älter zu sein als 1469. — Neuerdings hat die 
Bedeutung, ‘und die Kompetenz der Unzüchter. ‚besprochen Schnell in: Basel 
im 14. Jahrhundert S. 353 fi. 


— 15 ° — 


2) Unzuchten und Frevel mit Worten und Werken begangen von 
Blinden, Lahmen, Gilern und Stirnenstossern, Nachrichtern, Todten- 
gräbern und deren Knechten soll der Vogt richten (auf dem Kolen- 
berge), wie es in dem rothen Buch steht und von Alters Herkommen ist. 

Die Einleitung des Rechtsverfahrens und das Bannen des Ge- 
riehts weicht nicht bedeutend ab von den Formen, die wir aus so 
vielen Nachrichten über die alten Schöffengerichte kennen. Eigen- 
thümlich ist, dass der Richter den offiziellen, festen Namen Lamprecht 
führte und angeredet wurde: Lamprecht, du Richter ete. Gedutzt wurden 
ebenfalls die Beisitzer. An die Stelle des Lamprecht in der Anrede 
scheint aber später, wenn die Relation bei Ochs richtig ist, der wirk- 
liche Name des Richters getreten zu sein. Eigenthümlich ist ferner, 
dass nicht der Richter, sondern der jüngste Amtmann aus der Stadt 
Bann und Frieden des Gerichts wirkte. Nachdem der Kläger einen 
Fürsprecher begehrt hatte, sagte der Fürsprecher: „Richter *, willst 
du richten? Ja. So lasse nun dein Gericht verbannen.“ Da wendet 
sich der Richter an den jüngsten Amtmann: „Verbannet ihr das Ge- 
richt“. „Ich verbanne dir dein Recht, zu einem Mal, zum andern 
Mal und zum dritten Mal, dergestalten, dass da Niemand rede ohne 
seinen: Fürsprecher, es werde ihm denn erlaubt.“ 

Die hierin hervortretende Unselbstständigkeit des Gerichts kon- 
{rastirte zu dem Stabe, den der Richter als Symbol der richterlichen 


4 Gewalt führte. Als Ryff das Gericht nach eigener Anschauung be- 


schrieb, stand es unter dem Befehl und Schirm des Vogts des Stadt- 
gerichts in Basel, vielleicht bestand es aber schon vor der Zeit, als 
die Stadt die Reichsvogtei vom König Wenzel erhielt (1386) und war 
damals selbstständiger. Den Grund der Bevormundung und wie diese 
äusserlich hervortrat, erzählt Ryff: „Diewil nun dise, als schlechte 
leuth, gwiss zuo urteilen zuo schlecht und unverstendig, so sind die 
geschwornen amptleuth und procuratores der stat Basel zuogegen; die 
tragen den parteyen klag und antwort für. Der bluotsvogt stott hin- 
der dem richter am schranken und die 2 eltisten amptleuth neben dem 
vogt, die 2 jüngeren amptleuth hinder den 6 urtelsprecheren. Der vogt 
unterwist den richter, was er thuon und lassen soll.* 

Wenn Klage und Antwort vorgetragen waren von den Fürsprechern 
der Partheien, so begaben sich die Urtelsprecher in ein Haus (die 
St. Jakobs-Stube).**) Der Vogt und die Amtleute gingen nach,. um 


24) Der Richter, bleibt auf seinem Stuhl, denn, er nimmt nicht an dem Ur- 
theilsfinden Theil, soll auch keinen Einfluss darauf üben; das ist die altdeutsche 


— 146 — 


ihnen Rath zu ertheilen. Wenn jene nach der Urtelfindung wieder 
heraustraten, fragte der Richter die „Freiheiten“ nach einander: „Lamp- 
recht, wess hast du dich bedacht?“ Hiernach haben auch die Urtel- 
sprecher den Namen Lamprecht geführt. 

Der Richter, welcher das Urtheil öffentlich verkündete, stiess 
dann den Zuber mit Wasser mit dem Fusse um, nach Platter’s Be- 
richt. Diess erinnert daran, dass am Schlusse eines altdeutschen Ge- 
richts, im Gegensatz zu dem Bankspannen im Anfange, die Bänke 
gestürzt wurden.?®) ‚ 

Das Urtheil wurde vom „ordinairen* Gerichtsschreiber verschrieben, 
und wenn eine Parthei eine Urkunde darüber begehrte, so setzte der 
Vogt sein Siegel darunter. 

Ein Trunk fehlte dem Richter und seinen Beisitzern nach Been- 
digung der Gerichtssitzung nicht. Der Vogt hatte ihnen — doch wohl 
jedem derselben — ein Viertel Wein zu geben, konnte ihnen aber 
auch mehr spenden. Er musste auch mit den Amtleuten und Für- 
sprechern zum Wein gehen und ihnen nach freiem Belieben „einen 
Vortheil thun“, Das ‘war nicht eine besondere den Vogt belastende 
Liberalität, sondern er hatte auch von diesem Gerichte und dessen 
Dingpflichtigen seine Einkünfte und in diesem Finale wurde eine all- 
gemeine deutsche Sitte bewahrt.?6) 

Entstehung und Alter des kolenberger Gerichts sind dunkel. Ryff 
berichtet, es seien nur vier solche Gerichte im römischen Kaiserthum, 
als eine besondere Freiheit von Kaisern gegeben, eins sei zu Augs- 
burg, 'eins zu Hamburg, eins zu Basel; der Name der vierten Stadt 
ist ausgefallen oder ihm entfallen. Mit dieser historischen Notiz ist 
aber wenig zu machen, da Berichte über solche Gerichte in jenen 
Städten mangeln. 

Da der Vogt der Stadt als Schirmherr und Vorsteher des kolen- 
berger Gerichts genannt wird, könnte man geneigt sein, den Anfang 
des Gerichts erst nach der Entstehung dieser Vogtei zu setzen. Wir 
wissen nun, dass die Vogtei erst nach dem Tode Herzog Leopolds, 
der dieselbe als Pfandschaft inne gehabt hatte, von König Wenzel 
der Stadt übertragen wurde, 1386.27) Damit kann man in Verbin- 


Regel (Bluntschli I, 204) sowie. das Beiseitegehen der Urtheiler (Grimm 
R. A. 786.) 

2) Grimm, R. A. 852. 

26) Grimm, R. A. 529. 869. 871. 

®7) Ochs, 303. Arnold, Verfassungsgesch. der deutsch. Freistädte II, 394. 


— 147 — 


dung setzen, dass in der Verordnung über die Kompetenz dieses Ge- 
siehts von 1469 zurückverwiesen wird auf das „rothe Buch“, dieses 
aber die Gesetze und Verorduungen von 1360 bis 1427 umfasst. Da- 
gegen wäre es möglich, dass das Gericht nach 1386 in die Abhängig- 
keit vom Vogte gekommen und damit in eine neue Periode eingetreten 
sei, aber schon früher bestanden habe. Nach Ochs war es schon 
lange vor diesem Jahre eingeführt; leider macht er zwar diese An- 
gabe ohne historischen Beleg, aber er stützt sich wohl auf die älteste 
bekannte Verordnung, in welcher berichtet wird von dem, was „von 
den Alten erfahren ist“. Für das höhere Alter des Gerichts liesse 
sich vielleicht noch anführen, dass wenn dieselbe erst nach 1386 ein- 
gesetzt wäre, es wohl aus dieser Zeit einer urkundlichen Geschichte 
Basels nicht an einer Notiz über dessen Entstehung fehlen würde. 
Wenn aber auch das Gericht schon vor der Uebertragung der 
Reichsvogtei an die Stadt bestanden haben kann, lässt sich doch aus 
einem anderen Umstande schliessen, dass es nicht sehr alt, sondern 
erst im späteren Mittelalter entstanden ist. Das Gericht war zu- 
nächst da für die Scharfrichter und Schinder und es wurde dort 
gehalten, wo der Nachrichter und seine Gesellen wohnten. Als eine 
Kaste von Menschen, deren Beschäftigung für entehrend gehalten wurde, 
gelten die Nachrichter und Konsorten erst im späteren Mittelalter und, 
was entscheidend ist, erst da finden wir sie überhaupt als vom Staat 
angestellte Leute. Als das Compositionensystem noch die Regel bil- 
dete, war die Hinrichtung auf einige bestimmte Fälle beschränkt; so- 
dann wurde dieselbe als letzter Akt der Rechtfertigung dem obsiegenden 
Kläger oder der Familie des Getödteten überlassen, oder der Fron- 
bote, einer der Schöffen ete. besorgte dieselbe.) Maurer erwähnt, 
dass er die erste Erwähnung eines vom Staat besoldeten, aber durch- 
aus noch nicht anrüchigen Scharfrichters in einer Urkunde von 1265 
gefunden habe. Dass Augsburg im 13. Jahrhundert einen Henker 
hatte, schen wir aus dem Stadtrecht von 1276, S. 46 fi. In Betreff 
Strassburgs erwähnt Maurer, dass im alten Stadtrecht ein Stockwart 
(eustos eippi sive carceris) vorkomme, ohne dass schon bemerkt sei, 


. ob’ derselbe auch die Executionen besorgte. Dass dieses nicht der Fall 


war, zeigt Art. 19 ff. des Stadtrechts, welches wohl dem Ende des 
12. Jahrhunderts angehört.2?) Der Stockwart soll „scheren und villen“, 


1. 2) Grimm, R. A. 883 fl. Maurer, Gesch. des altgerm. Gerichtsverfah- 
rens $. 245. 
2) Arnold, a. a. O. I, S. 90 ff. 


— 148 — 


den Verurtheilten zum Galgen führen, den Galgen aufrichten, die Leiter 
anlegen, aber ein angesehener Beamter, der Stellvertreter des Vogts 
(viearius advocati) vollzieht die Execution.?0) — Wann in Basel zuerst 
ein Henker angestellt wurde, kann ich nieht nachweisen, Gross er- 
wähnt einen solchen im Jahr 1380. Es mag hier, wie in anderen 
Städten, zur festen Anstellung eines Henkers die Verbreitung der Folter, 
deren Handhabung ihm und seinen Knechten zufiel, beigetragen haben 
und die Folter hat Ochs!) in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun- 
derts erwähnt gefunden. 

Wenn die uns von Ochs mitgetheilten Formeln, in denen das 
kolenberger Gericht gebannt und Fürsprecher begehrt wurden, die 
ursprünglichen sind, so lässt sich aus ihrer nüchternen Fassung und 
modernen Sprache schliessen, dass das Gericht kein hohes Alter hat. 
Diese Formeln könnten nun zwar im Verlauf der Zeit modernisirt sein, 
allein es ist bekannt, dass man im Mittelalter an der Form überlie- 
ferter Formeln, auch wenn sie schon in einzelnen Ausdrücken unver- 
ständlich geworden waren, nicht leicht änderte und wenn auch Ochs 
die Sprache hier etwas modernisirt haben mag, hat er doch unzweifel- 
haft den Inhalt unberührt gelassen und dieser spricht nicht für ein 
hohes Alter der Formeln. 

So wie die Zeit der Entstehung des kolenberger Gerichts sich 
nur annähernd bestimmen lässt und nur vermuthet werden kann, dass 
es aus dem 14. Jahrhundert stamme, so lässt sich auch die Zeit seines 
Untergangs nur ungefähr angeben. Die Ausübung der Jurisdietion des- 
selben wurde seltener, seit die Polizei strenger gehandhabt wurde gegen 
die Land- und Stadtplage des Mittelalters, die fahrenden Leute und 
die grosse Masse der bettelnden Proletarier. Jäger meldet: „Dieses 
Tribunal wurde am Ende des 15. oder zu Anfang des 16. Jahrhun- 
derts aufgehoben. Gewiss ist es, dass es 1474 noch bestand, in welchem 
Jahre, wie Gross in seiner kleinen basler Chronik erzählt, es einen 
Hahn zum Feuertod verurtheilte, der überwiesen war, ein Ei gelegt 
zu haben.“ Das klingt historisch, ist es aber nicht. Dass der Hahn 
ein Ei gelegt hatte, war ein Prodigium und ist als solches von dem 
gelehrten „Kirchendiener* Johann Gross besprochen. Der Hahn’ ist 


3) Es mögen aber manche Stellen in den altdeutschen Rechtsquellen, nach 
denen es den Schein hat, als ob der Vogt selbst die Execution vollzogen habe 
oder sein Vertreter, so zu deuten sein, dass er, dem im Namen von Kaiser und 
Reich der Blutbann verliehen war, die Leitung der Hinrichtung hatte. 

31) II, 360. 


— 149 — 


sammt dem Ei auf der Richtstatt des Kolenbergs verbrannt worden, 
aber mit dem kolenberger Gericht stand dies gar nicht in Verbindung. 
Jäger's Behauptung in Betreff des Aufhörens dieses Gerichts, ohne 
Nachweis einer Quelle hingestellt, ist eben so unrichtig. Felix Platter 
referirt als Zeitgenosse über ein 1559 gehaltenes Kolenbergergericht; 
Ryff’s „Zirkel der Eidtgnoschaft“* ist vom Jahr 1597 und darin ist 
das Gericht als ein bestehendes am ausführlichsten geschildert. Da 
kein späterer Fall seines Auftretens erwähnt ist, so darf man annehmen, 
dass es im 17. Jahrhundert verschwand, denn von einer plötzlichen 
Aufhebung desselben in den drei letzten Jahren des 16. Jahrhunderts 
ist nirgends die Rede. Bruckner schreibt: „Zu welcher Zeit dieses 
Gericht abgegangen, kann man nicht eigentlich bestimmen; vermuth- 
lich ist es allgemach geschehen, besonders zur Zeit, da die Vogtei 
des Gerichts oder der Gerichtsvogt, so in die Rechte der Reichs- oder 
Blutsvögte eingetreten, aufgehoben worden; solches geschahe 1672. 
Dessen Verwaltung ward dem Schultheissen zu seinen übrigen Ge- 
schäften übertragen.“ 

Das kolenberger Gericht streift zwar an den Humor und mag 
den Baslern während der letzten Zeit seines Bestehens als eine Karri- 
katur eines Gerichtes erschienen sein, allein es hatte doch bei einigen 
sonderbaren Formen durchaus nicht den Charakter einer Spielerei 32) 
und ist sehr verschieden von den parodirenden Gerichten, die noch 
weit über die Zeit des Mittelalters hinaus als Spiele der deutschen 
Romantik in einigen Ländchen der Schweiz bestanden haben. Es ist 
noch nicht lange her, dass in Appenzell am Tage nach einer Lands- 
gemeinde im Freien ein Narrenrath gehalten wurde,?3) der den Land- 
rath parodirte. Privatleute übernahmen scherzweise die Funktionen 
und Titulaturen der Beamten, beriethen Landesangelegenheiten und ent- 
schieden Prozesse, alles zwar in komischen Formen, aber doch war 
das ridendo dicere verum nicht zu verkennen und Urtheilssprüche dieses 


#) „Auch die Rohheit, auch die Unordnung selbst muss das Gewand der 
Ordnung anziehen: rechtlos zwar streift der Spielmann durch die Welt und der 
Bube „ohne Messer und Hosen“ und die fahrenden Frauen und Töchter; aber 
doch harret ihrer zu Basel auf dem Kohlenberg eine Gerichtsstätte, wo sie, woher 
sie kommen, wohin sie ziehen mögen, Recht nehmen und Recht geben.“ Schnell 
in: Basel im 14. Jahrhd. S. 349. 

-. 3) Rüsch, der Kanton Appenzell (Gemälde der Schweiz XIH) 1835, Vgl. 
über das Narrenfest. im Thurgau Pupikofer, der Kanton Thurgau S. 148, 
Vernaleken, Alpensagen S. 357. 


— 150 — 


Tribunals sollen nicht selten in wirklichen Streitfällen als rechtsgültig 
anerkannt worden sein, weil sie das Rechte trafen. In dieselbe Kate- 
gorie gehört der „grossmächtige Rath“ in Zug, der schon vor der 
Mitte des 14. Jahrhunderts vorgekommen ist, und bis 1798 gedauert 
hat.) Es war diess eine Gesellschaft, die sich selbst konstituirt 
hatte und selbst ergänzte und deren Autonomie als altes Recht Niemand 
bestritt; sie verfolgte auf der einen Seite die Zwecke einer muntern 
Genossenschaft, auf der anderen Seite übte sie eine sittenrichterliche 
Gewalt aus. Alljährlich am schmutzigen Donnerstage3°) wählte sie 
auf dem Gerichtsplatze unter der grossen Linde ihren „frommen ehr- 
lichen* Schultheissen und setzte die sonstigen Beamten ein, welche 
seltsame Namen führten: der Isengrind, das Hünerbrett, der Juden- 
spiess, das Leiterli ete. Zu den Einkünften des Schultheissen gehörte, 
dass jeder, der in seinem Amtsjahre eine Frau freite, die 200 Pfund 
mitbrachte, ihm ein Paar Hosen, wer weniger durch die Frau bekam, 
ein Paar Schuhe verehren musste. An Festtagen zogen die Mitglieder 
des Raths „in die Häuser frei, zu ersuchen, was kochet sei“. Aber 
hinter dem Humor bliekte der Ernst hervor, wenn eheliche Untreue 
und Unzucht zu rügen waren; da wurden Strafen von neckender und 
beschämender Art verhängt. Es erinnert diese ergänzende Justiz an 
die Vehme des bairischen Gebirges, die unter dem Namen des Haber- 
feldtreibens3®) bekannt ist und neuerdings (im November 1857) 
wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hat; aber das Richten 
des grossmächtigen Raths von Zug war öffentlicher und harmloser als 
diese bairische Lynchjustiz. 

Sehr verwandt jenem Institute von Zug war ein Sittengericht in 
Rapperswil, unter dem Namen „Saugericht“, „unüberwindliche Gewalt 
der Junggesellen“, auch „Knabenzunft“ 37), Diese Zunft hatte ihren 
Schultheissen, Fähnrich, Stubenmeister, Weibel und Trommelschläger, 


3) Stadlin’s Geschichte von Zug I, 134. II, 45. Anm. 56. IV, 143 ff. 
Renaud, Beitrag zur Staats- und Rechtsgeschichte des Kantons Zug (1847) 
S. 37 fi. 

35) „Schmutziger Donnerstag“ ist noch jetzt eine Benennung für den Donnerstag 
vor Fastnacht. Der auch gebräuchliche Name „fetter Donnerstag“ (z. B. in 
Luzern) zeigt die Bedeutung. Schmutz ist = Fett, Schmalz und an jenem Tage 
wird viel gebraten und geschmort. In Baden im Aargau ist am schmutzigen 
Donnerstage regelmässig ein grosser Maskenball; in Luzern der Fritschizug. 

36) Die Haberfeldtreiber. Oberbairisches Sittenbild von C. Kern (Stuttgart 
1855), besonders S. 46 f. Schmeller's bairisches Wörterbuch IV, 25. 

37) Rickenmann, Gesch. der Stadt Rapperswil (1855) S. 167. 


— 231 — 


ja sogar ihren Vikar, und hielt im Fasching ihren Umzug und Tanz. 
Wenn sie als Sittengericht auftrat, bestanden die Bussen in Wein, die 
nach der Grösse des Vergehens bis auf 6 Köpfe (= 12 Maas) Wein 
stiegen. Von den Erkenntnissen konnte an den „Kleinen Rath“ appel- 
lirt werden. 

Während einer Periode seines Bestehens übte auch der „äussere 
Stand“ in Bern 8) sittenpolizeiliche Gewalt aus. Sein Ursprung wird 
in die Gründungszeit der Stadt verlegt und die Herzoge von Zäh- 
ringen sollen die Stifter sein, daher der Stand die zähringer Farben 
führte. Die Gesellschaft junger Leute war anfangs eine kriegerische, 
seit 1556 eine friedliche und in dieser zweiten Periode hatte sie sitten- 
richterliche Funktionen übernommen. In der dritten Periode von 1684 
bis 1798 war der Zweck, für die junge Bürgerschaft eine Schule ab- 
zugeben, „darin sie des Standes Prineipia und Regierungsmanieren* 
lernen könnte. Die Gesellschaft hatte zwei Schultheissen, welche ge- 
wöhnlich demnächst in den Grossen Rath befördert wurden, und son- 
stige Beamte bis zu den Weibeln und Läufern herunter, die des Stan- 
des Farbe trugen. Den Landvogteien des wirklichen Regiments zu 
Bern oder des inneren Standes, entsprachen bei dem äusseren Stande 
80 zerstörte Schlösser, welche ehedem im berner Gebiete gelegen 
hatten. Nach diesen Schlössern führten die Vögte des äusseren Stan- 
des den Namen. Das Wappen desselben zeigte einen auf einem Krebs 
sitzenden Affen, der sich mit der rechten Hand einen Spiegel vor- 
hält und die Unterschrift: „Imitamur quod speramus“; daher der Ge- 
sellschaft auch der Name Affenrath gegeben wurde. 

Aus dem vormaligen Luzern erzählt Simler®®), dass die jungen 
Bürger den Gebrauch hatten, an jedem St. Johannistage aus der Ge- 
meinde einen zum Ammann zu erwählen, der etwas Spottwürdiges be- 
gangen hatte. Dieser fungirte bei dem Umzuge, bei Mahlzeiten und 
in Zunftgesellschaften und wurde wie ein Rathsherr behandelt. Die 
Stadt beschenkte ihn mit einem Rock und jeder Bürger, der sich ver- 
heirathete, spendete ihm in der Regel ein Paar Hosen; dafür hatte er 
aber am Johannistage etwas Unkosten. Nach Leu soll diess eine 
humoristische Nachahmung des früheren Ammanns der Herrschaft Oester- 
reich sein, der dem Stadtrath beiwohnte, um zu hören, ob nichts wider 
die Herrschaft vorgenommen werde. 


3) JLieu's Anmerkung zu Simler’s Regiment der loblichen Eydgenoss- 
schaft (Zürich 1722) S. 545. B. Hidber, der ehemalige sog. äussere Stand 
der Stadt und Republik Bern. (Neujahrsblatt von 1858.) 

) a. a. O. 8. 512. 


— 12 — 


II. Die Blutrache. 


Dass sich die Blutrache in der Schweiz länger erhielt als in an- 
deren deutschen Ländern, ist nicht ohne Zusammenhang mit der länger 
dauernden Sitte und dem Recht des unbescholtenen Mannes, Waffen 
zu tragen. Die Ehr- und Wehrlosigkeit war ein Begriff und als schon 
das Schwert nicht mehr zur täglichen Kleidung des Bürgers und Land- 
mannes gehörte, durfte es nicht fehlen, wenn er zur Landsgemeinde 
ging, bei Hochzeiten und andern feierlichen Gelegenheiten. In einem 
Mandat des Rathes von Aarauf) wurde 1609 erkannt, dass alle Bürger 
vom mannbaren Alter hinweg, ledig oder nicht, an Sonn- und Bet- 
tagen das Seitengewehr zur Kirche tragen sollten, und ein appenzeller 
Mandat aus demselben Jahre?) bestimmt: „Es soll ein jeder Bider- 
_ mann sein Recht Seiten-Gewehr an Sonntagen zur Kirchen, an einem 
Jahrmarkt, und wenn er auf dem Rathhaus zu schaffen hat, mitnehmen, 
damit man einen ehrlichen Bidermann und einen, der ım seinen schand- 
lichen Misshandlungen willen um Ehr und Gwehr entsetzt, von ein- 
andern unterscheiden könne“. 

Die Fortdauer der Blutrache in der Schweiz steht aber auch in 
Zusammenhang mit der Kriegslust der Schweizer, welche, nachdem sie 
ihre eigenen Kämpfe um Freiheit und Unabhängigkeit ausgefochten 
hatten, überall in grosser Zahl im Dienste kriegführender Fürsten zu 
finden waren. I. von Arx bezeichnet es in seiner Geschichte St. Gallens 
kurzweg als ein Stück des schweizerischen Nationalcharakters, „jedem 
Kriege, der entstund, nachzulaufen“ und andere Historiker heben es 
oft hervor, wie wenig die aus den fremden Kriegen Heimgekehrten 
geneigt und geeignet waren zum friedlichen Leben in den heimischen 
Thälern. 

Als Belege für die Ausübung der Blutrache im späten Mittel- 
alter lassen sich Fälle anführen, die eine historische Bedeutung er- 
langten und daher in den Chroniken verzeichnet sind, z. B. der Fall 
des Kaspar Wernli von Freiburg (1533), der, um seinen Bruder zu 
rächen, „sampt seiner starken Freundschaft und Gesellschaft, auf 80 
Mann gerechnet, alle wohl gewapnet* auf Genf zog und hartnäckig 
einen Privatkrieg begann.?) Aber von weit grösserem juristischem In- 
teresse sind die in dem Rechtsleben und den Rechtsdenkmälern kon- 


1) Oelhafen’s Chronik $. 88. 
2) Blumer’s Rechtsgesch. II, 1. 100. 
3) Stettler's Chronik I, 8. 59. 


_ 1 


servirten und anerkannten Ausdrücke der alten Familien- und Blut- 
rache ®): 

1) Um sich ihre Blutrache zu sichern, überliessen die männlichen 
Verwandten eines Getödteten die gerichtliche Klage wegen der Tödtung 
einem weiblichen Familiengliede. Diese Sitte und ihren Grund gibt 
eine alte Hochgeriehtsform von Schwyz) folgendermassen an: „Umb 
Todschlag elagt by uns kein mansperson, sonders ein wibsbild, die 
des entlypten Mutter, Eefrow, Schwöster, Tochter oder nächste Bas 
ist; dann by uns der Bruch, so ein Inländischer in unserm Land, der 
ein mansperson wäre, clagte, so möcht er nit rächen, dann die In- 
ländisch person, so das recht volfürt, hat kein raach, 
darumb stat allweg ein wibsperson dar ze elagen, und statt die gantz 
früntschaft by Jro, und rath Jro, was sy thun soll. Und so oft der 
fürsprech elagt, nempt er allein die wybsperson. Dieselbig wybsperson 
hatt in einem sack die bluttigen Kleider®) des entlypten (so er innent 
Landtz entlypt wird) und so sy den fürspräch EB legt sy die 
bluttigen Kleider in grichtsring und fürt daruff die lag. “ In einem 
Luzerner Falle 1553 trat als Klägerin hervor des Getödteten Schwester, 
für den flüchtig gewordenen Todtschläger dessen Mutter.7) 

In der Berner Gerichtssatzung 1614 III, 12, 1 und 2 findet 
sich dieser Brauch, durch den die männliche Freundschaft des Ent- 
leibten sich die Rache reservirte, nicht mehr, aber deutlich tritt her- 
vor, wie die Klage aus der Rache hervorging und diese ausgeschlossen 
war, wenn jene erhoben wurde, zugleich ist aber bestimmt, dass, wenn 
des Entleibten Freunde kein Recht anrufen, „sondern sich der Rechten 


#) Eine treffliche Abhandlung über die Blutrache nach den Rechtsquellen 
des Kantons Schwyz von M. Kothing findet sich im Geschichtsfreunde, Bd. XI 
(Einsiedeln 1856) und ein Nachtrag dazu im Bd. XIII. 


5) Kothing gibt das Alter dieser im Archiv von Schwyz befindlichen Ur- 
kunde, die mit der Hochgerichtsordnung von Glarus (Blumer I, 400) ganz oder 
zum Theil wörtlich übereinstimmt, nur dahin an, dass sie älter sei als die P.G.O. 
Carl V. 

 %) Berner Gerichtssatzung 1614 III, 12, 3 „Wie dem Todschleger zum Ge- 
tieht gerüfft werden sölle“: „Dieser Ruf soll zum ersten Gericht dreimal einander 
nach gethan und demnach der Ring mit der Urtheil beschlossen werden. Und 
sollen jedes Gerichtstags des Entlybten Kleider, als zu Wortzeichen, im Ring 
zugegen liegen, und in jedem Ruf, dass solche Wortzeichen vorhanden, aus- 
drückliche Meldung geschehen.“ 


7) Pfyffer, der Kanton Luzern I, 377. vrgl. Segesser II, 673 An- 
merkung 2. 


Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 11 


— 154 — 


und der Rache entziehen, und dieselbe der Obrigkeit übergeben, 
diese von Amtswegen solchen Todschlag rechtfertigen soll. 

2) Wenn der Todschläger flüchtig geworden war und desshalb 
verrufen und in den Unfrieden verkündet wurde, ward sein Leib 
den Verwandten des Getödteten ertheilt. Stadt- und ‚Amt- 
buch von Zug 1432 Art. 26 (auch noch 1566 Art. 78): „Weri aber 
daz er entrunni und nit also für Gericht gestellt oder geantwirt würdi, 
so sol des Liblosen fründen des Andren Lib erteilt werden und aber 
der Statt und dem Ampt sin Guot uff Gnad.“ Es ist uns ein Fall 
aus Zug vom Jahr 1525 überliefert®), in welchem das Gericht, diesem 
Gesetze gemäss, die Familien- und Blutrache autorisirte. Klägerin 
war eine Anna Lütold, Schwester des Erstochenen. Es war dies aber 
nicht blos Recht von Zug, sondern ein sehr verbreitetes Recht®), dessen 
Bedeutung, wenn darüber noch ein Zweifel sein könnte, sehr klar aus 
einer Ordnung für das Freiamt (15. Jahrhd.?) hervortritt: „Und so 
in des entlypten fründschafft in der Landgrafschaft uff wasser oder 
land betreten, das sy in mit oder one Recht vom Leben zum Tod 
bringen mögind* etc.!°) Die Verwandten des Getödieten liessen sich 
von dem Gerichte einen Brief, nach einem üblichen Formular, aus- 
stellen, kraft dessen sie in dem Gebiete der Verrufung ihre Blutrache 
ausüben konnten 11). 

Die Offnung von Kyburg, wie auch andere Rechtsdenkmäler , be-\ 
zeichnet die ‘betreffenden Verwandten des Getödteten als die Freunde, 
„die ihn von Sibschaft wegen zu rächen haben“; spezificirt ist diese 
zur Blutrache verpflichtete und berechtigte Sippschaft in einem züricher 
Rathsbeschluss vom Jahr 144812): „ein vatter sine kind, die kind 


8) Blumer I, 399. 

9) Luzerner Landgerichtsordnung vom Ende des 15. oder Anfang des 16. 
Jahrhunderts bei Segesser II, 710 vgl. 664. 668. 703. Pfyffer, der Kanton 
Luzern I, 378. (Fall von 1553) Thurgauer Landgerichtsordnung in der Ztschr. 
für ‚schweiz. Recht I. Rechtsg. Seite 51. Hochgerichtsordnung für Glarus bei 
Blumer I, 400. Landbuch von Gaster Art. 65 bei Blumer a. a. O. Ofinung 
von Kyburg Art. 4 (Grimm Wsth. I, 18); von Neerach Art. 15 (Schauberg's 
Beitr. III, 404). Berner Gerichtssatzung 1614 I, 19, 1. III, 26, 5. Rechtung 
des freien Amts $. 5. (Kurz und Weissenbach Beiträge I, 100.) S. auch 
den Dingrodel von Kirchzarten im Breisgau 1395 (Grimm Wsth. I, 333). 

10) Bluntschli’s Rechtsgesch. (1838) I, 205. 

11) Arx, Gesch. des Kantons St. Gallen II, 609. Anm, b. Geschichtsfreund 
XI, 148. ' 

12) Bluntschli I, 410. ’ 


— 155 — 


iren vatter und änyn, der äny siner kinden kind und derselben kindz- 
kinde. Ein geschwistergitt das ander, derselben geschwistergitt kind 
einandern und dero kindzkinde ouch einandern“, Es wäre aber ge- 
wagt, hierin eine allgemeine schweizerische Bestimmung zu sehen. 
Häufig tritt zwar das dritte Glied?) der Blutsverwandtschaft als 
Grenze hervor, so im Entlibucher Landrecht von 1489, im alten Land- 
buch von Uri Art. 7, Berner Gerichtssatzung 1614 I, 12, 4. aber 
auch das vierte Glied.{*) An manchen Stellen zeigt sich deutlich die 
Rachepflicht als Correlat des Erbrechts z. B. in einem Zusatze zum 
Art. 189 des Stadtrechts von Luzern: „— die einandern nit so nach 
mit fründschaft verwant, das sy einandern zu erben old rechen 
gehept“t5). Ob sich hiefür noch ein Zusammenhang nachweisen lasse 
mit dem alten Grundsatze, dass die Wehrhaftigkeit zur Erbfähigkeit 
erforderlich sei, und mit der Bevorzugung des Vatermagen, die bis 
in das vierte Glied ging, aber auch auf das dritte beschränkt wurde 19), 
würde Gegenstand einer besondern Untersuchung sein. 

3) In direkter Verbindung mit der genannten Rachepflicht steht 
die Satzung, dass Verwandte, bis zu einem bestimmten Grade, wenn 
sie sehen, dass ihr Verwandter in einem Streite blutig geschlagen ist, 
nicht nur von der Verpflichtung Frieden zu bieten befreit sind, son- 
dern sich in den Streit zur Hülfe ihres Verwandten einmischen dürfen. 
Das alte Landbuch der March in seinen verschiedenen Recensionen 
mennt in dieser Beziehung „sin angeboren fründ, den er zu rächen 
hat“17). Das Bürgerbuch von Weesen 18) hebt auch hiefür den dritten 
Grad der Verwandtschaft hervor, wie das Landbuch von Davos, S. 15. 
Knonauer Amtsrecht von 1535 Art. 5: „Wellicher sich in einer zer- 
würfniss partyget — der soll umb 5 Pfund gestraft werden — wenn 
aber einer seche, dass ihm sin Vatter, Bruder ald Sun uff den Tod 
verwundt wer, so mag er denselben zuhilff kommen, und soll darumb 


18) Bei der Berechnung ist die Parentelordnung zu beachten s. Bluntschli 
I, 116. II, 330. Blumer I, 185. 

14) Segesser II, 599 vgl. 668 Anm. 1. Sigwart-Müller, Strafrecht 
der Kantone Uri, Schwyz etc. S. 4. — Geschichtsfreund IX, 102. XII, 147. 
Blumer I, S. 395 Anm. 3. S. 424 Anm. 114. ö 

15) Segesser II, 205 Anm. 3. Deschwanden im Geschichtsfreund IX, 102. 

16) Segesser II, 529. 
47) Kothing, Rechtsquellen der Bezirke des Kantons Schwyz S. 35. Ge- 
schichtsfreund XI, 146. Altes Landbuch von Glarus 11. 

18) Arx DO, 610 Anm. c. 


< 


— 156 — 


nit gestraft werden.“ Das Elgger Herrschaftsrecht von 1535 und das 
Wädensehweiler Herrschaftsrecht von 1593 haben bloss „verwundet 
were“ ohne den Zusatz „auf den Tod“.19) 

4) So wie, um die Familienrache zurückzudrängen, ein gebotener 
oder gelobter Frieden auch die beiderseitigen nahen Verwandten um- 
fasste 20) (altes Landbuch von Glarus Art. 11. 114. 274. „die einander 
zum Dritten und näher sind“), so waren die Blutsverwandten befreit 
von der Pflicht der Nacheile und Fahndung eines zu ihnen gehörigen 
Todschlägers oder sonstigen‘ Missethäters. Den an sich deutlichen Zu- 
sammenhang dieser Rücksicht mit der Blutrache drückt eine schwyze- 
rische Einung um Todschläge vom Jahr 1447 ?l) so aus: „Doch harinne 
ungevarlichen ussgelassen des oder derselben Todschlegern nechsten 
angebornen fründe im Land, so den oder dieselben Todschleger zu 
rechen hetten nach dem sipplut und nach dem Rechten, das die nit 
gebunden sin söllent iren fründ zu vachen noch anzufallen“ ete. Ebenso 
waren diejenigen, die „einander Verwandschaft halber zu rächen haben“ 
(Uri 32) befreit von der Pflicht zu leiden (anzugeben) wegen Malefiz, 
wenn einer der Ihrigen der Schuldige war. Analog ist die Befreiung 
vom gerichtlichen Zeugnisse, nach dem Landbuch von Glarus 174, 
derer „die dem Klager oder dem Antworter zum Dritten blutsverwandt“ 
sind, nach dem Landbuch von Schwyz $. 26 der Geschwisterkinder 
und näherer Verwandten. 

5) Die Anerkennung der Blutrache ist am deutlichsten in den 
Sühnverträgen mit der Sippe des Entleibten, in denen sie für den 
einzelnen Fall beseitigt und der Friede für die beiderseitigen Ver- 
wandten wieder befestigt wurde. Solche Verträge (liebliche Richtungen, 
Thädigungen) besonders in Fällen unabsichtlicher und im Affekt ver- 
übter Tödtungen, sind in grosser Zahl aus der Zeit vom 14. bis ans 
Ende des 17. Jahrhunderts erhalten.??) Sie haben ein mehrseitiges 
Interesse. Wie Blumer hervorhebt, erinnern sie lebhaft an die alten 


19) Schauberg’s Ztschr. für ungedruckte schweiz. Rechtsquellen I, 31. 32. 
35. vgl. Blumer I, 421 ff. 

20) Altes Landbuch von Uri Art. 7. Appenzell A. Rh. 139. Landbuch von 
Schwyz 8. 19. 26. Deschwanden im Geschichtsfreund IX, 101 ff. vgl. Berner 
Gerichtssatzung 1614 I, 12, 2. 

2!) Landbuch von Schwyz 8. 67. 

22) Arx a. a. O. II, 608 ff. II, 286. Blumer I, 396 #. Geschichts- 
freund XII, 150. Pupikofer, der Canton Thurgau $. 146. Pfyffer, der 
Canton Luzern I, 381. Stadlin, Gesch. des Cantons Zug I, S. 12. Anm. 3. 


— 17 — 


germanischen Kompositionen; es tritt aber auch in ihnen der Gedanke 
stark hervor, dass solche (ehrliche) Tödtungen nach der kirchlichen 
Seite hin, durch kirchliche Bussen, Wallfahrt nach Einsiedeln ete., zu 
sühnen seien, und die spezielle Beziehung auf die Familienrache zeigt 
sich regelmässig in einem Punkte des Vertrags, dass der Todtschläger 
den Verwandten des Entleibten so viel als möglich aus dem Wege 
gehen solle.2?) Der Anschaulichkeit wegen will ich eine solche Rich- 
tung vom Jahr 1587, mit welcher eine fast um 100 Jahr jüngere, 
von 1660, die im Landbuch von Appenzell Inner-Rhoden Art. 46 auf- 
bewahrt ist, im Wesentlichen übereinstimmt, hersetzen. Hans Nef von 
Appenzell, der den Lorenz Schlipf daselbst getödtet hatte, musste 
sich verpflichten: 1) allen seinen Geschwisterkindern, Schwägern und 
näheren Verwandten auf Stegen und Wegen, in Holz und Feld, in 
Städten, Dörfern und auch Marktplätzen auszuweichen; ohne ihre Be- 
willigung in kein Schiff oder Wirthshaus, in keine Bad- oder Scheer- 
stube zu treten, wo sie sich befänden; wäre er aber zuerst da, so sei 
er nicht schuldig, sich zu entfernen. 2) Er musste mit dem Tödtungs- 
gewehr in der einen und einer Kerze in der andern Hand in Pro- 
cession um die ‚Kirche auf das Grab des Getödteten ziehen, daselbst 
niederknieen und ihn dreimal um Gottes und der lieben Frauen willen 
um Verzeihung bitten; ferner 200 Kerzen anschaffen, ihm ein Mess- 
opfer selbst an den Altar bringen und ein Kreuz setzen. 3) Er durfte 
in der Kirche seinen Sitz nur auf der kleinen Emporkirche einnehmen, 
auf dem Kirchwege sich nirgends aufhalten, keinen andern Weg ein- 
schlagen als den der Strasse nach über Schlatt und längs dem Weiss- 
wasser, nie über das Lehn gehen und sich nirgends nahe an einer 
Landstrasse niederlassen. 4) Er hatte der hinterlassenen Frau und 
den Kindern als Kosten- und Schadenersatz 140 Pfund Pfennige in 
guten Zeddeln und 12 Gulden baar zu zahlen. Diese Richtung wurde 
‚von beiden Parteien eidlich beschworen und vom Landammann mit 
seinem Siegel bekräftigt.2*) — Einem Todschläger im Toggenburg wurde 
1548 aufgegeben, den Verwandten des Erschlagenen bis zum dritten 
Grade beim Begegnen drei Schritte aus dem Wege zu gehen, oder 
wenn solches nicht möglich wäre, ihnen im Vorübergehen den Rücken 
zuzukehren, kein Wirths- oder Badhaus, darin sie sich befänden, zu 
betreten ?°) etc. 


23) Im altgermanischen Rechte zeigt sich Achnliches, eben weil es auf einem 
natürlichen Gefühle beruhte s. Wilda, Strafrecht der Germanen $. 181. 

24) Rüsch, der Canton Appenzell 8. 107. 

25) Arx a. a. O. III, 286. 


—_— 18 — 


Wenn ein Todschläger der Obrigkeit genügt hatte durch Zah- 
lung der auferlegten Geldbusse (Wedde) und Aushalten der über ihn 
verhängten Verbannung, blieb noch seine Verpflichtung gegen die Ver- 
wandten des Getödteten, daher kehrt in den Rechtsquellen oft die 
Wendung wieder, dass er sich vor den Freunden des Getödteten zu 
hüten oder sich mit ihnen zu richten habe.?%) Als im Jahr 1605 H. 
Marti aus Zug den H. Urner aus dem Canton Zürich getödtet hatte, 
kam die Sache vor den Stadt- und Amtsrath in Zug und dieser be- 
stimmte unter Anderem: Marti soll, so lange des Entleibten Vater lebt, 
den Canton Zürich meiden und selben nach des Vaters Ableben nicht 
ohne Einwilligung der Urner’schen Familie besuchen dürfen.?”) 

6) Wer aber beweisen konnte, dass er den Andern getödtet hatte, 
nachdem dieser ihn aus seiner Behausung „über Frieden* geladen und 
dadurch zum Herauskommen und zum Streite gereizt hatte, der sollte 
nicht nöthig haben, sich mit der Freundschaft des Entleibten abzu- 
finden. Das Zuger Stadt- und Amtbuch von 1566 Art. 125 drückt 
dieses so aus: „und also sin’ Widersächer haut, sticht oder zu Tod 
schlägt, solle er alldann demselbigen und syner ganzen Fründschaft 
geantwurt han und inen zethund nütt schuldig syn.* Es ist dieser 
Fall der Tödtung in der Nothwehr ähnlich aber nicht gleich; er steht 
vielmehr zur Seite der kraft des Hausrechts geschehenen Tödtung des 
Heimsuchers.2®) Das Zuger Recht betont aber noch, dass das Heraus- 
fordern aus dem Hause, das Anusheischen, „über Frieden“, also bei 
einem besonders gestifteten Frieden der betreffenden Personen, geschehen 
sei und dass dann das „Aushinladen* ein Friedbruch mit Werken sei. 
Das ältere Recht von Nidwalden macht gleichfalls einen Unterschied, 
sowohl bei der Heimsuchung als bei dem Laden aus dem Hause, ob 
es geschehe während der Dauer eines besonderen Friedens oder ohne 
Vorhandensein eines solchen; das neuere Recht Nidwaldens legt da- 
gegen nur auf den Hausfrieden als solchen Gewicht?®), wie es die 
Regel ist. Daraus, dass das Stadt- und Amtbuch von Zug das Aus- 
fordern als einen Bruch des besonders gestifteten Friedens urgirt, er- 


26) Kothing, Rechtsquellen S. 51. 57. 363. Schauberg, Ztschr. I, 367. 
368. vgl. Bluntschli I, 410, Anm. 152. 

7) Stadlin, Gesch. des Cantons Zug III, 306. 

28) $. meine Abhandlung über den Hausfrieden $. 21. 22. Geyer, die 
Lehre von der Nothwehr (1857) S. 81 fi. — C. Levita, das Recht der Notk- 
wehr (1856) $. 105 hat nicht genügend unterschieden. 

29) Deschwanden im Geschichtsfreund IX, 99. 107. 


— 19 — 


klärt sich aueh die weite Ausdehnung der Lokalität in den Worten: 
„uss siner Behusung und eigen Wonung oder an andern Orten“, und 
die Hauptbestimmung in Betreff meines Themas, dass, wer in dem 
genannten Falle eine Tödtung begangen, der Freundschaft des Ge- 
tödteten nichts zu leisten verpflichtet sei, folglich diese auch keinerlei 
Recht geltend machen solle, erklärt sich aus der Strenge gegen den 
Friedbruch mit Werken, welche das ältere Stadt- und Landbuch von 
Zug (1432) Art. 19 so ausdrückt: „Wer aber die Trostung bricht 
mit den Werken, der ist ein fridbrechig erlos Mann“ ete. („der sol 
fritbrech sin und meineid“ Landrecht von Nidwalden 1456).30) 

7) Die Tödtung in der Nothwehr wird im Stadt- und Amtbuch 
von Zug 1566 Art. 80 ebenso behandelt, indem es bestimmt, dass, 
wenn Jemand den Andern „unbeschulter und unveranlasster Sach“ an- 

griffe, während der Andere gern ruhig und zufrieden wäre, es aber 
nicht bleiben könne, sondern sich seines Leibes und Lebens erwehren 
müsse und hierüber seinen Widersacher zu Tode haue oder steche, 
und das durch biderbe Leute genugsam erweisen möge, dann solle er 
„ihm und seiner ganzen Freundschaft geantwortet haben.“ In zwei 
züricher Rathsverordnungen über Todschlag heisst es in Betreff der 
Tödtung in der Nothwehr: „auch vor des lyblos thanen fründen sicher 
syn“; in einer andern (aus.der Mitte des 16. Jahrh.?) ist die Form: 
„wann der Theter zur Notwehr getrungen, wirt er des entlypten fründ- 
schaft klag ledig erkendt“.3!) Nach einer ganz ähnlichen Beschrei- 
bung des Herganges, wie im Zuger Stadt- und Amtbuch, drückt der 
Luzerner geschworne Brief von 1489 die Nichtverantwortlichkeit dessen, 
der den „Anfänger“ getödtet hat, so aus: „der belibet ungefecht und 
hat darumb dehein gericht verschult“. Segesser®?) meint, dieser 
Grundsatz habe erst in dem genannten geschwornen Briefe Anerken- 
nung gefunden, denn noch 1461 sei Hans Vogler am Fischmarkt ent- 
_ hauptet worden, weil er in der Stadt einen Bürger erstochen hatte, 
ungeachtet letzterer der Anfänger gewesen sei. Aber Pfyffer®®), der 
die Relation des Falles aus dem Rathsbuche wörtlich anführt, findet 
den entscheidenden Punkt darin, dass Vogler ein fremder Beisass war 
und einen Bürger getödtet hatte, und verweist zum Belege dafür, dass, 
wenn ein Fremder einen Bürger getödtet habe, er ohne Gnade habe 


3%) Deschwanden a. a. O.S. 90. 
3) Schauberg’s Ztschr. I, 367. 368. 371. 
#2) Rechtsgeschichte II, 666. 

3) Der Canton Luzern I, 359. 


— 160 — 


sterben müssen, auch wenn die Umstände noch so sehr für ihn ge- 
sprochen hätten, auf einen Passus im Rathsbuch von 1483: „Hans 
Gräf, der Pfister ist Hintersäss worden, und wir wend ihn halten als 
einen andern Bürger, usgenommen umb den Todschlag soll er syn und 
als ein Gast gehalten werden“. 

8) Der Fall, wo ein Ehemann den bei seiner Frau ertappten Ehe- 
brecher zu tödten befugt ist, hat, auch wenn man von dem im Affeet 
handelnden Ehemann sagen kann, dass er Rache nehme für die ihm 
angethane Schande, nichts zu thun mit der Familienblutrache, führt 
aber an das Gebiet derselben hinan, insofern die Verwandten des Ge- 
tödteten nach speziellem Verbot nichts gegen jenen Ehemann unter- 
nehmen dürfen. Das Stadt- und Amtbuch von Zug 1566 Art. 82 hat 
die Satzung: „Wer der were, der einen by syner Tochter oder by 
syner Frouwen, by syner Mutter, ald by syner Schwester zur Uneeren 
funde, und an syner Schand ald an synem Laster, und ihn darüber 
in dem synen oder usserthalb, wo er ihn solicher Gestalt bezuge, 
huve oder zu tod stäch ald schlüege, der sol ihm und den synen 
geantwurtet han und von mengklichem syn.“ Vgl. Landbuch von Uri 
Art. 16. Nach altem züricher Recht, welches nur den Ehemann nennt, 
soll dieser, wenn er den Ehebrecher oder beide im Ehebruch Ertappte 
getödtet hat, achtzehn Heller auf den todien Leichnam legen „und 
damit dem Gericht und den Rechten gebüsst haben“.3*) Indem. das 
Gesetz diese Scheinbusse®) fixirt, ist auf der einen Seite anerkannt, 
dass denn doch ein Menschenleben vernichtet sei und der Regel nach 
eine Busse eintreten müsse, auf der andern Seite aber soll durch die 
nominelle Busse dem Gericht und der Freundschaft des Entleibten 
genug „geantwortet“ sein und die Blutrache der letzteren ist ausge- 
schlossen, wie jeder Anspruch derselben. 

9) In den unter Nr. 6. 7. 8. aufgeführten Fällen ist die Familien- 
rache durch gesetzliche Vorschrift zurückgewiesen, aber — exceptio 
firmat regulam — damit ist sie doch im Allgemeinen in ihrer recht- 
lichen Existenz und als zulässig in anderen Fällen anerkannt. In ent- 
fernterer, aber doch einiger Verbindung damit steht das Verbot, einen 


3) Schauberg’s Ztschr. I, 369. Bluntschli I, 411. Ueber das betr. 
Luzerner Recht s. Segesser II, 664. Pfyffer, der Canton Luzern I, 357. 
Vgl. Blumer I, 395. 

35) Ohne Zweifel ist eine Relation zwischen dieser Scheinbusse von 18 Hellern 
und der höchsten Busse von 18 Pfund, welche mehrfach vorkommt. (Schau- 
berg Ztschr. I, 143. 376.) 


— 161 — 


gerichtlich zum Tode Verurtheilten zu rächen. Kyburger Blutgerichts- 
ordnung (erneuert 1634) Art. 203%): „Wenn der arm Mensch hinweg 
geführt, fragt man wyters: N. N. ertheilend darumb by euwerem Eid, 
wo Jemandts wer der were, so des armen Menschen sich beladen und 
annemen oder sollichen sinen tod ze äfern ald zu rächen understahn 
wölte, ob nit derselb in die Band und fuosstapfen ?7) gestelt werden 
solte, dorinnen diser arm mensch jetzunder ist.“ Die hierin liegende 
Drohung kann allerdings auf die Verwandten des Hingerichteten be- 
zogen werden, scheint aber doch mehr noch gegen die sonstigen Ge- 
nossen des Verbrechers gerichtet zu sein. 

Fassen wir die im Vorigen angegebenen Züge zu einem Zeitbilde 
zusammen und vergegenwärtigen wir uns, dass es sich um eine Zeit 
des späteren Mittelalters handelt, so drängt sich uns die Frage auf, 
ob denn nicht von Staats- und Obrigkeits wegen eingeschritten wurde 
gegen die zwar im Blute der germanischen Völker liegende Neigung 
zur Familienrache, die denn aber doch der Bildung einer festeren 
Rechtsordnung im Staate widerstrebte, so können wir diese Frage nicht 
verneinen, nur war jenes Einschreiten mehr indirekt als direkt und 
wie es geschah, geht aus dem Mitgetheilten deutlich hervor. Die 
grosse Fülle der Bestimmungen in den altschweizerischen Rechtsquellen 
über den Frieden und die Gleichmässigkeit dieses Friedensrechts zeigt 
uns, dass die Ansicht, das Recht ruhe auf dem Frieden, die Rechts- 
ordnung sei ein Friedensverhältniss, auch im späteren Mittelalter der 
Schweiz sebr stark war. Wenn der Friede durch Gewaltthätigkeit, 
insbesondere durch Tödtung gebrochen war, so standen sich die beider- 
seitigen Familien entzweit und kampfgerüstet gegenüber; die in einem 
ihrer Glieder verletzte Familie schritt zum Angriff und zur Rache, 
die Familie des Thäters suchte diesen zu schützen, wenn seine That 
keine schändliche, die Familie verunehrende war, sie bot auch die 
Hand zur friedlichen Ausgleichung, als dem sichersten Mittel, die Ent- 
zweiung zu heben, und dies war zugleich der Punkt, in welchem die 
Thätigkeit der Obrigkeit begann, indem sie die Thädigung vermittelte®®) 
und so auf Grundlage der Anerkennung der Familienrache der Aus- 
übung derselben entgegenwirkte. Die oben S. 157 angeführte Appen- 


%) Schauberg's Ztschr. I, 146. 383. 385 vgl. 388 Anm. 2. Bluntschli 
I, 204. 

37) Ueber diese Bezeichnung einer Art Talion s. Zeitschrift für deutsches 
Recht XVII. Nr. 2. 

38) Landbuch von Appenzell A. Rh. 157. 


— 12 — 


zeller Richtung wurde vom Landammann besiegelt und das $. 158 er- 
wähnte Urtheil des Stadt- und Amtraths von Zug trug die Formen 
einer Richtung und berücksichtigte die Familienrache als bestehende 
Sitte. Auf diese Weise baute die Obrigkeit die Brücke von der Rache 
zum Recht. So auch in dem Falle, den die Berner Gerichtssatzung 
1614 III, 12. 10 aufführt, dass derjenige, welcher einen Andern wun- 
dete und dafür schon die Obrigkeit geleistet hatte, nicht eher in die 
Stadt kommen solle, „er habe sich denn vorhin mit dem, den er ge- 
sehrt hat, gerichtet“, wollte aber der Gesehrte zu hart sein, so solle 
die Besserung an diesen „bescheidenlich* vom Gericht oder Rath be- 
stimmt werden. 

Die Freundschaft war bereit zu rächen, wie zu helfen und zu 
schützen, wenn einer aus ihrer Mitte das Recht ansprach oder vor 
Gericht zu antworten hatte, aber sie gab ihn auch auf, wenn er sich 
ihrer unwürdig zeigte Ein Fall dieser Art wird mehrfach erwähnt 
und ist auch von Tschudi in sein Chroniecon Helveticum 39) aufge- 
nommen. In der Fastenzeit des Jahres 1464 ward Werner ab Iberg 
in Schwyz vor seinem Hause von Hans Ulrich, aueh von Schwyz, er- 
stochen. Des Ibergers Freundschaft klagte auf einen Mord gegen Hans 
Ulrich. Botschaften der Eidgenossen von Städten und Ländern kamen 
auf den Rechtstag, denn die Sache berührte „zwo gross Fründschaften 
und vernampte Geschlecht des Landes* und die Boten redeten gar 
ernstlich und trefflich darein, damit die Sache nicht zum Aeussersten 
getrieben werde. Des Ibergers Freundschaft beharrte aber bei ihrer 
Klage auf Mord. Da beriefen die von Schwyz eine grosse ausseror- 
dentliche Landsgemeinde*®), denn sie besorgten noch mehr Kummer 
und Schaden an beider Theil Freunden. Durch Urtheil der Lands- 
gemeinde ward Hans Ulrich verbannt über den Rhein und hinter Frei- 
burg im Uechtlande und gen Bellenz und ob er innert diese Marken 
käme, so sollte man ihn greifen und ihn zu Recht enthaupten. Im 
Herbst desselben Jahres ward Hans Ulrich in der Grafschaft Uznach 
gefangen, hielt also das Urtheil nicht. „Des wollten sich seine Freunde 
auch nicht weiter beladen* und ihm ward zu Uznach der Kopf abge- 
schlagen. 

Ich habe im Anfange dieser Skizze auf zwei äusserliche Momente 
hingewiesen, welche zur längeren Erhaltung der Blutrache in der Schweiz 


8) IT, 14 8. 641. 
#0) Ueber die oberste Strafgewalt der Landsgemeinden s. Blumer I, 270. 
II, 1, 146, 


— 163 — 


beitrugen; jetzt, nachdem wir diese Rache als Familienrache näher be- 
trachtet haben, ist ein tiefer liegender Grund, welcher mit der poli- 
tischen Gestalt der kleinen Freistaaten zusammenhängt, nicht zu ver- 
kennen. Der Familienverband zum Schutz gegen äussere Feinde und 
als Grundlage des Staats trat in altschweizerischer Zeit sichtbarer her- 
vor als es bei entwickelter Staatsorganisation der Fall ist. In den 
Ländern der Urschweiz, in denen die Blutrache sich so lange erhielt 
und so spät im Rechtsleben nachklang, sassen dieselben Familien in 
jener Zeit auf demselben Fleck; Schwyz hat Jahrhunderte lang die- 
selben Geschlechter gehabt und in Uri war es nieht anders. Diese 
Stabilität des Wohnens erhielt die Festigkeit des Familienbandes und 
hatte das Beharren am Hergebrachten zur Folge. Die höhere Staatsidee 
reifte langsam wie das öffentliche Strafrecht, dem die Familienblut- 
rache weichen musste, aber bei der Zähigkeit der Familienverbindungen 
und der Stärke des Familienbewusstseins nur in einem langsamen Rück- 
zuge verschwand. j 


III. Das Ertränken und das Schwemmen. 

Das Ertränken ist im deutschen Mittelalter vorzugsweise eine Strafe 
der Frauen, kommt jedoch auch für Männer vor und zwar in der 
deutschen Schweiz recht häufig. Die überaus strenge Blutgerichtsord- 
nung Zürichs aus dem 15. Jahrhundert enthält folgende Urtheilsformel: 
„Umb sollich diebstal, übel und misstuon ist von dem genanten N. 
also gericht, in dem nachrichter zuo befelchen, der im sin hend binden 
und in in einem schiff zuo dem nidern hüttly füren und uff das hüttli 
setzen und im die hend also gebunden über die knu abstreifen, und 
ein knebel zwuschen den armen und den schencklen durchhin stossen, 


und sy also gebunden in das wasser werfen und in dem wasser sterben 


und verderben lassen und er damit dem gericht und rächten gebüsst 
haben soll«t), Wie man diese Strafe noch im 16. Jahrhundert in 
Zürich gegen Wiedertäufer zur Anwendung brachte, werde ich unten 
angeben. Ein basler Erkenntniss vom Jahr 1358 lautet: „Z. soll fünf 
rechte Mile von der Stadt nimmer me sin umb den bösen Lümden, 
der uf ihn ist; und breche er’s, so soll man ihn ohne Gnaden er- 
trenken“.?) Anshelm erzählt in der Berner Chronik zum Jahr 1485, 


) Sehauberg, Ztschr. für noch ungedruckte schweiz. Rechtsquellen I, S. 
887. Bluntschli, Rechtsgesch. I, S. 409. Anm. 146 theilt die etwas abge- 
kürzte Formel aus dem Richtbuche von 1422 mit. 

2) Ochs, Geschichte der Stadt und Landschaft Basel II, 1, S. 360. 363. 
Einen Räuber liess der Bischof im Jahr 1476 in Basel ertränken s. Knebel's 


— 164 — 


dass ein wegen Kirchendiebstahl und ein wegen Gotteslästerung Ver- 
urtheilter durch ein Wunder aus der Aar errettet wurden, und aus 
dem Jahr 1492, dass ein Gotteslästerer auf Fürbitte seiner Freunde 
„vom Aarenwasser zum römischen Wyn“ begnadet wurde, d. h. wie 
Anshelm hinzufügt, „vom Babst siner Sünden ein Absolution usze- 
bringen“. — In Aarau wurden 1536 eine Frau und ihr Stiefsohn, 
welche mit einander Unzucht getrieben hatten, zum Ertränken verur- 
theilt, aber begnadigt.?) 

Bekaüntlich wurde diese Strafe oft so ausgeführt, dass man die 
Verurtheilten in einen Sack nähte.+) Nach J. v. Arx°) sind im 16. 
Jahrhundert nicht bloss Kindesmörderinnen, sondern selbst Wieder- 
täufer (im Rheinthal) gesäckt und ertränkt worden und auch Stadlin®) 
referirt, dass in Luzern und Zug Weiber im 16. Jahrhundert nicht 
mit dem Schwert gerichtet, sondern in einen Sack geschoben und er- 
tränkt wurden. Vielleicht ist darin schon eine Anwendung der P.G.O. 
zu sehen, obgleich diese (Art. 131. 124. 130. 133. 159. 162) zwar 
das Ertränken als Strafe der Weiber, insbesondere der Kindsmörde- 
rinnen, androht, nicht aber speziell diese Art der Ausführung vor- 
schreibt. Carpzov und seine Nachfolger”) fassten das Ertränken der 
Kindsmörderinnen auf als die römische Parricidalstrafe, die poena eulei, 
welche Cicero und Kaiser Justinianus malerisch beschreiben, und wie 
man sich hie und da dieser exquisiten Strafe möglichst näherte, zeigt 
die Notiz aus dem Toggenburger Kriminalprotokolle bei J. v. Arx, 
dass der Nachrichter den Mörder eines nahen Verwandten mit einem 
lebendigen Hunde in einen ledernen Sack habe einnähen und in das 
Wasser werfen müssen. 

Merkwürdig dieser Strenge gegenüber ist das Verfahren, welches 
man im 16. und 17. Jahrhundert in Basel beobachtete. Im Jahr 1541 
wurde berathen, ob man den bisherigen Gebrauch, todeswürdige schlimme 
Weibspersonen zu binden und in den Rhein zu werfen, beibehalten 


Chronik II, S. 41. Vgl. Stettler's Schweizer-Chronik I, 598 (a. 1520). Cas. 
Pfyffer, der Canton Luzern I, 360. 

®) Oelhafen, Chronik der Stadt Aarau S. 53. 

4) Grimm, R. A. 696. 

5) Gesch. des Cantons St. Gallen III, 285. 

6) Gesch. des Cantons Zug IV, 450. In Luzern wurde 1609 statt der Strafe 
der Säckung für Kindsmörderinnen die Schwertstrafe eingeführt, s. (Balthasar) 
Merkwürdigkeiten des Cantons Luzern II, 85. Segesser IV, 196. 

?) Wächter, Lehrb. des Strafrechts II, 152. 


— 165 — 


solle. Die Veranlassung zu dieser Berathung gab der Fall, dass eine 
Kindsmörderin, die im April dieses Jahres in den Rhein geworfen 
worden, mit dem Leben davon gekommen war. Eine Ordnung fol- 
genden Inhalts kam am 5. Okt. d. J. zu Stande®): Wenn man jemand, 
Weib- oder Mannsperson, mit dem Wasser richten und ertränken will, 
so soll der Oberstknecht (Rathsdiener) am Abend vorher sorgen, dass 
die Meister der Gesellschaft zu der Megden®) vier Fischer abordnen, 
damit diese am folgenden Morgen bei der Rheinbrücke mit zwei Weid- 
lingen (Kähnen) gerüstet warten. Diese sollen den armen Menschen 
bis zu dem Thomasthurm hinab den „freien Rhein“ rinnen lassen, so- 
bald er aber hier angekommen, sollen sie ungesäumt ihn ans Land 
bringen und den Todtengräbern, die dort am Lande warten, überant- 
worten. Diese haben eiligst den Armen aus den Banden zu erledigen 
und das Wasser von ihm zu schütten, „damit ob Gott der Herr einen 
sollichen Armen (wie hievor auch geschehen) sin Leben bis dahin im 
Wasser erretten wurd, das der Arm nit erst uff dem Land in Banden 
verderben und so ihm wol geholfen, umbkommen musste.“ Den Todten- 
gräbern ist hiefür die grösste Sorgfalt und Eile anbefohlen; falls sie 
aber säumig sein sollten, den Fischern bei Androhung strenger Ahn- 
dung geboten, zur Rettung des Armen selbst Hand anzulegen. — 
Wiederum kam im Jahr 1589 die Rettung einer zum Wasser Verur- 
theilten vor und zum Jahr 1613 berichtet Bruckner: „Die -Kinds- 
verderberin oder Mörderin wurd nach der erhaltenen Endurtheil auf 
die Rheinbruck geführt, mit Hälsig und Stricken von dem Nachrichter 
ihro die Hände und Füsse zusammengebunden, zwo aufgeblasene Rinds- 
blattern an Hals und an die Füsse, etwann eines Klafters lang ange- 
henkt, und also in den Rhein geworfen; wenn selbige nun bis zu 
Ende der Stadt und bis zu Thomasthurm gefahren und nicht ertrunken, 
ward sie von den mitfahrenden Fischern an das Land geführt und 
ihro das Leben geschenkt.* Im Jahr 1634 fand nochmals eine solche 
Rettung statt. Als Madlen Egerin ihr uneheliches Kind gleich nach 
der Geburt ermordet hatte, wurde am 30. April des Jahres mit Ur- 
theil und Recht erkannt, dass sie solcher grausamen Unthat und Miss- 
handlung halb mit dem Wasser und was dazu gehört vom Leben zum 


8) (Bruckner) Fortführung der Basel-Chronik zum Jahr 1608. 

9) Ausser der Zunft der Schiffleuten und Fischer in Basel bestand noch eine 
Gesellschaft derselben, deren Versammlungshaus in der St. Johannis Vorstadt 
lag und „zur Mägd“ genannt wurde. S. Ochs II, 173, der aber unrichtig die 
erste Spur dieser Einrichtung erst ins Jahr 1620 setzt. 


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Tode gerichtet werden solle. Sie wurde demnach zur Wahlstatt ge- 
führt, gebunden und in den Rhein geworfen , als sie aber unterhalb 
St. Thomasthurm gelandet und aus dem Wasser gezogen worden, lebte 
sie noch, wurde wiederum in Gefangenschaft geführt und man schenkte 
ihr das Leben, verwies sie aber bei Peen des Schwertes von Stadt 
und Land Basel. Dieser gleichfalls von Bruckner erzählte Fall ver- 
anlasste, dass am 7. Mai 1634 der Rath für Kindsmörderinnen die 
Sehwertstrafe festsetzte. 

Während man in Zürich die Formel ‚,im Wasser sterben und ver- 
derben lassen“ 10%) im Buchstabensinne nahm, lautete zwar das obige 
Basler Urtheil von 1634 auch, die Kindesmörderin solle „mit dem 
Wasser und was dazu gehört, vom Leben zum Tode gerichtet werden“, 
aber man richtete die Ausführung so ein, dass diese die Gestalt eines 
Gottesurtheils annahm, und man erleichterte die göttliche Intervention 
gar sehr. Wo jedoch, vorzugsweise bei Kindsmörderinnen, auf die 
Wasserstrafe erkannt wurde, ist diese durchaus nicht identisch mit 
dem Schwemmen, welches nicht zu den Todesstrafen gehörte. Das 
Schwemmen war in verschiedenen Theilen der Schweiz in Gebrauch.tt) 
In Luzern verband man es mit der Strafe des Halseisens, so dass 
der Verbrecher erst eine bestimmte Zeit öffentlich ins Halseisen ge- 
stellt und dann eine Strecke!?) an einem Seil durchs Wasser gezogen 
wurde. Es erscheint vornemlich als Strafe der „bösen Schwüre“.13) 
Die erwähnte Blutgerichtsordnung von Zürich aus dem 15. Jahrhun- 
dert hat gesonderte Artikel über das Ertränken und das Schwemmen. 
Das Letztere wird so beschrieben: „Umb sollichen schantlichen laster- 
lichen lug und gros ubel ist von dem genannten N. nach gnad und 
also gericht, das er dem nachrichter befohlen werden, der ihn in das 
halssisen stellen und zwo stund darin lassen ston und demnach daruss 
nämen und by dem Ruden nebent ein schiff in das wasser legen und 
von dannen in deın wasser bis in niderdorf, zu der undern badstuben, 
an das land schwemmen und demnach uf ein urfecht ledig gelassen, 
und ouch in demselben urfecht schweren, vier mil über den gothart 


10) Nach Meyer von Knonau II, 140. 156. 170 wurden in Zürich im 
15. Jahrh. 37 Personen ertränkt, im 16. 53, im 17. 9 (zuletzt 1615). 

11) In Zürich ist es schon zur Zeit der Entstehung des Richtebriefes Strafe 
der Buben, welche falsch spielen und soll zuletzt im Jahr 1613 ausgeübt sein. 

12) Cas. Pfyffer, der Canton Luzern I (1858) S. 360: „vom Wygkhus 
bei St. Peters Kapelle bis zu den Häusern bei der Reussbrücke.* S. 331. 

18) Segesser II, 626. 657. IV, 207. 209 Anm. 3. 


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und nit mehr harüber (ze kommen), und sol damit der genannt N. 
dem gericht und rächten gebüest haben“.1*) Besonders gegen Wieder- 
täufer ist die Strafe des Schwemmens in Basel und in Zürich ange- 
wendet worden; „sie sollten in dem gestraft werden, worin sie sün- 
digten, durch die Wiedertaufe.“* Bald wurden sie geschwemmt, bald 
ertränkt1°); aber im Ganzen war man auch hierin in Basel milder als 
in Zürich. Am 16. Januar 1531 wurde einer in Basel „nach Ge- 
brauch“ dreimal im Rhein untergetaucht und dann mit der Drohung 
verwiesen, wenn er sich wieder sehen lasse, ertränkt zu werden. „In 
seiner Halsstarrigkeit wollte er dieses nicht eidlich versprechen.* Am 
21. Januar desselben Jahrs hat eine Wiedertäuferin „das dreimalige 
kühle Rheinbad erleiden müssen.* Am 8. Februar fand eine grosse 
Prozedur der Art statt, bei welcher das Landvolk laut Partei nahm 
für zwei Wiedertäufer. Wiederum am 30. September wurden zwei 
derselben, die nicht widerrufen wollten, geschwemmt.1) 

Ueber das Verfahren gegen die Wiedertäufer in Zürich hat Hot- 
tinger in den helvetischen Kirehengeschichten an verschiedenen Stellen 17) 
Auskunft gegeben. Dieselben bewiesen sich fast immer sehr glaubens- 
stark. Am 5. Januar 1527 wurde der Wiedertäufer Manz zum Wasser 
verurtheilt. „Als er aus dem Wellenberg zum Fischmarkt und ferner 
unter die Metzg zum Schiff geführt war, verthädigte er den Widertauf 
immer, lobte Gott, dass er wegen seiner Wahrheit sterben müsste 
und bat für die, so seines Todes schuldig wären. Auch dessen Mutter 
und Bruder stärkten ihn. Ist also in diesem Irrthum, ohne dass er 
und die Mutter. (sondern nur der Bruder) geweinet, gestorben. Nach- 
_ dem ihn der Scharfrichter auf dem Hüttlein gebunden und ihn jetzt 


14) Vgl. Meyer von Knonau II, 141. Bluntschli I, 409. Bemerkens- 
werth ist, dass wie man in Zürich fast immer in der Limmat-und nicht im Zürichsee 
ertränkte oder schwemmte, man überhaupt zu solchen Prozeduren die Flüsse der 

weiz, nicht aber die Landseen benutzte. Zum Schwemmen bedurfte man aller- 
dings der Strömung; dass aber auch zum Ertränken fliessendes Wasser nothwen- 
dig erschien, können vielleicht Kenner heidnischer Mythologie erklären. — Wäh- 
rend des 15. Jahrhunderts wurden in Zürich 37 Personen ertränkt, 1 im Zürcher- 
see, 1 bei der Sihlbrücke, die übrigen in der Limmat (Meyer von Knonau, 
Canton Zürich II, 140). 

15) So auch in Luzern s. Segesser IV, 209. 
er 16) Die Berichte finden sich bei einem Zeitgenossen, in Gast's Tagebuch, 
in Auszügen behandelt von Tryphius. Uebersetzt und erläutert von Buxtorf- 
Falkeisen. Basel 1856. 


if) Band III, 385. 438. 


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ins Wasser werfen wollte, hat er gesungen: In manus tuas Domine 
commendo spiritum meum! Hiermit wurde er ins Wasser gestürzt, 
hinab an den Platz geführt und zu St. Jakob begraben. Vielen, auch 
in der Frömde kam es nachdenklich vor, dass dieser den Tod so 
freudig ausgestanden, andere achteten es nicht hoch, anerwogen, dass 
viele zum Tod geführte auf ihren schlimmen Sachen halsstarrig ver- 
harret.“ Am 5. Sept. 1528 wurden wieder zwei Wiedertäufer, Jakob 
Falk und Heinrich Reinmann, in der Limmat ertränkt; im folgenden 
Jahr traf drei derselben dasselbe Schicksal zu Bern und einen von 
Bülach in Zug. In Bern schritt man nicht sogleich zum Aeussersten, 
sondern die Wiedertäufer wurden zuerst aus Bern verwiesen, als sie 
wiederkamen, „hat man sie ins Wasser gestossen und nochmals weg- 
gejagt ; nachdem aber solehes nicht verfangen, wurden etliche ertränkt.*18) 

In Basel wurde die Strafe des Schwemmens auch gegen unzüch- 
tige Weibspersonen, gegen Ehebrecherinnen und bisweilen auch gegen 
Diebinnen angewendet!?). Ein dreimaliges Untertauchen scheint die 
Regel gewesen zu sein; nach Bruckner (a. 1589) wurde die Strafe 
so ausgeführt, dass man die Person an ein Seil band, sie oberhalb 
der Rheinbrücke in den Rhein warf und unterhalb der Brücke wieder 
herauszog, was an die freilich lebensgefährlichere Strafe des „Kiel- 
holens“ auf den Seeschiffen erinnert. 

Dass in Strassburg das Ertränken in der Form der Säckung aus- 
geführt worden ist, sehen wir aus Mittheilungen von Aug. Stöber?P); 
er confundirt aber das Schwemmen und das Ertränken. 

Wie in den oben erwähnten Fällen Personen, die zur Strafe des 
Ertränkens verurtheilt waren, gerettet werden konnten, dafür ergibt 
sich die Erklärung aus den Relationen über die Prozedur; auffallender 
und in das Gebiet der Wunder?t) oder der Fabel hinübergehend sind 
aber die nicht seltenen Fälle der Rettung Erhenkter.??) Ueberall er- 


18) Hottinger IV, 663. Stettler’s Chronik a. 1528. 

19) Fälle in Gast’s Tagebuch S. 10. 84 und in Gross kleiner Chronik 
a. 1531. 

20) Alsatia 1851 S. 38. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. N.F. 
1857 Nr. 10, S. 332. 

2!) Als Schutzpatrone, denen bei solchen Gelegenheiten die Rettung verdankt 
wurde, sind genannt St. Theobald, St. Jakob, St. Barbleu. 

22) Gross, kleine basler Chronik a. 1380. Knebel, Chronik a. 1474 
(TS. 77). H. R. Grimm's (Buchbinders, Trompeters und Flachmalers in Burg- 
dorf) kleine Schweizer-Cronica (Basel 1796) S. 216. Anshelm’s berner Chronik 
a. 1497 (II, 251 vgl. I, 385). Ochs, Gesch. von Basel I, 1 $. 452. 


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zählt ist ein basler Fall vom Jahr 1374. Ein Küferknecht war zum 
Strange verurtheilt worden, weil er einen Geldwechsler bestohlen hatte, 
„Da baten die redlichen Küferknechte, so ehrlich und zünftig waren, 
die Obrigkeit, dass sie dessen Leichnam nach seinem Tode wieder 
von dem Galgen nehmen und begraben möchten, welches ihnen die 
Obrigkeit erlaubte. Als der Nachrichter den Dieb von der Leiter ab- 
gestossen und eine Weile am Galgen hatte hängen lassen, fragte er 
den Richter, ob er nach Urtheil und Recht gerichtet habe. Da der 
Richter dies bejahte, nahm der Henker den Schelmen vom Galgen 
und übergab ihn den Küferknechten. Diese trugen den Erhenkten auf 
den Kirchhof zu St. Elisabeth und da der Todtenbaum23) eine Zeit 
da stand, alldieweil man das Grah machte, empfing der Schelm Athem 
und stand im Todtenbaum auf mit Jedermanns Verwunderung. Als 
der Wechsler dieses erfahren, lief er voller Wuth zum Nachrichter, 
der schon bei Tische sass, und erstach ihn. Da ist der Henker in 
des Küfers Todtenbaum gelegt worden.*€ Ob der Wechsler gestraft 
wurde, ist nicht bemerkt. 

Ganz fabelhaft klingt die Erzählung von einem Juden, der im 
14. Jahrhundert in Basel erhenkt wurde.??) Als er zwei Tage lang 
am Galgen lebendig gehangen hatte, begehrte er am dritten ein Christ 
zu werden. „Da hob man an einer Stange ein Gefäss voll Wasser, 
schüttete ihm solches auf den Kopf und reichte ihm also das Sakra- 
ment der Taufe. Zehn Tage soll er darauf noch am Galgen gelebt 
haben. Endlich erbarmten sich seiner etliche edle Frauen, die ihn 
herabnahmen, säuberten und, um ihn wieder zu ergnicken, mit Wein 
waschten. Allein er starb am gleichen Tage, und wurde als ein ächter 
Christ bei St. Peter begraben.“ 

Wie man bemüht war, aus Juden noch am Galgen Proselyten zu 
machen, zeigt ein aus Schwyz mitgetheilter Fall.) Bei einem Juden, 
der sich vor der Hinrichtung (wegen Diebstahl) nicht wollte taufen 


22) Todtenbaum ist noch jetzt im Canton Zürich und anderen Theilen 
der Schweiz so einheimisch, dass Sarg dagegen als ein fremdes Wort der Schrift- 
sprache erscheint. Die in jenem Namen angegebene alte Sitte, Todte in ausge- 
höhlten Baumstämmen zu begraben, ist nicht ausschliesslich alemannisch gewesen, 
denn man hat zwar im Grh. Baden und in Württemberg Todtenbäume aufge- 
funden, aber auch bei Göttingen s. Bodemeyer’s hannov. Rechtsalterthümer 
I, S. 187. ; 

2%) Ochs I, 18. 448, 

25) Blumer, Rechtsgesch. I, 407 Anm. 40. 

Wissenschaftliche Monatschrift III. 12 


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lassen, wurde nach der Hochgerichtsordnung die Strafe folgendermassen 
verschärft: der Nachrichter solle „inne zwüschendt zweene wütend oder 
bissend hünd?26) zwüschend Himmel und Erdtrich, so hoch dass undder 
ime laub und gras wachsen möge, hencken an einen strick, oder ket- 
tenen an sine füss und alda den hünden, den vöglen und dem Lufft 
bevelchen.* Blumer setzt hinzu, dass, wenn sich der Jude noch 
bekehren liess, er zwar als Dieb gleichwohl gehenkt, aber von den 
Hunden erlöst wurde. — Aus der Zeit des Schwabenkriegs berichtet 
Stettler in seiner Chronik vom Jahr 1499, dass, als die Eidge- 
nossen drei Juden ergriffen hatten, zwei derselben, die sich taufen 
liessen, wieder auf freien Fuss gesetzt wurden; den dritten aber, einen 
Büchsenschützen, welcher den Venner von Sursee und den Büchsen- 
meister von Freiburg erschossen hatte, lieferten sie an die Freiburger 
aus und „dieselbigen liessen den arbeitseeligen Menschen an beide 
Fuss aufhenken und einen ganzen Tag und Nacht mit grosser Marter 
hangen. Darauf begert er ein Christ zu werden, beichtet, bekennet 
seine Sünd und ward ihme darüber also hangend der Kopf von den 
Achseln geschlagen.“ 
IV. Das Lebendigbegraben der Kindsmörderinnen. 

In dem Weisthum von Breungenborn, in der Gegend von Birken- 
feld und Oberstein, aus dem Jahr 1418, kommt die strenge Bestim- 
mung vor: „kindsverdilgerin lebendig ins grab, ein rohr ins maul, ein 
stecken durchs hertz“.1) Die C.C.C. Art. 131 nennt bekanntlich als 
die bis dahin gewöhnliche Strafe der Kindsmörderin das Lebendigver- 
graben und Pfählen, erwähnt aber die, wenn auch nicht seltene, doch 
nicht regelmässige Zuthat des Rohrs nicht. Zu welchem Zweck ihr 
ein Rohr in den Mund gesteckt wurde, erfahren wir aus einer Mit- 
theilung über die Bestrafung der Kindsmörderinnen im alten Luzern. 
Cysat?) erzählt: „Eine Tradizion bringt mit sich, dass vordeme an 


26) Vgl. Grimm R. A. 685. J. von Arx.a. a. O. II, 285. erzählt aus 
dem Toggenburger Criminalprotokolle, dass man die wegen Diebstahl zum Tode 
verurtheilten Juden, welche auf ihre Religion sterben wollten, an einem niederen 
Galgen an den Füssen aufgehängt habe, um ihren Kopf und Hals von zwei 
unten an Ketten angebundenen beissenden Hunden abnagen zu lassen. 

!) Grimm, Weisth. I, 794. Vgl. desselben R. A. 691. 694. 

2) (Balthasar) Merkwürdigkeiten des Cantons Luzern II, 84. Ohne Zweifel 
ist diese Mittheilung entnommen aus des Stadtschreibers Cysat's Collectaneen, 
die sich auf der Luzerner Stadtbibliothek befinden, aus denen auch Grimm I], 
166 ein Weisthu mmittheilte, das jetzt genauer aus dem Originale in dem Ge- 
schichtsfreunde VI (Einsiedeln 1849) S. 66 gedruckt ist. 


— 11 — 


diesem Ort (nemlich: bei der früheren Kapelle „zum elenden Kreuze*, 
an der Grenze des Stadtbanns) die Weibspersonen, die ihre Leibsfrucht 
an der Geburt, oder sonst, verderbt, lebendig und folgender Gestalt 
begraben worden. Es ward eine tiefe Grube gemacht, Dörner auf den 
Boden gestreut, die Mörderin darauf gelegt, wieder Dornen auf sie 
geworfen, und dann mit Erde zugedeckt; jedoch so, dass vermittelst 
eines Lüftröhrchens, das in den Mund reichte und durch welches zu- 
weilen Milch eingegossen wurde, das Leben und die Qual auf viele 
Stunden oder mehrere Tage verlängert wurde.* Dieselbe Prozedur ist 
vorgeschrieben in der Freienämter Gerichtsordnung?): „Kindsverder- 
berin, Mörderin, Vergifterin soll man ausfüohren auff die gewohnliche 
Gerichtsstatt, allda soll gemacht werden ein tieffe gruoben, dorin soll 
man legen ein burdi dörn und Sie läbendig daruff wärffen, demnach 
wieder ein burdi dörn auff Sie, undt soll man Ihren in den mund 
gäben ein Lufftrören und Sie mit Erden bedeckhen und die gruoben 
zuofüllen, damit Sie weder Son noch Mond bescheinen thüge“ ete. 

Diese grausame Strafe wurde im Jahr 1570 zu Ensisheim im 
Elsass gegen eine Kindsmörderin erkannt. Das Urtheil befahl dem 
Nachrichter, die Thäterin lebendig in das Grab zu legen „und zwo 
Wellen Dörn, die ein under und die andere uff sie —, doch das er 
Irn zuvor ein Schüssel uff das Angesicht legen, in welche er ein Loch 
machen und irn durch dasselb (damit sie desto lenger leben und be- 
melte böse Mishandlung abbiessen möge) ein Ror in Mund geben, 
volgens uff sie drey spring thun und sie darnach mit Erden bedecken 
solle.“ Edle Frauen kamen aber bei der Regierung um Milderung 
dieser Strafe ein und die Verurtheilte wurde in der Ill ertränkt.#) 

Das Gericht von Bischofzell im Thurgau sprach noch im Jahr 
1596 gegen eine Kindsmörderin das Urtheil: Es werde die Verbrecherin 
in eine Grube auf einen Haufen Dörner gelegt, mit Dörnern bedeckt, 
ihr eine lange Röhre in den Mund gegeben, dann die Grube mit Erde 
zugeworfen und endlich durch den Scharfrichter ein Pfahl durch die 
Grube hinuntergeschlagen. Der Obervogt, im Namen des Bischofs, 
milderte aber die Strafe in einfache Enthauptung.’) 

In Luzern kam an die Stelle jener ältesten Strafe für Kindsmör- 
derinnen zuerst die Säckung, dann seit 1609 die Enthauptung.®) 


8) Rochholz, Schweizersagen aus’ dem Aargau II, S. 171. 
#) Aug. Stöber's Alsatia 1851, S. 44. 

5) Pupikofer, der Kanton Thurgau S. 202. 

6) S. oben S. 164. 


— 12 — 


Die Blutgerichtsordnung von Zürich aus dem 15. Jahrhundert 
hat auch eine Urtheilsformel „umb lebendig vergraben“ und schreibt 
vor, dass man die Uebelthäterin zwischen den Dornen soll lassen sterben 
und verderben, aber das Rohr ist nicht erwähnt.”) Die Strafe ist 
auch in Zürich wirklich ausgeführt worden, mit „Legung einer Bürdi 
Dorn unter und einer auf sie“ an Elisabetha Gyger wegen Anstiftung 
zur Ermordung ihres Mannes 14098) und an Marg. Ruchbrecht wegen 
Kindesmords 1424. 


V. Frevel unter russigen Raffen. 


Der Art. 23 des alten Landbuchs von Uri ist überschrieben „Fräffen- 
heit unter russigem Raffen oder aus und ab dem Seinigen laden“ und 
sehr oft, fast regelmässig, heben die altschweizerischen Rechtsquellen, 
wo sie den Hausfriedensbruch und speziell die beiden Arten desselben, 
die Heimsuchung und das Herausladen aus dem Hause, aufführen, die 
russigen (ruossigen) Raffen hervor, so dass Frevel unter russigen Raffen 
— Hausfriedensbruch ist. Die von Rauch und Russ geschwärzten 
Raffen oder Dachsparren (sooty, smoky rafters im Engl.) zeigen das 
Bewohntsein des Hauses an und somit ist denn durch jenen Ausdruck 
in einem Bilde der Satz wiedergegeben, dass der Hausfrieden auf dem 
bewohnten Hause ruhe.) Wo dann die betreffende Busse vorge- 
schrieben wird, ist oft bestimmt, dass diese sich richten soll nach der 
Zahl der Dachsparren des Hauses z. B. in der Offnung von Wetteschwil 
vom J. 1468: „Were ouch, dass deheiner den andern fräffenlich über- 
lüffe in sinem huss, derselb sol das einem vogt bessren von jeg- 
lichem raffen dri stund nün schilling Züricher pfenning und dem 
cleger ouch so vil“.2) Es erinnert diese Satzung an die lex Burgund. 
XXVII, 1: „Si quis sepem alienam nullo impeditus objecto inferendi 
tantum damni studio ruperit, si ingenuus aperuerit, illi cujus messis 
est, per singulos palos singulos tremisses exsolvat*. Frappanter ist 
aber die Aehnlichkeit mit einer Bestimmung in den alten Gesetzen von 
Wales®), die nach der englischen Uebersetzung von Owen lautet: 


7) Schauberg's Ztschr. I, $S. 390. 

8) Noch später, 1491, wurde in Breslau eine Frau wegen Anstiftung zum 
Gattenmorde lebendig begraben und ihr ein Pfahl durchgestossen. S. Klose in 
Scriptores rerum Silesiacarum III (1847) S. 79. 

1) Meine Abhandlung über den Hausfrieden S. 7. 87. 

2) Grimm, With. I, 39. 

3) Ancient laws and institutes of Wales I (1841) p. 577. 


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„Whoever shall burn the hall of the king, is to pay for each timber 
that may support the roof of the building 20 pence to the king“. 
Man kann wohl mit Sicherheit a timber that supports the roof of the 
building als eine Umschreibung des englischen rafter —= Dachsparren 
= Raffen nehmen. Freunden keltischer Herleitungen möchte ich diese 
Notiz empfehlen. 


VI. Gnade bei Recht. 

Im Jahr 1735 war der Canton Zug von einem politischen Pro- 
zesse erschüttert, der für den Angeklagten, den Landammann Schue- 
macher, welcher kurz vorher das kleine Land beherrscht hatte, damit 
endete, dass er auf drei Jahr zur Galeere verurtheilt’ und demgemäss 
auf der Citadelle in Turin einem Galeerensclaven angeschmiedet wurde. 
Als der peinliche Prozess dem Ende sich zuneigte, da traten die Frau 
des Angeklagten, seine Tochter, 70 Paar Väter und Mütter, deren 
Kinder er aus der Taufe gehoben hatte (cognatio spiritualis), vor die 
Richter und flehten knieend um Gnade; der Stadtpfarrer von Zug unter- 
stützte in ergreifender Rede die Bitte. Ein Schaffot war schon er- 
richtet; dass aber das Todesurtheil nicht gesprochen wurde, ist nicht 
auf jene Gnadenbitte zurückzuführen, sondern auf den politischen Grund, 
dass die Gegner Schuemacher’s es doch nicht wagen durften, ihn öffent- 
lich hinrichten zu lassen. 

Das Gnadebitten der Verwandten und des Pfarrers in diesem Falle 
geschah nach alter Sitte, die ehedem in der Schweiz gewöhnlich war, 
wie manche Berichte über Capitalfälle zeigen!), und die noch nicht 
ganz untergegangen ist. Als am Schlusse des Jahres 1849 eine junge 
Mörderin in Appenzell peinlich verrechtfertigt wurde, flehten die Ver- 
wandten Öffentlich um Gnade. Auch in den Rechtsquellen geschieht 
dieser Sitte mehrfach Erwähnung. Die peinliche Gerichtsordnung von 
Davos (1650) schreibt vor, dass an dem im Freien gehaltenen end- 
haften Rechtstage eine Umfrage ergehen sollte, „ob jemand, geistlich 
oder weltlich, jung oder alt, Mann oder Weibsperson umb Gnad oder 
Milderung der Urtel für die arme Person bitten wolle“. Die wichtigste 
Rechtsurkunde aber, in welcher das Flehen um Gnade von Seiten der 
Priesterschaft, der Frauen etc. in eine bestimmte urkräftige Form ge- 
bracht ist, haben wir in einer alten „Hochgerichtsform“ von Schwyz.?) 


!) Oelhafen’s Chronik der Stadt Aarau S. 51. 53. 55. 115. Gast's Tage- 
buch S. 46. Rickenmann, Gesch. der Stadt Rapperswil (1855) 8. 215. 
2) Geschichtsfreund XII, 143. 


— 1711 — 


Der Fürsprech für die Gnade Bittenden wendet sich mit folgender An- 
sprache an das Gericht: „Durch Gottes und siner lieben Mutter und 
alles himmlischen Heers willen und durch des jüngsten Gerichts willen, 
das Ihr dem armen Menschen uff disen hütigen Tag sin Leben wellind 
fristen und erstrecken und ihm die Sunn, die Gott der Herr über gutt 
und böss schynen lasst, fürer ouch schynen lassen, bis ihn Gott sonst 
zu der zyt sins natürlichen Tods zu sinen gnaden berüfft, und wellind 
also nit nach verdienst siner clarlichen misstatt und strenge des rechten, 
sonders nach gnaden und barmherzigkeit über ihn richten. Sechend 
an des armen Menschen gross angst, sin bitterliche noth, trostlose und 
todschweis, lassends üch ze herzen gan. So bitt ich üch in aller Namen, 
Ir wellend alda eeren die Erwürdig Priesterschaft, die züchtigen, tugent- 
“ riehen gegenwürtigen erberen frowen und ir ernstlich bitten und weinen 
üch ze gnaden bewegen lassen, diewyl uns doch durch das wyblich 
geschlecht unser aller Heiland in die welt geboren, und ein altes sprüch- 
wort ist, das fromer eerenfrowen pitt nit ungewert sol sin; Ir wellind 
allda eeren der schwangeren eerenfrowen, deren ouch ettlich da stand, 
grossen buch und burde, und sy umb der frucht willen, so sy under 
irem hertzen tragen, ihrer pitt geweren, Ir wellend ouch alda eeren die 
biderben frommen landlüt und eerenpersonen, desglych mich schlechten 
einfaltigen redner, die all gemeinlich üch bittend von des armen Menschen 
wegen umb fristung sins lebens.“ 

Die Theilnahme und Sorge der Verwandten machte sich in natür- 
licher Weise geltend, wenn einer aus dem Familienkreise peinlich ver- 
rechtfertigt wurde, und sie suchten durch ihre Fürbitte das Aeusserste 
das auch der gesammten Familie einen Schimpf bringen würde, das 
Berühren eines der Familienglieder durch Henkershand, abzuwenden. 
Die ehemals so feste Familienverbindung trat überhaupt hervor in dem 
das Gepräge eines Kampfes tragenden Gerichte, wie in den Familien- 
fehden, welche durch einen Todschlag geweckt wurden. Die Parteien 
wurden von den Verwandten zum Gericht begleitet, wo sie ihren Bei- 
stand in der Eideshülfe bethätigen konnten; wenn der Todschläger 
flüchtig war oder sich verborgen hielt, so agirten die beiderseitigen 
Verwandten gegen einander in der gerichtlichen Verhandlung. Recht 
dramatisch ist ein solcher Hergang geschildert in einer Züricher Raths- 
verordnung betreffend Todschlag, die wahrscheinlich aus der Mitte des 
16. Jahrhunderts stammt.3) Beide Parteien, die Kläger und des Thäters 


%) Schauberg’s Ztschr. I, 366. 


— 15 — 


Freundschaft werden in die Rathstube gelassen. Gewöhnlich begehren 
dann des Entleibten Freunde, dass man des Thäters Freundschaft ab- 
treten lasse und dass sie die Klage vorbringen dürften. , Das wird also 
mit Urtheil erkannt; doch lässt man es geschehen, wenn zuvor des 
Thäters Freundschaft eine Bitte an des Entleibten Freundschaft um eine 
milde Klage und an „meine Herren“ um Gnade thun will. Zuletzt 
heisst es: Wenn des Entleibten Freundschaft mit ihrer Klage und dem 
Rechtsatz auf den Thäter nicht heftig dringt und nicht scharf noch 
hoch klagt, so ist der Richter in seinem Urtheil desto freier, sich 
auf Gnade zu neigen. 

Die Intervention der Geistlichkeit, welche die Religion der Liebe 
und Gnade vertritt, für den mit dem Tode bedrohten Angeklagten, 
lässt sich ohne Zweifel in Verbindung setzen mit dem Satze: Ecelesia 
non sitit sanguinem! wesshalb auch geistliche Gerichtsherrn nach den 
canonischen Satzungen nicht den Blutbann verleihen konnten. ®) 

Diese Gnadenbitte der Geistlichkeit ist, wie man leicht sieht, 
sehr verschieden von dem Begnadigungsrecht, welches hohe Würden- 
‚träger der Kirche im deutschen Mittelalter ausübten.’) In einem deut- 
‚scheu Weisthum von 1577 wird als die einer Aebtissin von Alters 
‚her zustehende „Macht und Gewalt“ genannt, dass sie einen Verur- 
theilten im Gerichte oder wenn er schon auf der dritten Sprosse der 
Leiter stand oder sonst, „ohne Einsagen oder Verhinderung eines Vogtes 
mit dem Leben hat begnügen und frei geben mögen“.®) Die weltliche 
‚Obrigkeit war nicht immer zufrieden mit der Ausübung dieses Be- 
gnadigungsrechts und opponirte sich dagegen, wie gegen den Miss- 
brauch, der mit dem Asylrechte der Kirchen und Klöster nicht selten 
‚getrieben wurde.”) Auch das Gnadebitten mochte hie und da in seiner 
Ausdehnung unbequem und lästig werden, daher wurde es bei einer 
‚Busse in Ulm untersagt, für den, der um Todschlag oder um anderer 
Sachen willen eine Strafe verwirkt hatte, zu bitten, ausgenommen „den 
Predigern, Barfüssern, Siechen und Fundenkindern*.$) 

Das Gnadebitten von Seiten der Geistlichkeit, der Verwandten 


4) Walter's deutsche Rechtsgesch. $. 572. 

5) Zöpfl, das alte Bamberger Recht, Einl. S. 115. 119. 

6) Grimm, Wsth, II, 657 Anm. 

7) Mühler, deutsche Rechtshandschriften des Stadtarchivs zu Naumburg 
Ss. 89 Nr. 46. Jäger, schwäbisches Städtewesen I, 502. Seriptores rerum 
Lusaticarum N. F. I, 50. 

8) Jäger a. a. O. 312. 


— 116 — 


und anderer Personen hatte in der Schweiz nur die Tendenz in Ca- 
pitalfällen Gnade für Recht in dem Sinne zu erwirken, dass ein Rich- 
ten nach Gnade statt des Richtens nach Recht einträte; das münd- 
liche Gnadengesuch wurde also vor der Urtheilsfällung im Gerichte 
angebracht. Die Jurisdietion umfasste das Richten nach Recht und 
nach Gnade (ius und aequitas); für letzteres lässt sich aber bisweilen 
eine besondere Uebertragung von Seiten der höchsten weltlichen Gnaden- 
instanz nachweisen. So verlieh der Kaiser Siegismund durch Urkunde 
vom 22, Dezember 1433 dem Rath von Luzern für Stadt und Gebiet 
das Recht, nach Gnade zu richten.) Das Richten nach Gnade äusserte 
sich als Strafverwandlung und bot dem Richter die Möglichkeit, 
den strengen, auf Abschreckung und Schauer berechneten, daher ab- 
solut-bestimmten Strafen gegenüber sein Arbitrium geltend zu machen 
und die mildernden Umstände des Falles, wie die Jugend des Ver- 
brechers1P), in Anschlag zu bringen, wenn auch oft nur äussere, die 
wirkliche Schuld des Verbrechers nicht berührende Rücksichten, wie 
ein Thädigen der Freundschaft des Verbrechers mit der des Getödteten, 
entscheidend wurden. Den Impuls zum Richten nach Gnade gab be- 
sonders die Gnadenbitte der Geistlichkeit und der Verwandten des 
Angeklagten, denen, Angesichts der grausamen Strafe, welche drohte, 
leicht die Frauen und andere Leute sich zugesellten. Ihr Flehen um 
Gnade war in der Regel nicht weiter motivirt als durch die Hinwei- 
sung auf die Schwere der Strafe und das Wesen der Gnade — „sie 
segnet den, der gibt und den, der nimmt“ sagt der Dichter. Bis- 
weilen wurde jedoch ein äusserlicher Grund geltend gemacht. Für 
einen Todschläger, der sich in die Kirche von Meilen (am Zürchersee) 
geflüchtet hatte und dort zwei Tage geblieben war, intervenirten der 
grade in Zürich anwesende Sekretär des hl. Vaters, die Abtissin zum 
Frauenmünster, der Abt von Rüti, Bürgermeister Hans Waldmann und 
zwei seiner Collegen; die Verwandten des Todschlägers hoben hervor, 
dass er in den Zügen wider den Herzog von Burgund der Stadt Dienste 
geleistet habe.11) 

Die regelmässige Folge des Richtens nach Gnade war, dass die 
Todesstrafe, welche bei dem Richten nach Recht hätte eintreten müssen, 
wegfiel, und darin haben wir die eigentliche Bedeutung der Gnade 


9) Segesser II, 612 und über die Begnadigung und ihre Formen über- 
haupt die sehr gute Erörterung II, 723 ff. vgl. IV, 195. 

10) Schauberg's Ztschr. I, 385. 

11) Meyer von Knonau, Canton Zürich U, 141. 


— 117 — 


zu sehen.?) Malefizordaung von Zug: „— Urtel mit was Todes er 
sterben soll; so man dem armen Mensch Gnad mittheilen will, ob man 
wölle ihn mit Ruthen usschlagen oder ans Halsisen stellen“. Dass 
für die Frage nach dem Eintreten des Richtens nach Gnade die im 
Mittelalter so wichtige Unterscheidung der ehrbaren und unehrbaren 
Sachen, speziell die der ehrlichen und unehrlichen Tödtung, wie für 
das Asylrecht13), von Einfluss war, lässt sich nicht bezweifeln, aber 
entscheidend ist doch jene Unterscheidung nicht gewesen, denn wir 
sehen aus den Urtheilsformeln einer alten Züricher Blutgerichtsordnung 1), 
dass das Richten nach Gnade auch beim Diebstahl vorkam, und dass 
auch nach einem solehen Richten schimpfliche Strafen eintreten konnten. 
Oft ist die Todesstrafe gedroht mit dem Zusatze „ohne alle Gnade“ 
und dann ein Richten nach Gnade ausgeschlossen z. B. in dem schwyzer 
Friedbriefe von 1424 für den Fall, wo Jemand, der einen Handfrieden 
mit gewaffneter Hand gebrochen hat und desshalb von allen Ehren 
gestossen und für immer aus dem Lande gewiesen ist, in das Land 
zurückkehrt und ergriffen wird.1#) Nach demselben Friedbriefe soll 
man über den, der einen Andern, dem er Frieden gegeben hat, tödtet, 
richten als über einen Mörder ohne alle Gnade. ! 

- Wenn die Gnade den Tod ausschloss, so blieb noch eine Fülle 
der mannigfachen Straffolgen, welche eintreten konnten. Es ist be- 
kannt, dass in sehr vielen Fällen in der Schweiz, wie anderswo, ab- 
gesehen von den Hexenprozessen, als Strafe der Apostasie, Ketzerei 
und der Gotteslästerung das Lebendigverbrennen nach strengem Recht 
wirklich angewendet wurde. 16) In der genannten Züricher Blutgerichts- 


12) Es kommt aber auch vor, dass die Gnade darin besteht, dass ein ehr- 
licher Tod statt eines unehrlichen ertheilt wird; Glarus70, Schauberg Ztschr. 
I, 389. Ein Dieb, H. Meyer, wurde am 9. April 1416 in Zürich enthauptet 
und nicht gehängt „um der heiligen Zeit, seiner kleinen Kinder, seiner Freunde 
und Zunft willen“. 

1) Stumpff, Chronik V c. 8: „Der Abt hat im Bezirk des Klosters (St. 
Gallen) Gebot und Verbot, aber die Stadt hat die „Hohengericht“, die Strafe 
des Malefizes und Friedbruchs. So einer in das Kloster fleucht in die Freiheit, 
ist sein Handel der Freiheit fähig, so lässt man ihn deren geniessen, ist sein 
Sach aber zuviel bös, unredlich und malefizisch, so ist ihn der Abt schuldig 
auf der Stadt Anfordern hinaus zu geben“ etc. 

14) Schauberg's Ztschr. I, 385. Vgl. Pfyffer, der Canton Luzern I, 381. 

15) Landbuch S. 24 vgl. 26. 

16) Stettler's Chronik a. 1277 (Albigenser). Justinger's Berner-Chronik 
8. 37. 194. Rüsch, Canton Appenzell S. 173 (Joh. Krüsi, Oberhaupt der 
Wiedertäufer, in Luzern lebendig verbrannt). Eigenthümlich ist der Fall, den 


—- 18 — 


‘ordnung ist dagegen die Formel des Urtheils angegeben, wenn gegen 
einen Gotteslästerer auf Bitte seiner Freunde ein Richten nach Gnade 
statt fand: „es sollen am nächstkünftigen Sonntag zwei Stadtknechte 
ihn aus dem Gefängnisse nehmen und ihn an beide Kanzeln, im Münster 
und in St. Peter, am Morgen vor der Predigt stellen, und er soll 
reden, er habe wider Gottes Ehre „etwas schantlicher Worten“ ge- 
redet, darum er männiglich bitte, Gott für ihn zu bitten, dass er ihm 
seine Sünde vergebe und demnach soll er in acht Tagen gen Einsiedeln 
gehn, das beichten und büssen und dess Urkunde bringen“ ete.17) 
Nach derselben Ordnung trat an die Stelle des Ertränkens, wenn nach 
Gnade gerichtet wurde, das Schwemmen; der Dieb wurde nicht ge- 
henkt, sondern nachdem er im Halseisen gestanden hatte, wurden ihm 
beide Ohren abgeschnitten oder er wurde, seiner Jugend wegen, mit 
Ruthen vom Fischmarkt bis zum Thor in Niederdorf gepeitscht und 
auf immer aus der Stadt und dem Gebiet verwiesen. Unter den ähn- 
lichen Fällen, welche Pfyffer a. a. O. aus der Luzerner Strafrechts- 
pflege des 16. Jahrhunderts mittheilt, ist sehr pikant, dass Apollonia 
Kneubühlerin wegen Diebstahl und anderer Sachen nach Gnaden ge- 
richtet, ihrem Bruder, dem Schultheissen in Willisau, übergeben wurde, 
sie einzumauern und mit Muoss und Brot zu erhalten. Das Ein- 
mauern ist hier entschieden nicht Todesstrafe, sondern Freiheitsstrafe, 
analog dem Gebrauche in Luzern, Zug und Unterwalden, einen Ver- 
urtheilten in einem Privathause an die in der Wand befestigte Kette 
zu legen. Pfyffer18) erzählt folgenden merkwürdigen Fall vom Jahr 
1732. Beat Knübübler von Willisau hatte im betrunkenen Zustande, 
als er zu Luzern zu den auf dem Unterthor aufgesteckten Rebellen- 
köpfen (von 1653, dem Bauernkriege her) hinaufschaute, ausgerufen: 


Stumpff V c. 10 unter der Rubrik „verzweyfleter Jud“ einführt. Zum Bürger- 
meister von Constanz kam ein Jude und fiel vor ihm auf die Knie, mit der Bitte, 
dass er ihn verbrennen lasse; er habe sich an Gott versündigt, indem er sein 
Judenthum verlassen und der Christen Taufe angenommen habe. „Als er.von 
seiner Bitt nicht wollt ablassen, ward er verbrannt am 20. September (1390).“ 

17) Einen Fall der Art aus dem 15. Jahrh. referirt Meyer von Knonau 
‘II, 141. 

18) a. a. O. I, 406. In Luzern ist dieses Surrogat der Zuchthaus- oder Ge- 
fängnissstrafe nicht mehr üblich. Ueber einen neueren Fall der Art aus dem 
Canton Zug s. Renaud, Beitrag zur Staats- und Rechtsgesch. des Cantons Zug 
S. 52. Nach dem Amtsblatt von Obwalden, 1855 Nr. 20, wurde einem jungen 
Mädchen neben mehreren andern Strafen Kettenstrafe auf 3 Monat im elterlichen 
Hause zuerkannt. . # 


_- 19 — 


„Es wird eine Zeit kommen, wo die Perüken da hinauf müssen.* Ferner 
hatte er geäussert, er wolle noch Schultheiss in Luzern werden. Der- 
selbe wurde dafür eine Stunde neben den Pranger gestellt, mit einem 
Zeddel am Halse mit der Inschrift: „Wegen rebellischen Reden“. Ferner 
ward er zu Willisau in seinem Hause für seine Lebenszeit an die 
Kette geschlagen und angeguntet (d. i. die Kette an der Wand be- 
festigt). — Wie in Luzern wurde auch in Zürich das Einmauern „nach 
Gnaden“ erkannt und nicht als Todesstrafe aufgefasst, weil der Ein- 
gemauerte nicht unmittelbar in einem Hinrichtungsacte vom Leben zum 
Tode gebracht wurde, obgleich jene Strafe, so wie sie nach der Blut- 
'gerichtsordnung ausgeführt werden soll, weit grausamer erscheint, als 
die Enthauptung. Die betreffende Urtheilsformel lautet1%): „Umb sollich 
übel und misstuon ist von dem genannten. N. in Betrachtung allerlei 
ursachen, nach Gnaden und also gericht, dass N. und N. unser statt- 
buwmeister und N. unser Ratsfrund, an fuogklichen enden, so inen 
gefalt, den genannten N. vermuren lassen söllint, also das ihn Son 
noch mon lebendig niemer mer beschyne und dhein gesicht in noch 
uss haben dann oben ein löchli, da der dunst etwas von ihm gon, 
und man ihm das Essen hinin geben mug, und sust niemas mit ihm 
zuo Red kommen, und des tags ein mal zuo Essen geben, und er 
also darin ligen und bliben, bis er erstorben ist, und dann dem nach- 
fichter sinen lib befolchen werden, der den hinus uff das gryen ?) 
by der syl fueren und da verbrennen, das fleisch und gebein zuo eschen 
werd“ ete. Im 15. Jahrhundert wurde in Zürich eine Hexe, der man 
versprochen hatte, sie am Leben zu lassen, eingemauert und nach 
ihrem Tode verbrannte der Scharfrichter den Körper.?!) Nach der Hin- 
riehtung des Bürgermeisters Waldmann 1489 wurden mehrere seiner 
Anhänger enthauptet, zwei derselben, die Zunftmeister Biegger und 
Ryss, eingemauert und, wie das Urtheil sagt, „so versorgt, dass sy 
Sonn und Mon ir Lebtag nit mer sehen können, und keyn Luftloch 
sig, als dass Spyss und Trank hineinmag“.?2) 

j Bei dem Begnadigungsrechte, welches n ach gesprochenem Urtheile 
‚geltend wurde, hat die Gnade nicht dieselbe Bedeutung, wie bei dem 


19) Schauberg’s Ztschr. I, 386. 
" 20) Grien—= Geschiebe verschiedener Steinarten, Kies ete. Stalder, Idio- 
tikon s. v. . 

2!) Meyer von Knonau, II, 140. 
ww2).J. J. Füssli, Joh. Waldmannn (1780) 8. 236. Anshelm's Berner- 
Chronik II, 35. 


— 10 — 


Richten nach Gnade. Während sie bei dem letzteren als Strafum- 
wandlung geltend wurde, bestand sie bei dem ersteren meistens in 
einer Aufhebung der Criminalstrafe. Bevor das Begnadigungsrecht sich 
zu der neueren Gestalt aushildete, trat es oft in einer uns auffallenden 
Weise hervor. 

Eine eigenthümliche Sitte im Bereich des Begnadigungsrechts nach 
gefälltem Todesurtheil bestand ehedem im Thurgau. Der Landrichter 
konnte, wenn vom Hoch- oder Landgericht ein Urtheil erging, welches 
Leib oder Leben berührte, nur Gnade beweisen und das Urtheil mil- 
dern, nicht aber dasselbe schärfen); die Frau des Landrichters konnte 
den Verurtheilten dadurch begnadigen, dass sie ihn dem Scharfrichter 
vom Stricke schnitt.?*) Dieses Recht wurde 1541 abgeschafft. Die 
Frau des Landvogts von Kyburg, wie die Aebtissin des Frauenmünsters 
in Zürich hatten auch jenes Recht und machten davon nicht selten 
(im 15. Jahrhundert) Gebrauch.2®) 

Weit merkwürdiger ist noch die in einem ungedruckten Coutumier 
du pays de Vaud erwähnte Rechtssitte: „Si quelques hommes ou 
femmes & marier viennent & commettre crimes, pour lesquels ils soyent 
adjuges & mort, icelle adjudication nonobstant, s’il vient une fille 
ou un fils, selon le sexe de conjonction, qui n’auroit &t& mari6, re- 
querir & la justice le condamne pour l’avoir en mariage, il lui sera 
delivre sans prendre mort et abandonne en libert& et franchise, en 
restituant & la justice les coustes et missions supportees, sinon quils 
soyent traitres & leur princes ou seigneurs, heretiques* ete. Als Be- 
leg für dieses Recht wird eine Geschichte aus der zweiten Hälfte des 
17. Jahrhunderts angeführt?%), die der Gellert'schen Fabel „Der be- 


28) Thurgauer Landgerichtsordnung in der Zeitschr. für schweizerisches Recht 
I, Rechtsq. 8. 49. 

24) Pupikofer, der Canton Thurgau $. 203; desselben Geschichte des 
Thurgaus II, 128. j 

25) Meyer von Knonau I, 142. Es ist schon oben $. 175 ein gleiches 
Recht einer Aebtissin in Deutschland erwähnt. Vergleichen lässt sich hiezu der 
italienische Fall, dass ein zur Richtstätte geführter Verbrecher begnadigt wurde, 
wenn ihm ein Kardinal begegnete, eui occurrerit cardinalis (Matthaeus de 
eriminibus XLVIII, 18, 5 $ 18) und analog ist auch die Amnestie, welche durch 
die Ankunft eines Kaisers oder Königs in einem Lande oder einer Stadt bewirkt 
wurde, wobei sich aber der Unterschied der ehrlichen und unehrlichen Sachen 
geltend machte (Justinger, Berner-Chronik S. 287. J. von Müller's Gesch. 
II, 1 Anm. 217.) 

26) Le conseryateur Suisse — edition augmentee — Tome VI (Lausanne 
1814) p. 408, 


— 1831 — 


herzte Entschluss“ mindestens nicht nachsteht: „Il y a environ 150 
ans, qu’un jeune homme, eondamn& & mort pour vol, alloit @tre pendu 
& Romont. Il etoit deja sous le gibet, lorsqu’une fille se presente, 
et suivant l’usage du pays, ofire de lui sauver la vie, en l’&pousant 
et eu payant tous les frais de son proces eriminel. Le condamne la 
fixe un moment, puis frappant sur l’&paule du bourreau, il lui dit. 
Compere mon ami! allons seulement notre petit train; elle est borgne.... 
et il monte lestement l’&chelle fatale.“ Ein solcher Grund des Weg- 
fallens der Strafe geht weit über den favor matrimonii des neueren 
eanonischen Rechts bei der Entführung, der auch in Partikularrechte 
hinübergenommen wurde, hinaus. Es muss übrigens ein ähnlicher 
Gebrauch, wie ihn jenes Coutumier gestattet, ehemals weiter verbreitet 
gewesen sein und auch in Deutschland sich gefunden haben, denn 
Carpzov führt ihn auf, unter Verweisung auf frühere Schriftsteller 
und die spätere gemeinrechtliche Doktrin erklärt sich regelmässig da- 
gegen?”), dass das Erbieten eines Mädchens, den Verbrecher zu hei- 
rathen, einen Strafmilderungsgrund abgeben dürfe. Wernher?®) be- 
zieht sich bei Erwähnung des Gegenstandes auch auf leges, die er 
aber nicht nachweist. 


Ich führe hier am Schlusse meiner Skizze noch einen Fall an, 
in welchem zuerst ein Richten nach Gnade und dann noch eine gnädige 
Herabsetzung der nicht capitalen Strafe und zwar in favorem matri- 
monii statt hatte.229) J. B. Frei in Rapperswil hatte 1725 einen 
Vaganten erstochen. Auf Fürbitte der Patres Kapuziner, der Geist- 
lichkeit und seiner Verwandten wurde beschlossen, ihn nicht „male- 
fizisch“ zu behandeln. Das Urtheil lautete: er solle 3 Jahr wehrlos 
sein, solle 8 Tage gethürmt werden, drei Sonntage nacheinander die 
Andacht machen und alle Kosten zahlen. Darauf hielt seine Braut 
an, das „Schmähliche“ in Geldbusse zu verwandeln, worauf die Wehr- 
loserklärung in hundert Pfund Busse umgesetzt wurde. Dann bat die 
Hochzeiterin nochmals, ihr ihren Hochzeiter zu schenken und die Busse 
zu mildern und es wurde allendlich erkannt: „Ist in grössten Gnaden 
der ‚Jungfer Hochzeiterin ihr Hochzeiter geschenkt und zur Haussteuer 
von der Buss auch 50 Pfund verehrt.“ 


27) Carpzov, Pract. qu. 149 Nr. 49 sqq. Tittmann, Handbuch I $ 131 
eitirt mehrere besondere Abhandlungen über das Thema. 


28) Obss. for. IX obs. 199. 
29) X. Rickenmann, Gesch. der Stadt Rapperswil S. 215. 


—_— 12 — 


VII. Die Unschuldsrose. 

Als eine uralte Sitte im Engadin wird erwähnt, dass, wenn ein 
fälschlich eines Verbrechens Angeklagter gerechtfertigt aus dem Ge- 
fängnisse hervorgeht, ihm von einer Jungfrau feierlich eine Rose dar- 
gereicht wird. Diese Blume nennt man die Unschuldsrose. 4) 

Ob dieser oder ein ähnlicher Gebrauch anderswo vorkomme oder 
vorgekommen sei, vermag ich nicht zu sagen, wollte es aber nicht 
unterlassen, deutsche Forscher, welche Sinn für die Poesie im Recht 
haben, darauf aufmerksam zu machen. Vielleicht ist es eine lokale 
Rechtssitte des romanischen Engadins. In der Symbolik des deutschen 
Rechts finden wir zwar die Rose, aber in einer ganz anderen Bedeu- 
tung, nämlich zur Bezeichnung der Heimlichkeit und Stille des Ge- 
richts, wesshalb, nach Grimm’s Vermuthung?), in Gerichtsstuben, 
wie in Speisezimmern Rosen an die Wand gemalt wurden, was er 
dann mit dem so gebräuchlichen „sub rosa“ in Verbindung setzt, zu 
dessen Erklärung er eine Stelle aus einem alten in Zürich erschienenen 
Werke von J. W. Stuck anführt, in welchem es, nach Erwähnung 
der Sitte der alten Griechen und Römer sich bei Gastmählern mit 
Rosen zu bekränzen, heisst: „hine veresimile est morem illum pro- 
fectum, ut multis in locis Germaniae in coenaculis rosa lacunaribus 
supra mensae verticem affıxa conspiciatur, quo quisque sit secreti tenax, 
ne quid temere effudiat, sed omnia reticenda meminerit. Hinec pro- 
verbium quoque illud pervulgatum apud Germanos: haec sint sub 
rosa acta sive dieta“. 

VIII. Der Eid der Verschwiegenheit. 


In den Landbüchern Graubündens kehrt eine kräftige Formel in 
dem Eide, der die Gerichtsgeschwornen zur unverbrüchlichen Ver- 
schwiegenheit verpflichtete, mehrfach wieder. Nach dem Landbuche 
von Davos Seite 60 heisst es in der vorgesagten Eidesformel: „Zum 
Dritten werdend ihr schwern, alles das, so im heimblichen Rath ge- 
handlet würd, zu verschwigen, und euch niemand z’ Lieb lassen sein, 
dass ihr dasselbig öffnen wollend, weder Vatter noch Muotter, Weib 
noch Kind, noch niemand anderst, sondern das by euch behalten, und 
es mit euch in Todt und Gruoben tragen.“ Eine ähnliche 
Verordnung findet sich in den Landsatzungen der fünf Dörfer im Gottes- 
hausbunde S. 60 und im Landbuch des Hochgerichts Klosters S. 97 
für die Beeidigung des Landseckelmeisters: „Auch alle Heimblichkeiten 
verschweigen bis in Euer Tod und Gruben“, 


1) Helvetischer Almanach 1806 S. 49. 
2) Deutsche Rechtsalterthümer S. 941. 


— 13 — 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 18. Januar 1858. 

Herr Professor Hitzig hielt einen Vortrag über Henoch als ursprüng- 
lichen Jahresgott. Ausgehend von der Zahl 365 in der Stelle Mos. V, 23 eignete 
der Vortrag nach Buttmann sich die Combination an mit dem phrygischen 
Annakos, sowie mit Aeakos, entwickelte sodann die Bedeutung des ersteren 
Namens aus dem Sanskrit und schritt weiter zu linguistischen Erörterungen über 
Anna Perenna, die karthagische Anna, Anammelech, annus u. s. w. Im Ver- 
folge wurden die einzelnen Züge des Mythus zu deuten versucht: Eine Fluth 
muss kommen, weil ihr Typus, die Regenzeit, am Schlusse des ökonomischen 
Jahres eintritt; der Jahresgott weiss sie voraus als Prophet, weil ein Jahr Vor- 
bild des andern ist und seine Erscheinungen ihre Wiederkehr weissagen; vom 
Gotte des jährlichen Ertrages hängt alles Leben ab; er ist aber gerecht und 
mehr als dies, da er anvertrautes Gut mit Wucher zurückerstattet. Schliesslich 
wurde zur Uebereinstimmung mit Annakos auch Sparad (— Sardes) etymologisch 
gedeutet und für den Namen Endymion an indu (Sanskrit = Mond) erinnert; 
seine mit der Selene erzeugten fünfzig Töchter seien die fünfzig Wochen des 
Mondenjahres. 

An der sich hieran knüpfenden Discussion betheiligten sich die Herren 
Schlottmann, Schmidt, Volkmar und v. Marschall. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 15. Februar 1858. 

Herr Prof. Heer hielt einen Vortrag über die tertiäre Flora von 
Italien. In demselben wird nachgewiesen, dass am Südabhange der Alpen in 
den diluvialen und tertiären Gebilden dieselben Abtheilungen sich wiederfinden, 
welche in der Schweiz unterschieden worden sind. Es werden als solche be- 
zeichnet: 

1) das Erraticum, bestehend aus den zahllosen Findlingen, welche durch 
die Gletscher von den Alpen aus sowohl über die Ebenen Oberitaliens, wie die 
Niederungen der Schweiz ausgebreitet wurden. 

2) Das sogenannte Gletscher-Diluvium, die Kies- und Geröllbänke, 
welche hie und da in der Schweiz die Reste der Mammuth-Elephanten einschliessen 
und auch in Piemont in grosser Ausdehnung erscheinen. 

3) Die Utznacherbildung, welche in Piemont bei St. Damiano und 
Villa Franca auftritt, im Florentinischen im obern Arnothale; charakterisirt durch 
den Elephas antiquus, Rhinoceros leptorhinus, Mastodon Arvernensis und das 
Nilpferd. 

4) Die Oeningerbildung oder das jüngste Glied unserer oberen Süss- 
wassermolasse, in Piemont in Guarene, im Florentinischen am Montajone, im 
Val d’Era und in den pflanzenführenden Schichten des Arnothales auftretend. 
Es wird eine Zahl von Pflanzenarten namhaft gemacht, welche diesen Lokali- 
täten mit denen unseres Landes gemeinsam sind. Es werden namentlich hervor- 
gehoben: Zwei Lorbeerarten (Laurus princeps H. und Oreodaphne Heerii Gaud.), 
welche zunächst verwandt sind mit zwei Arten der canarischen Inseln; eine Pla- 
tane (Platanus aceroides Gp.), Nussbäume, Erlen, Ulmen und Weidenarten. 

5) Die marine Molasse der Schweiz, welche der Superga der Italiener 
entspricht, zu der drei Hügel in der Umgebung Turins gehören. 


— 134 — 


6) Die untere Süsswasserbildung; in der Schweiz können in dieser 
wieder zwei Abtheilungen unterschieden werden, eine untere ältere und eine obere. 
Der ersteren entsprechen zahlreiche Fundorte tertiärer Pflanzen in Piemont, Bagnares, 
Stella, S. Cristina und Cadibona, die man unter dem letzteren Namen als 
dem bekanntesten zusammenfassen kann. An dieser Lokalität wurde nämlich 
schon vor längerer Zeit ein sehr grosses schweinartiges Thier (das Anthracothe- 
rium magnum) gefunden, das auch im Waadtlande in den Kohlen von Rochette 
häufig vorkommt. Die Flora von Rochette gehört unserer ältesten Molasse an 
und mit dieser zeigt die Cadibonabildung eine grosse Uebereinstimmung. Es 
werden namentlich die zahlreichen Zimmtarten (worunter auch Cinamomum spec- 
tabile H.) hervorgehoben; immergrüne Eichen (Quereus fureinervis und Quercus 
chlorophylla Ung.) und merkwürdige Mammuthbäume (Aquoia Langsdorfi), welche 
zu jener Zeit in Piemont wie in der Schweiz vorgekommen sind. 

Es haben diese Untersuchungen ergeben, dass sich für die Tertiärzeit in 
der Flora Italiens eine grössere Uebereinstimmung mit derjenigen der Schweiz 
nachweisen lässt, als für die jetzige Zeit, was wohl durch den Umstand zu er- 
klären sein dürfte, dass damals noch keine schneebedeckte Alpenkette die Grenz- 
scheide zwischen diesen Florengebieten gebildet hat. 


Sitzung des wissenschäftlichen Vereins am 15. März 1858. 

Herr Prof. Osenbrüggen trug vor zwei rechts- und culturgeschichtliche 
Skizzen: 1) über die Blutrache im späteren Mittelalter der Schweiz; 2) über 
das Richten nach Gnade im altschweizerischen Strafrecht. (Beide Skizzen 
sind, mit Belegen und einigen Zusätzen versehen, abgedruckt in dem vorliegen- 
den Doppelheft der Monatsschrift.) — An der Besprechung über das Vorgetra- 
gene nahmen Theil die Herren A. von Orelli, G. von Wyss und Egli. 


Literarische Anzeige. 


HSaudbucb 


der 


vergleibenden Statiftif 


— der Völferzuftandd- und Staatenfunde. — 
Sür den allgemeinen praftifhen Gebraud 


von 
G. Fr. Kolb. 
25 Bogen gr. 8, geheftet Athlr, 2. fl. 3. 30 Kr. Fr 7. 

Diefes vorzügliche Merk tft nad den neueften und verläßigften, zum Theil nicht 
allgemein zugänglichen Materlalien mit großem Fleife bearbeitet. Cs gibt Feincswegs 
ein geifttödtendes Htffernmeer, fondern es fehildert die ftaatlichen und fociafen Verhältniffe, 
zugleid) die Ziffernangaben erflärend und erläuternd, die Thatfahen verglet- 
hend und beurthetlend, dabet unter fteter Htnweifung auf die Hanptveränderungen 
feit dem Beginne der jo DBieles umgeftaltenden erften franzöfifchen Revolution. Den Nadjs 
welfungen über Umfang, Besöfferung, Gebietswechfel, Finanzen (Budgets und Schulden), 
Heerwefen, Oewerbs-, Handels und Schtffahrtsverhältniffe, fchltepen fich foldhe über all- 
gemein menschliche Zuftände, über wichtige foctale Fragen an. Da das Buch wefentlih für 
den praftifchen Gebraud; eingerichtet tft, fo wird dasfelbe nicht nur dem Stattftifer von 
Tach, fondern au jedem Oefhäftsmanne, jedem Zeitungslefer nüslic, fein. 


Druck von E. Kiesling. 


Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. 


Die Börse, 


die Börfenperationen und Tanfchungen, 
die 
Stellung der Aktionäre und des Gefammtpublikums. 
Ein ne 


Bapierfpefulanten nid Kichtipefulanten. 


Auf Grundlage von Proudhon’$ Manuel du Speculateur 
de la Bourse. 

Für deutfche Lefer frei bearbeitet. Preis 18 Nor. fl. 1. Fr. 2. 
Die vorliegende Schrift tft eine Furze deutfche Bearbeitung von Proudhon’s 
Auffehen erregendem Manuel du Speculateur de la Bourse. &te befcdhränft id 
aber Feineswegs auf Auszüge aus diefem MWerfe oder auf eine Ueberfegung desfelben, 
obwohl fie die Hauptitellen in wörtlicher Uebertragung wiedergibt. Der DVerfaffer, feld 
ftändig urthetlend, befpricht vielmehr den Gegenftand tn feiner Wetfe; und während 
Proudhon nur franzöftfche Verhältniffe und Zuftände fennt, zittert er mit gleicher 
Sahfenntniß Belfptele aus Deutfhland, Defterreich, und der Schweiz, — überall das 
Spertelle mit dem Allgemeinen verbinden. “ 

Aktten- Spekulanten und Nichtfpefulanten werden mit Nubken und Sntereffe diefe 
Enthüllungen Iefen, — Enthüllungen zumal über die wirkfihe Stellung der Aktionäre, 
die Verwaltungsräthe und Direktoren, die Generalverfammlungen, die Staatsauffiht, 
die Fufionen u. f. f., dann über die eigentlichen Börfeoperationen (melde erläutert 

werden, unter Beifiigung einer Ueberficht der wichttgften Spefulattonspaptere in Deutfch- 
land, Franfreih und der Schweiz.) Die Schrift befpricht aber auch, außerdem die ber 
deutendften und eindringlichften Fragen der heutigen foztalen Entwidlung, einfhliegiih 
des Momentes der auf alle Verhältniffe fo mächtig einwirkenden Vertheuerung der Ler 
bensbedürfniffe, der dadurch) erzeugten Arbeiterfoalttionen und deren wahre Veranlaffung. 


Ueber \ 
Wefen, Einrichtung und pädagogifde Bedeutung 
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Ferpınann Hırzıc, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey, 


> ApvouLr Schwmipt, HEINRICH SCHWEIZER. 


(Hauptred.: Epvarp OsEnBRÜGGEn.) 


DBLETTBR JAEHRSGARE, 


Siebentes und achtes Heft. 


ZÜRICH, 


VERLAG von MEYER & ZELLER. 


1858. 


Preis für den Jahrgang 2 Thir. 20 Ngr. - Fr. 9 


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Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- 


fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,  ° 


mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- 
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter 
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, 
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. 


Inhalt des borliegenden Heftes : 


Die menschliche Hand." N on- HERMANN METER. NN. 2 DO eelgn 


Ueber die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden in 
den Jahren 1212 —1315. Von GEöre v. Wyss . . ..2. .2..20.0..217 


Referat aus der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins vom 21. Juni . 248 


Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des 
Buchhandels erbeten. 


Grgenbwärtige Mitglieder des Wlissenschaftlichen Vereins : 


Hırzıe, Präsident. Av. Schmivs, Vicepräsident. G. v. Wyss, Sekretär. BoBkık. 
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GIESKER. Heer. HınLdEsrann. HırLLesrann. J. J. Hortinger. Kenncort. Kym. 
LEsErt. v. MarscHaıı. H. Meyer. MEvER-AnHrens. MEYER v. Knonav. MÜLLER. . 
NÄgeLı. v. ORELLI. ÖSENBRÜGGEN. RAABE. SCHEUCHZER. SCHLOTTMANN. ALEX. 
SCHWEIZER. H. SCHWEIZER. STÄDELER. F. VıscHEr. VogEL. VOoLKMAR. 


Druck von E. Kiesling in Zürich. 


Die menschliche Hand. *) 


Von HERMANN MEYER, 


Die Stellung des Menschen in der Thierreihe hat bei den Natur- 
forschern schon vielerlei Kontroverse hervorgerufen. Es mag dieses 
sonderbar erscheinen, weil wohl bei Niemandem ein Zweifel darüber 
sein kann, dass er seiner geistigen Eigenschaften wegen unbedingt 
obenan zu stellen sei. Man könnte es sogar vollständig gerechtfertigt 
finden, wenn von irgend einer Seite die bezeichnete Frage als eine 
ganz müssige hingestellt würde unter Berufung darauf, dass der 
Mensch eben dieser geistigen Eigenschaften wegen überhaupt gar nicht 
mit den Thieren verglichen werden dürfe. — Auf solche Einwendun- 
gen kann die beschreibende Naturforschung indessen nur erwidern, 
dass sie als Entscheidungsgründe für ihre Eintheilung einzig die 
äusseren Gestalten der Naturkörper wählen darf, und höchstens noch 
die Lebensweise, in so weit diese mit dem Bau und den Gestaltver- 
hältnissen überhaupt in engstem Zusammenhange steht. — Je unaus- 
weichlicher nun von diesem Standpunkte aus der Mensch als ein Glied 
in der obersten Klasse der Wirbelthiere hingestellt wird, um so eif- 
riger regten sich zu allen Zeiten die Bemühungen der Naturforscher 
und Philosophen, dem Menschen wenigstens ein wichtigeres körper- 
liches Kennzeichen zu retten, welches er mit gar keinem Thiere ge- 
mein hätte, und welches ihn desshalb auch in der körperlichen Er- 
scheinung scharf getrennt hinstelltee Wenige nur, wie z. B. Moscati, 
verfielen in das andere Extrem und bemühten sich zu beweisen, dass 
der Mensch eigentlich ein entartetes vierfüssiges Thier sei, welches 
nur aus übler Angewohnheit auf zwei Beinen gehe, wofür er denn 
freilich auch zu büssen habe, indem fast sämmtliche Gebrechen und 
Krankheiten des Menschen nach Moscati’s Meinung gerade davon ab- 
zuleiten sein -sollen, dass der Mensch, den vierfüssigen Naturzustand 
verlassend, die Anmassung gehabt habe, sich auf zwei Beine zu er- 
heben. — Wenn Bestrebungen dieser letzteren Art, die Stellung des 


*) Ein Vortrag vor gemischtem Publikum. 
Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 13 


— 186 — 


Menschen zu den Thieren zu bezeichnen, auf den ersten Blick schon 
als gänzlich gefehlte erscheinen müssen, so ist es dagegen auch den 
Vertretern der andern Seite noch keineswegs gelungen, den Menschen 
in vorher bezeichneter Weise von der Thierwelt zu emanzipiren. — 
Bekannt ist die Art, wie Platon diese Frage, die auch ihn schon be- 
schäftigte, glaubte lösen zu können. Er definirte nämlich den Menschen 
als ein zweibeiniges Thier ohne Federn. Bekannt ist aber auch die 
schneidende Weise, in welcher Diogenes diese Definition vernichtete. 
Er liess in Platon’s Hörsaal einen gerupften Hahn laufen und rief 
den Schülern zu: „Seht da! das ist der Mensch des Platon!“ — 
Ebenso waren auch alle Merkzeichen, welche Neuere dem Menschen 
als charakteristisch vindizirt haben, nicht stichhaltig. Der aufrechte 
Gang, das relativ grosse Gehirn, der Bart, die Hand, alle finden sich 
bei gewissen Thieren, und selbst die hervorstehende Nase darf nicht 
mehr geltend gemacht werden, seit man eine Affenart entdeckt hat, 
deren äusseres Geruchsorgan selbst die kühnste Adlernase beschämen 
muss. Das hervorragende Kinn mag vielleicht noch das einzige un- 
bestrittene Merkmal des Menschen sein, aber wie unbedeutend und 
unwichtig ist dieses! und wer weiss, wie bald dem Menschen auch 
noch dieses Vorrecht durch irgend eine neu entdeckte Thierart ent- 
rissen wird. 

Man darf sich nicht wundern darüber, dass Versuche bezeichne- 
ter Art bisher unglücklich gewesen sind. Dieses Misslingen ist die 
nothwendige Folge von einer falschen Stellung der Aufgabe. Ein 
jedes Geschöpf ist ein harmonisches Ganze, in welchem jeder einzelne 
Theil in den typischen Charakter der Gesammtheit aller Theile ein- 
gepasst ist. Ein solches Ganze will auch als Ganzes erfasst sein und 
will man einen einzelnen Theil für sich herausnehmen, um ihn zu 
untersuchen, so benimmt man sich schon von vornen herein die Mög- 
lichkeit, ihn recht zu verstehen. Würde man dieses berücksichtigt 
haben, so würde man gefunden haben, dass alle die vorher genannten 
Theile doch wesentlich mit zu dem Bilde des Menschen gehören, wenn 
auch jeder einzelne für sich bei einem und dem anderen Thiere ge- 
funden wird. 

Mögen Sie mir gestatten, diesen Satz an einem Gliede durchzu- 
führen, welches man schon längst aufgegeben hat, als charakteristisch 
für den Menschen anzusehen, — nämlich an der Hand. — Bekannt- 
lich gibt es eine ganze grosse Thierklasse, die Affen, welche dem 
Menschen nicht nur überhaupt das Vorrecht auf den Besitz der Hand 


m 


— 1837 — 


streitig machen, sondern sogar noch besondere Bevorzugung darin 
besitzen, dass sie nach der geläufigen Auffassung sogar vier Hände 
haben, während der Mensch sich mit zweien begnügen muss. 

Wir wollen zuerst den Bau der menschlichen Hand unter- 
suchen, es wird sich dann in dem Späteren schon herausstellen, wie 
trotz mancher anscheinenden Aehnlichkeit die Affenhand zur mensch- 
lichen Hand sich nicht anders verhält, als wie die in dem Affen ge- 
gebene Karrikatur des Menschen zu dem Menschen selbst, — Erlau- 
ben Sie mir indessen den Anfang zu dieser Untersuchung etwas weiter 
zu suchen und mit einer kleinen Exkursion in das Gebiet des Körper- 
baues im Allgemeinen zu beginnen. 

Mit wenigen Ausnahmen- besitzen alle Thiere eine freie Ortsbe- 
wegung, so dass sie nach Belieben ihre Umgebung verlassen und eine 
neue aufsuchen hönnen. — Durch welche Mittel eine solehe Ortsbe- 
wegung bei niederen Thieren hervorgebracht wird, berührt uns hier 
nicht; wir müssen uns, wenn wir einen Vergleich mit dem mensch- 
lichen Körper durchführen wollen, an höhere Thiere halten, welche 
dem Menschen in den Grundsätzen ihres Baues am nächsten verwandt 
sind, nämlich an die mit einem inneren Knochengerüste versehenen 
Wirbelthiere. Bei diesen ist aber die Ortsbewegung an das Vorhan- 
densein und die Thätigkeit gewisser, an den Seiten des Rumpfes 
äusserlich angehefteter Organe gebunden, welche wir als Flossen, 
Flügel, Beine etc. kennen; und nur wenige Wirbelthiere, wie z. B. 
die Schlangen, nähern sich durch den Mangel soleher Organe in ihrer 
äussern Gestalt wieder untergeordneteren Thiertypen. Die Anatomie 
nennt die angeführten seitlichen Organe mit einer allgemeineren Be- 
zeichnung: Extremitäten. 

Die vollständige Zahl der Extremitäten ist vier; in dieser Zahl 
finden sie sich auch bei der weit vorherrschenden Menge der Wirbel- 
thiere, und man unterscheidet dann an einem jeden Individuum nach 
der Lage zwei vordere und zwei hintere Extremitäten. Wenn auch 
diese Vierzahl nicht von allen Wirbelthieren erreicht wird, wenn 
manche nur zwei und manche sogar, wie schon erwähnt, gar keine 
Extremitäten besitzen, — so wird doch andererseits diese Zahl niemals 
überschritten, und Geschöpfe mit sechs oder mehr Extremitäten, 
wie sie die diehtende Phantasie der bildenden Künste erzeugt hat, 
sind von dem anatomischen Standpunkte aus durchaus nicht zu recht- 
fertigen. So die Kentauren mit vier Pferdebeinen und zwei Armen, 
— so der Greif mit den vier Löwentatzen und den beiden Flügeln, 


— 18383 — 


——- so das Krokodil mit Fledermausflügeln, genannt Drache oder Lind- 
wurm, — und so auch die konventionelle Figur der Engel, mensch- 
liche Leiber mit Vogelflügeln. Ich verkenne zwar nicht, dass diese 
Flügel der Engelsfiguren nur eine symbolische Bedeutung haben ; man 
sollte aber auch in symbolischen Gestalten nicht ins Unwahre gehen; 
— mit richtigerem Takte gaben, um das gleiche Symbol auszudrücken, 
die Alten ihrem Merkur den geflügelten Schuh und den geflügelten 
Hut; hiebei tritt die symbolische Andeutung als solche sprechend 
hervor ohne Verletzung des in dem Fühlen des Wahren begründeten 
ästhetischen Sinnes. 

Mamnigfaltig sind die Formen, in welchen uns die Extremitäten 
entgegentreten, und wir dürfen es unbedenklich sagen, dass kein Theil 
des thierischen Organismus eine solche Vielseitigkeit der Gestalten 
besitzt und dadurch 30 sehr zur Charakterisirung der äusseren Er- 
scheinung und der Lebensweise beiträgt, als gerade die Extremitäten. 
Wie verschieden von den stümmelartigen Beinen der Kröte sind die 
stolzen Beine des Storches, — wie verschieden von der Flosse des 
Fisches die zierlich gestreckten Glieder des Rehes, —- und wie ver- 
schieden von den kräftigen Säulen, auf welchen der massige Rumpf 
des Elephanten ruht, ist der leichtbewegte, lüftedurchsegelnde Fittig 
des Adlers! Und dennoch ist, wunderbar, wie es klingen mag, in 
dem Baue aller Extremitäten das gleiche Gesetz, die gleiche Grund- 
gestalt, und wir finden nur Modifikationen eines und desselben Baues 
in dem Beine der Kröte, wie in demjenigen des Storches, — in dem 
Elephantenfuss, wie in dem Adlerfittig. Das ist eben das Wunderbare 
und für den Forscher so Genussreiche in der Natur, dass gerade da, 
wo sie am Komplizirtesten erscheint, sie am Einfachsten ist, und dass 
gerade da, wo wir auf den ersten Anblick verwirrt werden über die 
endlose Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, nur ganz wenige oder gar 
nur eine einzige Grundform von unendlicher Einfachheit sich dem 
ausharrenden Geiste offenbart. Desshalb führen auch alle durchge- 
führten Untersuchungen auf wenige einfache Sätze; komplizirte und 
umfangreiche Ergebnisse sind stets ein Zeichen unvollendeter Arbeit. 

Die Grundlage des Baues einer jeden Extremität ist 
der gegliederte Stab, oder die bewegliche Vereinigung zweier Stäbe, 
wie sich eine solche z. B. in dem bekannten Instrumente, dem Zirkel, 
findet. — Die Bewegung, welche in einem solehen Instrumente aus- 
geführt werden kann, ist sehr einfach; wir können nämlich entweder 
die beiden Theile des Zirkels gegen einander bewegen, so dass die 


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Spitzen desselben sich einander nähern, oder wir können die beiden 
Theile von einander weg bewegen, so dass die Spitzen sich wieder 
von einander entfernen. — An den Extremitäten nennen wir die erstere 
Bewegung: Beugung, die zweite dagegen: Streckung. — An unserem 
Arme sind die beiden den Zirkeltheilen entsprechenden Stücke der 
Oberarm und der Unterarm; der Arm wird gebeugt, wenn die Hand 
der Schulter genähert wird, und gestreckt wird er, wenn die Hand 
von der Schulter entfernt wird. 

Einfach, wie diese Bewegungen sind, sind sie doch die Grund- 
lage des Gebrauches einer jeden Extremität, wie eine genauere Aus- 
einandersetzung leicht lehren wird. Mit ihrem einen Ende ist nämlich 
die Extremität an dem Rumpfe allseitig beweglich angeheftet, mit dem 
anderen dagegen ist sie frei. — Durch dieses Verhältniss werden 
zunächst zweierlei Beziehungen des Körpers zu den Gegenständen der 
Aussenwelt ermöglicht, je nachdem nämlich diese Gegenstände beweg- 
lich oder feststehend sind. — Ist ein beweglicher Gegenstand mit dem 
‚freien Ende der Extremität in Verbindung, haben wir ihn z. B. mit 
der Hand ergriffen, dann können wir diesen Gegenstand durch Beugen 
der Extremitäten (im Ellenbogengelenk) unserem Körper nähern und 
umgekehrt durch Streckung derselben von diesem entfernen. Ist dagegen 
‚das freie Ende der Extremität an einem feststehenden Gegenstande 
angeheftet, haben wir z. B. den Rand eines Tisches mit der Hand er- 
griffen, dann wird durch Beugung und Streckung der Extremität unser 
Körper bewegt, durch erstere nämlich nach dem Gegenstande hinge- 
zogen, durch letztere von demselben abgestossen. — Der Mechanismus 
.der Extremität kann demnach entweder äussere Gegenstände oder den 
eigenen Körper bewegen und in beiden Anwendungsweisen sowohl 
anziehend als abstossend wirken. — Wir sehen durch diese doppelte 
Art der Einwirkung nunmehr schon viererlei Anwendungen der Extre- 
mität gegeben; und diese viererlei Anwendungen werden dadurch noch 
viel mannigfaltiger, dass die Art der Einlenkung der Extremität in 
das Knochengerüste des Rumpfes so beschaffen ist, dass die Extremität 
die verschiedensten Stellungen gegen den Rumpf einnehmen kann und 
damit jene vier Anwendungen derselben in den verschiedensten Rich- 
tungen stattfinden können. 

Bei den meisten Thieren findet eine Anwendung der Extremitäten 
nur für die Lagenveränderungen des Körpers zu den Gegenständen 
der Aussenwelt statt. Ihre Extremitäten sind desshalb wesentlich oder 
vorherrschend ortsbewegend oder lokomotorisch. Ich erinnere nur an 


— 1% — 


die Fische, deren Flossen, und an die Vögel, deren Flügel keine 
andere Bedeutung haben und haben können, als den Körper des be- 
treffenden Thieres zu bewegen; — und auch die Extremitäten unserer 
Hufthiere, der Pferde, Ochsen, Ziegen ete., erlauben kaum eine andere 
Anwendung. — Bei anderen Thieren finden wir dagegen beiderlei 
Anwendungsweisen möglich, z. B. bei den Eichhörnchen, welche mit 
ihren vorderen Extremitäten nicht nur laufen und klettern, sondern 
auch Nahrungsmittel zum Munde bringen können. — Während indessen 
hier die Anwendung der Extremität zum Greifen und Bewegen äusserer 
Gegenstände mehr eine zufällige und gelegentliche ist, finden wir an 
dem menschlichen Körper diese Verwendungsweise derselben nicht nur 
überhaupt sehr scharf ausgebildet, sondern auch räumlich von der 
lokomotorischen getrennt. Jedes der beiden Extremitätenpaare ist hier 
für eine bestimmte Verwendungsweise organisirt und desshalb auch 
für diese vorzugsweise brauchbar. Das Bein ist lokomotorischer Appa- 
rat, der Arm ein greifender, äussere Gegenstände bewegender; — bei 
der Thätigkeit des Beines ist der Körper das Bewegte, bei der 
Thätigkeit des Armes ist der Körper das Ruhende, und nur unter 
ungewöhnlichen Verhältnissen findet das Gegentheil statt. 

Wenn wir nun in dem Folgenden uns bemühen wollen, den 
menschlichen Arm als einen vorzugsweise greifenden Apparat gegenüber 
dem Beine als lokomotorischem Apparate aufzufassen, so müssen wir 
uns erst noch einen anderen sehr wichtigen Punkt in dem Baue einer 
Extremität vergegenwärtigen. Wir finden nämlich keine Extremität, 
bei welcher nicht das freie Ende, welches mit äusseren Gegenständen 
in Berührung zu treten hat, eine besondere Organisation durch Zu- 
fügung eines Hülfsgliedes zeigte. Dieses Hülfsglied, als derjenige 
Theil der Extremität, welcher sich zunächst den mannigfaltigen äusse- 
ren Verhältnissen anzuschmiegen hat, zeigt begreiflicher Weise die 
mannigfaltigsten Modifikationen seines Grundplanes; und die wesent- 
lichsten Verschiedenheiten der Extremitäten sind gerade in diesen 
Modifikationen des Hülfsgliedes begründet; desshalb trägt auch die 
Gestaltung desselben am Wesentlichsten zur Charakterisirung der Ex- 
tremität und selbst zur Erscheinungsweise des ganzen Thieres bei. 
Sie merken schon, dass unter diesen Hülfsgliedern diejenigen Theile 
zu verstehen sind, welche wir an dem menschlichen Körper als Hand 
und als Fuss kennen; — und allerdings würden ohne die Hand 
Oberarm und Unterarm nur sehr unvollständig auf die Lagenverhält- 
nisse äusserer Gegenstände einwirken können; — nur dadurch, dass 


— 11 7° — 


die Hand die Gegenstände umgreift und sie damit an das freie Ende 
des Unterarms anheftet, ist eine allseitige Bewegung derselben möglich. 
Ebenso würde aber auch ohne den Fuss weder das Stehen noch das 
Gehen in so freier und mannigfaltiger Art stattfinden können, als es 
mit demselben geschehen kann. — Die Hand macht erst den Arm 
und der Fuss erst das Bein zu demjenigen, was sie in Bezug auf 
ihre Leistungsfähigkeit für unsern Körper wirklich sind. 

Wie aber einerseits durch die besondere Organisation an ihrem 
freien Ende eine Extremität als greifende oder als lokomotorische 
charakterisirt wird, so wird auch andererseits eine solche Charakteristik 
wenigstens bei dem menschlichen Körper durch die Art der Verbin- 
dung der Extremität mit dem Rumpfe gegeben. Die lokomo- 
torische Extremität muss fest mit dem übrigen Knochengerüste ver- 
bunden sein und dadurch ihre Bewegungen unmittelbar auf letzteres 
übertragen können, — die greifende Extremität muss dagegen eine 
möglichst freie und doch gesicherte Verbindung mit dem übrigen 
Knochengerüste zeigen. 

Sehen wir, wie in diesen beiden Beziehungen die menschlichen 
Extremitäten charakterisirt sind. 

An dem Beine sind die beiden Hauptstücke, der Oberschenkel 
und der Unterschenkel, durch starke und dieke Knochen gebildet, das 
Oberschenkelbein nämlich und das Schinbein. Beide Knochen artiku- 
liren unter einander in dem Kniegelenke mit breiten Enden und grossen 
Flächen, so dass das Oberschenkelbein mit seinem unteren Ende be- 
quem auf dem oberen Fnde des Schinbeins ruhen kann. In diesem 
Gelenke sind beide Knochen noch durch sehr feste und starke Bänder 
so vereinigt, dass sie zwar die Streck- und Beugebewegungen gegen- 
einander leicht ausführen können, aber dabei doch stets fest aneinander 
gedrückt gehalten werden. Unten befindet sich der Fuss, ein festes 
Knochengewölbe, welches ohne die Zehen aus 12 einzelnen Knochen 
gebildet und durch starke Bänder stets gespannt erhalten wird. Durch 
die Beweglichkeit des Kleinzehenrandes kann dieses Gewölbe sich 
jeder Bodenbeschaffenheit leicht anpassen, so dass es immer sicher 
hingestellt ist. Auf der Höhe des Gewölbes ruht das Schinbein, so 
dass es in Gemeinschaft mit einem ihm beigesellten dünneren Knochen, 
dem Wadenbein, den Scheitel des Gewölbes gabelartig umfasst. Diese 
gabelartigen Vorsprünge beider Knochen sind die Knöchel. — Mit 
seinem oberen Ende ist sodann der Oberschenkelknochen seitlich in 
die Hüftpfanne des Beckens eingepflanzt und bei aller Beweglichkeit 


— 192 — 


dennoch durch massenhafte Bänder fixirt. — Da nun das Becken in 
unmittelbar inniger Verbindung steht mit der Wirbelsäule, welche die 
Grundlage des Baues für den ganzen Rumpf ist, so ist es natürlich, 
dass einerseits im Stehen der Rumpf sicher auf dem Beine ruhen kann 
und dass andererseits im Gehen die Bewegungen des Beines unmittel- 
bar dem Rumpfe mitgetheilt werden und dessen Ortsveränderung ver- 
anlassen müssen. 

Sehen wir so bei dem Beine alle Theile massig und fest, auf 
Stützen und Stemmen berechnet, so finden wir es dagegen bei dem 
Arme ganz anders. Da ist Alles fein, leichtbeweglich, gewandt, und 
doch sicher und kräftig. 

Das Bindeglied des Armes mit dem Rumpfe, das Schulterblatt, 
liegt frei, durch Muskeln vielseitig beweglich, auf der äussern Fläche 
des Brustkorbes und kann dureh seine Bewegung den ganzen Arm 
höher und tiefer, mehr nach vorn und mehr nach hinten stellen. Der 
Umkreis, in welchem die zu ergreifenden Gegenstände sich befinden 
dürfen, wird dadurch bedeutend vergrössert. Diese Vergrösserung ist 
indessen nicht auf Kosten der Festigkeit gewonnen; denn das Schulter- 
blatt hängt mit seiner äussersten Schulterspitze gerade da, wo der 
Oberarm eingelenkt ist, an dem Schüsselbeine, welches seinerseits 
wieder durch eine sehr freie, aber feste Artikulation mit dem Brust- 
beine verbunden ist. Das Schlüsselbein ist somit dem Schulterblatte 
in allen seinen Stellungen eine feste Stütze, an welche es sich anlehnen 
kann, so dass alle seine Bewegungen, so frei sie sind, doch der 
sichersten Führung theilhaftig sind. 

Leicht und den Beinknochen gegenüber klein und dünn, darum 
aber nicht minder kräftig, sind die beiden Hauptstücke des Armes, 
Oberarmknochen und Ellenbogenbein, welche dem der Konstruktion 
einer Extremität zu Grunde liegenden Gesetze entsprechend, nur gegen 
einander gebeugt und gestreckt werden können. Die grosse Beweglich- 
keit indessen, welche der Oberarmknochen in dem Schultergelenke besitzt, 
gestattet es, dass diese Streck- und Beugebewegungen nach allen Seiten 
hin ausgeführt werden können, nach vornen und hinten, nach innen und 
aussen, nach oben und unten. Rechnen wir nun noch hinzu, was 
vorher schon erwähnt wurde, dass durch die Beweglichkeit des Schulter- 
blattes auch schon dem Schultergelenke eine sehr verschiedene Stellung 
gegeben werden kann, dann erkennt man leicht, an wie ausserordentlich 
viele Punkte unserer Umgebung das untere Ende des Unterarms hin- 
geführt werden kann, selbst wenn der Rumpf völlig ruhig bleibt. 


— 13 — 


Und an diesem so frei und so sicher geführten unteren Ende des 
Unterarms ist die Hand befestigt, ein Apparat, feingliederig und 
vielseitig in seinen Bewegungen und Benutzungen, wie wenig andere, 
und darum nicht minder fest und sicher. Gestatten Sie mir, bei diesem 
wichtigsten Theile des Armes etwas länger zu verweilen. 

Die Grundlage des ganzen Handappara- Fig. 1. 
tes sind nicht weniger als 27 Knochen. Vier- | 
zehn von diesen sind Ihnen bekannt, als die 
Glieder der vier Finger und des Daumens. [ 
Bekannt ist auch, dass diese Glieder nur 7 
Beuge- und Streckbewegungen gegeneinander 
ausführen können. Ich kann daher die Glie- 
derung der einzelnen Finger und des Daumens 
als bekannt voraussetzen und mich darauf be- 
schränken, zu zeigen, wie diese Theile zu einem 
Ganzen, der Hand, vereinigt sind und wie die 
Bewegungen dieser letzteren zu Stande kommen. 

Jeder Finger einschliesslich des Daumens, 


ist an einen eigenen mässig langen Knochen 
angeheftet, welchen man den Mittelhandknochen 


a. Unterarmknochen. 


nennt, weil alle fünf Knochen dieser Art den 2; Mandnurzeiknochen. 


€, Mittelhandknochen. 


breiten Theil der Hand bilden, welchen man * "serslieder. 


als Mittelhand bezeichnet. Die Gelenkverbindung des ersten Gliedes 
der vier Finger im engeren Sinne mit diesem Mittelhandkuochen ist 
eine besondere; sie ist nämlich so, dass der gegen die Mittelhand 
gestreckte Finger nicht nur in Beugung gebracht, sondern auch nach 
beiden Seiten hin bewegt werden kann. Je mehr aber der Finger 
gegen die Mittelhand gebeugt ist, um so weniger sind diese Seiten- 
bewegungen möglich und in der stärksten Beugung können sie selbst 
durch äussere Gewalt nicht mehr ausgeführt werden.. — Durch diese 
Einrichtung ist schon sehr Vieles in dem Mechanismus der Hand ge- 
leistet, wie die Vergleichung mit der leicht zu gewinnen- Fig. 2. 
den Erfahrung lehrt. Wir können nämlich dadurch einen 

jeden Finger zu einem festen, nach den Seiten nicht schwan- (Ci 
kenden Ringe zusammenrollen, und wenn wir die vier in „5 ; baiı 


solcher Weise gebildeten Ringe der vier Finger um einen Ring zusammen- 
gerollte Finger- 


Gegenstand herumlegen, so haben wir diesen fest um- "raknochen 


schlossen, und wäre er selbst sehr klein. — Wenn wir dagegen die 
‚gegen die Mittelhand nicht gebeugten Finger in sich krümmen, so 


— 14 .— 


erzeugen wir dadurch vier Haken, welche einerseits aneinander ge- 
schlossen wirken können, z. B. als Anhängehaken beim Tragen eines 
Gewichtes an einer Handhebe, — andererseits aber auch auseinander- 
gesperrt zum Umfassen eines grösseren Gegenstandes dienen können. — 
Zwischen diesem Umfassen mit den gespreizten krallenartig gekrümm- 
ten Fingern und dem vorher besprochenen Umfassen mit den anein- 
geschlossenen ringartig gekrümmten Fingern gibt es unendlich viele 
Zwischengrade, so dass Gegenstände von verschiedenster Grösse erfasst 
werden können; und da die einzelnen Finger in ihren Bewegungen 
unabhängig von einander sind, so kann auch der eine hakenartig ge- 
krümmt sein, während der andere sich ringartig gestaltet, und wir 
sind dadurch in den Stand gesetzt, auch Gegenstände zu umfassen, 
welche in verschiedenen Theilen verschiedenen Durchmesser haben , wie 
z. B. eine Flasche. Derselbe Mechanismus ist es auch, welcher uns 
gestattet, Gegenstände schief anzufassen, wie z. B. einen Stock, einen 
Regenschirm, ein Messerheft ete. 

Die mannigfache Art, wie die Finger gegen die Handfläche ge- 
krümmt werden können, machen also das Ergreifen von Gegenständen 
verschiedenster Gestalt in mehrfacher Weise möglich. Sehr wesentlich 
werden aber die möglichen Arten des Greifens vermehrt durch die 
besondere Einrichtung des Daumens. Ehe wir diese untersuchen können, 
müssen wir indessen erst die Art und Weise kennen lernen, wie durch 
Vereinigung der Finger die Hand gebildet wird. Wir kommen da- 
durch auf die übrigen Knochenelemente der Hand. 

Ausser den genannten Mittelhandknochen und Fingergliedern findet 
man in der Hand noch sieben ganz kleine rundliche Knochen, welche 
durchschnittlich nicht mehr als etwa 3—4 Linien Durchmesser haben. 
Dieselben werden Handwurzelknochen genannt, weil sie in demjenigen 
Theile gelegen sind, welehen man allgemein als Handwurzel bezeichnet, 
d. h. in derjenigen Stelle des Armes, in welcher die Bewegungen der 
Hand bemerkt werden. Obgleich man diese sieben Knochen mit einem 
gemeinschaftlichen Namen bezeichnet, so haben sie doch eine ganz 
verschiedene Bedeutung. Wir nehmen aus ihrer Zahl zuerst viere heraus, 
welche in einer Reihe neben einander den Fingern zunächst gelegen 
sind; die andern drei werden wir später schon wieder finden. — Die 
bezeichneten vier Knochen werden die Handwurzelknochen zweiter 
Reihe genannt, und sie sind als die eigentliche Grundlage der Hand- 
bildung anzusehen. Sie liegen nämlich mit platten Flächen neben ein- 
ander in einer Reihe und sind in dieser Vereinigung durch straffe 


— 195 — 


zahlreiche Bänder so vereinigt, dass sie gewissermassen eine einzige 
feste, wenn auch etwas nachgiebige Masse darstellen. In dieser kom- 
pakten Masse ist die Grundlage für die Vereinigung der Finger zu 
einem Ganzen, zu der Hand, gegeben; denn auf sie fügen sich dicht 
gedrängt die Mittelhandknochen der Finger ein. Der Mittelhandknochen 
des kleinen Fingers und derjenige des Ringfingers sind an denselben 
Mittelhandknochen angefügt; von den übrigen Handwurzelknochen trägt 
ein jeder seinen eigenen Finger. Die vier Finger im engeren Sinne 
haben hier eine sehr feste Verbindung; denn nicht nur sind sie mit 
den Handwurzelknochen sehr innig durch straffe Bänder vereinigt, 
sondern sie sind auch unter sich an der Basis ihrer Mittelhandkuochen 
in gleicher Weise zusammengefügt; — und sie bilden so unter sich 
und mit den Handwurzelknochen ein festes, nur wenig in sich beweg- 
liches Ganze. Anders ist es mit dem Daumen, — und das führt uns 
dahin, auch diesen Theil der Hand in seiner Bedeutung noch etwas 
genauer zu würdigen. 

Der Mittelhandknochen des Daumens ist sehr beweglich auf seinem 
Handwurzelknochen angeheftet, und ist dadurch den übrigen Mittel- 
handknochen gegenüber in einer Ausnahmestellung. Gerade dieser aber 
verdankt der Daumen seine wichtige Bedeutung für die Hand; er 
kann nämlich von der übrigen Hand weit weggespreizt werden, und 
kann auch wiederum in eine solche Stellung in die Handfläche hinein- 
gerückt werden, dass seine Greiffläche derjenigen der anderen Finger 
gerade gegenüber gestellt wird. Wir nennen diese Bewegung die 
„Gegenstellung* des Daumens. — Seine Länge ist genau eine solche, 
dass, wenn er gegengestellt ist, in seiner Streekung seine Spitze mit 
den Spitzen der anderen gestreckten oder nur leicht gebeugten Finger 
zu dem sogenannten „Pfötchen“ zusammengelegt werden kann. Sind 
aber die Finger hakenartig gekrümmt, dann kann er, ebenfalls in 
hakenartiger Krümmung gebogen, mit einem jeden ein- Ein. 3 

. I 
zelnen eine Art von Zange darstellen. Nicht vergessen 
darf ich hiebei zu erwähnen, dass der dem Daumen 
entfernteste Finger, der kleine Finger, bei diesen Be- 
wegungen dem Daumen durch eine ähnliche, wenn 


auch unvollkommenere, Bewegung seines Mittelhand- 
knochens etwas entgegenkommen kann. — Welche un- Finger, einen Gegen. 
glaublichen Vortheile diese Einrichtung besitzt, ist so- uain 

gleich deutlich, wenn wir bedenken, dass nur durch sie es möglich 
ist, feinere Gegenstände zu erfassen und zu führen; ohne den gegen- 


— 1% — 


stellbaren Daumen wäre es uns nicht möglich, alle die wichtigen 
feineren und gröberen Werkzeuge, Nadel, Feder, Meisel ete. zu führen. 
Der Daumen in seiner besonderen Einrichtung stellt sich demnach als 
ein überaus wichtiges und eben desswegen auch charakteristisches Glied 
der Hand dar. 

Wir haben somit die Gliederung der Hand in sich kennen ge- 
lernt, und haben nun noch zu untersuchen, welcher Bewegungen 
die Hand als Ganzes fähig ist und wie diese Bewegungen zu Stande 
kommen. 

Prüfen wir diejenigen Bewegungen, deren die ganze Hand in 
jeder beliebigen Configuration ihrer einzelnen Theile fähig ist, etwas 
näher, so finden wir, dass dieselben nach allen Seiten hin und in der 
mannigfaltigsten Art ausgeführt werden können. Es erscheint uns, als 
ob in dieses Chaos von Bewegungen kein Plan und keine Ordnung 
hineingebracht werden könne, und doch finden wir auch hier wieder 
bei genauerem Forschen das einfachste Gesetz und die einfachste Grund- 
lage für diese Mannigfaltigkeit. Es sind nämlich nur dreierlei Arten 
von Bewegung für die ganze Hand möglich, und zwar: Beugung vor- 
wärts und rückwärts, Beugung nach beiden Seiten hin und Drehung 
der Hand um ihre Längenaxe. Alle nur irgend ausführbaren Bewe- 
gungen der Hand lassen sich auf die eben bezeichneten oder doch 
auf Kombinationen mehrerer derselben zurückführen. 

Wenn eine solche Mehrseitigkeit der Bewegungen in einem ein- 
zigen Gelenke ausgeführt werden soll, dann leidet immer die Sicher- 
heit derselben. Die sichersten Bewegungen sind immer diejenigen, 
welche ohne die Theilnahme anderer Bewegungen nur für sich allein 
in einem Gelenke ausgeführt werden können. Wo daher eine gewisse 
Vielseitigkeit und doch vollständige Sicherung der Bewegungen ge- 
geben sein soll, finden wir ganz nahe bei einander mehrere Gelenke, 
deren jedes nur einer einzigen Bewegung fähig ist, und ähnlich finden 
wir es auch bei der Hand. — Wir finden nämlich die drei Hand- 
wurzelknochen, welche wir früher unberücksichtigt liessen, in einer 
Reihe vereinigt zwischen den Unterarmknochen und der Hand einge- 
schaltet. Sie bilden zusammen zwischen Hand und Unterarm ein ähn- 
liches Zwischenglied, wie es der Oberarm zwischen dem Schulterblatte 
und dem Unterarme ist; und sie haben in dieser Eigenschaft als Ge- 
sammtheit eine .Gelenkverbindung gegen die Hand und eine andere 
gegen den Unterarm, und beide Gelenkverbindungen haben eine ver- 
schiedene Bedeutung, — in derjenigen nämlich gegen die Hand werden 


— 117 — 


vorzugsweise die Bewegungen der Hand nach vorwärts 
und rückwärts ausgeführt, und in derjenigen gegen den 
Unterarm vorzugsweise die Bewegungen der Hand nach 
beiden Seiten. — Noch wunderbarer aber ist die Ein- 
riehtung, durch welche die Drehungen der Hand um 
ihre Längenaxe zu Stande kommen. Solche Bewegungen 
sind in keinem der beiden beschriebenen Handgelenke 
möglich, sondern sie haben einen grossartigeren Mecha- 
nismus. Im Unterarm liegen nämlich zwei Knochen, das 
Ellenbogenbein und die Speiche. Das Ellenbogenbein 
ist der eigentliche Unterarmknochen, denn er steht in 
der festesten Verbindung mit dem Oberarmknochen. Die 
Speiche aber, unten viel breiter als oben, steht allein 
in Verbindung mit der Hand, so dass die Hand allen 
Bewegungen der Speiche folgen muss: — und da nun 


deren Einrichtung so ist, dass sie den Bewegungen des 
Ellenbogenbeins in ihrer ganzen Ausdehnung folgen und in 
dabei in einer jeden Stellung des Unterarms gegen den IN 
Oberarm sich um ihre eigene Längenaxe drehen kann, I 

so folgt daraus, dass damit auch die Hand in jeder 

beliebigen Stellung des Unterarms um ihre eigene Län- P- Ohersrmknochen. 


u. Ellenbogenbein. 
r. Speiche. 
genaxe gedreht werden kann. a.Drehgelenk d.8peiche 
an dem Oberarm. 


Wir erkennen demnach in der Vertheilung der «. Drehgel. a. Speiche 


an dem untern Ende 


Handbewegungen auf diese drei verschiedenen Gelenke „?% Elnbosenhein- 
wurzelknochen erster 


einen wunderbaren Mechanismus, von welchem allein Reihe geg. a.Speiche. 
c. Gelenk der Hand. 


die Sicherheit der Handbewegungen bei aller Gewandt- yurzelknochen erster 


wurzelknoch. zweiter 


heit und Vielseitigkeit derselben abhängig ist. Reihe. 

Nicht minder wunderbar, als die bisher behandelten, in dem 
Baue der Knochen begründeten Verhältnisse sind für die Konstruktion 
der Hand und deren Anwendbarkeit auch diejenigen ihrer Muskeln 
und der übrigen sie zusammensetzenden Theile. Es würde indessen 
zu weit führen, wenn ich dieses Alles hier noch weiter ausführen 
wollte. Es genüge zu erwähnen, dass auch in der Anordnung der 
Weichtheile der Hand die grösste Sparsamkeit der Mittel und die 
grösste Zweckmässigkeit angetroffen wird. — Von den bewegenden 
Muskeln der Hand und der Finger liegen die wenigsten und unbe- 
deutendsten in der Hand selbst, — die meisten liegen am Unterarme. 
und schicken nur ihre langen und dünnen Sehnen in die Hand ab, — 
einer liegt sogar noch an dem Oberarm. -— Auf diese Weise konnte 


—_— 183 — 


eine der erforderlichen Kraftaufwendung entsprechende Muskelmasse 
zur Verfügung gestellt werden, ohne dass die Hand eine wesentliche 
Vergrösserung ihrer Masse erfahren musste. Rechnen wir nun noch 
hinzu, dass nicht nur die bezeichneten Sehnen, sondern auch alle in 
die Hand eintretenden zahlreichen Nerven und Blutgefässe eine so 
geschützte Lage haben, dass auch das stärkste Andrücken der Hand 
gegen einen äusseren Gegenstand dieselben nicht verletzt und nicht 
einmal in ihrer Function hindert, so werden wir erkennen, dass in 
allen ihren Theilen die Hand als greifender, äussere Gegenstände be- 
wegender Apparat unvergleichlich eingerichtet ist, und dass der Besitz 
einer solchen Hand erst der menschlichen oberen Extremität die hohe 
Stellung verschaffen konnte, welche sie unter ähnlichen Mechanismen 
in der Thierreihe einnimmt. 

Wir kennen indessen die Hand noch nicht, wenn wir sie nur 
als Greifapparat kennen. Sie hat noch eine andere ebenso wichtige 
Bedeutung; sie ist auch Tastorgan und setzt uns durch diese Eigen- 
schaft in den Stand, uns über die räumliche Ausdehnung und die 
Beschaffenheit der Oberfläche äusserer Gegenstände zu unterrichten. 
Auch hiezu ist sie durch ihren Bau allein befähigt. Doch — sehen 
wir zuerst, was „Tasten“ heisst und was wir unter einem „Tast- 
organe“ eigentlich zu verstehen haben, dann wird sich uns schon von 
selbst das Ergebniss herausstellen, dass die menschliche Hand ein 
solches ist, und auch warum sie es ist. 

Man hat häufig die Meinung, ein Tastorgan sei ein besonders 
zum Tasten organisirter Apparat, an welchen ein besonderer Sinn, 
der Tastsinn, ebenso ausschliesslich gebunden sei, wie an das Auge 
der Gesichtssinn und an das Ohr der Gehörsinn. — Das Tasten ist 
indessen nur eine besondere Verwendung des Hautsinns und ist seinem 
Wesen nach ein ziemlich verwickelter Prozess. Es wird dieses am 
Besten deutlich werden, wenn wir zuerst einen ähnlichen Prozess in 
einem ganz anderen Theile kennen lernen. 

Wenn wir die Grösse eines mässig entfernten Gegenstandes durch 
Hülfe der dem Körper angehörigen Apparate wollen kennen lernen, 
so beschauen wir ihn, indem wir unseren Blick über denselben hin- 
streifen lassen, d. h. wir fixiren zuerst das eine Ende des Gegen- 
standes und dann nach und nach alle einzelnen Punkte desselben, 
z. B. in einer horizontalen Linie, welche wir uns über den Gegenstand 
gezogen denken, bis wir an das andere Ende des Gegenstandes ge- 
langt sind. — Nachdem wir diese Thätigkeit einmal oder auch mehrere 


— 199 — 


Male ausgeführt haben, haben wir von der Ausdehnung des betreffen- 
den Gegenstandes einen so genauen Begriff, als es unserer Uebung 
in dergleichen Schätzungen angemessen ist. 

Welche Vorgänge in uns haben nun die Bildung dieses Begriffes 
vermittelt? — Sicher ist, — zwei Akte haben gleichzeitig stattgefunden. 
Wir haben nämlich erstens unser Auge über den Gegenstand hinbe- 
wegt, und haben zweitens während dieser ganzen Zeit den Gegenstand 
oder vielmehr nach einander einzelne Theile desselben gesehen. Das 
blosse Sehen genügt nicht für die Schätzung der Grösse des Gegen- 
standes, denn sonst würde es ja nicht nöthig sein, für diesen Zweck 
das Auge über den Gegenstand hinzubewegen. Wir müssen desshalb 
schliessen, dass in der Bewegung als solcher ein Moment enthalten 
ist, welches mit der Gesichtsempfindung vereinigt jene gesuchte Be- 
lehrung verschafft. Welches ist dieses Moment? 

Alle freiwillige Bewegung in unserem Körper kommt nur durch 
Muskelzusammenziehung zu Stande und diese Muskelzusammenziehung 
nehmen wir wahr, — wir fühlen sie. — Im gewöhnlichen Leben drängt 
sich uns diese Wahrnehmung allerdings nur dann auf, wenn die Zu- 
sammenziehung des Muskels sehr kräftig oder gar krampfhaft ist; in 
dem letzteren Falle wird sie als Schmerz gefühlt. Dass indessen auch 
geringere Grade dieser sogenannten Muskelempfindung wahrgenommen 
und mit Bewusstsein aufgefasst werden können, davon überzeugt uns 
dennoch gerade wieder die gewöhnliche tägliche Erfahrung. Wir unter- 
suchen so häufig die Schwere irgend eines Körpers, indem wir ihn 
frei in der Hand halten oder auch ihn wiederholt um ein Kleines in 
die Höhe heben. Wir thun hiebei gar nichts Anderes, als dass wir 
uns die Wahrnehmung verschaffen, wie viel Muskelkraft wir aufwenden 
müssen, um der Schwere des Körpers das Gleichgewicht zu halten, 
oder dieselbe zu überwinden. In gleicher Weise schätzen wir auch 
Weiche und Härte eines Gegenstandes, indem wir ihn zwischen den 
Fingern drücken ete. Wir haben in diesen Beispielen sprechende Be- 
lege dafür, dass wir unsere Muskelempfindung auch häufig zu unserer 
Belehrung anwenden; — und wir erkennen ferner aus diesen Beispielen, 
dass wir die Mukelempfindung nicht nur überhaupt wahrnehmen können, 
sondern dass wir auch im Stande sind, gradweise Unterschiede der- 
selben in gleicher Weise aufzufassen, wie wir die verschiedene Helle 
des Lichtes und die verschiedene Stärke des Tones auffassen. 

Diese Sätze, die wir soeben gewonnen haben, erklären uns, wie 
die Bewegung der Augen über die Oberfläche eines Gegenstandes uns 


— 200 — 


Belehrung über deren Ausdehnung geben kann. — Die Augenbewegung 
kommt nämlich auch durch Muskeln zu Stande, und je bedeutender 
und ausgiebiger eine Augenbewegung sein soll, um so stärker muss 
die Muskelzusammenziehung sein, welche sie bewirkt; und je stärker 
die Muskelzusammenziehung, um so stärker die durch dieselbe veran- 
lasste Muskelempfindung. So belehrt uns also der Grad der wahr- 
genommenen Muskelempfindung über die Ausgiebigkeit der ausgeführten 
Augenbewegung; — und da die Ausgiebigkeit dieser Bewegung von 
der Grösse des Gegenstandes, den wir beschauen, abhängig ist, so 
belehrt uns auch die Muskelempfindung über die Grösse des Gegen- 
standes. In dem Beschauen eines Gegenstandes für den angegebenen 
Zweck verschaffen wir uns demnach nur eine belehrende Muskelempfin- 
dung, und die Berührung des Gegenstandes durch das Auge (wenn 
dieser Ausdruck erlaubt ist) gibt nur den Anfangs- und den Endpunkt 
unserer Beobachtung an der Muskelempfindung an. 


Ich habe hiebei zunächst nur an die Augenmuskeln gedacht; es 
ist indessen leicht, die Erfahrung zu machen, dass für den gleichen 
Zweck auch die Bewegung der Nackenmuskeln oder anderer Muskeln 
durch Drehen des Kopfes oder des ganzen Rumpfes wirken kann. 


In ähnlicher Weise wenden wir uns auch um, um die Richtung 
zu erforschen, aus welcher ein Schall oder ein Geruch herkommt. 


Verallgemeinern wir die durch diese Erfahrungen gewonnenen 
Sätze, so können wir sagen, dass wir durch die Muskelempfindung 
in der Bewegung eines Sinnesorganes bei gleichzeitigem Gebrauche 
des Sinnesorganes für Wahrnehmung eines äusseren Gegenstandes in 
den Stand gesetzt werden, Vorstellungen von den räumlichen Bezie- 
hungen dieses letzteren zu gewinnen. 


Wenden wir diesen Satz auf das Sinnesorgan, die äussere Haut, 
an, so wird es deutlich sein, dass wir eben so gut wie in dem vorher 
ausgeführten Beispiele durch die Augen die Ausdehnung eines Gegen- 
standes auch dann schätzen können, wenn wir einen Theil unserer 
Haut mit demselben in Berührung bringen und dann denselben über 
ihn hinführen. Und eben so gut, wie wir aus der Veränderung, 
welche wir in unserer Stellung ausführen müssen, um einen Schall 
deutlicher zu hören, einen Schluss machen können auf die Richtung, 
aus welcher der Schall herkommt, —- eben so gut können wir auch 
aus der Veränderung in den Bewegungen, welche wir ausführen müssen, 
um immer in Berührung mit der Oberfläche eines Gegenstandes zu 


— 201 — 


bleiben, die Veränderungen in der Richtung dieser Oberfläche schätzen, 
d. h. die Gestalt des Gegenstandes kennen lernen. 

Eine Hautfläche anwenden, um in der bezeichneten Weise Aus- 
dehnung und Gestalt eines Gegenstandes kennen zu lernen, heisst 
aber: „Tasten“; — und wir haben somit als richtig erkannt, was 
vorher schon gesagt wurde, dass das Tasten nicht eine neben Sehen, 
Hören ete. gleichberechtigt dastehende Sinnesthätigkeit ist, sondern 
nur eine besondere Art der Anwendung unseres Hautsinnes. 

Allerdings wird nicht jede Hautfläche für die Verwendung zum 
Tasten in gleicher Weise geeignet sein, und wir werden desshalb auch 
eine oder melırere Hautstellen vorzugsweise zum Tasten verwenden. 
Bekanntlich finden wir hiezu die Haut der Hand am geeignetsten und 
nennen desshalb die Hand unser „Tastorgan“. Sehen wir, welche 
Gründe sich dafür geltend machen. 

Wir haben gefunden, dass im Tasten zweierlei Wahrnehmungen 
zu einer Gesammt- Wahrnehmung verbunden werden, nämlich die 
Hautempfindung und die Muskelempfindung, — oder vielmehr, dass 
die Muskelempfindung prüfend wahrgenommen wird unter gleichzeitig 
andauernder Aufmerksamkeit auf die Hautempfindung. — Wenn wir 
nun zwei Empfindungen zugleich Aufmerksamkeit schenken sollen, so 
ist es vor allem nothwendig, dass die Möglichkeit dazu dadurch 
gegeben ist, dass keine der beiden Empfindungen in solehem Maasse 
vorherrschend ist, dass sie unsere volle Aufmerksamkeit für sich allein 
in Anspruch nimmt und die andere dadurch in den Hintergrund drängt, 
— mit anderen Worten: Es darf keine Empfindung der andern gegen- 
über zu stark sein, sondern es muss sich ein gewisses Ebenmaass 
zwischen beiden erkennen lassen. Wir können Beispiele dafür sogleich 
von dem Tasten selbst hernehmen, indem wir uns Fälle vergegenwär- 
tigen, in welchen wir die Bedingungen zur Entstehung einer Tast- 
empfindung dadurch setzen, dass wir eine Bewegung wit der Haut 
über einen Gegenstand ausführen, und in welchen dennoch keine Tast- 
empfindung zu Stande kommt. — Ein Beispiel liefert uns die bekannte 
Thatsache, dass wir von einem heissen Ofen, von einem Körper, welcher 
eine feilende Oberfläche besitzt, und von anderen Gegenständen, welche 
unsere Haut ‚beim Tasten mehr oder weniger verletzen, keine deutliche 
Tastvorstellung gewinnen können; die Hautempfindung ist in diesen 
Fällen zu stark, als dass wir der Muskelempfindung die nöthige Auf- 
merksamkeit zuwenden könnten. — Ein anderes Beispiel zeigt uns den 
störenden Einfluss einer zu starken Muskelempfindung: Es ist uns leicht 

Wissenschaftliche Monatschrift. III 14 


— 202 — 


möglich, mit der Fusssohle, während das Bein herabhängt, von der 
Bodenoberfläche eine Tastvorstellung zu gewinnen; versuchen wir aber 
einmal eine solche von der Wand zu bekommen, indem wir diese mit 
der Fusssohle betasten! Das gelingt uns sehr schlecht, oder gar nicht; 
— die gezwungene und ermüdende Stellung, welche wir dazu ein- 
nehmen müssen und die anstrengenden Bewegungen des Beines fesseln 
dahei nämlich unsere Aufmerksamkeit so sehr, dass wir es nicht mehr 
vermögen, die feineren Empfindungen, welche uns die Haut der Fuss- 
sohle verschafft, wahrzunehmen. 

Wir erfahren durch diese Beispiele, dass sich zu einem möglichst 
vollständig belehrenden Tasten nur eine solche Hautfläche eignet, welche 
ohne grosse Muskelanstrengung über die Oberfläche eines Gegenstandes 
hingeführt werden kann. 

Dieses genügt übrigens noch nicht. Die Hautfläche muss auch 
in der äusseren Gestalt ihrer Anordnung so beschaffen sein, dass sie sich 
auch geringen Veränderungen in der Richtung der Oberfläche des 
Gegenstandes leicht anschmiegen kann; —— und ausserdem muss sie 
feinfühlend sein, damit wir auch bei leichter Berührung des Gegen- 
standes, wie sie für die leichte Aktion der Muskeln nothwendig ist, 
immer die Wahrnehmung von der Anwesenheit des Gegenstandes und 
unserer Berührung mit demselben haben. — Ein Beispiel wird dieses 
beweisen. Auch mit der Haut des Rückens können wir nämlich tasten, 
wenn wir an einen Pfosten gelehnt über dessen Oberfläche hin- und 
herrutschen; — wir können so einen runden, einen eckigen Pfosten 
und einen solchen mit gebrochenen Ecken recht wohl unterscheiden, 
— aber eine feinere Tastvorstellung können wir auf diese Weise nicht 
erlangen, weil die Haut des Rückens den beiden vorher gestellten 
Anforderungen nicht entspricht; sie ist weder feinfühlend noch auch 
in ihrer flachen Ausbreitung geeignet, sich kleineren Unebenheiten 
anzuschmiegen. 

Als Bedingungen für die Anwendbarkeit eines Körpertheiles als 
Organ für das Tasten erkennen wir demnach folgende: Es muss ein 
Theil sein, welcher so gegliedert ist, dass er auch kleinen Uneben- 
heiten in der Oberfläche der Gegenstände folgen kann, — er muss 
ferner mit einer feinfühlenden Hautfläche bedeckt sein, — und er muss 
drittens eine leichte und gewandte Führung‘ durch seine Muskeln 
haben. 

Alle diese Bedingungen finden wir nun aber reichlich erfüllt an 
unserer Hand, und darum wird auch die Hand von uns so vorzugs- 


— 20 — 


weise als Tastorgan verwendet, dass wir sie sogar als das Tastorgan 
unseres Körpers bezeichnen. 

Worin die Schmiegsamkeit und die leichte Beweglichkeit unserer 
Hand begründet ist, ist grösstentheils in dem Frühern ausgeführt ; 
wir haben daher nur noch mit einigen Worten auszuführen, durch 
welche Einrichtung die Haut der Hand und namentlich der Fingerspitzen 
vor allen anderen Hautstellen feinfühlend ist, und wir wollen dabei 
noch zugleich sehen, in welchen Beziehungen diese Einrichtung, abge- 
sehen von dem Tasten, zu den Verrichtungen der Hand überhaupt steht. 

Die Haut ist ein Sinnesorgan und ist als solches mit vielen 
Nervenendigungen versehen, welche an ihrer Oberfläche den Eindrücken 
der Widerstandes und der Temperatur blosstehen. Die Nervenendi- 
gungen liegen indessen nicht ganz frei da, denn sonst würden sie 
durch die äusseren Eindrücke zu heftig erregt; sie sind vielmehr von 
der Oberhaut bedeckt, welche überhaupt die ganze Haut überzieht und 
insbesondere auch für die Schützng der Nervenendigungen und die 
Mässigung der Eindrücke auf dieselben Wichtigkeit erlangt. Von der 
Bedeutung dieses letzteren Punktes hat ein Jeder schon Gelegenheit 
gehabt sich zu überzeugen, wenn er sich an irgend einer Stelle der 
Haut die Oberhaut weggestossen hatte; solche Hautstellen sind be- 
kanntlich dann in sehr hohem Grade empfindlich, bis sie sich wieder 
auf's Neue mit Oberhaut bedeckt haben. 

Die Haut hat aber auch noch andere Bedeutungen als diejenige, 
Sinnesorgan zu sein. Sie ist auch im Allgemeinen schützende Hülle 
des ganzen Körpers und spielt eine wesentliche Rolle in der Ernäh- 
rungssphäre des Organismus. — Es darf daher nicht wundern, dass 
je nach der Stelle der Körperoberfläche bald die eine, bald die andere 
dieser beiden Beziehungen vorherrschend hervortritt. 

Da nun, wo die Haut vorzugsweise als Sinnesorgan auftritt, än- 
den wir ihre Oberfläche besonders organisirt, so dass sie ihrer Funktion 
als eines solchen mit Leichtigkeit nachkommen kann. Sie trägt nämlich 
an solchen Stellen die sogenannten Hautwärzcehen oder Papillen. 
Statt diese im Allgemeinen zu beschreiben, will ich lieber die Anord- 
nung derselben auf der Handfläche, namentlich den Fingerspitzen, 
sogleich näher ausführen. 

Bekannt sind die spiralig angeordneten erhabenen Streifen auf 
der Fingerbeere. Diese Streifen sind nichts als Häufungen solcher 
Hauptpapillen. Dieselben stehen hier in zwei bis drei Reihen der 
Länge der Streifen nach neben einander und sind mit einer gemein- 


— 204 — 


samen Oberhauthülle überzogen. In einem einzigen Centimeter in der 
Länge eines solchen Streifens sind Hunderte von Papillen verborgen. 

Jede einzelne Papille ist eine kegelförmige Hervorragung der Haut- 
oberfläche, gebildet von einer weichen aber resistenten Masse; — und 
in jeder endet eine Nervenfaser, in sehr vielen ohne besondere Neben- 
apparate, in anderen dagegen so, dass sie um ein geschlossenes festes 
Körperchen von ovaler Gestalt, das sogenannte Tastkörperchen, 
aufgewunden sind. 

Es ist deutlich, dass die auf solche Weise isolirt hingestellten, 
bis an die äusserste Oberfläche der Haut vordringenden Nervenfasern 
äusseren Eindrücken sehr bloss gestellt sein müssen, und wenn sie 
noch dazu reihenweise von einer gemeinsamen Oberhautscheide einge- 
fasst sind, so können sie auch wenigstens reihenweise von mehreren 
Seiten her durch die äusseren Einflüsse berührt werden. — An solehen 
Stellen, welehe mit dergleichen Papillen bedeckt sind, muss desswegen 
die feinste Empfindung möglich sein, d. h. wir müssen an solchen 
Stellen die feinsten Unterschiede im Druck und der Temperatur äus- 
serer Gegenstände erkennen. Aus diesem Grunde finden wir auch diese 
Art von Ausstattung der Haut an denjenigen Stellen, welche vorzugs- 
weise mit Gegenständen der Aussenwelt in Berührung treten, nämlich 
der Handfläche, der Fussfläche, den Lippen und der Zunge. Die 
Papillen sind hier aufgepflauzt, gewissermassen als Wächter, wie 
das Geruchsorgan als Wächter am Eingange der Athmungswerkzeuge 
dasteht und das Geschmacksorgan als Wächter am Eingange des Ver- 
dauungsapparates. 

Die Haut der Hand und der Finger ist demnach nicht zur Aus- 
stattung der Hand als Tastorgan so feinfühlend organisirt, — sondern 
weil die Haut aus dem vorher angegebenen Grunde besonders fein- 
fühlend organisirt ist, ist die Anwendbarkeit der Hand als Tastorgan 
sehr wesentlich erhöht. 

Die Papillen, und überhaupt die Hautempfindung, sind indessen 
nicht allein mahnende Wächter den äusseren Gegenständen gegenüber. 
Sie sind auch als Regulatoren unserer Bewegungen von grösster 
Wichtigkeit. — Wie es uns nämlich verletzt, wenn uns äussere Gegen- 
stände zu heftig berühren, so verletzt es uns auch, wenn unsere eigenen 
Bewegungen uns in zu heftige Berührung mit äusseren Gegenständen 
bringen, abgesehen davon, dass wir auch durch zu heftigen Druck 
einen erfassten Gegenstand leicht beschädigen können. Unser Haut- 
sinn warnt uns nun, indem er uns den jedesmaligen Grad des Druckes 


m  — — wo 


— 205 — 


angibt, rechtzeitig vor einem allenfalls eintretenden Zuviel desselben, 
und so sind wir durch die feinere Ausbildung der Haut an den Fin- 
gerspitzen im Stande, äussere Gegenstände mit einem jeden beliebigen 
Grade des Druckes längere Zeit zwischen den Fingern gefasst zu 
halten, indem uns die Hautempfindung jeden Augenblick mittheilt, dass 
wir wirklich in dem gleichen Drucke dem Gegenstande gegenüber 
beharren. 

Daraus geht aber auch ferner hervor, dass wir dieser feineren 
Ausbildung des Hautsinnes an der Handfläche und der Fussfläche 
überhaupt bedürfen, um auf diesem Wege bei dem Gebrauche dieser 
Theile zum Anfassen und Gehen immer auch Nachricht von der wirk- 
lichen Berührung unserer Hand und unseres Fusses mit den äusseren 
Gegenständen zu erhalten. 

Wie wichtig dieses ist, davon überzeugen uns, abgesehen von 
dem Greifen und Gehen im Dunkeln, solche Fälle, in welchen die 
Hautempfindung gelähmt ist. Jedermann weiss, wie unsicher das Gehen 
ist bei sogenanntem Eingeschlafensein der Beine, welches daher rührt, 
dass ein zufälliger Druck auf den Hauptnerven des Beines vorüber- 
gehende Lähmung der Empfindung erzeugt hat; — und Jedermann 
weiss auch, wie unsicher das Fassen feinerer Gegenstände ist, wenn 
die Haut der Finger durch Kälte unempfindlich geworden ist. — Diese 
Beispiele sind indessen nicht ganz rein, indem in denselben auch die 
Bewegung selbst mehr oder weniger direkt leidet; darum treten uns 
Erfahrungen von allerdings seltenen Krankheiten besonders lehrreich 
entgegen, in welchen die Empfindung gelähmt ist ohne Beeinträchti- 
gung der Bewegungsfähigkeit. Kranke dieser Art können im Dunkeln 
oder mit geschlossenen Augen durchaus nicht gehen, und Gegenstände, 
welche sie zwischen den Fingern halten, entschlüpfen ihnen, sobald sie 
die Augen schliessen, weil ihnen alsdann die Belehrung über die fort- 
dauernde Berührung ihrer Finger mit dem Gegenstande fehlt, welche Be- 
lehrung ihnen in Ermangelung der Hautempfindung das Auge geben muss. 

Blicken wir zurück, so erkennen wir, dass die obere Extremität 
des Menschen, der Arm mit seiner Hand, durch seine vielseitige und 
doch stets gesicherte Bewegung vorzugsweise als greifender Appa- 
rat eingerichtet ist, und dass das feine Gefühl in der Fläche der 
Hand und den Fingern einerseits die Feinheit und Sicherheit der Be- 
wegungen wesentlich unterstützt, andererseits aber auch den Gebrauch 
der Hand als Tastorgan ermöglicht. 

Vergleichen wir nun noch zur genaueren Würdigung dieser Sätze 


— 206 — 


den menschlichen Arm und namentlich die Hand desselben mit den 
analogen Gebilden in der Thierwelt. 

Ueberblicken wir die Reihe der mannigfaltigen Gestalten, in 
welchen uns die vordere Extremität der Thiere entgegentritt, so finden 
wir vor allem die wichtige Thatsache, dass bei allen Thieren die vor- 
deren Extremitäten wesentlich lokomotorische Apparate sind, 
wenn sie auch bei manchen Thieren gelegentlich zum Greifen verwendet 
werden können. — Wir finden bier schon gleich einen ganz wesent- 
lichen Unterschied der menschlichen Hand gegenüber, welche, wenn 
sie auch gelegentlich der Lokomotion dienen kann, doch dem Grund- 
prinzipe ihres Baues nach nur greifendes Organ ist. — Die vordere 
Extremität der Thiere tritt demnach in die Kategorie der hinteren 
Extremität zurück, welche bei allen Thieren mit ausgebildeten Extre- 
mitäten die grösste Aehnlichkeit besitzt und jedenfalls ausschliesslich 
auf Lokomotion berechnet ist. — Während aber der Bau und mit ihm 
die Verrichtung in den hinteren Extremitäten bei allen diesen Thieren 
und auch dem Menschen ohne nennenswerthe Verschiedenheiten ist, 
so findet sich die allergrösste Mannigfaltigkeit in dem Baue der vor- 
deren Extremitäten und alle die Verschiedenheiten, die wir in der 
Lokomotion der Thiere kennen, beruhen hauptsächlich auf der Ver- 
schiedenartigkeit der Hülfe, welche ihnen dabei die vorderen Extre- 
mitäten gewähren. 

Es würde indessen zu weit führen, wenn dieses hier durch alle 
Wirbelthierklassen durchgeführt werden sollte. Genüge es daher, einige 
Typen der lokomotorischen vorderen Extremität gewissermassen als 
Entwickelungsstufen vorzuführen. 

Lernen wir zuerst die niedrigste Gestaltung derselben kennen, wo 
sie nur Stütze ist für die Schwere des Rumpfes. Es mag Ihnen 
sonderbar erscheinen, wenn ich als Typus für diese Gestalt das Pferd 
wähle. Sie sind gewohnt, die zierlichen Bewegungen des Pferdes zu 
bewundern, und namentlich haben Sie schon bei einem schönen Reit- 
pferde die elegante Bewegung der Vorderbeine bewundert; diese ist 
ja sogar ein Lieblingsgegenstand der Unterhaltung bei Pferdeliebhabern. 
Und dennoch ist das Vorderbein des Pferdes als Mechanismus dem 
analogen Gliede anderer Thiere gegenüber sehr niedrig gestellt. Seine 
schöne Aktion ist nur unwesentlicher Schmuck, den Sie wohl bei dem 
gutgenährten, feurigen Rosse finden, welches nicht weiss, wie es allen 
seinen Ueberfluss an Kraft in Bewegung umsetzen soll; — aber das 
Lastpferd, welches seine Kräfte zu Rathe halten muss, verzichtet auf 


— 207 — 


diesen Schmuck und setzt in Ruhe, ohne in eleganter Fig. 5. 
Lebendigkeit über das Ziel zu schiessen, seinen Fuss 
nur soviel vorwärts als nöthig ist. — Nehmen wir nun 
einmal eine solche Stellung des Pferdes an, in welcher 
das Hinterbein und das Vorderbein vorgesetzt sind, 
und denken wir uns vorläufig an diesem Pferde nur 
zwei Beine, so können wir leicht erkennen, wie nun 
die Masse des Körpers nach vorwärts bewegt wird. 
Es findet nämlich in dem Hinterbeine eine Streckung 
des Kniegelenkes und eine Beugung des Fussgelenkes 
statt; durch diese wird der Oberschenkelkopf nach 
vornen bewegt und da derselbe in die Hüftpfanne ein- 
gepflanzt ist, so schiebt er das Becken‘, an welchem 
sich diese befindet, und mit dem Becken den ganzen 
Körper vorwärts. Unterdessen bleibt das Vorderbein 
auf den Boden gestützt, sein mit dem Rumpfe ver- 
bundener Theil wird mit dem Rumpfe zugleich vor- 

Vordere Extremität des 


wärts geschoben; und während sich der Oberarmkopf  Fferaes 
. Schulterblatt. 


in dem Schultergelenke rollt, beschreibt er einen Kreis- eg 
. Handwaurzel. 
bogen um den Mittelpunkt des feststehenden Hufes. m. Mitelhand, Yon wel- 
cher nur ein Knochen 
tärk twickel 
An dem Ende der Bewegung sind beide Beine nach ,° ee 
einen allein entwik- 


rückwärts gestellt. — Der gewöhnliche Gang des Pfer- keiten Fingers, 
des kommt nun dadurch zu Stande, dass die angegebene Bewegung 


immer zwischen Hinterbein und Vorderbein verschiedener Körperseiten 
ausgeführt wird, z. B. zwischen rechtem Hinterbein und linkem Vorder- 
bein, und während diese die Bewegung ausführen, werden die beiden 
anderen Beine nach vornen gesetzt, um sogleich dasselbe Spiel zu 
wiederholen. Durch diese gekreuzte Wirkung ist dafür gesorgt, dass 
der Schwerpunkt stets unterstützt bleibt. — So ganz thätigkeitslos ist 
indessen das Vorderbein des Pferdes nicht, es ist nicht blos wie eine 
Walze, welche den vorderen Theil der Kiste trägt und deren Bewe- 
gung unterstützt, wenn der Packer mit dem Hebel von hinten schiebt; 
— das Vorderbein des Pferdes ist Theil eines lebenden Mechanis- 
mus und entfaltet als solcher auch seine Kräfte und seine Thätigkeit, 
und so unterstützt es auch die Thätigkeit des Hinterbeines wesentlich 
durch seine eigene Muskelaktion, indem es durch Beugung im Hand- 
gelenk und im Schultergelenk und zuletzt auch durch Streckung im 
Ellenbogengelenke auch seinerseits den Rumpf vorwärts schieben hilft. 
— Mag aber auch das Vorderbein des Pferdes durch diese Aktion 


— 208 — 


sich als eine lebende, thätige Stütze bewähren, es bleibt doch 
immer nur eine Stütze, bestimmt, den vorderen Theil des Rumpfes 
zu tragen, während das Hinterbein hauptsächlich die Bewegung schie- 
bend ausführt. 
Welch anderes Bild gewährt uns dagegen der Flügel! Hoch auf 
Fig. 6. unzugänglichem Gipfel 
des Berges horstet der 
Adler; er schreitet lang- 
sam an den schwindeln- 
den Rand des Felsens; 
er entfaltet seine Fittige 
und stürzt sich hinein in 
das blaue Luftmeer; we- 


nige mächtige Ruder- 
schläge und er ist schon 
2. Hanawurzei. m. Mittelhand. d. Unvolletändis entwickelte Finger. meilenweit; Mit ausge- 
spanntem Flügel segelt er vor dem Winde; kreisend hebt er sich höher 
und höher, bis er dem Blick entschwindet, und pfeilschnell stürzt er 
wieder hinab in seine heimischen Berge. Gibt es ein schöneres und 
grossartigeres Bild freiester, ungebundenster Bewegung? Und was ist 
der Flügel, der den Adler trägt? Es ist — eine vordere Extremität 
von gewöhnlichem Bau, wenig weiter entwickelt als diejenige des 
Pferdes; aber sehr in die Länge entwickelt, seitwärts gestellt, mit 
kräftigen Schwungfedern ausgestattet und durch massige Brustmuskeln 
bewegt, schafft sie das Ideal von Bewegung, um das wir den Adler 
beneiden. 
Verwandt ist der Flügel der Fledermaus und doch in höchst 
Fig. 7. wesentlichen Punkten verschieden. 
Die Grundlage ist auch hier wieder 
die obere Extremität und an dieser 
erkennen wir leicht den Oberarm und 
den Unterarm; aber weniger leicht 
erkennen wir, was die langgezogenen 
Reihen dünner Knochen bedeuten, 
welche an dem freien Ende des Un- 
terarms angeheftet sind, und doch 
ist es das uns längst bekannte Bild 
der Hand mit ihrem Daumen und 
ihren vier Fingern; nur sind die 


Flughand der Fledermaus, p. Der Daumen. — Die 
übrige Erklärung ergibt sich aus dem Texte, 


— 209 — 


Finger so in die Länge gezogen, dass ein menschlicher Finger in 
gleicher Weise entwickelt, eine Länge von mindestens 4 Fuss haben 
würde. Alle Finger sind in eine grosse Hautfalte eingeschlossen, welche 
gleichfalls auch die hinteren Extremitäten einschliesst. Die langen 
Finger geben dem Fledermausflügel dieselbe elastische Starrheit, welche 
die Schwungfedern dem Vogelflügel geben. Der Fledermausflügel ist 
gewissermassen ein mit Haut umhüllter Vogelflügel. Sehen wir sein 
Knochengerüste an, so müssen wir ihn indessen für entwickelter im 
Bau erklären, als diesen, der, wie wir vorher gesehen, nicht eine so 
ausgebildete Hand besitzt; und doch steht er als Flugapparat niedri- 
ger. Desshalb kann auch die Fledermaus nicht ordentlich fliegen; sie 
flattert nur unstät; sie steigt nicht hoch; sie kehrt gerne zurück an 
einen festeren Haltpunkt; es ist, als ob es ihr nicht recht heimisch 
wäre in dem Luftmeere; und doch hat sie nicht einmal die Wahl, 
wie der Vogel, gelegentlich auch ihre Hinterbeine auf dem Boden zu 
ausgiebigerer Bewegung zu benutzen; ihre Hinterbeine sind ja auch 
in die Flughaut eingeschlossen. Aus diesem letzteren Grunde kann 
sie sich auch nicht von dem Boden aus in die Luft erheben, denn 
dazu müsste sie erst durch einen Sprung sich hinaufwerfen können; 
will sie ausruhen, so muss sie sich an einem erhabenen Gegenstande 
aufhängen, von welchem aus sie in die Luft hinunterfallen kann, um 
den Flug zu beginnen; da hat sie denn aber auch allerdings die 
Wahl, ob sie sich an den hakenförmigen Krallen ihrer Hinterbeine 
aufhängen will, oder an der Kralle, welche ihren Daumen bewaffnet, 
der, klein geblieben, nicht zur Ausspannung der Flughaut taugt. — 
Man sieht, der unbefiederte Körper des Säugethieres eignet sich wenig 
zum Fluge, und wenn er auch, soweit es der Säugethiertypus erlaubt, 
noch so günstig für den Flug entwickelt ist. 

Besser passt der Typus des Säugethieres zur Gestaltung eines 
Wasserthieres, und wir haben desshalb auch eine zahlreiche Klasse 
von Wasserbewohnern unter den Säugethieren: die Robben, die Wal- 
fische, die Delphine ete. Auch für diese Thiere ist es wieder vor- 
zugsweise die vordere Extremität, welche in ihrer eigenthümlichen 
Entwickelung die ihnen besondere Art der Ortsbewegung gestattet. 
Nehmen wir den Delphin als Beispiel. Sein Leib ist fischähnlich 
gestaltet und in der Brustgegend ragen zwei kleine Ruderschaufeln 
hervor; mit diesen kann er das Wasser kräftig theilen; und er kann 
nieht nur geradeaus schwimmen, er kann auch Purzelbäume im Was- 
ser schlagen und über die Oberfläche des Wassers hinausspringen. 


— 210 — 


Hilft ihm dabei auch sein steuerruder- 
artiger Schwanz, so ist doch immer die 
erwähnte Ruderschaufel sein hauptsäch- 
lichstes Bewegungsorgan und diese Ru- 
derschaufel ist seine Hand; Oberarm und 
Unterarm sind kurz und in dem Rumpfe 
versteckt, und nur die Hand ragt über 
die Oberfläche desselben hervor. Die 
Hand enthält dieselben Elemente wie die 
menschliche Hand, aber die Finger sind 


Vordere Extremität des Düjong. durch eine Schwimmhaut verbunden, wo- 
durch die Hand geeignet wird, die Schwimmbewegung zu vermitteln. 
Die Flosse des eigentlichen Fisches ist in der Hauptsache gleich ge- 
baut, nur tritt der Typus der Hand hier nicht auf den ersten Blick 
so deutlich hervor. Wir haben hier schon das zweite Beispiel von 
einer solchen Gestaltung der Hand, dass sie das spezifische Bewe- 
gungsorgan einer anderen Thierklasse nachzuahmen im Stande ist; in- 
dessen, wie wir in dem früheren Beispiel das geflügelte Säugethier 
doch nicht recht heimisch in den Lüften sich bewegen sahen, so sehen 
wir auch hier das beflosste Säugethier nicht recht heimisch im Wasser, 
es schwimmt zwar entschieden besser, als die Fledermaus fliegt; aber 
wie diese nicht hoch in die Lüfte, so kann das beflosste Säugethier 
nicht in bedeutendere Tiefe, denn es muss immer wieder an die 
Oberfläche zum Athmen. Das feste Land ist die eigentliche Heimath 
der Säugethiere, und gleichsam als sollte dieses recht scharf durch einen 
bestimmten Typus ausgesprochen sein, finden wir ein Säugethier, welches 
ein gänzlich unterirdisches Leben führt, eine Lebensart, welche wir bei 
nicht einer einzigen Art aus den anderen Wirbelthierklassen finden. 

Dieses Säugethier ist der Maulwurf; und wiederum ist es die 
besondere Gestaltung seiner vorderen Extremität, welche ihn zu dieser 

Fig. 9. merkwürdigen Lebensweise befähigt. Die Extremität 
ist ungefähr so gestellt, wie wir die Arme stellen, 
wenn wir uns durch ein hohes Gebüsch hindurch ar- 
beiten. Die Ellenbogen stehen hoch und die beiden 
Hände stehen nach vornen neben dem Kopfe hervor, 
die Handfläche nach aussen gerichtet. Oberarm und 


Unterarm sind auch hier in dem Rumpfe versteckt 
Hand des Maulwurfs, 


2 Enterarmknochen. und nur die Hand ragt über die Oberfläche desselben 
m. Mittelhand. . . es . 
d. Fingergliede. hinaus; — und was ist das für eine Hand! — kurz, 


— 2ll — 


breit, kräftig, die Finger dicht aneinander gedrängt und mit breiten 
starken Nägeln versehen, ist diese Hand eine feste Gräbschaufel, 
in deren starrer, wahrhaft eiserner Gestalt wir ebenso, wie in der 
Flosse des Delphin, kaum dieselben Elemente wieder erkennen, welche 
uns in der Flughand der Fledermaus fast spinnengewebeartig ver- 
feinert erschienen sind. So gewaffnet kann der Maulwurf den Boden 
nach allen Richtungen durchwühlen, indem er die Erde zur Seite 
drückt und seinen Leib, den spitzen Kopf voran, nachzwängt. Es ist 
eine sonderbare Art der Fortbewegung und doch in ihren Grund- 
prinzipien den letztbetrachteten so nahe verwandt! Denn wie der Maul- 
wurf, an die Erde sich stemmend, sich durch die Erde durchdrückt, 
so drückt sich der Delphin durch das Wasser, an das Wasser sich 
stemmend, und so drückt sich der Vogel durch die Luft, an die Luft 
sich stemmend. Man Könnte beinahe sagen: der Maulwurf schwimme 
durch die Erde, wie der Delphin durch das Wasser und der Adler 
durch die Luft. 

So verschieden nun auch alle die bisher geschilderten vorderen 
Extremitäten in Bau und Verwendung sind, so haben sie doch das 
Gemeinschaftliche unter einander, dass sie alle im Wesentlichen nur 
als Ganzes wirken, die einen als Stab, die anderen als Fläche, 
und wenn die grossen vorderen Extremitäten des Vogels und der 
Fledermaus auch eine bedeutendere Gliederung besitzen, so ist damit 
nur der Vortheil gegeben, dass diese Thiere die Extremität in der 
Zeit, in welcher sie sie nicht gebrauchen, zusammenfalten können ; 
nachdem der Flügel einmal zum Gebrauche entfaltet ist, hat seine 
innere Gliederung verhältnissmässig wenig Werth. — Die Gliederung 
der Extremität gewinnt erst da eine Bedeutung, und damit zugleich 
die Extremität selbst eine höhere Stellung, wo der vordere, der- 
selben angeheftete Theil, die Hand, nicht bloss zum Anstemmen an 
den Boden, an das Wasser oder an die Luft dient, sondern wo 
ihr noch die bestimmtere Verrichtung des Greifens zukommt. — 
Wählen wir auch von Extremitäten dieser Art einige Typen zum 
Vergleiche. 

Die niedrigste Form des Greifens ist gewiss das Einwerfen eines 
Hakens. Wir finden diese Form bei den katzenartigen Raubthieren. 
Der Vorderfuss dieser Thiere zeigt in sich wenig Beweglichkeit; er 
ist indessen aus der gleichen Anzahl von Gliedern zusammengesetzt, 
wie die menschliche Hand; er besitzt eine Handwurzel, eine Mittel- 
hand und fünf Finger mit drei, beziehungsweise zwei Gliedern. 


— 2122 — 


Fig. 10. Aehnlich wie bei den Hufthieren ist die Mittel- 
hand noch sehr lang und die einzelnen Glieder 
der Finger noch sehr kurz; eine Extremität dieser 
Art ist noch hinlänglich als eine solche gezeichnet, 
welche nur als Stütze für den Gang dient; und 
wirklich finden wir auch an den Füssen der 
Katzen einen dem Gange dienenden, dem 
Knochengerüste nicht angehörigen Theil des Fusses 
vorzüglich ausgebildet. Es sind dieses die Soh- 


lenballen, deren jede Zehe einen trägt neben 


Vordere Tatze des Löwen. 


ee dem grossen, welcher an der Gränze der Mittel- 
m. Mittelhand, . . . .. 
d. Fingerglieder. hand und der Finger sich findet. Durch die Grösse 


dieser Ballen ist das ungemein Leise und Schleichende in dem Auf- 
treten dieser Thiere bedingt, welches so enge mit ihrer Lebensweise 
zusammenhängt, und welches ja sogar unsere befreundete Hauskatze 
manchmal kann als einen unheimlichen Gast erscheinen lassen. Aber 
wie selten in der Natur eine Vorrichtung einem einzigen Zwecke allein 
dient, so auch hier. Durch diese Ballen werden die Finger der Katze 
hoch über dem Boden gehalten und damit der gefährlichen Angriffs- 
und Vertheidigungswaffe, der scharfen Kralle, Schutz gegen die Ab- 
nutzung durch den Boden gewährt. In dieser Kralle erblicken wir die 
erste Andeutung einer dem Greifen dienenden Gliederung der Hand. 
Sie ist zwar nur eine besondere Bildung des Nagels auf dem vorder- 
sten Gliede des Fingers, aber sie ist ihrer Wichtigkeit für das Leben 
des Thieres entsprechend in ihren Nebeneinrichtungen wunderbar her- 
gestellt. Es ist, wie gesagt, das vorderste Glied des Fingers, welches 
sie trägt, aber dieses ist nicht, wie das sonst der Fall ist, in gleicher 
Richtung mit den andern Fingergliedern gelegen, sondern es ist weit 

Fig. 11. nach hinten zurückgeschlagen, so dass die 
Krallenspitze fast nach oben gerichtet ist. Die 
ganze Kralle ist desshalb unter die Oberfläche 
der Haut zurückgezogen und ihre Spitze ragt 
kaum zwischen den Haaren hervor. In dieser 


Gestalt hat die Katze ihre sprichwörtlich ge- 
wordenen „Sammetpfötchen“ ; aber schnell wird 
das Sammetpfötchen zur empfindlich verwun- 
denden Kralle; — ein Zug mit den Beuge- 


Der einzelne Finger der Löwen- . “ = . 
tatze. A. mit zurückgeschlagenem muskeln des Nagelgliedes überwindet leicht 
Krallengliede. — B. mit gestrecktem 


Krallengliede, den Widerstand des elastischen Bandes, welches 


— 213 — 


die Kralle in ihrer Lage zurückhält, und ohne eine weitere besondere 
Bewegung ihrer Tatze bohrt die Katze ihre Krallen tief ein. Das 
ist die Hand des schleichenden Ranbthieres. Geräuschlos kriecht der 
Löwe an sein Opfer heran; mit dem Impuls eines mächtigen Sprunges 
wirft er es nieder, den Schlag der gewaltigen Tatze der Wucht seines 
Leibes hinzufügend ; und ist es niedergeworfen, dann halten die ein- 
gehakten Krallen es unwiderruflich fest. 

Eine höhere Bildung finden wir schon bei dem Faulthiere. 
Man thut diesem Thiere Unrecht, wenn man es mit dem Namen be- 
grüsst, den ich ihm so eben selbst geben musste, weil er in die wissen- 
schaftliche Terminologie eingeführt ist. Der Name ist hergeleitet von 
der langsamen und unbeholfen kriechenden Art der Fortbewegung, 
welche dieses Thier zeigt, wenn es sich auf flachem Boden befindet. 
Hier mag es allerdings langsam und träge erscheinen; aber es ist auch 
hier nicht in seinem Elemente; und man soll Niemanden, auch nicht 
einmal ein Faulthier, nach der Art beurtheilen, wie er sich in einem 
ihm fremdartigen Elemente benimmt. Das Element des Faulthieres ist 
der Urwalt, wo die Gipfel der Bäume sich verflechtend berühren, wo 
zahllose Schlingpflanzen ihre blüthenreichen Triebe von Ast zu Ast 
tragen, wo in dem Labyrinthe der Aeste und Zweige eine zweite 
selbstständige Welt über derjenigen des Erdbodens schwebt; — in 
dieser grünen, blühenden, luftigen Welt ist die Heimath des Faul- 
thieres, und hier soll es sich lustig und flink genug herumtummeln 


können. — Das Faulthier ist vorzugsweise Kletterthier. Mit seinen 
langen Armen kann es weithin greifen Fig. 12. 

und von einem Äste aus andere erfassen; d 

und an seinen Armen hat es eine Hand, 

die ein wahresIdeal von Kletterhaken d 


ist. Die Mittelhand ist ziemlich lang 
gestreckt und die Glieder der in Zwei- 
oder Dreizahl vorhandenen Finger haben 
eine mittlere Länge; nur das Nagelglied 
zeichnet sich durch eine fast monstrose 
Länge aus und trägt eine noch längere 
Kralle; diese.Kralle ist fast so lang, als 
die ganze übrige Hand. Mit diesen 
Werkzeugen kann das Thier die Aeste a 


a. Unterarmknochen, 


wie mit einem Haken umgreifen und sich 0 Hantantzeh 
n. Mittelhand,. 


dann an denselben emporziehen. Auch d. Fingerglieder. 


— 214 — 


hier finden wir wieder eine wunderbare Einrichtung, welche in engstem 
Zusammenhange mit dieser Verwendung der Kralle steht. Bei der 
Katze sahen wir die Kralle auf den Handrücken zurückgeschlagen 
und nur im Augenblicke der Verwendung durch die Beugemuskeln 
hervorgestreckt: bei dem Faulthiere ist dieselbe Einrichtung, nur 
gerade umgekehrt, vorhanden. Ein starkes elastisches Band hält die 
Kralle während der Ruhe in die Handfläche zurückgeschlagen und 
zum Umklammern eines Astes müssen die Streckmuskeln die Kralle erst 
strecken; lassen dann die Streekmuskeln nach, dann drückt sich die 
Kralle durch die Wirkung ihres elastischen Bandes eng um den erfassten 
Gegenstand an, und dieser wird festgehalten ohne besondere Muskelthätig- 
keit. Wille und Thätigkeit sind hier nur zum Loslassen nothwendig. 

Gehen wir eine Stufe weiter, so kommen wir zu dem Affen. 
Jedermann kennt diese muntere Karrikatur des Menschen; aber in 
den Käfigen unserer Menagerien sind sie doch nicht die Affen, wie 
sie in ihrer Heimath erscheinen. Auch ihr Wohnort ist der belaubte 
Baumgipfel und ihre heimische Bewegung ist die von Ast zu Ast; 
auch sie sind Kletterthiere, wie das Faulthier, aber sie sind nicht so 
einseitig als solche ausgebildet, wie dieses. — Der Kletterhaken des 
Faulthieres ist ein Kletterhaken und weiter Nichts; — auch der Affe 
hat einen Kletterhaken, aber einen, der auch noch andere Ver- 
wendungen finden kann. Seine Hand trägt vier Finger von gleich- 

Fig. 13. mässigeren Verhältnissen in ihren einzelnen Theilen, aber 
‚N von beträchtlicher Länge; der Daumen ist im Verhältniss zu 
den Fingern kurz und vielen Affen fehlt er sogar gänzlich. 

In Es ist deutlich, was diese vier langen Finger bedeuten; — 
sie sind durch ihre Länge und durch die Schmiegsamkeit, 

die ihnen die gleichmässige Gliederung gewährt, vorzüglich 
geeignet, Gegenstände zu umgreifen; — der kurze, der Gegen- 

stellung fähige, Daumen kann dabei helfen; und die so ge- 

bildete Hand kann sich Gegenständen sehr verschiedenen Durch- 

messers anpassen. Der Arm, der diese Hand trägt, ist lang, 
wie der Arm des Faulthieres, und so kann auch der Affe 

weithin greifend einen Ast erreichen, kann ihn mit seinen 

langen Fingern, die er zum Kletterhaken krümmt, umfassen 

und sich zu ihm hinaufschwingen. Bedarf er der Hand nicht 

mehr zum Klettern, dann kann er sie auch gebrauchen, um 

Früchte zu pflücken, Nusskerne herauszuklauben ete.; — kurz! 

Hand des . . . . . . .,. 
Affen. er hat in seiner Hand und in seinem Arme einen vielseitig 
brauchbaren Apparat, welcher gerade in dieser Vielseitigkeit als die 

ausgebildetste Vorderextremität in dem Thierreiche dasteht. 

Wir haben die Reihen derjenigen Haupttypen durchlaufen, in 
welchen die Hand bei den Thieren auftritt. Nirgends haben wir eine 
Bildung gefunden, welche der menschlichen Hand entspräche; nur die 
Hand derjenigen Affen, welche einen Daumen besitzen, lässt einen 
Vergleich mit derselben zu. Und doch! wie gross ist hier noch der 
Unterschied! — Trotz mancher Aehnlichkeit ist doch die Affenhand 
noch weit hinter der menschlichen Hand zurück. Sie verräth noch 


— 215 — 


in jedem ihrer Theile, dass sie ursprünglich nur ein ortsbewegendes 
Werkzeug ist, ein höher organisirter Kletterhaken. Die ausserordent- 
liche Länge der Finger und die Kleinheit des Daumens weisen mit 
Sicherheit darauf hin, dass der Daumen in der Affenhand die Bedeu- 
tung noch nicht erreicht hat, welche er erreichen kann und in der 
menschlichen Hand erreicht. Der Affe kann nicht einen Gegenstand 
zwischen Daumen und Fingerspitze fassen, sondern er fasst, indem 
er alle Finger um den Gegenstand schlingt und mit dem Daumen nur 
den Schluss vervollständigt; daher fehlt ihm auch die mögliche Ge- 
wandtheit, welche die menschliche Hand auszeichnet, abgesehen davon, 
dass die Länge der Finger alle Bewegungen, welche nicht direktes 
Umklammern sind, unsicher und relativ kraftlos machen muss. Dem 
Affen fehlt die schöne Abstufung in der Länge der Finger, welche 
neben der Schönheit der Bildung bei dem Gebrauche der Hand so 
manche Vortheile gewährt. — Und neben allem diesem müssen wir 
erkennen, dass die Feinheit des Hautsinnes, welche die menschliche 
Hand auszeichnet und so wesentlich für ihren Gebrauch in Ausübung 
von Kunstfertigkeiten ist, der Affenhand gänzlich abgeht, indem diese 
als ortsbewegender Apparat nur eine Art von schwieliger Sohle hat, 
welche der Härte und der Rauhigkeit der ergriffenen Aeste zu wider- 
stehen vermag; in Zusammenhang damit finden wir auch an der Affen- 
hand nicht die breiten dünnen Nägel, welche bei dem Tasten nur 
einen leichten Gegendruck geben, sondern wir finden schmale starke 
Nägel, wirkliche Krallen. Nur durch die gänzliche Emanzipation von 
der Ortsbewegung konnte der menschlichen Hand eine Organisation 
zu Theil werden, welche, wenn auch gelegentlich zur Lokomotion ver- 
wendbar, doch wesentlich nur dem feinern Greifen und Behandeln von 
äusseren Gegenständen angemessen ist. 

Wir finden also die Hand des Menschen als einzig in ihrer Art 
dastehend; wir sehen sie im engsten Zusammenhange stehen mit dem 
aufrechten Gange, welcher als ausschliessliche lokomotorische Bewe- 
gung ebenfalls ihm allein zukommt; und wir erkennen sie damit als 
ein wichtiges Glied in der Harmonie der körperlichen Erscheinung 
des Menschen, welche ihrerseits der Ausdruck ist seiner geistigen Be- 
fähigung. Die Hand vervollständigt als unentbehrliches Glied das 
Bild, welches von dem Menschen gezeichnet wird durch seinen auf- 
rechten Gang, den Bau seines Schädels und die Bildung seines Ge- 
sichtes; und es ist mehr als blosse Konvention, es ist der Ausdruck 
eines tief begründeten richtigen Gefühles, wenn man als bezeichnend 
für eine höhere menschliche Erscheinung nicht nur die feinere und 
ausdrucksreichere Bildung des Gesichtes verlangt, sondern auch eine 
fein gebildete Hand. 

Der Besitz der Hand ist aber nicht allein ein körperliches Kenn- 
zeichen des Menschen, — er ist auch die Grundlage seiner Stellung 
gegenüber den übrigen Naturkörpern dieser Erde. — Kein Thier hat 
sich die Verbreitung auf der Erde so zu sichern gewusst, wie der 
Mensch. Kaum eine Insel wurde gefunden, welche nicht von Menschen 
bewohnt gewesen wäre. — Aber nicht nur da finden wir den Menschen, 


— 216 — 


wo — wie auf den noch nicht von europäischer Kultur vergifteten 
Inseln der Südsee — die ganze Natur dem Menschen eine freundliche 
und sorglose Existenz schafft; wir finden den Menschen auch da, wo 
er schwerer um seine Existenz kämpfen muss. In den weiten Steppen 
an dem Kaukasus pflanzt der Nomade heute sein Zelt, um es morgen 
wieder abzubrechen und andern Orten zuzuwandern, wo seine Heerden 
die passende Nahrung finden. In den-Urwäldern Amerikas ist der 
Mensch heimisch und lebt von Jagd und spärlichem Ackerbau. Mitten 
in der glühenden Sonne Afrikas wohnt er, durch doppelte Häuser vor 
Hitze und plagenden Mücken geschützt. Und wo im Norden Alles 
von Schnee und Eis erstarrt, wo kaum die höchste Sommersonne ein 
Paar grüne Pflänzchen hervorlockt, wo die eine Hälfte des Jahres in 
Dunkelheit gehüllt ist, auch da lebt der Mensch in seiner Schneehütte 
und geniesst in Fröhlichkeit sein Dasein. Will der Mensch seinen 
Wohnsitz wechseln, dann gibt es kein Hinderniss für ihn; über un- 
absehbare Schneeflächen trägt den Eskimo sein Hundeschlitten, — 
durch den brennenden Sand der Wüste eilt der Beduine auf flüch- 
tigem Rosse, — und Schiffe aller Art durchfurchen die salzigen Fluthen 
des Ozeans. 

Was befähigt den Menschen, so unter allen Verhältnissen aus- 
zudauern und überall sich heimisch zu machen? Es ist der Bau seiner 
Hand, der ihn befähigt, sich Wohnung und Kleidung zu bereiten, 
der ihn in den Stand setzt, Jagdgeräthschaften und Bändigungsmittel 
seiner Hausthiere zu verfertigen. Und werfen wir von diesen Natur- 
völkern nur einen Blick noch auf die Zustände, in welchen wir leben! 
Wo wären ohne die kunstfertige menschliche Hand alle die Bequem- 
lichkeiten unseres täglichen Lebens? Wo wären alle die bildenden 
Genüsse der Wissenschaften und der Künste? 

Wir dürfen es kühn aussprechen: der Bau der menschlichen Hand 
ist das wichtigste Hülfsmittel der menschlichen Bildung in allen ihren 
Gestaltungen; aber wir dürfen darum doch nicht verkennen, dass sie 
nur ein Hilfsmittel ist, die Gedanken des menschlichen Geistes in die 
Erscheinung treten zu lassen; kein Apell und kein Phidias hätte die 
Welt mit seinen Kunstwerken erfreut und veredelt, wenn nicht die 
Macht seines Geistes seine Hand geführt hätte. Und so kommen wir 
freilich wieder auf den alten Satz, dass nur die höhere geistige Stel- 
lung und Befähigung es ist, welche den Menschen unwiderruflich von 
dem Thiere scheidet; aber — dürfen wir hinzusetzen — es ist der 
Bau seiner Hand, welcher vorzugsweise den Menschen befähigt, seine 
höhere geistige Anlage in die Erscheinung treten zu lassen in der 
Art seines Zusammenlebens mit seinen Nebenmenschen, in seiner Herr- 
schaft über die Thiere, in seinem Siege über Zeit und Raum und 
über die Elemente. 

Der Bau seiner Hand, in seiner Verwendung geleitet von seinem 
Geiste, macht den Menschen zum Herren der Erde. 


— 217 — 


Ueber die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz und 
Unterwalden in den Jahren 1212—13I5. 


Akademischer Vortrag, auf dem Rathhause in Zürich am 18. Februar 1858 gehalten 
von 
Dr. GEORG von WYSS, 


Hochgeehrte Versammlung! 


Als mir vor einigen Jahren der ehrenvolle Auftrag wurde, zu 
Ihnen zu sprechen, bildete eine gedrängte Uebersicht unserer ältesten 
Landesgeschichte vom ersten bis zur Mitte des zehnten Jahrhunderts 
christlicher Zeitrechnung den Gegenstand meines Vortrages. 

Eine natürliche Aufgabe wäre es heute, unsere Betrachtung an 
demselben Punkte wieder aufzunehmen, wo wir damals stehen blieben. 
Lassen Sie uns indessen den Blick für diessmal einem besondern Ge- 
biete der vaterländischen Geschichte zuwenden, das wohl vorzüglich 
geeignet ist, die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. 

Seit vollen zwanzig Jahren, Tit., ist die angestrengte Thätigkeit 
der schweizerischen Geschichtsforscher vorzugsweise auf die Ergründung 
der Geschichte der Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwalden und 
ihrer ersten Bünde gerichtet und hat hierüber eine Reihe inhalts- 
schwerer, zum T'heil ausgezeichneter Schriften hervorgebracht. That- 
sachen, Rechtsverhältnisse, Ueberlieferungen und Anschauungen früherer 
und späterer Jahrhunderte sind hiebei zur einlässlichsten Verhandlung 
gekommen und doch steht über das Meiste ein abschliessendes, all- 
gemein anerkanntes Ergebniss noch aus. Denn den Erzählungen unserer 
schweizerischen Chroniken, welche Tschudi zuerst systematisch verar- 
beitet und Johann v. Müller zum Gemeingut aller Eidgenossen gemacht 
hat, steht nun vielfach eine ganz andere Anschauung entgegen, angeregt 
hauptsächlich durch Kopp’s umfassende Arbeit, und beruft sich für ihr 
abweichendes Urtheil auf Urkunden und Geschichtsbücher, welche — mit 
den Ereignissen gleichzeitig — jenen Chroniken an Alter weit vorange- 
hen. Und bereits ist vom Zwiste der Forscher auch in die weitern 
Kreise des Publikums Kunde gedrungen. Bald wird Jedem aus uns, 
bald auch für den Unterricht der Jugend die Frage unabweislich sich 
aufdrängen: Was ist Wahrheit ? 

Versuchen wir zur Beantwortung derselben einen Beitrag zu liefern, 

Wissenschaftliche Monatschrift, III 15 


— 28 — 


soweit es der Zweck dieser Versammlung gestattet, indem wir zunächst 
die urkundliche Geschichte, dann unsere Chroniken betrachten. — 


I. Die urkundliche Geschichte. 


Wer in die Anfangsgeschichte des Bundes der Waldstätte einzu- 
dringen sich bemüht, wird sogleich gewahr, dass ein Verständniss 
derselben ohne die genaue Kenntniss der allgemeinen Geschichte des 
deutschen Reiches durchaus unmöglich ist. Wie heutzutage die staat- 
lichen und gesellschaftlichen Zustände unseres, doch für sich bestehen- 
den Vaterlandes von denjenigen der uns umgebenden Länder aufs 
Mannigfachste bedingt und abhängig sind, so gilt Aehnliches von der 
Vergangenheit. Als die Landschaften zwischen dem Bodensee, dem 
Rhein und den Alpen noch zum deutschen Reiche gehörten, nahmen 
sie im vollsten Maasse an dessen Geschicken und innerer Entwicklung 
Theil. Daher finden wir auch bis tief in die Mitte des vierzehnten 
Jahrhunderts zu jeder Erscheinung auf heimischem Boden die entspre- 
chenden, zum Theil vorangehenden und begründenden Vorgänge in 
weiten Kreisen durch ganz Deutschland wieder. Erst die völlig aus- 
gebildete, im Kampfe gegen Oesterreich erstarkte Ridgenossenschaft 
der alten acht Orte steht als ein eigenthümliches Wesen da, dessen 
Keime der Morgarten befruchtet, das Schlachtfeld von Sempach zu 
vollkräftiger Blüthe entfaltet hat, und zu welchem sich nur noch im 
äussersten Nordwesten des Reiches, bei den Friesen und Dithmarschen, 
ein Gegenstück findet, wo unzugängliche Niederungen, gleich unsern 
Bergen, ein Bollwerk bäuerlicher Freiheit bildeten. Wer aber die 
Entstehung jener Keime ergründen will, wird ihre Elemente nur auf 
dem Boden der allgemeinen Reichsgeschichte finden und zu erkennen 
vermögen, 

Versetzen wir uns auf denselben mit dem Beginne des dreizehn- 
ten Jahrhunderts und richten wir den Blick auf die Innenverhältnisse 
des Reiches, so nehmen wir sofort die Spuren eines Gegensatzes wahr, 
der in der mannigfachsten Weise, bald in lautem Kampfe, bald unter 
zeitweiser Verständigung verhüllt, durch das ganze dreizehnte und den 
grössten Theil des vierzehnten Jahrhunderts sich fortzieht. Es ist diess 
der Gegensatz fürstlicher Macht und städtischer Freiheit; der Fürsten 
und Herren auf der einen, der patrizischen Bürgerschaften f) in den 
Reichs- und königlichen Städten anderseits. Es würde uns zu weit 
führen, den Ursprung, die frühere Geschichte und die Bestrebungen 
dieser beiden sich entgegenstehenden’Elemente auch nur in den flüch- 


— 219 — 


tigsten Umrissen zu zeichnen. Genug, sie bestanden. Ueber beiden 
aber war die königliche Gewalt. Ihre Aufgabe war es, in dem immer 
ernstern Gegensatze beider die Wagschale zu halten und dadurch eine 
gedeihliche Entwicklung der öffentlichen Zustände, wie sich selbst und 
mit sich die Einheit des Reiches, zu schützen. Diese Kräfte sind es, 
die auch in den schweizerischen Landschaften thätig waren, wo Bi- 
schöfe, Aebte und Grafen fürstliche Macht besassen, wo die Städte 
Basel, Bern, Zürich, Solothurn, Schaffhausen, je nach ihren Verhält- 
nissen früher oder später in die Reihe ihrer grössern Schwestern im 
Reiche einrückten und auch die Thäler Uri, Schwyz, Unterwalden, 
wie das stammverwandte Hasle, ähnlich den Städten dahin strebten, 
unter des Königs alleinigem Schutze sich selbstständig zu bewegen. 
Denn es ist unverkennbar, die Gemeinschaften der Thalleute sind dem 
von den Städten gegebenen Beispiele nachgefolgt und vielfältig zu ver- 
gleichen. Was Diesen ihre Mauern und die durch Reichtbum und 
Ritterschaft gehobene kriegerische Stärke, waren Jenen die Abge- 
schiedenheit des schützenden Gebirges und die frische Kraft eines 
einfachen Hirtenvolkes, das wenig Bedürfnisse, aber frühe schon den 
Gebrauch der Waffen kannte, den seine Söhne in Kriegszügen der 
Fürsten und Herren in der Fremde erlernten. 2) 

Doch treten wir den Ereignissen näher! 

Es war im März 1212 als der achtzehnjährige König Friedrich 
von Sieilien die Gestade seines herrlichen Landes, seine Gemahlinn 
Konstanze, seinen wenige Wochen zählenden Erstgebornen, Heinrich, 
verliess, um die römische (d. h. deutsche) Königs- und die Kaiser- 
krone zu gewinnen, zu welcher die Aufforderung deutscher Fürsten 
und des allgewaltigen Papstes Innocenz III., einst seines Vormundes, 
ihn so eben berufen hatte. Geboren aus dem schwäbischen Geschlechte 
der Staufer (Hohenstaufen), ein Sohn Kaiser Heinrichs VI. der Siei- 
lien erobert, war Friedrich schon in der Wiege zum römischen Könige 
gewählt worden. Aber der frühe Tod seines Vaters hatte diese Wahl 
unwirksam gemacht, Deutschland zehnjährigen Wirren einer doppelten 
Königswahl Preis gegeben und endlich unter Otto IV., einen Sohn 
Heinrichs des Löwen, gebracht. Gegen Diesen trat nun Friedrich in 
die Schranken, als Süddeutschland, als Italien, als der Papst des 
Welfen kaiserlicher Gewaltherrschaft müde waren. Ununterbrochenes 
Glück begleitete Friedrichs Schritte. Ueber Rom, Genua und die rä- 
tischen Alpen gelangte er im September 1212 ungehemmt auf deutschen 
Boden, ward in Cur vom Bischofe Arnold und vom Abte von St. Gallen 


— 220 — 


empfangen, gewann durch des Abts Vermittlung den Bischof von 
Konstanz und dessen Stadt und fand in dem Grafen Ulrich von Ki- 
burg und Baden einen mächtigen Anhänger. Durch des Grafen Gebiet 
zog Friedrich weiter, erreichte Basel, das ihn freudig begrüsste, hielt 
dort glänzenden Hoftag und rüstete sich muthig zur fernern Fahrt. In 
wenig Wochen gewann er Elsass, Breisgau, die Städte und Fürsten am 
Mittelrhein — des Reiches Hauptstärke — ward am 2. Dezember in 
Frankfurt von einer zahlreichen Fürstenversammlung feierlich zum Kö- 
nige gewählt, und nur der Niederrhein und Sachsen gehorchten noch 
Otto. Einige siegreiche Feldzüge dehnten aber Friedrichs Herrschaft 
auch in jenen Gegenden aus, schlossen den Kaiser in immer engere 
Grenzen ein, und als endlich Otto im Mai 1218 auf der einsamen 
Harzburg, ohne Nachkommen, starb, ward Friedrich unwidersprochen 
im ganzen Reiche anerkannt. 

Eine glückliche Zeit schien nun für dieses gekommen. Nach 
zwanzigjährigen Kämpfen sah es einen in der Blüthe der Jahre ste- 
henden, mit allen Gaben eines überlegenen Geistes ausgestatteten 
Herrscher an seiner Spitze, von der Kirche anerkannt, von der Zu- 
neigung Schwabens, der Heimath seines Stammes, getragen, in Italien 
mächtig und geehrt, mit Deutschlands Nachbarn in friedlichem Ver- 
ständniss. 

Bald aber zeigte sich, dass des Königs Gedanken mehr dem Lande 
seiner Geburt, dem an Sinnen- und Kunstgenüssen reichen Süden zu- 
gewendet waren, als dem ernsten, rauhen Norden, dessen Geschicke 
er lenken sollte. Denn nachdem er schon 1216 Gemahlinn und Sohn 
nach Deutschland hatte kommen lassen, bewirkte er 1220 die Wahl 
des achtjährigen Knaben Heinrich zum römischen Könige durch die 
deutschen Fürsten, bestellte für denselben eine Vormundschaft und ging 
wenige Wochen später (zunächst zum Empfang der Kaiserkrone in Rom) 
nach Italien ab, Deutschland auf lange Jahre verlassend. 

Seine kurze Anwesenheit in Letzterm war hauptsächlich den Für- 
sten und Herren zu Gute gekommen; denn auf ihrer Unterstützung 
beruhte gänzlich seine Erhebung und Macht und die Ausführung seiner 
weitern Plane. Das Reichsgut, die Besitzungen und Rechte des schwä- 
bischen Herzogthums seiner Ahnen, das Erbgut des Staufischen Hau- 
ses waren in den Wirren nach Kaiser Heinrichs Tode vielfältig an 
Fürsten und Herren gekommen; den Ueberrest, den Friedrich noch 
vorgefunden, hatte er zu grossem Theile benutzen müssen, sich ihren 
Beistand zu erkaufen. Die Städte, obwohl einzeln bedeutend, hatten 


_— 21 — 


in des Reiches allgemeinen Angelegenheiten noch keine Stimme, für 
den König noch kein entscheidendes Gewicht. 

Die Spuren dieses Ganges der Dinge geben sich in unsern 
schweizerischen Landschaften deutlich kund. Zwar benutzte Friedrich 
1218 das Aussterben des Zähringischen Fürstenhauses, um dem Reiche 
in der Hoheit über Bern und in der Vogtei der Stifte Zürich heim- 
gefallene Rechte zu sichern; mehr aber noch gewannen durch ihn 
Bischöfe und Grafen. Erfreut über seine Aufnahme hatte er 1212 
„der edlen Stadt Basel“ das Recht selbstständiger Bestellung eines 
Rathes verliehen; 1218 hob er auf Andringen des Bischofs diesen 
Erlass wieder auf und stellte die Stadt unter die Herrschaft des geist- 
lichen Fürsten. Graf Ulrich von Kiburg ward mit Reichsgut und 
Lehen reichlich bedacht. _ Graf Rudolf von Habsburg, vom ersten 
Augenblicke an des Königs entschiedener Anhänger, Bürge und Be- 
gleiter bis in die niederländischen Feldlager, hatte sich Friedrichs 
besonderer Gunst zu erfreuen. Des Grafen Enkel Rudolf — dereinst 
seinen Nachfolger auf dem Throne — hob der König aus der Taufe. ?) 

Das Erbe des Lenzburgischen Hauses hatte diese Grafengeschlech- 
ter gross gemacht; der Verfall des schwäbischen Herzogthums ihre 
Stellung gehoben. Die Landgrafschaft im Elsass, im Aargau, im 
Zürichgau (letztere ein Erwerb seines Vaters Albert) trug Graf Rudolf 
vom Reiche zu Lehen. Fürstengleich waltete er 1210 am Gestade des 
Vierwaldstättersees, in Luzern und Unterwalden, 1217 über Schwyz. ®) 

In uralter Zeit hatten sich im Thale von Schwyz freie Alemannen 
angesiedelt, an deren Spitze der Graf des Zürichgaues, unter ihm ein 
Centenar das Gericht gehegt, von dessen allmälig erblich gewordenem 
Amte das angesehenste Geschlecht den Namen Hunno trug. Im Laufe 
der Jahrhunderte hatten Gotteshäuser und Dynasten Grundeigenthum im 
Thale neben den bäuerlichen Markgenossen erworben; gemeinsam mit 
den letztern des Thales Grafen, aus dem Stamme von Lenzburg, vor 
Königen um Wald und Weide wider Kloster Einsiedeln gestritten. Jetzt 
schlichtete Graf Rudolf selbst einen solchen Streit, in welchem 
die Landleute gegen das Kloster und dessen mächtige Vögte von 
Rapperswil in dreijähriger Fehde sich behauptet und zuletzt beide 
Theile sein Urtheil angerufen hatten. Mit seinem Gefolge von Räthen 
und Dienstleuten, den Edeln von Schnabelburg, von Wart, von We- 
diswile, von Bonstetten u. a. m. erschien Graf Rudolf in der Abtei, 
liess sich vom Abte und dessen Convent und Vogte die kaiserlichen 
und königlichen Briefe und Handvesten des Klosters, von den Land- 


_— 22 — 


leuten — Konrad Hunno an der Spitze — ihre Ansprüche vorlegen, 
und schied dann mit Rath weiser Leute und beider Theile Willen die 
freien, ewigen Besitzungen des Klosters, der Landleute und die Weide 
aus, die beiden T'heilen gemeinsam bleiben und darinnen keiner der- 
selben jemals ein Eigen gewinnen solle. Alle Handvesten und Be- 
sitzrechte früherer Zeiten sollen hiemit todt und ab sein. Bei diesem 
Spruche nun sagt der Graf von sich aus, dass er „von rechter Erb- 
schaft rechter Vogt und Schirmer der Leute von Schwyz sei“. Man 
hat den Sinn dieses Ausdruckes vielfach verschieden gedeutet. Welches 
immer sein rechtlicher Inhalt sei, soviel geht aus demselben hervor, 
dass die ursprünglich nur dem Reiche und dem Gaugrafen, als kai- 
serlichem Beamten, untergebenen Landleute bereits seit längerer Zeit 
in einer Abhängigkeit von dem gräflichen Hause als solehem stan- 
den; ein Verhältniss, das eine völlige Landesherrschaft der Grafen 
herbeizuführen um so eher geeignet war, als des Grafen Rudolf per- 
sönliche Stellung und enge Beziehung zu König Friedrich diese Ab- 
hängigkeit der Bauersame von Schwyz nur befestigen konnte. Dass 
letztere indessen das Verhältniss mehr ertrug, als liebte, ist aus der 
ganzen nachfolgenden Geschichte von Schwyz, aus einem wenig spä- 
tern Vorgange in Uri und — vielleicht — auch aus der Urkunde Ru- 
dolfs selbst zu erschliessen, in welcher der Graf seine Vogt- und 
Schirmherrlichkeit zweimal mit besonderm Nachdrucke betont. 5) 

Günstigere Umstände für die freiheitliche Entwicklung der städti- 
schen und ländlichen Gemeinden traten nun aber dadurch ein, dass 
König Friedrich sich mit Vorliebe Italien zuwandte. Indem das Reich 
einer festen Leitung aus seinem Mittelpunkte entbehrte, wurde Jedem 
die Nothwendigkeit nahe gelegt, sich selbst zu schützen; aber auch 
Spielraum gewährt, seine Ansprüche und Rechte je nach dem Maasse 
seiner Kraft auszudehnen. Fürsten und Herren, Städte und Landleute 
empfanden diess gleicher Weise. Verfolgen wir die Hauptthatsachen 
dieser Entwicklung! 

An Friedrichs Statt regierten Deutschland seit 1220 zuerst die 
Pfleger König Heinrichs; dann, von seinem siebzehnten Jahre. an, 
Dieser selbst. Häufig griff freilich der Kaiser durch Verfügungen aus 
der Ferne in die deutschen Angelegenheiten ein. Als der junge König 
des Vaters Absichten zu widerstreben, nach unabhängiger Herrschaft 
zu trachten begann, erschien Friedrich nach fünfzehnjähriger Abwesen- 
heit wieder in Deutschland, entsetzte Heinrich des Thrones und verwandte 
nun zwei Jahre darauf, das Reich zu ordnen. Auf seinen Wunsch 


— 223 — 


erwählten die Fürsten seinen zweiten, neunjährigen Sohn Konrad an 
Heinrichs Statt zum römischen Könige; der Kaiser stand auf dem 
Gipfelpunkte seiner Macht. Nun aber wiederholte sich früher Gesche- 
henes. Auch jetzt überliess Friedrich die deutschen Lande einer vor- 
mundschaftlichen Regierung für den unmündigen König und ging wie- 
der nach Italien. Bald verzehrte er dort im Kampfe mit den Lombarden, 
in stetem Zerwürfniss, endlich in Todfeindschaft mit dem päpstlichen 
Stuhle seine beste Kraft. 1239 von der Kirche gebannt, 1245 durch 
Papst und Coneil zu Lyon für sich und sein Geschlecht aller Throne 
verlustig erklärt, vermochte er nicht, diese Gegner zu bezwingen. In 
diese Kämpfe verwickelt starb er 1250 im Neapolitanischen, ferne 
und fast ausser aller Verbindung mit Deutschland. Hier aber, wo die 
mächtigsten Fürsten 1241 wider ihn und König Konrad die Waffen 
erhoben, behauptete sich Letzterer nur mit solcher Mühe gegen seine 
Feinde, dass er es nach zehnjährigem Kampfe vorzog, sein Erbreich 
Sieilien aufzusuchen, um dort zunächst seine Herrschaft zu begründen. 
Allein auch ihn erreichte unerwartet schnell das Verhängniss seines 
Hauses. Am 22. Mai 1254 starb er zu Lavello im sechsundzwan- 
zigsten Altersjahre; der letzte König aus dem Stamme der Staufer. 
In gewaltiger Weise haben diese vierthalb Jahrzehnte von Hein- 
richs Königswahl bis zu Konrads Ende die Selbstständigkeit der deutschen 
Städte gefördert. Hatten früher die einzelnen Bürgerschaften in enger 
Vereinigung ihrer Genossen Kraft und Stärke gefunden, so dehnte jetzt 
diese Einigung sich über die Mauern der einzelnen Stadt aus, verband 
Städte mit Städten — ähnlich dem Beispiele der Lombarden —, machte 
Grundbesitzer auf dem flachen Lande (Pfahlbürger) des städtischen 
Bürgerrechts theilhaftig; ja es fingen ähnliche Einigungen an auch 
Landleute unter einander zu verbinden. In grossen Zügen geht diese 
Erscheinung ununterbrochen, obwohl wechselnd in ihren Erfolgen, fortan 
durch alle Theile des Reiches, bedingt hauptsächlich durch das Ver- 
halten des Königthums. Zunächst freilich trat ihr Dieses, verbündet 
mit den Fürsten, hemmend entgegen. Schon durch König Heinrich 
ward 1226 das erste geschichtlich bekannte Bündniss dentscher Städte 
aufgehoben und wurden städtische Einigungen und Verfassungen cas- 
sirt. 1231 erliess der Reichstag in Worms, von Italien aus durch 
Kaiser Friedrich angeregt, ein Verbot aller Einigungen, Verbindungen 
und Eidgenossenschaften in Städten und zwischen Städten; 1235 der 
Kaiser selbst in Mainz, auf gleicher Grundlage, ein grosses Reichs- 
gesetz, das seine Thronnachfolger oft erneuert haben. Allein alle diese 


— 224 — 


Maassregeln vermochten nicht den natürlichen Lauf der Dinge zu hem- 
men. Immer wieder tauchten jene Bestrebungen der Städte nach voller 
Selbstverwaltung und Einigungen unter sich von neuem auf. Und als 
König Heinrich im Zwiespalte mit dem Vater bei den Städten Parthei 
warb, als später der Kaiser selbst, verlassen von den Grossen, ver- 
urtheilt von der Kirche, verworfen von der Geistlichkeit, bei den 
Bürgerschaften seine letzte Stütze suchte, da machten diese gewaltige 
Fortschritte auf der eingeschlagenen Bahn. Ihr stetes Ziel im Auge, 
hielten sie des Kaisers Sache bis zu seinem Untergange mit allem 
Eifer fest und kämpften so zu gleicher Zeit für ihn und für sich selbst. 
Zur Zeit von König Konrads Ende verband ein grosser Bund die 
Städte am Rhein und in der Wetterau, von Basel abwärts bis gegen 
Cöln hin. Selbst Fürsten und Herren schlossen sich nun diesen Ver- 
einigungen an, die ihren Landfriedenssatzungen mit Waffengewalt Nach- 
druck gaben. 

Mächtig brauste dieser Strom der Zeit auch durch das oberste 
deutsche Land. Basel, Rheinfelden, Zürich standen im Verein der 
deutschen Städte; im burgundischen Lande Bern, Freiburg, Murten, 
Wiflisburg, in Bündnissen unter einander. ®) Hier setzte sich Peter 
von Savoyen, dort Kaiser Friedrichs Taufpathe, der junge Graf Ru- 
dolf von Habsburg, in freundliches Vernehmen mit den Bürgerschaften 
und förderten mit deren Unterstützung ihre eigene Macht. Der hohe 
Adel, der entgegenstand, vermochte nicht die Bewegung niederzuhal- 
ten. Aber auch im Gebirge blieb dieselbe keineswegs zurück. Hier 
trat Hasle in Verbindung mit Bern; hier schlossen Uri, Schwyz und 
Nidwalden um die Mitte des Jahrhunderts ihren ersten Bund, dessen 
unmittelbaren Ausdruck wir freilich nicht mehr besitzen, von dem aber 
Wort und That der Folgezeit unzweifelhafte Kunde geben. Die Ge- 
meinde von Uri bildete seinen Stützpunkt. 7) 

Das Thal, ursprünglich königliches Eigenthum, war seit mehr als 
drei Jahrhunderten unter der Grundherrschaft der Abtei Zürich; auf 
ihrem Boden aus freien und unfreien Ansiedlern die Genossenschaft 
der Gotteshausleute herangewachsen, deren Vertreter schon im zehnten 
Jahrhunderte mit dem Vogte des Stiftes verhandelten; mit welcher 
Edle und Ritter, die im Laufe der Zeit Lehen im Thale erworben, 
in freundlichem Vernehmen standen. Belehnt vom Reiche, als Schirm- 
und Kastvogt der Abtei, hatte aus der Ferne der Herzog von Zährin- 
gen die oberste Gewalt im Thale geübt; nach des letzten Zähringers 
Tode der alte Graf Rudolf von Habsburg, durch Kaiser Friedrichs 


_ 295 — 


oder dessen Sohnes Gunst, des Zähringers Vogtei über Uri als Lehen 
erhalten. Ungerne hatten die Thalleute diesen Wechsel gesehen, der 
geeignet war, sie in ähnliche Stellung wie ihre Nachbarn von Schwyz zu 
dem nahen, ringsum mächtigen Grafenhause zu bringen. Jetzt wandten 
sie sich, 1231, an König Heinrich, um solcher Gefahr zu entgehen, 
und in dem gleichen Augenblicke, in welchem die Reichstagsbeschlüsse 
wider die Städtefreiheit zu Worms ergingen, gab der König den 
Thalleuten williges Gehör, fand den Grafen um seine Ansprüche ab 
und nahm Uri unter des Reiches unmittelbare Hoheit. Des Königs 
Beweggründe sind unbekannt; die Einwilligung des Grafen vermuth- 
lich ein Preis der Sühne, in welchen Heinrich kurz zuvor Rudolfs 
ältesten Sohn, Albert, aufgenommen, nachdem Dieser durch eine Fehde 
im Elsass sich des Königs heftigen Unwillen zugezogen. Unver- 
kennbar aber ist die Absicht der Landleute. So sehr war ihre Ge- 
meinde, die den erfolgreichen Schritt beim Könige gethan, bereits 
erstarkt, dass sie — gleich städtischen Bürgerschaften — Gotteshäuser 
besteuerte und schon 1243 ihr eigenes Siegel führt. $) 

Auf ähnlichem Wege folgten ihnen binnen kurzem die Landleute 
von Schwyz. Kriegslust, Ruhm- und Soldbegierde führten damals schon 
die Jugend aus dem Gebirge in die Dienste kriegerischer Fürsten; sie 
brachten auch dem Kaiser in Italien willkommene Mannschaft zu. Da 
benutzten Boten von Schwyz 1240 im Lager vor Faenza die günstige 
Gelegenheit, sich Befreiung von der Habsburgischen Vogt- und Schirm- 
herrlichkeit zu erbitten, und Friedrich willfahrte ihrem Begehren. Als 
„freien Leuten“, die „nur ihm und dem Reiche unterthan 
seien“, verhiess er ihnen des „Reiches besondern Schutz, aus 
dessen Herrschaft und Händen sie niemals entfremdet werden sollen“. 
Das Thal war hiemit als Reichsland anerkannt; Habsburgs Gewalt (als 
Amtsgewalt wohl fortbestehend) ihres erblichen (eigen thümlichen) 
Charakters entkleidet, als vom Reiche herrührend bezeichnet, und des 
Grafen Aussicht auf Erwerb völliger Landesherrschaft vereitelt. Der 
Grundbesitz des gräflichen Hauses aber und desen grundherrliche Rechte 
wurden durch die königliche Verfügung nicht berührt. Dieselben waren 
nicht mehr in des alten Grafen Rudolf Händen; 1232 war dieser 
gestorben, sein jüngerer Sohn, Rudolf der Schweigsame (von Habsburg- 
Laufenburg), Erbe des Besitzthumes des Hauses am Vierwaldstättersee 
geworden, an dessen Ufern er eben jetzt die Veste Neu - Habsburg 
erbaute. Gleich dem Vater ein entschiedener Anhänger des staufischen 
Königshauses, ward er auch durch Friedrichs Erlass für Schwyz von 


—_ 226 — 


des Kaisers Sache keineswegs getrennt; sei es dass jener Erlass in den 
thatsächlichen Verhältnissen zwischen ihm und den Thalleuten (zumal 
bei des Kaisers Abwesenheit in fernem Lande) einstweilen keine Ver- 
änderung hervorbrachte; sei es dass der Graf Friedrichs Verfügung als 
vollberechtigt anerkannte. ?) 

Als aber die politischen Gegensätze schärfer wurden, als die Bürger 
von Luzern sich wider ihren Grundherren, den Abt von Murbach, 
erhoben, dessen Schirmvogt Graf Rudolf war, und eine geschworne 
Einigung die Stadt mit Geistlichen, Rittern und Landleuten in Nid- 
walden zu gegenseitigem Schutze verband, ja auch mit Zürich in 
Verbindung brachte, das mit des Grafen Schwägern von Regensberg 
nicht in freundlichem Vernehmen stand, da traten zwischen Graf 
Rudolf und den Ländern Zerwürfnisse ein. Denn im Gegensatze zu 
seinem gleichnamigen Neffen gehörte Jener ganz der Parthei des landes- 
herrlichen Adels an. Hin und her wogten nun die Kräfte. Ein Friedens- 
schluss der Landherren mit Luzern, im Juli 1244, brachte nur augen- 
blicklichen Stillstand. Und als vollends der kirchliche Zwiespalt 
unheilbar ward, der Spruch des Coneils zu Lyon wider die Staufer erging, 
sagte Graf Rudolf — noch kurz zuvor beim Kaiser — sich auch von des 
Letztern Sache los und anerkannte fortan dessen Verfügung für Schwyz 
nicht, zumal Friedrich bei ihrem einstigen Erlass schon unter dem Banne 
gestanden. Die Waldstätte blieben daher in feindseliger Stellung zu 
Rudolf; 1247 rief der Graf Papst Innocenz IV. um Hülfe wider 
Schwyz, Sarnen und Luzern an, die seiner Herrschaft nicht gehorchen 
wollen, sondern sich zum Kaiser halten. Entgegengesetzte Partheien 
hatten zwar in Schwyz gewaltet, die Landleute in ihren Beschlüssen 
geschwankt; zuletzt jedoch Rudolfs Gegner die Oberhand behalten. 
Der Graf starb 1249, ohne das Ende dieser Streitigkeiten gesehen zu 
haben. Noch im Mai 1252, als die Bürger von Luzern sich mit ihren 
Vögten verglichen, war der Friede bei „den Leuten in den Ber- 
gen“ nicht vollkommen hergestellt. Doch verfügte noch im nämlichen 
Jahre Graf Gottfried, Rudolfs ältester Sohn und Erbe, in Sarnen über 
dortiges Besitzthum des Hauses für sich und seine Brüder. 19) 

So standen die Dinge, als das Staufisehe Königsthum erlosch. 
Nun aber fiel das Reich unter blossen Namenkönigen jener achtzehn- 
jährigen Zersetzung anheim, die das Zwischenreich genannt wird, und 
die entfesselten Triebe hatten aller Orten noch freiern Spielraum. Das 
Fürstenthum erreichte in der Ausbildung voller Landeshoheit und des 
Kurfürstenthums seine Spitze; die Städte, obwohl durch Zwiespalt 


— 227 — 


ihrer besten Kraft beraubt, behielten wenigstens einen Preis ihrer An- 
strengungen in dem fortan geübten Stimmrecht auf den Reichstagen. 

Von der Thur bis zur Aare legte damals Graf Rudolf von Habs- 
burg, der Neffe des Schweigsamen, durch Waffen, durch Erbschaft, 
durch Verträge den Grund zu seiner künftigen Erhöhung; im Bunde 
mit ihm errang Zürich volle Freiheit; mit Peter von Savoyen be- 
hauptete Bern seine alten Rechte. Die Reichsburgen auf dem Linden- 
hofe und auf Nidegg wurden dem Verfalle oder der Zerstörung Preis 
gegeben. Im innern Lande gewann Luzern, Murbach gegenüber, an 
freierer Bewegung und brach des Abtes drohendes Schloss Tannenberg;; 
vertheidigte Zug sich mit Glück wider räuberischen Adel.1!) Aber 
von den „Leuten in den Bergen“ ist während zwanzig Jahren 
fast keine Kunde. Nur dass die Gemeinde von Uri zwei Mal den 
Grafen Rudolf als Riehter über Landfriedensbrüche in ihrem Innern 
nach Altdorf berief und seine Sprüche mitbesiegelte, dass um 1269 
Leute von Steinen sich von Habsburgischen Herrschaftsrechten los- 
kauften und dass Graf Rudolf 1273, kurz vor seiner Königswahl, Be- 
sitz und Rechte seiner Vettern von Habsburg-Laufenburg in Schwyz 
und Unterwalden käuflich an sich brachte. Das sind aus zwanzig 
Jahren alle urkundlichen Zeugnisse aus den Waldstätten. Sonst aber, 
von ihrer inneren Entwicklung, von ihrem Verhältnisse zu Graf Gott- 
fried und seinen Brüdern, keine Spur! Und doch ist dieser lange Zeit- 
raum, für Schwyz wenigstens, nicht ohne bedeutende Folgen geblie- 
ben; denn nach dem Schlusse desselben steht Schwyz 1275 gegenüber 
Gotteshäusern, 1281 mit seinem Siegel, ganz in der nämlichen Stel- 
lung wie vierzig Jahre früher Uri.12) Wir werden sehen, wie unsere 
Chroniken diese Lücke ergänzen. : 

Eine neue Zeit begann aber mit dem Augenblicke, da Graf Rudolf 
— im Herbste 1273 — den Königsthron bestieg. Mit ungeahnter 
Kraft und seltenem Geschick machte der zum Herrscher geborne Graf 
“ seine neue Würde geltend, besiegte das mächtige Böhmen, unterwarf 
unbotmässige Herren und Städte, handhabte den öffentlichen Landfrieden 
und errang — wenn auch die alte Macht des Königthums nicht wieder 
herzustellen war — dem letztern doch ein längstvermisstes Ansehen. 
Demselben Zwecke diente sein Bestreben, die Macht des eigenen Hauses 
zu fördern und dessen Nachfolge auf dem Throne zu sichern. Die Ehe- 
verbindungen seiner Kinder, die Belehnung seiner Söhne mit Oestreich, 
die Ausdehnung und Abrundung seines Hausbesitzes in den Stamm- 
landen durch alle Mittel des Einflusses bereitete den Weg zu jenem Ziele. 


—_— 23 — 


Diess hatten auch die Waldstätte zu empfinden. Zwar bestätigte 
der König Uri’s reichsunmittelbare Stellung; in Schwyz und Unter- 
walden aber behauptete er, mit grösserm Nachdrucke als einst seine 
Vettern, die Rechte und Ansprüche, die er von Diesen erkauft. Kai- 
ser Friedrichs Urkunde für Schwyz ward nicht erneuert. Luzern 
brachte der König durch Kauf von Murbach völlig in seine Hand. 

Die Länder mussten sich fügen. Es ist keine Spur von Aufleh- 
nung gegen Rudolfs Gewalt; vielmehr diente noch in seinen letzten 
Jahren die kriegstüchtige Schaar der Schwyzer mit Ruhm in seinem 
Heere. Aber an Beschwerden und Missvergnügen hat es doch nicht 
gefehlt. Schon des Grafen, noch mehr des Königs Steuerforderungen 
drückten schwer auf Stadt und Land; die Thalleute können, von den 
letztern wenigstens, nicht frei geblieben sein. Die Nichterneuerung 
von Kaiser Friedrichs Briefe für Schwyz, der Versuch, die Thäler 
den Landrichtern des königlichen Hauses — nicht des Reiches — im 
Zürichgau und Aargau zu unterstellen, die Uebertragung der Reichs- 
vogtei in Zürich an Habsburgische Vasallen, statt wie früher an 
städtische Ritter, das Alles wies auf des Königs Absicht hin, an 
die Stelle der Herrschaft des Reiches diejenige seines Hauses treten 
zu lassen und entfremdete ihm die davon Betroffenen. Ein Brief 
des Königs an Schwyz, der Inhalt des erneuerten Bundes der Länder 
und ihres Bündnisses mit Zürich geben hievon unverkennbares Zeug- 
niss. 13) 

Kaum hatte nämlich Rudolf die Augen geschlossen, so ging ihre 
Stimmung zur That über. Am 15. Juli 1291 starb der König; schon 
am 1. August erneuerten die Gemeinden von Uri, Schwyz und Nid- 
walden ihren „alten“ geschworenen Bund auf ewig. Der Bundesbrief, 
der älteste noch vorhandene, gibt in merkwürdiger Bestimmtheit ihre 
Absicht kund, nur Einheimische als Richter in den Thälern anzuer- 
kennen. Am 16. Oktober folgte der dreijährige Bund Zürichs mit 
Uri und Schwyz. Gegenseitig sichern sich die Verbündeten Schutz 
dagegen zu, dass Niemand schwerer mit Diensten beladen werde, als _ 
„vor des Königs Zeiten* üblich gewesen. Und auch Gegner aus dem 
Adel, die von des Königs Vergrösserungsplanen gelitten hatten, voran 
der Bischof von Konstanz, des Königs Vetter von Habsburg, ver- 
banden sich mit Zürich wider Oestreich. 

Allein Zürichs blutige Niederlage vor Winterthur am 13. April 
1292 und Herzog Albrechts Erscheinen im Lande mit Heeresmacht 
brachten die Stadt und den Adel zum Frieden mit dem Herzog; nur 


— 223 — 


die Waldstätte beharrten auf ihrem Widerstande, ungeachtet Albrecht 
im Herbste 1292 sein Heer bis Zug vorführte und der erwählte neue 
König, Adolf von Nassau, in friedlichem Einvernehmen mit dem Her- 
zog im Januar 1293 selbst bis nach Zürich heraufkam. Noch im 
März ordnete der Oestreichische Pfleger in Luzern, Otto von Ochsen- 
stein, feindliche Massregeln gegen die Thäler an. Wann und wie 
diese sich endlich mit dem Herzoge befriedeten, ist unbekannt. Für 
Uri.scheint dies noch 1293 geschehen zu sein; Schwyz blieb jedenfalls 
in grosser Unabhängigkeit von dem Einflusse der Herrschaft. 1294 
setzte die Gemeinde aus sich ein Statut über privatrechtliche und über 
die Verhältnisse der Gotteshäuser im Lande fest. Und als schon im 
dritten Jahr tiefer Zwiespalt zwischen König Adolf und Herzog Alb- 
recht eintrat und nach und nach zur tödtlichen Feindschaft ward, be- 
nutzten Uri und Schwyz die günstige Gelegenheit, beim Könige ihren 
Ansprüchen Gehör zu verschaffen, erhielten von demselben Verbriefung 
ihrer Reichsunmittelbarkeit und nahmen nun ganz dieselbe Stellung 
ein wie nach König Rudolfs Ableben. Sogar Luzern zeigte wieder 
Streben nach freierer Bewegung. 1*) 

Aber Adolfs Untergang in der Schlacht von Göllheim im Juli 
1298 und Albrechts Erhebung an’s Reich brachten einen gänzlichen 
Umschlag in alle Verhältnisse. Mächtiger als der Vater, ein noch 
strengerer Kriegsmann, herrschte dieser zweite König Habsburgischen 
Stammes über Fürsten, Adel und Städte, Jene mit eiserner Faust 
demüthigend, Diesen gegenüber karger in Vergünstigung von Frei- 
heiten; auch das Ziel der Vergrösserung eigener Hausmacht verfolgte 
er nicht minder stät, als sein Vater. Sein Walten gab sich nachdrück- 
lich gerade in den Stammlanden kund, die er alljährlich besuchte. Der 
hohe Adel fühlte sich durch des Königs strenges Regiment beengt, 
gab Einflüsterungen feindselig gesinnter Fürsten Gehör und weckte 
dem Könige in seinem Neffen einen Gegner; Zürich erhielt neuerdings 
Reichsvögte aus den Habsburgischen Vasallen; Luzern ward in die 
Stellung einer Habsburgischen Landstadt zurückgewiesen; von erneuer- 
ter Zusicherung der Reichsunmittelbarkeit an Schwyz war keine Rede; 
selbst Uri erhielt eine solche nicht mehr, die doch noch König Rudolf 
gewährt hatte. Schwyz und Unterwalden traten in eine, nun nicht mehr 
zu bestreitende Unterordnung unter die Habsburgische Landesherrschaft; 
Letzteres fand durch deren Einfluss zum ersten Male Einigung unter 
einem Landammann für Ob- und Nidwalden. Uri’s Stellung blieb 
ungewiss; die Gemeinde und ihr Landammann konnten sich des Kö- 


— 230 — 


nigs Geboten, unter welchem Titel diese auch gegeben werden mochten, 
nicht entziehen. So war der Bestand der Dinge, gegen welchen wäh- 
rend Albrechts zehnjähriger Herrschaft keine Auflehnung erfolgt ist. 
Ruhig ordnete der König in diesen Jahren die Aufnahme eines grossen 
Urbars über alle Habsburgischen Besitzungen und Rechte durch ganz 
Oberdeutschland und Curwalen an. 19) 

Albrechts Tod am 1. Mai 1308 unter den Streichen der adeligen 
Mörder zu Windisch veränderte plötzlich Alles. Während im flachen 
Lande Herzog Leopolds energischer Geist die Habsburgischen Herr- 
schaften sicherte, die Verfolgung der Königsmörder vorbereitete und 
auch Zürich zu gewinnen wusste, benutzten Uri und Schwyz, denen 
nun auch Unterwalden sich anschloss, die Gunst der Umstände, Oest- 
reichs Herrschaft abzuwerfen; sie traten gegen die Herzoge auf, und 
es gelang ihnen, des neuen Königs, Heinrichs von Lützelburg, Aner- 
kennung ihrer Reichsunmittelbarkeit zu erhalten. Zu Konstanz erneuerte 
Heinrich am 3. Juni 1309 für Uri und Schwyz die Briefe der Könige 
Friedrich und Adolf und setzte Unterwalden den beiden Ländern 
gleich. Sein anfängliches Zurückhalten gegen Oestreich kam dem 
Begehren der Thalleute zu Statten. Als die Herzoge sich indessen 
über Beeinträchtigung ihrer Rechte in den Waldstätten beklagten, er- 
theilte der König, der Leopolds trefllicher Kriegshülfe in Italien Vieles 
zu danken hatte und diese sich zu erhalten wünschte, auf des Her- 
zogs Andringen 1311 Befehl zu Untersuchung der Rechte, welche 
Leopold und seine Brüder als Grundherren und als Erben einstiger 
Grafengewalt in den Ländern theils besassen, theils beanspruchten. 
Und wohl ist anzunehmen, es würde diese Anordnung nicht ohne 
günstige Wirkungen für das Haus Oestreich geblieben sein, wenn des 
verwittweten Kaisers beabsichtigte Vermählung mit einer Schwester der 
Herzoge zu Stande gekommen wäre. Allein Heinrichs unerwarteter 
Hinschied am 24. August 1313 löste diese angebahnte Verbindung 
und es blieb auch der Streit zwischen den Herzogen und den Wald- 
stätten unerledigt. Als Leopold denselben mit den Waffen zu been- 
digen unternahm, entschied der Sieg am Morgarten am 15. November 
1315 bleibend für die Waldstätte. 16) — 

Diess, Tit., das Ergebniss der urkundlichen Geschichte des- 
jenigen Jahrhunderts, das Uri, Schwyz und Unterwalden zu selbst- 
ständigen Gemeinwesen gebildet hat. In kurzem Ueberblicke können 
wir sagen: Von der Zeit an, da das Haus Habsburg zuerst am Vier- 
waldstättersee Fuss gefasst, war es sein Bestreben, rings um denselben 


— 231 — 


sich volle Landesherrschaft zu erwerben; die Länder aber widerstan- 
den. Uri hat sich jener Herrschaft fortdauernd und mit Erfolg er- 
wehrt, nur unter dem alten Grafen Rudolf und unter seinem Urenkel, 
König Albrecht, vorübergehend in bestimmter Gefahr, bleibend unter 
Habsburg zu gerathen. Schwyz, dasselbe Ziel anstrebend, erreichte in 
Kaiser Friedrichs II. letzter Zeit Unabhängigkeit von Habsburg, ward 
aber unter den Königen Rudolf und Albrecht dem Habsburgischen 
Hause bestimmt unterworfen. Unterwalden, an innerer Einheit hinter 
Schwyz zurückstehend und darum minder kräftig und entschieden, 
theilte dessen Bestrebungen, gelangte aber erst nach König Albrechts 
Tode zu gleicher freier Stellung wie Schwyz. 


II. Die Chroniken. 

Wie verhalten sich nun zu dieser urkundlichen Geschichte die 
Erzählungen unserer Chroniken ? 

Kein Schriftsteller des dreizehnten Jahrhunderts gibt uns von 
den Tagesereignissen, Handlungen und Verträgen Kunde, oder nennt 
die Personen, in welchen das hundertjährige Ringen der Thalgemein- 
den nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Habsburg zu Tage 
trat. Die wenigen vorhandenen Urkunden lassen uns, wie Sie gesehen 
haben, nur in einzelnen, weit auseinanderliegenden Zeitpunkten den 
augenblicklichen Bestand der Verhältnisse (gleichsam Knotenpunkte 
der Entwicklung) theilweise erkennen. 

Eben so wenig gibt es Schriftsteller des vierzehnten Jahrhun- 
derts, die uns zur Aufklärung dienen könnten. Die Schlacht am Mor- 
garten ist von einigen Zeitgenossen aufgezeichnet worden. Aber über 
deren Veranlassung drücken sich diese Berichterstatter, denen es um 
die Gegenwart, nicht um die Vergangenheit zu thun war, so kurz, 
so oberflächlich und doch so widersprechend aus, dass wir aus ihnen 
nicht den mindesten Gewinn für die frühere Geschichte der Waldstätte 
schöpfen. Auch in den noch erhaltenen Liedern aus dem vierzehnten 
Jahrhundert über damalige Ereignisse — wie die Schlacht von Sem- 
pach u. s. f. — ist kein Anklang an die frühere Geschichte der Län- 
der. 17) Ein Zürcherisches Zeitbuch eines Unbekannten enthält die 
Angabe: „Im Rebmonat (Hornung) 1306 machten die drei Länder 
Schwyz, Uri und Unterwalden einen Bund und schwuren zusammen ; 
das war der erste Bund.“ Wäre die Jahrzahl unbestritten, so kann 
hiemit, Angesichts der Bundesurkunde von 1291, nur ein Geheimbund 
gemeint sein, welcher bis nach König Albrechts Tode (gerade im Früh- 
jahr 1305 war der König in unsern Landschaften) ohne Folgen geblieben. 


_— 232 — 


Erst zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts — hundert 
Jahre nach der Schlacht von Morgarten — wurde die älteste, uns 
erhaltene ausführlichere Aufzeichnung über die Geschichte der Länder 
abgefasst: in der Stadtchronik von Bern, welche der Rath daselbst 
um 1430 anfertigen liess und die unter des Stadtschreibers Justinger 
Namen bekannt ist. Von Irrthümern über ältere Zeiten nicht frei, und 
auch manche fabelhafte Anekdote aufnehmend, im Ganzen aber doch 
gut unterrichtet, erzählt diese Chronik in ihrer ersten schriftlichen 
(nicht der gedruckten) Fassung also: 18) 

„Im Jahr 1260 erhoben sich Schwyz wa Unterwalden wider 
ihre Herrschaft Habsburg, unterstützt von Uri, das an die Abtei Zürich 
gehörte. Der Herrschaft Vögte und Amtleute hatten neue Rechte und 
neue Fünde gesucht, mit der Landleute Frauen und Töchtern Muth- 
willen getrieben. Ein grosser Krieg entstand. Die Länder riefen das 
Reich um Hülfe an, an das Schwyz vor vielen hundert Jahren ge- 
hörte, wie es mit Briefen bewies. Nach langem Krieg, wobei die 
Herrschaft Habsburg verarmte, suchte diese Hülfe bei der Herrschaft 
Oestreich. Letztere kaufte jener ihre Rechte um eine Summe Geldes 
ab, und als sie hievon die Thäler benachrichtigte, unterwarfen sich 
diese und thaten ihr Gehorsam nach Weisung ihrer alten Rechte. Das 
währte manches Jahr. Als aber der Herrschaft Oestreich Amtleute 
neue Rechte, neue Dienste und Fünde suchten, erhob sich neuer Streit 
und Krieg, der bis zum Jahre 1315 währte, da Herzog Leopold mit 
Heeresmacht gegen Schwyz zu Felde zog“ u. s. f£ — Worauf die 
Schlacht am Morgarten geschildert wird. 

Augenscheinlich ist in dieser Erzählung Nichts, was dem Ergeb- 
nisse der urkundlichen Geschichtsforschung wesentlich - widerspräche. 
Im Gegentheile; letztere zeigte uns ja ebenfalls eine gedoppelte Er- 
hebung der Waldstätte: einmal, zur Zeit der letzten Staufer, gegen 
das Haus Habsburg-Laufenburg; dann — nach König Rudolfs Zeiten 
— gegen das Haus Oestreich. Justinger gibt nun hiezu das Nähere. 
Die von ihm angeführten Daten zeigen, dass die Spannung oder der 
Fehdezustand zwischen dem Hause Habsburg-Laufenburg und den 
Waldstätten nach jenem Luzernerfrieden von 1252 keineswegs bleibend 
beigelegt ward, sondern bis 1273 fortgedauert hat. Diess erklärt nun 
vollkommen, warum wir von 1260 — 1273 nicht die geringsten Spuren 
eines Zusammenhanges zwischen der Herrschaft (Graf Gottfried und 
seinen Brüdern) und den Ländern finden; es erklärt den Verkauf ihrer 
Rechte an ihren mächtigeren Vetter Rudolf (Justinger kann die Urkunde 


darüber geschen haben, die 1415 mit dem ÖOestreichischen Archive 
auf Schloss Baden in die Hände der Eidgenossen kam); es erklärt 
endlich, warum Schwyz 1275 in so viel grösserer Selbstständigkeit, 
‚als dreissig Jahre früher, auftritt. Zudem ist was Justinger sagt den 
allgemeinen Verhältnissen in unsern Landschaften zur Zeit des Zwi- 
schen» '=s völlig gemäss. Zu bedauern bleibt, dass die Chronik 
hingeg it Bezug auf die zweite Erhebung der Waldstätte, diejenige 
gegen 3 Haus Oestreich, keine Zeitbestimmung enthält und nicht 
unmittes ar feststellen lässt, ob sie die Ereignisse zu König Adolfs 
Zeiten oder spätere bezeichnen wolle. Da sie aber den neuen Streit 
bis zur Schlacht bei Morgarten dauern lässt, so können wohl nur die 
Jahre 1308 (nach König Albreehts Tode) bis 1315 gemeint sein. 

Weit spätern Ursprunges als Justinger sind unsere Chroniken aus dem 
Zürich- und Aargau: Das weisse Buch von Sarnen, die Chroniken der 
Luzerner Russ, Etterlin und Schilling, des Arther-Pfarrers Villinger, des 
Zugers Kolin, der Zürcher Brennwald, Stumpf und Bullinger, des Wet- 
tingerabts Silbereisen. Diese Verfasser haben alle die Berner-Stadtehronik, 
wenigstens mittelbar, gekannt und schöpfen sichtlich aus derselben; sie 
haben aber auch noch andere Quellen für ihre Darstellungen benutzt, 
theils Volkslieder und mündliche Ueberlieferungen, theils nun verlorene 
Chroniken, von denen wir einzig von derjenigen eines Landammann 
Püntiner von Uri, geschrieben zu Justingers Zeit, etwas Näheres, aber 
auch das wissen, dass sie u. a. eine ganz fabelhafte Urgeschichte der 
Länder enthielt. 19) Natürlich haben die spätern unter jenen Chronik- 
schreibern auch die Werke der ihnen je vorangehenden benutzt. 

Durchgehen wir nun ihre Aufzeichnungen, so ergibt sich daraus 
Folgendes. 

Zunächst finden wir in mehreren dieser Chroniken eine kurze 
Erzählung von einem Aufstande der Waldstätte zur Zeit des Zwischen- 
reiches. „Im Jahr 1260, sagen sie, erhoben sich die Landleute von 
Sehwyz und von Unterwalden wider den Adel, brachen dessen Bur- 
gen, vertrieben ihn grösstentheils aus dem Lande und befestigten die 
Eingänge ihrer Thäler durch Thürme und Mauern am Sattel, bei Arth 
und bei Stansstad. Es entstand eine zwölf Jahre andauernde Fehde; 
der entflohene Adel suchte Hülfe beim Haus Oestreich“ u. s. f. Wir 
haben hier, sichtlich in anderer Färbung und wohl auch aus anderer 
Quelle, eine Erzählung, die mit Justingers Nachricht von dem Auf- 
stande von 1260 ganz zusammentrifft und derselben zur Bekräftigung 
dient. Und ebendasselbe bestätigen zwei gelehrte Schriftsteller des 

Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 16 


— 234 — 


fünfzehnten Jahrhunderts: Meister Felix Hemmerlin und ein Benedik- 
tiner in Rougemont, Heinrich Wirzburg von Vach, der den Faseieulus 
temporum des westphälischen Annalisten Wernher Rolewink überarbeitet 
hat, in kurzen aber merkwürdigen Aufzeichnungen über das erste Auf- 
treten der Schwyzer in der Geschichte. Beide beziehen sich dabei 
auf diese nämliche Zeit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts; 
Hemmerlin beschreibt Einzelnheiten des Vorganges, die Tödtung des 
auf Lowerz sitzenden Habsburgischen Vogtes durch zwei Brüder von 
Schwyz, die Verschwörung und den Aufstand der Landleute wider die 
gräfliche Herrschaft u. s. f.2%) Weit entfernt, „ein unhistorisches 
Mährchen“ zu sein, wie Müller und Kopp — in diesem Punkte einig — 
ihn bezeichnen, scheint daher dieser Aufstand der Länder zur Zeit des 
Zwischenreiches wider Habsburg-Laufenburg und dessen Dienst- 
adel mehr als genügend beglaubigt. Darum findet sich auch später 
keine Spur von irgend einem in Schwyz ansässigen Ministerialenge- 
schlechte von Habsburg, wie doch auf das einstige Dasein solcher 
heute noch, im Lande selbst, die Erinnerung an mehr als eine ver- 
schwundene Burg hindeutet. *1) 

Ferner aber enthalten die obgenannten Chroniken in Betreff des 
spätern, von Justinger nur so kurz berührten Aufstandes der Länder 
wider das Haus Oestreich jene allbekannten Erzählungen von dem 
Bundesschwur im Rütli, von Tell, von der Vertreibung der Vögte, 
und schliessen ihre Darstellung dieser Ereignisse und ihrer Folgen mit 
der Schlacht von Morgarten, gleich der Berner Stadtchronik. 

Was ist von diesen Erzählungen zu halten? Eine sorgfältige 
Vergleichung derselben unter sich zeigt sogleich, dass die Erzähler aufs 
Mannigfachste von einander abweichen. Jahrzahlen, Namen, Thatsachen 
und Schilderungen sind hier auf sehr verschiedene, oft sichtlich willkür- 
liche Weise bald aufgeführt, bald weggelassen, bald vertauscht; die 
Erzählungen je später ihr Ursprung desto bestimmter, desto mehr mit 
Einzelnheiten ausgestattet; aber auch Zustände und Ereignisse des drei- 
zehnten, ja des zwölften Jahrhunderts mit solchen des vierzehnten ver- 
mengt; und nur in wenigen Grundzügen herrscht eine Uebereinstimmung 
Aller. Dass ein Aufstand der Länder unter „König Rudolfs Erben* 
stattfand, d. h. unter den Herzogen von Öestreich; (denn wäre König 
Albrecht gemeint, so würde nicht jener allgemeinere Ausdruck gebraucht) 
dass ein Stauffacher von Schwyz als Haupturheber des vorbereiten- 
den Einverständnisses, ein Mann von Uri, des (Zu-) Namens Tall 
oder Tell durch Tödtung eines habsburgischen Beamten sich aus- 


—_— 235 — 


zeichnete; dass der Aufstand, gleich demjenigen von 1260, seinem 
Sinne nach ebenso sehr gegen die tyrannischen Amtleute und den 
Dienstadel der Herrschaft, als gegen diese selbst, gerichtet war, und 
dass es endlich zum Theil die nämlichen adelichen Geschlechter 
waren, denen es beide Male galt, das ist das einzige allen Chro- 
niken Gemeinsame. Schon die letzte Andeutung aber, wie Russens 
Text und die Vergleichung mit ‚Justinger und Hemmerlin, lehren, dass 
selbst von diesen bei Allen wiederkehrenden Dingen, geschweige denn 
von den weiter beigefügten Einzelnheiten, Manches jedenfalls viel eher 
jenem ältern, als diesem spätern Aufstande angehören dürfte. 

Mit einem Worte: Wir haben es in diesen Berichten unserer 
Chroniken nicht mit dem Wissen, sondern mit dem Hörensagen, 
dem Zurechtlegen und Ausmalen zu thun; nicht mit historischer 
Gewissheit, sondern mit den nach einer Zwischenzeit von zwei Jahr- 
hunderten niedergeschriebenen sagenhaften Volksüberlieferungen über 
Ereignisse, welche zwei verschiedenen Epochen angehören: der 
Zeit des Zwischenreiches, 1260—1273, und den Jahren 1308—1315. 
Die Sage hat hier gewaltet, hat die Ereignisse eines stossweise ver- 
laufenen Kampfes von fünfzig Jahren, in welchem gleichartige Vorfälle 
sich wohl mehr als einmal wiederholt haben, zu einem bestimmten 
und augenblicklichen Vorgange gestaltet, und es ist (mit unsern Mitteln 
wenigstens) geradezu unmöglich auszuscheiden, was geschichtliche 
Wahrheit, was Erzeugniss dichterischer Ergänzung ist. Das Ganze 
ist seinem Grundgedanken und Wesen nach der wirklichen Geschichte 
der Länder gemäss; in allen Einzelnheiten aber, in Zeitangaben, 
Orten, Namen ein Gemisch wirklicher Erinnerungen und ergänzender 
Erfindung, das unsere Urkunden weder bestätigen können, noch in 
Bausch und Bogen als Unwahrheit zu bezeichnen zwingen. 2?) 

In besonderer Weise gilt diess aber von der Erzählung von 
Tell. Hier ist eine uralte, bei ganz verschiedenen germanischen Stäm- 
men vorkommende, in Volksliedern gefeierte Sage mit der Erinnerung 
an ein lokales Ereigniss auf so innige Weise verbunden und ver- 
schmolzen worden, dass es unmöglich fällt, diese beiden Bestandtheile 
zu söndern und die Thatsache auszuscheiden, welche von der Sage 
umhüllt ist, ohne sich in ganz willkürlichen Vermuthungen zu ergehen. 
Seit bald liundert Jahren bemüht sich die historische Kritik vergebens 
mit dieser Aufgabe. Es gibt keinen genügenden Grund, um an dem 
Dasein eines historischen Ereignisses zu zweifeln, an welches hier die 
Sage angeknüpft hat: aber noch viel weniger lässt sich verkennen, dass 


— 236 — 


der letztern der grösste Antheil an der Erzählung gekührt. Denn nicht 
allein trägt die Erzählung, wie so manches Andere, in den Chro- 
niken selbst deutlich den Charakter der Sage, sondern es ist auch 
zur Genüge (zuletzt und am gründlichsten von Kopp) die völlige Nich- 
tigkeit aller übrigen, anderswoher als aus den Chroniken gezogenen, 
sogenannten Beweise für die geschichtliche Wahrheit der Erzählung 
dargethan worden; es sind diess alles ganz unhaltbare, absichtlich ge- 
machte Stützen. Wie eine dänische Chronik des zwölften Jahrhun- 
derts, von der wir nicht wissen, wann sie zuerst abschriftlich in die 
Schweiz gekommen, die nämlichen Dinge, bis beinahe in die einzeln- 
sten Züge, aus dem hohen Norden erzählt, wie englische Balladen 
des XV. Jahrhunderts den Apfelschuss des Wilhelm von Cloudeslay 
besingen, der schwäbische Malleus maleficarum von 1498 ganz Aehn- 
liches aus den Rheingegenden erzählt, so feierten die Lieder, aus 
welchen unsere Chroniken schöpften, den urnerischen Tell. Eine ihrer 
wahren Gestalt, Zeit und Namen nach unbekannte Person und That 
sind hier mit dem Glanze umgeben worden, mit dem eine weit ältere 
Volkssage überall den geschicktesten Schützen umgeben hat, der zuerst 
die Bewunderung seiner Zeitgenossen erregte. Leider besitzen wir das 
älteste Tellenlied nicht mehr; sondern erst aus dem Anfange des 
XVII. Jahrhunderts eine schon künstlichere Recension. ?3) 

Und ist es so aussergewöhnlich, dass die Sage als Geschichte 
aufgezeichnet worden und in unsere Chroniken Eingang fand? Stehen 
nicht in denselben dicht vor der Tellsage die fabelhaften Urgeschich- 
ten der Länder, die bis in die ersten Jahrhunderte christlicher Zeit- 
rechnung hinaufreichen ? Ueberall bewegen sich ja die Anfänge der 
Geschichtsehreibung noch auf dem Boden der Sage! So geschah es 
denn auch bei uns, als nach der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts 
die Lust an der Geschichte zuerst allgemein erwachte und jene vielen 
Chroniken, Berufener und Unberufener, hervorbrachte. Durch Waffen 
und Kriegsruhm gross geworden, empfanden die Eidgenossen damals 
zuerst das Bedürfniss, eine Geschichte zu haben, sie zu kennen und 
aufgezeichnet zu sehen, und nun wurde diese, wurde insbesondere 
der Ursprung der ersten Bünde und der Freiheit mit Allem ausgeziert, 
was Ueberlieferung und Sage an die Hand gaben, um sie bedeutend, 
sie des stolzen Volkes werth zu machen, um dessen Gunst Könige 
und Fürsten wetteifernd buhlten. 

Das sechszehnte Jahrhundert hat diese Geschichte in Wort 
und Bild, sogar in Anfängen dramatischer Kunst verherrlichet; ihr 


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LH 


— 237 — 


in den Ländern selbst, gemäss dem Volkscharakter, durch Verbindung 
von Tells Namen mit Capellen und Bittgängen religiöse Weihe er- 
theilt, in Tschudi's grossem Werke die erste wissenschaftliche Gestalt 
gegeben. \ 

Mit Unrecht setzt man Letzteres den übrigen Chroniken zur Seite. 
Es ist keineswegs schlichte Ueberlieferung oder blosser Auszug früherer 
Quellen, was Tschudi uns geben will, wie jene frühern Erzähler. 
Vielmehr ist sein Werk, wenn auch in chronikalischer Form, eine 
durchdachte, in bestimmter Ansicht geschriebene Geschichte. Tschudi 
verbindet, ergänzt, erklärt, erweitert —- bewusster Maassen und nach 
selbstständiger Ansehauung —; aber er thut diess alles meist ohne 
den Leser zu benachrichtigen, dass nur er spricht. Ferne sei es von 
uns, seinem Charakter desshalb zu nahe zu treten; er ist einer Sitte 
seiner Zeit gefolgt. Aber freilich wird auch sein Name niemals 
genügen, um ohne weitere Prüfung als hinreichende Begründung irgend 
einer Angabe zu dienen. Denn so gewiss sein Werk im Ganzen von 
eidgenössischem Geiste durchweht ist, ebenso gewiss ermangelt es 
nicht, zahlreicher Irrthümer, die urkundlich widerlegt sind, und vieler 
Behauptungen, die gänzlich in der Luft stehen. Namentlich aber ist 
König Albrechts Geschichte bei Tschudi dadurch völlig entstellt, dass 
er in diese allein eine Entwicklung zusammendrängt, die viele Jahr- 
zehnte erfüllt hat 2#). 

Doch wir eilen zum Schlusse! 

Es ist gewiss, Tit., dass die bisher gangbare Geschichte vo 
der Gründung der eidgenössischen Bünde einer andern, kürzern — 
wenn Sie wollen trockenern — wird weichen müssen. Statt des Ein- 
zelnen wird das Allgemeine, statt sagenhafter Personen werden ganze 
Gemeinden, statt dramatischer Handlungen Volks- und Staatszustände 
in den Vordergrund treten. 

Sollen wir aber darum jene Sagen für immer verbannen? Wir 
denken es nicht! 

Wie der Hellene seinen Homer, Rom seine Königsgeschichte 
ehrte, wer deutschen Stammes ist die Nibelungen hoch hält, wie jedes 
frische Gemüth an den halb historischen, halb poetischen Erinnerungen 
aus der Jugendzeit des eigenen Volkes sich hoch erfreut, so mögen 
wir Eidgenossen, zu Berg und Thal, uns der Sagen unserer Chroni- 
ken, in deren eigener oder dichterischer Sprache vorgetragen, als 
eines Schmuckes der jungen Eidgenossenschaft erfreuen; unbeirrt durch 
die wissenschaftliche Geschichte, zu deren Gebiet jene nicht gehören. 


— 233 — 


Trener als die schöne Helena, einfach menschlicher als die heroische 
Gemahlin des Collatinus, ist die züchtige Nidwaldnerin auf Alzellen; 
eine trostreiche Egeria des Stauffachers treffliche Hausfrau; berech- 
tigter als der wirkliche Brutus der sagenhafte Tell. So lang warme 
Empfänglichkeit für die edelsten menschlichen Güter, Ehre, Freiheit, 
Familienglück, uns beseelt, so lang in unsern Bergen eine reine, auf- 
opferungsfähige und gottvertrauende Freiheit wohnt, werden wir den 
Schwur im Rütli, des Tellen Meisterschuss unter der Linde zu Altorf 
und muthige Befreiung aus des Vogtes Banden in Wort und Bild 
feiern dürfen. Sind doch in ihnen, in einfacher Hirten- und Land- 
mannsweise, Erinnerungen verkörpert, aus denen seit Jahrhunderten 
den Eidgenossen lebenskräftige Nahrung sprosste; denen der Mor- 
garten, Sempach, Granson, Murten, Marignan Bedeutung und Weihe 
gegeben haben; die bei Capell entzweite Brüder zu einigen vermoch- 
ten, — Erinnerungen, welche des Vaterlandes erhabenste Natur mit 
dem unvergänglichen Reiz jugendlich frischer Volkspoesie bekleiden! 

In ihrem tiefsten Verständniss hat der Dichter deutschen Stam- 
mes, dem vor Allen der Ruhm ewiger Jugend des Herzens gebührt, 
mit schöpferischem Hauche jene Gestalten auf immer beseelt. Der 
Geschichtsforscher kann nicht mit jenem Landmann bei Schiller 
sprechen: 

„Ich sah’s mit Augen an; Ihr könnt mir’s glauben! 
S’ist Alles so geschehn, wie ich Euch sagte!“ 

wohl aber der Eidgenosse von dem Tell der Chroniken und des 
Dichters mit aller Zuversicht und aller Freude es bezeugen: 


„Erzählen wird man von dem Schützen Tell, 
So lang die Berge stehn auf ihrem Grunde! 


Bl ie 


— 239 — 


Anmerkungen. 


I) Der Ausdruck „patrizische“ Bürgerschaften (Analogien 
einer weit spätern Zeit entlehnt) ist hier der Kürze halber gebraucht 
worden, um beim Vortrage mit einem Worte die aus Altfreien und 
Ministerialen zusammengesetzten Bürgerschaften des dreizehnten Jahr- 


hunderts zu bezeichnen, in deren Händen allein — mit Ausschluss 
r zahlreichen Einwohnerschaft hörigen Standes — das Stadtregi- 
ment lag. 


?) Vergl. Anzeiger für schweiz. Geschichte und Alterthumskunde 
Jahrgang 1858, Nr. 1 u. 2. 

3) Vergl. hierüber, wie überhaupt Alles, was die Häupter des 
Reiches betrifft, Böhmers Regesta Imperii und die dort vollständig 
aufgeführten Quellen unter den betreffenden Jahren. 

*) Die beiden Hauptursachen der grossen Macht der gräflichen 
Häuser Kiburg und Habsburg im Zürichgau und Aargau liegen in dem 
Erlöschen des Lenzburgischen Stammes und dem allmäligen Untergange 
der herzoglichen Gewalt über Alemannien oder Schwaben, die seit 
Kaiser Friedrich I. meist faktisch mit dem Königthum vereinigt war. 

Ueber letztere vgl. Anzeiger für schweiz. Geschichte und Alter- 
thumskunde von 1855, Nr. 3, wozu indessen das Nähere an anderm 
Orte noch ausgeführt werden soll. 

Ueber die Lenzburgische Erbschaft s. die Geschichte der Grafen 
von Lenzburg (von Gottfried v. Mülinen) in Band IV. des schweiz. 
Geschichtsforschers, in welcher aber durch verschiedene neuere For- 
scher Manches sehr wesentliche Berichtigung erhalten hat. 

Leider ist es freilich unmöglich, eine bis ins Einzelne erschö- 
pfende genaue und sichere Kunde darüber zu gewinnen, wie die Be- 
sitzungen und Rechte des Lenzburgischen Hauses im zwölften Jahr- 
hunderte sich unter seine beiden Zweige, Lenzburg und Baden, und 
nach dem Erlöschen des Stammes (1173) zwischen Kaiser Friedrich I. 
und die Häuser von Habsburg, Kiburg und Froburg getheilt haben. 
Die spärlichen Nachrichten darüber bei Otto Sanblasianus können nur 
durch Vermuthungen und Rückschlüsse aus den Dokumenten des drei- 
zehnten Jahrhunderts ergänzt werden. Eben darum aber entbehren 
wir des sichern Aufschlusses, der allein volles Licht über die Ge- 
schichte der mittleren schweizerischen Gegenden verbreiten würde. 
Soviel ist gewiss, dass die hauptsächlichsten Besitzungen und Rechte 
der Lenzburger in Schwyz und Unterwalden und die landgräfliche 
Gewalt im Zürichgau und im Aargau auf Habsburg, die Lenzburg 
‚selbst und Baden und Gaster auf Kiburg erbten. 


— 240 — 


Für Letzteres war dann auch das Erlöschen des Zähringischen 
Fürstenhauses 1213 bedeutend. Denn aus dem Nachlasse dieser Für- 
sten gingen deren burgundische Besitzungen und (vermuthlich) auch 
die Reichsvogtei in Zürichs Umgegend auf Kiburg über. Vgl. hiezu 
Kopp Geschichte der eidg. Bünde, II. Abth. 1, S.. 323 u. ff. Anm. 
und Urkunden zur Geschichte der eidg, Bünde II., 8. 99. 

5) Die Urkunde. des Grafen Rudolf von Habsburg vom Jahr 1217, 
deren unvollständigen lateinischen Text Tschudi (Chronik I. 114) mit 
unrichtiger Ergänzung ausgelegt und erst Kopp (Gesch. der eidg. 
Bünde II. 1, S. 320 u. ff.) nach der vollständigen alten Uebersetzung 
(Libertas Einsiedlensis. Documenta S. 63) benutzt hat, ist nach dem 
Erscheinen von Kopps Werke anfänglich von Verschiedenen als ver- 
dächtig erklärt worden, jetzt aber doch allgemein anerkannt, indem 
in der That gegen ihre Glaubwürdigkeit keine stichhaltigen Gründe 
angeführt werden können. Ein Kriterium zu Gunsten derselben mag 
auch noch in dem Umstande gefunden werden, dass sie von der Ab- 
wesenheit des Vogtes (nachmaligen Grafen) Rudolf von Rapperswil 
im heiligen Lande sprieht und nur seinen jüngern Bruder Heinrich 
als anwesend bezeichnet. Hiemit stimmen die ührigen zahlreichen Ur- 
kunden des dreizehnten Jahrhunderts überein, in welchen jene Brüder 
vorkommen. In den Jahren 1214 — 1219 ist keine Spur von dem 
Erstern in unsern Landen, während Heinrich z. B. im Juli 1216 bei 
König Friedrich in Ulm erscheint. Ebenso hat die älteste Chronik 
von Rapperswil (Mitth. der antig. Gesellschaft in Zürich, Bd. VI.) 
die Erinnerung an die Kreuzfahrt des Gründers der Stadt — eben 
jenes (ersten Grafen) Rudolf in bemerkenswerther Weise erhalten. 

So wenig aber an der Glaubwürdigkeit der Urkunde von 1217 
zu zweifeln ist, so vieldeutig und vielgedeutet ist hingegen Dasjenige, 
was sie über das Verhältniss des Grafen Rudolf von Habsburg zu 
den Thalleuten von Schwyz aussagt, und die Worte: „von rechter 
Erbschaft rechter Vogt und Schirmer“ haben von den 
verschiedenen Forschern die verschiedenartigsten Auslegungen erfahren. 

Fassen wir zum Behufe ihres Verständnisses die frühere Ge- 
schichte von Schwyz in’s Auge, so ist unbestreitbar, dass das Thal 
im zehnten und eilften Jahrhunderte und wohl bis in den Anfang -des 
zwölften zu der Grafschaft Zürichgau gehört hat, welche zuerst von 
dem Nellenburgischen, seit Kaiser Heinrichs IV. Zeit vom Lenzburgi- 
schen Grafenhause verwaltet wurde. Denn Urkunden von 872—1040 
zeigen Suites und eine Engelberger Urkunde von 1124 zeigt sogar 
auch dieses entfernte Thal „in comitatu Zurich“. Die landgräfliche 
(hohe) Gerichtsbarkeit über Schwyz wurde also im Anfange des zwölf- 
ten Jahrhunderts von dem Lenzburgischen Hause ausgeübt, und dieses 
besass unzweifelhaft auch die untergeordnete (niedere) Centgerichtsbar- 
keit, sei es dass die Grafen als solche den Üentenar bestellt haben, 
sei es dass sie als bedeutende Grundherren neben den freien Markge- 
nossen diese untere Gerichtsbarkeit an ihr Haus gebracht hatten. Allein 
das Grafenhaus theilte sich im zwölften Jahrhunderte in die beiden 


—_— 2141 — 


Zweige Lenzburg und Baden, und während dem Zweige Lenz- 
burg der Grundbesitz in Schwyz und Unterwalden zufiel, erscheinen 
die Grafen des Zweiges Baden an der Spitze des Landgerichtes in 
Zürichs Umgegend (vgl. die Lenzburgischen Urkunden bei Herrgott 
Gen. dipl., bei Neugart Cod. diplom. Alem. und in den Mitth. der 
antig. Gesellschaft in Zürich Bd. VIII.). Es ist daher höchst wahr- 
scheinlich, dass um diese Zeit eine Theilung der gräflichen Gerichts- 
barkeit im alten Zürichgau eintrat, dass dieselbe in Schwyz und 
Unterwalden in den Händen der Grafen von Lenzburg, im übrigen 
äussern Theile des Gaues, — soweit er nicht durch die exemten Be- 
zirke der geistlichen Stifte (Zürich mit Uri, St. Gallen mit Grüningen ete.) 
und die Allodialherrschaften von Kiburg und Baden bereits zersplit- 
tert war — in den Händen der Grafen von Baden lag. Mit andern 
Worten: Der Verband von Schwyz und Nidwalden mit der 
Landgrafschaft Zürichgau wurde um diese Zeit gelöst. 
Unter der vom Reiche zu Lehen gehenden, aber in erblicher, Folge 
innegehabten hohen Gerichtsbarkeit des Hauses Lenzburg (Vogtei 
geheissen, weil es keine eigenthümliche — Allodial- — Grafschaft 
war, der Name der Landgrafschaft aber dem andern und Haupt- 
theile der alten Grafschaft Zürichgau verblieben war) bildeten diese 
Tääler fortan ein besonderes Gebiet, in welchem die hohe und niedere 
Gerichtsbarkeit und vieler Grundbesitz den Grafen von Lenzburg zu- 
standen und nach dem Erlöschen derselben (1173) in gleicher Weise 
auf das Haus Habsburg übergingen. Es ist diese gesammte, 
immer bestimmter den Charakter der Erblichkeit an sich tragende 
Gewalt, welche Graf Rudolf von Habsburg in seiner Urkunde von 
1217 bezeichnen will, und wenn er dabei die Worte gebraucht: „von 
rechter Erbschaft“, so mag darin gleichzeitig ein Ausdruck der 
allgemeinen Anschauung von der Erblichkeit dieser, ursprünglich dem 
Reiche zustehenden Gerichtsbarkeit und das Bestreben liegen, diese 
Anschauung zu befestigen. In wie weit übrigens die Gewalt des gräf- 
liehen Hauses die Thalleute schon in besondere, den ursprünglichen 
Verhältnissen fremde Abhängigkeit von sich gebracht haben mochte — 
worauf der Ausdruck „Vogt und Schirmer“ und später eine Ab- 
gabe der freien Leute in Schwyz an das Haus Habsburg (Oestreich. 
Urbar) hinzudeuten scheinen, ist nicht mehr auszumitteln. (Vergl. 
übrigens die Bemerkungen von Waitz in den Göttinger Gelehrten 
Anzeigen. 1857. S. 721 u. fi.) 

Es lag nahe, dass diese Gewalt der Habsburger sich zur förm- 
lichen Landesherrschaft ausbilde; es lag aber auch der Gedanke nahe, 
zu diesem Behufe den Zusammenhang der alten Landgrafschaft 
wiederherzustellen, da auch im übrigen Zürichgau die landgräflichen 
Rechte durch Kaiser Friedrich I. (1173 — 1180) an Habsburg ge- 
kommen (Otto Sanblas.). Und wirklich scheint des alten Grafen Rudolf 
gleichnamiger Enkel, der König, diese Wiedervereinigung der Thäler 
mit der Landgrafschaft beabsichtigt zu haben (s. oben S. 228 und unten 
Anm. 13). Beiden Bestrebungen widerstanden die Thalleute. 


—_ 242 — 


Was die niedere oder Centgerichtsbarkeit anketrifft, so ist diese 
wohl stets im Auftrage und Namen der Grafen durch Landleute aus- 
geübt worden. Wie der Name des Geschlechtes Hunno, das 1217 an 
der Spitze und noch 1282 als bedeutend unter den Landleuten er- 
scheint, hiefür zeugt, und König Rudolfs Urkunde vom 19. Februar 
1291 ein solches Verhältniss zeigen, so finden wir noch 1303 im nahen 
Küssnach einen freien Bauer, Konrad Haberesse, als „eentenarius* 
bezeichnet (Mitth. der antiq. Gesellschaft in Zürich Bd. VIII. Urk.). 

6) Vgl. Kopp Gesch. der eidg. Bünde. II. Abth., 1 u. 2. und 
Zeerleder Urk. zur Gesch. der Stadt Bern. 

7) Der Ausdruck des ältesten, schriftlich aufbewahrten Bundes 
der drei Länder vom 1. August 1291 (dessen Datum Kopp zuerst 
riehtig gelesen hat, während Frühere es nach Tschudi immer 1251 
setzten) ist hier ganz entscheidend: „antiguam confederationis formam 
juramento vallatam presentibus innovando.* 

Dass Uri in diesem Bündnisse und in allen folgenden Zeiten den 
ersten Platz unter den Ländern einnimmt, ist (wie Heusler bemerkt 
hat) eine Folge seines Verhältnisses als Reichsland. Während 
Schwyz und Unterwalden unter die, ursprünglich freilich vom Reiche 
zu Lehen gehende, aber erblich gewordene Gerichtsbarkeit von Lenz- 
burg und Habsburg gekommen, war Uri als Pertinenz der Reichs- 
abtei Zürich von Alters her unter dieser letztern und ihrem vom 
Könige bestellten Vogte, d. h. in unbestrittener Reichsangehörigkeit, 
geblieben. 

8) Vgl. Kopp Gesch. der eidg. Bünde. II. Abth. 1, und Dr. v. 
Liebenau in Kopps Geschichtsblättern, I. 10. 

9) Hiezu vgl. Waitz a. a. O. und Anzeiger für schweiz. Gesch. 
und Alterthumskunde. Jahrgang 1857, Nr. 2. 

10) Vgl. zu den Einzelnheiten dieser Darstellung Kopp a. a. O. 
und desselben Urk. zur Gesch. der eidg. Bünde. I. 

11) Ueber die Reichsburgen in Zürich und Bern s. Mitth. der 
antig. Gesellsch. in Zürich Bd. VIII. und Zeerleder a. a. O. — Ueber 
die Vorgänge in und um Zug enthält die handschriftliche Chronik 
des Stadtschreibers Hans Kolin, geschrieben 1587 (Haller Bibl. der 
Schweizergeschichte. IV. 713 — gegenwärtig in der Zurlauben’schen 
Sammlung in Aarau), merkwürdige Aufzeichnungen, die unsere Kennt- 
niss von den Zuständen der Gegend von Zug zur Zeit des Interreg- 
nums bedeutsam ergänzen, aus welchen aber auch deutlich hervorgeht, 
wie das sechszehnte Jahrhundert in dunkler Erinnerung Dinge des 
dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts vielfältig bunt durch einander 
mischt. Aus dieser Handschrift stammt die Nachricht von der angeb- 
lichen Chronik Konrad Gesslers von Meienberg. 

12) Vgl. Kopp Gesch. der eidg. Bünde. II. Abth., 1. 

13) Vgl. hiezu theils Kopp a. a. O., theils und vorzüglich Heus- 
ler’s Schrift: „Der Bund Zürichs mit den Vierwaldstätten vom 1. Mai 
1351“ (8.33 u. ff.) im fünften Bande der „Beiträge zur vaterl. Ge- 
schichte von der historischen Gesellschaft zu Basel. — Was König 


er 


Rudolfs Verhältnisse zu Zürich anbetrifft s. Mitth. der antiq. Gesell- 
schaft in Zürich Bd. VIII. 

14) Ueber die Jahre 1291 —1298 vgl. insbesondere Kopp Urk. 
zur Gesch. der eidg. Bünde. II. Einleitung. 

15) Ueber König Albrecht s. ebendaselbst. — In Betreff König 
Albrechts hat Hagen in der oben angeführten Abhandlung $. 28—30 
und Anmerkungen die Ansicht ausgeführt, dass der König der frei- 
heitlichen Entwicklung der Länder günstig gewesen, und dass er die 
Briefe Friedrichs II. und Adolfs nur darum nicht bestätigt habe, weil 
dieselben ihm nicht zur Bestätigung vorgelegt worden. Zur Begrün- 
dung wird angeführt: Albrecht zeige überall Vorliebe für Kaiser 
Friedrich II. und dessen Politik, als deren Fortsetzung er die seinige 
betrachtet; er habe König Adolf bis zum letzten Augenblicke als recht- 
mässigen Herrscher anerkannt; endlich habe er verschiedenen Orten 
der Schweiz das grösste Wöhlwollen bezeigt und ihre Rechte zu be- 
obachten, ja zu mehren verheissen, und das Verfahren der Länder 
selbst während seiner Regierung zeige deren grosse Selbstständigkeit 
und Uebereinstimmung mit des Königs eigenen Grundsätzen. — Wir 
können dieser Ansicht nicht beistimmen. Was erstens König Albrechts 
Verhalten zur Politik Friedrichs II. betrifft, so mag das Gesagte für 
allgemeine Verhältnisse zeitweise ganz richtig sein, gibt aber noch 
durchaus keinen Maassstab für des Königs Haus politik in den Stamm- 
landen; dem Gebiete, das er als seine eigenthümliche Herrschaft be- 
trachtete und zu behandeln geneigt war. Dass seine Anerkennung Adolfs 
anfänglich nur eine gezwungene, später eine bloss äusserliche und na- 
mentlich in dem eitirten Schreiben an Papst Bonifaz blosse Formalität 
war, liegt — gegenüber den Thatsachen — auf flacher Hand. — Ent- 
scheidend aber sind Albrechts Urkunden für die schweizerischen Ge- 
genden. Vergleichen wir dieselben alle (Böhmer, Reg. Imperü) mit 
denjenigen König Rudolfs, so ergibt sich, dass Albrecht nur den hahs- 
burgischen Landstädten Winterthur, Sursee, Frauenfeld und Mellingen 
wirklich neue Gnaden ertheilte, den übrigen Ortschaften bloss eine 
Anzahl älterer Privilegien bestätigt, gerade bei sehr wichtigen aber 
diess unterlassen hat. Zürich (urkundlich unter Reichsvögten aus dem 
habsburgischen Dienstadel) erhielt von ihm keine Erneuerung des Pri- 
vilegiums König Rudolfs betreffend bloss zweijährige Amtsdauer des 
Reichsvogtes, noch weniger des von K. Adolf bewilligten Rechtes, 
bei Thronerledigungen das Blutgericht zu besetzen; Uri erhielt keine 
erneuerte Zusicherung der Reichsunmittelbarkeit, wie K. Rudolf und 
Adolf sie gegeben hatten; Luzern keine erneuerte Bestätigung seiner 
von K. Rudolf anerkannten Statuten, sondern bloss allgemeine Zu- 
sicherung der unter Murbach besessenen Rechte; Bern keine Erneue- 
rung der Privilegien K. Adolfs vom Jahre 1293; für Schwyz erneuerte 
der König, ebensowenig als sein Vater, die Urkunde K. Friedrichs II. 
Unmöglich kann diess Alles bloss Folge des zufälligen Umstandes 
sein, dass die betreffenden Urkunden Albrecht unbekannt gewesen 
oder aus blossem Versäumniss nicht vorgelegt worden wären (was 


— 244 — 


überhaupt bei der Wichtigkeit, die man solchen Dokumenten beilegte, 
gar nicht gedenkbar ist), sondern es spricht sich hierin Albrechts 
Politik in den schweizerischen Landschaften ganz deutlich aus, wie 
wir sie oben geschildert. Und was endlich das selbstständige Gebahren 
der Länder zu seiner Zeit anbetrifft, so hatte diess die Verhältnisse 
der Gemeinden zu den Klöstern zum Gegenstand, wo der der Geist- 
lichkeit nicht eben holde König eher ein Auge zudrückte, seine Ge- 
mahlin aber zu Gunsten jener Stiftungen auftrat. 

Auf diesen Gründen beruht die Darstellung oben. In Ueberein- 
stimmung mit derselben würden wir in dem Bunde der Länder vom 
Rebmonat 1306 (?), von welchem die anonyme Zürcher Chronik (Mitth. 
der antig. Gesellschaft in Zürich. Bd. II. 62) berichtet, keineswegs 
(wie Hagen) einen mit Vorwissen des Königs und in dessen Interesse, 
sondern vielmehr einen gegen ihn und sein Haus gerichteten, aber 
erst nach Albrechts Tode zur That schreitenden Geheimbund 
(Rütlibund) sehen, falls wirklich die Nachricht Glauben verdienen 
sollte — was dem Aktenstücke von 1291 gegenüber und bei der 
confusen Art des Erzählers immer noch zweifelhaft bleibt. (Vgl. dazu 
insbesondere Kopp Urk. zur Gesch. der eidg. Bünde. II. 43, Anm.) — 
Dass bis zu K. Albrechts Tode Alles völlig ruhig blieb, zeigen die 
Urkunden und Berichte über dessen letzte Lebenswochen genügend. 

16) Ueber das Verhalten der Länder 1308—1315 vgl. Kopp 
und Hensler a. d.a. O. 

17) Betreffend den Bund von 1306 (?) s. oben Anm. 15. — 
Die historischen Volkslieder des vierzehnten Jahrhunderts, soweit 
sie uns noch erhalten sind, besingen nur die Schlachten theils Bern's, 
theils der Eidgenossen in diesem Zeitraume, keineswegs aber den 
Ursprung der Eidgenossenschaft, über den wir nur Lieder des fünf- 
zehnten und sechszehnten Jahrhunderts besitzen. Vgl. Rochholz eidg. 
Liederchronik. Bern 1835, und andere hieher gehörige Sammlungen. 

18) Der Text von „Justingers Chronik“, den Stierlin und Wyss 
1819 (8. Bern. Haller) herausgegeben haben, ist keineswegs der ur- 
sprüngliche, sondern ein erst um 1480 von dem damaligen Stadt- 
schreiber von Bern, Diebold Schilling, (nicht immer glücklich) über- 
arbeiteter. Namentlich hat Schilling in die Erzählung über die ältesten 
Kriege der Länder auch den Namen des Hauses Kiburg herein- 
gebracht; wohl aus Verwechslung der Habsburgischen Ahnen des 
jüngern Hauses Kikurg (auf Burgdorf und Thun) mit dem eigent- 
lichen Stamme Kiburg. Der Gefälligkeit von Herrn Moriz von 
Stürler, Staatsarchivar und Staatsschreiber in Bern, der sich seit 
langer Zeit mit gründlichen Untersuchungen über Justinger und dessen 
Werk beschäftigt hat, verdanken wir den im Texte gegebenen Aus- 
zug der ältesten vorhandenen Recension aus zwei in Bern befindlichen, 
bei Haller Bibliothek der Schweizergeschichte IV. 372 angeführten 
Handschriften. Hoffentlich wird Herr von Stürler hierüber seine eigene 
Arbeit dereinst veröffentlichen. 

19) Von den genannten Chroniken besitzen wir bloss einige in 


— 245 — 


genauer kritischer Ausgabe, andere nur in Handschrift; noch gar nichts 
Genaueres aber über ihr gegenseitiges Verhältniss und ihre Abhängig- 
keit von einander. Nur soviel ist gewiss, dass die Benutzung der 
alten Berner Stadtchronik in allen deutlich zu Tage tritt. Was 
Püntiners Chronik anbetrifft, so vergl. Dr. Rud. Burckhardt's schöne 
Untersuchung über die älteste Bevölkerung des Alpengebirges im 
Archiv für Schweiz. Geschichte. IV. 72 u. ff. 

20) Vgl. Hemmerlin Dialogus de Suitensium ortu ete. (Auszug 
im Thesaurus hist. Helvet.) und die Ausgabe des Faseiculus temporum 
von 1481 durch Heinrich Wirzburg von Vach. S. Anzeiger für schw. 
Gesch. u. A. Jahrgang 1858, Nr. 1 u. 2. — In dieselbe Klasse ge- 
hören zwei andere, gelehrte Schriftsteller: Felix Faber, der in seiner 
1484—1490 geschriebenen Historia Suevorum Lib. I, cap. 10, 13. 
den Anfang des Schweizerbundes in einer Weise erzählt, die an 
Hemmerlin erinnert, und der. Verfasser der (handschriftlichen) lateini- 
schen Bernchronik des sechszehnten Jahrhunderts, welche von Haller 
Bibl. der Schweizergesch. IV. 620 beschrieben wird und nach Glareans 
Aussage von Lupulus (7 1532) herrühren soll. Diese letztere Chronik 
nimmt geradezu Hemmerlins Erzählung auf und setzt zu derselben 
(wohl nach des alten Justingers Vorgang) die bestimmte Jahrzahl 
1260, die Hemmerlin nicht gibt. 

21) Vgl. z.B. Fassbind, Geschichte von Schwyz a. m. O. 

22) Was hier vom Inhalte der Chroniken des fünfzehnten und 
sechszehnten Jahrhunderts gesagt wird, beruht auf einer genauen ta- 
bellarischen Zusammenstellung ihrer Erzählungen, nach dein Alter 
und den einzelnen Elementen der letztern geordnet. Der Raum gestattet 
uns nicht, diese Tabelle hier wiederzugeben; aber Jeder wird sie 
ohne grosse Mühe sich selbst anlegen können, und dann auf einen 
Blick sich von der Wahrheit unserer Behauptung überzeugen. 

Je älter die Erzählungen sind, je einfacher erscheinen sie; 
je jünger, desto umständlicher. Je die spätern Schriftsteller 
wissen mehr zu erzählen, als die frühern. Die Namen der Lokalitäten 
und Personen, die Präcision der Zeiten, die Motivirung und Ausmalung 
der Handlungen werden mit jedem Schritte zahlreicher und vollständiger, 
mit dem wir uns den Berichterstattern jüngern Datums nähern; das 
untrügliche Kennzeichen der Sage. Am vollständigsten erscheint endlich 
Alles bei Tschudi, der jeder Person sogar ihren Taufnamen, jeder 
diplomatischen oder gerichtlichen Verhandlung ihr bestimmtes Jahres-, 
oft Monats- und Tages- (!) Datum zu geben und ihren Inhalt aufs 
Genaueste zu bezeichnen weiss. Aber keineswegs immer in Ueberein- 
stimmung mit sich selbst! Denn wie in dem gedruckten Texte seiner 
Chronik Widersprüche und Irrthümer in den Daten sind (z. B. I. 238 
Sonntag nach Othmari der 18. statt 19. November), so zeigt noch 
viel mehr das eigenhändige Manuseript seiner Arbeit (Stadtbibl. Zürich. 
Mser. A. 58), wie ganz verschiedenartig er selbst zu verschiedenen 
Zeiten Namen, Zahlen und Sachen combinirt hat. Und wie willkürlich 
er in solchen Dingen zu verfahren pflegte, haben theils Mommsnse 


— 246 — 


gründliche, unwiderlegbare Bemerkungen über die Art und Weise 
gezeigt, in. welcher Tschnudi mit den römischen Inschriften des Landes 
umgegangen ist (Mommsen, Inscript. Confeder. Helvet. latin®. 4°. Zürich 
1854 und Epigraphische Analekten in den Abhandlungen der K. Sächs. 
Ges. der Wissenschaften 1852); theils geht dasselbe aus der aufmerk- 
samen Vergleichung von Tschudi’s Compilation älterer Einsiedlerquellen 
in seinem „Liber Heremi“ (Geschichtsfreund der V Orte. Bd. I) mit 
den Landesurkunden hervor, worüber Näheres an einem andern Orte 
ausgeführt werden soll. 

Es ist unmöglich, in Tschudi’s Chronik einen Versuch zu ver- 
kennen, die unbestimmte und unvollständige Volkssage zu einer ab- 
gerundeten, vollständigen und systematischen Geschichte zu gestalten, 
und so die von ihm zuerst benutzten urkundlichen Schätze zu ergänzen 
und zu verwerthen. Man kann und darf diesem Versuche alle Anerken- 
nung schenken, ohne dessen Ergebniss im mindesten für wirkliche 
Geschichte zu halten. 

Zwei Bemerkungen seien übrigens noch über die Chroniken ge- 
stattet. Zunächst die, dass ein aufmerksames Lesen derjenigen von 
Russ, von Etterlin und des weissen Buches aufs Evidenteste zeigt, wie 
diese Schriften Dinge zweier verschiedener Zeiten vermischen und 
namentlich die beiden letztgenannten den alten Grafen Rudolf von 
Habsburg (f 1232) und seinen Enkel, den König Rudolf, zu einer 
Person verschmelzen. Beide Männer hatten die Macht des Habsburgi- 
schen Hauses gehoben, beide das Bestreben gehabt, ihr die Waldstätte 
gänzlich unterzuordnen. Die Tradition des fünfzehnten und des sechs- 
zehnten Jahrhunderts schrieb einem Rudolf Alles zu, was man 
hievon wusste. 

Sodann sind auch die Namen Gessler und Landenberg, die 
in allen Chroniken wiederkehren, nicht ohne einen historischen Boden. 
Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert gingen aus diesen Fa- 
milien eine Reihe von Beamten der Herrschaft Oestreich in deren Be- 
sitzungen in unseren Landschaften hervor, und es ist nicht unmöglich, 
dass schon das Haus Habsburg- Laufenburg Beamte aus jenen Ge- 
schlechtern in den Ländern gehabt hat, da diese Familiennamen schon 
im dreizehnten Jahrhunderte urkundlich erscheinen. Aber es bleibt 
nicht zu entscheiden, inwieweit wirkliche Thatsachen und inwieweit 
willkürliche spätere Combination auch in dieser Beziehung den Er- 
zählungen der Chroniken zu Grunde liegt. Jedenfalls können weder 
die Individuen des Namens Gessler und Landenberg, welche mit den 
Ländern in Berührung gekommen sein mögen, noch die Zeiten, in 
welchen diess stattgefunden, sicher und genau ausgemittelt werden. 

23) Dass die Erzählung von Tell in unsern Chroniken aus alten 
Volksliedern stammt, zeigt nicht allein die Form und der Inhalt der- 
selben (wie schon Hisely bemerkt hat), sondern aufs Bestimmteste die 
unzweideutige Aussage von M. Russ (1481). Wie alt das älteste 
dieser Lieder gewesen, können wir leider nicht mehr wissen, da uns 
die Behandlung der Tellsage als Drama nur in Arbeiten des sechs- 


— 247 — 


zehnten, das Lied von Tell nur in einer Ueberarbeitung des sieb- 
zehnten Jahrhunderts erhalten ist. Aus der Erzählung von Russ und 
ihrer Vergleichung mit den übrigen Chroniken und jenen Dichtwerken 
geht inzwischen deutlich hervor, wie schwankend und unbestimmt an- 
fangs mit Bezug auf Zeit, Ort, Zusammenhang und Fortgang der be- 
sungenen Handlung die Volksüberlieferung war und wie nur allmälig 
die jetzt übliche Gestalt derselben sich festgestellt hat. Vergleiche 
darüber die ganze neuere Litteratur über die Tellsage, namentlich 
Hisely, Recherches critiques sur Guillaume Tell. Lausanne 1343, und 
Kopp, Zur Tellsage in den Geschichtsblättern I. u. II. Luzern 1854 
und 1856. Dann auch Dr. v. Liebenau im Neujahrblatt aus der Ur- 
schweiz 1857 und die Schrift: „Ein hüpsch und lustig Spyl von zyten 
gehalten zu Ury.... von dem frommen und ersten Eydgnossen Wil- 
helm Tellen.... per Jacobum Ruef 1545.“ Herausg. von Friedrich 
Mayer. Pforzheim, Dennig Fink u. Comp. 1843. 

Nach den Ergebnissen der Forschung dieser einheimischen und der 
ausländischen Schriftsteller, insonders Ideler’s und Häusser's, wäre es 
in der That überflüssig, zur Unterstützung des im Texte Gesagten noch 
irgend etwas beizufügen. 

+ Bemerkenswerth bleiben in der schweizerischen Ausbildung der 
allgemeinern Volkssage hauptsächlich die Umstände, dass dieselbe 
in der nämlichen Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts zuerst nachweis- 
bar auftritt, welche dasselbe Thema in den englischen Balladen und 
in den schwäbischen Chroniken behandelt und überhaupt überall 
so viel sagenhafte Dinge in zahlreichen Chroniken des In- und Aus- 
landes aufgezeichnet hat, und dass diese glänzendste Befreiungsthat 
von Habsburgischer Unterdrückung gerade dem im Range ersten 
unter den drei Ländern, dem Reichslande Uri, zugeschrieben wird, 
das niemals oder nur ganz kurze Zeit unter Habsburg gestanden, 
wohl aber den Stützpunkt für Schwyz und Unterwalden in ihren 
Freiheitsbestrebungen gebildet hat. Am merkwürdigsten ist der Name 
des vom Liede gefeierten Schützen: Wilhelm Tell. Dass Tell 
(oder Tall, wie das Weisse Buch — ohne Hinzufügung eines Tauf- 
namens — schreibt) ein persönlicher Zuname (Spitzname) ist, der 
den vorschnellen, einfältig und furchtlos zufahrenden Charakter des 
Schützen bezeichnet, geht aus der Erzählung selbst hervor; Kopp hat 
überdiess mehr als überzeugend nachgewiesen, dass von einer Fa- 
milie Tell gar keine Rede sein kann. Wie alten Ursprungs dieser 
Name Tell aber sei, ist unmöglich zu entscheiden; er kann einer 
wirklichen Person des dreizehnten oder vierzehnten Jahrhunderts, viel- 
leicht aber dem Schützen, den die Sage in weit ältern Zeiten schon 
kannte, bereits von dieser gegeben sein. Noch bemerkenswerther ist 
der Vorname: Wilhelm. Unter hunderten von urkundlichen Namen 
der alemannischen Schweiz aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahr- 
hundert kommt dieser Name höchst selten, in den Urkunden der 
Länder vielleicht nicht ein einziges Mal vor, ist auch in den letz- 
tern, soviel uns bekannt, noch jetzt kein gewöhnlicher, volksthüm- 


— 248 — 


licher Taufname Da ist es nun auffallend, dass auch das angel- 
sächsische Volkslied des fünfzehnten Jahrhunderts als geschicktesten 
Schützen, der seinem Sohne den Apfel vom Haupte schiesst, einen 
„Wilhelm“ (von Cloudeslay) feiert. In der That, wenn irgend 
etwas für eine Einwanderung einzelner oder mehrerer norddeutscher 
Geschlechter, in grösserer oder geringerer Zahl, in unsere Gebirgs- 
thäler spricht, so möchte diess der Umstand sein, dass sich in den- 
selben eine, vielleicht uralte Volkssage in diesem Namen ausge- 
prägt hat. $ 
24) Hierüber s. Anmerkung 22. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 21. Juni 1858. 


Vortrag des Herrn Professor Kym über das mystische Element in der 
griechischen Philosophie. 


Indem der Vortragende den Neuplatonismus als eine konsequente Gestalt 
der griechischen Philosophie auffasst, sucht er die Bedingungen desselben schon 
in denjenigen Stadien nachzuweisen, in welchen die Entwickelung noch in ge- 
sunder Weise vorschreitet. Um seine Behauptung zu begründen, tritt er in das 
Centralgebiet der griechischen Philosophie ein, nämlich in das metaphysisch- 
erkenntnisstheoretische. Er zeigt, wie das Denken zunächst in unbefangener 
Weise an die Dinge herantritt, allmälig aber diesen Stand der logischen Un- 
schuld verlassend auf Grundlage der Erkenntnisstheorie den Dualismus erzeugt, 
der in Anaxagoras in vollendeter Gestalt heraustritt. Dieser Dualismus bildet 
nun gleichsam den rothen Faden, der die gesammte griechische Philosophie 
durchzieht. Zunächst lehnt sich an ihn die Sophistik an, indem sie ihn zu 
ihren partieularistischen Zwecken benutzt; Plato, obgleich die Sophistik be- 
kämpfend, bringt ihn in die innigste Beziehung mit seinem Idealismus und führt 
ihn metaphysisch, psychologisch und ethisch durch; selbst Aristoteles, obschon 
den Monismus anstrebend, vermag sich an wesentlichen Punkten seines Systems 
dennoch nicht über Plato zu erheben; die Stoa sucht den überkommenen Dua- 
lismus in der Physik zu überwinden, allein in der Ethik erscheint er in seiner 
frühern ungebrochenen Kraft. Der Epikureismus und der Scepticismus treiben 
durch die Oede, mit der sie das menschliche Gemüth erfüllen, zum zwar dun- 
keln, aber positiven Mysticismus des Neuplatonismus. Dieser nun erstrebt die 
Versöhnung zwischen Menschlichem und Göttlichem nicht mehr in philosophi- 
scher, sondern in ekstatisch-religiöser Weise, und weist dadurch in seiner 
Weise darauf hin, dass die Menschheit reif sei zur adäquaten Vollziehung dieser 
Versöhnung, welche der Gläubige in Christus erblickt. — An der Debatte über 
den Vortrag betheiligten sich die Herren Fritzsche, Hitzig, Schlottmann und 
Al. Schweizer. — 


— 


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(Hauptred.: Epnvarp OsENBRÜGGEN.) 


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FErDINAnD HırzısG, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Heisrıcn Frey, 


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Die französische Presse während des Jahres 1789. 


Von JACOB VOGEL. 


Die neuere französische Geschichtschreibung ist im Gegensatz zu 
der deutschen fast ausschliesslich politische, d. h. subjektive Geschicht- 
schreibung. Diese Subjektivität tritt am allerschärfsten hervor bei den- 
jenigen Historikern, welche das epochemachende Ereigniss der neue- 
sten Geschichte, die französische Staatsumwälzung zum Gegenstand 
ihrer literarischen Thätigkeit gewählt haben. Als nach dem Sturze 
des ersten Kaiserthums eine ultraroyalistisch-kirchliche Partei die Er- 
rungenschaften der Revolution, namentlich aber die durch die Charte 
verbürgten liberalen Institutionen zu beseitigen suchte, um die Zu- 
stände, wie sie vor 1789 existirt, allmälig wieder herbeizuführen, 
da unternahmen es zwei der jüngeren, freisinnigen Generation ange- 
hörende Schriftsteller, Thiers und Mignet, die Geschichte der franzö- 
sischen Revolution zu schreiben, in der offen ausgesprochenen Absicht, 
die Berechtigung derselben nachzuweisen. Das Werk von Mignet, 
eine übersichtliche, gedrängte Darstellung der Ereignisse von 1789 
bis 1815 enthaltend, trägt einen wesentlich synthetischen Charakter 
an sich, weil Mignet, ein ernster, philosophischer Denker sich mit 
Vorliebe den Ideen zuwendet, welche den historischen Thatsachen zu 
Grunde liegen. Den Gegensatz zu Mignets Werk bildet dasjenige 
seines Freundes Thiers. Dessen weitläufigere Geschichte der Revo- 
lution ist durchweg analytisch: wo Mignet ein allgemeines Resüme 
giebt, wo er raisonnirt, da erzählt Thiers, und zwar mit einer allen 
rhetorischen Schmuck verschmähenden Einfachheit. Nur durch eine 
mehrmals wiederholte Lektüre dieses Werkes wird es dem deutschen 
Leser möglich, die formelle Schönheit desselben zu erfassen und rich- 
tig zu würdigen. Die objektive Färbung des Thierschen Buches ver- 
schwindet aber zum Theil bei einem gründlichen Studium desselben, 
es ist dasselbe nichts anderes als ein achtbändiger Artikel des Con- 
stitutionnel, ein Manifest gegen die monarchisch-klerikale Reaktion. 
Als Thiers sein Werk begann, beabsichtigte er keineswegs Historiker, 
wohl aber Staatsmann zu werden. Seine Geschichte der Revolution 
hatte wie die Arbeit von Mignet einen grossartigen Erfolg und beide 

Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 17 


— 250 — 


Schriftsteller trugen durch ihre Werke sehr viel dazu bei, eine neue 
Revolution anzubahnen. Abgesehen von denjenigen Parthien, in wel- 
chen Thiers die Finanzzustände und die militärischen Operationen von 
1788 bis 1798 behandelt, ist dessen Revolutionsgeschichte gegenwär- 
tig so zu sagen veraltet, sie genügt nicht mehr den Anforderungen 
der historischen Wissenschaft. Von der unendlich reichen Quellen- 
literatur zur Geschichte des Revolutionszeitalters hat Thiers nur einen 
sehr geringen Theil gekannt und „benutzt. Umfangreichere und zum 
Theil solidere Studien liegen den bekannten Werken von Michelet, 
Lamartine und Louis Blanc zu Grunde. Die Geschichtschreibung der- 
selben ist wiederum durchaus subjektiv und von dem politischen Par- 
thei-Standpunkte bedingt. Weitaus der bedeutendste von den dreien 
ist Louis Blanc. Seine Geschichte der Revolution, gegenwärtig 
9 Bände, d.h. die Ereignisse von: 1788 bis 1793 umfassend, ist ein 
Meisterwerk der neueren historischen Literatur überhaupt. Während 
einer Reihe von Jahren hat Louis Blane in Frankreich, hernach in 
England die Materialien gesammelt und zwar mit einer Gewissenhaf- 
tigkeit und Sorgfalt wie keiner seiner Vorgänger. Die reichhaltige 
Bibliothek des brittischen Museums in London bot dem emsigen For- 
scher eine Unmasse von bisher gar nicht gekannten und daher unbe- 
nutzten Quellen dar, welche alle in den bereits erschienenen Bänden 
verarbeitet sind. So ist Louis Blanes Geschichte der Revolution we- 
gen der zahlreichen neuen Resultate, welche dieselbe enthält, eines 
der hervorragendsten Erzeugnisse auf dem Gebiete der modernen fran- 
zösischen Geschichtsliteratur. 

Obgleich das Werk von Louis Blane einen entschiedenen Fort- 
schritt der historischen Wissenschaft bezeichnet, liefert dasselbe zu- 
gleich auch den Beweis, dass für die Geschichte des Revolutionszeit- 
alters noch sehr viel geleistet werden kann. Die Materialien sind in 
solcher Menge vorhanden, dass selbst die angestrengteste Thätigkeit 
eines einzelnen Historikers kaum genügt, um jene zu bewältigen. So 
ist es denn erklärlich, dass die Geschichtschreiber des grossen Dra- 
mas sich mehr darauf beschränken, die an der Oberfläche befindlichen 
historischen Thatsachen, die äussere Entwicklung der Ereignisse dar- 
zustellen, und doch sind diese Ereignisse sehr oft nur die Kehrseite 
des geistigen Lebens der französischen Nation. Idee und Faktum sind 
in der Geschichte der Revolution oft so zu sagen identisch. Die be- 
kannte Schrift des Abb& Sieyes über den Tiers-Etat, die Brochüre 
von Camille Desmoulins „La France libre,* die Tragödie „Char- 


ae 


ge 


Ex, 


— 2531. — 


les IX* von Chenier sind in erster Linie Manifestationen des revo- 
lutionären Geistes, zugleich aber Thatsachen, gewissermassen konkrete 
Fakta, welche auf den Gang der Ereignisse einen sehr grossen Ein- 
fluss ausgeübt haben. Die französische Revolution hat eine eigen- 
thümliche originelle Literatur ins Leben gerufen, deren Charakteristik 
allerdings mehr der Spezialgeschichte angehört. Es ist diess die Jour- 
nal- und Pamphletliteratur, welcher Louis Blane in seinem Geschichts- 
werk zuerst ein, wie er selbst gesteht, sehr unvollständiges und un- 
genügendes Kapitel gewidmet hat. Die direkten Winke und Räthe 
des grossen Meisters benutzend und gestützt auf Quellenstudien, die 
ich in Paris und London zu machen die Gelegenheit hatte, will ich 
es versuchen, in dieser Abhandlung eine Charakteristik zu liefern von 
der französischen Presse während des Jahres 1789, 

Die zahlreichen Pamphlete und Brochüren, welche unmittelbar vor 
dem Zusammentreten der Etats-generaux auftauchten, sind keineswegs 
als die Vorläufer der französischen Journalistik zu betrachten, weil 
die Anfänge der französischen Presse ins 17te Jahrhundert hinauf- 
reichen. Die erste periodische Zeitschrift in Frankreich, die Gazette 
de France, wurde im Jahr 1631 von dem Arzte Theophraste Renaudot 
begründet. Der Name dieses Mannes, welcher ein Freund und Günst- 
ling des Kardinals Richelieu war, wird von den meisten Geschicht- 
schreibern mit Stillschweigen übergangen, und doch ist Renaudot eine 
der interessantesten, genialsten Persönlichkeiten des 17ten Jahrhunderts. 
Im vollen Bewusstsein von der Tragweite seines Unternehmens schrieb 
derselbe: „Meine Zeitung ist ein Handelsartikel, dessen Verkauf nicht 
gehindert oder gar verboten werden darf, denn die Journalistik hat 
etwas von der Natur eines Stromes, dessen Kraft durch Widerstand 
nur gesteigert wird.“ Die Gazette de France fand bald Konkurren- 
ten in der Gazette burlesque, dem Mercure galant und dem Journal 
de Paris, der ersten täglich erscheinenden Zeitung, welche 1777 ge- 
‚gründet wurde. Die genannten Journale sind nicht die einzigen, aber 
die bedeutendsten Organe der französischen Presse vor der Revolu- 
tion. Es gleicht diese publizistische Literatur einem bescheidenen 
Bache, der bis zum Jahr 1789 geräuschlos und fast unbemerkt da- 
hinfliesst, dann aber durch den revolutionären Sturm angeschwellt 
über die Ufer tritt, und alles auf seinem Weg mit sich fortreisst. 
Weil die Freiheit der Presse vor 1789 nicht existirte, so war der 
Einfluss jener Journale unbedeutend. Dessenungeachtet sind dieselben 
eine werthvolle, grösstentheils noch unbenutzte Mine in dem reichen 


_. 22 0 — 


Schachte historischer Quellen zur Geschichte des 17ten und 18ten 
Jahrhunderts, 

Die Opposition gegen die veralteten Zustände gieng nicht von 
der Presse aus, weil dieselbe, noch im Zustand der Kindheit befind- 
lich, sich ihrer Kraft und ihres eigenthümlichen Charakters nicht be- 
wusst war. Der in Gährung begriffene revolutionäre Geist musste zu- 
erst eine Menge neuer Ideen und Anschauungen erzeugen, welche von 
den französischen Philosophen in ihren Schriften verarbeitet und po- 
pularisirt wurden. Diese neuen Ideen bildeten dann später, als die 
Revolution von der Theorie zur Praxis überging, die geistige Sub- 
stanz der Journalistik. Eine enthusiastische, von kühnen Denkern be- 
arbeitete Generation harrte mit Ungeduld des Augenblicks, da sie in 
die öffentlichen Angelegenheiten thätig eingreifen konnte. Die Aka- 
demiker machten um die Mitte des 18ten Jahrhunderts den König 
auf die grosse Anzahl Literaten aufmerksam, die Quelle, wie sie glaub- 
ten, einer jede Autorität zerstörenden Rebellion. Das Ungestüm der 
erhitzten Gemüther manifestirte sich zuerst in Tausenden von Brochü- 
ren, deren meist anonyme Verfasser mit leidenschaftlicher Heftigkeit 
die Tagesfragen diskutirten. Die Notabelnversammlungen und die Wah- 
len für die Etats gendraux trugen dazu bei, die Bewegung noch zu 
vermehren, in welche die geistige Thätigkeit der französischen Nation 
gerathen war. Es ist für den Geschichtschreiber kein Leichtes, ein 
historisch-getreues Bild dieser Sturm- und Drangperiode zu entwerfen, 
er muss vor Allem aus die Pamphletliteratur der Jahre 1787 und 
1788, wenigstens in ihren bedeutenderen Fragmenten studiren, um den 
Pulsschlag einer so mächtig bewegten Zeit zu fühlen. 

Als die Etats-generaux sich versammelten, da entstanden plötz- 
lich wie durch einen Zauber eine Menge von Journalen, von welchen 
die einen die Verhandlungen jener Versammlung bloss einregistrirten, 
die anderen sie zugleich diskutirten. Binnen wenigen Wochen wurde 
ganz Frankreich von einer Unzahl Zeitungen überschwemmt, welche 
allen Leidenschaften ein Echo verliehen. Die Journalistik war plötz- 
lich eine Macht geworden, welehe die öffentliche Meinung in mannig- 
faltiger Weise bearbeitete. Neben den Journalen, die man verkaufte, 
gab es solche die gratis ausgetheilt wurden, wiederum solche die, an 
die Häuser geheftet, die Aufmerksamkeit des Vorbeigehenden in An- 
spruch nahmen. Die fieberhafte Bewegung und das lärmende Trei- 
ben, welches diese Blätter hervorriefen, wird von einem englischen 
Historiker mit dem fantastischen Concert verglichen, das in einem Ur- 


_— 253 — 


wald Amerikas die Ohren des Europäers betäubt. Hunderte von Blät- 
tern waren beinahe gleichzeitig entstanden, tausende von Brochüren 
eirkulirten in Versailles, in Paris, in ganz Frankreich; Adressen, 
Petitionen, Briefe, Memoiren, Finanzpläne, Schriften jeder Art beschäf- 
tigten sich mit den an der Tagesordnung befindlichen Fragen, mit 
dem Veto, dem Wahlcensus, den Gütern des Klerus, den Assignaten, 
mit der Reorganisation der Tribunale und der Armee; die Drucke- 
reien in Paris und in den Provinzen produceirten jeden Tag eine wahre 
Fluth von Schriften, von denen die Mehrzahl allerdings nur eine ephe- 
mere Bedeutung hat; es erschienen fortwährend neue. Man las und 
kommentirte sie im Palais-Royal, dem Forum der Revolution, im Tui- 
leriengarten, in den Cafes, in den Klubs, auf den Strassen. Alle 
diese Papiere fanden Leser, die mit dem grössten Interesse die öffent- 
lichen Ereignisse verfolgten. Die geistige Thätigkeit der französischen 
Nation, welche plötzlich dazu berufen wurde, ihre Rechte zu disku- 
tiren, und über ihr Schicksal selbstständig zu entscheiden, konzentrirte 
sich in der Journalistik. Die spekulativsten Köpfe fühlten sich un- 
widerstehlich zur Praxis hingezogen. Die Wissenschaft, die Litera- 
tur machte für einige Zeit halt, das politische Leben absorbirte Alles. 
Jeder neue Akt in dem revolutionären Drama rief neue Journale ins 
Dasein. Unmittelbar nach der Eröffnung der Etats-generaux gründete 
Mirabeau den Courrier de Provence, Gorsas den Courrier de Ver- 
sailles, Brissot den Patriote frangais, Barrere den Point du jour. Am 
Vorabend des Bastillensturmes begann das populärste aller revolutio- 
nären Journale seine Laufbahn, die Revolutions de Paris, redigirt von 
Loustalot. Die Ereignisse des 5ten und 6ten October gaben der Pub- 
lizistik einen neuen Anstoss, Marat gründete seinen ami du peuple, 
Carra und Mereier die Annales patriotiques, Camille Desmoulins die 
Revolutions de France et de Brabant und Freron den Orateur du 
peuple. Ein französischer Gelehrter, Namens Deschiens, hat während 
mehrerer Jahrzehende die Journale und Pamphlete, welche während 
der Revolution auftauchten, gesammelt uud katalogisirt. Diese Samm- 
lung, welche keineswegs vollständig ist, enthält ungefähr 6000 grosse 
Kartons, die alle mit Journalen und Brochüren angefüllt sind, ein 
Material, wovon die Geschichtschreiber der Revolution kaum den 
20sten Theil benutzt haben. Das britische Museum besitzt eine Menge 
interessanter Pamphlete und Zeitschriften, welche in dem Kataloge von 
Deschiens nicht erwähnt sind. Eine statistische Uebersicht der Jour- 
nale, welche während der Revolution allein in Paris erschienen, gibt 


—_— 254 — 


den Massstab, um den Umfang und die Bedeutung der revolutionären 
Presse zu beurtheilen. Am produktivsten war das Jahr 1789, das 
150 Zeitungen entstehen sah, 1790 erschienen 140 neue Journale auf 
dem Kampfplatz, 1791 nur 85, 1792 bloss 60, von 1793 bis 1796 
im Durehsehnitt 40. Allmälig nahm die Zahl der neuen Publikatio- 
nen immer mehr ab, und zuletzt hinderte das Kaiserthum jede freie 
Bewegung der Presse. Der tobende Strom wurde wieder zu einem 
bescheidenen Bache, bis neue Stürme ihn aus seinen Ufern drängten. 

Die französische Journalistik während der ersten Jahre der Re- 
volution ist neben den offiziellen Aktenstücken die wichtigste Quelle 
für die Geschichte dieser interessanten Periode, eine Quelle, die, wie 
bereits angedeutet wurde, noch lange nicht erschöpft ist. Die Ge- 
schiehte der Revolution, die wahre authentische Geschichte derselben, 
Tag für Tag von Zeitgenossen geschrieben, findet sich nirgends so 
vollständig als in den bedeutenderen Journalen der verschiedenen Par- 
theien. In denselben kann man die Entwicklung der Ereignisse ver- 
folgen, und die geheimen Gedanken der handelnden Persönlichkeiten 
errathen. Indem der Forscher die Ansichten und Behauptungen der 
Sieger und der Besiegten prüft und vergleicht, gelangt er dazu, selbst 
die dunkelsten Parthien der Revolutionsgeschichte aufzuklären. Manche 
Illusion verschwindet, der poetische Nimbus, in welchen Lamartine, 
mehr Dichter als Geschichtschreiber, die Girondisten gehüllt hat, wird 
zerstört, während dagegen Männer wie Danton, Carnot, Robert Lin- 
der, Cambon, Dubois Cranc& u. s. w. bei einer gründlichen historischen 
Analyse nur gewinnen. Es ist sehr zu bedauern, dass eine so wich- 
tige Quelle für die Revolutionsgeschichte wie die Journale gegenwärtig 
sehr selten und daher für den Historiker schwer zugänglich geworden 
ist. Die Histoire parlamentaire von Buchez und Roux gewährt aller- 
dings etwelchen Ersatz, weil dieselbe eine sehr grosse Anzahl von 
Fragmenten aus jenen Journalen enthält. Dem gewissenhaften For- 
scher kann aber ein Werk zweiter Hand nicht genügen, er muss noth- 
wendig zu den Quellen selbst zurückkehren. Diese Quellenstudien sind 
nicht allein lohnend, sie sind auch angenehm, denn die Journale, 
welche von der Revolution erzeugt wurden, sind zum grösseren Theil 
höchst interessante, originale Produktionen der französischen Literatur. 
Original sind dieselben, weil sie den Brennpunkt bilden, in welchem 
sich die geistige Arbeit eines ganzen Jahrhunderts konzentrirt. 

Ich habe bereits im Allgemeinen den Einfluss angedeutet, wel- 
chen die französische Philosophie des 18ten Jahrhunderts auf die re- 


_ 2355 — 


volutionäre Publizistik ausgeübt hat. Die Bedeutung dieser Philoso- 
phie besteht darin, dass sie eine gewisse Summe allgemeiner Wahr- 
heiten nicht so fast erfunden, als vielmehr zum allgemeinen Bewusst- 
sein gebracht hat. Sie vereinigte und reproduceirte diese Wahrheiten, 
bis dieselben zuletzt unter den mannigfaltigsten Formen sich mit der 
öffentlichen Meinung identifieirten. Die französische Philosophie des 
18ten Jahrhunderts hat keineswegs bloss zerstört, sie hat auch auf- . 
gebaut, und ihr Einfluss war im Ganzen ein wohlthätiger. Alle Nüan- 
een der französischen Philosophie fanden in der revolutionären Publi- 
zistik ihren Ausdruck, der Deismus eines Voltaire, die sensualistische 
Richtung von Condorcet, der Pantheismus der Bernhardin de Saint- 
Pierre und Volney. Der geistige Vater der revolutionären Journali- 
stik ist aber in erster Linie J. J. Rousseau, dessen religiöse, politi- 
sche und sociale Anschauungen, allerdings theilweise verändert und 
umgestaltet, sich in den Arbeiten der französischen Publizisten aus 
der Revolutionsperiode wiederfinden. 

Ein zweites sehr charakteristisches Element der revolutionären 
Journal- und Pamphletliteratur ist ein spezifisch-antikes. Die Schrif- 
ten der Griechen und Römer haben auf die französische Revolution 
einen mindestens ebenso bedeutenden Einfluss ausgeübt wie dereinst 
auf die Reformation. Dieser Einfluss, von sämmtlichen Geschicht- 
schreibern der Revolution auch nicht einmal angedeutet, ist eine un- 
leugbare Thatsache. In den Reden, welche in der Constituante, in 
der Legislative und im Nationalkonvent gehalten wurden, finden sich 
eine Menge von Citaten aus den alten Classikern und es giebt kein 
einziges Journal der Revolutionsperiode, das nicht beinahe auf jedem 
Blatt Anspielungan auf Persönlichkeiten und Ereignisse des Alterthums 
enthält; denn die Geschichte von Hellas und Rom war für die Jour- 
nalisten der Revolutionsperiode der ideale Himmel, zu dessen Glanz- 
gestirnen sie fortwärend mit Begeisterung emporblickten. Jene im- 
mer wiederkehrenden Citate und Anspielungen verleihen der revolu- 
tionären Publizistik einen eigenthümlichen Reiz und verfehlen fast 
nie den Eindruck hervorzubringen, welchen der betreffende Journalist 
beabsichtigt hat. Es kömmt dabei nicht in ‚Betracht, dass die fran- 
zösischen Schriftsteller des 18ten Jahrhunderts überhaupt sich nur sel- 
ten zu einer reellen historischen Anschauung des Alterthums erheben, 
dass sie dasselbe in eigener Weise reprodueiren. Der Einfluss die- 
ses antiken Elementes wird dadurch nicht geschmälert. Aus der fran- 
zösischen Literatur des 19ten Jahrhunderts ist dasselbe beinahe ganz 


— 256 — 


verschwunden, eine Folge der militärisch-polytechnischen Richtung der 
französischen Nationalerziehung seit dem ersten Kaiserthum. Im vori- 
gen Jahrhundert bildeten die humanistischen Studien den Mittelpunkt 
des höheren Unterrichtes in Frankreich, und der Eifer, mit welchem 
sie betrieben wurden, erzeugte unter der jungen Generation einen wah- 
ren Kultus für das klassische Alterthum, welcher in der Literatur und 
insbesondere in der Journalistik seinen Ausdruck fand und dem re- 
volutionären Geiste fortwährrnd Nahrung verlieh. Die Verehrung für 
das Alterthum wurde von den Robespierre und Saint-Just bis zur 
doktrinären Romantik getrieben, und tritt uns aus allen Schriften der 
Revolutionsperiode entgegen. Camille Desmoulins sagt in seinem Jour- 
nal „Le vieux Cordelier“: „Man erzog uns in der Schule Athens und 
Roms, in der Bewunderung für die Republik, um in dem Sehmutze 
der Monarchie, unter der Herrschaft eines Klaudius, zu leben. Eine 
unverständige Regierung, die da glaubt, dass wir uns für die Väter 
des Vaterlandes, des Kapitols begeistern, ohne die Hofschranzen von 
Versailles zu verachten, und dass wir die Vergangenheit bewundern 
können, ohne die Gegenwart zu verachten! Ulteriora Mirari, presen- 
tia secturos.* Derselbe Camille Desmoulins erhebt sich, wenn er von 
seinen Studien am College spricht, zur Poesie und besingt dieselben 
in prächtigen Versen: 

„Je vis avec ces Grees et ces Romains fameux, 

J’etudie une langue immortelle comme eux; 

J’entend plaider encore dans le barreau d’Athenes: 

Aujourd’hui c’est Eschine et demain De&mosthönes: 


Combien de fois, avec Plancius et Milon, 
Les yeux mouilles de pleurs, j’embrassai Cie&ron!* 


Desmoulins sprieht zunächst nur von sich, aber diese Begeiste- 
rung für das klassische Alterthum beseelte die grosse Mehrzahl der 
jungen Literaten, welche bei dem Beginn der Revolution sich auf die 
Journalistik verlegten, um die öffentliche Meinung zu bearbeiten. 

Ohne Pressfreiheit, die Basis aller politischen Freiheit, war keine 
durchgreifende Reform möglich. So lange der Tiers-Etat seines Sieges 
nicht gewiss‘ war, so lange die Deputirten aller drei Stände sich nicht 
zu einer Assembl&e nationale vereinigt hatten, entbehrte die Journali- 
stik der freien Bewegung, sie konnte nur schüchtern auftreten, und es 
bedurfte einer aussergewöhnlichen Kraft, um die Schranken zu durch- 
brechen. Mirabeau trat der Erste auf den Kampfplatz, und veröffent- 
lichte den Prospektus eines Blattes, welches unter dem Titel „Les 


— 2597 — 


Etats-generaux“ über die Verhandlungen dieser Versammlung Bericht 
erstatten sollte. In der 2ten Nummer vom 5ten Mai 1789 erlaubte 
er sich die lange Rede Neckers über die Finanzlage zu kritisiren. Die 
Minister erschraken über die kühne Sprache des Blattes und erliessen 
daher ein Edikt, wodurch dasselbe unterdrückt und zugleich die Publi- 
kation von periodischen Schriften ohne vorhergegangene Censur ver- 
boten wurde. Mirabeau liess sich nicht einschüchtern, sondern ver- 
öffentlichte unter dem Titel „Lettres a mes Commettants* ein neues 
Journal, das er offen als die Fortsetzung des Unterdrückten bezeich- 
nete. „Es ist also wahr, schrieb Mirabeau, dass man, weit davon 
entfernt die Nation zu befreien, ihre Ketten nur fester zu schmieden 
sucht. In Gegenwart der Volksrepräsentanten wagt man es, derglei- 
chen Hofdekrete zu erlassen, wodurch die heiligsten Rechte verletzt 
werden. 25 Millionen Stimmen verlangen die Freiheit der Presse. 
Das Volk, der König selbst wünscht das Zusammenwirken aller Ca- 
pacitäten. Was soll dieses ministerielle Veto? Ein Ministerium, das 
auf seine Popularität pocht, wagt es ohne Scheu, unsere Gedanken 
unter Schloss und Riegel zu thun, die Lüge zu privilegiren und die 
Exportation der Wahrheit als Contrebande zu behandeln. Trete die 
Tyrannei offen hervor, und wir werden alsdann sehen, ob wir Wi- 
derstand leisten oder das Haupt verhüllen müssen.“ Gleich die erste 
Nummer des neuen Journals hatte einen ungeheuren Erfolg, in weni- 
gen Tagen besass dasselbe 20,000 Abonnenten. Mirabeau war der 
erste Journalist, welcher es wagte, die Rechte der Nation und die 
Freiheit der Presse anzurufen. Die Regierung fühlte sich zu schwach, 
den Kampf aufzunehmen und Mirabeau konnte sein Blatt ungehindert 
fortsetzen, welches er nach der Erstürmung der Bastille Courrier de 
Provence betitelte.e Der Courrier de Provence unterscheidet sich von 
den Lettres de Mirabeau & des Commettants nur durch den Titel und 
ausserdem noch dadurch, dass derselbe wöchentlich drei Mal erschien, 
während die Lettres in unregelmässigen Zwischenräumen von 5, 8, und 
sogar 10 Tagen publizirt worden waren. Den Hauptinhalt des Cour- 
rier bilden die Verhandlungen der Assemblde nationale, welche Mi- 
rabeau mit seinen Reflexionen und Kritiken begleitet. Der eigent- 
lichen Berichterstattung geht fast immer eine allgemeine Einleitung 
voraus, welche die Tagesfrage bespricht und den Zweck hat, den 
Leser vorzubereiten und für eine bestimmte Ansicht zu gewinnen. 
Diese allgemeinen Skizzen, mit Meisterhand entworfen, sind die werth- 
vollsten und interessantesten Parthien des Courrier de Provence. Ge- 


—_ 23538 — 


wiss, die Bedeutung Mirabeau’s beruht zunächst in seiner parlamen- 
tarischen Beredsamkeit, aber dessenungeachtet ist die Ansicht eines 
neueren französischen Historikers, dass die journalistische Thätigkeit 
Mirabeau’s ohne Interesse für die Nachwelt sei, durchaus unrichtig. 
Um eine so geniale Persönlichkeit wie die Mirabeau’s in ihrer gan- 
zen Grossartigkeit zu erfassen, darf der Historiker auch die literari- 
schen und journalistischen Arbeiten des grossen Redners nicht unbe- 
rücksichtigt lassen. Das kleinste Fragment trägt beinahe immer den 
Stempel des Genie’s und hat daher einen bleibenden Werth. Der 
Courrier de Provence ist nicht allein für die Geschichte der Revolu- 
tion in ihrem ersten Stadium eine sehr wichtige Quelle, sondern zu- 
gleich auch ein getreuer Spiegel von Mirabeau’s parlamentarischer und 
politischer Wirksamkeit. Die Reden, welche derselbe in der Assem- 
blee constituante gehalten, seine Motionen, seine politischen und finan- 
ziellen Projekte sind bis auf die geringsten Details in dem Courrier 
de Provence abgedruckt und erläutert. Die Ereignisse treten gewis- 
sermassen in den Hintergrund vor der Persönlichkeit Mirabeau’s wel- 
cher bei der Analyse der Verhandlungen seine eigenen Reden so wie 
diejenigen seiner politischen Gesinnungsgenossen immer voranstellt. 
So ist der Courrier de Provence weniger ein Journal als eine Revue, 
für Mirabeau ein Werkzeug, vermittelst dessen er zum Theil seine 
grossartige Popularität begründete. Das im britischen Museum be- 
findliche Exemplar des Courrier de Provence umfasst 17 Bände, de- 
ren jeder mindestens 600 Seiten stark ist, was einigermassen einen 
Begriff von der enormen Thätigkeit gibt, mit welcher Mirabeau auf 
dem Felde der Publizistik für die Revolution gearbeitet hat. Wäh- 
rend der letzten Zeit seines Lebens überliess derselbe die Redaktion 
des Courrier de Provence seinen Mitarbeitern, wodurch dieses Journal 
an Bedeutung verlor. Der Verrath, welchen Mirabeau durch seine 
Verbindung mit dem Hof zunächst an seinem eigenen Genie beging, 
war die Ursache, dass er sich allmälig von der Publizistik zurück- 
zog. In den letzten Bänden des Courrier de Provence finden sich 
nur noch einige wenige Artikel, die von Mirabeau selbst verfasst sind. 
Sie liefern den Beweis dafür, dass der grosse Redner keineswegs da- 
ran dachte, die Monarchie, wie sie vor 1789 bestanden, wieder her- 
zustellen. Diese Ansicht wird bestätigt durch eine prachtvolle Skizze, 
in welcher Mirabeau den Despotismus mit einer freien Staatsverfas- 
sung vergleicht. „Die despotisch-regierten Länder, heisst es an der 
betreffenden Stelle, zeigen von weitem betrachtet, einen Zustand der 


_— 259 — 


Ruhe und Ordnung. Der Souverän spricht und man gehorcht ihm. 
Diese äussere Ruhe verführt bei dem ersten Anblick, und die mei- 
sten Beobachter werden dadurch zu einem unrichtigen Urtheil verlei- 
tet. Die Revolutionen in solehen Monarchien sind häufig und unvor- 
hergesehen. Der Hof ist der Schauplatz derselben und das Volk in- 
tervenirt nur selten. Den Tag darauf ist der alte Zustand wieder- 
hergestellt, ein Umstand, welcher oberflächliche Beobachter glauben 
macht, dass Ordnung und Ruhe eine Entschädigung für die Freiheit 
sei. Dieser äussere Schein trügt. Unter dem Despotismus schreibt 
man nicht, man theilt sich wenig mit, und man bekümmert sich nicht 
um das Schicksal seines Nächsten. Jeder fürchtet eine Klage zu er- 
heben und seine Unzufriedenheit laut werden zu lassen. Niemand 
wagt es, die Opfer des Despotismus zu zählen und doch sind die- 
selben so zahlreich. Berücksichtigt man die stummen Thränen, das 
im Finstern schleichende Unheil, dessen Wirkungen um so schreck- 
licher sind, weil es keine Schranken dafür giebt? Hält man Regi- 
ster über die zahlreichen Justizmorde, über die Opfer, welche in den 
Staatsgefängnissen dahinsiechen? Der öffentliche Friede scheint zu 
existiren, aber es ist diess nur Illusion. An einer Menge von Orten, 
in dem Innern ihrer Häuser und ihren Verhältnissen zu den Macht- 
habern erfahren Tausende von Menschen die schreeklichen Uebel eines 
Bürgerkrieges. Vereinige man alle diese Unglücklichen und gestatte 
man ihrer stummen Verzweiflung sich zu äussern, alsdann behaupte, 
wer es wagt, dass der Despotismus die öffentliche Ruhe und Ordnung 
bedinge!* Dergleichen allgemeine Wahrheiten finden sich in jeder 
Nummer des Courrier de Provence, sie bilden die Basis, von welcher 
Mirabeau immer ausgeht, wenn er die bedeutenden konstitutionellen 
Fragen diskutirt. Das Charakteristische dieser allgemeinen Betrachtun- 
gen besteht darin, dass sie sich immer an die Geschichte anlehnen und 
keineswegs ideale Theorien enthalten, deren Verwirklichung eine Un- 
möglichkeit gewesen wäre. Mirabeau ist nicht wie die Robespierre und 
Saint-Just ein Doctrinär, der mit den bestehenden Verhältnissen ohne wei- 
teres aufräumen will, er ist eine durch und durch praktische Natur, 
ein entschiedener Gegner aller Utopien. Diese Eigenschaften hätten 
dem Courrier de Provence einen noch weit grösseren Einfluss ver- 
schafft, wenn der Staatsmann und der Journalist Mirabeau die noth- 
wendige moralische Grundlage, eine politische Ueberzeugung beses- 
sen hätte. Die Zeitgenossen bewunderten den Redner, aber sie miss- 
trauten dem Menschen. Diese Thatsache wiederholt sich in der Ge- 


— 260 —- 


schichte der französischen Revolution, verleiht aber gar kein Recht 
dazu, die Revolution als solche zu verurtheilen. Studire man die Ge- 
schichte dieser grossartigen Periode ohne Vorurtheil und man wird 
eine ziemliche Anzahl von ausgezeichneten Charakteren finden, die den 
schönsten Vorbildern des Alterthums an die Seite zu stellen sind. 
Ein solcher Charakter ist der Publizist Loustalot, welcher mit 
dem Buchhändler Prudhomme den 12. Juli 1789 das Journal „Les 
Revolutions de Paris“ begründete. Dieses Blatt trug das Motto: „Die 
Grossen erscheinen uns nur desshalb gross, weil wir auf den Knien 
liegen, erheben wir uns.* Sehr bald besass dasselbe die beinahe 
unglaubliche Zahl von 200,000 Abonnenten, ein Erfolg, der es unbe- 
greiflich erscheinen lässt, dass Loustalot's Name nur von wenigen Ge- 
schichtschreibern der Revolution genannt wird. Ein Studiengenosse 
von Camille Desmoulins und Robespierre, betrat derselbe in einem Al- 
ter von kaum 26 Jahren die journalistische Laufbahn und verdankte 
seine Popularität weniger den literarischen Vorzügen seiner publzisti- 
schen Arbeiten als vielmehr seinen persönlichen Eigenschaften. Wäh- 
rend Mirabeau durch die Macht der Verhältnisse und durch den vul- 
kanischen Charakter seines Geistes in das Lager der Revolution ge- 
trieben wurde, kämpfte Loustalot für die neuen Ideen aus Ueberzeu- 
gung und olıne irgend welche egoistische Hintergedanken. In seinem 
Privatleben ehrenhaft, mit einem eisernen Fleisse den Studien oblie- 
gend, als Schriftsteller ohne besonderes Talent, errang sich der junge 
Advokat den ersten Platz unter der Menge von Journalisten, welche 
das Jahr 1789 auf die politische Bühne gerufen hatte, weil er die 
Tagesfragen immer mit würdevollem Ernst behandelte. Loustalot be 
trachtete den Beruf des Publizisten als ein öffentliches Amt, als eine 
Art Magistratur. In einem Zeitalter, das an allgemeinen Theorien und 
Abstraktionen so grosses Gefallen fand, war derselbe wie Mirabeau 
bemüht, den Boden der reellen Thatsachen niemals zu verlassen. Da- 
her das ruhige, leidenschaftslose Räsonnement, der einfache, alle Dekla- 
mationen verschmähende Styl, wodurch sich Loustalot's journalistische 
Arbeiten auszeichnen. Die meisten Publizisten der Revolutionsperiode 
sind die Wortführer einer bestimmten Partei, Loustalot steht über den 
Parteien, er schreibt für das Volk, dessen Charakter und Bedürf- 
nisse er gründlich studirt hat. Die wichtige Frage der Theuerung und 
die Mittel, durch welche die Noth der unteren Volksklassen gelindert 
werden kann, beschäftigten ihn oft. Loustalot begnügte sich nicht 
damit, auf die verbrecherischen Manipulationen der Getreidelieferanten 


aM — 


und ihrer vornehmen Gönner aufmerksam zu machen, er besuchte die 
Nothleidenden, die Kranken in den Spitälern und hatte für die Lei- 
den des Volkes überhaupt ein empfängliches Herz. Niemals erlaubte 
sich Loustalot in der Polemik Persönlichkeiten, er bekämpfte nur die 
Grundsätze und die Handlungen seiner Gegner. Immer ist sein Ur- 
theil ein gemässigtes und ruhiges, und dabei doch entschieden und 
energisch. Als Camille Desmoulins seine Brochüre „Das freie Frank- 
reich“ veröffentlichte, worin die Republik als die beste Staatsform 
gepriesen wird, lobte Loustalot diese Schrift um ihrer literarischen 
Eigenschaften willen, tadelte aber die exaltirten Ansichten seines ehe- 
maligen Studiengenossen. Als Marat in seinem ami du peuple den 
Maire Bailly verdächtigte, wurde dieser von Loustalot vertheidigt. Die 
persönlichen Vorzüge des Journalisten erklären die Popularität des- 
selben und den Erfolg des von ihm redigirten Blattes, Die Revolu- 
tions de Paris erschienen 50 bis 60 Seiten stark jeden Sonntag in 
der Form einer Brochüre.. Wegen der reichen Details, welche dieses 
Journal enthält, ist dasselbe eine der wichtigsten Quellen für die Ge- 
schichte der Revolution. Loustalot erzählt ausführlich die Tagesereig- 
nisse, er schildert als Augenzeuge die Erhebungen des Volkes, die 
Haltung der Distrikte, und gibt immer ein Resime von den Verhand- 
lungen der Commune und der verschiedenen Klubs. Um des Titels 
willen, welchen sein Journal führte und weil er von vorne herein 
Paris als den eigentlichen Schauplatz der Revolution betrachtete, wid- 
met Loustalot den Ereignissen in Versailles und den Debatten der 
Assemblee nationale nur geringe Aufmerksamkeit, während dagegen 
die Ereignisse in Paris sehr weitläuig von ihm behandelt werden. 
Eine grosse Correspondenz machte es Loustalot möglich, auch die Vor- 
gänge in den Provinzen dem Leser vor die Augen zu führen. Ueber- 
diess enthalten die Revolutions de Paris eine Menge von Leitartikeln 
über die Verschwörungen der Aristokraten, über die Freiheit der Presse, 
über den Militärdespotismus, über den Klerus und die Organisation 
des Gerichtswesens, alles Arbeiten, aus welchen ein Journalist unserer 
Tage sehr viel lernen könnte. Scharf, aber wahr sind die Urtheile, 
welche Loustalot über die hervorragendsten Persönlichkeiten unter sei- 
nen Zeitgenossen fällt. Mit demselben Scharfsinn beurtheilte Lousta- 
lot die Tagesereignisse. Sehr bald überzeugte er sich, dass die Ma- 
jorität der Assembl&e nationale nur eine sehr beschränkte Summe von 
Freiheiten zu erringen suche, Freiheiten, welche zunächst mehr der 
Bourgeoisie als dem Volke zu Gute kommen sollten. „Ist es wahr, 


. 


schreibt Loustalot, dass wir für das Vaterland gekämpft, das wir den 
Despotismus und die Aristokratie niedergeschmettert haben? Was ist 
aus dieser Freiheit geworden, die anfänglich in so schönen Farben 
glänzte. Sie hat einer neuen Aristokratie Platz gemacht, der Aristo- 
kratie des dritten Standes.“ Loustalot glaubte, dass eine grosse An- 
zahl von Mitgliedern der Assembl&e nationale offen oder geheim im 
Interesse des Hofes wirke und reaktionäre Absichten verfolge. Er 
erblickte in dieser Versammlung nur eine kleine Schaar unbestech- 
licher Persönlichkeiten, welche er für fähig hielt, die Revolution durch- 
zuführen. Alle Kraft seines Geistes zusammenraffend, bekämpfte 
Loustalot die Eintheilung der Bürger in aktive und passive, das Veto, 
welches dem König verliehen werden sollte, und eine Menge von Ver- 
ordnungen, welche nach seiner Ansicht die Rechte der Nation ver- 
letzten; die Nationalgarde erschien Loustalot als gefährlich, so lange 
die unteren Volksklassen von derselben ausgeschlossen waren. Die 
wiederholten Versuche, die Pressfreiheit zu beschränken, die Verfol- 
gungen, welchen die freisinnigen Journalisten ausgesetzt waren, be- 
wiesen, dass Loustalots Befürchtungen nicht unbegründet waren und 
dass er die Situation richtig beurtheilte.e Bald nach dem 4. August 
verlangten die Revolutions de Paris die Auflösung der Assemblee 
constituante und die Berufung einer neuen gesetzgebenden Versamm- 
lung, deren Wahl auf dem allgemeinen Stimmrecht beruhen sollte. 
Der Aufruf verhallte ungehört, die reaktionäre Tendenz der Constitu- 
ante trat immer schärfer hervor. Als diese Versammlung dem Ge- 
neral Bouill& für die blutige Unterdrückung des Aufstandes in Nancy 
ihren Dank aussprach, verzweifelte Loustalot an dem Gelingen der 
Revolution. Noch einmal nahm er die Feder zur Hand, um seinen 
düsteren Ahnungen Worte zu leihen. „Das Blut meiner Mitbürger 
ist geflossen, schrieb Loustalot bei der Nachricht von den Ereignis- 
sen in Naney, die Fackel des Bürgerkrieges ist angezündet. Diese 
traurigen Wahrheiten würden unsern Muth niederschlagen, wenn nicht 
die Gefahren, von welchen das Vaterland bedroht ist, unseren eige- 
nen Schmerz verstummen liessen. Was soll ich euch sagen, welchen 
Rath euch geben, o meine Mitbürger. In gewissen Krisen scheint 
beinahe kein Ausweg möglich, das Gute und das Schlechte wird oft 
durch dieselben Mittel erzeugt. Gerechtigkeit und Wahrheit, warum 
erscheint ihr vor den Augen euerer aufrichtigsten Verehrer hinter 
einem so dichten Schleier? Wie sich fern halten von den Schlingen, 
in welche die gesetzgebende Versammlung, die Weisen Frankreichs 


— 263 — 


gerathen sind? Wie ist es möglich, den Zusammeıthang einer Menge 
ausserordentlicher Ereignisse zu erfassen, von Ereignissen, welche in 
ihrer nackten Wahrheit jeder Bürger kennen muss? Wie kann ich 
dieselben erzählen bei der Trauer meines Herzens? Wie darüber 
nachdenken bei der Verzweiflung, die mich ergriffen? Sie schweben 
vor meinem Geiste die T'odten, welche die Strassen von Naney be- 
decken, und das Grauenhafte dieses Anblicks wird noch gesteigert 
durch das höhnische Lachen derjenigen, welche die Opfer zur Schlacht- 
bank geführt, durch den frechen Spott, welchen die Feinde der Frei- 
heit bei ihrem Triumphe zur Schau tragen.“ Diese Worte waren die 
letzten, welche Loustalot an die Leser seines Blattes richtete. Einige 
Wochen nach den Ereignissen von Nancy starb der talentvolle Jour- 
nalist, ein moderner Cato Uticensis, vor Gram über seine getäuschten 
Hoffnungen. 

Ein durchaus reiner Charakter und vermöge seiner Individualität 
sich selbst genügend, hatte Loustalot es verschmäht sich zum Wort- 
führer einer bestimmten Partei zu machen. Er bildet in dieser Hin- 
sicht den Gegensatz zu Brissot, dem Führer der gefeierten Girondi- 
sten, oder, wie dieselben noch häufiger genannt wurden, der Brisso- 
tins. Die Girondisten traten allerdings erst während der Legislative 
auf den politischen Schauplatz; aber schon während der Constituante 
standen die meisten von ihnen in direktem Verkehr mit Brissot, wel- 
cher nach einem nichts weniger als makellosen Literatenleben in Lon- 
don und Paris den 29sten Juli 1789 eine neue Zeitung unter dem 
Titel „Le Patriote frangais* begründete. Die erste Nummer dieses 
Blattes, welches täglich erschien, trägt das Motto: „Die freie Presse 
ist ein vorgeschobener Posten, welcher ohne Unterlass für das Volk 
Wache hält.“ Wie die meisten Journale, welche in der ersten Zeit 
der Revolution auftauchten, enthielt der Patriote frangais ursprüng- 
lich von den Verhandlungen der Assemblee nationale ein gedrängtes 
Resüme, in welchem der Redaktor eher den Geist als den Buchstaben 
der Debatten wiederzugeben bemüht war. Erst allmälig begann Brissot 
auch die wichtigeren Tagesfragen in allgemeinen Leitartikeln zu be- 
sprechen, mit besonderer Ausführlichkeit behandelte er die Zustände 
der französischen Kolonien und ihr Verhältniss zum Mutterlande, die 
Abschaffung der Sklaverei und die Aufhebung des Erstgeburtsrechtes, 
dessen Beibehaltung von einem grossen Theil des Adels gewünscht 
wurde, um die Zerstückelung des Grundbesitzes zu verhüten. Durch 
eine Menge ausgezeichneter Arbeiten über diese auch in unseren Tagen 


_— . DA 


vielfach ventilirte Frage trug Brissot dazu bei, dass die Assemblee 
constituante sich für die Theilung des grossen Grundbesitzes erklärte, 
eine Massregel, durch welche die Bedeutung des Adels vernichtet und ein 
ganz neuer Zustand in Frankreich begründet wurde. Roland, später 
Minister des Innern, veröffentlichte in dem Patriote frangais eine An- 
zahl Briefe über die Gewerbsverhältnisse in Lyon, worin die Beseiti- 
gung gewisser Monopole und Privilegien befürwortet wurde. Diese 
Briefe hatten eine Anzahl jüngerer Kaufleute aus jener Stadt verletzt, 
wesshalb sie Brissot als den vermeintlichen Verfasser mit Beschim- 
pfungen überhäuften. Von dem Egoismus seiner Gegner überzeugt, 
erwiederte der Journalist: „Die Feder fällt mir aus den Händen, in- 
dem ich an diese Verdächtigungen denke. Wenn ich dieselben zu- 
rückweise, so geschieht diess nur, weil sie von jüngeren Leuten her- 
rühren. Ich hätte die Beleidigung stillschweigend hingenommen, wenn 
sie das Werk jener Elenden wäre, die nur von Lügen leben, jener 
Apostel des Despotismus, die mit ihrem Gifte die ehrenwerthesten 
Personen und Handlungen bespritzen. Aber ich achte die Jugend und 
setze grosse Hoffnungen auf sie; ich kann also diejenigen nur bekla- 
gen, welche mich beleidigt haben, ich erwarte von der Zeit ihre Reue, 
und sie werden Reue empfinden, wenn sie ebenso aufrichtige Patrio- 
ten sind wie ich.“ Diese würdevolle Haltung ist eine charakteristische 
Eigenschaft von Brissots publizistischen Arbeiten ; immer ernst, ver- 
schmäht er es zu seinen Lesern hinunterzusteigen, er sucht sie zu sich 
emporzuheben und sie von der Wahrheit seiner Ansichten zu über- 
zeugen Sein Styl ist einfach aber schlagend und energisch. Brissot 
liebte es, die Klassiker und seine Vorbilder unter den modernen Au- 
toren zu eitiren. Montaigne und Montesquieu waren seine täglichen 
Begleiter, aus Taeitus wusste er ganze Stellen auswendig. Die Ho- 
heit des Geistes, die Brissot eigen war, musste ihm die Sympathien 
der jungen Generation zuwenden, aus welcher später die Girondisten 
hervorgingen. Der Patriote frangais wurde vorzüglich in den Provin- 
zen mit Begeisterung gelesen, und eine Anzahl talentvoller jüngerer 
Schriftsteller schaarte sich um den Redaktor dieses Blattes, welches 
dadurch an Gehalt und Einfluss gewann. Die Monotonie, welche 
dem Patriote frangais während der ersten Monate seines Bestehens 
eigen war, verschwand allmälig und der in demselben behandelte 
Stoff wurde immer mannigfaltiger. Brissot hatte sich diejenigen Fra- 
gen vorbehalten, mit welchen er am vertrautesten war. Wiederholt be- 
kämpfte er die Journalisten, welche einen Krieg mit England wünschten, 


—ı 265 — 


und sprach sich in einer Reihe von Artikeln für eine entente cordiale 
zwischen den beiden Nationen aus. „Wir wollen keinen Krieg, heisst 
es in dem Patriote frangais, weil ein solcher der Entwicklung der 
Freiheit in Frankreich gefährlich wäre; es ist nicht nothwendig, dass 
die grosse Revolution, welche bei uns vorgeht, in ihrem Verlauf ge- 
stört werde. Ein Krieg würde nur dem Despotismus zu Gute kom- 
men.“ Mehr als einmal kämpfte Brissot für die Freiheit der Presse. 
Als Marat, Freron und Camille Desmoulins wegen ihrer Schriften 
verfolgt und mit Gefängniss bedroht wurden, da rief der Patriote 
francais aus: „Hier ist die Gefahr!“ und vertheidigte jene Publizisten, 
obgleich er weit davon entfernt war, ihre Ansichten zu billigen. 
Brissot freute sich, dass die Lameth, Petion und Robespierre in der 
Assembl&e nationale die Angriffe auf die Pressfreiheit zurückwiesen. 
„Mit dieser Freiheit, sagt der Journalist, ist jede Konstitution der 
Vervollkommnung fähig, ohne dieselbe geht auch die beste zu Grunde.“ 
Als Barnave, von den reichen Plantagenbesitzern bestochen, sich in 
der Assembhl&e nationale der Aufhebung der Sklaverei widersetzte, und 
bei dieser Gelegenheit die Theoretiker und Philosophen lächerlich zu 
machen suchte, da beleuchtete Brissot in einem glänzenden Artikel 
die französische Philosophie des 18ten Jahrhunderts und ihren Ein- 
fluss auf die Revolution. „Die Philosophie insultiren, heisst es in 
der betreffenden Arbeit, ist nicht bloss Unwissenheit oder Verblen- 
dung, es ist eine Ruchlosigkeit, welche nur die Lippen eines Tyran- 
nen beflecken kann, der die Menschheit hasst. Ein solcher mag die 
Philosophie beseitigen wollen, weil sie allein in aller Ruhe jene gros- 
sen Katastrophen vorbereitet, welche den Sturz des Despotismus her- 
beiführen.“ Derselbe Barnave erhob sich später gegen die Angriffe, 
welche von dem Deputirten Malouet zu wiederholten Malen gegen das 
Treiben der Journalisten und Pamphletäre gerichtet wurden. Brissot 
dankte seinem Gegner dafür mit den Worten: „Diessmal ist es meine 
Pflicht, die Waffen zu loben, mit welchen du mich vorher verwundet 
hast.“ Diese Aeusserung ist ein Beweis dafür, dass die Autoren des 
klassischen Alterthums nicht bloss auf die Form, sondern auch auf 
den Geist der revolutionären Literatur Einfluss ausübten. Brissot 
und sein Freund Claviere beschäftigten sich ernsthaft mit den finan- 
ziellen Fragen, welche unmittelbar vor und seit dem Ausbruch der 
Revolution den Mittelpunkt der politischen Diskussionen bildeten. Ab- 
gesehen von mehreren Broschüren, die Brissot über diesen Gegenstand 
‘ sehrieb, prüfte und kommentirte er mit vielem Scharfsinn die Finanz- 
Wissenschaftliche Monatschrift. III 18 


— 266 — 


pläne, welche in der Assembl&e nationale diskutirt wurden; das so- 
genannte rothe Buch, die Assignats boten ihm die Gelegenheit dar, 
sich über die verschiedenen Zweige der Finanzwirthschaft auszuspre- 
chen, er behandelte diese Fragen in einer Reihe ausführlicher Arbei- 
ten, welche es verdienen würden von den Nationalökonomen unserer 
Tage wieder ans Licht gezogen zu werden. Weil Brissot in seinem 
Patriote frangais wiederholt auf die Verfassung der vereinigten Staa- 
ten als auf ein glänzendes Vorbild hinwies, so machten ihm seine 
Gegner den Vorwurf, dass er auf den Sturz des Königthums und die 
Gründung einer Republik hinarbeite. Dieser Vorwurf war keineswegs 
unverdient, die einzige Inkonsequenz, welche Brissot während seiner 
journalistischen Laufbahn beging, besteht allerdings darin, dass der- 
selbe, im Grund Republikaner, sich nicht offen und entschieden als 
solcher bekannte. Doch darf man hiebei die Zeitverhältnisse nicht 
unberücksichtigt lassen. Soviel ist gewiss, dass die drei Jahre, wäh- 
rend welcher Brissot die Seele und der geistige Mittelpunkt des Pa- 
triote. francais war, als die schönste Periode in seinem Leben be- 
zeichnet werden können. Zum Mitglied der Assemblee legislative ge- 
wählt wurde derselbe der journalistischen Thätigkeit entfremdet und 
die Redaktion seines Blattes gieng in die Hände des execentrischen 
Girondisten Girey-Dupre über. Weil aber Brissot fortwährend als 
der Protektor des Patriote francais galt, so theilte er auch die 
Verantwortlichkeit der ungerechten und masslosen Angriffe, welche 
Girey-Dupr& gegen die Führer der Montagnards richtete. So geschah 
es, dass der Patriote francais, durch welchen Brissot emporgehoben 
worden war, sehr viel zu dem Sturze seines Gründers und der Gi- 
rondisten beitrug. 

Brissots publizistische Arbeiten waren wie diejenigen von Lou- 
stalot und Mirabeau zunächst für den gebildeten und aufgeklärten 
Theil des französischen Volkes bestimmt. Bei einer Revolution, welche 
das Werk der ganzen Nation war, mussten auch die unteren Klassen 
ihre Wortführer finden, welche ohne wissenschaftlichen Anstrich, ohne 
Gelehrsamkeit, in der Sprache des Volkes für die neuen Ideen kämpf- 
ten. Die Hauptrepräsentanten dieser volksthümlichen Jonrnalistik sind 
Marat und Hebert. Eine auf erschöpfenden Quellenstudien beruhende 
Monographie über den Ami du peuple, Marat, und den Verfasser des 
Pere Duchesne, He£bert, wäre eine sehr verdienstliche Arbeit, insofern 
sämmtliche Geschichtschreiber der Revolution nicht dazu gelangt sind, 
ein in allen seinen Zügen historisch getreues Bild von diesen beiden 


_- 267 — 


eigenthümlichen Charakteren zu entwerfen. Der Wahrheit am näch- 
sten ist Louis Blane gekommen, weil derselbe die Schriften und das 
Leben der beiden Publizisten am gründlichsten studirt hat. Die Auf- 
gabe ist allerdings keine leichte, denn die Schriften von Marat und 
Hebert sind bereits sehr selten geworden und darum schwer zugäng- 
lich. Sodann muss der Historiker von einem rein objektiven Stand- 
punkt ausgehend, bei der Charakteristik jener Persönlichkeiten das 
gleiche Verfahren anwenden wie der Anatom, welcher den mensch- 
liehen Körper bis in die kleinsten Details studirt, um den Organis- 
mus desselben zu begreifen. Brissot, Loustalot und Mirabeau haben 
in ihren Journalen zugleich ihre Biographien geschrieben, der Ami du 
peuple ist unverständlich, wenn man nicht fortwährend die Lebens- 
verhältnisse des Journalisten vor Augen hat. 

Von einem gewaltigen Wissensdrang getrieben, hatte Marat nach 
einander Mediein, Philosophie und Naturwissenschaften studirt, und 
sich bemüht, namentlich auf philosophischem Gebiet zu bestimmten 
positiven Ansichten zu gelangen. Die sensualistische Philosophie der 
Locke und Condillac konnte ihn nicht befriedigen, dagegen begei- 
sterte er sich für die Gefühlsreligion J. J. Rousseau’s. : Ohne Ehr- 
geiz, aber von einem glühenden Eifer für die Wahrheit beseelt, wagte 
es Marat, die hervorragendsten Grössen auf dem Felde der Philoso- 
phie und der Naturwissenschaften herauszufordern und zu bekämpfen. 
Er schrieb gegen Helvetius, gegen Newton und Lavoisier eine Reihe 
von Abhandlungen, welche, obgleich von Franklin bewundert, eine 
erbitterte und nach dem Zeugniss von Brissot ungerechte Opposition 
hervorriefen. Voltaire schleuderte gegen Marat die verächtlichen Worte: 
„Das Reich des Nichts ist gross, herrsche darin!“ Diese Prophe- 
zeihung gieng in Erfüllung, und Marat musste dafür büssen, dass 
er es gewagt, den Autoritäten auf dem Gebiet der Wissenschaft zu 
trotzen. Zurückgestossen und verkannt, wurde derselbe frühzeitig auf 
sich selbst beschränkt, und diese Einsamkeit verbunden mit dem Be- 
wusstsein des erlittenen Unrechts, trug dazu bei, den von Natur unge- 
stümen und leidenschaftlichen Charakter noch mehr zu verbittern. Den 
Naturwissenschaften abgewandt, beschäftigte sich Marat unmittelbar 
vor der Revolution mit Politik und staatswirtlischaftlichen Fragen. Er 
veröffentlichte in englischer Sprache ein Werk, betitelt „die Ketten 
der Sklaverei,“ und beantwortete im Jahr 1780 eine von der ökono- 
mischen Gesellschaft in Bern ausgeschriebene Preisfrage über die Re- 
form der Kriminalgesetzgebung. In dieser Abhandlung, welche für 


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die damalige Zeit neue und von einer humanen Weltanschanung zeu- 
gende Ideen enthält, geht Marat von der Behauptung aus, dass ein 
grosser Theil der Verbrechen weniger dem Verbrecher als ‚den man- 
gelhaften soeialen Verhältnissen zur Last falle, dass es die Pflicht 
des Staates sei, durch Erziehung und durch die Entwicklung der 
moralischen Kraft die Zahl der Verbrecher zu vermindern, Marat 
glaubt, dass die Natur des Menschen der Vervollkommnung fähig sei, 
aber er ist zugleich nüchtern genug, um anzunehmen, dass diese Ver- 
vollkommnung ihre Grenzen habe. ‘In den politischen Brochüren so- 
wie in den späteren journalistischen Arbeiten Marats ist der Einfluss 
seiner medieinischen und naturwissenschaftlichen Studien unverkennbar. 
Der Arzt und der Naturforscher betrachtet in der Regel den Men- 
schen und die Geschichte von einem realistischen Standpunkte aus, 
er acceptirt allgemeine Theorien nur dann, wenn sie mit seinen ana- 
lisirenden Beobachtungen übereinstimmen. Dieser realistische Stand- 
punkt ist auch derjenige Marats. Mit psychologischem Scharfsinn. be- 
gabt, erblickt er in dem Menschen kein ideales Geschöpf, die Schat- 
tenseiten desselben treten ihm zuerst entgegen, er ist jeden Augen- 
blick geneigt, an das Schlechte zu glauben, ohne deshalb die Mensech- 
heit als solehe zu verachten. Diese Weltanschauung, die abgesonderte 
Stellung, in welche Marat hineingedrängt wurde, sein unbeugsamer 
excentrischer Charakter sind die Momente, welche der Historiker: bei 
der Beurtheilung dieser merkwürdigen Persönlichkeit nothwendig be- 
rücksichtigen' muss. Von den Schriften, welche Marat vor der Revo- 
lution veröffentlichte, besitzt das Londoner Museum eine vollständige 
Sammlung, die nicht weniger als 20 Bände umfasst, woraus auf die 
angestrengte Thätigkeit dieses unruhigen Geistes geschlossen werden 
kann. ‘Der Ausbruch der Revolution steigerte diese Thätigkeit.. Un- 
mittelbar nach der Eröffnung der Etats-generaux schrieb Marat eine 
politische Brochüre um die andere, ohne dass dieselben ein besonde- 
res Aufsehen erregten. Unermüdlich die öffentliche Meinung bearbei- 
tend, gelangte Marat nur allmälig zu seiner Berühmtheit. Die Pam- 
phlete, welche er während der ersten Monate der Revolution unter 
das Volk schleuderte, zeichnen sich durch eine ruhige, leidenschafts- 
lose Haltung aus, sie bilden den schneidenden Gegensatz zu den spä- 
teren Schriften des Publizisten. In seinem „Avis au peuple* predigt 
Marat seinen Mitbürgern Ruhe und Ordnung, er warnt. sie davor, zu 
den Waffen zu greifen, weil er glaubt, dass die Revolution auf fried- 
lichem Weg durchgeführt werden könne. „Die Minister, die Aristo- 


— 269 — 


kraten, heisst es in jener Schrift, wünschen einen Aufstand zu erre- 
gen; hütet euch, einen solchen zu beginnen, und ihr werdet ihre In- 
triguen vereiteln. Bedenkt, was für unheilvolle Resultate eine auf- 
rührerische Bewegung nach sich ziehen wird, wenn ihr in die Schlinge 
geht. Der Bürgerkrieg bricht aus und der allgemeine Umsturz führt 
die Auflösung der Nationalversammlung‘ herbei. Mögen immerhin Sol- 
daten und Munition in euerer Nähe sich ansammeln, euere Klugheit 
wird jene unschädlich machen. Seid überzeugt, dass, wenn ihr die 
Harmonie, welehe in der Assemblee nationale herrscht, nicht stört, 
die nothwendigste, die grossartigste Revolution durchgeführt wird, 
ohne dass die Nation einen Tropfen Blutes und die 
Menschheit eine einzige Thräne vergiesst.* Dieser gemäs- 
sigte Standpunkt macht dem entgegengesetzten Extrem Platz in dem 
ami du peuple, welchen Marat vom 12ten September 1789 bis zum 
21sten August 1792 publieirte und dem er zunächst seine furchtbare 
Berühmtheit verdankt. In dem Prospekt dieses Journals heisst es: 
„Ich werde die Feinde des Staates bekämpfen, die Verräther denun- 
ciren, und von den öffentlichen Angelegenheiten diejenigen entfernen, 
welehe einen erdichteten Patriotismus zur Schau tragen, diejenigen, 
welche unfähig sind dem Vaterlande zu dienen, sowie die Verdächti- 
gen, die kein Zutrauen einflössen. Meine unerbittliche Feder wird 
nur dem Laster furchtbar sein, immer wird 'sie die Wahrheit ehren, 
Wenn sie ein einziges Mal die Unschuld verletzt, so strafe man den 
Ruchlosen, ‘denn er steht unter dem Gesetz.“ Dieses Programm ist 
bezeichnend, insofern es die vollständige Charakteristik von Marats 
publizistischer und politischer Thätigkeit enthält. Das eigene Ich 
wird von ihm als der absolute und untrügliche Massstab hingestellt, 
und mit einem kühnen Selbstbewusstsein proklamirt der ami du peuple 
seinen politischen Scharfsinn als das drakonische Gesetz, welchem die 
Persönlichkeiten und die Ereignisse sich unterwerfen müssen. Dieser 
Standpunkt, ‘welcher durch den eigenthümlichen Charakter Marats er- 
klärt, nicht aber gerechtfertigt werden kann, ruft nothwendig jener 
Theorie des Verdachtes, welche von dem ami du peuple zum System 
ausgebildet in der französischen Revolution eine so schreckliche An- 
wendung gefunden hat. 

Der Gang der Ereignisse hatte allmälig bei den Anhängern der 
Revolution die Ueberzeugung hervorgerufen, dass die Neugestaltung 
der politischen und socialen Verhältnisse Frankreichs nur nach einem 
erbitterten Kampfe durchgeführt werden könne. Die bald offen bald 


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im Verborgenen sich geltend machende Reaktion des Hofes, die un- 
entschiedene und zweideutige Haltung einer Anzahl von Deputirten in 
der Assemblee nationale bestätigte jene Ansicht. Die royalistischen 
Pamphletäre und Journalisten überhäuften die Vorkämpfer der Revo- 
lution mit den gemeinsten Beschimpfungen, sie drohten zuerst ihren 
Gegnern mit dem Schaffot, eine Thatsache, die weniger bekannt ist, 
aber bei der Charakteristik Marat’s und der revolutionären Presse nicht 
übergangen werden darf. Erst durch die neuesten Forschungen über 
die Geschichte der Revolution, namentlich aber dureh das verdienst- 
volle Werk von Louis Blane, ist die fortwährende Agitation und Reak- 
tion der Anhänger des absoluten Königthums in das richtige Licht 
gestellt worden. Im Gegensatz zu der oberflächlichen Darstellung 
eines Thiers, haben jene Forschungen unter anderem auch nachgewie- 
sen, dass die sogenannten Morde der Foulon und Berthier, die Hin- 
richtung des Marquis Favras, die Steigerung der Hungersnoth, die 
Schreckensscenen in Versailles das Werk der royalistischen Partei ge- 
wesen sind. Sehr natürlich, dass die erbitterte Opposition und die 
gefährlichen Intriguen der Vertheidiger von Thron und Altar dem 
Verdacht des so leicht beweglichen französischen Volkes immer neue 
Nahrung boten. Der ami du peuple machte sich zum Organ dieses 
Verdachtes, und mit dem vollen Bewusstsein von der eigenthümlichen 
Richtung, welche sein Journal verfolgte, nannte sich Marat das Auge 
des Volkes. Seinem Programm entsprechend ist der ami du peuple 
weniger eine Zeitung als ein periodisches Pamphlet, in welchem die 
Gegner der Revolution denunzirt und mit einer Erbitterung bekämpft 
werden, welche nur in den royalistischen Journalen ihres Gleichen 
findet. Kein Organ der revolutionären Presse hat auf die Stimmung 
des Volkes und auf den Gang der Ereignisse einen grösseren Einfluss 
ausgeübt als der ami du peuple. Von seiner unterirdischen Wohnung 
aus ertheilte Marat den Vorstädten seine Befehle, und zog selbst die 
Angelegenheiten des Privatlebens vor sein unsichtbares Tribunal. Wäh- 
rend der Konstituante bekämpfte er die Necker, Lafayette, Bailly, 
Mirabeau und die aristokratische Partei in jener Versammlung, welche 
er mit dem Namen der Schwarzen bezeichnete. Täglich erneuerte der 
ami du peuple seinen Krieg gegen diejenigen, welche er als die Feinde 
des Volkes betrachtete, als die Apostel des Absolutismus. Nur we- 
nige Persönlichkeiten von Bedeutung wurden von seiner scharfen Fe- 
der verschont. Weil die Ereignisse meist seine Denunciationen und 
finstern Prophezeihungen rechtfertigten, so wurde Marat allmälig von 


— 271 — 


dem Volke als ein Genie betrachtet, durch dessen Scharfsinn die 
Feinde der Freiheit entlarvt würden. Als die Assembl&e constituante 
in der öffentlichen Meinung gesunken war und einer- neuen Legislatur 
Platz machte, war Marat eine Autorität. Nach der Flucht des Kö- 
nigs beabsichtigten die Republikaner den Sturz der Monarchie, wurden 
aber durch die vermittelnde Partei in ihrem Vorhaben gehindert. La- 
fayette zerstreute die auf dem Champ de Mars versammelten Volks- 
haufen und rettete das Königthum durch die blutige Anwendung des 
Martialgesetzes. Da erliess der ami du peuple unter dem Titel: „Es 
ist um uns geschehen“ ein Manifest, worin Marat das Bedauern aus- 
sprach, dass das Volk bei seinem ersten Siege nicht ohne weiteres 
500 der unverbesserlichen Aristokraten dem Schaffot überliefert. Die 
entschiedensten Republikaner missbilligten das Manifest. Camille Des- 
moulins schrieb darüber in seinem Journal: „Du predigst grässliche 
Dinge, Marat, fünf bis sechshundert abgeschlagene Köpfe. Du bist der 
Dramaturg unter den Journalisten. Die Danaiden, die Barmekiden 
sind nichts im Vergleich zu den Tragödien, welche du aufführen willst. 
Du würdest alle Personen des Stückes, den Souffleur nicht ausge- 
nommen, ermorden. Verzeihe meiner Jugend, wenn ich es wage, dich 
zu tadeln, aber du kompromittirst in Wahrheit deine Freunde und 
zwingst sie, mit dir zu brechen.* Auf diese Vorwürfe erwiederte 
Marat: „Glaube mir, man wird noch weit mehr Köpfe herunterschla- 
gen!“ Diess genügt, um den Standpunkt des ami du peuple zu be- 
zeichnen. Die literarische Bedeutung dieses Journals ist gering. Ma- 
rat verschmähte es, auf seinen Styl Sorgfalt zu verwenden. Nicht 
durch Worte suchte er auf seine Leser einzuwirken, sondern durch 
Thatsachen. Dessenungeachtet finden sich in dem ami du peuple mit- 
unter Stellen, welche vollendete Muster der Beredsamkeit sind, so 
z. B. wenn Marat dem leichten Volke von Paris schonungslos seine 
Fehler vorhält, oder wenn er die Verfolgungen schildert, denen er 
wiederholt ausgesetzt war. Von neueren Historikern, namentlich von 
Louis Blane, ist Marat mit Recht milder beurtheilt worden als diess 
früher der Fall gewesen. Aber auch bei dem gründlichsten Studium, 
nach einer gewissermassen anatomischen Analyse, erscheint der ami du 
peuple doch. als eine widrige, abstossende Persönlichkeit. Er gleicht 
jenen hässliehen Typen in Vietor Hugo’s Romanen, welche der Dich- 
ter zu den Antithesen seiner idealen Kunstschöpfungen gemacht hat. 
Die edleren Regungen des Menschenherzens sind den Massregeln der 
Gewalt und des Schreckens abgeneigt, und deshalb bleibt Marat eine 


—_- 22 — 


düstere, unheimliche Erscheinung in der Geschichte der französischen 
Revolution. 

Ein freundlicheres Bild gewährt der heitere, trotz mancher Schwä- 
chen überaus liebenswürdige Camille Desmoulins, der bedeutendste Re- 
präsentant jener klassischen Richtung, welche bei der allgemeinen 
Charakteristik der revolutionären Presse als das eine Hauptmoment 
derselben bezeichnet worden ist. Unter den Journalisten der Revolu- 
tionsperiode ist Camille Desmoulins derjenige, dessen Schriften nicht 
allein einen historischen sondern zugleich auch einen bleibenden lite- 
rarischen Werth haben. Durch ein gründliches Studium der griechi- 
schen und lateinischen Autoren hat sich Desmoulins, abgesehen von 
seinem angebornen Talent, die reizende Sprache angeeignet, durch 
welche sich seine literarischen Arbeiten auszeichnen. Das klassische 
Alterthum, von einem französischen Literarhistoriker mit Recht die 
ewige Mutter schöner Formen genannt, war für Camille eine zweite 
Heimat. In einem Briefe an seinen Vater schrieb derselbe: „Hast 
du errathen, dass ich ein Römer sein würde, als du mich Lucius 
Sulpieius Camillus getauft?“ Der geistreiche Journalist und Pam- 
phletär täuschte sich. Weit entfernt von dem Ernst und der Würde 
eines Römers, gleicht er eher einem Hellenen aus dem Zeitalter des 
leichtfertigen Aleibiades. Wie die Robespierre, Saint- Just, Freron, 
Loustalot und andere , gehört Camille Desmoulins zu jener enthusiasti- 
schen Generation, welche durch die Lektüre der klassischen Schrift- 
steller für die Republik begeistert, die Revolution als die Morgen- 
röthe einer neuen Zeit begrüssten, als eine Gelegenheit, ihre demo- 
kratischen Ideen zu verwirklichen. Als während der Jahre 1788 und 
1789 eine Unzahl von Pamphleten auftauchte, publieirte auch Camille 
Desmoulins zwei Brochüren, „das freie Frankreich* und „die Rede der 
Laterne an die Pariser,* welche den literarischen Ruf des bisher un- 
bekannten Verfassers begründeten. Tu einer Notiz des alten Moni- 
teur wird diesen Brochüren ein grosser Einfluss auf die Ereignisse 
des Jahres 1789 zugeschrieben. Die Schrift „vom freien Frankreich“ 
enthält eine Kritik des absoluten Königthums wie es sich allmälig 
in Frankreich ausgebildet hatte, und die Apotheose der demokratischen 
Staatsform, welche von Desmoulins als das letzte Ziel der revolutio- 
nären Bewegung bezeichnet wird. Die Rede der Laterne an die Pa- 
riser ist eine humoristische Predigt, ein Aufruf an die Patrioten, die 
Revolution entschieden durchzuführen. Der Erfolg dieser beiden sa- 
tyrisch-polemischen Schriften veranlasste Camille Desmoulins, sich in 


= 23 — 


der Journalistik zu versuchen. Den 20. November 1789 erschien die 
erste Nummer seines berühmten Journals „Les Revolutions de France 
et de Brabant.“ In einer kurzen Einleitung bezeichnet der Verfasser 
seinen Standpunkt und sagt mit Bezug auf die grossartige Mission, 
welche der Journalistik zu Theil geworden: „Das schönste Schauspiel, 
das sich jedem Menschengeiste dargeboten, besteht ohne Zweifel da- 
rin, diese Bewegung zu beobachten, durch welche alle 'I'hrone Euro- 
pas wankend gemacht und in ihren Grundfesten erschüttert werden. 
Es ist gewiss, dass dereinst ein moderner Taeitus oder Titus Livius 
auftreten wird, um dieses interessante Stück Weltgeschichte zu schrei- 
ben. Für den zukünftigen Historiker gedenke ich die Materialien zu 
sammeln, indem ich den Gang der Revolution in den verschiedenen 
Staaten verfolge und vorzugsweise den Ereignissen in Frankreich meine 
Aufmerksamkeit widme. Diess ist der Zweck meines Journals und das 
können dessen Leser von mir erwarten.“ Die Revolutions de France 
et de Brabant erschienen wöchentlich ein Mal in Lieferungen von un- 
gefähr 50 Seiten, denen interessante Kupferstiche und Karrikaturen 
beigefügt sind. Obgleich eine reiche Quelle für die Geschichte der Re- 
volution, ist dieses Journal doch mehr eine Sammlung von Pamphle- 
ten, worin die Tagesereignisse und die hervorragenden Persönlichkeiten 
bald humoristisch, bald ernsthaft besprochen und kritisirt werden. Genau 
betrachtet ist Camille Desmoulins überhaupt eher ein Pamphletär als 
ein Journalist, denn auch seine berühmte gegen das Schreckenssystem 
gerichtete Schrift „Der alte Kordelier“ ist mit Unrecht als ein Journal 
bezeichnet worden. Weit entfernt von dem Ernst und der Ruhe eines 
Brissot oder Loustalot, besass Camille Desmoulins nicht die Fähigkeit, 
seine Gedanken nach einem bestimmten logischen Plan zu ordnen und 
die Begebenheiten in ihrer natürlichen Reihenfolge zu besprechen. Die 
Sitzungen der Assembl&e nationale, die in derselben diskutirten poli- 
tischen Fragen und die wichtigeren Tagesereignisse dienten dem Ver- 
fasser der Revolutions de France et de Brabant nur als Rahmen zu 
einem satyrischen Gemälde, das freilich oft einen sehr ernsten Hin- 
tergrund hat. In dieser originellen Revue bekämpft Camille Desmou- 
lins gewöhnlich mit der Waffe des Spottes die aristokratischen Mit- 
glieder der: Nationalversammlung ‚* bisweilen jedoch erhebt er sich zu 
jener würdevollen und erhabenen Beredsamkeit, wie wir sie in seinen 
Vorbildern Demosthenes und Cicero bewundern. Die unbändige Phan- 
tasie, die Camille eigen war, lässt ihn nur vorübergehend in dieser 
höheren Sphäre verweilen, sehr schnell ändert er den Ton, um sich 


—_— 274 — 


in gewohnter Weise gehen zu lassen. Wenn Camille Desmoulins an 
einem Gegenstande ein besonderes Gefallen fand, so diskutirte er den- 
selben mit einer Weitschweifigkeit, dass er oft genöthigt war abzu- 
brechen und die Fortsetzung für die nächste Nummer aufzusparen, 
welche Fortsetzung freilich meist ungeschrieben blieb. Seine scharfe 
Feder, welche er mit unendlicher Leichtigkeit zu führen wusste, war 
in seinen Händen ein Dolch, mit welchem er dem Gegner tödtliche 
Wunden versetzte. Ein liebenswürdiger und im Grunde gutmüthiger 
Charakter, besass Camille Desmoulins wenig politischen Scharfsinn, es 
fehlte ihm an der nothwendigen Welt- und Menschenkenntniss. Un- 
besonnen und leichtfertig in seinen Urtheilen,, liess er oft seiner tollen 
Phantasie allzufreien Lauf, wesshalb seine Schriften .von. Robes- 
pierre mit einigem Recht als ein eigenthümliches Gemisch von schö- 
nen Ideen und Absurditäten bezeichnet wurden. Abgesehen von die- 
sen Fehlern sind Camille Desmoulins publizistische Arbeiten in. lite- 
rarischer Beziehung, vollendete Meisterwerke, die in dem berühmten 
Pamphletär der Restaurationsperiode, Paul-Louis Courrier, den einzi- 
gen glücklichen Nachahmer gefunden haben. Desmoulins war. der 
erste, welcher in der Presse das Wort Republik aussprach. Desshalb 
wurden nicht bloss die aristokratischen Mitglieder der Nationalver- 
sammlung von dem sprühenden Feuerwerk seines Witzes überschüttet, 
er bekämpfte ebenso häufig die Anhänger der konstitutionellen Monar- 
chie. Durch seine scharfe und rücksichtslose Polemik hat Camille Des- 
moulins unter allen Journalisten am meisten zum Sturz des König- 
thums beigetragen. Ich kann mich nicht enthalten, wenigstens ein 
Fragment aus den Revolutions de France et de Brabant anzuführen, 
welches genügt, um den originellen Charakter von Camille Desmou- 
lins Journalistik anzudeuten. Das betreffende Fragment ist eine Apo- 
strophe an Bailly, welcher, zum Maire von Paris gewählt, sich mit 
einem aristokratischen Prunk umgeben hatte, der allerdings einem De- 
mokraten anstössig erscheinen musste. „Lasse, mein lieber Bailly, ruft 
Camille Desmoulins aus, lasse dem Satrapen Pharnabazus die kost- 
baren Teppiche. Auf der Erde sitzend, diktirte Agesilaos dem gros- 
sen König von Persien seinen Willen. Lasse diesen äusserlichen Pomp 
den Fürsten und den Würdenträgern der Kirche, der Aberglaube des 
Thrones und des Altars bedarf der Prozessionen, der Ceremonienmei- 
ster, der Dekorationen und der Schauspiele, welche dem Pöbel im- 
poniren, Erinnere dich an den 23. Juni, an jenen Tag, der dir un- 
vergesslich sein muss, als du nach der königlichen Sitzung, ohne 


— 25 — 


Garden und Laquaien durch die Reihen einer dichtgedrängten Volks- 
masse einherschrittest, welche den Präsidenten der Assemble&e nationale 
mit lautem Jubel begrüsste. Diese Prinzen, welche einige Stunden 
vorher in mit 8 Pferden bespannten Kutschen, von einer Menge Gar- 
den und Kammerdiener umgeben, einen wahrhaft asiatischen Luxus 
entfaltet hatten, wie klein waren sie im Vergleich zu dir, den die 
Liebe des Volkes begleitete. Noch immer gehöre ich zu deinen auf- 
riehtigen Anhängern; ich weiss, welche Achtung ich deiner Stellung, 
welche Anerkennung ich deinem Talent und deinen Verdiensten schul- 
dig bin. Aber gerade weil du ein so wichtiges Amt bekleidest, werde 
ich nicht gestatten, dass du dasselbe entehrst.* Nicht bloss in dem 
mitgetheilten Fragment, sondern beinahe auf jeder Seite‘ seines Jour- 
nals spielt Camille Desmoulins auf Ereignisse und Persönlichkeiten des 
Alterthums an. Diese Reminiscenzen sind nicht zufällig, sie sind auch 
nieht ein oratorisches Mittel, sondern das natürliche Resultat von der 
enthusiastischen Vorliebe des Schriftstellers für das klassische Alter- 
thum. Bei den Humanisten der Reformationsperiode, z. B. in den Ele- 
gien eines Ulrich von Hutten, ist die Herbeiziehung von antiken Bil- 
dern oft‘ gekünstelt und unnatürlich. Die Originalität Camille Des- 
moulins besteht gerade darin, dass er seine klassische Gelehrsamkeit 
in einer Weise anzuwenden versteht, die durchaus ungezwungen er- 
scheint. Die Citate aus lateinischen und griechischen Autoren, welche 
in den Schriften Desmoulins immer wiederkehren, werden von ihm 
als ein Werkzeug benutzt, mit welchem er seine Gegner eigentlich zu 
vernichten weiss. Als im Nationalkonvent die Verurtheilung Louis XVI 
diskutirt wurde, schrieb Desmoulins eine Brochüre, welche der Auf- 
merksamkeit sämmtlicher Geschichtschreiber entgangen zu sein scheint. 
Diese Schrift trägt folgendes für den Verfasser charakteristische Motto: 
„Nur die Unschuld ist geheiligt und unverletzlich. Zeige man mir in 
der Geschichte ein erhabeneres Monument als jene Säule, welche die 
Arkadier, nachdem sie ihren König Aristodemus gesteinigt, in dem 
Tempel des Iycischen Zeus errichteten, auf der man ‘diese Inschrift 
las. Die meineidigen Könige werden früher oder später gestraft. Mit 
Zeus Hülfe ist die Treulosigkeit desjenigen entdeckt worden, der Mes- 
sene verrathen hat. Grosser Zeus, Dank sei dir dargebracht!“ Eine 
nicht minder kühne, gegen das Comit& de salut public gerichtete 
Anwendung machte Camille Desmoulins von den bekannten Stellen 
in Taeitus Annalen, in welchen die Schreckensherrschaft des Kaisers 
Tiberius geschildert ist. Die Flugschrift, der alte Cordelier, worin 


— IE — 


jene Anspielungen enthalten sind, das Meisterwerk des genialen Pam- 
phletärs, trug sehr viel zu dem Sturze der Dantonisten bei, deren 
tragisches Schicksal auch Camille Desmoulins theilte. 

Die Revolutions de France et de Brabant, die Journale von Ma- 
rat, Brissot, Loustalot und Mirabeau sind die hervorragendsten Er- 
zeugnisse der revolutionären Presse während des Jahres 1789. Neben 
diesen Journalisten traten aber noch eine Menge anderer auf, welche 
nicht minder energisch, aber mit weniger Talent für die neuen Ideen 
kämpften. Diese zahlreichen Publizisten zweiten Ranges nach be- 
stimmten Gesichtspunkten in Gruppen zu reihen, ist eine Unmöglich- 
keit. Die französische Revolution gehört zu jenen seltenen Perioden 
der Geschichte, in welchen die Ereignisse mächtiger sind als die 
Menschen, in welchen die Ansichten rasch wechseln und die aufge- 
regten Geister von einem unsichtbaren Einfluss gelenkt und vorwärts 
getrieben werden. Die Journale, welche 1789 in Frankreich auf- 
tauchten, lassen sich in zwei grosse Gruppen scheiden, insofern die 
einen als revolutionär, die andern als antirevolutionär oder royalistisch 
bezeichnet werden können. Den speziellen Parteistandpunkt der ein- 
zelnen Blätter als Unterscheidungsmoment anzunehmen ist unmöglich, 
weil mitunter dieselben Journalisten, welche anfänglich nur eine kon- 
stitutionelle Verfassung anstrebten, durch die Ereignisse beherrscht 
und mit. fortgerissen, allmälig einen entschieden demokratischen Stand- 
punkt einnahmen. 

Unter den 1789 entstandenen Journalen, welche weniger bedeu- 
tend sind, aber doch wegen ihres politischen Einflusses, wegen ihrer 
literarischen Eigenschaften und als historische Quellen einen gewissen 
Werth haben, nimmt der Point du jour von Barere die erste Stelle 
ein. Dieses Blatt, welches vom 19ten Juni 1789 bis zum ersten 
Oktober 1791 erschien, enthält weiter nichts als die Berichterstattung 
über die Verhandlungen der Assemblee nationale. Indem Barere sich 
auf diesen Stoff beschränkte, widmete er demselben eine sorgfältige, 
die geringsten Details berücksichtigende Aufmerksamkeit. Allerdings 
vom revolutionären Standpunkt aus geschrieben, enthält der Point du 
jour die objektivste und genaueste Geschichte der Assemblee nationale. 
Die Reden, welche in derselben gehalten wurden, alle Einzelnheiten 
der Verhandlungen sind wörtlich wiedergegeben. Die geschickte, mit- 
unter wahrhaft künstlerische Anordnung des Stoffes, der feine, präg- 
nante Styl, bezeugen das literarische Talent Barere’s, welches in des- 
sen berühmten Rapporten aus der Zeit des Nationalkonvents noch 


, 


— 2717 — 


glänzender hervortritt. Der Point du jour ist mit Bezug auf den von ihm 
behandelten Gegenstand, d.h. für die Geschichte der Assembl&e nationale 
eine weit bessere und ausführlichere Quelle, als der bekannte Moniteur, 
welcher im November 1789 seine vornehme Laufbahn begann. Za 
allen Zeiten Sinekure mittelmässiger Literaten, ist der Moniteur für 
die Geschichte der Revolution keineswegs eine so objektive historische 
Quelle, wie man gewöhnlich annimmt. Es ist natürlich, dass der 
Standpunkt der jedesmal am Ruder befindlichen Partei mehr oder we- 
niger durchschimmert. Mit Louvet von Couvray gründete Barere im 
August 1789 noch ein anderes Journal, welches gegenwärtig noch be- 
steht und seinen revolutionären Ursprung nicht ganz verläugnet. Es 
ist diess das Journal des Debats et Deerets, ursprünglich nichts an- 
deres als ein gedrängter Abriss des Point du jour. 

Weniger bedeutend als Bar&re ist der Journalist Gorsas, welcher 
vom. Sten Juli 1789 bis zum Sturze der Girondisten einen Courrier 
de Versailles & Paris et de Paris ä Versailles schrieb. Dieses Blatt, 
welches unter dem Nationalkonvent eine traurige Berühmtheit erlangte 
durch die wahrhaft fanatische Erbitterung, mit der es die Partei der 
Montagnards bekämpfte, war anfänglich viel gemässigter aufgetreten. 
So lange ‘der Sieg der Volkspartei zweifelhaft erschien, war Gorsas 
stets darauf bedacht, durch sein Journal möglichst wenig Anstoss zu 
geben, und sich immer zu derjenigen Partei zu bekennen, welche den 
grössten Einfluss besass.. Er gehört zu jener nie aussterbenden, ver- 
ächtlichen Klasse von Journalisten, welche mit schön klingenden Phra- 
sen‘ von Berechtigung aller politischen Standpunkte u. s. w. kurzsich- 
tige Leser zu täuschen wissen. Den Sturm auf die Bastille nannte 
Gorsas ein ‚unglückliches Ereigniss, was ihn nicht hinderte, ein Jahr 
später die kühnsten Angriffe gegen das Königthum zu richten. Für 
den Historiker hat der Courrier de Versailles insofern Werth, weil in 
demselben eine Anzahl sehr interessanter Aktenstücke enthalten sind, 
die ‚sich ‚anderswo nicht finden. So enthält z. B. der Courrier de 
Versailles vom 16ten August 1789 den Angrifisplan, welchen die Hof- 
partei unmittelbar vor der Erstürmung der Bastille entworfen hatte, 
um die, Revolution zu unterdrücken, ein Projekt, dessen Ausführung 
durch den Aufstand des Volkes verhindert wurde. 

»s »Konsequenter als Gorsas ist der als Literat und Philosoph be- 
rühmte Condorcet, welcher auch auf dem Gebiet der Publizistik eine 
sehr bedeutende Stellung einnimmt, obgleich er nie ein eigenes Jour- 
nal geschrieben hat. Mit Garat redigirte Condorcet seit dem 1sten Mai 


_— 278 — 


1789 das Journal de Paris, und lieferte ausserdem noch eine Menge 
glänzender Arbeiten für die Chronique de Paris, welches Blatt im 
August 1789 von Rabaut Saint-Etienne und Ducos gegründet wurde. 
Ein gemässigter Republikaner, ‘der seinen Ansichten unentwegt treu 
blieb, ist Condorcet in jeder Beziehung einer der schönsten Charak- 
tere der Revolutionsperiode. Unter seinen zahlreichen publizistischen 
Arbeiten sind namentlich diejenigen bemerkenswerth, welche die Or- 
ganisation des öffentlichen Unterrichtes behandeln. Es ist charakte- 
ristisch, dass dieser Gegenstand nicht bloss von Condorcet, sondern 
von sämmtlichen Organen der revolutionären Presse wiederholt disku- 
tirt wurde. Die Vorkämpfer der Revolution waren von der richtigen 
Ansicht durchdrungen, dass Volksbildung Volksfreiheit sei. Desshalb 
verlangten sie die Einführung der Primarschulen und die Verbesse- 
rung des öffentlichen Unterrichtes überhaupt. Wären diese Reformen, 
in der Weise wie sie von Condorcet, Brissot, Robespierre und ande- 
ren befürwortet wurden, ins Leben getreten, hätte nicht zunächst Deutsch- 
land, d. h. Oestreich und Preussen die friedliche Entwicklung der fran- 
zösischen Revolution gestört, so würde dieselbe viel grossartigere Re- 
sultate erreicht haben. Jede Revolution in Frankreich, welche anstatt 
der von Condorcet angeregten Reformen, die Organisation der Arbeit 
und andere Utopien durchführen will, kann von vorne herein als miss- 
lungen betrachtet werden, eine Ansicht, von deren Wahrheit gegen- 
wärtig auch der spezifische Organisateur du travail Louis Blanc voll- 
ständig überzeugt ist. 

Während die journalistischen Arbeiten von Condorcet sich aus- 
schliesslich mit allgemeinen Fragen beschäftigen, widmeten seine Freunde 
und Gesinnungsgenossen Mereier und Carra ihre Aufmerksamkeit mehr 
den Tagesereignissen. Das von diesen beiden Literaten redigirte Jour- 
nal, die Annales patriotiques, enthält nicht nur eine vortreffliche Ana- 
lyse der Verhandlungen der Assemblee nationale, sondern zugleich auch 
unter dem Titel variet6s eine Uebersicht von den Begebenheiten in 
Paris und den Provinzen. Wegen dieser reichen Details sind die An- 
nales patriotiques eine Hauptquelle für die Geschichte der Revolution. 
Ueberdiess hat dieses Blatt auch einen literarischen Werth, weil der 
reichhaltige Stoff zu einem organischen Ganzen verarbeitet ist. Von 
einem gemässigten Standpunkt aus geschrieben, sind die Annales pa- 
triotiques ein Journal im eigentlichen Sinne des Wortes, nicht eine 
Reihe von Pamphleten wie die Revolutions des France et de Brabant 
von Camille Desmoulins und der ami du peuple von Marat. Carra 


Te ER Ba 


— 279 — 


gehörte wie Condorcet zu der Partei der Girondisten, mit welchen er 
das Blutgerüst bestieg. 

Den Gegensatz zu den Annales patriotiques bildet der Orateur 
du peuple von Freron, ein Journal, welches mehr in die Kategorie der 
von Desmoulins uud Marat publizirten Blätter gehört, insofern das- 
selbe, obgleich täglich erscheinend, gleichfalls nicht eine eigentliche 
Zeitung ist, sondern mehr den Charakter eines Pamphletes an sich trägt. 
Freron verdankte seine Berühmtheit zunächst dem Orateur du peuple, 
noch mehr aber der bedeutenden Rolle, welche er später in dem Kampfe 
der sogenannten Thermidorianer gegen Robespierre und dessen Par- 
tei gespielt hat. Der Orateur du peuple enthält wenig Einzelnheiten 
über die Ereignisse und über die Verhandlungen der Assemblee na- 
tionale, er beschränkt sich fast ausschliesslich auf die persönliche Op- 
position, auf eine subjektive Kritik, deren schneidende Schärfe und 
Kühnheit nur von Marat übertroffen wurde. Freron beginnt jede Num- 
mer seines Blattes mit einer allgemeinen Betrachtung über die Situa- 
tion von Paris oder die Vorfälle in den Provinzen. Daran knüpft sich 
immer eine längere oder kürzere Rede, welche direkt an das Volk 
gerichtet ist. Dieser individuelle Standpunkt erklärt den Einfluss, 
welchen der Journalist erlangte, zugleich aber auch den deklamato- 
rischen Styl desselben. Die Ereignisse haben für Freron nur insofern 
Bedeutung, als ihm dieselben ein Mittel an die Hand geben, um auf 
die Gemüther einzuwirken und die Leidenschaften der Menge fortwäh- 
rend in Thätigkeit zu erhalten. Ohne ein sachliches Prinzip beschäf- 
tigt sich der Orateur du peuple immer mit einer Menge von Personen 
und Ereignissen, welche den bunten Stoff bilden, an welchem der Jour- 
nalist seine Kritik ausübt. Wie Marat gehört Freron zu den volks- 
thümlichen Publizisten, deren Schriften in literarischer Hinsicht sich 
nur selten über die Mittelmässigkeit erheben. Doch finden wir hie 
und da auch in dem Orateur du peuple Stellen, die in formeller Hin- 
sicht vollendet, zugleich dem Charakter des Publizisten zur Ehre ge- 
reichen. So ist z. B. der Nachruf, welchen Freron seinem verstor- 
benen Gegner Mirabeau widmete, ausgezeichnet durch Einfachheit und 
noble Gesinnung. Dieser Nachruf schliesst mit den schönen Worten: 
„Während die Asche des Redners noch warm ist, geziemt es sich 
nicht, die Vorwürfe aufzuzählen, die demselben mit Recht gemacht 
werden können. Er steht gegenwärtig vor Gott, um gerichtet zu wer- 
den, und der Geschichte ist es vorbehalten, seinen Charakter zu be- 
urtheilen. Ich begnüge mich, seinem erhabenen Talent meine unbe- 


— 280 — 


dingte Anerkennung zu zollen. Ohne Mirabeau hätten die Deputirten 
des dritten Standes gegenüber dem Despotismus und der Aristokratie 
niemals jene Energie, jene Würde gezeigt, wie sie den Repräsentan- 
ten einer grossen Nation ansteht. Wie sehr ist es zu bedauern, dass 
derselbe gegen das Ende seiner Laufbahn seinen Patriotismus und 
sein Talent elenden Rücksichten unterordnete. Wäre er beständig die 
Stütze der Freiheit gewesen, die Trauer wäre allgemein und ich würde 
diess Papier mit meinen 'Thränen benetzen.“ 

Während der Orateur du peuple und die übrigen Organe der re- 
volutionären Presse den verstorbenen Mirabeau milde beurtheilten, schleu- 
derten die royalistischen Blätter eine Unmasse von Spottversen und 
Satyren gegen den todten Redner, deren bis auf die Spitze getriebene 
Gemeinheit mit dem allgemeinen Charakter der royalistischen Presse 
vollständig übereinstimmt. Die Organe dieser royalistischen Presse 
bilden überhaupt den schroffen Gegensatz zu der revolutionären Publi- 
zistik, deren hervorragende Repräsentanten in dem Bisherigen echa- 
rakterisirt worden sind. Anfänglich hatten sich die Anhänger des 
absoluten Königthums darauf beschränkt, die Revolution in einer Menge 
von fliegenden Blättern und Brochüren zu bekämpfen. Diese Pam- 
phlete, eine von den Geschichtschreibern noch beinahe unbenutzte Quelle, 
behandeln nur selten allgemeine Fragen, sie bewegen sich mehr auf 
dem Gebiet der Persönlichkeiten, und indem sie sich der Waffe des 
Spottes und der Verleumdung bedienen, appelliren sie rücksichtlos an 
die Gewalt, an die Entscheidung durch die Waffen. Erst in den letz- 
ten Monaten des Jahres 1789, als die revolutionäre Presse allein in 
Paris mehr als 100 Organe zählte, trat an die Stelle jener obnmäch- 
tigen Pamphlete eine Anzahl von Journalen, welche gegen die Sturm- 
Auth der revolutionären Ideen einen Damm zu bilden versuchten. Die 
bedeutendsten unter diesen Journalen sind: die Gazette de Paris von 
Durozoy, die Actes des Apötres von Peltier und das Journal general 
de la cour et de la ville, bekannter unter dem Namen le petit Gau- 
thier. Wer in diesen Blättern die ebenbürtigen‘ Gegner der Organe 
eines Mirabeau, Loustalot oder Brissot zu finden glaubt, täuscht sich. 
Es war allerdings eine schwierige Aufgabe, die abgestorbenen Zu- 
stände, welche mit der geistigen und materiellen Entwieklung. der 
französischen Nation im Widerspruch standen zu vertheidigen. Die 
Vergangenheit bot auch nieht eineu einzigen Anhaltspunkt, von’ welehem 
die royalistische Presse ausgehen konnte, und erst einer späteren Zeit 
war es vorbehalten, jene mittelalterliche Romantik zu erfinden, (als 


a 


— 2211 — 


bereits auf den Trümmern des alten Frankreich sich ein neues Ge- 
bäude erhoben hatte. Die Philosophen des 18ten Jahrhunderts hatten 
auf die Krankheitssymptome des politischen und socialen Lebens hin- 
gewiesen, und die Nothwendigkeit einer gründlichen Reform darge- 
than. In den Köpfen der kühnen Denker war die Revolution mit 
allen ihren Konsequenzen längst fertig, als das Käönigthum den Ver- 
such machte, vermittelst einiger Reformen dem in Verwesung begrif- 
fenen Staatskörper neues Leben einzuhauchen. Indem die royalisti- 
sche Presse nicht allein diese Reformen, sondern die neuen Ideen über- 
haupt bekämpfte, war sie bei der allgemeinen Strömung des revolu- 
tionären Geistes von vorne herein zur Ohnmacht verurtheilt. Wäh- 
rend die revolutionären Publizisten dem Instinkt der Nation Worte 
liehen und etwas Positives zu erreichen suchten, beschränkte sich die 
royalistische Presse auf die blosse Negation, auf eine beissende Ktri- 
tik, die sich der Satyre und des Witzes bediente, eines Mittels, das 
zu allen Zeiten nur einem schwachen Gegner gegenüber wirksam ist. 
Die royalistische Opposition hatte nur den Vortheil, dass sie, mit den 
Ideen der Autorität befreundet, sich ohne Widerstand der Leitung 
ihrer Führer unterwarf und eine abgeschlossene Phalanx bildete, welche 
konsequent ein und dasselbe Ziel verfolgte. Im Lager der Revolu- 
tion herrschte ebenfalls eine gewisse Einheit, aber nur eine beschränkte, 
insofern schon im Jahr 1789 in der revolutionären Presse und unter 
den Anhängern der neuen Ideen überhaupt die mannigfaltigsten Par- 
teinüancen hervortraten. Mirabeau kämpfte für eine Repräsentativ- 
verfassung, welche die Macht des Königthums beschränkte, aber das 
monarchische Prinzip nicht beseitigte. Brissot ging schon weiter, in- 
dem er den Monarchen nur als Mandatar des Volkes, als die höchste 
Magistratsperson betrachtet wissen wollte. Die grosse Mehrzahl der 
revolutionären Publizisten theilte anfänglich den Standpunkt Brissots, 
sehr bald jedoch vertauschten sie denselben mit einem entschieden 
demokratischen. Die Anstrengungen der revolutionären Presse hätten 
schon nach der Flucht des Königs die Beseitigung der monarchischen 
Staatsform durchgesetzt, wenn nicht die Majorität der Constituante und 
die über ihren eigenen Sieg erschrockene Bourgeoisie durch Stand- 
recht und Gewaltmassregeln den wankenden Thron aufrecht erhalten 
hätten. Gegen das Ende des Jahres 1791 hatte die revolutionäre 
Presse einen grossen Theil ihres Einflusses verloren. Das Königthum 
und die royalistischen Publizisten arbeiteten dafür, diesen Finfluss wie- 
der herzustellen und bahnten selbst der Republik den Weg. Inso- 
Wissenschaftliche Monatsschrift, 111. 19 


— 2832 — 


fern hat allerdings die royalistische Presse schon während des Jahres 
1789 eine gewisse Bedeutung, welche von sämmtlichen französischen Ge- 
schichtschreibern entweder verkannt oder wenigstens nicht scharf ge- 
nug hervorgehoben worden ist, weil dieselben bei ihren Quellenstu- 
” dien nicht mit der soliden Gründlichkeit verfahren sind, die dem 
deutschen Historiker eigen ist. Hüte man sich, gestützt auf die Lek- 
türe einiger oberflächlicher Geschichtswerke, die französische Revolu- 
tion beurtheilen zu wollen, hüte man sich über die düsteren Partien 
des grossen Dramas einseitig abzusprechen. Die Organe der royalisti- 
schen Presse waren es, welche die Gemüther an eine leidenschaft- 
liche, erbitterte Polemik gewöhnten und an die Ideen der Gewalt und 
der Rache. Bevor der ami du peuple die Köpfe von 500 unverbes- 
serlichen Aristokraten verlangte, um die Revolution durchzuführen, 
hatten die royalistischen Blätter den allgemeinen Bürgerkrieg gepre- 
digt, mit Confiskationen und Hinrichtungen gedroht, und die bewaff- 
nete Intervention des Auslandes angerufen. Die Stimme der Gemäs- 
sigteren unter den Anhängern des Königthums verhallte wirkungslos, 
und indem jene fanatischen Publizisten die geheimen Hoffnungen und 
Wünsche ihrer Partei rücksichtslos aussprachen, veranlassten sie die 
demokratischen Blätter zu Repressalien und erbitterten die öffentliche 
Meinung, bis zuletzt diese Erbitterung den Urhebern derselben ver- 
derblich wurde. Mit dem excentrischen Standpunkt der royalistischen 
Journale harmonirte deren gemeine, allen Anstand verletzende Sprache, 
die zu der würdevollen Beredsamkeit der grossen Mehrzal der revo- 
lutionären Publizisten den schroffen Gegensatz bildet. Diese Letzte- 
ren als die Träger grosser Ideen, welche in allen empfänglichen Her- 
zen ein Echo fanden, wurden nothwendig zu einer idealeren Weltan- 
schauung emporgehoben, welche auf ihre Gesinnung und auf ihre 
Sprache einen läuternden Einfluss ausübte. Die royalistische Presse 
bekämpfte jene allgemeinen Ideen im Namen egoistischer Privatinter- 
essen, sie bemühte sich witzig und geistreich zu sein, und die neuen 


Sitten, welche durch die veränderten Verhältnisse hervorgerufen wur- 


den, zu verspotten. Diese Anspielungen und Satyren, welche die 
royalistische Partei gegen ihre Gegner schleuderte, waren nur die letz- 
ten Zuckungen eines Sterbenden, der seinen Tod noch fern glaubt. 
Der allgemeinen Strömung des revolutionären Geistes gegenüber ohn- 
mächtig, beschränkten sich die royalistischen Journalisten fast aus- 
schliesslich auf das Gebiet der Persönlichkeiten und amüsirten ihre 
Leser durch schmutzige Wortspiele und gemeine Zoten, welche die 


m 


—_— 283 — 


raffinirte, zu einer Kunst ausgebildete Sinnlichkeit der modernen fran- 
zösischen Romanenliteratur weit übertreffen. Die Gazette du Roi, der 
kleine Gauthier und die Actes des Apötres enthalten eine Unmasse 
schmutziger Anspielungen, welche ohne ein besonderes Studium und 
ohne ausgedehnte Kenntnisse der Revolutionsgeschichte oft unverständ- 
lich sind. Dabei ist es bezeichnend, dass die Organe der royalisti- 
schen Presse meist von vornehmen Literaten geschrieben wurden, 
welche den höheren Klassen der Gesellschaft angehörten, von Geist- 
lichen, feingebildeten Höflingen und Professoren. Es genügt, auch 
nur einige wenige Fragmente dieser ekelhaften Literatur gelesen zu 
haben, um sich von der gründlichen Verdorbenheit der höheren Stände 
in Frankreich unmittelbar vor der Revolution zu überzeugen. Mag 
man immerhin den exaltirten Standpunkt und die oft rohe Ausdrucks- 
weise eines Marat oder Hebert anstössig finden, so lässt sich nicht 
läugnen, dass dieselben eine gewisse moralische Grundlage besassen. 
Niemals bediente sich der ami du peuple und sein Gesinnungsgenosse 
der pere Duchesne zweideutiger Anspielungen und gemeiner Witze, 
wie sie sich massenhaft in den royalistischen Journalen finden. Von 
den Camille Desmoulins, Marat und anderen revolutionären Publizi- 
sten täglich angegriffen, wurden die Vertheidiger des absoluten Kö: 
nigthufns im eigentlichen Sinne des Wortes vernichtet und der Ver- 
achtung preisgegeben. Die bedeutenderen Organe der revolutionären 
Presse nahmen die Invektiven ihrer Gegner hin, ohne darauf zu ant- 
worten. Als Brissot in dem von Mallet du Pan redigirten Mercure 
de France verläumdet wurde, erwiederte er in seinem Patriote frangais: 
„Es wird mir gesagt, dass in gewissen Blättern wiederholt die elen- 
desten Verläumdungen gegen mich geschleudert werden. Dergleichen 
Angriffe sind für einen rechtschaffenen Mann nicht gefährlich. Telum 
imbelle sine ictu. Seit sechs Monaten lese ich den Mercure de France 
nicht mehr. Ich will ihn dem Schmutze überlassen, in welchem er 
sich wälzt, und weder meine Lippen noch meine Feder mit seinem 
Namen beflecken. Ich habe viel Nützlicheres zu thun, und gedenke 
geraden Weges auf mein Ziel los zu gehen, ohne mich damit zu be- 
lustigen, Insekten zu zertreten.“ 

Es war meine Absicht, in dieser Arbeit nur diejenigen Journale 
zu besprechen, welche während des Jahres 1789 auftauchten. Auch 
abgesehen davon, dass ich mich nothwendig auf eine allgemeine Cha- 
rakteristik und auf die Beurtheilung der hervorragendsten Erzeugnisse 
der revolutionären und der royalistischen Presse beschränken musste, 


— 93 — 


bleibt meine Arbeit ein Fragment, welches nur darauf Anspruch macht, 
einen Gegenstand behandelt zu haben, worüber sich in den gewöhn- 
lichen Geschichtsbüchern wenig oder nichts vorfindet. Trotz der zahl- 
reichen Werke über die französische Revolution, kann auf diesem Ge- 
biete noch unendlich viel geleistet werden, wenn anders der Histori- 
ker nicht bei den äusseren, auf der Oberfläche befindlichen Thatsachen 
stehen bleibt. In unserem materiellen Zeitalter ist es namentlich für 
die jüngere Generation nothwendig, die Anfänge der neuesten Ge- 
schichte genau zu kennen, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass 
hinter den materiellen Interessen der Gegenwart geistige Triebfedern 
verborgen sind. 


Sanskrit, Sprachvergleichung und Herr Professor L. Ross 
in Halle. 


Von H, SCHWEIZER. 


Leiser und leiser werden allmählich die Aeusserungen des Unwil- 
lens gegen die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete der Sprache, 
unter welchen doch Kunde und Verwendung der Sanskrita und von ihr 
ausgegangene und befruchtete Sprachvergleichung und Sprachwissen- 
schaft eine Hauptstelle einnehmen; nur noch da und dort meint ein Ver- 
treter der klassischen Philologie vom Katheder herab mit einem eiteln 
Witzworte auf seine Jünger, welche bekanntlich leicht von mehrerer 
Arbeit abzubringen sind, gegen die immerhin noch neue Sucht, so viel 
er vermag, wirken zu sollen, als ob die einzig und einzigen grossen 
Schöpfungen des Alterthums durch dieses Anhängsel verletzt und 
mindestens ihr Studium verkürzt würde; nur da und dort noch 
meint ein junger Gelehrter, der auch sonst Gehalt genug hätte, 
seine Abhandlungen oder Recensionen durch e’ne leichtfertige Bemer- 
kung gegen die „Sprachvergleicher* würzen zu müssen. Grosse Phi- 
lologen der Neuzeit, wie weiland O. Müller in Göttingen, der in 
seinem Greisenalter jugendliche Böckh u. a., deren Blick tiefer und 
weiter geht, äussern sich unverholen dahin, dass die neuere Kunde 
wenigstens für das innigere-Verständniss der Sprachen des klassischen 
Alterthums unumgänglich nothwendig sei; und O. Müller bethätigte 
seinen Ausspruch glänzend als Docent; waren doch seine Vorlesun- 
gen über lateinische und griechische Grammatik und über Mythologie 
in den letzten Jahren seines kurzen aber vollen Lebens frische Zeu- 
gen davon, mit welchem Muthe er, der bedeutendste Archäolog seiner 
Zeit, sich auch in die neue Richtung der Sprachforschung hineingear- 
beitet, mit welcher Sicherheit er sich schon darin bewegte. Freilich 
ist es in Deutschland noch eine sehr sporadische Erscheinung, dass in 
philologischen Prüfungen auf eine etwelche Kenntniss von Sanskrit und 
Sprachvergleichung gedrungen wird, wird ja doch da nicht einmal hi- 
storische Kunde der eigenen Muttersprache verlangt; und noch selte- 
ner gewinnen jene, wie etwa in Kiel, selbst wo alle Gelegenheit sich 


—_— 286 — 


böte, in den Seminarien etwelche Geltung, während in England und 
Frankreich diese Richtung von oben herab immer mehr begünstigt wird. 
In sehr gediegenen, vielleicht mit in den gediegensten Geschichtswerken 
unserer Zeit sind die diesfälligen Forschungen allseitig und treu be- 
nutzt, die Völkerverwandtschaften und Völkerverschiedenheiten, wie 
sie sich aus dem Charakter der Sprache ergeben, eingetragen, die 
Culturabstufungen verzeichnet, wie sie sich nach den gleichen fer- 
tigen Bezeichnungen der Gegenstände und durch Vergleichung von Ue- 
berlieferungen aller Art erschliessen und oft ziemlich scharf unterschei- 
den lassen, und es ergibt sich aus diesen Büchern, dass ihre Ver- 
fasser gelernt haben das Altererbte und auf dem alten Grunde selb- 
ständig Fortentwickelte wohl zu trennen von dem bloss zufällig Ent- 
lehnten und bald roh Gelassenen, bald zu frischer Verjüngung in 
den Brunnen der Heimat Getünchten. In diesem Sinne schreiben 
Duncker, Mommsen, Curtius Geschichte. Curtius’ und besonders des 
geistvollen Mommsen Buch regte Herrn Ross in Halle aufs äusserste 
auf, und er sandte eiue Schrift hinaus „Italiker und Gräken. Spra- 
chen die Römer Sanskrit oder Griechisch? * stofflich erwachsen aus 
alter Gewohnheit sich mit Vergleichung von Griechisch und Lateinisch 
zu beschäftigen, die er jetzt in schlaflosen Nächten oder an schmerz- 
erfüllten Tagen, wenn er zu jeder andern Arbeit unfähig ist, in sei- 
nem Geiste fortsetzt. In dieser geharnischten Schrift will Ross be- 
weisen, dass die Bewohner Italiens, und zwar alle, also auch Mes- 
sapier und selbst die sicher anderm Stamme angehörigen Etruscer ein 
verhunztes Griechisch gesprochen, wie das, nur nicht so schroff, auch 
der geistreiche Döderlein behauptet hat, und diese Meinung selbst in 
dessen neuesten Büchern noch durchblickt; es seien aber die Grie- 
chen selbst in ihren religiösen Anregungen und in ihrer Sprache ja 
nicht etwa von Indien her, oder bestimmen wir gleich richtiger und 
genauer, vom Sanskritvolke infieiert, eher dürfte Aegypten ein Ein- 
fluss eingeräumt werden.  Beiläufig äussert sich Ross. überhaupt über 
Sanskrit und Sanskritstudien in Deutschland — sie leben freilich auch 
in England, in Frankreich, in Italien — gar sehr despectierlich; er 
selbst verstehe zwar nichts davon, aber er sehe an den Früchten, dass 
sie kein Heil gebracht; er meint sogar, es frage sich sehr, ob das 
Sanskrit und seine Literatur so alt seien, und ob die vielgestaltigen 
und fratzenhaften Götter der Indier nicht am Ende nur entstellte Ab- 
klatsche der ägyptischen Götter seien, statt älter zu sein als sie. — 
Wie sich bald von selbst ergeben wird, ist schon die Titelfrage der 


— ME 


Ross’schen Schrift eine durchaus schiefe und beweist uns, wie des 
Verfassers übrige Behauptungen, die er in der Vorrede aufgethürmt, 
dass er sich in vollkommenster Unkunde über Gang und Stand der 
hier einschlagenden Forschungen befindet. Niemand ja hat behauptet, 
dass die alten Italer oder etwa die Germanen oder Kelten, sei es 
ein reines, sei es ein verhunztes Sanskrit geredet, und ebenso wenig 
läugnet die neuere Forschung, dass der grösste Theil der alten Ita- 
ler einstmals mit den Griechen einen Stamm ausmachten; nur lässt 
sie es nicht gelten, dass in Italien das ererbte Element bloss verderbt 
worden sei, sondern sie weist eine selbständige und wieder mehrfach 
gegliederte Entwicklung nach, die allerdings, da die alte Welt so 
wenig als die neue, nicht mit Wand und Mauer unter sich abge- 
schlossen war, von den nähern und ferneren Nachbarn auch ferner- 
hin noch influenziert wurde. Nicht um Herrn Ross zu widerlegen, 
was an seiner längst bekannten Individualität scheitern müsste, und 
nicht, um durch einen kleinen Verdruss seine Leiden, die wir ihm 
herzlich gerne in Freuden verkehren möchten, zu vermehren, sondern 
allein, um auch unserseits etwas dazu beizutragen, dass diese neuen 
Wissenschaftszweige, die Sanskritphilologie und die sich daran an- 
schliessende Sprachvergleichung, in ihrem wahren Lichte und in ihrer 
rechten Stellung erscheinen, versuchen wir sie in grossen Zügen zu 
zeichnen und treten dann auf Einzelnes in dem Ross’schen Buche ein, 
was uns natürlich wieder das Ganze beleuchten muss. Wir führen 
nicht aus, wie in frühern Zeiten, nicht etwa bloss im wirklichen Al- 
terthum, auch von Philologen der Neuzeit, etymologisiert wurde, wo 
der Vokal nichts galt, der Consonant aber nicht respektiert zu werden 
brauchte, wo überhaupt, ganz wie es Ross $. 16 für sich anspricht, 
angenommen ward, dass es auf dem Gebiete der Sprachvergleichung 
keine Regeln (!) gebe; wir führen nicht aus, wie beschränkt meisten- 
theils, mögen wir auf den zur Vergleichung verwendeten Stoff oder 
auf den Umfang der Forschung sehen, die Vergleichung war, da 
ausser dem Lateinischen und Griechischen, und zwar immer so, dass 
das Griechische als das Uebergeordnete und als die fruchtbare und 
durchsichtige Quelle galt, höchstens noch auch das heilige Hebräisch 
beigezogen ward; da man meist nur ganze Wörter verglich, und die 
Gestaltung von Wurzel und Stamm, die Formung zur Rede unbeachtet 
und unausgeschieden liess; ich führe nicht aus, wie man sich noch 
unfähig, mindestens nicht angeregt fühlten innerhalb ein und derselben 
Sprache geschichtlich zu verfahren, Aelteres und Jüngeres der Zeit 


— 288 — 


oder dem inneren Wesen nach zu scheiden, Dialecte und Mundarten 
auf höhere Einheiten zurückzuführen; wir gehen nicht auf den an sich 
interessanten Nachweis aus, wie Sprache und Litteratur des Sans- 
kritvolkes erst nach und nach für uns hervorgetreten, wie sie erst all- 
mählich ihrem vollen Wesen und ihrer Bedeutsamkeit nach erkannt und 
im grossen Zusammenhange mit der gesammten menschlichen Geistes- 
entwicklung verwendet worden. Wir besprechen hier nur drei Punkte 
im Kurzen: den Werth der Sanskritspraghe und der Sanskritlitteratur 
oder genauer: den Werth der Sprache und Litteratur der arischen In- 
der; die Bedeutung dieser Sprache für Sprachvergleichung, ihren Ein- 
fluss auf diese und die Sprachwissenschaft, einzelne besondere Ergeb- 
nisse und Früchte. Zuletzt schliessen wir mit einer gedrängten Ver- 
gleichung des Ross’chen Buches mit solchen Ergebnissen. 

Wem es überhaupt damit Ernst ist den Menschengeist, wie er ge- 
waltig durch die Geschichte braust oder linde weht, in allen seinen Ent- 
wieklungen zu schauen, und wer diesen Entwicklungen mit Liebe nach- 
geht und dabei Erbauung und Schmerz zu finden vermag, für den kann 
eine Litteratur nicht todt da liegen, die sich von Anfang bis zu Ende 
in allen möglichen Richtungen entfaltet hat, bei der man Zug um Zug 
die strenge Nothwendigkeit gerade dieser Weise der Entfaltung, und 
einer höchst eigenthümlichen Weise verfolgen und mehr und mehr 
nachweisen kann. So reich von Anfang bis zu Ende, wie die indische 
Litteratur, liegt uns, sehen wir auf die zeitliche Entwiekelung, nicht 
einmal die griechische, geschweige denn die römische vor, eher noch 
lässt sich dem inneren Gehalte nach die gesammte germanische ver- 
gleichen. Können wir doch in der Sanskritlitteratur das Sanskritvolk 
von der Stufe ganz natürlicher Anschauungen an, in denen Erhaben- 
heit und Naivität noch in buntem Widerspiele sich ı bewegen, durch 
die Phasen hierarchischer Färbung und bald zersetzender Logik und 
tieferer Speculation, bald wüster Mystik, bald feinerer und allge- 
mein menschlicher, bald ausschweifender Sinnlichkeit bis zu seinem 
Verkommen begleiten; mag es doch immer mehr gelingen in aller 
wünschbaren Schärfe darzuthun, warum hier keine echte Geschicht- 
schreibung, warum keine ausgebaute Prosa sich aufthaten. Es ist 
hier nicht der Ort diese Sätze im Einzelnen auszuführen, zumal da 
wir jetzt schon so glücklihh sind auf Bücher von Lassen, Roth 
und besonders in dieser Richtung des unermüdlichen Albrecht 
Weber hinweisen zu können. Nur bei der ersten Periode der in- 
dischen Litteratur, derjenigen der Veden, wollen wir einen Augenblik 


—- 289 — 


verweilen. Nieht sowohl nach äussern als nach innern Gründen dür- 
fon wir behaupten, dass uns in einzelnen Theilen der Veden über- 
haupt die ältesten Denkmale menschlichen Dichtens vorliegen, — wir 
sagen in einzelnen Theilen; denn nicht nur sind nicht alle vier Ve- 
den zu derselben Zeit geschaffen, sondern der letzte derselben fällt 
um ein Jahrtausend später als die frühesten Klänge indischer Poesie, 
auch in den ältern findet ein wesentlicher Unterschied statt. Sind da 
einzelne Lieder noch am Indus und vielleicht noch weiter westlich 
gedichtet, so führen uns andere auf die Zeiten der Wanderung in die 
spätern Wohnsitze des Volkes, und in einzelnen Hymnen weht der 
neue Geist schon in voller Lebenskraft. Wo wäre eine Litteratur aus- 
serdem zu finden, in welcher ähnlich oder gar gleich, wie in den 
ältesten Schöpfungen des Sanskritvolkes, der Geist noch von den Na- 
turgewalten gebannt, oder, sagen wir lieber, gerührt ist; ist es doch 
nicht scelavische Furcht, in welcher sich der- Sterbliche hier vor der 
Sonne niederwirft, vor dem Donner zagt und vor der Windsbraut zit- 
tert. Grossartige That stellt sich ihm überall vor die Augen, und 
in bald einfacher Beschreibung, bald schwungvoller und kühnsprin- 
gender Schilderung dieser That bricht sein ungehemmtes Wort her- 
vor. Kein Zug der grossen Erscheinungen des Lichtes und Dunkels 
und ihres gegenseitigen Ringens bleibt unbelauscht; überall strebt der 
sinnlich rüstige und tüchtige Mensch nach Individualisierung. Aber 
nieht ist diese Dichtung ein unbedeutend Spiel der Phantasie, alle 
diese Thaten greifen in des Menschen physisches und psychisches 
Leben ein, befruchten und regeln dasselbe, und das Gefühl der Ver- 
wandtschaft zwischen dem Menschen und dem, was die Thaten wirkt, 
bricht bald in naiver Forderung, bald in liebender Hingabe, bald in 
Bekenntnissen, dass man von den ewigen Gesetzen abgewichen, her- 
vor. Wir verfolgen nicht die fernern Entwicklungen dieses innigen 
Naturverhältnisses, sondern machen hier nur auf die gewaltige Lücke 
im Beginne der griechischen Litteratur im Vergleiche mit der indi- 
schen aufmerksam: in Homer hören wir nur noch die Nachklänge der 
alten Naturdichtung, aber Nachklänge, die uns jener einstiges Dasein 
klar genug erschliessen lassen. Und gross, gewaltig gross wuchs der 
Vedenbaum heran, und rings um ihn und an ihm entfalteten sich neue 
Blüthen. An die Veden schliesst sich die Darstellung des Opfer- 
rituals, aus ihnen gehen die ersten Keime philosophischer Spekulation 
auf; sie sind die Quellen der bei den Indern zu ungemeiner Höhe ge- 
diehenen Sprachforschung ; von ihnen aus nehmen Astronomie und Me- 


— 290 — 


diein ihren Anfang; in engem Anschlusse an sie beginnt die Ent- 
wicklung der Rechtswissenschaft. Gehen wir aber zu der in den Veden 
und in ‚der spätern Litteratur waltenden Sprache über, so wird 
auch deren ausserordentliche Bedeutsamkeit nicht geläugnet werden 
können. Abgesehen von ihrem Charakter ist ihre Kenntniss schon 
darum für die Kunde des menschlichen Geistes ausserordentlich wich- 
tig, weil wir auch, sie von einer relativen Ursprünglichkeit aus bis zu 
ihrem durch einen so eigenthümlichen wissenschaftlichen Trieb geregelte- 
sten Stande einerseits, und anderseits in ihrem Zerrinnen in manig- 
fache Dialeete und Mundarten, die zum Theile selbst wieder zu lit- 
terarischer Darstellung gelangen, verfolgen können. Ihrem Charakter 
nach aber gehört die Sanskritsprache : anerkannt zu den am vollkom- 
mensten gebauten Sprachen. Klar und scharf sind hier die Laute 
ausgeprägt, und selbst die allmählichen Modificationen haben in aus- 
. gedehntem Masse ihre Bestimmung und Bezeichnung gefunden; die 
stabfesten Consonanten sind nicht zu Misstönen gehäuft, das voka- 
lische Element ist nicht vorherrschend und kleinliches Spiel der Verweich- 
lichung herbeiführend. In ihrer vollen Würde steht die Wurzel da, 
umgeben mit den untergeordneten Zeichen der Beziehung, aber mit 
ihnen durch feine architeetonische und euphonische Mittel zum Ganzen 
und Einen verwoben; selbst die Tonsetzung lässt sich noch auf ihr 
ursprüngliches Wesen zurück führen. Und wie frei ist die Symbolik 
des Lautes und der Lautverstärkung verwendet, wo sie einmal ver- 
wendet wird: wir erinnern da an die Bildung des alten Conjunetivs, 
die sich im Griechischen wiederspiegelt, an den Ausdruck der Inten- 
sion durch Verdoppelung der Wurzelsilbe und Hebung des wiederhol- 
ten Vokales, an die dritte Person Pluralis im Verbum, die durch ein 
einfältig m sich von derselben Person im Singularis unterscheidet. Die 
Sprache der Veden haben wir in einer besondern Arbeit, die 
durch ein treffliches Buch von Regnier hervorgerufen ward, behan- 
delt. In ihr ist die Freude am Schaffen eines Ausdruckes für Ge- 
fühl und Vorstellung noch lebendiger, die Kraft der Wurzel und der 
Beziehungszeichen noch stärker und sinnlicher; derselbe Gegenstand 
erzeugt im frischen Geiste noch ungleich mehr Bilder. Die Wortge- 
staltung und in der Flexion besonders die verbale und verbal-nominale 
sind in üppiger Fülle vertreten: wir mahnen nur an die massenhaften 
Aoriste, die Conjunctivformation und die sogenannten Infinitive. Die 
spätere Sprache formt sich der Fortentwicklung des Geistes angemessen 
und innig mit ihr stimmend: es trennt sich eine Sprache der Gebil- 


— 291 — 


deten, Sanskrita, von derjenigen der Ungebildeten oder lieber des Vol- 
kes ab, und jene wird unter strenge Regel und Mass genommen, un- 
ter mehreren Formen nur eine als die klassische aufgestellt, die 
lebendige Entfaltung des Verbums durch das Zurücktreten der That 
gehemmt, das Zusammengehörige oder im Geist des Inders minde- 
stens Zusammengeordnete zu gewaltigen Gruppen vereint. Aber wenn 
sich nicht nur keine neuen Formen entfalten, sondern manche selbst 
ihren bleibenden Untergang finden, so gewinnt dagegen das Leben der 
Wörter an Umfang, indem die abstraktesten Begriffe auf der sinnlichen 
Anschauung emporwuchern. 

Solche Litteratur und Sprache musste zur Kunde und Verglei- 
chung reizen. Und wohl hatte schon mancher verglichen und der 
eine und andere schon wesentlich mit Hilfe der Sanskritsprache und 
ihresgleichen Sprachgeschlechter aufgestellt, als des bescheidenen Bopp 
Vergleichung des Conjugationssystems des Sanskrit, Griechischen, 
Lateinischen und Deutschen (1816) erschien, in welchem Werke der 
Verfasser mit genialem Griffe die Technik der Sprachen in den Vor- 
dergrund stellte; besteht doch die echte Verwandtschaft der Sprachen 
nieht darin, dass da und dort eine gleich oder ähnlich lautende Wur- 
zel oder ein solches Wort gleichen oder ähnlichen Sinn haben, son- 
dern vielmehr darin, dass sie die Wurzel in gleicher Richtung zum 
Worte und zum Glied der Rede gestalten. Freilich hätte, wäre die 
Zeit da gewesen, schon die aufmerksame Beobachtung des Lateini- 
schen, Griechischen und Deutschen zu einer vergleichenden Sprach- 
forschung im engern Kreise führen müssen; diese ward vorzüglich 
gehemmt durch die verschrobene Ansicht, dass das Lateinische nur 
eine pulera filia pulerioris matris, das Germanische aber, so sagte 
noch Fr. A. Wolff, eine Barbarensprache sei. Die Sanskrita mit 
ihren selbst in späterer Zeit — denn die Vedensprache ist erst seit 
den Dreissigerjahren mehr und mehr ans Licht getreten — noch sinn- 
lich vollen und gewaltigen Formen, wie sie weit aus dem grös- 
seren Theile nach in durehsichtigerer Ursprünglichkeit da stehen, 
als selbst im ältesten Griechisch, drängte zur Aufspürung der Ver- 
wandten und zur Forschung nach Gesetzen der Bildung der Sprach- 
gestalten und der Veränderung und Verkümmerung derselben. All- 
mählich, aber sicher bezüglich mit grosser Raschheit, mussten so auch 
- Stämme und Wurzeln in ein helleres Licht treten, und die Verglei- 
ehung auch auf diese sich erstrecken, und heute ist sie auch auf die- 
sem Gebiete weit vorgerückt. Eitel wäre es zu behaupten, die com- 


— 22 — 


parative Sprachforschung müsse auf das Reich der in der Grammatik 
sogenannten Etymologie sich beschränken und dürfe nicht an die Wort- 
fügung rühren: Regnier, Curtius und wir selbst haben den Beweis 
geleistet, wie fruchtbar sie auf dem Gebiete der Syntax werden 
könne. Nach und nach sind ausser dem Sanskrit, Griechischen, Latei- 
nischen und Deutschen auch die Sprache des Zendvolkes, das Alt- 
persische mit all seinem Nachwuchs, das Armenische, in Europa das 
Litauisch-Slavische und Keltische in diesen Bann gezogen und unter 
diesem Gesichtspunkte charakterisiert worden. Wer sich nicht gegen 
sonnenklare Wahrheit steift, den muss ein so einfaches Prachtwerk, 
wie Bopps vergleichende Grammatik, die in keiner philologischen 
Bibliothek fehlen darf, ihn müssen Potts etymologische Forschun- 
gen, ihn die klaren Ergebnisse in der Zeitschrift für Sprach- 
vergleichung zur unumstössliehen Ueberzeugung des grossen und 
erhabenen Zusammenhanges bringen. Je weiter aber die Sprachver- 
gleicbung vorrückt, desto weiter entfernt sie sich von dem Standpunkte, 
als sei die Sanskrita die Mutter der übrigen verwandten Sprachen, als 
sei das Lateinische nur eine Tochter des Griechischen: es ist ein 
schwesterliches Band, das sie alle umschlingt, und die eine Schwe- 
ster hat diesen, die andere einen andern Schmuck vor den übrigen 
voraus; es wird auch immer mehr gelingen nachzuweisen, welche der 
Schwestern länger als die andere mit einer zweiten oder einer zweiten 
und dritten in innigem Verbande geblieben sei. Wir sehen demnach, 
dass die Frage: sprach man in Italien Sanskrit? dem Sprachverglei- 
cher etwas albern vorkommen muss. Ueber den Namen des Sprach- 
stammes, der sich in den reichsten Zweigen ausbreitet, möchten wir 
nicht streiten, und er hat auch bei weitem nicht so viel Nachdenkens 
gekostet, als einige zu meinen scheinen: Bopp will ihn jetzt den 
indoeuropäischen Sprachstamm heissen. Es wird schon aus dem 
Obigen klar sein, dass es der Sprachvergleichung nicht nur darum 
zu thun ist, in den einzelnen Gliedern dieses Sprachstammes das Gleiche 
zu sehen, sondern eben so sehr die eigenthümliche Entwickelung je- 
des derselben im Ganzen und wiederum in allfälligen Breehungen her- 
auszustellen. Jetzt erst gewinnen wir ein Urtheil darüber, wie die Hel- 
lenen die Laute beherrscht und in plastischem Sinne umgestaltet, wo- 
für wir nur auf die Färbung der Vokale und die Verdrängung der 
Jeher, Weher und Sauser aufmerksam machen; erfüllt wird unsere 
Anschauung davon, was sie in feiner Dialectik vermochten, wenn wir 
sehen, wie im Verbum jene alte Masse, die der frische Natursinn im 


vor 


_— 293, — 


Vollgefühle seiner Kraft hervorgetrieben, in der sinnigsten Weise, wir 
können wieder sagen, plastisch in der Rede verwendet; wie, im Gegen- 
satze gegen die spätern Sanskritschöpfungen, besonders die That in 
allen ihren Beziehungen characterisiert wird; jetzt erst gelingt es uns 
bestimmte Gesetze für Intensivformen, Causativformen, geschwellte 
Präsensgestalten im Griechischen zu begründen. Das Lateinische aber 
kann uns nun nimmer als des Griechischen Tochter erscheinen, wenn 
es auch natürlich keine neuen, ausserhalb des ganzen Sprachstammes 
liegenden Prineipien befolgt. Aber in seiner Lautwelt hat es bezüg- 
lich Aelteres bewahrt, wie sein 8, j und v, sein auslautendes m und 
t u. dgl., wenn es auch manches dagegen aufgegeben, wie die Aspi- 
raten. In seiner Deelination ist es reicher geblieben; in seiner Conju- 
gation ist das nominale Element voller, in der Bildung von Zeiten 
und Modi ist es ärmer, aber eigenthümlich. Und so könnte ich noch 
lange fortfahren; lieber will ich aber darauf hinweisen, wie dadurch 
in sehr natürlicher Weise, wenn auch oft denen, die es heute üben, 
unbewusst, die historische Forschung innerhalb einer und derselben 
Sprache oder innerhalb eines und desselben Sprachzweiges gehoben 
und gekräftigt wurde. Auf diesem Felde steht vor allen J. Grimm 
als leuchtendes Vorbild da, welchem Diez in den romanischen Spra- 
chen nachgestrebt; und in derselben Richtung schafft eben Miklo- 
sich ein grosses Werk für die Slavischen Nationen; für eine Ge- 
schichte des Lateinischen ist vor allen Ritschl und seine Schule, 
die sich nur nicht in eiteln Anspielungen auf die „Sprachvergleicher“ 
auslassen sollte, thätig. Wir dürfen es keck behaupten, ohne den 
Anstoss durch das Sanskrit und ohne die dadurch belebte Sprachver- 
gleichung hätten all diese Arbeiten nicht in solcher Fülle durchgeführt 
werden können, hätten des Regulatives und der Unterlage ermangelt. 

Und wie stand es vor der Kenntniss des Sanskrit und vor der Ue- 
bung dee Sprachvergleichung um die Sprachwissenschaft im eigentlichen 
Sinn, oder um die Sprachphilosophie? Wie steht es heute um diese bei 
denjenigen, die sich um jene nichts kümmern ? Sie war ein heteroge- 
nes logisches Gerüste ohne Basis. Und wie konnte man an eine an- 
nähernd richtige Lösung der Frage nach dem Ursprunge der Sprache 
und der Sprachen denken, ohne diese zuerst selbst recht beobach- 
tet zu haben? Die neue Richtung der Sprachstudien befähigte den 


‚geistreichen W. von Humboldt ein auf die Realprineipien aufge- 


tragenes Gebäude von wundervoller Schönheit und trotz einigen Wi- 
dersprüchen grossartiger Harmonie zu schaffen; wo er angefangen, fuhr 


— ,24 — 


Steinthal fort; L. Heyses Vorlesungen verbreiteten ein neues 
Licht über eines der würdigsten Objekte des menschlichen Forschens. Die 
Einheit des Menschengeistes ist nicht eine dürre und todte, sie erfüllt 
sich in der reichsten Manigfaltigkeit, und nicht anders die Sprachidee, 
die sich nur in der gegliederten Totalität der Sprachen verkörpert, 
oder sagen wir lieber, nur in ihr lebt. Die Sprachen lassen sich ihrem 
innersten Wesen nach nach Gattung und Art classifieieren und sich, 
schauen wir auf die Fähigkeit allseitig Spiegel der Seele zu sein, gra- 
duieren; aber nicht lassen die einzelnen aus dem Ganzen sich aus- 
wischen, nicht eine durch die andere sich regeln und meistern. Jede 
Sprache ist in sich ein Ganzes, und der Forscher hat die Pflicht mit 
liebender Hingabe an sie den in ihr waltenden Organismus aufzuspü- 
ren; nicht aber soll er mit seinen harten logischen Categorien an sie 
herantreten und das edle Objeet durch seine eigensinnige Subjeetivität 
verderben. Trifft der Sprachstamm mit dem Volksstamm, der Sprach- 
zweig mit der Nation zusammen, so können wir nun verfolgen, was 
der Stamm, was die Nation durch ihre Sprache geworden, die zwar 
immer lebendig bleibt, aber doch auch den spätern Geschlechtern gegen- 
über als eine gewaltige Macht sich erzeigt. Die Frage nach dem 
Ursprunge der Sprache ist nun auf einen ganz andern Standpunkt 
gerückt; ich brauche aber diesen hier nicht darzustellen, da er hin- 
reichend klar von Steinthal bezeichnet worden ist. 

Wenden wir uns dann dem dritten Punkte zu, einzelnen Er- 
gebnissen und Früchten des Sanskritstudiums und der darauf gegrün- 
deten vergleichenden Grammatik, so ist vor allem das hervorzuheben, 
dass uns damit unumstösslich die Verwandtschaft, und zwar die Stamm- 
verwandtschaft, einer ansehnlichen Reihe von asiatischen und europäischen 
Culturvölkern bewiesen worden, innerhalb welcher wir wieder beson- 
dere Linien zu ziehen befugt und befähigt sind, die einzelne Glieder 
näher unter sich binden. Sicherlich war es demnach einstmals ei# Stamm, 
dessen Wohnsitz unzweifelhaft in Asien, aus dem nach und nach klei- 
nere Stämme und Nationen ausschieden. Es ist ermöglicht worden, 
dass wir annähernd den Culturgrad und die Culturerscheinungen des 
Stammes in seiner Ganzheit und der einzelnen Glieder zur Zeit ihrer 
Trennung vom Ganzen oder von länger verbundenen andern zu schildern 
im Stande sind: ein einlenchtendes und nur den Blinden nicht überzeu- 
gendes Beispiel dafür hat Mommsen in seiner römischen Geschichte, 
Kuhn in einer besondern Abhandlung gegeben. Die Kunde der Veden 
und der vedischen Schriften und ihrer Sprache, und die Kenntniss der 


—_— 295 — 


Sprachvergleichung, die unter Gesetz und Regel steht, vermittelt uns, 
die innere Erkenntniss der religiösen und der rechtlichen Entwickelung 
der als unter sich verwandt erwiesenen Völker. So erst haben grie- 
chische und germanische Religion ihren nothwendigen Hintergrund 
gefunden, wie es Kuhn, M. Müller u. a. schon in manchem Bei- 
spiel in unübertrefflicher Art nachgewiesen; erst die gefundenen Ge- 
gensätze klären uns die religiöse Anschauung des Zendvolkes und 
der Römer auf. Wer heute noch, heute, nachdem wir mit den Ve- 
den bekannt geworden, von den vielgestaltigen und fratzenhaften Göt- 
tern Indiens als Abklatschen ägyptischer Vorbilder spricht, der be- 
kenne auch, dass er zwar einmal von Göthe etwas von solchen 
Gestalten vernommen, aber darüber nichts mehr erfahren habe, wie es 
seither auf diesem Felde ergangen. Wir wollen es ihm dann gönnen, 
wenn er einmal nicht mehr wissen und Ruhe haben will: aber nur 
halte er auch mit seinem diesfälligen Urtheile zurück. Wie oft in recht- 
lichen Beziehungen das alte Stammgut sich vererbt und entwickelt habe 
und eine scheinbar allein stehende Erscheinung ihren letzten Grund im 
Ganzen wiederfinde, suchten wir einst an einer Stelle des Taeitus zu 
zeigen, der in seiner Germania meldet, dass bei den alten Deutschen 
das Verhältniss des mütterlichen Oheimes zu dem Neffen ein merk- 
würdig inniges gewesen sei, dabei aber nicht an die Bedeutsamkeit 
des lateinischen avonculus dachte. Ohne das Sanskrit wären die 
heiligen Bücher des Zendvolkes und die Sprache der altpersischen 
Keilinschriften wohl nimmer enträthselt worden; ohne Zuziehung der 
durch die Sprachvergleichung gewonnenen Resultate lägen heute noch 
die umbrischen und oseischen Denkmale Italiens, wenn nicht über- 
haupt, doch in viel grösserm Dunkel, könnten somit auch die natio- 
nalen Verhältnisse Altitaliens in keiner Weise richtig bestimmt wer- 
den. Wir halten den Abschnitt in Mommsens römischer Geschichte für 
einen der interessantesten und gelungensten, in welchem er einmal 
Italien und Hellas als ein Ganzes den übrigen Verwandten, dann 
Italien Hellas gegenübergestellt und endlich ersteres in sich geglie- 
dert, nicht zerrissen hat. Aber es ist wahr, man darf nicht nur in 
Griechenland und in Italien und allenfalls noch in Aegypten die Welt 
abgeschlossen sehen, man muss aus den neuern Geschichts- und 
Sprachwerken gelernt haben, wie Sprachen und Nationen, wie sprach- 
liche Idiome und 'T'heile einer Nation zusammenstimmen, man muss 
in Liebe und Treue die Entwickelung des menschlichen Geistes in der 
Manigfaltigkeit der Völker und Volkstheile verfolgen, um der Wahr- 


—_— 2% — 


heiten in jenem Abschnitte des Mommsenschen Buches inne werden zu 
können. Wer uns bisanhin gefolgt, wird schon die Frage: Sprachen 
die alten Italer Sanskrit oder Griechisch ? kaum begreifen können. 
Die Indianisten, wie sie einmal der immerhin harmlose Döder- 
lein nennt, behaupten nur so viel, dass zwar der grössere Theil der 
Bewohner des alten Italiens mit den Hellenen in nächster Verwandt- 
schaft stehen; ‚dass aber die italischen Sprachen der Stellen viele 
bieten, in deren Erklärung man auf eine vorhellenische Zeit zurück- 
gehen oder eine selbständige, wenn auch nicht aus der allgemeinen 
Bahn weichende Entwickelung annehmen müsse. Ueberdies räumen 
sie der Ueberlieferung natürlich recht gerne ein, dass wegen bestän- 
diger Verbindungen mit Griechenland voraus den Latinern und Os- 
cern eine ansehnliche Zahl von Lehnwörtern zugeflossen, ja sogar, 
dass die Nachbarschaft der Hellenen auf eine neue Hebung der os- 
eischen Sprache im Ganzen nicht ohne Einfluss gewesen sei. 

Treten wir aber auf einige Einzelnheiten im Ross’schen Buche 
ein, so zeigt sich bald, dass jeder seiner grossen Hauptabschnitte, 
hätte sich der Verfasser auf den Standpunkt Mommsens gestellt, 
klarer geworden, namentlich aber eine hübsche Masse von Verkehr- 
tem vermieden worden wäre. Wie viel sicherer stellt sich uns z. B. 
die alte Familie, die Ross $. 4 behandelt, heraus, wenn die ver- 
wandten Glieder mit beachtet werden. Nascor für gnascor ent- 
spricht formell nicht dem griechischen abgeleiteten yevvaw; sondern 
gna in dem passiven Inchoativum ist ganz in derselben Weise eine 
Nebengestalt von gen, gan, yerv, wie (g) nö in (g) nosco, gnä 
in gnarus von der Wurzel mit denselben Lautelementen, im Skr. 
gänämi, im Germanischen kann neben altem chnäjan u. dgl. 
Dem lateinischen Activum entspricht aufs genaueste das vedische 
g’aganmi. Wie Herr Ross lautlich avus und @rspüg unter einen 
Hut bringe, mag er zusehen und vertheidigen; wir finden dieselbe 
Wurzel, wie in avus im litauischen awynas d. h. avonculus. 
Die Ausdrücke für Vater und Mutter sind längst, und mit vollem 
Rechte, als einer der Beweise der ursprünglichen Einheit des indo- 
europäischen Stammes aufgeführt worden. Ihr Suffix zeigt uns, dass 
sie nicht nur aus dem Lallen der Kinder hervorgiengen, sondern in 
ihnen eine volle Vorstellung sich auspräge, sie den Erhalter und 
die Schaffnerin meinen. Dem genitor steht nicht nur ein grie- 
chisches yev&rwg, auch ein indischer g’anitar, der genetrix nicht 
nur ein yeversıga für yeveregia, auch eine indische ganitri (vgl. 


PR; 


— 27 — 


öse. futri f. futrix) gegenüber. Der vicus hat sein Ebenbild im 
griechischen olxog, aber auch im umbrischen vuko, im sanskrit 
v&cas und im gothischen veihs u. 8. f.; und erst in dem östlichsten 
Verwandten finden wir genügenden etymologischen Aufschluss in der 
Wurzel vig gehen, eintreten, welcher auch ixveouee entstammte. 
Auch für domus und dduwog, ja selbst für do, en-do und do 
bleibt die stimmende Form im Sanskrit nicht aus, das in seiner äl- 
testen Periode dama und dam bietet; und dampati bezeichnet 
treflich die Walter des Hauses. In der Zusammenstellung von 
herus (besser &rus) mit 77009 „dem Leuchtenden * kehrt Ross zu 
einem beseitigten Standpunkte des Etymologisierens zurück. Warum 
der Knabe in Beziehung auf das Mädchen frater, Yoarwg, sanskrit 
bhrätar, deutsch Bruder hiess, ist früher von uns entwickelt wor- 
den. Soror findet im sanskrit svasar (cf. svapnas, somnus u.a.) 
seine Gespielin und seine vollere Form im deutschen Schwester, 
während das griechische ö@g ihm ferne liegt. Und nun sollen gar 
filius, gVtog und viog Eines sein! Uns ist die Etymologie von 
filius nicht ganz klar, d. h. es finden sich hier mehrere Möglich- 
keiten, aber vioög leitet sich ganz sicher auf W. su „zeugen,“ wo- 
her auch sanskrit suta, sünu und gothisches sunus, zurück. Das 
lateinische vir werden wir doch zunächst zu sanskrit vira (im Um- 
brischen noch veiro) und zu germanischem vair, wer (in Wergeld und 
wöeralt, Welt) stellen wollen. Ross scheut sich nicht juvenis als 
dwoysvyg zu erklären. Die W von juvenis, sk. yuvan (im 
Gen. yünas, ef. junior) germanisch juggs, d. h. juveneus u. =. f. 
mag dieselbe sein als von Zeug, Jıog und juvenis „den glänzen- 
den“ meinen, aber das y&vog hineinzubringen kann nur die Unwis- 
senschaftlichkeit wagen. So könnten wir noch bei Dutzenden von 
andern Ausdrücken des gemeinen Lebens in diesem Capitel nach- 
weisen, dass sie entweder ganz unrichtig mit den beigesetzten grie- 
chischen verglichen sind, oder dass sie in ihrer ursprünglichern 
Form in einem andern der verwandten Glieder erscheinen, oder dass 
sie überhaupt nur anderswo, im Griechischen nicht oder nicht mehr, 
erscheinen. 

Im zweiten Capitel geht Ross auf die Bedeutsamkeit oder viel- 
mehr Unbedeutsamkeit der Vokale, auf die Aphäresis ganzer Silben, 
auf Zusätze, wie s und v, auf die verschiedenen Operationen mit den 
Liquiden, ihre Metathesis u. s. f. ein. Alles beruht ihm in der Sprache 
auf dem (ganz willkürlichen?) Usus, in dem sich keine Gesetze auf- 

Wissenschaftliche Monatschrift. III 20 


— 293 — 


spüren lassen. Es wäre thöricht und unrecht zu läugnen, dass in 
diesen Zusammenstellungen manches Einzelne richtig ist, wie es theils 
schon andere erkannt, theils Ross vielleicht zum ersten Male aufge- 
deckt; aber neben diesen Einzelnheiten stehen massenhaft andere, die 
völlig unhaltbar sind, und das Unterscheidende in der Entwicklung 
des Griechischen und Lateinischen wird wie mit Absicht übersehen. 
Warum hat lat. humerus (vielmehr umerus) ein u genüber dem w 
in wuog? ’Quog ist eben aus Ö400g verkürzt, wie uns sanskrit amsa 
und gothisches amsa von Wurzel am „stark sein“ beweisen; im La- 
teinischen konnte daraus änsa werden; oder aber es gieng sin P 
über und wurde durch den schwaartigen Laut von m getrennt, wenn 
nicht vielmehr ameso, wie uns wahrscheinlich ist, die ursprüngliche 
Form war. Aber der Vokal A, vor m zu u getrübt, musste nun 
kurz bleiben. Via soll aus &yvı« gekappt sein; aber die alte Form 
des Wortes ist veha von veho, das auch der kühnste Etymologe 
kaum mit ago zusammenbringen wird. Contra und @vzıxgv sind 
ein merkwürdiges Paar, wenn sie nur überhaupt eines wären: aber 
avzıngV heisst „Kopf gegen Kopf,“ und contra ist eine Compara- 
tivform von com, eum, con. In W. W.wie ruber, ruetoru.s.f. 
hat nicht das Lateinische Aphäresis, sondern das Griechische Pro- 
thesis, was uns freilich nur die andern Verwandten erweisen. Unter 
anderen W. W. werden auch secus, &#dg; si, nisi, &, & 47; sine 
ävev; solus, .olog als Paare aufgeführt. Kaum scheint auch nur die 
erste Gruppe richtig gefasst: secus findet seine vollständigste Erklä- 
rung in sequor, &xdg wird wohl eine Bildung von E, svau. s f. 
sein. Si lautet im Oseischen sval, im Altlateinischen se oder sei, 
ist also ein Locativus vom Pronominalstamme sva, den wir in.& 
nicht zu entdecken vermögen. In solus ist derselbe Pronominal- 
stamm versteckt, und nicht minder in sine, während uns d&vev 
auf ein altes anjo, d. h. alio, «4ıo, &Ako führt. Aber wir dür- 
fen uns nicht zu lange bei dieser Partie aufhalten, so sehr vieles, 
wie 240, veho, zexös, citus, ÜwrAog, sublimis, veouas, 
venio, &&w, vexare, &xvgus, socius, &Ug bonus, ”Aong Mamers, 
Mavors, Mars u. s. f. zum Streite reizt. Aus dem folgenden Ca- 
pitel, das uns über andern Lautwechsel belehrt, heben wir nur 
ein Beispiel heraus. S. 52 heisst es, indem Ross aller neuern Er- 
gebnisse über den Zetaeismus spottet: das griechische © gibt daher 
auch im Lateinischen häufig bloss d, also 1.0n%o, eredo. Beweist 
denn nicht eredo, er&didi hinreichend, dass es eine Zusammen- 


_- 299 — 


setzung mit dare sein müsse?‘ Und diese bietet uns ja das Sans- 
krit so vollständig, als wir's wünschen können: graddadhämi d.h. 
fidem pono, facio, do ist dort eine nicht seltene Composition, und 
er&do steht für ereddo. Welche Anschauungen Ross über griechi- 
sche und lateinische Wortbildung und über ihr gegenseitiges Verhält- 
niss hat — auf die Flexion lässt er sich auffallender Weise nicht ein, — 
das ersehen wir aus den beiden letzten Abschnitten seiner Schrift, von 
denen der vierte dem Nomen, der fünfte dem Verbum gewidmet ist. 
Dass auch hier manches gut gerathen ist, brauchen wir nicht zu wie- 
derholen. Aber, um nur ein paar Beispiele herauszuheben, wie ver- 
kehrt urtheilt R. über das Verhältniss des lateinischen — men und 
mentum zu griechischem wer, die zusammengehalten eben auf eine 
ursprüngliche und auch nachgewiesene Form — mant schliessen las- 

sen. Anlässlieh dieser Bildungen auf — men, — mentum u. s. f. 
_ kommt der Verfasser wieder auf goua gleich carmen zurück. Aroue 


ist natürlich eine Ableitung von «idw, dw, aber carmen, alt 
casmen entspricht Laut für Laut dem sanskrit. gasman „Preislied,“ 
von W. cans d. i. cens in censere, förmlich oder feierlich aus- 
sprechen. Ohne Scheu werden die Ableitungen auf — wdrg und — osus 
(alt — onsus, ossus), ein oradı», hoyedıv und statim, loca- 
tim u. dgl. zusammengestellt. Aber das Ueberraschendste ist doch 
das, dass uns Ross im Griechischen auch den homo, hemo einzu- 
fangen vermag. Er hat sieh dort freilich in eine blosse Endung zu- 
rück gezogen und zeigt sich am reinsten in yegumv „Führmann,“ 
xndsuswy Sorgmann u. 8. f. Wir wissen da in der That nicht, ob 
wir nur geneckt werden sollen. “ Dem letzten Capitel über die im 
Griechischen und Lateinischen sich entsprechenden Verben, auf das 
wir darum nieht eingehen, weil es uns nicht über und über des 
Stoffes böte, sondern weil uns die Wahl schwer würde, sind noch 
zwei Zulagen beigefügt, in deren erster Beispiele vom Uebergange der 
Bedeutung gegeben werden, in der zweiten auf ägyptische, phönicische 
und vorderasiatische Wörter im Griechischen und Lateinischen hinge- 
wiesen wird, — als Gegengift gegen das Sanskrit. Auch da straft 
sich die mit Fleiss angestrebte Unkunde des Verfassers selbst. Da 
heisst es auf-$. 78: M&Aog ist Glied und Lied; denn Lied ist das- 
selbe Wort wie Glied mit abgeworfenem 8, z.B. Augenlied u. s. f. 
Ueber die erste Gleichstellung würde der Verfasser in Süddeutsch- 
land von jedem fähigen (gmerkigen) Schuljungen zurecht gewiesen 
da seine trefiende Mundart den kurzen Vokal in Glied und Lied 


— 300 — 


(im Sinne von membrum) noch scharf von dem Diphthongen in Lied 
(= Gesang) unterscheidet. Membrum heisst gothisch lithus, altd. lid 
und bezeichnet das „Bewegliche;“* unser gewöhnliches Lied heisst 
althochd. liod, mittelhochd. lied f. liud und meint das „Tönende“; 
lied endlich in Augenlied steht für altes hlid, und dieses ist 
ein Ausdruck für „Deckel.“ Wir empfinden gerechten Schmerz, wenn 
von einem scharfsinnigen und gelehrten Mann, als welchen wir Herrn 
Prof. Ross gerne, anerkennen, aus flacher Feindschaft gegen das 
Neue solches Zeug ausgeht. | 

Hier brechen wir ab und würden uns glücklich fühlen, wenn es 
uns gelungen wäre, das Wesen der Sanskritphilologie und der sich 
anschliessenden Sprachwissenschaft in so kurzem Worte einigermassen 
klar herauszustellen. 


Die Talion bei falscher Anklage im Jahre 1858. 


Von EDUARD OSENBRÜGGEN. 


Vor einiger Zeit ging durch die Zeitungen eine Nachricht, die 
wohl dem Nichtjuristen noch auffallender gewesen sein mag als dem 
Rechtshistoriker. Die weltbereisende Augsburger allgemeine Zeitung 
meldete in der Beilage zu No. 151 d. J. „Der Redacteur des Stock- 
holmer Blattes Fäderneslandet Lindahl ist zur Todesstrafe mittelst 
Beils verurtheilt worden, weil er fälschlich und aus bösem Willen 
ein Fräulein Mendelsohn der Blutschande geziehen hatte. Sein Ver- 
theidiger ©. G. Uggla wurde zu einem Monat Gefängniss und zum 
Verlust der Advocatur verurtheilt, weil er wissentlich eine ungerechte 
Sache geführt.* In andern öffentlichen Blättern, wohl zuerst in der 
Independance Belge, erschien später eine Fortsetzung des Falles, der 
man die Aehnlichkeit mit einer Seeschlange leicht ansah. ‘ Lindahls 
Freundschaft hatte vergebens die Gnade des Königs angefleht; die 
Begnadigung konnte nur von der Gekränkten erwirkt werden, aber an 
diese sich zu wenden liess sich Lindahl nicht bewegen, weil er sein 
Verbrechen jetzt einsah und es abbüssen wollte. Als man ihn schon 
auf das Schaffot geführt und ihm die Augen verbunden hatte und er 
niedergeknieet war, um den Todesstreich zu empfangen, da wurde ihm 
plötzlich das Tuch von den Augen genommen, die schöne Jungfrau 
M. stand vor ihm und sagte: Herr Lindahl, ich verzeihe Ihnen. Es 
fehlte nur eine Umarmung und eine Hochzeit, und ein rührender Ro- 
man wäre fertig gewesen. Ich bin im Stande den wirklichen, nicht 
romanhaften, aber juristisch interessanten Verlauf der Sache nach der 
gefälligen Mittheilung eines gelehrten dänischen Juristen, der aus dem 
Urtheil des höchsten Gerichtes geschöpft hat, anzugeben. 

Lindahl; Redacteur der ziemlich schlecht beleumdeten schwedi- 
schen Zeitung „Fäderneslandet“, hatte in mehreren Nummern seines 
Blattes Frederika Mendelsohn beschuldigt, dass sie von ihrem mitt- 
lerweile gestorbenen Bruder mehrmals geschwängert worden sei und 
ihm Kinder geboren habe. Wegen dieser Aeusserungen wurde er 


— 302 — 


von der Beleidigten auf Grund des Pressgesetzes gerichtlich belangt. 
Er schob die Einrede der Wahrheit vor, welche er durch Zeugen be- 
weisen wollte, wurde aber vom Civilgerichte mit der Erklärung ab- 
gewiesen, dass er sich mit seinen Beweisen an den öffentlichen An- 
kläger zu wenden habe, der dann seiner förmlichen Anzeige gemäss 
die Sache von Amtswegen verfolgen werde. I]. brachte nun die förm- 
liche Anzeige bei dem Stadtfiscal an, dass Fr. M. sich mit ihrem 
Bruder der Blutschande schuldig gemacht habe und die Sache wurde 
darauf im öffentlichen Interesse betrieben. Die Abhörung zahlreicher 
Zeugen ergab indessen als Resultat, dass gar nichts gegen die An- 
geschuldigte erhellte, vielmehr wurde noch durch ärztliche Untersuchung 
dargethan, dass kein Beischlaf mit ihr vollzogen worden sei. Sie 
wurde folglich freigesprochen und die Frage war nun, wie mit‘ dem 
falschen Ankläger verfahren werden sollte. 

Im „Sweriges Rikes Lag“ (dem schwedischen Reichsgesetzbuche 
von 1734) heisst es im Cap. 60: des Misgierningsbalk (d. i. Ab- 
schnitt von den Missethaten oder Verbrechen): 

$ 1. Der Mann, der einen Andern vor dem Gerichte oder dem 
Befehlshaber des Königs einer That beschuldigt, die mit Verlust des 
Lebens oder der Ehre bestraft wird, und ihn deren überführen will, 
aber es nicht vermag, und es erhellt, dass er diess fälschlich und 
aus Arglist gethan hat, der wird mit derselben Strafe bestraft, die 
der Angeklagte hätte erleiden müssen, wäre er straffällig befunden. * 

$ 2. „Hat er aber dieses nicht aus Arglist gethan, soll er 20 
Thaler büssen oder mehr, nach den Umständen, und öffentlich vor 
dem Gerichte seine Schuld abbitten ; gleichfalls soll er allen erlitte- 
nen Schaden ersetzen.“ 

Das Gericht der ersten Instanz, das „Rathhaus- Gericht,“ war 
der Meinung, es sei hier $ 2 zu befolgen und verurtheilte L. daber 
zu einer Geldstrafe und öffentlicher Abbitte. Das Gericht zweiter 
Instanz, das „Hofgericht,“ erachtete dagegen, dass er mit Arglist 
und mit vollem Vorsatze gehandelt habe, dass also $ 1 hier anzu- 
wenden sei. In Betracht, dass die angesagte Missethat, Blutschande, 
Todesstrafe nach sich zieht, wurde also der falsche Ankläger zum 
Verlust des Lebens verurtheil. — Das „höchste Gericht“ endlich 
folgte der Ansicht des Gerichtes erster Instanz und verurtheilte den 
L. nur zu einer Geldstrafe und öffentlicher Abbitte; von den in die- 
ser Sache votirenden 7 Mitgliedern dieses Gerichtes war jedoch eine 
Minorität von 3 für die strengere Ansicht. 


— 30 — 


Uggla, Mitarbeiter an der von Lindahl herausgegebenen Zei- 
tung und Freund und Rechtsanwalt des falschen Anklägers, war vom 
Hofgerichte zu einer geringen Gefängnissstrafe ınd zum Verlust seines 
Advocatenamtes verurtheilt worden, weil er, obwohl nicht Anstifter 
der falschen Anklage, doch die Ungerechtigkeit derselben habe ein- 
sehen müssen und dennoch Lindahl mit Rath und That unterstützte. 
Vom höchsten Gerichte, gemäss der von demselben angenommenen 
Grundansicht, wurde Uggla gänzlich freigesprochen. 

Das schwedische Gesetz, um dessen Anwendung es sich hier 
handelte, hat ein Prinzip festgehalten, welches seit Jahrhunderten im 
germanischen Rechte geherrscht hatte und welches man passend das 
Talionsprinzip nennen kann. Die altnordischen f) und überhaupt die 
germanischen Rechtsdenkmäler, wie die Rechtsquellen des späteren 
deutschen Mittelalters enthalten zahllose Belege zu dem Satze, dass 
wer fälschlich einen Andern eines Verbrechens beschuldigt, dieselbe 
Strafe empfangen soll, die den Andern getroffen haben würde, wenn die 
Anklage durchgeführt worden wäre ?). Es beruht diese Satzung auf dem 
Gerechtigkeitsgefühl und dem Glauben, dass ein solcher Angriff auf 
die Existenz und die Ehre eines Menschen eben so auf den Angreifer 
zurückfallen müsse, wie es bei sonstigen Angriffen im Leben wehr- 
hafter Menschen geschehe. 

Auch die altschweizerischen Rechte enthalten sehr viele im We- 
sentlichen unter sich und mit dem allgemeinen germanischen Recht 
übereinstimmende Aussprüche über einen solchen Rückschlag, z. B. die 
Offnung von Kyburg $ 6: „Wer ouch den andern man oder frowen 

. schuldiget und zichet, das im ere libe oder glid antrifft, und das uff 
die selben personen, so er geschuldiget hat, nit bringt, der oder die 
soll in sölicher geschuldigotten personen fusstapfen stan und alles das 
darumb dulden und liden, das sy geduldet und gelitten müssend ha- 
ben, ob es uff sy gebracht worden were.“ Das älteste Bürgerbuch 
von Luzern 1373 sagt: „und viele ieman den andern an umb dirre 
stucken (nemlich Mord, Diebstahl, Nachtbrand ete.) deheins und er 
das uff in also nüt beweren möchte, der mus an sin statt treten und 
liden, das einer sollte gelitten han.“ Hält man damit zusammen, 
dass, wer ‚bösen Lümden“ Jahr und Tag auf sich sitzen liess, sich 


1) Wilda, Strafrecht der Germanen $. 961 


2) S. meine Abhandlung über die Talion im altdeutschen Rechte in der Zeit- 
schrift für deutsches Recht XVII, 184 fi. 


— 304 — 


dadurch selbst bezeugte und die Ehre verwirkte (Herrschaftsrecht von 
Büron), so sieht man leicht, wie der aussergerichtliche Vorwurf einer 
Missethat gerichtlich zur Sprache kommen musste. Dass aber die an- 
gegebene Talion in der Schweiz nicht bloss auf dem Papiere gestan- 
den hat, sondern auch ausgeführt worden ist, lässt sich nachweisen. 
In Solothurn hatte jemand einen Andern bei der Obrigkeit fälschlich 
angeklagt, als habe er gesagt: „Dass dich Gott’s Herrgott im Him- 
mel schände.“ Ihm wurde am 21, Februar 1547 die Zunge ausge- 
rissen und an einen Stock geheftet 1) und er litt so die Strafe, welche 
dem Angeklagten zu Theil geworden wäre, wenn sich die Anklage 
begründet gezeigt hätte; der Verlust der Zunge ist in den alten Rech- 
ten dem Gotteslästerer oft gedroht. 

Das schwedische Gesetz von 1734 hält zwar ein altes Prinzip 
fest, die Unterscheidung der arglistigen und leichtfertigen, unüberleg- 
ten Anschuldigung aber gehört schon der neueren Zeit an. Nach den 
älteren Rechten war das Entscheidende, ob jemand seine Anklage 
durchführen konnte oder nicht. Wenn auch für den letzteren Fall die 
Arglist und das Bewusstsein der Falschheit der erhobenen Anklage 
als das Substrat des Handelns angenommen wurde, war doch nach 
den Worten der Aussprüche des älteren germanischen Rechtes eine 
darauf gerichtete Nachforschung oder Erwägung nicht geboten. ?) 

Die drei Mitglieder des höchsten Gerichtes, welche in der Mi- 
norität blieben, waren, in Uebereinstimmung mit dem Hofgericht, der 
Ansicht, Lindahl habe arglistig gehandelt und dieser Ansicht ent- 
sprach die öffentliche Meinung in Schweden. Das durfte aber die 
vier Richter nicht irre machen, wenn sie die Ueberzeugung fassten, es. 
liege nur eine Uebereilung des L. vor, sondern sie mussten für die 
Anwendung des $. 2 votiren. Thaten sie aber das Letztere nur des- 
halb, weil ihnen die Strafe des $ 1 zu hart und nicht zeitgemäss er- 
schien, so verkannten sie ihre Richterpflicht und machten sich zu 
(schlechten) Gesetzgebern, indem sie erklärten, für eine solche bös- 
willige Anklage genüge eine Bagatellstrafe, denn für mehr kann man 
die Strafe des $ 2 gegenüber der Schwere des Verbrechens des L., 
wenn er arglistig handelte, nicht ausgeben. Die Blutschande ist nach 
schwedischem Recht’ ein todeswürdiges und überall ein schweres Ver- 


1) Amiet, Schweizerischer Geschichts-Calender (Solothurn 1848) $. 11, vgl. 
Segesser, Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Luzern II, 693 Anmerk. 1. 


2) Zeitschrift für deutsches Recht XVII, 187. 188. 


— 305 — 


brechen; die betreffende Anschuldigung gegen ein Mädchen ist eine 
so enorme, dass die Beschuldigung des Brudermordes nicht grösser 
wäre. Hätte die Anschuldigung sich als wahr erwiesen, so wäre die 
Angeschuldigte vernichtet gewesen, auch wenn die Strafe des Gesetzes 
nicht an ihr vollzogen worden wäre und jetzt, wird sie sich beruhi- 
gen können, dass ja die Anschuldigung nicht erwiesen und der falsche 
Ankläger zur Strafe gezogen sei? Die Geldbusse von 20 und mehr 
Thalern kommt ernstlich gar nicht in Betracht und die Ahbitte, zwar 
gewichtiger als der blosse Widerruf, kann genügen um manche Ehr- 
verletzung mit Worten vollständig zu annulliren; allein hier ist sie, 
zumal als eine vom Gericht auferlegte, also erzwungene, nur eine 
Beschämung für L., keine Strafe nach dem Prineip der Gerechtigkeit, 
welches sich sehr richtig im $ 1 des Gesetzes ausspricht, wenn auch 
die Form der gedrohten Strafe für die Gegenwart anstössig ist. Hatte 
L. arglistig gehandelt, so war es die Pflicht des Gerichtes, auf $ 1 
zu erkennen und es der Gnade des Königs anheim zu stellen, statt 
der T'odesstrafe die dem Zeitbewusstsein genügende Strafe zu verfügen. 

Man wird mir vielleicht einwenden, dass wenn ich einen so star- 
ken Nachdruck darauf lege, dass der Fr. M. ein unersetzlicher Schaden 
zugefügt sei, sie ja auch keinen Ersatz gefunden hätte in einer über 
den L. verhängten mehrjährigen Zuchthausstrafe, wie sie z. B. nach 
dem Züricher Strafgesetzbuch eintreten müsste. Aber ich meine, dass, 
so wie es bei dem Diebe nicht bloss darauf ankommt, dass der von 
ihm dem Bestohlenen zugefügte Schaden möglichst ersetzt werde, son- 
dern er wegen Verletzung und Bruch der Rechtsordnung gestraft wird, 
auch ein solcher Dieb der Ehre, der eine Staatsbürgerin in einem Gute 
angreift, welches weit höher steht, als das Vermögen, eine Strafe er- 
leiden muss, die, unter Berücksichtigung der Grösse des der Geschä- 
digten zugefügten Uebels, als eine Sühne für die verletzte Rechtsord- 
nung angesehen werden kann. 

Ich habe es nur hypothetisch ausgesprochen, dass L. mit dem 
Bewusstsein der Falschheit seiner Anschuldigung diese gemacht habe 
und nur, wenn. dieses der Fall war, und sie es einsahen, kann die 
vier Votanten des höchsten Gerichtes ein Vorwurf treffen. Um mit 
Sicherheit jenen Schwerpunkt zu erkennen, dazu bedürfte es einer ge- 
naueren Bekanntschaft mit den Verhandlungen und der Sachlage, na- 
mentlich auch der Persönlichkeit des Lindahl. Von der Thatsache 
aber, dass aus den Zeugenaussagen sich gar nichts gegen das Fr. M. 
erg@b, dürfen wir wohl zurückschliessen, dass wenn auch L. nicht 


— 306 — 


die ganze Anschuldigung erdichtete, er auf ein blosses ihm zu Ohren 
gekommenes Gerede hin handelte. Wenn ferner L. ein vollsinniger 
Mensch ist, der weiss, dass er sein Handeln verantworten muss, so 
hat er sich fragen müssen, bevor er die enorme Anschuldigung gegen 
die M. durch seine Zeitung in die Welt schleuderte: bist du über- 
zeugt von der Wahrheit des Vorwurfes ? Schwerlich hat er sich diese 
Frage bejaht und dann handelte er arglistig oder in frevelhaftem Leicht- 
sinn. DBejahte er sich aber diese Frage, so hätte er als Staatsbürger 
die ihm zugekommene Kunde von einem so schweren Verbrechen der 
Staatsbehörde mittheilen müssen und niemand würde ihn deshalb als 
einen gehässigen Denuneianten angesehen haben. Dass er nicht die- 
sen Weg einschlug, sondern die Sache als Futter für scandalliebende 
Leser seiner Zeitung mehrmals verwendete, stellt seine Gesinnung und 
sein Benehmen in ein sehr schlimmes Licht. 

Ein neues Strafgesetzbuch wird, wie ich höre, für Schweden 
vorbereitet und es ist zu erwarten, dass der obige Fall beachtet wer- 
den wird bei der Bestimmung über das Verbrechen der falschen An- 
klage, gerichtlicher Verleumdung oder wie man es bezeichnen mag 
und man wird Recht thun, das im $ 1 des Gesetzes von 1734 aus- 
gedrückte alte Prineip in so weit zu wahren, dass das durch die An- 
klage gedrohte Uebel, also im schwersten Falle die Vernichtung des 
Angeklagten, zwar nicht in spezifischer Gleichheit, aber in adäquater 
Weise auf den Schuldigen, der arglistig handelte, zurückfalle, und 
so die Grösse des gedrohten Schadens der Hauptbestimmungsgrund 
für seine Bestrafung bleibe. Für den Fall aber, der sehr gewöhn- 
lich ist und wie er in Betracht des Lindahl vielleicht vorlag, wo zwar 
die Arglist nicht erwiesen werden kann, aber wohl ein frevelhafter 
Leichtsinn, der an die Arglist streift, hat das Gesetz von 1734 keine 
entsprechende Strafe, und diese Lücke wird ein neues Strafgesetzbuch 
ausfüllen müssen. 


Ein Beitrag zur Religionsphilosophie. 


Carl Candidus einleitende Grundlegungen zu einem Neubau der Religions- 
philosophie. Leipzig 1855. 

Der durch seinen, von Jakob Grimm eingeführten, deutschen 

Christus bekannte Verfasser schenkt uns hier ein neues Büchlein, 

das durch scharfe Dialektik zu festen Grundlagen der Religionsphilo- 


— 307 — 


sophie hinleitet, deren Gegenstand der Glaube eine in sich vollgenüg- 
same Gewissheit, doch an sich den Zweifel hat. Als Unentschieden- 
heit des Glaubens verhält sich der Zweifel zum bestimmten Glauben 
und Unglauben wie das Allgemeine zum Besondern. Immer ist eine 
innere Nöthigung das Maass des Glaubens oder Unglaubens, je 
schwächer dieselbe, desto grösser der Zweifel. Das Maass des Zwei- 
fels ist also das der Freiheit von innerer Nöthigung. Die absolute 
Freiheit setzt alles in Frage, ist absolute Skepsis. Wir ziehen Alles 
in Zweifel, um genau als Wahrheit oder Irrthum zuzulassen, was 
unserer inneren Nöthigung gemäss ist; nur eines bleibt fest, dass ich 
von da aus auf festem Grund denken will; Alles sei bezweifelt, nur 
nicht diese Freiheit; sie ist der Anfang, das Postulat des Denkens. 

Mit dem wirklichen Wollen ist die Möglichkeit des Nichtwollens 
vorausgesetzt. —- Von hier aus leitet der Verfasser nun folgende Sätze 
ab: 1) Wille, Denken und Empfinden sind Verschiedene und sind 
Eines, 2) ebenso Wille, Freiheit und Nothwendigkeit, 3) Wille, Un- 
endliches und Endliches, 4) Wille, Sein und Nichisein, 5) Wille, 
Sosein und Anderssein, 6) Wille, Einheit und Allheit; ein Abschnitt, 
sehr geeignet, dialektisch Denken zu lehren. 

Dieser Wille ist als Einheit mein Gott, als Allheit meine Welt. 
Meine empirische Persönlichkeit ist nichts durch eigene Kraft, sie 
ruht ganz und gar in Gott, ihre wahre Selbigkeit ist Gott. Das 
Sichselbsterfassen des Willens heisst auf Seite des Denkens Begriff, 
auf Seite des Gefühls Religion. Das demüthige Gefühl des Unter- 
schiedes von Gott und das Hochgefühl der Einheit mit ihm sind 
überall wo Religion wahrhaft ist. 

Wie das Postulat des Denkens der Wille ist, dass die Freiheit 
gedacht werde, so das des Gefühls das Wollen, dass die Freiheit 
gefühlt werde, worin die Möglichkeit des Nichtwollens liegt. Die 
Formen des Fmpfindens machen die sinnliche oder reale Welt 
im. engern Sinn aus, deren Objectivität nichts anderes ist, als die 
durchgehende Beziehung des Fmpfindens auf das Denken und Object. 
Das Gefühl erscheint immer als Wohlgefallen oder Missfallen an ei- 
nem Objeet, je nachdem es zu den Begriffen Einheit und Vielheit, 
die ihr Wesen im Willen haben, positiv sich verhält oder nicht; ge- 
nauer je nachdem unser Wille sich in einem Object als Einheit und 
Vielheit setzt oder nicht. — Bei der höhern Sinnlichkeit tritt die 
Denkbeziehung (das Objeet) schärfer hervor und geht als Anschauung 
oder Gebilde bestimmter neben der Empfindung her, als bei den nie- 


o 


— 308 — 


dern Stufen der Sinnlichkeit, daher denn abgelöster vom betreffenden 
Sinn das Angenehme nachgewiesen werde als die Einheit in der Viel- 
heit, was der Verfasser an ästhetischen Beispielen zeigt. 

Die Formen des Denkens bilden die Welt des Denkens; 
auch in dieser ist die Objectivität nichts weiter als die Denkbezogen- 
heit des Empfindens. Auch hier ist Einheit in der Vielheit das Wohl- 
gefallen erregende; statt Schönheit ist das Wohlverhältniss hier 
Wahrheit. Das Streben nach systematischer Erkenntniss ist das 
nach einheitlicher Vielheit; Missverhalten ist hier statt Hässlichkeit 
Irrthum. ” 

Die Willensformen sind die Welt des Willens d. h. die sitt- 
liche im engeren Sinn. Objectivität ist auch hier die Denkbezüglich- 
keit des Empfindens, auch hier verlangt das Gefühl Einheit in der 
Vielheit, Harmonie im Wollen, daher Willeneinigende Liebe den be- 
friedigendsten Eindruck macht. Das Wohlverhältniss ist hier das 


Gute 


Wo Einheit und Vielheit gleichmässig in einander aufgehen, ent- 
steht das einfach — Schöne, Wahre und Gute und diese wirken im 
Gefühl eine gewisse gehaltene Bewegung. Der Verfasser zeigt nun 
andere besondere Arten des Wohlgefallens auf und erklärt das Ko- 
mische mit der Wirkung des Lachens als vorwiegende Vielheit in 
der Einheit, wobei er das ästhetische, logische oder ethische unter- 
scheidet, und das Komische im religiösen Gesichtspunkte als das 
Vorwiegen der Weltlichkeit bestimmt. Das Erhabene hingegen liege 
im Vorwiegen der Einheit in der Vielheit, und auch im Erhabenen 
gebe es ein ästhetisches, ein logisches und ein ethisches. Die Wirkung 
sei strenger Ernst. Im Erhabenen sei ein Zurücktreten der Weltlich- 
keit. Treten Komisches und Erhabenes an Einem Gegenstand gegen 
einander, so entsteht das Humoristische, welches sentimental wird, 
wenn das Komische mit dem Rührenden in Verbindung steht, oder 
mit dem Pathetischen. Diese heiden stellen sich ein, wo ein Wohl- 
verhältniss entsteht oder vergeht, wo es untrennbar ist von einem als 
vorher oder nachher gedachten Missverhältniss, wie die Leiden Jesu. 

Schönheits-, Wahrheits- und Sittlichkeitsgefühl erregen einander 
wechselseitig. Finden wir sie vereinigt an einem Gegenstande, so 
erregt dieses ein höheres Wohlgefallen, und das Objekt gilt je nach 
dem vorliegenden Elemente als ein höheres Schöne, Wahre oder 
Gute. Noch mehr steigert sich das Wohlgefallen, wenn Hässliches und 
Schönes, Irrthum und Wahrheit, Unsittliches und Sittliches so verei- 


- 309 — 


nigt sind, dass diese Mannigfaltigkeit in eine ästhetische Einheit 
aufgeht. 

Aber nicht die dürre Einheit in der Vielheit meinen wir, son- 
dern was uns begeistert, ist nur der Geist der Objecte, in dessen Ein- 
heit und Vielheit wir uns hineinleben. 

Durch Endliches bloss als solches aufgefasst, wird dem tiefern 
Bedürfnisse des endlichen Geistes nicht genug gethan, das zerstört 
sich nach dem Genusse, und daher verlangt, wer nur dieses hat, im- 
mer nach Neuem. Jedes endliche Objekt ist kein Ganzes, keine wirk- 
lich einheitliche Vielheit. Daher wird es nur zu einer Denkbeziehung, 
die wir nicht wollen. Aus dem was wir sehen, muss eine Zuversicht 
werden dessen, was wir nicht sehen, bis an irgend einem endlichen 
Object das unendliche als Selbstbeziehung, als unser wahres Selbst 
sich offenbart, die höchste allein wahre Einheit und Vielheit, das Ein 
und Alles. Wer dieses im Gefühl hat, der hat Religion und wird 
jede Trübsal in Wonne u. s. w. aufheben. Er der Mensch gewinnt 
‚0 den absoluten Geist, Gott, von dem er sich verschieden und mit 
‘dem er sich Eines fühlt. 

An den beiden Pcstulaten, dem des Denkens und dem des Füh- 
lens, hat die Religionsphilosophie einen sichern Anfangspunkt. 

Zum Schlusse warnt der Verfasser, dass man die Gefahr unsrer 
Zeit doch nicht im Pantheismus suchen solle, der zwar einseitig aber 
nicht irreligiös sei, jedenfalls einen ebenso einseitigen Personalismus 
ergänze. Die Persönlichkeit sei ebensowohl ein Insichbestehen als ein 
Sichhinausbegeben; wer Gott in falscher Weise personalisire, be- 
halte keinen allgeg.nwärtigen Gott, wer ihn bloss naturalisire, behalte 
keinen freien Gott. Jeder einseitige Personalismus sei noch verblen- 
deter als sein Gegenpart, und wenn er diesen nur für Irreligiösität 
ausgebe, statt sich an ihm zu berichtigen, seine eigene Einseitigkeit 
aber für das volle Wesen der Religion ausgebe, so müsse dieses 
der Religion verderblich werden. 

So viel aus der scharf gedachten und anregenden Schrift, die 
sich dem Leser als bedeutende Leistung empfehlen wird. 

A. S. 


Der Klapperstein und der Lasterstein. 


Von EDUARD OSENBRÜGGEN. 


In einer Öffnung von Mülheim im Thurgau (1475) lesen wir 
am Schlusse (Grimm Wisth. I, 264): „Item wand auch frauwen oder 
tochteren ainanderen fräffenlich bluetrüssig machendt, verfallen ein 
pfundt pfening, und ob sy einanderen unerberlich misshandeln, schmähen 
oder schelten mit worten, mögendt die herren straffen nach grösse der 
schuldt, es sige mit stain tragen oder gelt buessen, wie sy das 
erkennen.* 

Die electiv hingestellte Strafe des Steintragens war im Mittel- 
alter sehr verbreitet, in Deutschland und über Deutschland hinaus 1), 
und ein sehr gewöhnlicher Name des Steins war Klapperstein, ent- 
sprechend dem Worte Klappertasche = Plaudertasche in Norddeutsch- 
land, Klappertäsch in der Schweiz. Zur Erklärung des Wortes Klap- 
pern, dessen Bedeutung freilich auf deutschem Boden bekannt ge- 
nug ist?), kann auch Art. 269 des alten Landbuchs von Nidwalden 
dienen: „Me so ist an obgesagter Nagmeind (1568) gemeret damit 
man des Clapern und Zuredens dester ee und fürer abkomme so 
söllend nunfürhin die für welche das Claperwerch zu Recht kumpt den 
Parthien zu gricht gält abnemen so vil sy wend und nachdem sye 
mit einer sach vil zu schaffen hand.“ 

In der jetzt zum Elsass gehörigen Stadt Mülhausen war der 
25 Pfund schwere Klapperstein nach Simler’s Beschreibung „for- 
mirt wie ein Weibskopf, so an ausgestreckter Zunge ein Malschloss 
hat.“ Die Personen, besonders Weiber, welche ihn an einer Kette 
um den Hals tragen mussten, wurden von den Stadtknechten an 
Wochenmarktstagen durch die Strassen der Stadt geführt und noch in 


‘ 


1) Grimm R. A. 721. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 1857 
No. 3. 4. 5. Michelet, Origines du droit francais p. 384. Coetsem du 
droit p@nal au XIIIe siecle dans l’aneien duche du Brabant (1857) p. 137. 
192. 195. 


2) Weigand's deutsches Wörterb. S. 589. 


45 ur 


— 31 — 


den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist, nach Stöber’s 
Mittheilung, eine solche Procedur vorgekommen. Das von Simler 
erwähnte Malschloss (Vorlegeschloss) findet sich in der von Stöber 
gegebenen Abbildung nicht, auch ist in dem Kopfe nicht gerade ein 
Weibskopf zu erkennen. Es hängt jetzt dieser Klapperstein als eine 
Reliquie im Rathhause zu Mülhausen unter der alten Inschrift: 

Zum Klapperstein bin ich genannt, 

Den bösen Mäulern wohl bekannt, 

Wer Lust zu Streit und Hader hat, 

Der muss mich tragen durch die Stadt). 

. In Oesterreich, wo die Strafe des Steintragens für Weiber eben- 
falls sehr gewöhnlich war, bestimmte ein Weisthum *) über die Proce- 
dur Folgendes: „Sy melden weiter zu Recht, ob ain unbeschaiden 
waib ainem Man oder andern frawen zunahet mit worten redet, so 
soll Sy der Richter in ain Eysen pandt nemen, und sol Ir den 
pachstain an den hals hangen und sol Sy in dem dorff auf und ni- 
der füren, von ainem valthor zum andern, und dieweil man Sy puest, 
so sol der Richter des pesten weins ainen Emer nemen, so man In 
zu der Zeit haben mag, und sol darein drew oder vier Assach legen, 
und all Jung knaben als vil Ir in dem Aigen sein, sollen den zu 
ainer gedechtnus austringkhen, und den sol das pös Weib bezallen, 
‚on alle widerred pey dem grossen wandl.“ 

Ein ebenso wie Klapperstein das Delict genau bezeichnender 
Name jenes Steins ist Lästerstein und Lasterstein, den man durch- 
aus unterscheiden muss von dem Lasterstein, der dem Pranger ent- 
spricht. Auf oder neben dem Lasterstein werden jetzt wie früher in 
der Schweiz Personen ausgestellt), Ein solcher viereckig behauener 
Lasterstein ist da wo ich ihn gesehen, vor dem Rathhause in Zug, 
Appenzell ete., von sehr beträchtlicher Grösse und unbeweglich. Da- 
her ist es merkwürdig, was Meyer von Knonau berichtet 6), dass 
in Verdacht der Hexerei stehende Personen in Winterthur im 16. Jahr- 


2) Jos. Simler, Regiment der Eidgenossenschaft — fortgesetzt von Leu 
(1722) S. 637. Aug. Stöber im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 
1857 No. 3. 4. und in der Alsatia 1851 S. 36 vgl. 1856 und 57 S. 125. 

4) J. P. Kaltenbaeck, die Pan- und Bergtaidingbücher in Oesterreich 
unter der Enns XXXIV, 55. vgl. meine Schrift über den Hausfrieden S. 86. 
Anm. 45. 


5) S. meine Mittheilung über die gegenwärtige Strafrechtspflege in Unter- 
walden in: Prutz deutschem Museum 1857 No. 25 S. 898. 


6) Canton Zürich (2. Aufl.) II, 155. 


— 312 — 


hundert den Lasterstein durch die vier Hauptgassen der Stadt ziehen 
mussten. Nach einer gefälligen Privatmittheilung des verdienten Alter- 
thumsforschers hat derselbe diese Notiz auf einem fliegenden Blatte im 
Winterthurer Archiv gefunden. } 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 16. Juli 1858. 


Herr Dr. Meyer-Ahrens hält einen Vortrag über die Heilquellen und 
Molkeneurorte des Berner - Oberlandes. 

Nach einer kurzen Einleitung, worin er eine Uebersieht der bedeutendsten 
Heilquellen und Kaltwasserheilanstalten der Schweiz gibt, zeigt er, wie die 
Heilquellen des Berneroberlandes (die Heilquellen an der Stockhornkette inbe- 
griffen) sich im Allgemeinen in zwei grosse Hauptgruppen theilen lassen, näm- 
lich in Gypswasser, und erdige Wasser, welche letztere sich durch einen vor- 
wiegenden Gehalt an kohlensaurem Kalk charakterisiren, dem nebst andern Be- 
standtheilen sich auch etwas Eisencarbonat anreiht, und wie dann wieder die 
Gypswasser in Schwefelwasserstofffreie und Schwefelwasserstoffhaltende zerfal- 
len; zu den erstern rechnete er Weissenburg, zu den letztern in erster Linie 
die Heilquellen an der Leuk im obern Simmenthal, denen wegen des starken 
Gehaltes der einen, der Balmquelle, an Schwefelwasserstoff, eine grosse Zu- 
kunft warten dürfte, dann die Quellen zu Leissigen am südlichen Ufer des 
Thunersees, eine der Quellen von Henstrich, am südöstlichen Fusse des Niesen, 
die Quellen von Gurnigel, die Quelle von Schwefelberg u. s. w. Unter den 
erdigen Quellen hebt Meyer-Ahrens in erster Linie die Quellen von Blumenstein, 
Otteleue und Längenei hervor. 

Hierauf geht der Vortragende zu einer kurzen Beschreibung der vorzüglich- 
sten von ihm aufgeführten Heilquellen und der damit verbundenen Curorte, na- 
mentlich Weissenburgs, über, schliesst dann mit einem allgemeinen Hinblick 
auf den herrlichen Molkenkurort Interlaken, den Schmuck und die Krone des 
Berneroberlandes und die climatischen Kurorte Grindelwald und Lauterbrunnen, 
und weist endlich darauf hin, wie auch für Personen, die sich ein minder kost- 
spieliges und ruhigeres Asyl zu einem Sommeraufenthalte suchen, in der Schweiz 
mannigfaltig gesorgt sei, wobei er namentlich auf manchen freundlichen Ort 
Unterwaldens hindeutet. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 16. August 1858. 


Herr Professor H. Schweizer hielt den oben gedruckten Vortrag: „Sans- 
krit, Sprachvergleichung und Professor L. Ross in Halle.“ An den Debatten 
nahmen Theil die Herren Egli, Fritzsche, Hitzig, Osenbrüggen, G. von Wyss. 


Druck von E. Kiesling. 


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NN 


Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- 
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, 
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- 
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter 
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile. über neue Erscheinungen, 
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. 


Inhalt des borliegenden Beftes : 


Die Jranzösische Presse während des Jahres 1789. Von Jacor Voern. 249 | 
Sanserit, Sprachvergleichung und Professor L. Ross in Halle. Von 


HEINRICH SCHWEIZER. . . s 284 
Die Talion bei,falscher Anklage im "Yahre 1858. Von En. .. 301 
Ein Beitrag zur Religionsphilosophie. (Anzeige der Schrift von Carl Candidus , 

„einleitende Grundlegungen zu einem Neubau der Religionsphilosophie* I 

VOR TA S een er enen la men) 1 NT Le Re EEE) &E 
Der Klapperstein und der Lasterstein. Von En». OSENBRÜGGEN. - -» . 309 
Bericht über die Sitzungen des wissenschaftlichen Vereins am 16. Juli und , 

TO SAUgGURL:. ee eu ee e SloL 17 Poesie EEE 


Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des 
Buchhandels erbeten. 


Grgenwärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins : 


Hırzıe, Präsident. An. Schmivr, Vieepräsident. G. v. Wyss, Sekretär. Bosrık 
Crausıus. DERNBURG. Ecrı. Escher y. d. Lınıu. Feur. H. Frey. Ferıtzsche. 
Hezer. Hınoesrann. HiLLesrand. J. J. Hortıneer. Krsscort. Kym. Leüsert. 
v. MarscHAarıL. H. MEYER. MEYER-AHRENS. MEYER v. Knonav. MÜLLER. NÄsELL 
v. Orzıtı. Osensrüsgen. RaagE. Schruchzer. SchLortuann. ALEX. SCHWEIZER 
H. SchwEIzErR. STÄDELER. F. VıscHkr. VogEL. VOoLKMAR. 


Druck von E. Kiesling in Zürich. 


des 


in 


ZÜRICH. 


Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben 


Fervınannp Hırzıs, EpvArD OSENBRÜGGEN, HemrıcHh Frey, 


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(Hauptred.: Epvarp ÖsENBRÜsGEN.) 


DBELLLTBER JABEBAR®. 


Eilftes und zwölktes Belt 


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VERLAG von MEYER & ZELLER. 


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recht bald bei den Buchhandlungen und Postämtern Aumesben. 


Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- 
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, 


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mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender 
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- 
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter 


sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, 
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. 
Inhalt des borliegenden Beftes :; | 
Nilus und Aegyptus. Von A. SCHEUCHZER SE et in B 313 | 
Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz (Fortsetzung). Von En». 
DsEnBRÜdaun 1 NN N N Sn N 
9. Die bürgerliche Ehre, ihre Entziehung und Schmälerung. | 
10. Das Rebenweisthum von Twann am Bielersee. | 


11. Morgengabe und Abendgabe. 
12. Das ius primae noctis. 
13. Der Brand von Zürich im Jahre 1280. 
14. Hans Hotterer. 
15. Das Bahrrecht. 
Bericht über die Sitzungen des wissenschaftlichen Vereins am 8. November 
und a1: December... nl we er Pe N rer LEER ZEN 


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STÄDELER. F. VıscHER. VoGEL. VOoLKMAR. 


Druck von E. Kiesling in Zürich. 


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(2 


Nilus und Aegyptas. 


Von A. SCHEUCHZER. 


„ Nach einem Bruchstück beim Scholiasten des Apollonius Rhodius, 
” 


auf welches Bunsen!) aufmerksam gemacht hat, zählte Dikäarch von 


m uralten König und Gesetzgeber Sesonchosis, dem Nachfolger des 
Gottes Horus in der Herrschaft über Aegypten bis auf König Nilus 


2500 Jahre, von Nilus bis zur ersten Olympiade 436 Jahre. 


Die Regierung des Nilus muss hienach ein denkwürdiges Ereigniss 
gewesen sein, da Dikäarch sie zu einem Anhaltspunkt seiner Zeitrech- 
nung machte. Es frägt sich daher, welcher König der Listen und der 
Denkmäler darunter verstanden sei. 

Da nach der obigen Zeitbestimmung Nilus jedenfalls dem neuen 
Reiche angehört, so ist von vorneherein nicht an den König Phuoro des 
alten Reiches zu denken, den 37sten der eratosthenischen Reihe, des- 
sen Name nach der beigefügten griechischen Uebersetzung Neilos lau- 

„Hier ist Identität nur des Namens, nicht der Person. 


3 Nun hat Bunsen den Neilos des Dikäarch in dem letzten König 


der 19. manethonischen Dynastie, in Thuoris zu erkennen geglaubt, des- 
sen Namen er mit leichter Aenderung Phuoris, d. i. Nilus lies’t?). Da 
Dikäarch seinen Neilos 436 Jahre vor der ersten Olympiade, also 1212 
Jahre vor unserer Aera setze, so habe er ihn damit als Zeitgenossen 
des trojanischen Krieges bezeichnen wollen. Dann aber müsse er identisch 
sein mit dem manethonischen Thuoris, dem letzten König der 19. Dy- 
nastie, bei welchem die Bemerkung steht, unter ihm sei Ilion eingenom- 
men worden. Dieses Zusammentreffen von Zeit und Namen scheint 
den Schluss, Dikäarchs Neilos sei der manethonische Thuoris, oder 
vielmehr Phuoris, zu rechtfertigen. 

Dennoch müssen wir uns gegen denselben erklären. Wenn auch 
die Aenderung des manethonischen Namens in Phuoris an sich wohl 


1) Aegyptens Stelle in der Weltgeschichte Buch 1, $. 149. B. I, 86. Ur- 
kundenbuch S. 68 fi. 

2) Aegyptens Stelle etc. III, 95. 116. IV, 229. Vgl. Lepsius, Chronolo- 
gie der Aegypter I, 301. 
Wissenschaftliche Monatsschrift, III. 21 


— 314 — 


zulässig wäre, so sprechen mehrfache Gründe gegen die Identität die- 
ses Königs mit Neilos. Nilus ist sicher ein Epoche machender Name 
gewesen, während die kurze, nur siebenjährige Regierungszeit des 
Thuoris gegenüber den langjährigen Regierungen der ersten Könige der 
19. Dynastie es sehr unwahrscheinlich macht, dass Thuoris die Be- 
deutung gehabt haben könne, die Dikäarch seinem Neilos beigelegt 
hat. In der Regel ist doch das Haupt und der Begründer einer Dy- 
nastie, nicht der letzte Ausläufer einer solchen, eine grosse Persön- 
lichkeit. Thuoris ist wohl nur desshalb in den Listen hervorgehoben 
worden, weil nach einer der mehrfachen Berechnungen Troja’s Fall 
in seine Zeit traf. 

Wir besitzen dagegen ein unverwerfliches Zeugniss, dem zufolge 
wir den Neilos in einem andern Könige erkennen. Josephus ®) führt, 
wenn nicht nach Manetho selbst, doch nach Auszügen aus dessen Ge- 
schichtswerk, eine Reihe von Pharaonen auf, welche der 18. und 19. 
manethonischen Dynastie entsprechen. Er erzählt den Streit des kö- 
niglichen Brüderpaares Armais und Sethosis, und wie der letztere 
auf die Kunde vom Verrath seines Bruders von seinen asiatischen 
Eroberungszügen heim eilte, des Reiches wieder mächtig ward, und 
das Land nach ihm den Namen Aegypten erhielt; denn, sagt seine 
Quelle, Sethosis hiess Aegyptus, sein Bruder Armais aber Danaus. 

Sethosis also hiess mit anderm Namen Acgyptus. Nun wissen 
wir, dass bei den ältern Griechen nicht sowohl das Land, als der 
Landesstrom unter dieser Bezeichnung verstanden ward #). Der griechi- 
schen Bezeichnung des Stromes: Aegyptos, muss eine einheimische 
entsprochen haben. Diese finden wir in dem Namen Uchoreus bei 
Diodor (I, 50). Lepsius) hat nachgewiesen, dass Uchoreus den 
Nil bezeichnet, der im Aegyptischen bekanntlich nur „Fluss,“ kop- 
tisch iaro oder eioor heisst, welches Wort unmittelbar als jeor ins 
Hebräische hinüber genommen ward. Mit verstärktem Hauch konnte 
es leicht ichur gesprochen werden. Den Namen Uchoreus nun, der 
durch Hinzufügung der griechischen Endung gebildet, die inländische 
Bezeichnung des Nil enthält, glauben wir mit geringer Veränderung 
bei Justin (I, 1, 6. II, 3, 8) zu erkennen, wo die meisten Hand- 
schriften den Sesostris der griechischen Sage, d.i. Sethosis I, Vexores 
nennen. Ist unsere Zusammenstellung von Vexores mit Uchoreus’ rich- 
tig, wobei allerdings x die Geltung von x verlangt, so führte Setho- 


3) c. Apion. I, c. 15. — #) Odyss. 4, 477, 14,258. — 8) Chronol. d. Aegypter I, 275. 


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— 315 — 


sis I. auch nach dieser $telle den Zunamen des Landesstromes, und wir 
sind wohl berechtigt, ihn als den König Neilos in Anspruch zu nehmen. 

Es lässt sich auch genügend erklären, wie derselbe zu diesem 
Beinamen gekommen ist: Herodot (II, 108) schreibt seinem Sespstris, 
der wesentlich dem manethonischen Sethosis bei Josephus, namentlich 
in dem Streit mit seinem Bruder entspricht, die Durchführung des 
Kanalnetzes in Aegypten zu, womit die Landvermessung und das 
darauf. basirte Abgabensystem zusammen hing. Bei dem Kanalnetz 
war ein doppelter Zweck beabsichtigt; zunächst sollte die Wohlthat 
des Nilwassers auch den vom Strom entferntern Ortschaften zugewen- 
det werden. Hiedurch ward aber auch die flache Niederung, vordem 
für Kriegswagen und Reiterei ein höchst vortheilhafter Boden, für beide 
fast unzugänglich gemacht, was der Kanalerbauer eben wollte. Der 
Strom sollte das Land nicht nur befruchten, sondern auch gegen 
Angriffe von aussen beschützen. Sethosis I. hiess ja vorzugsweise 
„Wächter Aegyptens.“ Diodor (I, 57) sagtvon diesem König, den er 
Sesoosis nennt, er habe zum Schutz der östlichen Grenze gegen Ein- 
fälle aus Arabien und Palästina eine Mauer aufgeführt, die von Pe- 
lusium bis On sich erstreckte. Dieses wird durch eine Inschrift am 
grossen Hypostyl von Karnak bestätigt, wonach Sethosis I. eine dop- 
pelte Mauer gegen die Länder der Unreinen zog. ®) 

So weit war die ägyptische Macht zu Aufang der 19. Dynastie 
zurückgegangen. Tuthmosis III., der 5. oder 6. König der 18. Dy- 
nastie, hatte die Grenzen des Reiches nordwärts bis Naharina (Meso- 
potamien) erweitert, wie die Inschrift in der Nähe der Granitcella des 
Ammontempels zu Karnak bezeugt 7), die von den Kriegen, der Beute 
dieses Königs und den ihm dargebrachten Tributen Meldung thut, und 
unter dem sonderbaren Namen der statistischen Tafel von Karnak be- 
kannt ist. Noch unter Amenophis III. ward jene Grenze behauptet; 
aber von da an verfiel die Macht dieser thebaischen Dynastie, wohl 
besonders in Folge der religiösen Spaltung, die durch den Reforma- 
tor Amenophis IV. eingetreten war). Mehrere Regierungen, die als 
usurpatorisch nicht in die Listen aufgenommen wurden, folgten sich. 
Unter diesen Wirren gingen nicht nur die früheren asiatischen Er- 


6) Bunsen a. a. O. B, IV, S. 173. 

7) Lepsius!, Auswahl der wichtigsten Urkunden des ägyptischen Alterthums 
Tafel XII, Spalte 21. Birch, Observations on the statistical tablet of Karnak, 
Transactions of the royal society of literature, second series, Vol. II, p. 346 ff. 

8) Lepsius über den ersten ägyptischen Götterkreis. 


— 316 — 


oberungen verloren, sondern die alten Feinde des Reiches, die Schasu 
(Hyk-sos) scheinen wieder in Unterägypten eingedrungen zu sein, so 
dass Sethosis I. gleich im ersten Jahr seiner Regierung genöthigt war, 
vor allem sich ihrer zu erwehren. ?) 

Seinen Triumph über die Schasu verherrlicht eine Darstellung an 
der nördlichen Aussenwand des grossen Pfeilersaales von Karnak. 
Wenn es in der betreffenden Inschrift von ihm heisst, seines gleichen 
sei nicht gesehen worden seit Ra (Helios), so sieht man, welch hohe 
Auszeichnung ihm zu Theil geworden ist!P). Nimmt man hinzu, dass 
unter ihm nicht die Aegypter, sondern die fremden Kriegsgefangenen 
die Kanäle graben, die Steine zu seinen Prachtbauten herbeischleppen 
mussten, da es sein Stolz war, dass kein Landeskind unter hartem 
Frohndienst seufze; dass das Land ihm nach einer Zeit der Verwir- 
rung wieder Sicherheit und Wohlstand verdankte 11), so begreift es 
sich, wie das Volk seinem menschenfreundlichen Liebling den ehren- 
vollen Beinamen des nährenden und schützenden Landesstromes bei- 
legen konnte. Unter diesem Namen, der ihm freilich weder in den 
Listen noch auf den Denkmälern beigelegt ist, ist er gewiss in den 
Liedern?) besungen worden, die das Andenken seiner Thaten auf 
ihre Weise lebendig erhielten. 

Wenn auch Dikäarch seinen Neilos 436 Jahre vor den Anfang 
der Olympiaden setzt und ihn damit als Zeitgenossen der troischen 
Geschichten bezeichnet, so schliesst diess den Sethosis I. keineswegs 
aus. Jene Zeitbestimmung führt gar nicht nothwendig auf das Jahr 
1212 vor unserer Aera. Zählte Dikäarch von der Olympiade nicht 
des Koroebus sondern des Iphitus, also von 888 vor Chr., so trifft 
sein Nilus in 1324 v. Chr., womit wir der Zeit des Sethosis I. schon 
ziemlich näher kommen. Die troischen Begebenheiten fielen auch dem 
Herodot (II, 145) an hundert Jahre früher als die bei uns gewöhn- 
liche Bestimmung. Zudem ward von „den Alten“ geradezu Sethos 
Zeitgenosse des Odysseus genannt. Lepsius,13) der diese Stelle bei- 
gebracht hat, denkt swar an Sethos II., allein da der Name ohne 
nähere Bezeichnung genannt ist 1#), so wird man eher annehmen dürfen, 
dass der berühmte König, der erste dieses Namens gemeint war. 

Sethosis also, der als Aegyptus mit dem Landesstrom in ähn- 


9) Lepsius, Denkm. Abth. III, Bl. 126, a. — 1%) Bunsen a.a. 0. IV, 175. 
Lepsius, Denkmäler Abth. IH, Bl. 128,b. — !!) Diodor I, 55, 56. Herodot 
U, 108. — 12) Diodor I, 53. — 13) Chronol. I, 297. — +) Eustathius zur 
Odyss. 14, 278. 


— 317 — 


licher Weise identifieirt ward, wie der König von Assur mit dem 
Phrath 15), veranlasst uns, einige Benennungen des Stromes und Lan- 
des näher ins Auge zu fassen. 

Diodor (I., 12. 19.) sagt, der älteste Name des Nil sei Okea- 
nos oder vielmehr Okeanes; so habe auch das Element des Nassen 
geheissen; die Aegypter halten den Okean für ihren Nil. Sonst ken- 
nen wir. denselben nur als Vater des Neilos. Er ist aher auch 
selbst wieder Neilos. Diess deutet darauf hin, dass wir es mit einem 
ägyptischen Wort zu thun haben. Wie man kaum eine befriedigende 
Erklärung desselben aus den arischen Sprachen wird geben können, 
so bietet sich im Aegyptischen eine völlig ungezwungene Etymologie 
dafür an. Man ist geneigt, den Begriff des Nassen oder der Strö- 
mung in dem Wort Okean zu suchen, weil es das Element des Feuch- 
ten, des Wassers bezeichnete; dass dieser Begriff indess nicht im 
Worte liegt, deutet schon die Erklärung desselben als zg0pr, uneng 
bei Diodoran. Die Form Rxeavng entspricht genau dem Aegyptischen 
ök & any: „Brot oder Nahrung zum Leben.* Eine treffende Bezeich- 
nung für das feuchte Element, für jenen die Erde umgebenden Him- 
melsstrom, wovon ihr Nil, der dıiserng morauog (Odyss. 4, 477) 
ein Ausfluss war, und also auch für diesen selbst. Der Nil, die Be- 
dingung aller Fruchtbarkeit, galt den Aegyptern für Okean, d. i. 
Lebensbrot. Auch die andere Lesart Dxeaung liesse sich als ök & uam 
„Brot zum essen“ erklären. 

Ein zweiter Name des Stromes war nach Diodor (I, 19) Aetos 
(Adler). So sei er wegen seines Austretens über die Ufer benannt 
worden. Auch dieser Name lässt eine nähere Erklärung zu. Das 
ägyptische Wort für Adler: ayem, koptisch ahöm, kann hieroglyphisch 


IE. 
® (Arm, Sieb, offenes Viereck) geschrieben werden. Diese Zei- 


chen können aber auch uös’em gelesen werden und „Teig“ bedeuten, 
Vermengung von Nassem und Trocknem, farina subacta, ein passen- 
der Ausdruck für den mit Nilschlamm bedeckten Erdboden zur Zeit der 
Ueberschwemmung. Hier begegnen wir unerwartet dem Mythus von 
Prometheus, dessen Leber der vermeintliche Adler verzehrt. Ich denke, 
dieser ägyptische Prometheus, der sich über das &xo7yu« grämt, ist 
kein anderer, als p. har-em-hat, der Horus von Edfu, dessen Ge- 
biet von der Ueberschwemmung zuerst betroffen ward. Auch der Aus- 


15) Jes. 8, 7 £. 


— 3118 — 


druck: die Leber oder das Herz essen, ist ächt ägyptisch. Der Kopte 
sagt: sein Herz essen, (uöm h£t) für sich grämen. 

Die hieroglyphische Bezeichnung des Niles als Gottheit gefasst, 
ist Hapi mit dem Bassin. Dieses Wort scheint von einer Wurzel ge- 
bildet, die im Koptischen mit verschiedenen Vokalen gesprochen wird: 
hop, hep, auch mit verstärktem Guttural chop, chep, aber immer die 
Bedeutung verbergen, verborgen sein, hat. (Das Passivum zeigt stets 
den langen Vokal & oder ö.) Die hieroglyphische Schreibung wäre so- 
nach durch das koptische höpi nte pi möu wiederzugeben in der Be- 
deutung Verschluss, Behälter des Wassers, Wassergrotte, Wasserkam- 
mer, oder eher noch durch h&pi nte mere, Kammer der Ueberschwem- 
mung, da das Bassin, mer, nicht nur Wasser, sondern auch die Ue- 
berschwemmung bedeutet. 

Dieses sind nun freilich nicht gewöhnliche Namen des Flusses, 
sondern mehr symbolische Bezeichnungen desselben. Dass der inlän- 
dische vulgäre Name, hieroglyphisch aur, koptisch iaro und eioop 
nichts anderes als Fluss bedeutet, haben wir schon berührt. Zu den 
wenigstens ursprünglich symbolischen Namen rechnen wir auch die 
vulgär gewordene Bezeichnung Nil. Wir halten dieselbe für nichts 
anderes, als die semitische Uebertragung von hapi oder h&pi. Gegen 


die Ableitung von nachal, om), spricht, dass dieses Wort ebenso- 


sehr den Thaleinschnitt als den Bach, mehr ein kleineres, zu Zeiten 
auch versiegendes Waldwasser, als einen Hauptstrom bezeichnet. Da- 


gegen entspricht die Form Spy neil, vom Stamm na’al, verriegeln, 


auch in den Vokalen dem griechischen Neilog, wie in der Bedeu- 
tung dem einheimischen h£&pi, als das Verschlossene; indem das Be- 
hältniss statt des Inhaltes gesetzt ist. 

Der Name Schichor, unter dem der Nil ebenfalls in der Bibel 
vorkommt, bietet zwar eine nahe liegende Etymologie aus dem He- 
bräischen dar, indem der Nil dadurch als der dunkele, schwarze Fluss 
bezeichnet würde. Doch ist nicht zu verkennen, dass sichor, von 
anlautendem s abgesehen, eine auffallende Uebereinstimmung mit jeor 
zeigt, von dem es sich nur durch den stärkeren Guttural unterschei- 
det, so dass man geneigt sein könnte, auch dieses Wort für ursprüng- 
lich ägyptisch zu halten. 

Der dritte Name des Stromes, den Diodor anführt, ist Aegyp- 
tus. So hiess er bekanntlich bei Homer. Dass die Eingebornen ihren 
Nil je so genannt haben, wird niemand glauben. Vielmehr ist Aegyp- 


— 319 — 


tus Name des Landes und von den Griechen aus Missverstand rück- 
wärts auf den Strom übertragen, bildet daher den natürlichen Ueber- 
gang zu den verschiedenen Benennungen, die zur Bezeichnung des Nil- 
thales üblich waren. 

Die gewöhnliche hieroglyphische “Gruppe hiefür lautet k&me, 
ch@mi, offenbar im Zusammenhang mit dem Stammvater Cham; es 
war die gesegnete schwarze Erde, im Gegensatz der typhonischen 
rothen des angrenzenden Edom und Phönicien. Dieses ist als der 
eigentliche einheimische Landesname zu betrachten. Andere Bezeich- 
nungen sind mehr symbolische Ausdrücke dafür: so der Lotus- und 
Papyrus-Büschel für Ober- und Unter-Aegypten; die Bezeichnung 
Land der Sykomore: kah-'n-nuhi; Land der Ueberschwemmung: kah 
oder to nte mere 19), 

Was aber den durch die Griechen zu universeller Geltung ge- 
brachten Namen Aegyptus betrifft, so ist derselbe unsers Wissens nie 
genügend erklärt worden. Namentlich halten wir die Erklärung des- 
selben als kah Ptah, Land des Ptah, für unstatthaft. Wenn es nämlich 
richtig wäre, was behauptet worden ist, dass in der Rosettana der 
Name Aegyptens kah Ptah laute, so müsste doch der Name des Got- 
tes darin zu erkennen sein, wie er sich in derselben Inschrift dreimal 
im Namensring des Ptolemäus und in der Gruppe: „Haus des Ptah“ 
Lin. 9 mit den gewöhnlichen Zeichen geschrieben findet, während die 
Gruppen, die kah Ptah gelesen werden wollen, weder diese Zeichen 
noch das Bild des Gottes enthalten. Eine dieser Gruppen vollends, 
die mit dem Baume, widersteht der Lesung kah Ptah aufs entschie- 
denste, da sie nach den ihr zuweilen beigefügten phonetischen Zeichen 
zwar Aegypten bedeutet, aber dasselbe als Land der Sykomore, nuhi, 
bezeichnet. 

Der Name Aegyptus ist seinem wesentlichen Bestandtheil nach 
gewiss inländisch, aber den Griechen nieht unmittelbar von den Ae- 
gyptern zugekommen, sondern von den Semiten übermittelt worden. 
Die Form Alyvuncog ist bis an die griechische Endung buchstäb- 
lich nichts anderes als WNEI’N; die Vorschlagsylbe @ı das he- 
bräische ”S, womit die Semiten die Inseln und Küstenländer des 
Mittelmeeres bezeichneten. Der Kern des Wortes: Kaphtor ist ächt 
ägyptisch und zu erklären als kah pet aur: Land welches im Flusse, 
oder welches des Flusses ist, eine passende Bezeichnung für das 


16) Champollion, Grammaire Egypt. I. p. 150. 152. 195. 


— 320 — 


aus den Ablagerungen des Nil allmälig hervorgegangene Delta; denn nur 
für dieses, nicht für das ganze Nilthal nehmen wir den Namen Kaphtor 
in Anspruch, gerade wie die Jonier unter Aegypten nur das Delta ver- 
standen 17). Während der Nil oberhalb desselben nach der Ansicht 
der Griechen Asien von Libyen scheidet, so dass sein östliches Ufer 
zu Arabien, sein westliches zu Libyen gerechnet ward, gehörte das 
Delta zu keinem von beiden, sondern bildete einen eigenen Erdtheil 
für sich, es war eben Aiyvreros, Kaphtor, Flussland, das nur in und 
durch den Strom sein Bestehen hat. Das Wörtchen pet, phet, eigent- 
lich Determinativ und Relativ: ille qui, kommt oft in ähnlichen Ver- 
bindungen, besonders in Namen vor: ÖOsiri pet Ament, Osiris, der 
im Westen, im Hades ist 18); Pet. Ammon, der dem Ammon angehört; 
Pete-p-re, qui Solis est und geradezu donum Solis. So ist kah pet aur 
wörtlich 77 d@gov Toü sorauoü, wie das Delta bei Herodot (II, 5) 
wirklich heisst, das hinzu gewonnene, dem Fluss abgewonnene Land 
ist Geschenk des Flusses. Die Jonier hatten also ganz recht, den 
Namen Aiyvrrrog auf das Delta zu beschränken, und Herodot, der 
ihre Behauptung bestreitet, muss den für das Oberland einheimischen 
Namen Kemi nicht gekannt haben. 

So hat also in der That der Fluss dem Land seinen Namen gegeben. 
In der Bibel heisst dasselbe bekanntlich in Dualform Mizraim , als Doppel- 
land oder Doppelreich aufgefasst. In mazor, misor ist das ägyptische 
mas, mes Kind, Geburt, und aur Fluss zu erkennen. Mazor wird also 
Geburt oder Kind des Flusses bedeuten, was gerade das Delta ist, 
welches unter Mizraim und Mazor im Gegensatz von Patros vorzugs- 
weise verstanden wird. Kaphtor und Mazor wären hiernach ursprüng- 
lich gleich bedeutende Ausdrücke. 


So gewiss Kaphtor weder Kappadocien noch Kreta, sondern das 
Niederland Aegypten ist, so haben wir die alte Heimat der Philister 
hier zu suchen 19). Ihre Könige haben wohl unter dem Namen der 
Hyksos einst den T’'hron von Memphis besessen, wie noch eine späte 
Erinnerung an den Hirten Philition bezeugt, der dort seine. Heerden 
geweidet 2°). Am andern Ende des Delta trägt die Grenzfeste Pelu- 
sium ihren Namen. Unter- Aegypten, der Wohnsitz so vieler kanani- 
tischer Völkerschaften, muss überhanpt den Bewohnern von Kemi als 
ganz typhonisch erschienen sein, wie denn auch die freilich ausserhalb 
des Delta gelegene, den Israeliten angewiesene Landschaft als Gosen, 
Teosu, d. i. wohl kah semmo, terra peregrina bezeichnet wird. 

17) Herodot I. 15. 16.— 8) Champollion, Dietionnaire Egypt. p. 121. No. 88. 


B. pag. 312. — '%) Amos 9, 7. Jerem. 47, 4. neben 1. Mos. 10, 14. 5. Mos. 2, 23. 
20) Herodot II, 128. 


Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. 
Von EDUARD OSENBRÜGGEN. 


IX. Die bürgerliche Ehre, ihre Entziehung und Schmälerung. 


$ 1. Taeitus sagt von den alten Germanen „nihil neque pu- 
blicae neque privatae rei nisi armati agunt* und „ad negotia nec 
minns saepe ad convivia procedunt armati“ (Germ. 13. 22.). In kei- 
nem deutschen Lande ist diese germanische Sitte länger bewahrt als 
in den Ländern der innern Schweiz. Den alten germanischen Volks- 
versammlungen oder genauer Landsgemeinden, welche gebildet wur- 
den durch die freien wehrfähigen Männer der Gemeinden und des 
Bezirks entsprechen die Landsgemeinden der Cantone der inneren 
Schweiz. Die allgemeine Bewaffnung des souveränen Volks am Tage 
der ordentlichen 1) Landsgemeinde oder Maienlandsgemeinde (am Sonn- 
tage vor eingehenden Maien) mit dem Seitengewehr gilt noch als 
unumgänglich nothwendig in Appenzell. Früher erschien der Appen- 
zeller auch bei anderen Gelegenheiten bewaffnet, in der Kirche und 
bei Hochzeiten, bei Gericht und auf Märkten ?); aber an keinem Tage 
war doch das Tragen des Seitengewehrs so die Ehre und die Pflicht 
des Landmannes, als am Tage der ordentlichen Landsgemeinde. In 
dieser Waffe sah er das Sinnbild seiner bürgerlichen Ehre und wie 
„ehr- und wehrhaft“ ein Begriff war, so auch „ehr- und wehrlos.“ 
Zu dem „lang ansehenlich Seitengewehr,“ welches nach einem Appen- 
zeller Mandat von 1671 jeder an die Landsgemeinde (in Ausserrhoden) 
mitbringen sollte, gehörte früher auch der Mantel. Wer sich Fried- 
bruch hatte zu Schulden kommen lassen, sollte schon während dar- 
über gerichtet wurde, „under währendten Rath“, Degen und Mantel 
ablegen, nach Beschluss der Landsgemeinde „zu Ybach vor der Brugg“ 
1543 (Schwyzer Landbuch S. 27) und noch 1764 und 1765 wurde 
in Schwyz erkannt, nach alter guter Sitte der Vorfahren solle jeder 


1) 8. die trefflichen Capitel über die Landsgemeinden bei Blumer I, 265 ff. 
DI, 100 £. 

2) Rüsch, der Canton Appenzell S. 119. 

Wissenschaftliche Monatsschrift, II. 21 


— 5322 — 


Landmann mit Degen und Mantel an der Landsgemeinde erscheinen; 
wer dieser Vorschrift nicht nachkomme, dessen Rathschlag solle 
nichts gelten ?). 

Das Alter der politischen Mündigkeit war in früher Zeit schon 
das 14te Jahr, darauf das 16te Jahr *), Von diesem Zeitpunkte an 
bis zu der Zeit, wo das Alter die Kraft nahm, reihte sich für jeden 
unbescholtenen Landmann an das Recht und die Pflicht, an den Lands- 
gemeinden die Ehrenwaffe zu tragen, die grosse Pflicht, im Dienste 
des Vaterlandes gegen den Feind die Waffe zu führen, natürlich, 
wenn nicht geistige oder körperliche Schwäche ihn daran hinderte. 
Zu. dieser grossen Pflicht musste sich der wehrhafte Mann stets be- 
reit halten und deshalb nicht bloss mit der Ehrenwaffe versehen sein, 
sondern mit Wehr und Waffen, wie sie der Krieg erforderte. Har- 
nisch ist häufig die Bezeichnung für die Waffenrüstung oder ge- 
nauer die schützende Metallrüstung des Körpers ®); auf ihn beziehen 
sich manche Rechtsbestimmungen. Wir finden, dass er oft auf die Güter 
und Grundstücke gelegt und unzertrennlich mit diesen verbunden war, 
daher er auch wohl mittelst einer Fietion zum liegenden Gut gerech- 
net wurde. So in Zug und im Entlibuch 6) und nach dem Luzer- 
ner Stadtrecht Art. 18, in der Öffnung von Dürnten Art. 33. Der 
Harnisch durfte entweder gar nicht, oder nur im äussersten Noth- 
fall. veräussert und verpfändet werden. Uri Landb. 180: „Wir sind 
übereinkommen, dass niemand sein Harness und Gewehr zu seinem 
Leib gehörende in Pfandsweiss hinweggeben soll“. Stadtrecht von 
Luzern 81: „Wir sezen ouch, das nieman dem andern uff harnisch 
gelt lihen noch daruff ze kouffen geben sol, und wer das übersicht, 
der old die sond an gnad ein pfund zebuss gen und söllent dennocht 
an den pfanden, dem harnesch, nit habent sin, sunder soll denen, so 
der harnisch. gewesen ist, an entgeltniss wider werden“. Landbuch 
von Schwyz 8. 70: „Wier haben ouch gesetzt, dass nieman sinen 


8) Blumer II, 102. 

4) Blumer I, 269. II, 100. Renaud, Zug $. 59. In Appenzell ging man 
weiter und verlangte das 18te Jahr zum Eintritt in die Landsgemeinde s. Rüsch, 
der Canton Appenzell S. 128. 135. 

“ 5) „Daz isengewant von den vuozen unz ans houbtes dach* Weigand Sy- 
non. No. 899. — Da Harnisch ein Colleetiv ist, so geben die Rechtsquellen bis- 
weilen Auskunft, aber keine gleichmässige, darüber, was zum Harnisch zu 
rechnen sei s. ein Basler Strafgesetz von 1339 (Rechtsquellen I, 16). 

6) Blumer I, 372, Segesser II, 452. 476. 


= 323 — 


harnisch nit sol verkouffen, verwechslen noch verschenken in kein 
wysse ete. — Es sol ouch nieman sinen harnisch — nit versetzen 
noch nieman zu pfandt geben, darzu soll ouch nieman dem andern 
uff sinen Harnisch nützit lichen; wo aber das harüber ye mee be- 
schech, so söllte es doch (nit) krafft haben und söllt ouch nieman 
daran habent sin“. Eine Basler Gerichtsordnung von 1534 $ 36 sagt 
kurz: „Und sol aber gewer und harnascht zu keinem pfant gnomen 
noch geben werden.“ Gerichtssatzung von Bern 1614 III, 27, 7: 
„Wehr nnd Harnisch söllend in keinem weg vergandtet werden, es 
sye dann, das dero einiche durch Wittwen und Weysen, die ihr 
Gelten zu bezalen sonst keine mittel hättend, Pfandtswyss hingege- 
ben und demnach uff die Gandt gebracht wurdend.“ Mehr räumt das 
Zuger Stadt- und Amtbuch 1432 Art. 8 ein: „Man sol ouch kein 
Hus noch Harnisch zu Pfand geben, die wil man andre Pfänder fin- 
det; es were denn daz Einer dem Schuldner der Harnisch oder Hus- 
sen selber gern zu Pfand wöllty gebe, so mag man es denn wol 
nemen.“ Nach dem Landbuch von Nidwalden Art. 41 soll Gürtel- 
gewand und Wehr (sin wery) nicht gepfändet werden. 

Die Söhne erbten des Vaters Schwert und Harnisch 7) und zwar 
galt dann der Harnisch als liegend Gut nach dem Luzermer Stadt- 
recht Art. 18, wogegen er zur Fahrhabe gerechnet wurde, wenn keine 
Söhne vorhanden waren, die ihn tragen konnten. Segesser sieht in 
dem Vorrechte der Söhne an des Vaters Wehr und Waffen und in 
dem Vorzuge der Vatermagen in der Erbfolgeordnung Ueberreste des 
altgermanischen Prinzips, dass zur Erbfähigkeit die Wehrhaftigkeit 
erforderlich sei. 

An manchen Stellen ist angegeben, welche Waffen ein wehrhaf- 
ter oder „reisbarer* Mann haben solle und von Zeit zu Zeit wurde 
eine Musterung oder Waffenschau gehalten, bei welcher die nicht ge- 
hörig Ausgerüsteten gebüsst wurden 8). Nach dem Landbuche von 
Davos wird nur verlangt, dass jeder Landmann, der 14 Jahre (spä- 
ter 16 Jahre) , und darüber sei, ein Seitengewehr und Uebergewehr 
habe, und dass ein Bärenspiess oder Jägerspiess nicht für ein Ueber- 
gewehr passiren solle; anderswo finden wir aber, dass je nach dem 


7) Herrschaftsrecht von Büron in der Ztschr. für schweiz. Recht V, 1. S. 111. 
Rothenburger Amtsrecht bei Segesser II, 529 Anm. — Waldstattbuch von 
Einsiedeln 1572 $ 108: „Es soll auch kein frow nit Recht haben von Ir Eeli- 
chem man keinen harnascht noch gweer zu erben.“ — 

8} Landbuch von Schwyz S. 69 ff; von Davos S. 18. 114; Klosters S. 63. 


— 324 — 


Vermögen ein verschiedener Waffenapparat verlangt wurde ?) und es 
zeigt sich da eine merkwürdige Analogie zu der auf dem Census ru- 
henden Verschiedenheit der Bewaffnung der römischen Bürger nach 
den 5 Classen der Servianischen Verfassung 10). Nach einem Rodel 
der Appenzeller Gemeinde Urnäschen vom Jahre 1603 war die ge- 
sammte reisige Mannschaft in 3 Classen eingetheilt 1): 

Classe 1 hatte: Panzer, Schlachtschwert und Muskete. 


- 2° - Panzer, Schlachtschwert und Hakenbüchse. 
= 3 E Panzer und Schlachtschwert. 
= 4 E Harnisch und Muskete oder Hakenbüchse. 


5 °- . Hamisch (mit Spiess?) 
- 6... =, eine Muskete. 
7 


= eine Hakenbüchse. 


[e 6) 


- - einen Spiess. 

Das Landbuch von Nidwalden vom Jahre 1623 verpflichtet alle 
„go zur Paner und Vendlinen (Fähnlein) ussgenommen sind“ an Sonn- 
und Feiertagen zur Auszeichnung das Seitengewehr zu tragen 1?), so 
dass der Pflicht im Kriege eine Pflicht im Frieden entsprach; beide 
Pflichten waren aber zugleich ein Recht und eine Ehre. 

Bei der angegebenen engsten Verbindung von Ehr und Wehr 
ist denn auch der- volle Ausdruck für Entziehung der bürgerlichen 
Ehre: „von Ehr und Gewehr setzen“ oder „entsetzen“ 
(Glarus 24. 149.) und daher kehren so oft Wendungen wieder, wie 
„der soll ehrlos sein und auch wehrlos* (Uri 11. Nidwalden 180. 
Schwyz. Landb. S. 99. Appenzell A. Rh. 133. 152). Nicht selten 
ist gesagt, dass ein solcher nur ein abgebrochenes Messer 13), aber 
nicht die Ehrenwaffe, den Degen, tragen dürfe. Zuger Stadt- und 
Amtbuch 1566 Art. 113: „kein ander Gweer noch Waafen tragen, 
dann ein abbrochen Bymesser.“ Zürcher Satzung wider das Reis- 
laufen 1542 (.Schauberg's Ztschr. I, 397): „Darzuo by hoher unser 
straaf, weder heimlich noch offenlich, kein taegen noch gweer mer 
dann allein ein abbrochen messer tragen.“ An einer späteren Stelle 
dieser Verordnung (8. 400) heisst es: „zuo einem ebenbild irer eer- 


9) Blumer I, 372. II, 273. 

10) Huschke, die Verfassung des Königs Servius Tullius S. 425. 
11) Blumer II, 274. 

12) Blumer I, 276. 

13) vgl. J. von Arx, St. Gallen II, 169. Grimm R. A. 288. 


_— 325 — 


losse kein gweer noch waffen nienen tragen lassen“ 19. Noch weiter geht 
das Landbuch von Appenzell A. Rh. 147, welches bestimmt, dass 
derjenige, welcher mit gewehrter Hand den Frieden gebrochen, nach 
abgebüsster Gefängnissstrafe „keinerlei Wehr und Waffen, spitziges 
noch abgebrochenes, nicht tragen soll, ausgenommen ein Waffen an 
die Arbeit und darab, was ihme von Nöthen ist zu gebrauchen, und 
nicht weiter“ und aller seiner Ehren entsetzt sein soll. 

$ 2. Wie das Seitengewehr das äussere Zeichen der bürger- 
lichen Ehre des Landmannes ist, so liegt der innerste Kern 
seiner Ehre darin, dass sein Wort Geltung hat und dass er, als 
ein Biedermann, sein beschwornes Wort als das Höchste einsetzen 
kann 2°). Ehre und Eid stehen daher so oft in den Rechtsquellen, 
als Synonyma bei einander. Eine immer wiederkehrende Formel ist 
dass Zeugen sein sollen solche „denen Eides und Ehren zu: glauben 
(trauen) ist.“ Stadtrecht von Luzern 88: „das sol und mag er tun 
mit zweyen geloubsamen mannen, denen eides und eren zu getruwen 
sy“ 89: „mit zwen Bidermannen, den eides und eren zu getruwen 
ist.“ 108. Amtsrecht von Willisau S. 95. 98. Landbuch von Schwyz 
S. 74: „mit zweyen biderben unversprochnen mannen, dien Eydtz und 
Eeren zu glouben ist“ S. 80. 81. 130. Ferner: „Eid und Ehre über- 
sehen.“ Wer einen Friedbruch nicht der Obrigkeit angezeigt hat, der 
soll gleich dem Thäter und Friedbrüchigen gestraft werden „von des- 
wägen, das er syn Eid und Ehr übersehen und nüt geleidet hat.“ 
Zuger Stadt- und Amtbuch 1566 Art. 126. Landb. von Schwyz 
S. 91. Glarus 86. Landsatzungen des Hochgerichts der fünf Dörfer 
8.72: „und ob es Sach were, dass sich einer umb den Frieden wei- 
ter mahnen liess, dann zum vierten Mal, und sich das mit Wahrheit 
erfunde, der oder dieselbigen sollend angeschrieben werden, als die 
Ehr und Eid übersehen und nit gehalten hetten.“ An diesen Stellen 
ist Bezug genommen auf den allgemeinen Eid, den jeder Landmann 


4) Dreyer führt in seinem „Versuch eines Versuchs zur Kenntniss der Ge- 
setzbücher Helvetiens“ (Beiträge zur Literatur und Gesch. des deutschen Rechts 
S. 12 Anm. 9) als Bestimmung eines Zürcherischen Rathserkenntnisses auf, dass 
ein Bancoruttmacher kein ander Gewehr trage, als ein abgebrochenes Brot- oder 
Beimesser und aller ehrlichen Sachen stille stehen solle. In der von ihm be- 
nutzten Sammlung findet sich aber eine solche Bestimmung nicht; auch ist sie 
mir nirgends bei der Lectüre der altzürcherischen. Rechtsquellen aufgestossen. 

15) Ueber das Correspondiren des Rechts Waffen zu tragen mit der Eides- 
fähigkeit in älterer Zeit s. Siegel, Gesch. des deutschen Gerichtsverfahrens 
I, 176. 


— 326 — 


in der Landsgemeinde zu schwören hatte 18): „des Landes Nutz und 
Ehre zu fördern und Schaden zu warnen und zu wenden mit güten 
Treuen“ (Nidw. 31). 

Wie nun mit der Entziehung der Ehre der Eid verloren geht 
und dieses als die gewichtigste Folge anzusehen ist, tritt vor Allem 
aus dem Laudbuch von Glarus Art. 149 hervor: „Ob aber eyner, den 
min Herren von Eer und Gweer gesetzt hettend, dem andern 
(der ein Bidermann were, und man ihn ouch dafür hielt) zuredte, er 
ware als gut als er, oder besser, und was er ihm ufzuge, das ein 
Biderman nit erlyden möcht, so sölltindt desselben eerlosen Mans 
reden keynem Biderman nüt an synem Eeren schaden, sondern sich 
gegen ihm (diewyl ihm kein Eydt uffzeleggen noch zever- 
thruwen) verantwurt haben, und söllend min Herren ein Amman 
und gantzer Rath, oder die Nün, denselben eerlosen man gewalt han, 
umb syne zureden zestraffen nach synem verdienen, wie sy recht und 
billig bedunkt.“ Damit zugleich zeigt diese Stelle den natürlichen 
Ausdruck der Ehrlosigkeit, dass ein Ehrloser nicht injuriiren, wie er 
andrerseits auch nicht injuriirt werden kann, Nidwalden 130: „Und 
was eim Jeden der somlichen Fräffen — beginge, zu sinen Eren ge- 
redt wurde, dar für soll man ihm thein antwurt schuldig sin, dem der 
semlichs gethan hät. Dann er soll da fürhin zu keinen Eeren me 
nutz noch gut sin.“ 

Aber nicht bloss der Eid ist dem Ehrlosen genommen, sondern 
sein Wort überhaupt hat keine rechtliche Bedeutung, seine Stimme 
keine Geltung im öffentlichen Leben. Landb. von Schwyz S. 23: 
„die also Frid gebrochen hand, söllen von allen Iren Eeren gestos- 
sen sin, und söllent darnach enkeinem mentschen in unserm Landt 
und vor unsern geriehten mit siner handt noch mit sinem 
mundt weder nutz noch schaden bringen“ S. 64. Diese 
letzten Worte enthalten eine, mit geringer Variation überall wieder- 
kehrende Formel, welche zwar zunächst die Entziehung des Eides und 
des Zeugnisses umfasst, aber doch darüber hinaus greift. Zuger 
Stadt- und Amtbuch 1432 Art. 20: „Weri daz einer entrunni usser 
unsren Gerichten, so sol er doch ein erloser friedbrechiger Man sin, 
und sin Stim niemer me nüt sin und unnütz sin“; von 1566 Art. 
113: „ein meineidiger eerloser Mann syn und syn Wort und Red 
niemand guet noch schad sin.“ Glarus 12. 25. 27. 38. Luzerner 


16) Blumer II, 98. 


— 3277 — 


Stadtrecht 82. Herrschaftsrecht von Büron S. 114. Basler Gerichts- 
ordnung von 1557 Art. 125: „Und welliche meineidig oder verschwie- 
gen haben, — und gestraft werden, die sollen ewenklich verworfen 
und unnütz personen heissen und sin, und von allen eren und wür- 
digkeiten verschalten, niemer in Rat, noch an gricht, noch ouch an 
der zünften Aembter erkosen noch ouch genomen werden, und sol- 
len ouch ire gezügknussen in allen sachen unnütz und ontoglich sin.* 

„In den Landsgemeinden durfte ein Ehrloser nicht erscheinen, denn 
wie ihm die Ehrenwaffe fehlte, so umfassten diese Versammlungen des 
souveränen Volks nur die politisch mündigen Männer, die im Voll- 
genuss der bürgerlichen Ehre waren 17). 

Wer seiner Ehre entsetzt war, hatte damit. die Fähigkeit zur 
Bekleidung von staatlichen und bürgerlichen Aemtern (Ehrenämtern) 
verloren. Ausser der angeführten Stelle der Basler Gerichtsordnung 
von 1557 bekunden diese natürliche Folge der Ehrenentziehuug man- 
che Zeugnisse 13). 

Ausdruck und Begriff des Entsetzens von Ehr und Gewehr ha- 
hen sich als rechtsgiltig bis zur Gegenwart in der deutschen Schweiz 
erhalten, und auch in den Cantonen, welche nach deutschen Mustern 
gearbeitete Strafgesetzbücher, in denen der Ausdruck vermieden. ist, 
besitzen, ist der durch Jahrhunderte überlieferte Begriff vollkommen 
klar und verständlich geblieben. Ob die meisten der neuen Strafgesetz- 
bücher wohl gethan haben und einen zureichenden Grund hatten, den 
Ausdruck zu vermeiden, möchte ich bezweifeln, vielmehr scheint mir 
der Verfasser des Str. G. B. für. Graubünden mit einem richtigen 
historischen Sinne. die alte und fortlebende Anschauung auch in der 
Form der Satzung über Ehrenstrafen erhalten zu haben. Diese Satzung 
lautet ($ 14): „Als Ehrenstrafen sind gesetzlich aufgestellt: a) Ver- 
lust der bürgerlichen Ehren. Diese, Strafe besteht in der Entsetzung 
von Ehr und Gewehr, d. h. in der Verwirkung des Rechts zu stim- 
men und zu mehren, öffentliche Aemter zu bekleiden und für das 
Vaterland die Waffen zu tragen, sowie in der Unfähigkeit gericht- 
liches Zeugniss abzulegen. b) Einfacher zeitlicher oder lebensläng- 
licher Ausschluss von der Bekleidung öffentlicher Aemter, mit oder 
ohne gleichzeitigen Verlust des Rechts zu stimmen und zu mehren.“ 


17) vgl. Blumer II, 100. 

18) Landbuch von Obwalden bei Blumer II, 101. Segesser II, 157 
Anm, 2. 160 Anm. 1. 629. Renaud $. 58, — (Schnell) Rechtsquellen von 
Basel I S. 92. 135. 345. 


— 328 — 


$ 3. Eine Beschränkung der freien Bewegung und des persön- 
lichen Verkehrs, die, genau genommen dem Gebiete der Friedlosig- 
keit angehört und als eine partielle Friedloslegung anzusehen ist, 
wird so gewöhnlich mit dem Entsetzen von Ehr und Gewehr in Ver- 
bindung gebracht, dass sie als ein Stück des Inhalts der Ehrlosigkeit 
erscheint: das Verbot des Besuchs von Wirthshäusern und 
überhaupt der Orte, an denen unbescholtene Männer 
sich versammeln. Zürcher Verordnung wider das Reislaufen 
1542 (Schauberg’s Ztschr. I, 397): „Welcher zum drittenmal hin- 
weg loufft, dem sol sin haab und guot genommen, und wo er be- 
trätten werden mag, hiehaer in Wellenberg gefuert, und er zuo kei- 
nen eeren, weder zuo gericht, recht, kundschaft zesagen, noch kei- 
nerley andren eerlichen sachen noch hendlen gebrucht, sonder aller 
eeren entsetzt, und fur ein lychten, verzelten, meineyden, eerlosen 
man (desse zunge und red niemant nützit nützen noch schaden mag) 
erkent, geachtet und gehalten. Ouch in keiner zunft, gesellschaft, 
ürten 19), gemeinde, noch einiger anderen eerlichen ver- 
samlung (one allein zuo kilchen) geduldet noch gelitten werden. 
Darzuo by hoher unser straaff, weder heimlich noch offenlich, kein 
taegen noch gweer mer dann allein ein abbrochen maesser tragen.“ 
Es ist selten so vollständig an einer Stelle der Inhalt der Ehrlosig- 
keit angegeben als hier und an einer folgenden Stelle derselben Ver- 
ordnung ($. 399) und in einer Appenzeller Urphede vom Jahr 1521 %). 
Zuger Stadt- und Amtsbuch von 1566 Art. 113: „er sol auch ein 
halb Jar usserhalb synem Hus kein Wyn thrinken; doch darin be- 
scheidenlich zu thrinken ist im nachglassen.“ Wo an anderen Stel- 
len das Trinken von Wein und Most überhaupt, auch in der eignen 
Wohnung, untersagt wird, ist es als Anordnung einer Cur der Trunk- 
sucht anzusehen. Wie streng ehedem die sittenpolizeiliche Ueber- 
wachung in dieser Hinsicht war?!), zeigt ein Artikel im Zuger Stadt- 
und Amtsbuch 1566 Art. 133: „Thrunk auch einer, das er überlüff, 
der sol auch ein Tag und Nacht in Thurn und 5 Pfd. zu Buss gen, 
wie dann das vor allen Gmeinden ist abgeredt und beschlossen wor- 
den; und sol ein Jeder, der sölichs sieht, hört oder weisst, den 


19) Ürte— Zeche, Zecherei, Wirthschaft s. Stalder’s Idiotikon ID, 425. 
Schmeller’s bayerisches Wörterbuch I, 114. 

20) Zellweger's Urk. No. 721. s. unten $ 5. 

2!) vgl. Landbuch von Davos 8.43. Siegwart-Müller, das Strafrecht 
der Kantone Uri, Schwyz etc. S. 52. 


— 329 — 


andern barumb leiden einem Amman oder synem Statthalter by sinem 
geschwornen Eid, und welcher nit leiden und das kundlich wurd, soll 
mit glycher Straff gestraft werden als der Thäter selbs.“ 

Das Wirthshaus- und Weinverbot, als partielle Friedloslegung und 
als Massregel gegen Unmässigkeit und Liederlichkeit, in welchem letz- 
teren Falle es die allgemeine Stimme doch auch für ehrenrührig erklärt, 
hat sich von alter Zeit her bis zur Gegenwart als ein eigenthümliches 
Institut in der Schweiz erhalten. 

Im Jahre 1535 wurde von den Gemeindebürgern der Stadt 
Aarau auf dem Rathhause ein Landtag bei offenen Thüren gehalten 
und erkannt, dass drei Bürger wegen Friedbruch nach Laut des Stadt- 
buchs „vellich umb ir Lib, Leben und Gut“ mit dem Schwerte zu 
richten seien, weil sie einander über den Frieden blutruns geschlagen. 
Diese baten aber um Gnade und hatten auch eine grosse Fürbitte von 
den Schülern, von edlen Frauen und Männern und vielen Leuten aus 
der Gemeinde, daher wurde ihnen das Leben geschenkt nnd ihnen 
eine Busse von 50 Pfund auferlegt, zudem sollten sie „ihrer Waffen 
in der Stadt müssigen und zu keinem Schlaftrunk “gehen.‘‘ Auf eine 
nochmalige Fürbitte angesehener Männer der Umgegend wurde den 
drei Verurtheilten neue Gnade bewiesen, „meine Herren die Burger“ 
liessen ihnen die Waffen wieder zukommen, ‚schenkten ihnen an den 
50 Pfund 30, „aber den Schlaftrunk sollten sie meiden bis auf schein- 
bare Besserung.“ Im Jahr 1606 kam einer, der sich im Rathhause 
vor der ganzen Gemeinde unanständig betragen hatte einen Tag und 
eine Nacht in die Gefangenschaft, mit der Drohung, er solle sich in 
Zukunft hüten, sonst würden ihm alle ehrlichen Gesellschaften und 
Wirthshäuser verboten. — 1608 wurden einem Bürger „von sines 
liederlichen und arbeitsäligen versoffenen Lebens wegen abermalen alle 
Gesellschaften, als miner Herren Rathhus, Schüzenhus, Wyn und 
Wirthshüser verboten.“ — Am 29. Juli 1618 wurde der Metzger 
Gabriel Iberg, weil er gegen das Verbot die Wirthshäuser besucht 
und einem Müller Böses gewünscht hatte, folgender Massen gestraft: 
er solle im Hirschengraben vom St. Lorenzenthor bis zum Stadtbach 
beim obern Thore alle Nesseln. ausreuten und in den Sumpf tragen, 
im Falle er dieses nicht thue, solle ihm der eiserne Ganskragen an- 
geschmiedet werden ??), 

Welches Gewicht man dem Verbote beilegte, zeigt die Bestim- 


22) Oelhafen, Chronik der Stadt Aarau S. 51. 86. 88. 9. 


— 30 — 


mung im Glarner Landbuch Art. 215, dass, wenn einer um Nach- 
lass des Verbots bäte, ein Landammann und ganzer Rath darin riach 
Gestalt der Sachen handeln sollen, da sie am allerbesten wissen, wa- 
rum sie ihm den Wein verboten haben. 

Das im Jahr 1828 revidirte Landbuch von Appenzell A. Rh. 
Art. 38: „Welcher um sein Ehr und Gewehr gestraft wird“ charak- 
terisirt das fortwährend in Uebung gebliebene 2?) Weinverbot und des- 
sen Verbindung mit der Entziehung der Elıre in dieser Weise: „Es 
ist auch von Klein- und Grossen Räthen erkennt worden, dass wann 
man einen um seiner Misshandlung und ungebührlichen Sachen willen 
von Ehr und Gwehr entsetzt oder den Wein zu trinken verbietet, und 
ihnen darzu eine Gelt Straf auferlegt, so soll er weder um Ehr noch 
Gewehr, noch um den Wein zu trinken bitten noch werben mögen, 
er habe dann zuvor die Gelt Buss ausgericht und bezahlt. Es soll 
auch kein Land- Ammann Gewalt haben, ihne für Rath zu lassen, 
bis er die Gelt Buss abgefertiget hat. Zudem soll auch kein Wirth, 
auch sonst Niemand überal keinem weder Wein noch Most zu trin- 
ken geben, dem er von einem Grossen Rath verboten worden, bei 
der Buss 3 Pfd. Den., und sollen fürohin alle die Jenige, so um 
ihres übel Verhaltens willen Ehr und Wehr entsetzt, auch die, denen 
der Wein und Most verboten worden, offentlich ab der Canzel ver- 
lesen werden,“ 

Das Trinkverbot, häufig mit Gemeindeeingrenzung verbunden, 
ist gegenwärtig wohl am meisten noch in Unterwalden gebräuch- 
lich 22). Eine übliche Formel lautet: „Dem N. N. ist der Besuch 
der Wirthshäuser und alles was räuschig macht, zu trinken und jeder- 
mann ihm dergleichen geistige Getränke zu verabreichen verboten“ 
mit dem Zusatze: „Ist auszuschreiben und auf die öffentlichen Trink- 
zeddel zu schreiben.“ Solche Trinkzeddel sind in den Wirthshäusern 
angeschlagen. Wie dem Verbot Nachdruck gegeben wird, zeigt fol- 
gende Bekanntmachung: „Dem Ignaz Vonaa, Julinazi, in Sarnen ist 
durch Strafsentenz — der Genuss geistiger Getränke bei einer Leib- 
strafe neuerdings verboten. Diejenigen Wirthe, welche ihm solche 
Getränke verabreichen, verfallen in eine Geldbusse von 20 Fr. und 
wer ihm selbe in Wirthshäusern holt, wird mit 5 Fr. gebüsst. Ferner 
wurde Ignaz V. auf 4 Jahre im Activbürgerrecht eingestellt.“ 


23) Blumer, I, 409. II, 137. Rüsch, Appenzell S. 164. 
24) Amtsblatt von Obwälden 1854 No.1. 8. 22. 1855 No. 2. 


— 331 — 


Auch mehrere der neuen schweizerischen Strafgesetzbücher führen 
das Verbot des Besuchs von Wirths- und Schenkhäusern, in Verbin- 
dung mit der Eingrenzung, auf ??). St. Gallen (1857) Art. 19: „Durch 
das Verbot der Wirths- und Schenkhäuser ist dem Verurtheilten je- 
der Besuch eines Wirths- oder Schenkhauses in seiner Wohngemeinde 
und in jeder an dieselbe angrenzenden Gemeinde untersagt. Es ist 
auf die Dauer von 1— 4 Jahren auszusprechen. Das Verbot wird 
in den amtlichen Bekanntmachungen aufgenommen.“ Das Luzerner 
Polizeistrafgesetzbuch $ 7 beschreibt die herkömmliche Art der Publi- 
cation so: „Sein Name soll in allen Wirths- und Schenkhäusern des 
Gerichtsbezirks mit Bezeichnung des Vergehens und unter Angabe auf 
wie lange er eingegrenzt und für welche Zeit ihm der Besuch der 
Wirths- und Schenkhäuser untersagt worden ist, auf eine schwarze 
Tafel eingeschrieben werden, die in der gewöhnlichen Wirthsstube zu 
Jedermanns Einsicht aufgehangen bleiben soll.“ Bei der Neigung der 
Schweizer, nach des Tages Mühen als Stammgäste ihren Platz in ei- 
nem Wirthshause einzunehmen und den Abendtrunk zu geniessen, ist 
diese Strafe recht hart, allein in den grösseren Cantonen und in den 
Städten wird die Ausführung illusorisch; dagegen in einem Ländchen, 
wie Obwalden, wo jeder den Andern kennt, steht es damit anders. 
Für falsche Spieler und zanksüchtige Leute liesse sich diese Ehren- 
strafe als sehr zweckmässig empfehlen. 

$ 4. In sehr verschiedener Weise konnte die bürgerliche Ehre 
verwirkt werden: 

1) Im Begriff der unehrlichen Sachen liegt es, dass mit der Be- 
strafung wegen solcher Sachen die Ehre verloren ging 26). Es ist nicht 
mehr die alte Anschauung, wenn im Jahre 1831 in der Revisions- 
commission von Appenzell- Ausserrhoden der Ausdruck „ehr- und wehr- 
los“ dahin erläutert wurde: ehr- und wehrlos sei derjenige, welcher 
unter Scharfrichters Hand gewesen, d. h. eine kriminale Strafe erlitten 
habe 27). Diese Erklärung ist für die alte Zeit, als die Ehr- und 
Wehrhaftigkeit noch ihre volle Bedeutung hatte, viel zu beschränkt. — 
Dass in Luzern im Jahre 1432 einer, der zu leichtes Gewicht ge- 
gebraucht hatte, mit einer Geldbusse gestraft wurde, „doch seinen 


25) Zürich $. 26. 30. Aargau 1857 $ 10. 
26) Segesser II, 435. 630. 


27) Appenz. Monatsbl. Jahrg. 1831 S. 85. Blumer U, 102. Rüsch 
Appenzell S. 128. 


= U 


Ehren ohne Schaden 28), wäre eine Abnormität, wenn man nicht an- 
nehmen dürfte, dass in diesem Falle dem Schuldigen ein „offen Falsch“ 
nicht nachgewiesen werden konnte, sondern nur, dass er „dazu nicht 
gelugt hatte“, dass also der dolus fehlte. Anders verhält es sich, 
wenn in einer altzürcherischen Verordnung ?°) gesagt ist „doch das sie 
damit ir Ehren nit entsetzt sin söllen“, nemlich Bürgermeister, Räthe, 
Zunftmeister und Grossenrathsglieder, die „offenlich zu der Unee 
sitzen“; diese sollen vom Amte entfernt werden, ihr Fehl gehört 
aber nicht zu den unehrlichen Sachen. 

2) Wer den Handfrieden mit gewaffneter Hand bricht, indem er 
„über den Andern oder gegen dem Andern, dem er Frid geben hat, 
Messer oder schwert oder thein ander waffen oder thein ander ding, 
welicherlei das ist, frävenlich zucket, oder mit steinen oder mit ütte 
anders einen oder gegen einem frävenlich wirft, stosst, schlat oder 
schüsst, oder einen oder gegen einem schlat oder sticht, oder wie 
oder welichen weg er einen frävenlichen angryfft, nach dem, so er 
ym fryd geben hatt“ —— der soll von allen Ehren gestossen sein und 
dazu eine hohe Bnsse zahlen und sein Landrecht verlieren, nach dem 
Schwyzer Friedbriefe von 1424 (Landbuch $. 23). Aber nicht schon 
jeder Bruch des gelobten Friedens hatte diese schwere Folge, son- 
dern es musste ein wirklicher Angriff, wie ihn der Friedbrief be- 
schreibt, vorliegen. Ein Beschluss der Landsgemeinde von Glarus 1546 
(Landbuch Art. 24) sondert ausdrücklich die beiden Fälle, wo jemand 
nur an das Messer oder Gewehr greift, was zwar schon Friedbruch 
ist, und wo er die Waffe zuckt. Nur in dem letzteren Falle soll 
der Schuldige von Ehr und Gewehr entsetzt werden, aber nach den 
Worten des Gesetzes muss man annehmen, dass der Ablauf von 
mehr als 100 Jahren die alte Strenge, wie sie der Friedbrief von 
Schwyz hat, bedeutend gemildert hatte, und dass die Entziehung der 
Ehre nur eine kurzdauernde war, denn es heisst: „Welcher dann über i 
einen zuckt, mit dem er in frid stat, der hat auch frid prochen, 
darumb sol er von Eer und Gwer entsetzt, und dry tag und dry 
nächt in keibenthuren gleitt werden, darzu den Landlüten zu rech- 
ter buss verfallen sin und geben 100 Pfund, damit soll er auch 
solehen friedpruch versünen und büssen“ 

Strenge Bestimmungen über solchen Friedbruch und Androhung 


28) Segesser II, 630. 647. 
9) Ztschr. für schweiz. Recht IV, 1, 60. 


m 3 


der Ehrentziehung haben auch das Landbuch von Uri 10. 11. 250; 
das Zuger Stadt- und Amtbuch 1432 Art. 71. 1566 Art. 113. 122. 

Auch wer einer zweimaligen Aufforderung Frieden zu geben nicht 
Folge leistete, sondern sich zum dritten Mal Frieden bieten liess, kam 
um seine Ehre 30) s. aber Glarus Landb. Art. 12. 

3) Wer in dem vorgenannten Falle den Handfrieden brach, der 
brach sein gelobtes Wort und wir haben da wieder die engste Bezie- 
hung von Eid und Manneswort zur Ehre. Ein solcher wird daher auch 
häufig als meineidig bezeichnet (Zug 1432 Art. 71. 1566 Art. 113, 
Uri 10). Aber schon, wer seinem allgemeinen Eide, den er als Land- 
mann gegeben (s. oben 8.326), zuwiderhandelte, konnte so genannt wer- 
den und verwirkte in gewichtigen Fällen seine Ehre. Zug 1566 
Art. 126: „Wer auch das ettwar by sölichen Friedbrüchen wäre und 
das nit leidete in den nechsten acht oder vierzechen Tagen ungevar- 
lichen einem Aman oder sinem Statthalter, derselbig, so nit. leiden 
und das kundtlich wurd, der sol mit glycher Straff gstrafit werden 
als der Thäter und Fridbrüchig selhs, von desswägen, das er syn 
Eid und Eer übersechen und nüt gleidet hatt.“ Wir stossen überall 
auf den in den altdeutschen Rechtsquellen sehr verbreiteten Sprach- 
gebrauch, nach welchem Eidesbruch und Meineid nicht gesondert wer- 
. den, sondern der Eidesbrüchige, derjenige welcher seinen Eid über- 
sehen hat, meineidig genannt ist (s. auch Glarus 12). Das ott dafür 
gesetzte oder hinzugesetzte Synonymon ist „treulos“ (perfidus), denn 
wer seinen Eid ühersieht, bricht die Treue (Uri 10. 35. 37. Schwyz 
Landb. S. 80). Es wird zwar auch vom Eide unterschieden „seine 
Treu geben an eines geschwornen Eides Statt“, aber die Wirkung eines 
solehen an Eidesstatt gegebenen Versprechens und die Folge eines 
Bruchs desselben sind vom Eide und Eidesbruch nicht wesentlich ver- 
schieden 3!) (Luzern. Stadtrecht Art. 82). — Den Verlust der Ehre als 
Straffolge der Verurtheilung wegen Meineids, in engerer eriminalrecht- 
licher Auffassung dieses Begriffs, finden wir oft ausgesprochen 32). 

4) Wer Jahr und Tag bösen Leumden auf sich sitzen lässt, 
der „hat sich selbst bezeuget“ und ist ehrlos. Herrschaftsrecht von 
Büron S. 114: „Item wer Jar und tag in einem bösen Lümden ist 


3) Kothing, Schwyzerische Rechtsquellen S. 55. $ 5. 8. 165. $ 13. 
Schwyzer Landb. S. 271. 

3) Segesser II, 501. 661. 

82) Segesser ll, 621. 660. (Schnell) Rechtsquellen von Basel I, S. 
91. 135. 345. 


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unversprochen und der im gat an Er und an leben unversprochen, 
der het sich selben bezüget und mag man ab im richten nach sinen 
bösen lümden und in ab rat und ab gericht setzen und im da fürhin 
nüt glouben und sol ouch nieman schad noch gut sin an dheinem 
rechten, es wer denn dz in ein Richter older ein gericht older sust 
ehhaftige not sumte, daz er sich nüt könnt older möchte versprechen, 
dann solls im nüt schaden; er muss aber das fürbringen.“ Der böse 
Leumund ist ein schwarzer Schatten, der denjenigen, welcher bisher 
für einen Biedermann gegolten hatte, in einem zweifelhaften Lichte 
erscheinen liess und schon der einzelne Vorwurf einer ehrenrührigen 
Sache war ein Flecken, von dem er sich reinigen musste; er durfte 
sich nicht damit trösten, dass ja das Gerede und der Vorwurf nicht 
bewiesen sei, sondern er musste dagegen auftreten. Eine schöne An- 
wendung von dieser Anschauung hat Wächter ®®) gemacht zur Er- 
klärung des Grundsatzes im altgermanischen Strafprocesse, dass es 
Sache des Angeklagten war, seine Unschuld zu beweisen und dabei 
auf einen verwandten Zug im öffentlichen Leben der Urschweiz hin- 
gewiesen, indem er sagt: „War es ja noch bis in unsre Zeit Rechts- 
grundsatz im Canton Schwyz, dass ein gescholtener Mann auf der 
Landsgemeinde die Rednerbühne nicht betreten durfte, bis er sich von 
dem ihm gemachten Vorwurfe gereinigt habe, und machten noch im 
Jahre 1837 auf der Landsgemeinde die Häupter der beiden Volks- 
parteien von diesem Grundsatze Gebrauch, indem sie sich gegenseitig 
schimpften, um den Gegner von der gefürchteten Rednerbühne aus- 
zuschliessen!“ Dieser Fall steht nicht vereinzelt da ®*). 

So wie nun derjenige, welcher bösen Leumund Jahr und Tag 
auf sich sitzen liess, sich selbst bezeugte und seiner bürgerlichen 
Ehre verlustig ging, so galt auf der andern Seite der Satz, dass wenn 
jemand gegen einen Andern gerichtlich auftrat, um ihn seiner Ehren 
zu entsetzen, es ınit dem Beweise streng genommen wurde, Amits- 
recht von Willisau (1489) S. 98: „Wenn einer zwen zügen hat, 
denen Er und eyd zu truwen ist, und die im reden, darf er mit si- 
nem Eid zu ihnen stan, ist es im rechten genugsam. — Welicher 
einen siner eren entsezen wil, der sol das thun mit siben unversproch- 
nen Mannen.“ Uri Art. 67: „Welcher einen von Ehren stossen wolte, 


3) C.G. von Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte (1845) 8. 63. 
vgl. Siegel a. a. ©. S. 170. 


34) Segesser II, 564 Anm. 1. 


- 335 — 


das muss beschehen mit fünf unpartheiischen Männern oder mehr, 
denen Ehr und Eid zu glauben seye und die auch einmündig seyen.* 
Nidwalden 164. Stadtrecht von Luzern 89. 

5) Da niemand ohne sich der genannten Gefahr auszusetzen einen 
ehrenrührigen Vorwurf auf sich sitzen lassen durfte, so musste oft der 
Fall eintreten, dass derjenige, dem „zugeredet war, das ihm sein Ehr 
und Glimpf berührte“, den Andern aufforderte, seine Zurede vor Ge- 
richt wahr zu machen und auch eine Mitwirkung des Gerichts her- 
beiführte, indem dieses durch Urtheil dem Andern aufgab „seine ge- 
thane Red auf jenen zu bringen.“ Der verwandte Fall war, wo der- 
jenige, welcher einem Andern Ehrenrühriges vorgeworfen hatte, von 
sich aus die aussergerichtliche Zurede zu einer gerichtlichen Anklage 
machte. Von beiden Fällen geht aus eine Schwyzer Verordnung vom 
Jahre 1519 (Landbuch S. 63), in der es heisst: „Bescheche aber, 
das yeman, nach dem er mit urtell gefragt wirt oder sunst sich under- 
stünde sin gethanne Red uff yenen zu bringen, und das nit vermag, 
dann das er die Red muss ab im thun, wie Recht ist; alldann so 
soll der angeklagt, yetz vellig worden, ouch zu Buss geben 9 Pfund 
— und soll yetz der vellig in dien schulden, wie ers von yenem 
gerett hat, und ouch dafürhin Niemantz mer mit siner zungen weder 
Nutz noch schad sin an theinem Rechten.“ Die Rechtsfolgen für den 
sachfällig Gewordenen sind nach dieser, allerdings nicht sehr klaren 
Verordnung, ausser dem Widerruf die Busse und die bekannte Talion 
bei nicht durchgeführter Anklage und zuletzt das Eintreten dessen, 
was den innersten Kern der Ehrlosigkeit ausmacht 3). Die Talion 
ist in einer gewöhnlichen Weise 36) ausgedrückt mit den Worten „in 
dien schulden, (nemlich: sin oder stan), wie ers von yenem gerett hat.“ 
Es ist daher nicht ganz richtig, wenn Blumer 37) mit Beziehung auf 
jene Schwyzer Verordnung von 1519 (nicht 1516) sagt, die Strafe der 
Ehrlosigkeit sei wohl nur eine Milderung des alten strengeren Reehts 
gewesen, nach welchem derjenige, der einen Andern ohne Grund eines 
Verbrechens beschuldigte, die auf dieses gesetzte Strafe selbst zu lei- 


35) vgl. die Anführung aus dem Landb. von Gaster Art. 42. bei Blumer I, 
539. Anm. 16. 2 
3%) Landbuch von Schwyz S. 75. 80., s. auch Malefiz-Ordnung von Zug 
S. 64; Luzerner Rathsbuch bei Segesser II, 693. Anm.; Luzerner Land- 
gerichtsordnung bei Segesser II, 710; Waldmanns Urtheil bei Füssli S. 223. 
37) Rechtsgesch. I, 409. 


den gehabt habe. Jene Verordnung droht diese Talion und die Ehr- 
losigkeit neben einander. 

6) Nach dem Landbuche von Appenzell I. Rh. Art. 87. soll der, 
so mehr verthut, denn er zu bezahlen hat, an Leib oder an Ehre nach 
seinem Verschulden bestraft werden. Das Landb. von Uri Art 83. be- 
stimmt ausführlicher, dass wenn ein Schuldner dem Waibel oder dessen 
Boten weder Pfand noch Pfenning zu geben hat, der Waibel dieses dem 
Landammann anzeigen und dieser solches an den Rath bringen soll. Der 
Rath soll dann den Schuldner in allen Kirchgängen im Lande verrufen 
lassen, zur Warnung für Jedermann. Wenn nun aber der Schuldner 
seine Schulden nicht binnen Jahresfrist bezahlt, so soll „seinen Worten 
nicht mehr zu glauben sein, noch derselbe zu einigen Ehren mehr ge- 
braucht werden,“ bis dass er seine Schulden gänzlich abbezahlt hat. 
Ist aber einer durch Unglücksfälle in Schulden gerathen, so steht es 
beim Rathe, die Ehrentziehung nicht eintreten zu lassen 38). - 

Als Berner Rechtssitte wird erwähnt, dass noch nach dem Tode 
eine Ehrenfolge eintrat, wenn jemand seine Gläubiger nicht befriedigt 
hatte: er sollte nicht in geweihter Erde begraben werden. Als der 
weise und ritterliche Schultheiss von Bern, Adrian von Bubenberg, im 
Jahr 1479 gestorben und schon begraben war, klagte ein Curtisan Gar- 
riliati gegen Bubenberg einen Schaden ein, der ihm von Lassaraz her 
begegnet sei und für welchen der Verstorbene ihm keine Genugthuung 
geleistet habe und begehrte, dass derselbe aus seiner edlen Eltern Grab 
genommen und an der Engehalden, dem Platze, wo der Wasenmeister 
das gefallene Vieh einscharrte, zur Erde gebracht werde. Da diess aber 
für die Stadt eine arge Beschimpfung gewesen wäre, so schickten die 
Berner Herrn Peter Kistler, Propst von Zofingen, nach Rom, um diese 
Zumuthung abzuwenden. Es scheint, wie der Herausgeber von Ans- 
helm’s Berner Chronik I, S. 264 bemerkt, als ob Garriliati wegen jener 
Beschädigung einen Bannspruch gegen Bubenberg erwirkt hatte, weil 
die Sache zu Rom abgethan werden musste. Darnach ist dann durch 
diese Erzählung gar nichts bewiesen für eine solche Berner Rechtssitte. 

$ 5. Nicht so häufig als das Entsetzen von Ehr und Gewehr, 
kommt in den Rechtsquellen die Entziehung einzelner Ehrenrechte vor; 
in mehreren Fällen ist jedoch die Unfähigkeit zur Bekleidung von Aem- 


38) vgl. Blumer I, 478. II, 101. Neueres aber ähnliches Recht enthalten 
das Landbuch von Appenzell A. Rh. 86. (vom Jahr 1737) und ein Schwyzer 
Mandat wegen den Dieben, Schelmen und Lumpen vom Jahr 1738 (Landbuch 
S. 183). 


— 337 — 


tern als eine Ehrenschmälerung namhaft gemacht 39). Wenn aber bloss 
ausgedrückt ist, dass jemandes Stimme fortan weder Nutz noch Scha- 
den bringen soll, so umfasst diese und ähnliche Formeln sowohl die 
Unfähigkeit zum Zeugnisse und die Entziehung des Eides als auch das 
Ausschliessen von jeder Abstimmung in öffentlichen Angelegenheiten 
(„zu mindern und zu mehren“) und die Bekleidung von irgend wel- 
chen Aemtern, das ius honorum, fällt bei einem solchen von selbst 
weg. Jene Formeln fassen seine Ehre an der Wurzel. 

Die gänzliche Entziehung der Ehre ist eine ewige oder zeit- 
weilige. Von der Ausdehnung der ersteren auf die Nachkommen 
weiss ich nur einen Fall anzuführen. J. von Müller #%) berichtet 
aus einer ungedruckten Chronik Alb. von Bonstetten’s (1481): „Es 
war Sitte in den Waldstetten, dass wer vor dem Feinde floh, vom 
Leben zum Tode gebracht wurde und seine Nachkommen bis in das 
dritte Geschlecht ehrlos machte* #), 

Die dauernde Entziehung der Ehre ist gewöhnlicher als die zeit- 
weilige. Wer den Frieden bricht mit Wehr und Waffen zum andern 
Mal, mit der Faust zum dritten Mal, soll sein Lebelang ehr- und 
wehrlos seig und bleiben, nach dem Landbuche von Appenzell A. Rh. 
149. 152. An manchen anderen Stellen, an denen nicht ausdrück- 
lich gesagt ist, dass die in Folge schweren Friedbruchs eintretende 
Ehrlosigkeit eine lebenslängliche sein soll, mag dieses, da keine Zeit- 
frist gesetzt ist, ebenfalls anzunehmen sein und unzweifelhaft ist das- 
selbe, wenn gesagt wird, dass den Worten jemandes nie mehr zu glau- 
ben oder seine Stimme nie mehr nütz noch unnütz sein soll (Zug 1432 
Art. 10), s. auch Basler G. 0.1557 Art. 125. Dagegen fehlt es auch 
nieht an Beispielen einer zeitweiligen Ehrentziehung, auf 3, 2, 1 
und !/; Jahr #2). Im Jahr 1521 wurde Conrad Strüby, sesshaft in 
Hundwyl, der seine Frau gemisshandelt und ein ihm in T'reu befoh- 
lenes Kind auf lebensgefährliche Weise verwahrloset hatte, statt der 
verdienten Strafe an Leib und Leben von der Obrigkeit in Appenzell 
auf drei Jahre aller seiner Ehren entsetzt. In der von ihm beschwor- 
nen Urphede ist der Inhalt dieser Strafe dahin angegeben, dass er 
zu keinem Zeugniss zuzulassen sei, in keine ehrliche Gesellschaft, als 


#) Tschudi Chron. I, 504. Blumer I, 408. 

4) Gesch. II ce. 4. Anm. 90. 

4) vgl. Grimm R. A. 731. 

42) Zug 2566 Art. 113. 124. 131. 134. 135. Appenzell I. Rlı. Art. 40. 41, 
Wissenschaftliche Monatschrift. IIl 22 


_— 338 — 


nur zur Kirche gehen, überhaupt seine Wohnung nur zu den noth- 
wendigsten Geschäften verlassen und während der drei Jahre keinen , 
Wein trinken solle #3). 

Es ist nicht zu verkennen, dass, indem man sich gewöhnte, die 
Ehrentziehung, besonders die zeitweilige, als eine Strafe aufzufassen, 
ein Missbrauch davon die Folge war. Wenn in dem Zuger Stadt- und 
Amtbuch 1566 Art. 135 schon denjenigen eine halbjährige Ehrlosigkeit 
gedroht ist, die Nachts in Scheuren und Scheunen bei Licht spielen, 
so ist dieselbe zu einer blossen Polizeistrafe herabgesetzt und hat ihre 
wahre Bedeutung ganz verloren. Ueberhaupt zeigt eine Vergleichung 
des Stadt- und Amtbuchs von 1432 und von 1566 eine übermässige 
Ausdehnung der Ehrentziehung in dem letzteren und darin musste 
eine Abschwächung ihrer Geltung im Publikum liegen. Eine solche 
Ausdehnung zeigt ein Verkennen des Wesens der bürgerlichen Ehre, 
die nicht mehr aufgefasst wird als ein Ganzes, dessen Ausläufer be- 
stimmte Rechte sind, sondern nur als ein Compositum von Rechten, 
deren Verlust eine Verärmerung ist, wie die Zahlung einer Busse. 
Wenn in einem republicanischen Staate, in welchem der Bürger be- 
rechtigt ist, sich als integrirenden Theil des Staates zu fühlen wegen 
seiner unmittelbaren Theilnahme an allen öffentlichen Angelegenheiten, 
grade deshalb grosse Anforderungen an ihn gestellt werden in Be- 
treff der Wahrung des Gemeinwohls, wie es die Rechtsbücher der 
alten Schweiz überall zeigen, und er es als eine Ehre ansehen muss, 
sowol dass diese Anforderungen an ihn gestellt sind, als auch den- 
selben in vollem Maasse zu genügen, wodurch er eben zeigt, dass er 
auf seine bürgerliche Ehre hält und sie zu bewahren weiss, so darf 
der Staat nicht die Entziehung derselben aussprechen, wo diese nicht 
von dem Bürger verwirkt ist durch Handlungen, die in den Augen 
seiner Mitbürger als unvereinbar erscheinen mit der Ehre des Bürgers. 
Thut das der Staat, so vernichtet er die Werthschätzung der bürger- 
lichen Ehre, der sichersten Stütze des Gesammtwohls. In einer Zeit, 
in welcher die moderne Unterscheidung der politischen und bürger- 
lichen Gesellschaft noch nicht existirte, musste es dem für ehrlos Er- 
klärten als eine Unmöglichkeit erscheinen, in seinem bisherigen Wohn- 
kreise zu verweilen und er es vorziehen ins „Elend“ zu gehen, statt 
daheim elend zu sein; in jenem Zuger Falle werden die Mitbürger 
nicht geringer von dem Betroffenen gedacht haben als vorher. 


4) Zellweger, Urkunden zur Gesch. des Appenz. Volkes No. 703. 
Blumer I, 408. 


— 339 — 


Bemerkenswerth ist, wie man vor Zeiten in Zug die Ehr- und 
Wehrlosigkeit solcher, die gegen den Staat gefrevelt hatten, kundbar 
erhielt: In der „Reise junger Zürcher unter der Leitung des Herrn 
Johannes Schmuz V. D. M. 1731“ #) lesen wir: „Wir sahen im Vor- 
beigang an einigen Häusern für die Fenster hinausgehenkte Schmach- 
Tafeln, welche in dortigen bekandten Troublen einichen Standts - Per- 
sohnen zur Strafe gemacht worden, Deren Inhalt war ungefehr dieser: 
Hier wohnet der Ehr- und Wehrlose ‚Jakob Brandenberg, Beat Caspar 
Uttinger u. s. w.“ 

$ 6. Die Ehrlosigkeit eines bösen Schuldners dauerte, bis er 
seine Schulden bezahlt hatte. Landbuch von Obwalden #): „Wer 
der wäre, der mehrers verthäte und sich höher beschuldigte, als er 
zu bezahlen hätte und dass gefahrlich und liederlicherweis durch un- 
hauslichkeit Thröllen #% und Märchten, und nit etwan auf gewalt Got- 
tes und zugefallenen Unglück beschechen, hinfüran zu keinen ober- 
keitlichen Ehren noch Aemtern, auch in Gricht noch Rath zu keiner 
Kundschaft soll kommen mögen, verbleiben noch gebraucht werden: 
bis und so lang ein solcher seine Schulden zu Benügen bezahlt ha- 
ben wird und — an kein Kirchen noch Landsgemeind gehen und 
Ehr und gewehrlos sein, auch einen grünen Hut tragen solle #7) bis so 
lang er seine Schulden bezahlt hat.“ Uri Art. 83. Auch noch das 
Landbuch von Nidwalden 1806 enthält die Bestimmung: „Wann 
MGHH. Obern dergleichen so in Auffall kommen und mit den Gelten 
sich nit abfinden können, mit dem Bando verschonen würden, so sol- 
len solche wirklich von allen Uerthe-, Dorf, Gnossen-, Kirchen-, Lands- 
und Nachgemeinden ausgeschlossen sein, so lang bis sie werden be- 
zahlt haben, auch weder in Gericht noch Rath gehen, noch zu eini- 
ger Kundschaft gebraucht werden #8). 

S 7. Wer auf eine bestimmte Zeit der Ehre entsetzt war, er- 
langte nicht schon mit Ablauf dieser Zeit die Ehre ohne Weiteres 
wieder, sondern bedurfte einer Restitution. Diese lag entweder in 
den Händen der Landsgemeinde (Nidwalden 180. Appenzell A. Rh. 


44) Leu’sche Manuseriptensammlung, auf der Stadtbibliothek in Zürich, 
Quart 44 S. 328. £ 

45) Blumer II, 101. 

4) Dieses Wort bedeutet hier wie oft die Processirsucht. 

#) Eine beschimpfende Kleidung des insolventen Schuldners kommt auch im 
Bamberger Stadtrecht $ 256 b. vor. 

4) Blumer II, 101. 


— 340° — 


189 a. E.) oder des Landammanns und Raths (Schwyz Landbuch 
S. 30. 31. Zug 1566 Art. 115. 130). Hatte er wegen Friedbruch 
die Ehre verloren, so war zu erwägen, ob er sich durch Wohlver- 
halten der Restitution würdig gemacht hatte (Zug 1566 Art. 115. 130.). 
So wie der böse Schuldner nicht restituirt werden konnte, bevor er 
seine Schulden bezahlt hatte, so auch derjenige nicht, der in eine 
Busse verfallen war, vor Entrichtung der Busse (Appenzell A. Rh. 38. 
133. 147. I. Rh. 48.). Das Restitutionsgesuch des Betheiligten oder 
seiner Angehörigen und Freunde soll nach manchen Stellen nicht vor 
Ablauf einer bestimmten Zeit angebracht werden #). Das Landbuch 
von Glarus 161 will die betreffende Bitte-nicht vor Jahr und Tag 
zulassen, Appenzell A. Rh. 147 für den Fall, dass jemand wegen 
Friedbruch mit gewehrter Hand seiner Ehren entsetzt war, nicht vor 
Ablauf von drei Jahren. Wer den Frieden mit Wehr und Waffen 
zum andern Mal, mit der Faust zum dritten Mal gebrochen hat, soll 
nach diesem Landbuch Art. 149. 152. gar nicht restituirt werden. 

In Glarus war der Missbrauch aufgekommen, dass der, dem von 
Landammann und Rath der Wein verboten war, sich sogleich um 
Aufhebung des Verbots an die Landsgemeinde wandte, wo er viel- 
leicht durch Freunde und Bekannte ein Stimmenmehr erlangen konnte, 
Daher wurde in einer Maienlandsgemeinde beschlossen, dass in einem 
solchen Falle nur „ein Landammann und ganzer Rath — die am aller- 
besten wissen, warum im der wyn verbotten“ handeln sollten, Art. 215. 

$ 8. Da die Ehrentziehung die Entziehung bestimmter Ehren- 
rechte ist, so verliert eine Frau, die ihrer Ehren entsetzt wird (Nid- 
walden 165), weniger als der Mann, aber doch gerade dasjenige, 
was als der innerste Kern der bürgerlichen Ehre gilt (s. $ 2.), Ein 
Beispiel der Art ist uns überliefert im Stadtrecht von Diessenhofen 
Art.209. Margret Schäffeler hatte Trauben aus einem fremden Wein- 
garten genommen und wurde desshalb vor Gericht beklagt. „Da bot 
sie ir Unschuld für, da ward sie bewiset und übersait.“ Wegen der 
Entwendung hatte sie eine Geldbusse zu zahlen; weil sie sich zu 
einem falschen Eide erboten, wurde erkannt, dass sie nimmer gut solle 
sein zu keiner Sache und ihren Worten nicht zu glauben in keiner 
Sache und solle man nie mehr einen Eid von ihr nehmen. 

8 9. Aus der unehlichen Geburt resultirte ausser der Be- 
schränkung der Rechtsfähigkeit, die vornemlich im Erbrecht hervor- 


49) Appenzell I. Rh. 40. 47. 124. 


% 


— 341 — 


tritt, auch eine Schmälerung der Ehrenrechte. Nach dem Luzerner 
Stadtrecht Art. 30 waren Uneheliche vom Rath, vom Gericht und 
auch von Pfründen ausgeschlossen. Durch Rathsbeschluss wurde 1429 
das Herkommen bestätigt, dass kein Unehelicher weder in den Rath, 
noch an die Hundert gesetzt werden solle 0), 

Von einer Anrüchigkeit wegen gewisser Gewerbe und Geschäfte 
finden sich in den Rechtsquellen der innern Schweiz wenige Spuren. 
Im Landbuch von Nidwalden Art. 176 ist bestimmt, dass die sieben 
Männer, welche vom Lande dazu genommen werden, um bei einer 
Folterung zugegen zu sein, keinen Schaden an ihren Glimpf und Eh- 
ren leiden sollen. Damit ist aber deutlich genug ausgesprochen, dass 
der Henker, welcher zu strecken und zu foltern hatte, im Gegensatz 
zu ihnen, der allgemeinen Vorstellung von der Schimpflichkeit seines 
Gewerbes unterlag. Ebenso wenn in der peinlichen Gerichtsordnung 
von Davos aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (Landbuch $. 104) die 
Frage am Schlusse des Verfahrens vorgeschrieben ist, ob es den Wei- 
beln, Gaumern (d. i. Wächtern), Handwerksleuten 51), die an dem 
Standrecht verwendet worden, an ihren Glimpf und Ehren unaufheb- 
lich sein solle und diese Frage bejaht wird, so ist dabei der Scharf- 
richter ausgeschlossen. 

Die Ansicht von der Unehrenhaftigkeit des Gewerbes eines Scharf- 
richters hat sich in der Schweiz vom Mittelalter her bis zur neuesten 
Zeit erhalten. Gross erzählt in seiner kurzen Basler Chronik aus 
dem.Jahr 1546 5?): „Den 19. Martii hat sich ein Handwerksmann 
selbs entleibt aus Unmuth, weil er als ein Trunkener mit dem Scharf- 
richter getrunken. Welches ihm der Scharfrichter zwar gewehret, jener 
aber dessen nicht geachtet. Und als ihn die Zunft nicht mehr wolt 
arbeiten lassen, fiel er in solche Traurigkeit und Fall, wie gemel- 
det.“ — „Dem Henker, sagt Siegwart-Müller in seinem Straf- 
recht der Kantone Uri ete. (1833) S. 141, haftet in diesen Kantonen 
jener vom Mittelalter hergebrachte Schandfleck immer noch in dem 
Grade an, dass in Nidwalden die Heirath eines Landmannes mit 


50) Segesser II, 159. 431. 435. 

51) vgl. C.C.C. Art. 215. Wie in Deutschland, so bestand auch in der 
Schweiz die Sitte, dass nach einer Hinrichtung die dabei verwendeten Hand- 
werksleute von der Obrigkeit „wiederum redlich gemacht wurden, also dass sol- 
ches keinem aufheblich oder nachtheilig sein solle“ (s. Oelhafen’s Chronik von 
Aarau A. 1706. 

52) 5. auch Gast’s Tagebuch $. 52. 


— 342 — 


einem Gliede der Henkerfamilie als Malefiz gestraft wird; dass er 
bei keiner Gesellschaft erscheinen darf und sogar in der Kirche immer 
den gleichen ihm angewiesenen Platz einnehmen muss.* Als in Zug 
vor einigen Jahren ein Steinhauergesell, in Ermangelung eines Scharf- 
richters, sieh dazu dingen liess Prügelstrafen zu vollziehen, legten 
bei seinem Wiedereintritt in die Werkstatt die Mitgesellen den Ham- 
ıner bei Seite und weigerten sich mit ihm zu arbeiten, so dass er 
von dannen ziehen musste. — Das Geschäft des Schinders (Abdeckers, 
Wasenmeisters), welches oft mit dem des Henkers oder Scharfrichters 
verbunden ist, gilt in der Schweiz, wie man mir erzählt hat, für so 
befleckend und entehrend, dass der Scharfrichter, welcher nicht zu- 
gleich jenes Geschäft hat, eine Stufe höher steht und es ist nicht 
unwahrscheinlich, dass die Anrüchigkeit des Scharfrichters im Mittel- 
alter dadurch, wenn nicht entstanden, doch gewachsen ist, dass er 
das crepirte Vieh besorgte. 

In den grösseren Städten der Schweiz sammelte sich im Mittel- 
alter eine grosse Menge des heimatlosen Gesindels, das theils von 
seinem unstäten Umherziehen in der Welt, theils von seinen leicht- 
fertigen Beschäftigungen und Erwerbsmitteln so verschiedene Namen 
erhielt. Die fahrenden Leute, die fahrenden Weiber oder Töchter, Bu- 
ben und ander unendlich Volk, Freihartsbuben, Guzler und Geiler, 
starke Bettler, Stirnenstosser ete. sind Bezeichnungen, die in den 
Rechts- und Geschichtsquellen oft wiederkehren. Besonders in Basel 
fand sich dieses Volk in Haufen ein und dort war es der Kohlenberg 
ausserhalb der Stadt, dieselbe Stätte, an welcher der Nachrichter mit 
seinen Gesellen wohnte, die ihnen zum Aufenthalt angewiesen wurde, um 
sie in strengerer Zucht zu halten 5%). Ihrer partiellen Rechtslosigkeit 
entsprach eine geschmälerte Ehre. Deutlich spricht sich dieses schon 
aus in dem oft als offizielle Bezeichnung wiederkehrenden Ausdruck 
„Buben, die weder Messer noch Degen und auch kein Hosen tragen“, 
„Freiheiten, die da ohne Messer und Hosen gehen“ u. dgl. Eine 
Rathsverordnung vom 6. Nov. 1406 54) bestimmte „daz die Buben 
die weder masse, messer noch tegen und ouch kein hosen tragend, 
daz die kein unzuchte gegen einander beschulden mögent, so si ein- 
ander mit füsten schlahent und trukenen streichen, ob sie joch schni- 
demesser trügent und die nüt uszügent. — Item ze glicher wise 


53) 5. oben die Skizze über das kolenberger Gericht. 
54) (Schnell) Rechtsquellen von Basel I, No. 85. vgl. daselbst S. 28. a. E. 


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söllent die offenen huren, so die einander schlahent oder eine zu der 
ander spricht, si sie ein böse hure, oder in ander weise schiltet, es 
wer denne daz eine die ander zige daz sie ein Diebin wer, darab 
sol unser Vogt ze richtende han.“ Wie die Buben ohne Messer und 
Hosen, so waren auch die Huren, welche in den zahlreichen Frauen- 
häusern sassen, durch eine beschimpfende Kleidung kenntlich ge- 
macht >). | 

Zu den fahrenden Leuten gehörten zwar auch die Spiel- 
leute), aber man darf sie doch nicht im Allgemeinen jenem Aus- 
wurf der bürgerlichen Gesellschaft zugesellen. Sie thaten sich zu 
Brüderschaften zusammen und brachten diese unter den Schutz welt- 
licher Herrschaft und der Kirche. Das Haupt, welches sie sich aus 
ihrer "Mitte wählten, heisst der Pfeiferkönig, dessen erster Beamter 
oder Stellvertreter Pfeifermarschall. Für bestimmte Landesgebiete liess 
der gewählte Pfeiferkönig sich von der weltlichen Hoheit mit dem 
Königthum belehnen 57) und durch die Wahl eines oder einer Heili- 
gen kam die Brüderschaft in den Verband der Kirche. Auf diese 
Weise, wenn sie auch immer noch zur Classe der fahrenden Leute 
gehören und „allezeit feil zu Trauer und Scherz“ in der Ausübung 
ihrer Kunst unstät umherzogen, lebten sie doch nicht in der Verach- 
tung der Landstreicher, deren Scharen wie Ungeziefer eine Landplage 
der mittelalterlichen Schweiz waren, so dass oft ein strenges Ein- 
schreiten der Obrigkeit gegen sie nothwendig wurde °8), 


55) Rechtsquellen von Basel I n. 167. Züricher Rathserkenntniss von 1319 
bei Bluntschli I, 160. vgl. Bodemeyer, hannov. Rechtsalterthümer I, 40. 

56) Einen schönen Excurs über die Spielleute im Mittelalter s. bei Wein- 
hold, die deutschen Frauen in dem Mittelalter S. 351 ff. und bei J. H. Heitz 
„die Herren von Rappoltstein und das elsässische Pfeifergericht“ in der Alsa- 
tia 1856 — 1857. 

57) Der erste König der Art in Deutschland soll Johannes der Fiedler am 
Hofe Carl IV in Mainz 1355 gewesen sein s. Heitz S. 18. 

5) Meyer von Knonau, Canton Zürich I, 140 berichtet, dass man zu- 
folge eined Beschlusses einer Tagleistung zu Baden 1482, 750 Landstreicher in 
Zürich „aufstrickte*, und nimmt diesen Ausdruck = hinrichten. Allein es han- 
delte sich wohl nur um ein Verstricken — Eingrenzen, wie es die Carolina 
Art. 161 hat. — Im Neujahrsblatt der Zürcherischen Hülfsgesellschaft 1817 S. 9 
findet sich die Notiz: „Im Jahre 1639 wurden auf einen Tag zu Rapperschweil 
1800, zu Schwyz 1800, zu Baden 6370 Landstreicher angehalten; zu Brem- 
garten in einem Jahr 236 derselben hingerichtet.“ Vielleicht beruht die Angabe 
in den letzten Worten ebenfalls auf einem Missverständniss, aber jedenfalls war 
die Zahl der Heimatlosen und Vagabunden, zu denen von Zeit zu Zeit Scharen 


— 344 — 


In Uzmach wurde 1407 eine Brüderschaft der „farend Lüt Gi- 
ger und Pfiffer‘“ gestiftet, der Stiftungsbrief vom Grafen von Toggen- 
burg besiegelt und die Kirche zum heiligen Kreuz ihr Versammlungs- 
ort, wo sie einmal im Jahre eintreffen sollten, um unter Anderem für 
ihre verstorbenen Mitbrüder eine Jahrzeit zu begehen. Jedes Mit- 
glied dieser Brüderschaft zum heiligen Kreuz trug ein kleines silber- 
nes Kreuz, welches nach seinem Tode der Brüderschaft in der Kirche 
wieder übergeben werden musste 59). 

Besonders interessant ist der Lehenbrief „als die Stadt Zürich 
das sogenannt Pfyfer-Königreich in ihren Gerichten und Gebiethen 
Ulman Meyer von Bremgarten verlichen* vom 29. März 1430 69), 
Es ist darin als eine alte gute Gewohnheit bezeichnet, dass Bürger- 
meister und Räthe der" Stadt Zürich und zwar „von unser Grafschaft 
Kiburg wegen“, das Pfeifer-Königreich verleihen und „jeglichen König, 
der zu Ziten gewesen ist* bestätigen. Ulman Meyer von Bremgarten, 
von anderen fahrenden Leuten in der Eidgenossenschaft einmüthiglich 
zum König erwählt, habe jetzt um Bestätigung in dieser Würde ge- 
beten; sie solle ihm verliehen sein — „bestetten ihn daran als einen 
rechten Künig der Pfiffer und varenden Lütt, also dass er und sin 
Marschalk das Künig Reich hinfür als bisher mit allen Wirden und 
Eren, allen Freyheiten, Rechtungen und guten gewohnheiten, als das 
von alter herkommen ist, inbalten und haben sollen, von aller Mäng- 
lichem ungesumpt und ungehindert.“ Ulman Meyer musste in des 
Bürgermeisters, Felix Maness, Hand geloben bei seiner Treu an Eides 
Statt, einem jeglichen Bürgermeister und Rath der Stadt gehorsam, 
getreu, gewärtig und von des Königreichs wegen verbunden zu sein. 
Dann werden alle Fürsten, Grafen, Herren, Freie, Ritter, Knechte, 
Amtleute, Vögte, Bürgermeister, Schultheissen, Ammann und Räthe, 
denen der Brief gezeigt werde, gebeten, den König Ulman Meyer 
und seinen Marschall gütlich zu empfangen, ihn schützen, schirmen 
und fördern zu wollen. Diese Gesellschaft der Geiger und Pfeifer 


entlassener Söldner kamen , ungeheuer gross und eine Menge Verbrechen wurde 
von ihnen verübt vgl. Pupikofer, Gesch. des Thurgaus II, 36. 37. Kne- 
bel’s Chronik I, 195 Anm. 

5) J. von Arx, St. Gallen II, 209. 

60%) Abdruck im Anzeiger für Schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 
1856 No. 3, vgl. J. von Müller Gesch. II c. 2. — Das Anniversarium der 
Pfarrkirche zu Bremgarten nennt den Ulman Meier und zwar als „Giger“ &. 
Weissenbach, Gesch. von Bremgarten (Schulprogramm 1851 u. 52) S. 43. 


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345° — 


wurde von der Kirchenversammlung zu Basel in eine Brüderschaft erho- 
ben unter dem Schutz Unser Lieben Frau, wie Müller berichtet. 

Ulman Meyer ist in jenem Lehnbriefe bezeichnet als „unsers 
gnedigen Herrn, Herrn Burkartz von Wyssenburg, Apt des Gotzhus 
zu den Einsidlen varend Mann.* Damit wird er nicht als ein Got- 
teshausmann des Klosters Einsiedeln eingeführt, denn dann wäre er 
kein „varend Mann* gewesen, sondern in der Eigenschaft eines Schütz- 
lings des namentlich erwähnten Abtes. Wahrscheinlich hatte, bevor 
ihm in Nachahmung pompöser Lehnrechtsform die Bestätigung des 
Pfeiferkönigthums für das zürcherische Gebiet ertheilt war, wozu die 
Stadt Zürich ihr Recht von der erworbenen Grafschaft Kyburg und 
dadurch mittelbar vom Reiche herleitete, die Ausübung seiner Kunst 
an den Kirchenfesten des berühmten Klosters ihn in die Verbindung 
mit dem Abte und in dessen Schutz gebracht. 


X. Das Rebenweisthum von Twann am Bielersee. 


Sehr interessant ist der Inhalt eines Rebenweisthums von Twann 
am Bielersee aus dem Jahre 14261\. Die allherbstlich gewählten 
drei Rebbannwarten sollen von dem Twingherrn oder dessen Statthal- 
ter in Gelübd genommen werden mit einem gelehrten leiblichen Eide 
zu Gott und den Heiligen, die Reben zu hüten dem Armen wie dem 
Reichen, so lang der Bann währet, niemand zu lieb noch zu leid, 
keinen Dieb zu hehlen und selber nichts zu entwenden. Um allen 
Schaden über einen halben Sester Weins sind sie verantwortlich, wenn 
sie den Thäter nicht entdecken. Ihnen ist die Wachsamkeit eines 
Kranichs empfohlen. Sie sollen bei keiner „Hausröche* im Gerichte 
schlafen; übernimmt sie der Schlaf, so sollen sie ihren Spies zwischen 
den Arm und einen Kieselstein unter ihr Haupt legen und so schla- 
fen, nach dem Schlafe aber aufstehen und hüten wie vorher. Begehrt 
es der Twingherr, so soll ein Bannwart für ihn Fische im See fan- 
gen oder Botschaft auf Nidau oder Erlach tragen, inzwischen aber 
seinen Gesellen die Hut befehlen und gleichen Tages wieder kommen. 
Ebenso wenn er um ein Paar Schuh zu Markte geht. Während des 
vom Twingherrn oder seinem Statthalter gesetzten Bannes der Wein- 
lese dürfen nur faulende oder abgehende Trauben abgelesen werden. 
Damit der Bannwart desto besser hüten möge, ist ihm gestattet, zwei 


*) Geschichtsforscher II, (1817) S. 308. Grimm, Wsth. I, 182. 


—_— 546 — 


oder drei Tage in dem Banne, also vor der allgemeinen Weinlese, 
mit Willen seiner-allfälligen Lehensherıin zu lesen, natürlich nur im 
eigenen Weinberge. Frevler soll er fangen; kann er es nicht, so 
soll er in das Dorf laufen und Hülfe anrufen. Die so ihn hören und 
nicht zu Hülfe kommen, sollen dreifach gestraft werden. Macht der 
Bannwart den Frevler leiblos, so soll er desshalb weder Land noch 
Herrschaft verloren haben, er soll sich aber vor des TodtenFreun- 
den hüten. 

Der Bannwart mag drei Trauben in dem nächsten Stücke Reben, 
wo ihn Esslust ankommt, nehmen und hernach in demselben Stücke 
und im gleichen Jahre nichts mehr. Führt ihn sein Weg der Hut 
halben oft an dem gleichen Stück vorbei und steht ein Birnbaum da, 
so darfer Birnen essen so viel er will und mit sich nehmen, so viel 
er in seiner Hand vorn an der Brust tragen mag und da hüten so 
viel nöthig is. Wo Nussbäume sind, da jemand Anfall hätte, und 
solche geschüttelt werden, dem mag er sagen, dass er seinen An- 
fall hole. 

Ein vorbeigehender Fremder mag Trauben essen so viel er will, 
aber er soll keine in den Sack stossen. Der Bannwart soll ihn da- 
rum nicht pfänden, sondern weiter gehen heissen und wo er irre geht, 
auf den rechten Weg weisen. Einen Einheimischen aber sollen sie 
pfänden. Kommt ein Graf geritten und begehrt Trauben, ‘dem soll 
der Bannwart einen Hut voll geben; einem Ritter was an dreien Schos- 
sen steht; einem Priester drei Trauben und einer tragenden Frau drei, 
nemlich dem Kind eine und ihr zwei, in den nächsten Reben bei 
ihm; ab demselben Stücke aber in demselben Jahre nichts mehr. 

Der so den Hut voll Trauben für den Twingherrn aufnimmt, soll 
Gutes, Saures und Faules, dem Armen wie dem Reichen, aufnehmen. 


Der Hut soll so beschaffen sein, dass ein Bannwart solchen dem An- ' 


dern mit gestreckten Armen über einen Dornhag geben möge. 

Dieses ist der wesentliche Inhalt des idyllischen Weisthums, das 
uns einige Themata von rechts- und ceulturgeschichtlicher Bedeutung 
vorführt: 

1) Zunächst ist der s. g. Mundraub ?) berührt oder die Frage, 
wie weit es demjenigen, den bei dem Anblicke des reifen Obstes und 
der Früchte auf dem Felde die Essenslust ankommt, gestattet ist, 


?) Dieser Name kommt in den schweizerischen Rechtsquellen nicht vor; 
er findet sich in dem wendisch-rügianischen Landbrauch c. 240. 


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— 347° — 


diese zu befriedigen, ohne dem Recht oder der Strafe zu verfallen. 
Eine eulturgeschichtliche Beziehung haben die desfalligen Bestimmun- 
gen des Weisthums, insofern sie eine Berücksichtigung des natürlichen 
Menschen zeigen, der einem gewöhnlichen Triebe folgt, und eine Hu- 
manität, die der Gegenwart fast abhanden gekommen ist, als Regel 
hinstellen. Man 'hat in der Schweiz oft Gelegenheit zu sehen, mit 
welcher Rohheit Kinder, die der Lockung abgefallenes Obst in die 
Hand und von der Hand in den Mund zu nehmen nicht widerstehen 
können, von den Eigenthümern der Obstbäume vertrieben werden. 
Vor einigen Jahren ging ein solcher Eigenthümer so weit, einem ar- 
men Bettelkinde, das einige abgefallene Birnen auflesen wollte, Schrot 
in die Beine zu schiessen. Die öffentliche Stimme verurtbeilte ihn 
zwar als einen Barbaren, aber nach der Seite des Rechtes hin sah 
man in seinem Verfahren nur einen Excess in der Ausübung seiner 
Befugniss. Das alte Recht war natürlicher und menschlicher. Ver- 
einzelt erhielt sich eine schöne Sitte in Affeltrangen im Thurgau, die 
hier eine Erwähnung verdient. Neben der Kirche ist ein grosser Kirsch- 
baum, der in einem besondern Frieden steht, der „Kriesibaum* der Kin- 
der des Dorfes, und niemand rührt ihn an, bis an einem Sonntage die 
reifen Kirschen abgenommen und unter sämmtliche Kinder vertheilt wer- 
den. Die alte welke Frau, welche mir diess erzählte, hatte auch als 
rothwangiges Kind an dieser Kriesi- Bescherung Theil genommen und 
wie einst als Kind, freute sie sich jetzt für die Kinder der Wiederkehr 
des Festtages. 

Der Begriff des Mundraubes und seine Beschränkung auf die Be- 
friedigung der augenblicklichen oder einmaligen Essenslust ist festge- 
halten in den Sätzen des Weisthums, dass der Bannwart von den Birnen 
des Baumes, der in dem Gebiete steht, welches er zu begehen hat, es- 
sen darf so viele er will und auch eine kleine Quantität in der Hand 
zum weiteren Essen mitnehmen kann, und dass der vorübergehende 
Fremde so viele Trauben essen mag, als er will, aber keine in den 
Sack stossen soll. Hier ist die Grenze zwischen dem Recht und dem 
Unrecht in einer deutlichen, nicht ungewöhnlichen Weise ?) angegeben. 
Nach dem alten Landbuch der March Art. 24 *) verfällt der Vorüberge- 


®) 5. Buch Mos. 23, 24: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehest, 
so magst du der Trauben essen nach deinem Willen, bis du satt habest, aber 
du sollst nichts in dein Gefäss thun.“ Schwsp. 172, 101. (Wackern,) 

%) Kothing, die Rechtsquellen der Bezirke des Kantons Schwyz 8. 31. 


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hende, welcher abgefallenes Obst „ungefarlich“ zu ihm in die Hände 
nimmt und das er auf der Strasse „essen wollte“ keiner Busse, „welcher 
aber gefarlich in Sack neme und in Kratten oder Zeinen (d. i. Körbe) 
oder Ermel neme, und das mit ihm heimtragen und hinter sich behal- 
ten wölt, das sölt man bussen für ein Freffny.* Landb. von Obwal- 
den 1635: „Wer der ist, der einem under sinen bäumen obs, nuss und 
anders ufflyst, oder ab sinen bäumen nimbt, mehr (nit?) dann einer in 
siner handt bloss threyt und angäntz essen wyl, dass soll ihme an sinen 
eheren nüdt schaden, was aber einer mehr darüber nimbt oder in sin 
Buossen oder sackh stiesse, oder worin dass wäre, es sye Tags oder 
Nachts, dass soll er verstollen han.“ Mir scheint diese Stelle eine Ge- 
genstellung des Erlaubten (Mundraub) und Nichterlaubten zu enthalten; 
Blumer °) sieht darin die Bestimmung der Grenze zwischen dem buss- 
würdigen Obstfrevel und dem Diebstahl. 

In dem Rebenweisthum von Twann ist die Grenze zwischen dem 
Erlaubten und Unerlaubten auch in einer anderen, gleichfalls gewöhn- 
lichen Weise gesteckt, nemlich durch eine quantitative Bestimmung. 
Der Bannwart mag drei Trauben von dem nächsten Stück Reben, wo 
ihn Essenslust ankommt, nehmen, aber in demselben Herbste von dem- 
selben Stücke nicht mehr. Einem vorübergehenden Ritter soll der Bann- 
wart, wenn jener es begehrt, die Trauben von drei Schossen geben, 
einem Pfaffen drei Trauben, einer schwangeren Frau ebenfalls drei. 
Wir haben hier eine Hauptanwendung des Spriehworts: drei sind 
frei! 6) Eine ähnliche Fixirung durch die Dreizahl finden wir in der 
Herbstordnung von Haltingen aus dem 15. Jahrh. ?): „Item wenn es 
och ist, das die Bänne geteilt werdent, und man dar inn liset, uff 
den obend, als die leser heim gond, sol ieglicher banwart by siner 
stiglen ston und luogen, wie viel ieglicher leser trüblen in sinem kü- 
bel trage, und was er über dry trübel treit, soll er die überigen 
in eins bischof von Basel oder nuv in eins bumeisters trotten tragen.“ 

Nur dem vorübergehenden Fremden, nicht dem Einheimischen, 


5) I, 415. Ich verdanke die obige Stelle der Mittheilung Blumer’s, der 
gewiss richtig vermuthet, es sei nach dem Worte „mehr“ die Negation ausge- 
fallen. Der Text bei N. von Moos (Sammlung S. 368) enthält auch die Ne- 
gation, ist aber corrupt und unzuverlässig, denn es heisst: „oder aber seinen 
Baumen nit mehr dann ete.“ 

6) Schmeller, bayer. Wterb. I, 409. Grimm R. A. 209. 401. 554. 
Hillebrand, deutsche Rechtssprichwörter No. 298. 

7) Grimm Wosth. I, 821. 


— 349 — 


gestattet das Weisthum von Twann seine beim Anblick der Trauben 
erwachende Essenslust zu befriedigen, und auch das Landbuch der 
March nennt den Vorübergehenden. Zur Charakteristik des Mund- 
raubes ist dieses nicht unwesentlich. 

Die Grenze des Erlaubten wird überschritten nicht nur durch das 
Nehmen eines grösseren Quantum als die natürliche Befriedigung des 
Appetits erheischt, sondern auch durch das Hinzutreten anderer Um- 
stände. Das Gebiet des Unerlaubten in dieser Richtung ist jedoch 
nicht ohne Weiteres das des Diebstahls, sondern wir haben es vor- 
erst mit einer Art Eigenthumsschädigung, einem bussfälligen 
Frevel zu thun, wenn wir uns an manche der altschweizerischen Rechte 
halten. Öffnung von Wagenhusen im Thurgau 1552 8): „Wer dem 
andern syn gras, band und derglichen abheuwt, oder am Obs, es 
syge öpfel, birnen, nuss, pfersich, truben, kriesi, auch in den krut- 
garten an blumen, böllen, knoblauch, an krut und anderem schaden 
thut, und es zu klag kumt, so ist der thäter dem Vogtherren dry 
schilling pfenning zu straff verfallen, und soll den schaden abtragen 
dem, so der schaden beschehen ist; beschehe aber sölliches by nächt- 
licher wys, als dann blybt es by der nachtschaach und by derselbi- 
gen straff, namlich by der zehen pfund pfenning.* Unmittelbar hie- 
ran schliesst sich eine Bestimmung über eine andere Eigenthumsschä- 
digung, das Abhauen fremder Bäume, welches auch nicht als Dieb- 
stahl genommen ist. Bemerkenswerth ist ferner, dass hier der Obst- 
frevel u. dgl. nicht, wie es sonst wohl geschieht ?), durch die Nacht- 
zeit zum Diebstahl wird, sondern mit der Busse des Nachtschachs 
bedroht ist 10). | 

Fragen wir nach dem Grunde, warum der Obst- und Grasfre- 
vel ete. nicht als Diebstahl genommen wurde, so stossen wir auf das 
Erforderniss des deutschen Diebstahls, dass die betreffende Sache sich 
im fremden Besitz befinden musste 11). Das Gras auf dem Felde und 
das Obst auf dem Baume sind noch nicht in Besitz genommen. Diess 


8) Schauberg’s Ztschr. II, 81. — Offnung von Rickenbach 1495 
(Grimm Wsth. I, 216). Regensberger Herrschaftsrecht 1538 Art. 38, Herr- 
schaftsrecht von Elgg Art. 68 $ 6. Art. 70 $ 2. — „Obsbrief“ von Schwyz 1440 
(Landbuch S. 33). Segesser II, 643 Anm. 2. 


9) Ztschr. für deutsches Recht XVH, 467. 


10) s. auch Herrschaftsrecht von Elgg Art. 70 $ 1. Ztschr. für deutsches 
Recht XVII, 468. 


11) Köstlin in der (Münchener) krit. Ueberschau III S. 153 fi. 159. 


* 


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führt direet hin zu dem weiteren Requisite des deutschen Diebstahls, 
dass die Sache eine bewegliche sei. Die altschweizerischen Rechte 
geben, in einer erbrechtlichen Beziehung, genau an, dass das noch 
mit dem Boden verbundene Korn, Gras etc. liegendes Gut sei und wie 
es zur Fahrhabe werde. Hofrodel von Altorf (1439) $ 31.32: „Si 
sprechend och, wer, ob ein man oder frow abgieng und stuend sin 
samkorn oder welcherley gewechst das wer uf dem veld, und alle 
die wil so das stat oder lit und nüt nnder die wid komen ist, 30 
man im gelüt hat, so hoert der sam oder die gewechst zu liegendem 
guot. Ist das aber under die wid komen, so gehoert es zu varen- 
dem guot“ 12). 

Es ist eine gleiche Anschauung, wenn nach amerikanischem Rechte, 
noch bis zur Gegenwart, derjenige, welcher Kartoffeln entwendet, 
welche ausgegraben waren und auf der Oberfläche des Bodens lagen, 
oder Kom, welches geschnitten auf dem Felde lag, als Dieb gilt; 
wenn aber der Thäter d’e Kartoffeln selbst ausnahm und entwendete 
oder Korn, das er erst selbst abmähte oder abschnitt, diess nur als 
Frevel bestraft wird (his offence would only have been a trespass) 13). 

Köstlin hat in seiner reichen Abhandlung über den Diebstahl 
nach dem deutschen Rechte vor der Carolina für unser Thema die 
Unterscheidung des auf der Wiese stehenden Grases, des im Walde 
stehenden Baumes von dem Getreide, das man gebaut, den Bäumen, 
die man gepflanzt hatte, geltend gemacht; diess bewährt sich aber 
in der betreffenden Anwendung nach den altschweizerischen Rechts- 
quellen nicht. Nur in einer entfernten Verbindung mit jener Unter- 
scheidung steht das Recht, welches ein Landmann an den Bäumen 
erwirbt, die er auf der Allmend pflanzt 1. Um die Obstbaumeultur 
zu fördern, wurden die Markgenossen durch Vortheile aufgemuntert, 
Obstbäume auf der Allmend zu pflanzen, aber bei diesen Vortheilen 
und Rechten stand der Charakter der Allmenden immer im Hinter- 
grunde. Durch einen Beschluss des gesessenen Landraths vom 19. 
April 1664 wurde festgesetzt, dass jeder Landmann in Schwyz 6 
Bäume auf die Allmend setzen dürfe. Diese blieben ihm und seinen 


12) Offnung von Dürnten Art. 34. Offnung von Stäfa Art. 10. Amtsrecht 
von Grüningen Art. 6. Wülflinger Herrschaftsrecht Art. 45. Kyburger Graf- 
schaftsrecht Art. 122. vgl. Schöffenurtheil bei Bodmann Rheing. Alterth. S. 672. 


13) Smith, elements of the law (Philadelphia 1853) p. 346. 
4) Blumer II, 364. 


— 351 — 


Kindern als Eigenthum; mit dem Tode der letztern wurden sie wie- 
der Gemeingut. Dieses Institut besteht noch, obschon es unter dem 
Einflusse der veränderten Nutzung der Allınenden sichtbarlich ver- 
drängt wird. Um den Nutzen der Bäume sich möglichst lange zu 
sichern, muss ein kleiner Knabe beim Pflanzen des Baumes den 
Stamm halten und dann wird er nach einer wohlwollenden Interpre- 
tation als Pflanzer betrachtet 15). 

Während nach dem Obigen das Delict, welches wir der Kürze 
wegen als Obstfrevel bezeichnen, nicht Diebstahl, sondern eine mit 
Ersatz des Schadens und einer kleinen Busse bedrohte Vermögens- 
beschädigung war, worauf sicherlich das Verhältniss der Einzelnen zu 
den Allmenden, die früher weit ausgedehnter waren, einwirkte, kommt 
es auch vor, dass dasselbe unter einen andern Gesichtspunkt gebracht, 
weit strenger behandelt wurde. Stadtrecht von Eglisau 1509 Art. 8, 
$ 8: „Item wellicher den anderen ouch in synem wyngarten an sy- 
nem schaden ergriffe und diss clagt, ist ein hand oder ein fuss, doch 
mag er wol mit zechen pfundt büssen“ 19), Unmittelbar vorher geht 
eine Bestimmung wegen Hausfriedensbruch: „Item welcher den an- 
dern by Nacht oder by Nebel in synem hus ergriffe ete.“ und ohne 
Zweifel lässt sich das im $ 8 bedrohte Deliet nehmen als frevent- 
liches Eindringen in einen befriedeten Weingarten, wobei wohl 
auch in Anschlag zu bringen ist, dass wir es hier, wie bei der Win- 
terthurer Verordnung, mit einem städtischen Gesetze zu thun haben. 
Als Diebstahl ist das Deliet aber auch hier nicht aufgefasst. 

Hie und da machte sich jedoch auch (im 16. Jahrhundert) die 
Ansicht geltend, dass der Obstfrevel nicht gelinder zu strafen sei als 
der Diebstahl. Basler Verordnung 1530 17): „Es haben unsere Herren 
burgermeister und rhat dieser statt Basel geordnet und erkannt. wo 
hinfür soliche, — die den biderben lüten das ir, es sye, was es 
welle, in dem veld oder in der statt heimlich unerloupt us iren gü- 
teren reben oder gerten entpfrömden entweren entragen oder nemen, 
funden — werden, den oder die selbigen wellen unsere herren ein 
ersamer rhat umb solich ir verhandlungen hartenklichen nit umb gelt 
(wie etwan beschechen), sonder ie nach dem sy verdienet eintweders 


15) Mittheilung des Herrn M. Kothing. 

16) s, auch eine Winterthurer Rathsverordnung von 1412 bei T roll, Gesch. 
der Stadt Winterthur V, 8.233. — vgl. Pupikofer, Canton Thurgau S, 149. 

'") (Schnell) Rechtsquellen von Base) I, No. 253. 


Be 


mit gfengnus, verwysung statt und lands, in das halsysen stellen, die 
oren abschniden oder durch die backen brennen strafen — — es möcht 
sich ouch einer so groblich hierinne halten und übersechen, unsere 
herren wurden den an sinem leben strafen.“ Hier ist zwar der Name 
des Diebstahls nicht gebraucht, aber der Diebstahl ist deutlich be- 
schrieben und es sind Strafen desselben, als eine Abänderung frü- 
herer Gewohnheit, gedroht. Dagegen charakterisirt eine Appenzeller 
Verordnung von 1556 (Landbuch von Appenzell A. Rh. Art. 166, 
I. Rh. 156) das Delict noch ganz als Eigenthumsschädigung, nennt 
aber die Strafe direct die des Diebstahls: „A. 1556 hat ein zwei- 
facher Rath geordnet, dass, wer dem andern das Seinige verwüstet, 
gschendt durchlaufft, oder gar entragt, es seye Aepfel, Biren, Räben, 
Erbsen, Bonen oder ander Ding, gröblich und wüest, es geschehe Tags 
oder Nachts, das wollen mein Herren einem nicht anderst halten und 
rechnen, dann für einen. Diebstahl, darnach seye ein jeder und jede 
ihrer Ehren behutsam.“ 

Besondere Erwähnung verdient noch eine Bestimmung im alt- 
schwyzerischen Recht. Während der „Obsbrief“ vom Jahr 1440 den 
Obst- und Kornfrevel ganz in der gewöhnlichen Weise als eine Ei- 
genthumsschädigung beschreibt 18) und bedroht, führt ein Lands- 
gemeindebeschluss von 1530 (Landbuch S. 87) einen Diebstahl an 
Kirschen auf: „Da die Lüt einandern vergunnent zu kryesen und das 
merteylls, von wegen das niemantz des andern schonet, weder der 
höwen noch der hegen, noch auch der Böumen nit, wellichs biderben 
Lüten ein grossen unwillen machet, wie wol man eim der kryesen gunnet, 
so ist doch der schad, se eim dorum zugefügt, nit lidenlich. Dwyl 
aber die kryese bishar Richen und Armen ein gemein ohs gsin, lasst 
mans noch ein fry gemein obs bliben. Ob aber yemantz sine kryese 
wellte werren, der mag den boum zeiehnen und einen torn daran 
henken. Und wer einem ab einem bezeichneten Boum kryeset, der 
soll ims gnon (gnumen) han, als hett er ims verstolen und sol im 
also gerechnet werden; und ob einer oder yemantz den andern do- 
rum diebet, oder dorum zurett, sol er im dorum nütt zu anthwurten 
han.“ Wie heut zu Tage, so waren in alter Zeit die Kirschbäume 
in grosser Menge über die Felder und Weiden zerstreut und die 


18) „Das nieman — dem andern sin korn und obs nit wüsten noch 
etzen soll, weder korn, haber, bonen noch ärbs ete.“ Etzen ist nicht 
wegnehmen, wie Blumer I, 415 sagt, sondern = abweiden 5. Schmel- 
ler I, 135. Auer’s Glossar zum Stadtrecht von München s. v. Etz. 


—_— 353 — 


Kirschen waren gemeines Obst; das: sollten sie auch bleiben; die be- 
schriebene Vorkehrung aber, nicht bloss eine das Hinzukommen er- 
schwerende Abwehr, brachte die Kirschen eines bestimmten, auf dem 
Boden jemandes stehenden und ihm gehörigen Baumes, in die Kate- 
gorie der in Besitz genommenen Sachen und daher konnte das Entwen- 
den derselben als Diebstahl gefasst werden 19). 

Es haben die Kirschen, das Hauptobst im Canton Schwyz, längst 
ihre Eigenschaft als Gemeingut verloren , allein eine Spur der symbo- 
lischen Besitzbezeichung erhielt sich bis zur neuesten Zeit. Noch vor 
etwa 30 Jahren war es sehr gebräuchlich , Kirschbäume oben am Stamme 
mit Dornen zu behängen und es kommt diess auch jetzt noch, wenn 
auch selten vor. Wenn man nun auch berechtigt ist, in dieser Vor- 
richtung für die neuere Zeit den Zweck lüsternen Leuten und Mar- 
dern den Zugang zu verwehren zu sehen, so ist es doch bemerkens- 
werth, dass das Bedornen nur bei den Kirschen, nicht bei den Pflau- 
men und frühen Birnen, die doch der Gefahr Unberechtigte anzulocken, 
eben so sehr ausgesetzt sind, stattfand 29). 

2) Einer tragenden Frau soll der Bannwart drei Trauben geben, 
„nemlich dem Kind eine und ihr zwei.“ Diese letztere Zutheilung 
ist eigenthümlich; die Berücksichtigung der schwangeren Frau und 
ihres Gelüstes in solcher Weise aber ist ein gewöhnlicher Zug des 
alten Rechts 21), 

‚Verwandt ist die Humanität gegen Kindbetterinnen ®). Die in 
deutschen Hofrechten und Weisthümern immer wiederkehrende Bestim- 
mung, dass wenn der Bote um ein Rauchhuhn, Fastnachtshuhn ete. ein- 
zufordern, in ein Haus kommt, in welchem sich eine Kindbetterin befin- 
det, er dem Huhn den Kopf abreissen und diesen zum Wahrzeichen an 
denHerrn mitnehmen, das Huhn aber für die Kindbetterin zurückwerfen 
soll, findet sich ebenfalls in den schweizerischen ‚Rechten. Offnung 
von Ermatingen $5. (Grimm Wsth. I, 239): „Item wäre aber, das 


19) Ueber gezeiehnetes Holz s. das alte Landbuch der March Art. 42 vgl. 
mit dem Landbuche des Hochgerichts Klosters in Graubünden $. 39, 69, wo 
sich wichtige Mittheilungen über den Gebrauch des „eigen gewohnlichen Haus- 
zeichens“ und des „Brennzeichens am Vieh“ finden (vgl. Michelsen, die 
Hausınarke 1853). Das Zeichen in derSchwyzer Satzung „von Kryesens wegen“ 
ist aber nur der an den Baum gehängte Dorn. 

20) Mittheilung des Herrn M. Kothing, 

' #1) Grimm R. A. 408; Wsth. II, 817. 85. 160. 455. — Kaltenbaeck, 

Pan- und Bergtaidingbücher XLI, 90. CL, 23. CLXXX, 42. OCV, 35. 

22) Grimm R. A. 445. 

Wissenschaftliche Monatsschrift, IH. 23 


— 354 — 


ainer ain frowen hett, die in kindbetten läg, so sol man das hun 
nemen, und sol ains herren bott dem hun das hopt abbrechen, und 
sol das hun hinder sich in das hus werfen, und sol aim herren das 
hopt bringen, und sol die frow das hun gessen“ 2%). — Einem frem- 
den’ Gaste und für eine Kindbetterin darf ein Weinschenk auch nach 
Ave Maria Wein schenken **). Von dem Verbote arme Leute länger 
als eine Nacht zu beherbergen, sind ausgenommen alte kranke Leute, 
Kindbetterinnen und die nicht wandeln mögen ®). In Rümlang im 
Canton Zürich konnte der Keller einer jeglichen Kindbetterin ein Fu- 
der Holz geben 2%); in Herzogenbuchsee durfte eine solche Frau zwei 
Fuder Holz fordern ?7). Die Sitte der Luzerner Regierung, bei der 
Geburt jedes Kindes einige Kannen Wein zu spenden, wurde bei der 
zunehmenden Bevölkerung 1580 dahin beschränkt, dass der „Kind- 
betterwein“ nieht mehr den Wohlhabenden, sondern nur den Armen 
verabreicht werden sollte 28). 


XI. Morgengabe und Abendgabe. 


Die Morgengabe hat im altschweizerischen Recht !) dieselbe Be- 
deutung, welche sie allgemein im germanischen und deutschen Recht 
einnimmt, es sind aber in der Schweiz aus dem Grundgedanken ei- 
gevthümliche Folgerungen abgeleitet und es hat hier das Institut in 
einigen Beziehungen eine ungewöhnliche Färbung erhalten. 

Morgengabe ist das Geschenk, welches der Ehemann am Morgen 
nach der Brautnacht der jungen Ehefrau für die geopferte Jungfrau- 
schaft gab oder bestellte. Basler Rathsverordnung vom 4. Januar 
1419:?) „und sol ouch der man sinem wibe die morgengab geben 


23) Offnung von Tanneg und Fischingen (Grimm Wisth. I, 282). Offnung 
von Bonstetten (Schauberg’s Ztschr. I, 12), vgl.@rimm Wsth. I, 376. 535. 
U, 119. 129. 154, 210. 534. 544. Reyscher, Sammlung altwürttemb. Statutar- 
Rechte S. 38. 171. 202. 

.. *9) Offnung von Ermatingen (Grimm Wsth. I, 243), vgl. Grimm With. I, 
425. Salfeldische Stat. von 1558 Art. 9. (Walch, vermischte Beiträge I, 
S. 143). 

25) Appenzell I. Rh. 187. 

26) Zeitschrift für schweiz. Recht IV, 2 S. 150. 

?7) Grimm Wsth. I, 815. 

28) Geschichtsfreund X, 234. 

1) Im Allgemeinen s. Bluntschli I, 108. 432. Schauberg’s Ztschr. I, 
245. Blumer I, 182. 485. Renaud, Zug $. 62. Segesser II, 441. 

2) (Schnell) Rechtsquellen von Basel Stadt und Land I, No. 106. Die 


—_— 355 — 


des ersten tages, so er früge als ein brütgom von ir uffgestanden ist 
und nyt darnach in dhein wise“). Eine der merkwürdigsten Be- 
stimmungen ist enthalten im Hofrodel von Münchaltorf 1439 $ 39 — 
41:*) „Si sprechent öch, ist daz ein Man sinem ewib, ist si ein 
toehter, ein morgengab git, das mag der man wol tun der ersten 
nacht, so er von ir uf stät, und mag si die wisen mit zweyn bider- 
mannen, so sol es gut kraft han, wie vil joch der summ ist. — 
Möcht si aber die zwen biderman nit gehaben, so mag si von mund 
ir morgengab erzellen, und wölt man ir daz nit globen, so mag si 
nemen die rechten brust in die linggen hand und iren zopf, und mit 
der rechten hand swerren liplich zu got an den heilgen, und waz si 
da behebt, das sol so gut kraft han, das ira das nieman sol ab- 
wysen. — Des gelich sol och einer wittwen ir abentgab volgen 
und beliben als vorstat.“ 

Walter) nennt es ein altes Herkommen, dass der Mann am 
Morgen nach der Heirath vor den versammelten Verwandten 
ein Geschenk als Morgengabe überreichte und bezieht sich dafür auf 
Taeitus Germ. 18: „Intersunt parentes et propinqui ac munera pro- 
-bant.“ Diese Stelle ist aber doch kaum als beweistüchtig für die 
Gegenwart der Verwandten bei der Ueberreichung der Morgengabe 
afzusehen. Dagegen nennt das Augsburger Stadtrecht von 1276 
S.101 die bei dieser Schenkung anwesenden Freunde „ez sin frowen 


Verordnung wurde wiederholt 1487 und in die Gerichtsordnung von 1557 $ 75 
aufgenommen. 

®) Es ist schon eine Abweichung von der Regel, wenn im Luzerner Stadtrecht 
Art.1 als die Zeit zur Bestellung der Morgengabe angegeben ist, wenn die Ehe- 
leute „mit einandern offenlich zur kilehen und strass gand.* Es erklärt sich 
aber diese Bestimmung daraus, dass der Kirchgang (Haltaus Glossar. s. v. 
Kirchgang p. 1082. Walter, deutsche Rechtsgesch. $ 455;) als wesentlich an- 
gesehen wurde zur rechten Ehe, insofern daraus die Gemeinde erkennen sollte, 
dass die beiden Leute zur Ehe zusammengekommen seien und nicht in der Un- 
ehe beisammen sässen. Ein Dingrodel des Gotteshauses von St. Peter im Schwarz- 
walde aus dem 15. Jahrhd. $ 36. (Grimm Wsth. I, 352) verordnete daher: 
„Item wo zwei menschen bi einander sitzend und nit zu kilchen gangen sind 
nach ordnunge der heiligen kilchen, denen sol man dristund nacheinander ge- 
bieten den kilchgang zu tund und so dick das nit gehalten wird sol man inen 
die bessrung abnemen etc.“ Unpassend ist diese Anordnung in Verbindung ge- 
setzt von Merkel mit der lex Alam. reform. ce. 38: „de eo qui die dominico 
opera servilia fecerit.“ 

4) Grimm Wsth. I, 14. Bluntschli I, 108. 489. 

®) Deutsche Rechtsgeschichte $. 464. 


— 356 — 


oder man“ 6), Häufig mag jedoch dle Darreichung oder das Ver- 
sprechen der Morgengabe ohne Zeugen geschehen sein und für den 
Fall, und wenn etwa die Zeugen gestorben oder nicht zur Stelle wa- 
ren, gab das alamannische Recht der Frau als Beweismittel ihren 
Eid, den sie mit einer besonderen äusseren Form zu leisten hatte, 
die im Sachsensp. I, 20 $ 6 nicht ausgedrückt ist, wo es bloss heisst: 
„Morgengave behalt dat wif uppen hilgen.“ Es ist nicht eine Eigen- 
thümlichkeit des alamannischen Rechts, dass für die Beweisführung 
über die Morgengabe schon der Eid der Frau allein genügte, wie 
Zöpfl”) angibt, sondern dass für diesen Fall die Form des Frauen- 
eides im alamannischen Rechte genau ausgeprägt ist. Uebrigens hat 
auch das Luzerner Stadtr. Art. 1 keine solche Beschreibung der Form, 
sondern nur die Bestimmung, dass eine Frau die Morgengabe „mit ir eigen 
Hand behalten‘ möge, s. auch Amtsrecht von Willisau S. 95, Offnung von 
Dürnten Art. 39... Die lex Alam. (Karolina) LVI, 2 (ed. Merkel) be- 
stimmt: „Si autem ipsa femina dixerit: maritus meus dedit mihi morgan- 
geba, eonputat quantum valet aut in auro aut in argento aut in maneipiis 
aut in equo pecuniam 12 solidis valentem. Tune liceat illi mulieri 
iurare per pectus suum, et dieat: quod maritus meus mihi dedit in 
potestate, et ego possidere debeo. Hoc dieunt Alamanni nasthait.“ 

Schwabensp. e. 20 (Wacekern.): „man sol ir reht tuon umb fr 
morgengabe. wil et si uf ir zeswen brüste unde uf ir zeswen zopfe, 
ob sie den hat, sweren daz ez ir wille nie wurde ete.“ 8) Augsb. 
Stadtrecht S. 101: „Wär aber daz daz man einer frowen ir morgen- 
gabe laugen wolle. diu sol ir morgengabe bereden uf ir blozzen zese- 
wen bruste. unde uf ir zesewen zophe etc.“ ®) 


6) s. auch Stadtrecht von Medebach 1165 bei Kraut, Grundriss $. 195, No. 7, 

7) Deutsche Rechtsgeschichte (3. Aufl.) S. 598. 

8) Ruprecht von Freising I, 17 (Ausg. von Maurer) Baierisches Land- 
recht von 1346 Art. 134. Oesterr. Landrecht (13. Jahrh.) $ 41. (v. Meiller 
österr. Stadtrechte und Satzungen S. 68. 78.) vgl. Grimm R. A. 897. Merkel 
ad]. Alam, p. 151 not. 86. 

9) d.i. auf ihre blosse rechte Brust und auf ihren rechten Zopf s. Grimm 
Gramm. III, 404. Wackernagel’s Wörterbuch s. v. Zöse. So steht in Wolf- 
rams Parzival „sin zeswer arm von schellen klance* und „dort an des velses 
ende, da kert zer zeswen hende.“ Nicht erst in neuester Zeit ist das fragliche 
Wort falsch =zwei aufgefasst (so Zöpfl, deutsche Rechtsgeschichte , 3. Aufl, 
S. 641 Anm. 10), sondern schon früh, wie die Varianten zum Schwsp. a. a. O. 
bei Wackern. zeigen und auch bei Ruprecht von Freis. a. a, O. lesen wir: 
„wil sy auf im zwain zopfen oder auf. irm zwain prüsten swern.“ Wenn in dem 


a 
u U nn 


—_— 357 — 


Ueber das räthselhafte nasthait der lex Alamannorum gibt es 
freilich nur Vermuthungen 19); vielleicht ist aber in der obigen Stelle 
des Hofrodels von Münchaltorf die ursprüngliche alamannische äus- 
sere Form des Fraueneides noch genauer erhalten als im Schwaben- 
spiegel und den verwandten Rechtsbüchern. 

In jenem Hofrodel ist der Wittwe eine Abendgabe zuge- 
sprochen. Eine Morgengabe konnte sie, nach deren Grundbedeutung, 
nicht erhalten; „cheiner witewen mak man cheine morgengabe gäben 
diu kraft habe* sagt das Augsburger Stadtrecht. Die Abendgabe ist 
ein am’ den Humor streifender Ausdruck, der wohl nur an dieser 
Stelle vorkommt. Der Satz aber, dass eine Wittwe keine Morgengabe er- 
halten könne, ist auch im Landbuch von Davos $. 77 ausgesprochen 
und dann hinzugefügt, dass, wenn ein Wittwer eine Jungfrau hei- 
rathe, die Morgengabe von doppelter Grösse sein solle. 

Eine andere Eigenthümlichkeit des schweizerischen Rechts, die 
aber nicht so vereinzelt nur in einer Urkunde dasteht, ist es, dass 
auch der Mann eine Morgengabe empfangen konnte. 

Landbuch von Appenzell A. Rh. Art. 99: „Was anbelanget die 
Morgengab, die ein Ehemensch dem anderen gibt, sol dieselbig un- 
seren Landrechten nach 10 Gulden sein. — — Wo es sich aber be- 
gäbe, dass die Morgengab in dem ersten Jahr und einem Tag nicht 
wäre erforderet worden, nach dem man Hochzeit gehalten, ist einer 
oder eine hernacher nichts mehr zu geben schuldig.“ 

Altes Landbuch der March Art. 23: „Item och haben wir uff 
uns genomen zue lantz Recht, das das tod von dem lebenden, Es 


Hofrodel von Münchaltorf zwar die rechte Brust, aber nicht der rechte Zopf ge- 
nannt ist, so mag dabei die Sitte der Frauen in manchen Gegenden, nur eine 
grosse Flechte zu tragen, vorgeschwebt haben. 

10) J. Grimm bei Waitz, das alte Recht der Salischen Franken $S. 290. 
Zöp£l, deutsche Rechtsgesch. (3. Aufl.) S. 598. Anm. 4. — W. Grimm will 
nasthait in uasthait (iuramentum assertorium) verändern s. Merkel adl. 
Alam. p. 62 not. 19. Er meint „nasteid“ sei ein Schreibfehler, der sich fort- 
pflanzte, weil man das Wort nicht verstand. Die Aenderung ist aber doch 
ebenso überkühn, als sie einfach erscheint. Nicht allein steht das Wort für die 
lex Alam. Hlothari und Karolina diplomatisch fest, sondern findet sich auch 
in der alten Sanct-Galler Rhetorik aus dem 10. Jahrh., die W. Wackernagel 
in Haupt's Ztschr. IV, 463 herausgegeben hat und auf welche Grimm verweist. 
Als barbara: werden hier aufgeführt. nahisteit, werigeldum und fredum. Am 
wahrscheinlichsten ist es, was Wackernagel bemerkt (s. auch Zöpfl a. a. 
O.), dass der erste Bestandtheil des'Wortes Zopf oder Flechte bedeute, so dass 
also nast-eit = Zopfeid wäre. 


— 358 — 


noch sin erben, an kein morgengab erben, es sy frow oder man,* 
Landbuch von Gaster und von Werdenberg bei Blumer I, 486 ft. 

Waldstattbuch von Einsiedeln 1572 $ 102: „Was zwei Eeliche 
mentschen einandern zuo morgengab zuoschyken und vor biderben 
lütten zeigen und geben, doch nit mer geben, es sy wer der welle, 
dann 20 Pfund haller, das soll guot Crafft und macht haben, — 
wellicher aber bevogtet ist, der mag ohne synes Vogts gunst und 
willen nüt hingeben, es syend frowen, tochteren ald knaben ete.* 
Es ist aber in der ganzen Partie dieses Waldstattbuches von der 
Morgengabe doch vorzugsweise der Fall ins Auge gefasst, wo die- 
selbe einer Frau zukommt. 

Stadtrecht von Bülach Art. 25 (Schauberg’s Ztschr. I, 90): 
„Und ob ouch zwey eliche mentschen einandern etwas zuo Morgen- 
gab machent, und die eliche kind by einandern hand, wenn denn 
das, dem die morgengab vermacht ist ete.* Erbrecht der Grafschaft 
Thurgau von 1542 (Ztschr. für schw. Recht I, Rechtsq. S. 26). 

Bei dieser Ausdehnung der Morgengabe auf beide Geschlechter 
ist es denn eine weitere Consequenz, dass, wie dem sich wieder ver- 
ehelichenden { Wittwer keine Morgengabe gehört, dem Junggesellen, 
der eine Wittwe heirathet, von dieser eine Morgengabe zukommt. 

Nachdem in dem Erbrecht von Flaach und Volken 11) (1658) 
bestimmt ist, wie es gehalten werden soll mit der Morgengabe, je 
nachdem der Mann oder die Frau zuerst stirbt, heisst es: „Eine 
glyche Beschaffenheit soll es haben mit einem Knaben der ein Witt- 
frauw zur Ehe nimmt und von derselben die Morgengabe zu be- 
züchen hat.* 

Landbuch des Hochgerichts Klosters $. 68: „So ist geordnet und 
gemacht, dass ein Mann oder ein Frauw, welches das ist, wenn sie 
sich neuwlich verehelichend, mögend dem anderen seinem Ehegemachel 
Morgengab verschaffen und aufmachen, wenn ein gutes Vermögen 
vorhanden, bis in hundert und ein Kronen, doch nit mehr, es ge- 
schehe dann mit des aufmachenden Erben Wüssen und Willen. So 
aber im Heurath keiner Morgengab gedacht wird und sey der Mann 
und das Weib keintwederes vorhin mit anderen verehelicht gsin, und 


11) Pestalutz, Statuten I, $. 105. — Auch im baierischen und öster- 
reichischen Rechte kommt es vor, dass eine Wittwe, ‘die einen Junggesellen 
heirathete, diesem eine Morgengabe zu geben hatte, s. Schmeller I, 616. 
Zöpfl Rechtsgesch. (3. Aufl.) S. 641. 


ee 


— 359 — 


der Mann vor der Frau abstirbt, soll der Frauen 10 Pfd. Pfenning 1?) 
aus des Mannes Verlassenschaft gegeben werden. — So aber ein Wit- 
ling ein Tochter genommen, die vorhin niemahlen verheurathet gewesen, 
und alsdann der Mann vor seiner Frauen absturbe, und auch im Heu- 
rath kein Morgengab bestimmt wäre, soll ihr nit mehr als 10 Pfd. 
Pfenning von des Mannes Verlassenschaft gegeben werden, und so 
die Fran vor ihrem Mann, der zuvor auch ein Witling gsin, abstirbt, 
gehört dem Mann kein Morgengab, dann er ist ein Witling gsin, es 
seige dann, wie vorgemelt, im Heurath vorangedinget ; wenn aber ein 
Witwa ein jungen ledigen Gsellen, der vorhin niemalen verheurathet 
gewesen (nimmt), und alsdann gemelte Witwa oder Frau vor ihrem 
Mann abstirbt, und aber kein Morgengab im Heurath gedinget wor- 
den, so soll dem Mann aus der Frauen Gut und Verlassenschaft auch 
10 Pfd. Pfenning erfolgen und gegeben werden.“ 

Wir haben in dem Vorstehenden ein Recht, welches, ausgehend 
von dem Satze, dass die Morgengabe ein Ersatz für die geopferte 
Jungferschaft sei, dieses ausdehnt auf die Junggesellenschaft, dann 
aber so weit geht, dass es den ursprünglichen Charakter der Morgen- 
gabe zum Theil ganz aus den Augen verliert 1), indem dieselbe zu 
einem Geschenke unter Ehegatten wird, welches im Interesse der Er- 
ben des vor dem andern gestorbenen Ehegatten nach seiner Grösse 
normirt ist, aber sowol durch die Ehepaeten und einen besondern Ver- 
trag festgesetzt werden kann, als auch bis zu einer gewissen Höhe 
ohne einen solehen Act durch die Ehe und das Absterben des einen 
Ehegatten vor dem andern Geltung erlangt. 

Bei einer solchen, immerhin von dem Grundgedanken ausgehen- 
den aber ihn verdrehenden Gestaltung der Morgengabe kann es denn 
auch kaum auffallen, wenn hie und da der Grundgedanke nur halb 
festgehalten wurde, indem man mit Morgengabe dasjenige bezeichnete, 
was der Schwängerer der ausserehelich Geschwächten für ihre ver- 
lorne Jungferschaft zu geben hatte. 


'?) Diese Summe ist als Morgengabe sehr gewöhnlich s. das Erbrecht von 
Flaach a. a. O., Grüninger Amtsrecht von 1668 Art. 9, bei Pestalütz I, 
64, Weininger Amtsrecht von 1637 Art, 1. 4., bei Pestalutz I, 114. 115. 

'#) Wie weit die Confusion ging, zeigen die Worte einer Urkunde von 1282 
bei Kopp Gesch. der eidgen. Bünde II, 112. Not. 3: „quia praedicta bona de 
mea dote seu dotalicio fuerunt quod vulgariter dieitur morgengabä sive donatio 
propter nuptias.“ — Appenzell I. Rh. Art. 103. „Morgengab oder Heuraths 
Schankhung.“ 2 


— 360 — 


In Zürich bestand eine Satzung „so einer ein Tochter oder Junk- 
frowen schwechte, das er iren ein Morgengab geben und si zur Ee 
haben sölte.* Diess wurde in einer „Lüterung der geschwechten 
Junkfrowen halb“ im Jahr 1533 1%) abgeändert, weil von Seiten fre- 
cher unverschämter Töchter damit Missbrauch getrieben war. Damit 
„die Meitli ihrer Ehren desto behutsamer blieben,“ sollte, falls nicht 
ein förmliches feierliches Eheversprechen vorangegangen, die Geschwän- 
gerte die Schmach an ihr selbs haben und der Knabe ihr des Mag- 
thums halb nichts schuldig sein, auch nicht genöthigt sein sie zu 
ehelichen. 

An manchen Stellen ist bestimmt, was der Schwängerer der Ge- 
schwächten „um: den Blumen,* „um den Magtum und Blumen,“ „für 
das Kränzli* geben soll 15), ohne dass der Ausdruck Morgengabe ge- 
braucht ist, aber eine Analogie jener Gabe zu der Morgengabe ist, 
wie Segesser andeutet, nicht zu verkennen. Nach dem Landrecht 
von Appenzell A. Rh. soll die Morgengabe 10 Gulden betragen und 
in Jahr und Tag, nach der Hochzeit, gefordert werden; wann ‚eine 
zuvor unverleumdete Person durch einen wäre geschwächt worden, 
soll ihr „für den Blumen“ 10 Pfund Den. werden und dass die be- 
treffende Ansprache in Jahr und Tag zu machen sei, ist als Regel 
an mehreren der genannten Stellen ausgesprochen. 


AI. Das ius primae noctis. 


Die Offnung von Maur am Greifensee 1543 (Grimm Wisth. I, 
43) ist berühmt geworden durch folgende Bestimmung: „Aber spre- 
ehend die hofflüt, weller hie zu der helgen ee kumbt, der sol einen 
meyger laden und ouch sin frowen, da sol der meyger lien dem 
brütgam ein haffen, da er wol mag ein schaff in gesyeden, ouch sol 
der meyger bringen ein fuder heltz an das hochtzit, ouch sol ein 
meyger und sin frow bringen ein viertenteyl eines schwynsbachen, 
und so die hochzit vergat, so sol der brütgam den meyger 
by sim wyb lassen ligen die ersten nacht, oder er sol sy 
lösen mit 5 Sch. 4 Pfenning.*“ 

Selbst Grimm, der belesenste aller Forscher im deutschen Alter- 
thum, weiss über das s. g. ius primae noctis kein anderes Zeugniss 


14) Ztschr. für schweiz. Recht IV, 2, 109. 

15), Glarus Landb. Art, 82, Gersau $. 79, Nidwalden Art. 119, Appenzell 
A Rh. Art. 122, Amtsrecht von Willisau $. 101, Luzerner Stadtreeht Art, 118; 
vgl. Segesser II, 441. Anm. 2. S. 470. 


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aus deutschen Urkunden anzuführen. Hinzugekommen ist aber neuer- 
dings die Offnung der Hausgenossen zu Hirslanden und Stadelhofen 
1538 (Ztschr. für schweiz. Recht IV, I, 76), in welcher es heisst: 
„Ouch hand die Burger die Rechtung, wer der ist, der uf den @ü- 
tern, die in den Kelnhof gehörend, die ersten Nacht bi sinem 
Wibe ligen wil, die er nüwlich zu der Ee genommen hat, 
der sol der obgenanten Burger Vogt dieselben ersten 
Nacht bi demselben sinem Wibe lassen ligen, wil aber er 
das nüt thun, so sol er dem Vogt geben vier und dryg Schilling 
Züricher Pfenning, weders er wil, die Wal hat der Brugom, und sol 
man ouch demselben Brugome zu Stür an der Brutlouf geben ein 
Fuder Holtz, us dem Zürichberg, ob er wil an demselben Holtz hät.“ 
Im Eingange dieser Offnung ist erzählt, es seien am Katharinentage 
des Jahres 1538 Bevollmächtigte der gemeinen Hausgenossen zu Hirs- 
landen und Stadelhofen vor den Bürgermeistern und Räthen der Stadt 
Zürich erschienen und hätten mitgetheilt, dass ihnen durch die Brunst 
und Feuersnoth in Felix Lemans Haus in Hirslanden jüngst grosser 
Schaden und Verlust an ihren „Briefen und Gewarsaminen“ entstan- 
den sei, sie bäten daher unterthäniglich, ihnen „einen alten permen- 
tinen Rodel, so noch wol zu läsen und doch etlicher Gestalt beschä- 
diget und verwüstet worden, darin dann ir Recht, Gerechtigkeiten und 
alt Herkommen begriffen were, widerumb ernüwern und abschriben 
ze lassen.“ In Folge dieser Bitte wurde der alte Rodel genau „von 
Wort zu Wort* abgeschrieben. Der obige Artikel ist also bedeutend 
älter als 1538. 

Das s. g. ius primae noctis ist theils als ein Gegenstand der 
eleganten Jurisprudenz mit besonderer Vorliebe vielfach besprochen 
worden, theils mit sittlicher Entrüstung angegriffen. Als die Länder, 
in denen es vornemlich gegolten haben soll, werden Schottland und 
Frankreich genannt. Aber auch Russland gehört hieher !). 

Von Sehottland erzählt Spelman ?): „Turpis Scotorum veterum 
eonsuetudo qua territorii dominus vasalli sponsam prima noete compri- 
meret floremque carperet pudieitiae. Hanc instituisse fertur Rex Eve- 
nus, — sustulisse vero rex Malcolmus, qui floruit annum cireiter gra- 
tiae 1080 redemptionisque nomine domino statuisse impendendum, 


!) Ewers das älteste Recht der Russen $. 70 fi. 


2) Glossarium archaiologieum (Londini 1687 ug, s. v, marchet. s. auch du 
Cange, Glossar. lat. s. v. marcheta. 


— 3562 — 


ut ait Hector Boetius lib. 3 c. 12, marcam argenti marchetamque inde 
suggerit appellatam. — Duxerat autem Malcolmus iste Margaretam 
Edmundi neptem et uxoris suae precibus dedisse fertur, ut primam 
novae nuptae noctem, quae proceribus per gradus quosdam lege regis 
Eugenii debebatur, sponsus dimidiata argenti marca redimere posset, 
quam pensionem adhuc marchetas mulierum vocant.“ 

Ueber dieses Recht (droit de cullage, droit de prelibation ) in 
Frankreich berichten manche Lexicographen als von einer hergebrach- 
ten Sache?) und es wird auch angeführt eine Sentence de la sene- 
chaussdee de Guyenne du 18. Juillet 1302, qui condamne la tille San- 
carolle, mariee & G. Becaron, & obeir au seigneur de Blanquefort et & 
lui ceder le droit de prelibation ®). 1 

Die englischen Schriftsteller stellen es in Abrede, dass ein solches 
Recht jemals in England gegolten habe. Zwar ist bisweilen das 
„Borough-English“ = a eustomary descent of lands ‘or tenements to 
the youngest son damit in Verbindung gesetzt und gesagt, die hie und 
da übliche Succession des jüngeren Sohns in das väterliche Lehn- 
gut, mit Uebergehung des Erstgebornen, habe ihren Ursprung in dem 
lehnsherrlichen ius primae noctis bei der Braut des Vasallen und der 
daraus resultirenden wahrscheinlichen Unehelichkeit des ältesten Soh- 
nes, allein diese gesuchte Herleitung verschwindet gänzlich vor trifti- 
“geren Gründen jener Bevorzugung des jüngeren Sohnes 5). | 

Mit grosser Gelehrsamkeit hat Grupen ®) die Berichte über das 
fragliche Recht einer Kritik unterworfen. Nach ihm beruht dasselbe 
auf Missverständnissen und Missdeutungen und er spricht am Schlusse 
seiner Auseinandersetzung die Vermuthung aus, „es könne zu dem 
Wahn, als ob der Herr bei seiner Vasallen und Eigenböhrigen Braut- 
Töchtern den ersten Beischlaf gehabt und dieser, im Verfolg der Zeit, 
mit Gelde abgelöset worden, dieses mit Anlass gegeben haben, dass 
die parentes desponsationis, worunter der Vater und die nächsten Ag- 
naten verstanden, ex ratione mundii, das pretium virginitatis oder 
nuptiale erhoben.“ Ueberzeugender als diese Auskunft ist es, was er 
von dem, besonders Anstoss gebenden, sogar den Bischöfen zuge- 


3) Roquefort Glossaire de la lange Romane s. v. culaige, vgl. Schäff- 
ner, Gesch. der Rechtsverfassung Frankreichs III, S. 185. 

4) Ewers a. a. O. $. 75. eitirt dieses Urtheil aus der Bibliotheque histori- 
que Vol. XII (1820), cahier 4, p. 232. 

5) Stephen’s new commentaries (3 edit.) I, 204. 

6) de uxore Theotisca (Göttingen 1748) ce. 1. 


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— 363 — 


schriebenen Rechte der ersten Nacht und dessen Ablösung durch Geld 
sagt: „Das bischöfliche ius primae noetis hat mit dem iure deflora- 
tionis und dessen Redemtion nichts zu schaffen, sondern hat sein Fun- 
dament in denen Canonibus Coneiliorum, vermöge deren sich die neu 
getraute, in’ honorem benedictionis, die erste Nacht in virginitate be- 
wahren sollen“ 7). Darnach wäre also das ius primae noctis auf Sei- 
ten der Neuvermählten ein auf erkaufter Dispensation ruhendes Recht 
gewesen. Ein technischer Ausdruck ist überhaupt das ius primae 
noetis nicht und konnte daher um so leichter in einem so verschiede- 
nen Sinne gebraucht werden. Anders als Grupen fasste das ius 
primae noctis der Geistlichkeit auf ein französischer Pfarrer (reetor 
seu curatus parochialis), der freilich kein Bischof war. Er brachte 
seinen Anspruch, mit der Braut allemal nach des Orts Gewohnheit, 
den ersten Beischlaf zu vollziehen, bis in die Appellationsinstanz zu 
Bourges, wurde aber gebüsst und jene Gewohnheit wurde damals 
annullirt. So berichtet ein von Grupen angeführter Augenzeuge ®). 
Walter ?) sagt, Grupen habe das Richtige. Das kann sich 
aber nur auf die Aufklärung über das behauptete bischöflicbe Recht 
der ersten Nacht beziehen, denn im Uebrigen stimmt Walter nicht 
mit seinem Gewährsmanne überein. Er schreibt: „Nach alter christ- 
lieher Ermahnung sollten die Eheleute die erste Nacht zur Ehre des 
empfangenen Segens in Keuschheit zubringen. Doch gestattete die 
Sitte, dieses durch eine Gabe zu einem frommen Zwecke abzulösen. 
Bei den Unfreien entstand daraus eine Abgabe an den Grundherrn, 
womit sich der Bräutigam das Recht der ersten Nacht erkaufte, was 
zu mancherlei Scherzen Veranlassung gab. Daraus ist das arge Miss- 
verständniss entstanden, als ob die Grundherren selbst, sogar Bi- 
schöfe und Stifte, das Recht der ersten Nacht gehabt hätten.* Zu 
den Scherzen rechnet er den obigen Passus aus der Öffnung von 
Maur und schon vor Walter hat Bluntschli erklärt, das Recht 
des Grundherrn auf die erste Brautnacht scheine eine blosse Fabel zu 


7) Grupen S. 7. 21. — Ein Arröt des Parlements von Paris vom 19. Mai 
1409 wies den Bischof von Amiens ab mit seiner Bitte um Aufrechthaltung sei- 
nes Rechts eine Summe Geldes von den neu Verheiratheten seiner Diöcese zu 
fordern „pour leur permettre de coucher ensemble la premiere nuit de leurs no- 
ces“ s. Ewers a.a.O. Früher (1336) soll er mit einer solchen Forderung für 
‚die drei ersten Nächte aufgetreten sein s. Schäffner a. a. O. 

8) Boerius Dec. 297 n. 17. 

9) Deutsche Rechtsgeschichte $ 455. 


—_— 364 — 


sein und die betreffende Aeusserung in jener Offnung ein scherzhafter 
Ausdruck. Im Uebrigen entwickelt Bluntschli anders als Walter. 
Jener geht aus von dem s.g. Ehegelde, welches in alter Zeit von den 
Hörigen für die Einwilligung des Herrn zur Ehe gezahlt werden 
musste; um die Nothwendigkeit, dieses Ehegeld zu zahlen, welches 
in der Loskaufssumme der Offnung von Maur versteckt liege, recht 
lebhaft zu bezeichnen, werde dem Bräutigam gedroht, wenn er es 
nicht zahle, so werde der Meyer, der den Einzug jener Gebühr zu 
besorgen hatte, zur Strafe zuerst bei der Braut liegen; der Bräuti- 
gam solle die Gebühr eben entrichten, bevor er der Frau beiwohne. 
Bluntsebli fügt noch hinzu: „Auch für Schottland und Frankreich, 
wo allein (?) das ius primae noctis noch erwähnt ward, kommt es doch 
sehr in Frage, ob es wirklich je gegolten habe und nicht eher auf 
Missverständniss beruhte, obwohl ich nicht läugnen will, dass nicht 
manche Herrn aus dem Scherze Ernst zu machen suchten.“ 

Wenn man das von Grupen über den Gegenstand heigebrachte 
Material von Nachrichten und Deutungen überbliekt, so wird man ihm 
zugeben müssen, dass die Herleitung des ius primae noctis von einem 
König Evenus aus alter grauer Zeit und manches Andere der Art dem 
Gebiete vormaliger fable convenue angehört; wichtig sind aber die 
von ihm $ 14 gegebenen beglaubigten Notizen über Fälle, in denen 
die Defloration der Neuvermählten, falls nicht eine Abkaufssumme an 
die Stelle trete, als ein Recht hingestellt wurde Tollius ad Lac- 
tantium de mortibus persec. ec. 38 erzählt, dass er ein in Utrecht öffent- 
lich angeschlagenes Proclam gelesen habe, in welchem der Verkauf 
einer adlichen Herrschaft mit Rechten und Gerechtigkeiten, insbeson- 
dere auch dem ius deflorationis novarım nuptarum, die jedoch mit 
Geld von dem Gutsherrn abgelöst werden könne, ausgeschrieben wurde, 
Der bekannte holländische Pandekten - Commentator Voet (ad Tit. D. 
de statu hom.) nennt es eine Gewohnheit an vielen Orten seines Vater- 
landes, besonders in Geldern und Zütphen, dass der Herr von Höri- 
gen Geld empfange in redemtionem iuris primi concubitus. Wenn man 
diese Beispiele zusammenlegt mit der nicht wegzuläugnenden That- 
sache, dass in Schottland und: Frankreieh die Sache lange Zeit eben 
so aufgefasst wurde, so geht daraus hervor, dass einem solchen Bei- 
schlafe des Herrn uud dem Aequivalente für das Unterbleiben dessel- 
ben die Bedeutung eines Rechtes eingeräumt worden ist und eben das 
zeigen auch die obigen beiden schweizerischen. Öffnungen, in. denen 
im 16. Jahrhundert ein Herkommen verzeichnet wurde, Es kann nun 


— 365 — 


freilich ein Recht usurpirt sein und vielleicht lange Zeit als sulches 
gelten ohne ein Fundament zu haben; es bleibt also die Frage nach 
dem Fundamente des thatsächlich anerkannten ius primae noctis. 

Ein Gesetz lässt sich für dasselbe nicht nachweisen, damit ist 
aber für die alte Zeit das Recht noch nicht negirt, eben so wenig 
als daraus, dass sich urkundlich kein Beispiel der wirklichen Voll- 
ziehung des Beischlafs eines Herrn mit der Neuvermählten in der 
Brautnacht nachweisen lässt, denn dergleichen pflegt nicht protocollirt 
zu werden. 

Beruht nun aber das Ganze auf Missverständniss und läuft es 
auf einen Scherz hinaus? Ich glaube nicht. 

Die beiden Offnungen aus dem Canton Zürich, 'an welche wir 
uns, als an die einzigen bekannten deutschen Rechtsurkunden zu hal- 
ten haben, sind in der Gestalt, in welcher sie vorliegen, erst in der 
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anfgeschrieben. Solche Offnungen 
oder Weisthümer über Hofrechte wurden aber zuerst mündlich an den 
Jahrgerichten oder zwei Mal im Jahre, im Frühling (zu Meyen) und 
im Herbst gemacht und dann später, um das in ihnen befasste Recht 
sicher zu fixiren, aufgeschrieben. Offnung von Neftenbach (Grimm 
Wsth. I, 74): „Alles das da ist in dem zit endet sich mit dem zit. In 
dem zit ist der mentsch nit ewig, und darumb werdent vil recht und 
guter gewonheit dick undergedenckt in stetten und uff dem lande, so 
der nieman gedencken mag und ander lüte des ermanet. Semlichs zu 
verkomen, sye kund und ze wissen, das allen den die yetz inleben 
sint iungen und alten, und ouch den die noch hienach geboren söl- 
lent werden ewenklich, das die nachgeschriben recht gesatzt gewon- 
heit, fryheit, herkomen und ehaffty gehörent zu dem dorff Nefften- 
bach, und die sol man auch im jar zwürent offnen und erzellen 
zeherbst und zemeyen.* Es wurde dasjenige niedergeschrieben „was 
schon seit Jahrhunderten im Munde des Volkes sich fortgepflanzt und 
durch regelmässig wiederkehrende feierliche Aussprüche eine feste Ge- 
stalt gewonnen hatte“ 10). Man war sorgsam bedacht, dass das Her- 
gebrachte weiter gebracht werde. Ordnung des Maiengerichts zu Thal- 


10) Blumer I, 43. In einem kurzen rheinischen Weisthum (Grimm I, 166) 
kommt drei Mal die zur Charakteristik der Weisthümer dienende Wendung vor: 
„und das haben die alten uff uns bracht und das wyesen wir forter vor recht.“ 
Ausführlich sind die Weisthümer characterisirt von A, Rein in der Einleitung 
zu den von ihm bekannt gemachten „drei Uerdinger Weisthümern.“ (Crefeld 1854). 


— 366 — 


wyl und Oberrieden (Ztschr. für schweiz. Recht IV, 2, 167): „Da er- 
kennt man, das die Offnung, ob die stande wie von Alter har, sölle 
verlesen werden. Uf sölliche Erkanntnuss wirt die Offnung vom Gstift- 
schriber gelesen und aber von ime underzwüschent allwegen nach Ver- 
lesung zweiger ald driger Artiklen still gehalten und sol uff selbigs 
jedesmals vom Richter ein Frag beschechen, ob die Öffnung stande wie 
vor Alter har.* Dabei konnte es denn nicht fehlen, dass manches Her- 
gebrachte, das nicht förmlich abgeschafft war, sich in den Offnungen er- 
hielt, obgleich es zu der vorgerückten Zeit nicht mehr recht passte und 
wir finden in diesen, wie in anderen alten Rechtsquellen vieles, was 
nur eine historische Reminiscenz aus früherer Zeit ist, aber das Veraltete 
war ehedem wirkliches Recht gewesen. 

Von der Offnung von Stadelhofen wissen wir aus ihr selbst, dass 
sie viel älter ist als 1538, dass in diesem Jahre eine alte, nur eben 
noch leserliche Pergamenturkunde von Wort zu Wort abgeschrieben 
wurde, obgleich die in ihr oft genannte Aebtissin gar nicht mehr exi- 
stirte, da 1524 die Abtei in Zürich aufgehoben war 11). Wenn nun 
diese ältere Urkunde noch älteres Herkommen enthielt, so gelangen wir 
mit dem in Rede stehenden Artikel über das s. g. Recht der ersten 
Nacht in eine Zeit des früheren Mittelalters. Und dasselbe gilt ohne 
Zweifel von der Offnung von Maur 1%). Damit gelangen wir denn zu- 
gleich zu einem strengeren und ungünstigeren Verhältnisse der hof- 
hörigen Leute, als es im 16. Jahrhundert stattfand, nachdem ihre Lage 
eine freiere geworden war. Das Letztere gilt besonders von den Got- 
teshausleuten — und das waren sowol die Hofleute in der Offnung von 
Maur als die gemeinen Hausgenossen von Stadelhofen — aber die Fes- 
sel der Hörigkeit war auch für diese nicht ganz verschwunden. Es 
bewährte sich an ihnen die Parömie: „Unterm Krummstab ist gut die- 
nen (wohnen),“ allein mehr factisch als rechtlich waren sie geschieden 
von den Hörigen weltlicher Herrn. Der Begriff der Hörigkeit wurde 
ihnen alljährlich in Erinnerung gebracht durch den Gedächtnisspfenning, 
den sie zu entrichten hatten. Urkunde von 1292 bei Bluntschli 
I, 188: „also das sie und ir nachkommen imer eigenlich hören 
an dasselb Gotzhus (Fraumünsterabtei) und mit Gedinge, das si anders 
dienstes dem vorgenannten Gotzhus nit gebunden sin, wann daz ze haubt 
jerlichen gebe ze zinnsse an St. Felix und St. Reglen tag Einen pfenning 


11) @. von Wyss, Geschichte der Abtei Zürich 8. 111. 
12) Bluntschli I, 189. 


— 367 — 


Züricher Münz von dem Libe* 13), Dieser Pfenning, den sie „von dem 
Libe“ zu zahlen hatten, ist eine symbolische Abgabe, und als ein Sym- 
bol der Hörigkeit nach deren persönlichen Seite hin möchte ich auch 
das s. g. Recht der ersten Nacht ansehen, welches dem Meier in 
Maur und dem Vogt in Stadelhofen und Hirslanden in den Offnun- 
gen eingeräumt wurde; es ist eine äusserste juristische Consequenz 1#), 
ein plastischer Ausdruck eines Prineips. Bei dieser Auffassung der 
Sache kann ich der Bemerkung Bluntschli’s keine Bedeutung bei- 
legen, wenn er sagt: „Grundherr über Mure in älterer Zeit war aber 
die Aebtissin von Zürich, welcher das Recht bei den Frauen ihrer 
Hörigen zu liegen nichts gefruchtet hätte.* 

In der langen Periode, in welcher der.Zustand der eignen Leute 
von der Selaverei zu einer mildern Hörigkeit fortschritt, veränderten 
sich demgemäss auch ihre eherechtlichen Verhältnisse. Der Satz, dass 
unfreie Männer nicht fähig waren eine rechte Ehe zu schliessen, weil 
sie kein Mundium ausüben konnten 19), verlor seine Bedeutung, aber 
eine Abhängigkeit der Hörigen von dem Grundherrn in Betreff der 
Eingehung einer Ehe erhielt sich, auch der Gotteshausleute, die sonst 
mehrfach begünstigt waren. Stark zeigt sich dieses im Hofrecht von 
Lukswile oder Lügschwil und Lügswil 1%): „Daz sibente recht ist, 
swele zu sinen tagen komet, der sol dem Abte hulde tuon und sol 
in der Abt twingen, daz er ein wibe neme.* Ebenfalls nach dem 
Hofrecht von Münster, soll der Probst oder sein Amptmann den Got- 
teshausleuten „gebieten zu wiben und zu mannen.* 17) Wie sehr das 
Heirathen von Ungenossen erschwert und selbst verboten war, zeigen 
diese Hofrechte und viele andere 1). Hofrecht zu Breitenbach (Canton 
Solothurn) bei Grimm. I, 818: „Were aber, dass der Vogt ver- 
nemme, dass ein gotzhusman und ein gotzhuswib ir ungenossen wen- 


13) vgl. Hofrecht zu Egeri bei Grimm I, 160. 

‘4 vgl. die Parömie: „er ist mein eigen, ich mag ihn sieden oder braten, * 
die sich nach Grimm R. A. 345 noch lange im Volke erhielt, als ihre Strenge 
schon eine Unmöglichkeit geworden de au Hillebrand, deutsche Rechts- 
sprichwörter No. 24. 

15) Hillebrand, deutsches Privatrecht $ 161. 

16) Geschichtsfreund VI, 73. Grimm Wisth. I, 169. 

'7) Segesser I, 724 s. auch Grimm Wisth. I, 311. Weinhold, die 
deutschen Frauen im Mittelalter S. 195. 

2) Bluntschli I, 190. Blumer I, 54. J.w Arx, Gesch. des'Kan- 
tons St. Gallen II, 165. 


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nen (nemmen?) wollend, hette er einen schuch angeleit, er sol nit 
beiten untz er den andern schuch angelegt, er sol och es wenden als 
verre als er es mag.* In einer Offnung von Meilen aus dem 15. 
Jahrhundert (Ztschr. für schweiz. Recht IV, 1, 89) ist dieselbe höchste 
Busse von 18 Pfd. dem gedroht, der „usser der Genossami wibati“ 
und dem Todtschläger. Aber auch die Ehe mit einer Genossin war 
geknüpft an die Einwilligung der Herrschaft; wer diese einzuholen 
unterliess, musste eine Busse zahlen. Eine von J. von Arx ange- 
führte Urkunde lautet: „Qui ex hominibus Monasterii in Quartun uxo- 
rem duxerit sine licentia villiei, quamvis ea sit in Consortio, vulgo 
Genossame, suo debet dare villico 5 sol., qui extra consortium uxo- 
rem duxerit, abs Abbate»punitur.‘“ Diese Stelle beweist nun freilich 
nicht den Satz, für den Bluntschli sie anführt, dass der Herr um 
die Einwilligung zur Ehe befragt und eine Gebühr für die Erthei- 
lung derselben, das sogenannte Ehegeld 19), bezahlt werden musste, 
sondern die 5 Schillinge sind eine Busse ?0) für den, der ohne Er- 
laubniss des Meiers, obgleich in der Genossame, eine Ehe eingeht. 
Nach der von den sonstigen strengeren Bestimmungen abweichenden 
Basler Landesordnung 88 (Ztsehr. für schweiz. Recht III, 1, 56) soll 
sogar derjenige, welcher „sein Ungenossame nimbt“ keine höhere Busse 
als 5 Sch. zahlen. Bluntschli fügt hinzu: „In unsern Öffnungen 
finden sich davon (nemlich von dem s. g. Ehegelde) indessen nur 
noch sehr seltene Spuren, so dass wir annehmen dürfen, es seien die 
Anfrage bei dem Herrn und das Ehegeld schon frühzeitig ausser Ge- 
brauch gekommen.“ Es ist zu bedauern, dass er nicht diese sehr 
seltenen Spuren angegeben hat; vielleicht ist damit nur der im 
Rede stehende Arikel der Öffnung von Maur gemeint, in welchem 
doch die Abgabe nicht mit Sicherheit als gleichbedeutend mit der 
in Deutschland vorgekommenen Heirathsbewilligungssteuer ( Bumede, 
Nagelgeld etc.) genommen werden kann. 

Die in den Hofrechten von Maur und Stadelhofen gesetzte Alter- 
native hat eine Analogie in dem altdeutschen Straf- und Bussenrecht, 
indem häufig zuerst das hingestellt wird, was nach dem äussersten 
Rechte eintreten kann, sodann das was als Aequivalent genommen 
werden darf. In der Ausübung machte sich dann das Letztere als 
die Regel geltend, weil, seine Leistung dem der zu leisten hatte-weit 


1) Grimm R. A. 383. 
20) vgl. A. von Fürth, die Ministerialen S. 318. 


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günstiger war. Ungemein häufig sind Alternativen der Art: manum 
vel dimidiam libram denariorum pro manu auferat (Pertz Mon. IV, 
61); „der muss zu Einung geben 10 Pfd. oder ein Hand än alle Gnad“ 
(Schwyz. Landb. S. 9. 32). Nach einer Winterthurer Rathsverordnung 
von 1412 soll derjenige, welcher in eines Andern Weingarten ging auf 
dessen Schaden 10 Pfund zur Busse geben oder die Hand 21). 

In der Hinstellung des summum ius, als eines Möglichen, lag 
starker Zwang zur Leistung des Genügenden. So ist auch das ius 
primae noctis des Vogts oder Meiers das summum ius, eine Aeusse- 
rung der aus alter Zeit herüberragenden persönlichen Hörigkeit in 
ihrer ganzen Strenge, an deren Stelle aber in Wirklichkeit eine Ab- 
gabe getreten ist, die in ihr den Rechtstitel hat. 

Vergleichen wir noch die beiden fraglichen Artikel der Offnungen 
von Stadelhofen und Maur in ihren Einzelnheiten mit einander, so stossen 
wir auf einige Verschiedenheiten, obgleich ihr Schwerpunkt derselbe ist. 

1) In beiden Öffnungen ist der Ausdruck des Prineips der persön- 
lichen Hörigkeit vorangestellt und dann erst die ablösende Steuer ange- 
geben ; in der Offinung von Stadelhofen ist aber, zum Ueberfluss, noch 
hinzugesetzt, was der Bräutigam dadurch erreiche, nemlich, dass er die 
erste Nacht bei seinem jungen Weibe liegen könne. Walter könnte die 
Worte: „wer der ist, der — die ersten Nacht bi sinem Wibe ligen wil“ 
für seine scharfsinnige, überaus künstliche Construktion gebrauchen, 
aber diese ist eine solche, zu der man nur greifen kann, wenn man an 
der Möglichkeit einer andern Erklärung verzweifelt. 

2) Die Offnung von Stadelhofen sagt ausdrücklich, dass der Bräuti- 
gam die Wahl habe, aber dasselbe gilt ohne Zweifel für Maur, dessen 
Öffnung einige Jahre später aufgeschrieben oder neu geschrieben ist. 

3) Die Offnung von Maur entfaltet uns ein patriarchalisches Bild 
der Hochzeit. Der Meier erscheint zu derselben mit seiner Frau und 
von ihm wird nicht nur, wie auf Stadelhofen, ein Fuder Holz für 
die Hochzeitsfeier geliefert, sondern ein grosser Hafen dargeliehen und 
ein Viertel eines Schinkens gespendet. Dabei ist die Verschiedenheit 
der Personen des Meiers und Vogts zu berücksichtigen. Der Meier 
hatte vor Allem die landwirthschaftlichen Interessen des Grundherrn 
auf dem Hofe wahrzunehmen und stand nicht hoch über den Hof- 
genossen wie der Vogt, sondern gehörte zu ihnen und war selbst in 
älterer Zeit bisweilen ein Höriger ??). 


2!) Troll, Gesch. der Stadt Winterthur V, 233. 
22) Bluntschli, I, 197. 244. 


Wissenschaftliche Monatsschrift. III. 24 


—- 370 — 


Auffallen muss es, dass dem Vogte der Bürger von Zürich und 
nicht dem Meier, als Vertreter des Grundherrn, in der Öffnung von 
Stadelhofen das ius primae noctis zugesprochen wird, allein es ist diess 
nicht schwer aus mehreren Stellen der Offnung selbst zu erklären. 
Als diese zuerst niedergeschrieben wurde, hatte zwar die Aebtissin 
des Fraumünsters in ihrer grundherrlichen Eigenschaft noch Beziehun- 
gen zu Stadelhofen, aber das Meieramt ist als Lehen von der Abtei 
in den Händen der Bürgerschaft von Zürich, wie die Vogtei als Le- 
hen von dem Reiche; den Bürgern schreibt die Offnung das Recht 
zu, nicht bloss zu richten über „Tüb und Fräfne,“ sondern auch über 
„Zwing und Bänne“; der Bezirk für der Bürger „Meieramt, ihre 
Vogtei und ihre Gerichte“ ist nach der genauen Beschreibung der- 
selbe und aus dem gesammten Inhalt der Offnung geht hervor, dass 
die Ausübung aller Rechte, welche sowol aus der Belehnung mit der 
Vogtei als mit dem Meieramt der Bürgerschaft von Zürich zustanden, 
in den Händen des Vogts der Bürger lag. „Ueber denselben Hof 
Vogt und Meyger sind der Bürgermeister, die Räth und die Burger 
der Statt Zürich“; der Repräsentant derselben ist Vogt und Meier 
zugleich, er pflegte aber nur mit dem angeseheneren Namen des Vog- 
tes benannt zu werden. Ein besonderer Meier der Bürgerschaft Zü- 
richs kommt in der Öffnung nicht vor. 

So wie die Offnung als eine monumentale Reliquie aus alter Zeit 
dem Vertreter der Bürgerschaft der Stadt das ius primae noetis zu- 
weist, ist es auch an einer andern Stelle der Offnung diese Bürger- 
schaft, welche über die Ehen der Hofgenossen zu bestimmen hat, 
wenn es heisst: „Aber hand die Burger das Recht, das alle die in 
dem Hof zu Stadelhofen gesässen sind, ir dekeiner dekein eelich 
Wib nemen sol, wann der vier Gotzhuslüten, des Gotzhuses der Abty 
Zürich, der Abtyg in der Riehenove, der Abty zu St. Gallen, und der 
Abty zu der Einsidlern 23), oder aber ein Fryen; wer aber, das ir 
keiner kein eelich Wib herin nem, die derselben Gotzhüser eines nüt 
angehörte, darumb so mögend in die Burger strafen, nach ir Gnade, 
si mögend aber ir Kind wol hinuss geben, wem sie wollend, darumb 
sol si nieman strafen.“ 


28) vgl. Bluntschli I, 191. Blumer I, 55. 


— 5371 — 


AII. Der Brand von Zürich in Jahr 1280. 


Tsehudi gibt in seinem Chronieum Helveticum einen interes- 
santen Bericht über einen Brand, der im Jahr 1280 einen grossen 
Theil der Stadt Zürich verheerte. Seine Quelle ist H. Bullinger’s 
Chronik („Von der Stat Zürich und der Stat Zürich sachen“ Buch VII 
Cap. 2), die im Jahre 1573 den Chorherrn vom Grossmünster, an 
welcher Kirche Bullinger als Zwingli’s Nachfolger Pfarrer war, 
präsentirt wurde. Da mir Bullinger’s (ungedruckte) Chronik zur 
Hand ist, entnehme ich aus ihr die Erzählung von jener Feuersbrunst. 

„Doctor Felix Hemerlin, Cantor zu Zürich, Probst zu Solothurn 
und Chorherr zu Zofingen, schreibt in seinem Buch de nobilitate, dass 
im Jahr 1280, als der Leutpriester zu Zürich im Münster geprediget, 
seie von ihm selbs ein stein by der selligen Martyrer grab zersprun- 
gen und habe ein Klarff geben, wie ein Donner-Klarff, darab mänigk- 
lich in der Kirchen übel erschrocken, und bald darnach desselben 
jahrs am 3. October die grosse Stat Zürich verbrunnen, es seiend 
auch demnach vil andere unruheten schaden und mancherlei leydiger 
unfällen gefolget. 

Zu der Zeit der Regierung König Rudolfien im jahr Christi 1280 
als die Stat Zürich in gutem Frieden war, war sie von einem gros- 
sen Böswicht, der Wackerbold hiess, und ein Pfister war, mit brun- 
sten mercklich geschädiget, dann wie der Schölm nit Wärschaft ba- 
chete, kam er in gfängknus, und erfand sich an seinen übelthaten, 
dass er den strick verdienet, es war aber eine schnelen zum Rüden 
by dem Wasser, mit einem korb, in dem man einen setzt, dem man gnad 
bewisen, und dennoch strafen wolt, denselben liess man, wie an den 
galtbrünnen f) aufschnellen in einem korb in die Höhe des Tramens 
oder Holtzes an das der korb gehefft war, dann müsst einer in das 
Wasser abhin springen, wolt er anders aus dem korb kommen ?), und 
in gemeldten lasterkorb war auch gedachter Wackerboldt gesetzt aus 
gnaden für straff seines begangnen Diebstals; als er aber aus dem 
korb in das wasser herabsprang und wol nass und beschissen war, 


!) Galtbrunnen — Zieh - oder Sodbrunnen. 

?) Tsehudi: „Dieselb Schnelle was ein Korb, der stund hoch empor, und 
was ein unsubre wüste Wasser-Pfützen darunder ; in selben Korb setzt man die 
Lüt, so etwas verschuld hattend, und gab man ihnen darin weder Essen noch 
Trinken, und wann er uss dem Korb wolt, musst er in die wüst Pfützen fal- 
len und sich verwüsten zu einem Zeichen, dass er mit Beschiss umbgangen.*“ 


_— 3. 


lachet das umbstehende Volk, das diese straff disem bösen buben 
wol gunt. Der Bösewicht aber, den sömliche straff und lachen des 
Volks übel verdross, trachtet tag und nacht, wie er sich rächen und 
die Stat Zürich schädigen konte und mochte, und als sein Hauss im 
Niderdorf des Orths stund, da jetzund der Marchstall gebaut ist, füllt 
er sein Hauss mit Holtz, dass desse niemand gewaret, dieweil er ein 
pfister war, und wartet des underwindts, der das Feuer durch die 
Stat hinauf tragen und weyen mocht, und als der wind stark daher 
kam, zündt er sein hauss gegen der nacht an, und hiemit zur Stat 
hinaus; das Feur aber nam mit dem Wind überhand, dass es je 
länger, je grösser war, und sich selber der maassen trib, dass es 
niemeh erhörter jamer war, dann kein löschen nichts half, so konnt 
man auch wenig flöchnen. Wie nun der sturm und das geläuff gross 
war, und die aussert der Stat auch anhubend zu lauffen, war der 
Diebs Böswicht schon auf den Zürichberg kommen, da er sich umb- 
kehrt und dem feur zuluget. Daselbst stiessend zwey weyber an ihn, 
die sprachend zu ihm: Mann, warumb lauffend ihr von der Stat, da 
doch andere zuhin lauffend, sehet ihr nit, wie es so übel gaht? 
Antwortet der Schölm: Ja ich sehs wol, und freuwt mich auch wol, 
gehend hin und sagend denen in der Stat an, Wackerbold habe müs- 
sen aus dem korb in das Wasser springen und seie gar nass worden, 
darumb habe er sich müssen tröchnen, aus der ursach habe er jetz- 
und das feur anzündt und seie darby wol trochen worden, jetzund 
lache er, wie sie in der Stat auch gelachet habind, da er nass worden, 
jetzund mögind sie by ihrem feur lachen oder grynen, weders sie 
wellind. Hiemit ist er dahin gelauffen, dass man nie vernommen, 
wohin er kommen. Ob ihn villicht der Teuffel gar dahin geführt oder 
ob er sich sonst verlauffen hat, das ist nit noth zu wüssen. — Es 
verbrand aber die Stad von Niderdorff herauf bis auf Dorff an Schwy- 
bogen; da das Haus zu St. Laurentzen, vor der Edlibachen Hauss 
über und beschach unsaglicher schad von disem böswicht. — Es 
war auch gar schwerlich widerumb gebauwen und sind kurtzlich von 
denen die gebauwen habend, verbrunnen muren funden; es war auch 
von der Oberkeit erkennt, dass man nimmer mehr zu keiner Zeit auf 
das Haus oder Grund des Wackerbolds einich Haus mehr aufbauwen 
solte, sondern öd stehen lassen zum ewigen Zeichen; doch ist nach 
vilen Zeiten der Marchstall dahin gebauwen, wie er nochmallen da 
staht.“* 

Die erste Nachricht von diesem Brande findet sich in der älte- 


— 373 — 


ren Recension des Richtebriefes, in dem Artikel „von überschüzzen.“ 
Dieser Artikel enthält Bauregeln gegen Feuersgefahr, und nachdem 
angegeben ist, wie gemauert werden soll, wenn zwei Hofstätte an 
einander stossen, heisst es weiter: „disü gesezzede sol stete sin an 
dien hofstetten die nu verbrunnen sint oder noch brinnent ald ge- 
wandelt werdent. So soll Wackerboltes hofstat von der Zürich 
verbran niemer gebuwen werden wan von gemüre ald ein tach daruf. 
Der selbe Wackerbolt sol niemer Zürich ein gastgebe werden.“ Die- 
ser ganze Passus findet sich nicht in der jüngeren Recension des 
Richtebriefs und die Erwähnung Wackerbolds von den Worten: „So 
sol Wackerboltes hofstat ete.* fehlt in der Abschrift Stumpff’s. Hät- 
ten wir bloss diese Notiz über den Brand und über Wackerbold, so 
wäre die Annahme gerechtfertigt, es sei der Brand durch Unvorsich- 
tigkeit in dem Hause des Wackerbold entstanden, denn wenn dieser 
ein soleher Bösewicht war, wie ihn Bullinger schildert, so konnte 
es gar nicht in Frage kommen, ob ihm die Wirthschaftsberechtigung 
weiter zugestanden werden solle oder nicht. In der dem Richtebrief 
hinzugefügten Notiz ist auch nicht gesagt, wie bei Bullinger, dass an 
der Stätte, wo Wackerbolds Haus gestanden, gar nicht wieder ge- 
baut werden solle, sondern das dort zu erbauende Haus solle eine 
Mauer haben, also nicht ein hölzernes Haus sein. 

Wir haben demnach zwei sehr verschiedene Versionen über jenen 
Brand, von denen diejenige, welche sich drei Jahrhunderte nach 
dem Brande in der Chronik findet, durch ein sehr lebhaftes Colorit 
fesselt, aber dieses Colorit ist möglicher Weise ein Product der sa- 
genbildenden Zeit. Bullinger nahm diese Tradition in seine Chronik 
auf und bietet darin dem Rechtshistoriker ein lebhaftes Bild der Ausfüh- 
rung einer der beschimpfenden Strafen, an denen das spätere deutsche 
Mittelalter reich ist. Grade für Bäcker, welche unwährhafte Brode 
gebacken hatten, war diese exquisite Strafe in mehreren Städten ge- 
bräuchlich und aus der Combination der beiden Umstände, dass jener 
Wackerbold ein Pfister oder Bäcker war und dass betrügliche Bäcker 
diese Strafe zu leiden hatten, mag die Dichtung entstanden sein, 
welche in die Wahrheit und Dichtung mischenden Chroniken überging. 

Ein Augsburger Chronist 3) erzählt vom Jahre 1442: Als bei der 
Hungersnoth die Bäcker in Augsburg nicht aufhörten, gegen die amt- 


3) Gassarus, Annales August. in Mencken, Scriptores rerum Germ. 
I, p. 1597. 


— 353714 — 


liche Bestimmung 'des Brodgewichts zu verstossen, liess der Rath 
einen Schnell-Galgen mit einem Korbe über eine Pferdetränke machen 
(euravit Senatus furcam exeussoriam cum corbe fieri super eam la- 
mam, qua equi tune temporis ad D. Ulrychi aream adaquari solebant). 
Darin sollten die betrügerischen Bäcker gesetzt und wenn sie dann 
dort oben dem Volke hinlänglich Augenweide verschafft hätten, in 
die darunter befindliche Pfütze hinabzuspringen gezwungen werden. 
Dieser Schimpf bewog die Bäcker, die von ihrer Gewohnheit nicht 
abgehen wollten, insgesammt nach dem benachbarten Friedberg aus- 
zuziehen; aber nach 8 Tagen kehrten sie zurück und fügten sich dem 
Willen des Raths. Jene beschimpfende Strafe der Bäcker hatte ihren 
gesetzlichen Boden in dem Augsburger Stadtrechte von 1276, welches 
sich ausführlich verbreitet über die Vergehen der Bäcker und Bäcker- 
knechte und ihnen die Schupfe (schuphe) droht ®). 

Das Ofner Stadtrecht Art. 145 bestimmt gleichfalls „Item wirt 
der prot pegk mer wen einst erfunden und ergriffen mit unrechtem 
und ungepachem prot, so sol man yn schupfen, als der stat recht 
ist, über das mer sol er kain puess leiden.“ Das Glossar gibt dazu 
die Erklärung: „schupfen schuphe = stossen, antreiben, schnellen. 
Bäcker, die sich in ihrem Gewerb gegen die Gemeinde vergangen, 
pflegte man zur Strafe zu schupfen d. h. von einem eignen Ge- 
rüst, die schupfen genannt, ins Wasser zu schleudern“ °). Nach 
dem Strassburger Stadtrecht von 1270 Art. 48 sollte geschupft wer- 
den, wer Wein unrichtig misst ®). 

Mit derselben Strafe wurden auch Gartendiebe belegt. „De- 
nen Garten-Dieben hat man zweyerlei Quartier angewiesen , entweder 
hat man sie in ein vergittert Gefängniss unterm Rathhause, die schöne 
Elsula genannt, auf eine Zeitlang einlogieret, oder für dem Freiber- 
ger Thor von dem Schnell-Galgen durch den Korb in den Teich 
fallen lassen, welche beiderseits anno 1550 und 1553 aufkommen“ 7), 
Nach Stöber®) verordnete der Magistrat in Strassburg im Jahre 


4 Freyberg’s Sammlung deutscher Rechts - Alterthümer I, S. 121. 122, 

5) vgl. Grimm R. A. 726. 

6) Strobel, Gesch. des Elsasses I, 331. Stöber in der Alsatia 1851 8. 37. 

7) Hermann in Chron. Mitweid. II, 10 p. 290, nach der Anführung bei 
Haltaus s. v. Korb p. 1117, s. auch Kress in C, C. C. Art. 167. Scherz 
Glossar. p. 815. Wigand, Wetzl. Beitr. I, 353. Anzeiger für Kunde der 
deutschen Vorzeit 1858 No. 10, S. 341. 

8) Alsatia 1851 S. 38. Er bezieht sich auf Herrmann, notices histori- 
ques sur la ville de Strasbourg (1819) II, 440. 


ee 


— 3 — 


1477, dass alle Gartendiebe, deren man habhaft geworden, in einen 
Korb gesetzt und zur Schindbrücke herabgelassen werden sollten; sie 
konnten dann über dem Wasser so lange verweilen als sie wollten, 
sodann mussten sie aber ins Wasser springen und sich durch Schwim- 
men zu retten suchen; wer diess nicht konnte, dem kamen eigens 
bestellte Männer zu Hülfe. Man nannte diese Strafe, setzt Stöber 
hinzu, durch den Korb springen, auch die Schnelle oder 
Prelle. 

Nach dem Freiheitsbriefe von Saarbrücken 1321 (Grimm 
Wsth. II, 6) soll der des Meineids Ueberwiesene oder Geständige 
eine Busse von 3 Pfund zahlen „und sol auch in die schuppe ge- 
setzt werden eins markdags oder eines iarmissen dags.“ 

Wenn wir diesen Apparat der Berichte über diese prostituirende 
Strafart überblicken, so ergibt sich, dass die Schnelle, der Schnell- 
Galgen, die Schupfe oder Schuppe, der Korb, der Lasterkorb, das 
„durch den Korb springen“ oder „fallen,“ im Wesentlichen eine und 
dieselbe, sehr verbreitete Strafe war; nur variirte diese darin, dass bald 
der zu Strafende aus dem Korbe in das Wasser oder die Pfütze her- 
ausgeschnellt wurde, bald in dem Korbe verweilen konnte, bis er sich 
entschloss den Schimpf durch Herausspringen abzukürzen. Stöber 
nimmt mit Unrecht das Schupfen und den Korb (die Schnelle, Prelle) 
als verschiedene Strafarten. 


ÄIV. Hans Hotterer. 


Das Beispiel der Ritter und Herren im Mittelalter, sich wegen 
erlittenen und noch häufiger wegen eingebildeten und vorgeschützten 
Unrechts mit der Faust, mit Schwert und mit Feuer, Recht zu ver- 
schaffen und einen Privatkrieg zu beginnen, der oft ein ganzes Land 
in Angst und Schrecken versetzte, fand bisweilen Nachahmung bei 
solchen, die in ihrer Geburt keinen Rechtstitel dazu aufweisen konn- 
ten. Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts gerirte sich ein Appen- 
zeller, Hans Beck, genannt Hotterer !), ganz so, als ob er edel-gebo- 
ren. wäre. Er war mit dem St. Galler Vogt der Herrschaft Sax, 
Heinrich Zili auf dem Schlosse Forsteck, in Differenz gerathen und 
man hatte seinen Klagen gegen den Vogt in St. Gallen kein Gehör 
schenken wollen. Desshalb sagte er der Stadt St. Gallen ab, griff 
deren Leute an, wo er konnte und beschädigte sie „mit Nam und 


1) Stumpff’s Chronik V ce. 8. J. von Arx St. Gallen II, 601. 


— 316 — 


Brand.“ Meistens hielt er sich im Rheinthal auf, bald auch im Ap- 
penzellerlande. Wenn er sich in Gefahr sah, schwamm er über den 
Rhein und hatte dazu stets ein Schwimmzeug bei sich. 

Hotterer wahrte die ritterliche Form: er schickte der Stadt St. 
Gallen vor dem Beginn seiner Fehde einen Absagebrief, weil er bei 
Obrigkeit und Gericht kein Gehör gefunden habe. Er wollte nicht 
als Landfriedensbrecher gelten ?). 

Da Hotterer seine Helfer und Gesellen fand, ward sein Auftre- 
ten immer bedrohlicher und die St. Galler, auf die er seine Angriffe 
beschränkte, mussten bitter empfinden, was es hiess, seine abgesag- 
ten Feinde zu sein. In ihrer Noth wandten sie sich an die Eidgenos- 
sen. Gemeine Eidgenossen schrieben, wie Stumpf meldet, auf deren 
von St. Gallen Begehr, Hermm Jacob von Bodmer, Vogt zu Feldkirch, 
dass er seines Vermögens Hotterern annehmen und denen von St. Gal- 
len gegen ihn Rechtens verhelfen möchte. Als sie aber hiermit nicht 
viel erreichten und mittler Zeit Räthe und Sendboten des Herzogs 
Sigmund von Oesterreich zu einer Tagsatzung nach Zürich kamen, 
ward durch die Eidgenossen mit diesen Räthen gar ernstlich geredet 
und begehrt, dass sie sorgen möchten, dass Hotterer und seine Helfer 
in der Fürsten von Öestreich Stätten, Schlössern, Landen und Ge- 
bieten nirgendt enthalten noch geduldet, sondern, wo sie betreten wür- 
den, angenommen und denen von St. Gallen zum Rechten gestellt wür- 
den. Die Räthe erboten sich allen Fleiss anzuwenden, damit der Eid- 
genossen Begehr vollstreckt und Hotterer nirgends geduldet, sondern, 
wo möglich, gefangen würde; ob dann jemand ihn, wider der Obrig- 
keit Willen, heimlich enthielte und die von St. Gallen des inne würden 
und den Wirth und die Gäste mit einander aufnähmen, das konnten und 
wollten sie auch nicht hoch achten. Bald vernahmen nun die von St. 
Gallen, dass etliche Lustnauer den Hotterer und seine Gesellen enthal- 
ten hätten; da zogen sie am 2. Januar 1475 mit 300 Mannen über den 
Rhein, verbrannten den Aufenthaltern ihres Feindes etliche Häuser und 
führten sie gefangen mit sich. Nach einiger Zeit wurden diese auf 
Tröstung und verschriebene Urfehde ledig gelassen. Darauf ward es 
nun jenseits des Rheines etwas besser, denn man wurde des Hotterers 
müde und es wollte sich niemand mehr seinetwegen in Gefahr bege- 
ben. Aber Hotterer fand Aufnahme um Altstätten im Rheinthal und 
auch im Appenzellerlande; desshalb wandten sich die von St. Gallen an 


2) C. G. von Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte $. 50. 


— 37 — 


die Appenzeller mit dem Begehren, ihren Feind nicht zu enthalten 
oder ihn zum Rechten aufzuheben. Dessen waren zwar die Appen- 
zeller erbötig und gaben guten Bescheid; nichts desto minder ward 
ein Bürger von St. Gallen, der gen Altstätten zu Markt gehen wollte, 
von Hotterer im Bruderwalde angefallen, auf den Tod verwundet und 
seiner Baarschaft von 25 Gulden beraubt. Als aber Hotterer bei die- 
ser Gelegenheit auch etliche Wunden empfangen hatte, erfuhr man, 
dass er in des Hermann Schwendiners, eines vornehmen Landmannes 
und Rathsgliedes zu Appenzell Behausung gekommen und dort ver- 
bunden sei und als die St. Galler heimlich Späher auf Hotterer ins 
Appenzellerland aussandten, wollten es die Bauern nicht leiden. Es 
wurde sogar auf einer Landsgemeinde beschlossen, dass man die von 
St. Gallen weiter nicht wollte passiren, noch jemanden in ihrem Lande 
suchen oder ausspähen lassen, sondern jeder Appenzeller solle das 
wehren mit Leib und Gut. Darüber beklagten sich nun die von St. 
Gallen bei ihren treuen und lieben Eidgenossen und diese, grösseren 
Unrath besorgend, schrieben den Appenzellern gar ernstlich, Hotterer 
in ihren Gebieten gar nicht zu dulden, sondern ihn gefänglich anzu- 
nehmen und denen von St. Gallen zum Rechten zu stellen, denn die 
Eidgenossen wollten solchen Unrath nicht leiden und den St. Gallern, 
nöthigenfalls mit Leib und Gut, Abhülfe verschaffen. Als das erste 
desshalb von Zürich ausgegangene Schreiben noch nicht wirkte, ward 
bald darauf zu Zürich ein anderer Tag gehalten und mit mehr Ernst 
den Appenzellern befohlen, dem Hotterer keinen Vorschub zu geben; 
es ward denen von St. Gallen zugelassen, ihren Feind im Appen- 
zellerlande heimlich und öffentlich zu suchen und zu erspähen, doch 
dem Lande und Gerichten ohne Schaden; so sie ihn beträten, sollten 
sie ihn im Lande berechtigen. Als dieser Befehl im Lande Appen- 
zell ruchtbar-wurde, machte sich der Hotterer hinweg, ging zuerst 
ins Algau und dann weiter nach Oberbaiern; da vermeinte er sich 
eine Zeitlang zu enthalten, bis das Wetter verginge. 

St. Gallen erhielt jetzt unverhoffte Hülfe von Kempten aus. Einer 
der vornehmsten Gesellen und Mitgehülfen Hotterers, der Weibel ge- 
nannt, war bei denen von Kempten in Ungnade gekommen; daher 
machte Kempten wie St. Gallen gute Spähe auf diese Leute. Nun 
war ein Bürger zu Kempten, genannt Rhoni Summerringer, von St. 
Gallen gebürtig, ein frommer armer Gesell, dem versprachen die St. 
Galler 100 Gulden und dabei sein Lebelang Leibesnahrung und Un- 
terhaltung, wenn er ihnen den Hotterer ausspähte. Dieser nahm zu 


— as — 


sich einen Gesellen, hiess Caspar Meyer, durch welchen Hotterer 
verkundschaftet und zu Landsberg im ohern Bayern betreten ward. 
Summeringer rief über den Hotterer Recht an und liess sich gegen 
ihn gefangen legen, mit Begehr, dass man die Sache der Stadt St. 
Gallen zu wissen thäte, was auch geschah. Die von St. Gallen schick- 
ten ihre ernstliche Botschaft hinaus und die Eidgenossen gaben ihnen 
nicht allein eine schriftliche Fürsprache mit, sondern sandten auch 
Jakob Stapfer von Zürich nach Landsberg. Es wurde vom Herzog 
von Bayern ein Rechtstag erworben und Hotterer zu Landsberg be- 
rechtiget. In dem Gerichte legte Summeringer in einem Sacke etliche 
Gebeine junger Leute und Frauenbilder vor, die Hotterer in den Häu- 
sern verbrannt hatte. Also ward Hotterer zu Landsberg auf deren 
von St. Gallen Klage und seine Antwort mit Urtheil und Recht zu 
Aschen verbrannt. Die St. Galler schenkten dem Caspar Meyer von 
Kempten 100 Gulden und Summeringer ward gar wol begabet und 
sein Lebelang mit aller Nothdurft gar herrlich und wohl versehen. 

So endigte dieser Privatkrieg mit dem Tode des Hotterer, den 
dieser als Mordbrenner auf dem Scheiterhaufen fand. In den wenigen 
Sätzen der Chronik über den Process gegen Hotterer sind zwei Punkte 
bemerkenswerth. 

1) Summeringer liess sich, als er mit der Anklage auftrat, gegen 
Hotterer gefangen legen, denn nur dadurch konnte er, der ja noch 
nichts bewiesen hatte, die Verhaftung des Hotterer bewirken, Das 
Verhältniss von Ankläger und Angeklagten war einer Wette ähnlich; 
entweder der Angeklagte verlor und dann musste ihn die gesetzliche 
Strafe treffen, oder der Ankläger verlor, dann sollte nach einem weit 
verbreiteten germanischen Grundsatze ein Rückschlag der jenem ge- 
drohten Strafe auf ihn statt haben®). Aber auch wo dieser Grund- 
satz nicht zur Anwendung kam, wurde mit Uebernahme einer pein- 
lichen Anklage ein grosses Risico übernommen und es ergab sich als 
Consequenz, dass nur ein Ankläger angenommen werden konnte, der 
Sicherheit gab, den gegen ihn sich allfällig erhebenden Ansprüchen 
genügen zu können und zu wollen. Eine solche Sicherheit konnte 
der seiner Sache vertrauende Ankläger dadurch bestellen, dass er sich 
in die gefängliche Haft begab ?). Summeringer vermochte eine an- 


3) Zeitschrift für deutsches Recht X VIII, 184. F 


4) s. auch Edict. Theoderici $ 13. Sachsensp. I, 61 $. 1. Richtsteig 38, 
4. C. C. C. Art. 11 fl. Grimm's Wsth. II, 367. 


— 379 — 


dere Sicherheit nicht zu geben: er musste den Weg ins Gefängniss 
einschlagen, um den Hotterer fest zu machen, 

Jene Regel ist auch ausgesprochen im Aıntsrecht von Willisau 
(1489) S. 97: „Ob ouch einer den andern umb sachen anfıele, so die 
Eer berührten, welte dann der Cleger zu dem Ansprecher (!) gefangen 
leggen, dann soll ein Schultheis old ein Vogt sy beid zum Rechten 
handhaben.“ Hier ist wohl „Ansprecher* verschrieben und „Ant- 
wurter* zu lesen. 

2) Summeringer brachte in einem Sacke ins Gericht etliche Ge- 
bein junger Leute und Frauenbilder, die Hotterer in Häusern ver- 
brannt hatte. Wäre das Gericht auf schweizerischem Boden gehalten 
worden, so hätte dasselbe geschehen müssen und ohne Zweifel hatte 
man die Knochen der Verbrannten für den Fall der gerichtlichen An- 
klage des Hotterer, wo diese statt haben möchte, anfbewahrt. Statt 
der Leichname der in anderer Weise Getödteten konnten hier nur 
etliche Gebeine vorgelegt werden, sie vertraten den Leichnam. 

Der Rechtssitte den Leichnam des Getödteten, wegen dessen 
rechtswidriger Tödtung geklagt wurde, ins Gericht zu bringen, auch 
wenn nicht das Bahrrecht angestellt werden sollte, geschieht oft Er- 
wähnung in den alten schweizerischen Rechtsquellen ?). Diess erschien 
nothwendig zur Constatirung der Thatsache, dass ein Mensch getödtet 
worden und zur Vergewisserung und Bestimmtheit der Person des Ge- 
tödteten; der Ankläger musste sagen können: dieser ist der Ge- 
tödtete! zur Grundlegung seiner Anklage. Mit dem Todten wurde dem 
Gerichte die Tödtung vorgeführt. Um die Identität zu beweisen, fand 
im Gerichte eine Recognition durch Männer statt, die den Todten bei 
seinen Lebzeiten gekannt hatten. In einem Luzerner Falle (1553) 
heisst es: Ist demnach weiter erkannt, dass die, so den Entleibten 
gekannt haben, über die Baare gehen und den besichtigen sollen, ob 
das der Entleibte sei oder nicht, und bei ihren Eiden dem Land- 
gericht sagen, was sie gefunden haben ete.®). Nach der Luzerner 
Landgerichtsordnung sollen dazu 7 Männer abgeordnet werden und 
von diesen heisst es: „So gand die sieben uber die bar und was sy 
vindent, dz bringend sie für dz gericht und sprechend: Wir hand In 
in sim leben bekennt und ich In noch, dz red ich bi mim eid. Also 


5) Luzerner L. G. O. bei Segesser II, 706. Pfyffer, Canton Luzern 
I, 378. Zuger Malefizordnung (Ztschr. I, 62). 


®) Pfyffer a. a. O. 


— 5890 — 


redend die andern VI ouch.“ Nach Vorschrift der Zuger Malefiz- 
ordnung werden 3 Männer dazu vom Richter verordnet. 

Die Sitte einen Theil des Leichnams, namentlich die todte Hand 
abzulösen und statt des Leichnams ins Gericht zu bringen, habe ich in 
den schweizerischen Rechtsquellen nicht erwähnt gefunden, auch der 
Ausdruck „Leibzeichen“ ist mir nicht vorgekommen ; häufig ist dage- 
gen Wahrzeichen, noch häufiger Wortzeichen und dessen Bedeu- 
tung zeigt die Vergleichung verschiedener Stellen: 

Basler Rathserkenntniss vom 21. Mai 15417): „—- wann ein 
todsehleger von wegen des begangenen todschlags — in das Recht in- 
trittet, die dath und todschlag gegen des obristen Knechts celage, die 
derselbig in namen der oberkeit, deren das unrecht ze strafen gebürt, 
von wegen des entlibten, dessen warzeichen in recht gestellt, ge- 
than hat, der massen verantwortet ete.* 

L. G. O. des freien Amts (Knonau): „Wann der thäter oder 
sein fründschaft sich des todschlags nit wöltind begäben, alsdan sol 
der frey Amtmann die wahrzeichen, so er zuvor von dem todnen 
Leichnam genommen hat, in das landtgericht legen. Darauf mögend 
dan die Kleger ihr Klag setzen und Kundschaft stellen, dass man den 
entleybten in diesen Kleidern hab lebendig und tod ge- 


sehen.“ 8). 
Rechtung des freien Amts $ 4°): „Item beschicht ein Dotschlag 
in der Grafschaft — da sol ein Riehter — ouch von dem totten lich- 


name denne zemal ein Wortzeiechen nemen, in dem er tod und le- 
ben was, mit gericht und urtheil, da man das Fürgebot nimpt, das- 
selb Wortzeichen soll man fürren zu den zwein Lantgerichten und 
mag man denne dar ab richten und klagen in all wiss und mass, als 
ob der tod Lichname zegegen were und stunde.“ 

Zuger Malefizordnung: „Dass der Richter 3 Mann verordne, die 
den Entleibten beschauen, die ihn by synen Lebszeiten erkennt, oder 
das Wortzeichen von ihm genommen, und sie by ihrem Eyd uff- 
lassen, ob der der syg, von dem man klagt.“ — „Wann der todt 
Lyehnam nit vergraben wär, wird erkennt, wenn es von beiden Par- 


7) (Schnell) Rechtsquellen I No. 267. 

8) Aus der Abschrift im Besitze des Oberrichters F. von Wyss vgl. 
Bluntschli I, 202. 

9) Kurz und Weissenbach, Beiträge zur Geschichte — des Kantons 
Aargau I, 99. 


A 


thyen nachgelassen, ein Wortzeichen an ihm zu nemmen und dar- 
nach zu vergraben.“ 

Hochgerichtsform von Glarus und Schwyz: „Dieselbig wybsperson 
hat in einem sack die blutigen Kleider des entlypten — und so 
sy den Fürsprech genimpt, legt sy die blutigen Kleider in 
gerichtsring und fürt daruff die elag.“ 

Berner Gerichtssatzung (von 1614) III, 12. 3: „Und süllend 
jedes Gerichtstags des entlybten Kleider, als zu Wortzei- 
ehen im Ring zugegen liegen, und in jedem Ruff, das sölehe Wort- 
zeichen verhanden usstruckenliche meldung beschechen.“ 

Durch die in den Ring gebrachten Kleider des Getödteten, in de- 
nen er nachweislich lebendig und todt war gesehen worden, wurde 
der Todte repräsentirt — „als ob der todte Leichnam zugegen wäre* — 
und die Thatsache der Tödtung dem Gerichte versinnlicht; sie sind 
das Wahrzeichen oder Bewährungszeichen der geschehenen Tödtung, 
derentwegen der Kläger klagen will „und er führt darauf die Klage.“ 
Ohne diese Anschauung hätte der Klage das sichtbare Fundament ge- 
fehlt. Ein scheinbares Abgehen von dieser Versinnlichung und doch 
zugleich eine Anerkennung der Regel enthält die Schwyzer Einung 
um Todschlag von 1447 (Landbuch $. 69). Wenn der Todschläger 
aus dem Lande entweicht und dann Gericht und Urtheil über ihn 
gehen, der soll die nächsten fünf Jahre aus dem Lande sein und 
bleiben; wird er binnen dieser Zeit im Lande ergriffen „soll man 
dann von dem oder dien unverzogenlich richten uff der fryen weid- 
hube, als ob die bar zu gegen und under ougen stünde, also dass 
man im sin Houpt abschlagen soll an alle gnade.“ Er ist schon, 
wie die Einung sagt, um Todschlag fällig geworden; daher bedarf 
es hier nicht noch einer Begründung des Rechts zur Klage gegen 
ihn, aber doch finden wir ein Zürückgehen auf die allgemeine erste 
Regel, nach welcher der Leichnam ins Gericht gebracht wurde, ob- 
gleich es in diesem Falle weder des gegenwärtigen Leichnams noch 
eines Wahrzeichens bedurfte. 

Was das Sprachliche betrifft: so hat schon Haltaus (Art. Wort- 
zeichen p. 2132) angedeutet, dass in den Quellen Wahrzeichen und 
Wortzeichen confundirt werden, genauer gibt Weigand (Synon. No. 
1305) an, wie die beiden Worte zusammengeflossen sind. In den 
schweizerischen Rechtsquellen hat Wortzeichen die Oberhand gewon- 
nen als Ausdruck des Erkennungszeichens überhaupt, obgleich es sei- 
nen Buchstaben nach das mündliche Erkennungszeichen, das Losungs- 


— 3532 0 — 


wort ist 19). Wortzeichen — Erkennungszeichen und Symbol kommt 
in verschiedenen Beziehungen vor. Wer nach dem Landbuche von 
Uri Art. 142 die gesetzliche Belohnung für Tödtung eines Bären in 
Empfang nehmen wollte, musste dem Landammann zum Wortzeichen 
die Haut mit dem Kopfe und drei Tatzen vorweisen. Im Landbuch 
von Appenzell A. Rh. Art. 185 ist dafür das „rechte Wahrzeichen“ 
gesagt. — Nach der Öffnung von Töss (Grimm Weisth. I, 135) 
soll der Hirt, dem ein Stück Vieh ablıanden gekommen ist, es dem 
Eigenthümer des Thieres bei Sonnenschein zu Hans und Hof ver- 
künden und ihm oder seinem Boten das Verlorne helfen suchen, wenn 
er aber niemand daheim fände, soll er seine Ruthe zum Wortzeichen 
an die Hausthür stellen 11). 

Das „Wortzeichen* wird in der gegenwärtigen Zürcherischen 
Rechtssprache nur noch für Schuldverhaft gebraucht und darin liegt 
ein gewaltiger Sprung von der ursprünglichen Bedeutung weg. Es 
ist aber doch wohl die Brücke von dem Alten zum Neuen darin zu 
sehen, dass Wortzeichen eigentlich hier die Urkunde bedentet 12), welche 
das Gericht (jetzt Bezirksgericht) dem Gläubiger gibt, um ihn zur 
allfälligen Verhaftung des Schuldners zu autorisiren. 


ÄV. Das Bahrrecht. 


Der neueste Schriftsteller über die Gottesurtheile 1), welcher das 
Bahrrecht sehr summarisch behandelt, sagt, es sei zuversichtlich heid- 
nisch und meint, es sei bei demselhen keine Spur christlichen Ein- 
flusses wahrzunehmen , die Kirche habe dasselbe nicht einmal wie die 
übrigen Ordale mit ihren geweihten Formen umgeben. Mit dem heid- 
nischen Ursprunge des Bahrrechts oder der Balırprobe mag es seine 
Richtigkeit haben, aber die letztere Behauptung ist unerwiesen und 
falsch. Es wäre sehr auffallend, wenn die Kirche sich fern gehalten 
hätte von diesem Gottesurtheile, dessen, nach Grimm, erst die Ge- 
dichte des 13. Jahrhunderts (Nibelungen und Iwein) Erwähnung thun 


10) So bei Tschudi Chron. I, 385. 

11) vgl. Grimm, Wsth. I, 305 a. E. Luzerner Stadtrecht Art. 67. Ochs 
Gesch. der Stadt Basel II, 407. 408. 

12) s. das Gerichtsbuch von 1553 in Schauberg’s Ztschr. I, 219. 277; 
von 1715 II S 19. IX $S 17. F. von Wyss in der Ztschr. für schweiz. Recht 
VD, 8. 18. 63. 114. vgl. U. F. Kopp, Bilder und Schriften der Vorzeit I, 52. 

1) Felix Dahn, Studien zur Geschichte der germanischen Gottesurtheile 
(München 1857) S. 41. 


—_ 383 — 


und dessen Anwendung ?) bis über das spätere Mittelalter hinausreicht, 
und sehr bestimmte Zeugnisse geben über das Gegentheil Auskunft. 

Eine Schwyzer Todschläger-Einung von 1342 (Landbuch $. 31) 
benennt diese Probe „über den Todten gehn auf Gottes Erbarmen.* 
Sie beginnt mit dem Satze „Wer den andern zu todt schlat oder 
ersticht, oder welichen weg er in ertödt, da soll der, so darum be- 
klagt und gschuldiget wirt, über den totten gan ufl' gottes erbermde. 
Wirt der totte bluttende, so söll man den schuldigen ouch”tötten, 
und soll in darvor nieman schirmen.“ 

Ausführlicher schildert die Form das Landbuch von Uri Art. 1: 
„Wurde aber jemand um den Todschlag angesprochen, der sein leng- 
nete, und sein unschuld nicht anderst bewährt mag werden, der soll 
über den Todten gehn und soll auf der tödlichen wunden schweren, 
dass er an dem Todt unschuldig seye, wäre aber dass die wunden 
solehe zeichen thäte, blutete und sich veränderte, dass der Richter 
und die sechs Mann, die ihm die Landleut zugeben sollen, und ob 
die sechs Mann oder der mehrere Theil unter ihnen bedunkte bei dem 
Eyd, den sie vormals thun sollen, dass sie es nicht entlassen — — 
Bedunkte aber die siben Mann oder der mehrere Theil darunter — 
dass die wunden sich verenderte und blute, so soll der übergehend 
den Leib verlieren, thäte aber die Wunden kein zeichen — so soll der 
übergehend von dem Todschlag sein, und soll darum Männiglichen 
sein Freund sein; wurden auch der übergehenden als mancher fällig, 
als der tödlichen wunden wären, die zu dem Todt dieneten, so sollen 
die andern von dem Todschlag sein.* Mit dieser breiten Schilderung, 
deren Construction schlecht ist, ohne aber das Wesentliche zu ver- 
decken, stimmt überein das Thalbuch von Ursern Art. 1 a 

Reich an kirchlichen Zuthaten ist der Modus, welcher in einem 
Luzerner Formelbuche von 1542 mitgetheilt wird #). Man soll die 
Bahre stellen aus dem geweihten Boden („denn man kein verlümde- 
ten Gefangnen in das gewicht führen soll®) unter heitern Himmel 
auf einer Weite, so dass von nirgends her Jemand in die Bahre se- 
hen könne („dann wann ein Thäter die Bar sicht, so zeichnet sy“). 
Dann soll der Verläumdete beschoren an allen Orten, wo er Haar 


2) Wilda in der Ersch-Gruberschen Enceyclopädie Art. Ordalien $. 490. 
Heffter im Archiv des Criminalrechts 1835 S. 464 fi. 

3) Blumer I, 537. 

4) Segesser II, 702. 


— 384 — 


hat, nackend bis auf ein neues Untergewand, ein geweihtes Licht in 
der linken Hand, allein in Begleitung der richterlich dazu Geordneten auf 
die rechte Seite der Bahre treten, niederknieen und mit den Urkunds- 
personen fünf Paternoster, Aves und den Glauben beten, damit Gott 
zum Beistand der Wahrheit ein Zeichen thun wolle; dann auf die 
Brust des Leiehnams, der um Wunde, Herz und Mund entblösst sein 
soll, seine rechte Hand legen und schwören: „Wie ich hie sich (d. i. 
sehe) und berür disen toten lib, so bitt ich Gott, ob ich In um- 
bracht oder an sinem tode schuldig, Rhat, That, Gunst, Fürderung 
oder Hilff than hab in eyny wis oder gstalt°), das dann Gott der 
Allmächtige hie ein offenlich Zeichen thüy miner schuld oder un- 
schuld an tag ze kon und mir Gott also helffe und alle Heiligen.“ 

Es sind uns mehrere Fälle der Anwendung des Bahrrechts in der 
Schweiz überliefert worden, von denen der in Anshelm’s Berner 
Chronik III, 254 erzählte von 1503 am bekanntesten geworden ist ®). 
Auf Hans Spiess war ein so starker Verdacht des Mordes seiner Frau 
gefallen, dass er zu Willisau gefangen gesetzt und gefoltert wurde. 
Er gestand bei der Marter nichts, aber wegen der Grösse des Arg- 
wohns ward erkannt, dass man das Weib, so da 20 Tage zu Ettis- 
wil im Kirchhof war gelegen, sollte ausgraben, auf eine Bahre legen 
und ihn beschoren und nackend dazu führen; sodann sollte er seine 
rechte Hand auf sie legen und einen gelehrten Eid bei Gott und 
allen Heiligen schwören, dass er an diesem Tode keine Schuld habe. 
Und also da dieses elende, grausame Ansehen zugerichtet war, dass 
er sie mochte sehen, je näher er hinzu ging, je mehr warf sie wie 
würgend einen Schaum aus und da er gar hinzu kam und sollte 
schwören, da entfärbte sie sich und fing an zu bluten, dass es durch 
die Bahre niederrann. Da fiel er nieder auf seine Kniee, bekannte 
öffentlich seinen Mord und begehrte Gnade. 

Ein früherer Fall (1417) ist der der Ermordung des Propsten 
von Luzern 7) und auch die Sage vom Züriheiri in Zurzach ®) ist ein 


5) Nach dem Rechtsbuche von Memmingen 1396 (Freyberg’s Sammlung 
Ba. V, S. 256) sollen der oder die Angeschuldigten zu der Bahre hinstehen und 
einen gelehrten Eid schwören zu Gott und allen Heiligen, dass sie an dem Tod- 
schlag unschuldig seien „mit räten unt mit getäten.“ 

6) Etterlin’s Kronikaa. 1503. J. von Müller’s Gesch. Vc.2. Grimm 
R. A. 931. 

7) Tschudi Chron. II, 90. 

8) Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau II, 123. 


— 3855 — 


Beleg zu dem Volksglauben, auf dem die Bahrprobe ruht, und deren 
gerichtlichen Anwendung. Der Züriheiri, in der Nacht von dem zu- 
fällig durch den Wald gehenden Bürgermeister Zurzachs beim Holz- 
frevel ertappt, hatte diesen mit seinem Gertel (Handbeil) getödtet. 
Der Leichnam und der blutige Gertel waren gefunden worden und ob- 
gleich man allgemein das Instrument als das des Züriheiri erkannte, 
betbeuerte dieser vor Gericht seine Unschuld. Da zog der Richter 
eine schwarze Decke von der Tafel und befahl dem Heiri seine drei 
Schwörfinger in die Wunde der Leiche zu legen. Mit wankenden 
Knieen versuchte es der Angeschuldigte; da sprang ihm aus der 
Wunde ein Blutstrahl ins Gesicht. Der Allwissende hat gerichtet! 
riefen die Richter und der Ueberwiesene sprach: Ja, das hat er! An 
der Stelle des Waldes, wo der Mord geschehen war, erlitt der Mör- 
der den Tod und wurde dort vergraben. Noch jetzt sehen ihn dort 
die Holzhauer auf Reiswellen reiten. 

Aus diesen Berichten der Rechtsquellen und Historiker geht her- 
vor, dass die Bahrprobe als geistige Folter (tortura spiritualis) ver- 
wendet wurde, um zum Geständniss zu bringen, in einer Zeit, als 
die Erlangung des Geständnisses der Schwerpunkt des peinlichen Ver- 
fahrens geworden war und es ist daher sowol in dem Falle des Hans 
Spiess als auch des Züriheiri schliesslich angegeben, dass ein Ge- 
ständniss erfolgte. Aus dieser Wandelung des Gottesurtheils ist es 
wohl zu erklären, dass die Kirche, die sonst überall gegen die Or- 
dalien auftrat, dasselbe bestehen liess und mit ihren Formen umgab; 
darum hatte auch diese Mischung von Ordal und geistiger Folter 
einen so langen Bestand. Als Hans Spiess schon „fast hart gestreckt“ 
war ohne ein Geständniss abzulegen, da schritt man noch zur zwei- 
ten Form der Folterung und die in seinem Falle besonders wider- 
liche Procedur hatte den erstrebten Ausgang. Der an der Bahre zu 
leistende Eid war ein Reinigungseid, so wie dieser, verschieden von 
seiner ursprünglichen Processbedeutung, als geistiger Zwang ?) zum 
Eingestehen der Schuld gebraucht wurde, und zwar ein Reinigungs- 
eid unter erschwerender Form. Leistete der Angeschuldigte diesen 
Eid, so war er, nach dem Ausdrucke des Urner Landbuchs, „von 
dem Todschlag“ und es sollte nun jederman sein Freund sein, d. h. 
ie Blutrache der Freundschaft des Getödteten sollte cessiren. 

Nach dem Urner Landbuche werden sieben Männer ahgeordnet, 


9) Abegg, historisch -practische Erörterungen I, S. 116. 


Wissenschaftliche Monatschrift. III. 


IN 
or 


7) 


— 3536 — 


die Wunden des auf der Bahre Liegenden zu beschauen, ob sie sich 
verändern oder nicht. Sieben Mann wurden auch in Nidwalden be- 
stellt, den Gefangenen zu fragen und bei der Folterung zugegen zu 
sein (Landbuch 176) und sieben unverleumdete Männer sollen nach 
der Zuger Malefizordnung in den Thurm gehen, dem armen Menschen 
sein Vergieht vorlesen und ihn fragen ungebunden und ungezwungen, 
ob er der Vergicht gichtig sei. So auch nach der Freienämter L. G. O. 

Dass der Angeschuldigte nackend und beschoren zu der Bahre 
treten musste, erinnert an die Folterung in Hexenprocessen, in denen 
die Angeschuldigten sehr gründlich geschoren und gewaschen wurden. 
Es sollte weder in den Kleidern noch am Körper ein Zaubermittel 
verborgen bleiben, welches gegen die Offenbarung durch das Gottes- 
gericht und die Folter operiren könnte. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 8. November 1858. 


Herr Professor H. Frey hielt einen Vortrag über die Zelle. Er zeigte 
deren verschiedene Gestaltung und Wachsthum und veranschaulichte dieses durch 
Zeichnungen. Schliesslich gelangte er zu dem Resultat, dass nirgends weder 


im Pflanzenleben noch im thierischen Leben eine Urzeugung existire. 


Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 21. December 1858. 


Der Präsident des Vereins, Herr Professor Hitzig eröffnete die Sitzung 
mit einem Rückblick auf dieses Jahr, in welchem dem Vereine zwei Mitglieder 
durch den Tod entrissen wurden, Herr Professor Giesker und Herr Staats- 
archivar Gerold Meyer von Knonau. Es folgten die statutengemässen Wahlen 
und es wurde zum Präsidenten des Vereins gewählt Herr Professor Georg 
von Wyss, zum Vicepräsidenten Herr Professor Clausius, zum Secre- 


tär Herr Professor Hillebrand, zum Cassirer Herr Professor Dernburg. 


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vielen hundert Stellen verbeifert. 
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er gie d eh \ Ulrid) von Hutten. 
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